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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-01-21 12:21:03 -0800 |
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Tausend + + Copyright 1920 by Georg Müller Verlag A.-G. München + + + + + Inhalt + + + Morgen 3 + Mittag 113 + Abend 239 + Nacht 397 + Berichtigung 407 + + + + + Morgen + + + 1. + +Als die Menschenseele in Heinrich Pestalozzi erwacht, liegt sie in +einer Stube am Hirschengraben, wo sich jenseits der alten Stadtmauer +bis zu den neuen Bastionen am Zürichberg hinauf die Landhäuser der +Reichen sonnen. Sie selber spürt nicht viel von dieser Sonne, sie +haust mit Kleinbürgersleuten im Gedränge hoher Steingebäude, die nur +finstere Gäßchen zwischen sich lassen und mit dunklen Treppen in +beengte Wohnungen führen. Außer der Mutter und einer Magd, die Babeli +gerufen wird, sind noch drei Geschwister in der Stube, ein Knabe +Johann Baptista und zwei Mädchen, von denen das kleinste in der Wiege +liegt. Das wird eines Tages von schwarzen Männern fort getragen, über +die dunkle Treppe hinunter in die Stadt, die draußen mit beschneiten +Dächern wartet. Im Sommer aber ist es wieder da, schläft in der Wiege +und heißt Bärbel, wie es vorher auch geheißen hat. Doch weint die +Mutter immer noch, und der Vater, der sonst mit großen Schritten durch +die Stube gegangen ist, liegt in der Kammer nebenan, nicht anders als +das Bärbel in der Wiege; seine haarigen Hände ruhen auf dem Leintuch, +und die Augen forschen an der Zimmerdecke. + +Eines Tages muß das Babeli hinein zu ihm -- allein und lange, während +die Dachtraufe vor dem Fenster einen langen Strahl zerstäuben läßt; +als es wieder herauskommt, fällt es der Mutter um den Hals und weint. +Die hat, das Bärbel säugend, auf der Ofenbank gesessen; nun tut sie +das Kind schnell von der Brust und läuft in die Kammer. Nachher muß +Heinrich Pestalozzi mit den Geschwistern auch hinein; der Vater bemerkt +sie schon nicht mehr, seine Augen aber forschen noch immer an der +Zimmerdecke, nur die eine Hand ist von der Bettdecke abgerutscht, und +die Mutter hängt daran, als ob sie ihn festhalten wolle. + +Am andern Tag ist er in einen Sarg getan, die Hände sind auf der Brust +gefaltet, und die Lider haben wie zwei Deckel aus Wachs die forschenden +Augen zugemacht. Heinrich Pestalozzi und sein Bruder bekommen die +Sonntagskleider an und müssen -- als fremde Männer in schwarzen Röcken +und Hüten kommen, den Vater zu holen -- mit hinunter über die dunkle +Treppe und hinter ihnen her durch die Gassen nach dem Großmünster +gehen, wo gesungen und gebetet wird, bevor sie den Sarg auf den +Kirchhof bringen und bei Wind und Regen in ein frisch gegrabenes Loch +versenken. Seitdem Heinrich Pestalozzi die hohen Münsterhallen mit dem +Donnerschall der Orgel gesehen hat, weiß er, wo die Schwester Bärbel so +lange gewesen ist; der Vater aber kommt nicht wieder, bis er ihn fast +vergißt und nur noch manchmal gleich ihm mit langen Schritten die Stube +messen will. + +Als wieder Winter wird, nimmt ihn das Babeli eines Abends schnell +bei der Hand, einen Arzt zu suchen; sie finden den ersten nicht und +müssen den zweiten erst aus einem Wirtshaus holen, wo viele Männer +bei der Lampe in einer qualmigen Stube sitzen. Der läuft gleich +mit, doch geht er bald wieder kopfschüttelnd fort von dem Bettchen +der Schwester Dorothea, und andern Morgens sagt die Mutter, es sei +gestorben an der Bräune. Die schwarzen Männer kommen zum drittenmal, +aber diesmal tragen sie das Dorli fort, mit dem er jeden Tag gespielt +hat. Seitdem ist ihm das Großmünster ein furchtbares Geheimnis, und +so oft er die Glocken läuten hört, läuft er zur Stubentür, den Riegel +vorzuschieben. Manchmal aber kommen doch Menschen über die Treppe +herein, die mit der weinenden Mutter sprechen und denen er die Hand +geben muß; er tut es gehorsam, doch immer in der Furcht, daß sie ihn +mitnehmen könnten in das Großmünster. Auch wenn die Mutter oder das +Babeli ihn selber an der Hand hinunter führen, ist er nicht froh, +bis er endlich durch die Haustür hinein schlüpfen kann und oben die +Heimeligkeit der Stube wiederfindet. Und nur dadurch, daß seine +seltenen Ausgänge meist den gleichen Verlauf nehmen, durch die steilen +Gassen und über Treppen zum Markt hinunter, wo die Limmat unter den +Holzbrücken hindurch ihr reißendes Wasser drängt, oder Sonntags bis an +den gleißenden See hinaus, wo die Schiffe und Schwäne schwimmen und die +Wolken auf den fernen Bergen Rast machen, die den blauen Himmel mit +ihrem weißen Zackenrand begrenzen: bahnt sich seine furchtsame Seele +allmählich Straßen in die fremde Unermeßlichkeit, darin die Türme des +Großmünsters drohend stehen. Sonst aber bleibt die Stube die einzige +Sicherheit seiner Welt. + + + 2. + +Einmal macht Heinrich Pestalozzi auch eine Reise an den See mit +seiner Mutter; mittags nach dem Markt fahren sie hinaus, unaufhörlich +am Seeufer hin durch Dörfer mit weißen Kirchen, durch Weinberge und +Matten, wo die Bauern lustige Haufen Heu zusammen bringen, bis nach +Richterswil, wo der Onkel Johannes wohnt. Es ist dort ein großes Haus +mit einem prächtigen Garten und vielen fremden Menschen, die seiner +schwarzen Mutter um den Hals fallen und denen er die Hand geben muß. +Auch einen Knaben gibt es, älter als er und wie ein Soldat mit einem +stolzen Federbusch gekleidet; der führt ihn auf den großen Speicher, +wo Korn in Haufen liegt, durch die Ställe mit unheimlich behörnten +Kühen und stampfenden Pferden in die Weinberge hinauf zu einer Bank, +die unter einer Linde einen Ausblick auf den See gibt bis tief in die +blauen Bergschlüfte hinein, und danach an das weiche Ufer hinunter, wo +das Ried mit hohen Halmen aus dem Wasser wächst und seine Büschel im +Wind verneigt. Da haben Jünglinge gerade ein Schiff los gemacht, und +weil der eine ein Bruder des Knaben mit dem Federhut ist, sollen sie +mit einsteigen. Die Mutter aber kommt gelaufen, todblaß, und trägt ihn +auf den Armen, obwohl er sich dessen schämt und schreiend wehrt, durch +den Garten zurück ins Haus. + +Sie bleiben zwei Tage dort, bis sie am dritten Morgen noch in der +Dunkelheit abfahren auf dem selben Bauernwagen und in der Morgenfrühe +zurück kommen in die Stadt und in die Stube, wo der dicke Kachelofen +mit der kühlen Steinbank auf sie wartet und das Babeli mit den +Geschwistern ist. Er denkt später nicht gern an diese Reise; es ist ihm +alles fremd geblieben, als ob er nur geträumt hätte. + + + 3. + +Lieber hat Heinrich Pestalozzi die Ausflüge nach Höngg, wo der +Großvater als Pfarrer amtet. Sie brauchen keinen Bauernwagen dahinaus, +sie gehen durch die Niederdorfporte auf die Schaffhauser Straße und +dann am Käferberg sacht hinauf durch Weinberge bis an den Hügelrand, +wo nach einer Stunde das Dörfchen mit der sauberen Kirche und dem +Pfarrhaus erscheint. Unten zieht die Limmat ihren Silberstreifen +durch das breite Tal, und hinten zeigt der Albisrücken die steile +Schmalseite; wo seine Kante gegen den See verläuft, steht vor der +Heiligkeit der Berge und gegen das blanke Wasser die Stadt Zürich mit +ihren Mauern und Türmen dunkel wie ein Haufe reisigen Kriegsvolks da. + +Jedesmal, wenn er mit seinem Bruder Johann Baptista angekommen ist und +sie sich in dem unteren mit spitzen Feldsteinen gepflasterten Flur von +dem Staub des Marsches gereinigt haben, dürfen sie zu dem alten Herrn +in die Studierstube hinauf. Sie liegt ganz oben und ist in der Ecke +des Pfarrhauses so eingebaut, daß durch die breiten Fenster von Süden +und Osten die Helligkeit der weiten Landschaft hinein sieht und den +würdigen Greis mit Heiterkeit umspielt. Er steht nicht auf, wenn die +Buben zu ihm herein kommen, auch dürfen sie nicht anders als einzeln +gerufen zu ihm an den Tisch treten. Jedes muß sein Sprüchlein sagen, +wie sie die Mutter verlassen haben und wie lange sie unterwegs gewesen +sind; und niemals fällt es ihnen bei, hier oben die Ehrwürdigkeit +durch eine Zärtlichkeit zu verletzen. Erst unten, wenn er mit am Tisch +sitzt, wo die Großmutter mit den gütigen Zwickelfalten ihres alten +Gesichtes das Gespräch führt, wird er der Großvater, der sie aus den +Schoß nimmt und Scherze mit ihnen treibt. Aber wenn sich allmählich aus +dem Donnergott des Großmünsters das Bild Gottes als eines himmlischen +Vaters in Heinrich Pestalozzi umbildet, sind es die Züge des Großvaters +in der Studierstube, die dem Bild ihr Wesen geben. + +Stärker wird dieser Eindruck, als er am Gottesdienst teilnehmen darf. +Das Pfarrhaus ist an die Kirche so angebaut, daß es mit dem Totenacker +seitlich vom Dorf und am äußersten Rand des Hügels eine Art Gutshof +vorstellt, der wie ein solcher auch durch einen Torweg zugänglich ist. +Durch den sieht Heinrich Pestalozzi Sonntags die Kirchgänger kommen, +sauber gekleidet in ihrer bäuerlichen Tracht. Die Glocken klingen +heller, und auch die Orgel hat nicht den brausenden Schall wie im +Großmünster. Wenn sie anfängt zu spielen, ist es nicht anders, als ob +sich die dunkleren Stimmen der Männer mit denen der stauen und Kinder +mischten, und wenn das Lied dann wirklich einsetzt, wird alles zum +Gesang der Gemeinde. + +Weil er die Stimme und das Wesen des Großvaters kennt, bleiben ihm auch +die Worte seiner Predigt nicht gar so fremd, so wenig er im einzelnen +davon versteht. Es ist fast der himmlische Vater selber, der zu seinen +Kindern in dem feierlichen Ton der Studierstube spricht, aber der +gütige Klang in seiner Stimme bleibt; und weil er niemals poltert, +niemals aus den Rand der Kanzel schlägt wie die Prediger in der Stadt, +bekommt die Predigt nichts von ihrem gottfremden Haß. So trägt Heinrich +Pestalozzi jedesmal einen warmen Glanz von der Empore mit hinunter; +und weil er die Kirchgänger nachher nicht gleich den Zürchern in die +dunklen Schlüfte der Gassen verschwinden sondern langsamen Schrittes +sich rund herum in die Gehöfte zerstreuen sieht, zweifelt er nicht +daran, daß sie überall etwas von dem Glanz hinbringen. Um so stolzer +ist ihm zumut, daß er selber danach im Pfarrhaus bleiben und mit dem +Träger dieser feierlichen Macht zu Tisch sitzen darf -- wo der Pfarrer +freilich am Sonntag außer dem Gebet niemals ein Wort spricht, wie er +auch an diesem Vormittag das Frühbrot in seiner Studierstube nimmt +und sich vor dem Gottesdienst niemandem zeigt. Erst wenn er seine +Mittagsruhe gehalten hat, sehen ihn seine Enkel als Großvater wieder, +der gern fröhlich ist und sie manchmal noch bis vor das Tor der Stadt +zurück begleitet; hinein geht er seit dem Tode seines einzigen Sohnes +nicht mehr gern. + +So bewirkt der Großvater in Höngg durch die weise Trennung amtlicher +Würde von seiner gütigen Menschlichkeit, daß sich für die Kindheit +Heinrich Pestalozzis das Grauen von den kirchlichen Dingen hebt. + + + 4. + +Auch außerhalb des Pfarrhauses findet Heinrich Pestalozzi im ländlichen +Leben zu Höngg vertrautere Wege aus der engen Stube als in der +finsteren Stadt. Wo jeder den andern kennt und die Großmutter wohl +weiß, mit welchen Kindern sie den Enkel spielen läßt, ergibt sich +leichter ein Kamerad. Der angenehmste heißt Ernst Luginbühl und wird +ihm bald ein sehnsüchtig erwarteter Führer in die hügeligen Gebiete +bis an den Wald am Käferberg hinauf oder gar in die steinichten +Limmatwiesen hinunter, wo Samstags die Schiffe der geputzten Zürcher +eilfertig mit der Strömung nach Baden treiben und Sonntags von dem +Landvolk an Stricken mühsam stromauf gezogen werden. Er trägt keinen +stolzen Federhut wie der Vetter in Richterswil, er läuft barhaupt und +barfuß wie die andern Landbuben auch und hat prallrote Backen mit +wasserhellen Augen; aber er weiß, wo man am sichersten einen Specht bei +seiner Klopfarbeit belauscht oder wo ein Ameisenberg ist. Sein Vater +arbeitet als Baumwollenweber, der erste und einzige in Höngg; einmal +geht Heinrich Pestalozzi mit hinein und sieht den bärtigen Mann gebückt +in dem Gestänge sitzen. Er hat nichts Ähnliches von menschlicher Arbeit +gesehen; Küfer, Schmiede, Bäcker und Schreiner und erst recht die +Bauern: alle schaffen mit den Händen und bleiben für sich selber frei; +dieser Weber aber sitzt im Gestänge seiner Arbeit als ein Teil von +ihr, wie die Spinne ans Netz gebunden. Er bleibt eine Stunde lang mit +den Knaben dasitzen und hört dem unablässigen Geklapper zu, das aus +dünnen Fäden Stoff macht. Als er nachher beim Abendessen ausgefragt +wird, wo er gewesen ist, und anfängt, von dem Baumwollenweber zu +erzählen, will der Großvater stirnrunzelnd nichts mehr hören von dem +Unglück dieser städtischen Neuerung -- es ist das einzige, was Heinrich +Pestalozzi von seinem Unwillen versteht. + +Einmal ist er eine ganze Woche lang in Höngg geblieben und kommt +sich selber schon wie ein Landkind vor, als ihn die Mutter wieder +holt. Auch diesmal geht der Großvater mit, aber nur bis Wipkingen, +von wo er sich geärgert gegen den Berg zurückwendet. Er ist böse +auf das geputzte Stadtvolk in den Schiffen, das sich am Sonntag von +den Dorfleuten heimziehen läßt, ihre schwere Arbeit mit übermütigem +Geschrei begleitend, und Heinrich Pestalozzi hört wieder, wie er von +dem städtischen Unglück zu der Mutter spricht. Es geht schon gegen die +Dämmerung, und so wendet sich der alte Mann von ihnen fort in einen +dunkelroten Abendhimmel hinein, der den Häusern glühende Augen macht. +Heinrich Pestalozzi weiß nicht warum, aber die Traurigkeit überkommt +ihn so, daß er herzbrechend hinter dem Großvater her weint; es dauert +lange, bis die erschrockene Mutter heraus bekommt, daß es die dunkle +Stadt ist, vor der er sich fürchtet, und daß er alle Tage mit ihr +und den Geschwistern und dem Babeli auf dem Land wohnen möchte. Da +gesteht sie ihm, daß die Verwandten in Richterswil ihr das schon +damals bei dem Besuch vorgeschlagen hätten, daß sie es aber nicht +möchte der Stadtschulen wegen. In Richterswil möchte ich auch nicht, +sagt er fast trotzig, lieber in Höngg! und weiß nicht, warum nun seine +Mutter herzbrechender weint als er vorher; sodaß sie beide mit einer +verlorenen Traurigkeit durch die Niederdorfporte in Zürich eingehen. + + + 5. + +Nach diesem Abend verlangt Heinrich Pestalozzi sehnsüchtig in die +Schule. Seitdem die Schwester Dorothea gestorben ist und der Johann +Baptista, um ein Jahr älter als er, täglich sechs Stunden zu den +Schulmeistern am Neumarkt geht und nachher bei den Schularbeiten sitzt, +ist er tagsüber allein mit dem Bärbel, das immer noch in der Wiege +liegt und ihm kein Gespiele sein kann. Für die deutsche Schule scheint +es der Mutter noch zu früh, so bringt ihn das Babeli eines Morgens in +die Hausschule. + +Es wird aber kein schönes Erlebnis für ihn: als sie in den schmalen +Raum eintreten, der eigentlich nur einen breiteren Gang vorstellt, ist +der alte Lehrer gerade dabei, einen Buben zu walken; es sieht aus, als +ob er ihm die Haare in Büscheln ausreißen wolle; zugleich vollführen +die beiden ein weinerliches Geschrei, über das die andern Kinder, Buben +und Mädchen durcheinander, schadenfroh lachen. Erst als das Babeli den +Zornigen anruft, hört er auf. Hinten ist noch eine Bank frei, dahinein +wird Heinrich Pestalozzi mit seinen Sachen gesetzt; das Babeli droht +ihm noch einmal mit dem Finger und überläßt ihn den Kindern, von denen +er nicht eines kennt, und dem weißköpfigen Schulmeister, der -- als er +den Namenszettel gelesen hat -- die Magd für die Frau Pestalozzi selber +hält und ihr mit vielen Komplimenten an die Tür nachläuft. Der Lärm, +der durch die Neugier gestockt hat, hebt wieder an: die Kinder haben +neben den Büchern ihre Eßwaren, und was sie sonst mit sich führen, +auf den Pulten ausgebreitet; ein jedes liest laut oder schreibt für +sich wie zuhause: der Lehrer ist nur eine Art Unhold, der eines nach +dem andern vornimmt und die andern schwatzen und balgen läßt. So hört +das Geklatsch seiner Prügel und sein Geschrei ebensowenig auf wie der +Lärm der Kinder, die meist garnicht hinsehen, wenn sich sein Zorn +beim nächsten Opfer neu entzündet. Auch Heinrich Pestalozzi kommt +endlich an die Reihe, als er eine Stunde lang verängstigt dagesessen +hat; er wundert sich fast, als es diesmal ohne Prügel abgeht, malt +danach Buchstaben, wie er es von seinem Bruder gelernt hat, und ist +noch fleißig dabei, als die andern mit eiligem Geklapper ihre Sachen +zusammen raffen. + +Auf der Gasse wartet das Babeli; und wenn ihm das schon diesmal Spott +einträgt, so wird ein paar Tage später ein wahres Schicksal daraus: es +macht sich gerade so, daß ein Platzregen losgeht, das handfeste Babeli +will ihn unter die Schürze nehmen; und rafft ihn kurzerhand -- da er +sich vor den andern schämt -- als Bündel unter den Arm, um mit ihm heim +zu rennen, so sehr er schreit und strampelt; sogleich verfolgt von +einem Rudel der Kinder, die sich nun alle aus dem Regen nichts mehr +machen und die Tropfen in ihre Gesichter klatschen lassen. + +Seitdem haben sie ihren Schabernack mit ihm, wo sie nur können. Seine +Vorfahren vom Vater her sind Italiener gewesen, davon hat er die +schwarzen Haare und die dunklen Augen behalten, und von den Blattern +ein Gesicht voll Narben: so sieht er eher einem Savoyardenknaben +ähnlich als einem Stadtzürcher und ist für sie ein fremder Vogel. +Obwohl er nichts lieber gemocht hätte als mit ihnen spielen, macht ihn +die Erfahrung scheu, sodaß er nun erst recht ein einsames Stubenkind +wird. + + + 6. + +Später in der deutschen Schule tritt Heinrich Pestalozzi statt mit +dem Babeli mit seinem Bruder Johann Baptista auf; der ist beweglicher +als er und hat auch schon Bekanntschaften; dadurch kommt er mit den +Knaben anfangs besser zurecht, um so leidvoller wird die Schule +selber für ihn. Obwohl die Lehrer nicht solche Zornickel sind wie +in der Hausschule, bleibt auch ihr Unterricht eine fortgesetzte +Streitigkeit mit dem einzelnen Schüler, wobei sie die Schwächen eines +jeden mit geübter Schulmeistergrausamkeit zu finden wissen. Heinrich +Pestalozzi, dem es niemals völlig gerät, sich selber und seine Bücher +in Ordnung zu halten, der bald ungekämmt in die Schule kommt, bald +seine Schreibsachen oder Hefte vergessen hat, der aus den Spaziergängen +seiner Gedanken aufgeschreckt die törichtsten Dinge zu sagen vermag und +dem die richtigen Antworten meist erst auf dem Nachhauseweg einfallen, +ist ihnen bald nur eine Gelegenheit, die herkömmlichen Schulwitze +anzubringen. Daß er im ganzen eifriger als die meisten ist und sich +leicht geschickter anstellt als es zu ihren Späßen paßt, stört sie +nicht in ihren Hänseleien. + +Und weil die Lehrer es so halten, widerstehen auch die Mitschüler der +Verlockung nicht, ihren Witz an diesem Neuling zu üben, der nichts von +ihren Spielen kennt und sich gutgläubig zum Narren halten läßt. Ihm +steht diese Gutgläubigkeit gleichsam schon im Gesicht geschrieben, +und seine linkischen Hände scheinen nur geschaffen, für ihr Gelächter +fehl zu greifen. So weiß ihn eines Tages einer mit Äpfeln begehrlich +zu machen, die er im Sack hat: er würde ihm den schönsten schenken, +wenn er ihm damit auf sechs Schritte in den Rücken werfen dürfe. Mehr +um der Tapferkeit als um des Apfels willen geht Heinrich Pestalozzi +auf den Handel ein; der Knabe aber trifft ihn so hart zwischen den +Schultern, daß er wie von einem Büchsenschuß hingestreckt wird, und -- +als er sich mit einer Übelkeit kämpfend an dem nassen Steintrog unter +dem steinernen Brunnenmann aufrichtet -- nur noch sehen kann, wie ein +Flinker unter dem Hallo der andern den Apfel aufhebt und davon rennt. + +Heinrich Pestalozzi fühlt damals schon, daß es die Absperrung seiner +häuslichen Erziehung ist, die ihn so fremd und linkisch unter den +andern Knaben macht; er ginge trotz solcher Späße gern nach der Schule +zu ihren Spielen auf die Gasse, aber das Babeli, das immer mehr wie ein +handfester Weibel die Stubenwelt der Witwe Pestalozzi regiert, duldet +dergleichen schon aus Sparsamkeit nicht: Warum wollt ihr unnützerweise +Kleider und Schuhe verderben? Seht eure Mutter, wie sie wochen- und +monatelang an keinen Ort hingeht und jeden Kreuzer spart, euch zu +erziehen! Und um dem Grund praktische Kraft zu geben, nimmt sie den +Buben nach der Schule sogleich die Schuhe weg. + +Heinrich Pestalozzi vermag nicht wie sein Bruder Johann Baptista den +gutgemeinten Zwang mit allerlei Listen zu umgehen; er hat unterdessen +durch die Mutter erfahren, was damals am Sterbebett des Vaters +geschehen ist: da hat die Magd dem todkranken Wundarzt um ihrer +Christenheit willen versprochen, die Frau nicht zu verlassen, weil +seine Kinder sonst womöglich in fremde und harte Hände kämen! Das +Babeli in seiner Einfalt, damals dreißigjährig, hat es dem Sterbenden +in die Hand gesagt, an ihrem Platz zu bleiben, bis sie stürbe; auch +hat sie tapfer Wort gehalten, als sie den Antrag eines ehrlichen +Stadtbürgers ausschlagen mußte, und ist dem bedrängten Haushalt ohne +Lohn durch alle Schwierigkeiten treu geblieben. Seitdem Heinrich +Pestalozzi das weiß, kann er das faltige Sorgengesicht der guten +Magd nicht anders als ehrfürchtig ansehen; und wenn der Großvater in +Höngg dem Bild des himmlischen Vaters für seine Vorstellung die Züge +herleiten muß, so vermag er die biblische Erzählung von Christus und +den Schwestern in Bethanien nicht zu hören, ohne daß ihm seine Mutter +zur still vertrauenden Maria und das Babeli zur schaffenden Martha +wird. Soviel innige Gläubigkeit er aber damit auf die zarte Gestalt +der Mutter legt, die -- als Susanna Hotze in Richterswil bei den +wohlhabenden Brüdern aufgewachsen -- ihre bescheidene Lage niemals als +Armut fühlt und auch den Kindern das Gefühl ihres guten Standes erhält; +so wenig vermag er aus dem Evangelium eine Verachtung für die treue +Magd zu ziehen, deren Stunden nichts als schaffende Sorgen kennen; ja, +so oft er die abweisenden Worte Jesu liest, drängt ihn sein Gefühl, für +die schaffende Martha aufzustehen. + + + 7. + +Heinrich Pestalozzi ist acht Jahre alt, als ihm eine Veränderung der +äußeren Lebensumstände die Gedanken der Armut dennoch aufdrängen +will. Seine Mutter, die immer noch die alte Wohnung gehalten hat, +sieht sich genötigt durch die wachsenden Ausgaben für die Kinder, +den Haushalt in der kleinen Stadt jenseits der Limmat bescheidener +einzumieten. So lustig die Knaben mit dem Bärbel, das nun schon aus +der Kammer in die Stube laufen kann, den äußeren Aufwand des Umzugs +finden: so schmerzlich ist der Augenblick, als sie hinter dem Wagen mit +ihrem Hausrat her -- das Babeli trägt die Schwester auf dem Rücken, +und die Mutter führt die Brüder an der Hand -- am steinernen Rathaus +hinübergehen auf die breite Bretterbrücke und in die kleine Stadt. +Die ist freilich um den hohen Lindenhof herum gebaut, von dem die +Schriften sagen, daß er schon in römischen Zeiten befestigt und der +eigentliche Ursprung der Stadt gewesen wäre; aber darum lassen sie +doch das Großmünster mit dem Haus Zwinglis drüben, von wo der Zürcher +Glaubensheld für seinen Gott in den Krieg und Tod gezogen ist. Überdies +will ein Mißgeschick, daß am Hotel zum Schwert gerade ein fremder Herr +mit drei Rossen vorfahren will und bei der Wendung in die Deichsel +ihres Gefährtes gerät. Der Ruck ist heftig und bricht dem Tisch, der +hinten mit abgesperrten Beinen aufgebunden ist, eins davon ab, das +schief herunterhängt. Gleich gibt es zwischen den Fuhrleuten ein +Geschimpfe, und weil der ihrige zu Fuß geht, der andere aber in einer +stolzen Uniform auf dem Bock sitzt, auch der Wirt zum Schwert gleich +seinem vornehmen Gast zu Hilfe kommt, bleibt der mit den drei Rossen +Sieger, indessen sie mit ihrer Habe, verbellt von Hunden, demütig um +die Ecke ziehen. + +Es ist kein großer Schaden; sie müssen den Tisch nachher in eine +Wandecke stellen, damit er ihnen beim Abendbrot nicht umfällt; doch +liegt die Stimmung des verschimpften Auszuges aus der großen Stadt so +jämmerlich auf ihnen, daß sie miteinander in eine Heulerei geraten. Die +neue Wohnung ist sichtlich beengter als die alte; außer der Küche mit +einem Alkoven für das Babeli und der gemeinsamen Kammer für die andern +hat sie nur einen Raum, der fortab Besuch- und Wohnstube in einem sein +muß: es ist die Lebensluft verschämter Armut, in die sie nun eingezogen +sind. Mehr als die Mutter hat das praktische Babeli auf den Umzug +gedrängt. + +Die Mutter will auch da noch die geborene Hotzin bleiben; und wenn in +der Folge eine Bekanntschaft aus den besseren Zeiten, da der Wundarzt +Pestalozzi noch auf die Jagd oder fischen ging, oder gar einer aus +der vornehmen Verwandtschaft vom See den Weg in die kleine Stadt +findet, wird die Stube jedesmal mit allem Staat aufgemacht, den sie +aus ihrer Mitgift gerettet hat. Auch hält die einsam verhärmte Frau +ängstlich darauf, was sie als Stadtbürgerin an Ehrengaben zu leisten +ihrem Stande schuldig ist; und ob sie manchmal dem letzten Gulden mit +Ehrenfestigkeit zu Leibe geht, und ob das Babeli danach die Kreuzer +zusammenkratzen und auf dem Markt das Billigste erfeilschen muß: nach +außen soll alles den Anschein eines unabhängigen Bürgerhaushalts +behaupten. + + + 8. + +Für Heinrich Pestalozzi wird der Abstieg in die Armut dadurch +gemildert, daß er gleich am andern Tag nach Höngg hinauskommt. Er ist +mit der deutschen Schule zu Ende, und bevor er in die Lateinschule +am Fraumünster eintritt, will der Großvater seinen Kenntnissen noch +etwas nachhelfen. Er holt ihn diesmal selber ab; die Übersiedelung hat +ihn besorgt gemacht, doch findet er alles recht und gegen Abend ist +eine Kalesche da, sie miteinander hinauszufahren. Vor der Stadt darf +Heinrich Pestalozzi auch einmal kutschieren; er zupft aber unablässig +an den Zügeln, als ob es an ihm läge, daß die vier Beine sich bewegten, +sodaß der Gaul am Ende wild wird und sie in einem unfreiwilligen Galopp +nach Wipkingen bringt. Der Großvater liebt solche Vorfälle nicht; als +er ihm kurzerhand die Zügel abgenommen und das Pferd zur Ruhe gebracht +hat, sagt er strafend, das würde einem Knaben vom Land nicht begegnen; +es wäre ein rechtes Stadtbubenstück. Er bleibt aber nicht unfreund mit +ihm, und als er vor der Wegsteile gegen Höngg aussteigt und das Pferd +am Zügel führt, nimmt er ihn gütig an der Hand, als ob trotzdem noch +etwas Rechtes aus ihm werden könne. + +Der Großvater hat den armen Kindern der Gemeinde erlaubt, hinter der +Kirche zu spielen, wo neben dem Kirchhof ein sonniger Rasenplatz auf +neue Gräber wartet. Obwohl manche von den Kindern nur mit Hudeln +bekleidet sind, tadelt er es nicht, wenn seine Enkel an ihren Spielen +teilnehmen. So ist Heinrich Pestalozzi eines Tages mit ihnen dabei, +das Wasser aus einer Pfütze neben der Kirche in einer Rinne bergab zu +leiten, wo es gerade den schönsten Wasserfall macht, als auf einmal +einige der Kinder, dann alle auseinander laufen und sich unter der +alten Steinbank, hinter Gräbern oder wo sie sonst einen Schlupfwinkel +finden, verstecken: ohne ihr sonstiges Geschrei und sichtbar in Angst, +nicht anders, als ob Hühner einen Habicht in der Luft gespürt hätten. +Er hält alles zunächst für eins von ihren Spielen, aber so still es aus +dem Kirchhof ist, so laut wird es auf der Landstraße: die Gestrengen +Herren in Zürich haben allmonatlich eine Betteljagd verordnet, und +nun kommen die Landreiter von ihrer Pirsch mit einer verlumpten +Schar, Alten und Kindern, in einem langen Strick wie eine Schafherde +eingehürdet. + +Heinrich Pestalozzi besinnt sich nicht, er läuft nach vorn um die +Kirche an den Torweg, und obwohl die Holzflügel schwer mit Eisen +beschlagen sind, bringt er sie mit allen Kräften doch in die Riegel. +Die Landreiter sind unterdessen schon durch das Dorf geritten, sie +hätten sich auch schwerlich durch das Tor abhalten lassen; doch als +er eben dabei ist, den Verschüchterten anzusagen, das Tor wäre zu und +kein Landreiter könne herein, kommt der Großvater um die Kirche herum +neugierig nach. Er hat das eilige Geschäft seines Enkels bemerkt, tut +aber nicht weiter dergleichen, nur wie er ihn nachher an der Hand mit +ins Pfarrhaus genommen hat und der Knabe in dem dämmrigen Hausflur +schon denkt, er werde ihn strafen: hebt er ihn auf den Arm, als ob er +ihm sagen wolle, bist ein tapferer Bub! Und als sie miteinander oben +in dem Studierzimmer sind, wo er nun lernen soll, wendet er sich zu +ihm hin, wie wenn er ein Großer wäre: Ich wüßte den Herren in Zürich +andere Mittel als Landreiter und Betteljagden, der Armut auf dem Lande +abzuhelfen! + + + 9. + +Als Heinrich Pestalozzi diesmal von Höngg zurück kommt, trägt er einen +Schatz bei sich, mit dem er sich stolz und vieler Dinge mächtig fühlt. +Um ihm den ungewissen Weg in die lateinische Wissenschaft vertrauter zu +machen, hat ihn der Großvater das Vaterunser lateinisch gelehrt. Auf +dem ganzen Weg nach Zürich hinunter, den er diesmal tapfer allein geht, +sagt er die fremden Worte vor sich hin, ängstlich, daß ihm eins davon +entfallen könnte. Es ist aber nicht die Schule, der zuliebe er sorgsam +mit ihnen ist; dahinter steht das Bild des Großvaters als Lebensziel +auf: auch einmal so in einem Dorf Seelsorger zu werden -- womöglich in +Höngg selber -- den Armenkindern ein väterlicher Freund; das scheint +ihm alle kommenden Mühsale der Schule wert zu sein. + +Er wird auch im Fraumünster kein Schüler, wie ihn die Schulmeister +brauchen können. Zu sehr gewöhnt in seiner behüteten Stubenwelt, die +Dinge von sich aus zu erleben und eigene Wege in das Geheimnis der +Augenwelt zu suchen, sieht er sich bei ihnen vor ein unaufhörliches +Vielerlei von leeren Worten gestellt. Bloß auswendig Gelerntes +herzuplappern, wie es die meisten tun, vermag er nicht; und selbst, +wenn er etwas verstanden hat, wird es ihm schwer, Worte daraus zu +machen, weil er sich damit leicht wie ein Komödiant vorkommt. Damit er +etwas sagen kann, darf es nicht schon ausgedacht sein, es muß ihm aus +den Gedanken selber, nicht aus dem Gedächtnis kommen: weil aber die +Fragen der Lehrer selten in seine Gedanken treffen, findet er trotz +bestem Willen und innerer Lebendigkeit wenig Gelegenheit, sich als +guten Schüler zu zeigen; ja, weil er gerade dann, wenn ihn eine Sache +des Unterrichts wirklich beschäftigt, leicht für Minuten und länger +von dem unwiderstehlichen Fluß seiner Gedanken fortgetragen werden +kann, stellt er nur selten den gelehrigen Schüler dar -- der er doch +ist --, sondern er wird gerade dann gescholten, wenn er vielleicht +mehr als ein anderer bei der Sache ist. Am selben Tag kann er in einem +Fach der beste und gleich darauf doch wieder der schlechteste sein; +so kommt er bei allem Eifer auch in der Lateinschule bald wieder in +ein feindseliges Verhältnis zu den Lehrern, das mit zornigen Strafen +über seine Zerstreutheit anfängt und mit der Verspottung seiner +absonderlichen Art ausgeht, ihn nach wie vor dem Gelächter der Klasse +bloßstellend. + +Obwohl das Babeli ihn stets ordentlich herausputzt, steht er doch in +der Kleidung gegen die gepflegten Herrenbuben zurück, und was er von +der mühsamen Ordnung heimbringt, ist manchmal übel genug. Auch hält +das Babeli immer noch strenge Hauszucht, sodaß er auch jetzt nicht zu +den Spielen der andern auf die Gasse darf und für die lateinischen +Mitschüler der gleiche fremde Vogel bleibt, der er auf der deutschen +Schule war. Als der erste Sommer zu Ende geht, hat er bei ihnen schon +den Spottnamen, der ihm von da ab durch die ganze Schule bleibt: Heiri +Wunderli von Torliken. + + + 10. + +Trotzdem hört Heinrich Pestalozzi allmählich auf, der unfreiwillige +Spaßvogel seiner Mitschüler zu sein; er lernt sich zu wehren, und kommt +durch einen Vorfall sogar in den Ruf einer besonderen Tollkühnheit: + +Er ist ein Jahr lang Lateinschüler gewesen, als sein zeitweiliger +Spielfreund Ernst Luginbühl aus Höngg in die untere Klasse eintritt. +Dessen Vater ist herkömmlich ein verarmter Stadtbürger, der sich in +sein dörfliches Anwesen hinein geheiratet hat, aber bis in seine +Baumwollenweberei ein unruhiger Kopf bleibt, weshalb ihn auch der +Großvater nicht gern in seiner Dorfgemeinde sieht. Ihm selber ist es +mit allen möglichen Anschlägen fehl gegangen, darum will er seinem +Buben eine bessere Bildung mitgeben und bringt ihn -- der einen klaren +Kopf hat und gern lernt -- in die Lateinschule, wo er, älter als die +andern, in die untere Klasse aufgenommen wird. Er hat noch immer +seine roten Backen und die wasserhellen Augen, aber er trägt Schuhe +an den Füßen und ist auch sonst für die städtische Schule zurecht +gemacht, in einer ländlichen Art, die den Stadtkindern von selber zum +Gespött wird. Heinrich Pestalozzi weiß längst, wie die Bürgersöhne +den Knaben vom Land die Schule verleiden, als ob sie Eindringlinge in +ihre Vorrechte wären; ihn selber lassen sie deutlich genug merken, +daß seine Mutter nur eine Landbürgerin ist; nun aber trifft es seinen +Freund, der in dieser fremden, feindseligen Welt mit den Bauernaugen +um Mitleid zu flehen scheint. Jeden Morgen kommt er den mühsamen Weg +von Höngg herunter, manchmal, wenn es geregnet hat, naß bis auf die +Haut; und mittags, wenn die andern heimgehen, fertigt er seinen Hunger +im Klassenraum mit einem Stück Brot ab. Er gerät in ein hartes und +verstocktes Dasein, und wenn ihn Heinrich Pestalozzi anspricht, ist +es fast, als ob er etwas von seinem Haß gegen die hochmütigen und +grausamen Bürgersöhne auf ihn übertrüge, sodaß es hier in der Stadt +keine rechte Fortsetzung der ländlichen Freundschaft geben will. + +Eines Mittags kommt Heinrich Pestalozzi zufällig als der Letzte aus der +Klasse und hört unter dem Gang im Hof ein Hetzgeschrei. Einige größere +Knaben haben den mißliebigen Weberssohn in eine Ecke gedrängt und hauen +auf ihm, der sich kratzend und beißend wehrt, mit Linealen herum; +einer muß ihn am Kopf getroffen haben, denn aus dem weißblonden Haar +laufen ein paar Zickzacklinien von Blut herunter. Heinrich Pestalozzi +weiß nichts von dem Anlaß des Streites, er sieht nur das Blut, und +wie sie ihren Übermut und Hohn an dem Knaben auslassen; darüber faßt +ihn augenblicklich der zornige Eifer so, daß er blindlings aus der +offenen Halle über die Steinbrüstung hinunter klettert. Es ist eine +kleine Stockwerkshöhe, und er könnte sich leicht zu Tode stürzen, als +er für einen Augenblick selber erschrocken an der Steinbrüstung hängt. +Er purzelt aber einem, der sich gerade bückt, auf die Schultern, daß +der bäuchlings hinfällt und ihn wie einen Igel abkugeln läßt, ist +gleich von Zorn besessen wieder auf und springt auf die andern ein, +die im ersten Schrecken auseinander rennen. Auch der von seinem Sprung +Betroffene will fort, kann aber nicht auf und kriecht auf Händen und +Füßen eilig davon. Darüber erheben die andern, die schadenfroh der +Prügelei zugesehen haben, ein solches Hohngeschrei, daß ein Lehrer +dazukommt, ehe die Überfallenen ihrem kuriosen Angreifer heimzahlen +können. Es gibt nun zwar ein strenges Verhör, bei dem Heinrich +Pestalozzi, weil er trotzig schweigt, als der allein Schuldige +übrigbleibt und auch in Strafe genommen wird: aber mit seinem +tollkühnen Sprung ist er doch Sieger geblieben, und die Schande einer +feigen Flucht vor dem schmächtigen Heiri Wunderli von Torliken bleibt +auf den andern sitzen. Das Babeli, als es durch den Johann Baptista +davon hört, will ihn strafen, weil die Hosen zerrissen sind; aber die +Mutter wehrt ihr und streichelt ihn. + + + 11. + +Im Dezember des gleichen Jahres sind die Schüler in der Klasse von +Heinrich Pestalozzi gerade aufgestanden, ein Weihnachtslied zu üben, +als es einen Erdstoß gibt, wie wenn Pferde einen Wagen anzögen, auf dem +sie ständen. Sie hören in derselben Sekunde auf zu singen und halten +sich an den Bänken fest; dann ist der Lehrer der erste, bei dem sich +die Erstarrung auf die Gefahr besinnt. Mit langen Beinen springt er +zur Tür, die Geige und den Bogen noch in den Händen; aber ehe er dort +ist, drängen sich ihm schon die nächsten Knaben vor. Draußen quillt +die Schreckensflucht aus den andern Räumen ebenso zur Treppe; und ist +es zuerst totenstill gewesen, so erhebt sich nun das Geschrei; erst +derer, die hinfallen und getreten werden, dann der andern, die davon +angesteckt die letzte Besinnung verlieren. Es gibt keinen Einzelnen +mehr, nur noch eine Herde, dahinein die Todesfurcht gefahren ist; und +die am ehesten Kaltblütigkeit bewahren sollten, die schulmeisterlichen +Hirten gehen mit langen Beinen über die Köpfe und abwehrenden Hände der +Knaben hinweg. + +Auch Heinrich Pestalozzi ist wie die andern von der Besessenheit +gepackt worden und hat Arme und Beine gebraucht, sich in dem Strudel +oben zu halten; aber darum haben seine Augen doch das unwürdige +Beispiel der Lehrer aufgefaßt; und als er unten auf dem Hofe steht, +wo rundherum die Stücke von Dachziegeln in dem schwärzlichen Schnee +liegen und die Nachzügler kommen, die von den andern überrannt wurden +und teilweise bluten -- einer liegt leichenblaß seitwärts allein, +weil er aus dem Fenster gesprungen ist und den Fuß gebrochen hat -- +muß er weinen vor Zorn. Die meisten drängen auf die Gasse hinaus, +wo die Bürger unterdessen aus den Werkstätten gelaufen sind und in +den Himmel starren, der unbewegt über dem Erdbeben steht. Die zurück +bleiben, möchten zum Teil gern ihre Bücher und Hüte herunterholen, +aber keiner wagt sich hinein; obwohl nach der ersten Erschütterung, +die gleich einem langen Gerolle von unterirdischen Wagen gewesen ist, +nichts mehr geschieht und die leeren Gebäude gleichsam verwundert auf +die ängstliche Menschheit herunter sehen. Der Widerspruch zwischen +dieser lächerlichen Flucht und dem alten Heldentum, davon sie täglich +durch die selben Lehrer hörten, macht, daß ihm sein Knabenherz trotzig +aufspringt, sich selber und den andern ein Beispiel von Tapferkeit zu +geben. Während einige Bürger in den Schulhof gekommen sind und den +Jungen mit dem zerbrochenen Fuß aufheben, geht er in das verlassene +Schulhaus zurück: obwohl es unheimlich ist auf der leeren Treppe und +oben im Gang, wo alle Türen offen stehen, kommt er bis an die Klasse +und holt seine Sachen heraus; auch einigen andern bringt er mit, was +er rasch greifen kann; und nachher zwingt er seine Furcht, daß er die +Treppe nicht hinunter springt, Schritt für Schritt die Stufen nimmt und +triumphierend zu den Wenigen hinaus tritt, die da noch warten. + +Als er danach heim kommt in die Stube, ist der Johann Baptista schon +längst dabei, dem Bärbel das Abenteuer zu erzählen, indessen das Babeli +verzweifelt durchs Fenster sieht und ihn scheltend empfängt, daß er +so spät käme; nun wäre die Mutter aus Angst um ihn schon auf die +Gasse gelaufen! Er könnte ihr anders antworten; doch wirft er nur die +Sachen verächtlich auf einen Stuhl und springt hinunter, den Schrecken +der Mutter abzukürzen. Er findet sie auch gleich, wie sie mit blassem +Gesicht zurück kommt und ihn erblickend nichts anderes vermag, als ihn +hastig am Arm zu nehmen, wie wenn sie ihn jetzt noch retten müßte. + +Bei den Genossen aber gilt der Heiri Wunderli seit diesem Erdbebentag +als einer, der sich aus Großmannssucht für etwas Besseres hält, und +ihrem Spott ist fortab deutlich der Haß beigemischt, der für das +Ungewöhnliche das sicherste Erbteil unter den Menschen ist. + + + 12. + +Mit zwölf Jahren kommt Heinrich Pestalozzi wieder hinüber in die große +Stadt, wo seine Mutter im Haus zum Roten Gatter an der Münstergasse +eine billige Wohnung gefunden hat. Er tritt nun in die Lateinschule +am Großmünster über und verliert dadurch seinen ländlichen Freund +aus Höngg ganz aus den Augen. Um so betroffener wird er, als er beim +Großvater in die Ferien einrückt und dort erfährt, dem Baumwollenweber +sei es zu teuer geworden mit der Schule, auch habe der Ernst Luginbühl +selber die Plage mit den Stadtsöhnen nicht mehr gemocht. Er benutzt +den ersten Ausgang, ihn zu besuchen; schon draußen vor dem kleinen, +windschiefen Haus hört er den Webstuhl klappern, aber als er zögernd +hinein kommt, sitzt statt des bärtigen Baumwollenwebers der Sohn im +Gestänge. Es ist so laut in der Stube, daß der ihn nicht gleich +bemerkt; als er sich nachher umsieht, dauert der Streifblick nicht +länger als eine Sekunde, dann starrt er wieder in seinen Webstuhl. + +Heinrich Pestalozzi denkt, daß es die Arbeit so erfordere, und wartet +geduldig eine Pause ab; als sich nach einer Viertelstunde immer noch +nichts ändert an dem gleichförmigen Takt, ruft er ihn an, erst leise, +dann mehrmals lauter: der andere aber zieht nur trotzig die Schultern +ein. Da merkt er, daß ihn der Ernst Luginbühl nicht mehr ansehen +will, und in einer tief rinnenden Traurigkeit verläßt er die Stube. +Draußen sieht er gerade noch, wie die mattrote Sonnenscheibe in dem +Wolkengerinnsel am Horizont versinkt; was ein warmer Glanz mit lustig +langen Schatten war, als er herauf kam, ist nun eine rote Glut, die +sich brandig in den Himmel einfrißt. Nur am Ütliberg läuft noch eine +feurige Kante hinauf, und unten starrt das Kriegslager von Zürich vor +dem See, als ob es dunkel auf eine bläßliche Glasscheibe gemalt wäre. +Er fühlt mit seinen zwölf Jahren, daß alles, was bisher in seinem +Herzen gewesen ist, Zorn und Empörung, Mitleid und Freude: mit den +Stunden kam und verrann, wie dort das Sonnenlicht verrinnt und morgen +wiederkommt; aber, was da am Webstuhl angeschlossen ist, kam nicht mehr +los aus seiner Unabwendbarkeit. + +Heinrich Pestalozzi vermag nicht ins Pfarrhaus zurückzugehen; bis +zur Dunkelheit sitzt er am Rain und versucht, aus dem Knäuel dieser +Gedanken heraus zu kommen. Das einzige, was er gewinnt, ist ein +Gefühl, dass bis zur Stunde alles eitel und selbstsüchtig in ihm war: +nur, weil er die reichen Verwandten am See und hier den Großvater im +wohlbestallten Pfarrhaus hat, durch kein anderes Vorrecht, ist er vor +dem gleichen Schicksal behütet. Je tiefer er sich da hinein denkt, +um so mehr schämt er sich vor dem Knaben und um so glühender wird +sein Wunsch, ihm wenigstens ein Pfand der Liebe aus seinem Herzen +hinzulegen, da er ihm sonst nicht helfen kann. Und als er das Pfand +gefunden hat -- es darf nur das Liebste sein, was er besitzt -- hindert +Heinrich Pestalozzi nichts mehr, sein Herz zu erfüllen: + +Vor der Tür des Pfarrhauses, aus dem ein Licht der Wohlhabenheit in den +Abend leuchtet, zieht er die Schuhe aus und schleicht auf Strümpfen +in die Kammer. Der Ranzen ist noch nicht ausgepackt, und seine Hände +wühlen im Dunkeln nach dem silberbeschlagenen Testament, das seine +Mutter von ihrem Vater zur Konfirmation erhalten und ihm kürzlich am +Grab des eigenen Vaters in die Hand gegeben hat. Er fühlt das Unrecht, +das er damit tut: es gehört ihm selber garnicht, es ist ein Vorrecht +vor den Geschwistern, es zu haben. Aber gerade das bestimmt ihn, es +herzugeben; denn nur darum ist er wie alle übermütigen Stadtbürgersöhne +in Zürich gegen den Weberknaben im Vorteil, weil sie in den Reichtum +solcher Familienstücke hineingewachsen sind! Und daß es ein Liebespfand +von seiner Mutter ist, darauf hat Christus selber zu Maria gesagt: +Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? + +Als er zitternd und mit einem schmerzenden Knie, weil er im Eifer +gefallen ist -- auch die Schuhe wieder anzuziehen, hat er vergessen -- +zu dem Knaben in die Stube kommt, ist von dem Lichtspan an der Wand +ein trübes Licht darin, das die Schatten des Webstuhls wie Ratten in +dem halbhellen Raum hin und her laufen läßt. Diesmal hört der Ernst +Luginbühl gleich auf zu weben, so sehr scheint er erschrocken, wie +einer aus der Dunkelheit mit bittend hingestreckten Armen in sein +Licht kommt. Vor den heißen Augen weiß Heinrich Pestalozzi keins von +den Worten zu sagen, mit denen er her gelaufen ist; weil die Hände +des Knaben am Webstuhl hängen bleiben, legt er ihm das Testament mit +dem blinkenden Silber darauf. Wohl eine Minute lang ist es still +um die Atemzüge der beiden Knaben, wie wenn dieses Liebespfand sie +wirklich vereinen könnte; dann reißt der Webersohn die Hände fort, als +ob ihn mit dem kalten Metall des Buches ein widerliches Tier berührt +hätte. Klappernd fliegt es gegen das Holz und fällt seitwärts auf den +Lehmboden; doch darf es auch da nicht liegen, der Dämon in dem Knaben +fährt auf und spuckt danach; und als Heinrich Pestalozzi schützend +seine Hände über sein Heiligtum breiten will, tritt er mit beiden +Füßen darauf, bis es in den Lehm eingestampft ist. Erst dann bricht er +schluchzend aus und läuft durch die offene Tür in die Nacht. + +Heinrich Pestalozzi meint, die Mutter laut mit sich weinen zu hören, +als seine zitternden Finger das Buch aus dem Boden graben; mit einem +Grauen, darin das Großmünster aus seiner ersten Jugend über ihm +einstürzt, geht er aus der Stube. Am Zürichberg wird unheimlich das +Signal der Mondscheibe aufgezogen; so rot ist sie, als hätte sie dem +Abendrot das Blut ausgetrunken. Und wenn Heinrich Pestalozzi auch erst +nach Jahren die Verzweiflung verstehen soll, die ihm sein Liebespfand +bespien und zertreten hat, eine Ahnung trägt er schon an diesem +Abend ins Pfarrhaus hinunter: alles andere, nur nicht das gedruckte +Evangelium hätte er dem Knaben auf die Hände legen dürfen, der sich von +einer auf dieses Evangelium gegründeten Welteinrichtung verraten fühlt. + + + 13. + +Seitdem geschieht es Heinrich Pestalozzi häufig, daß er unversehens +an den Webstuhl in Höngg denken muß; er meint dann, das unaufhörliche +Geklapper zu hören, und kann, wenn er sich auf die Schulgegenwart +besinnt, staunend in eine neue Anschauung der Wirklichkeit versinken: +die sonst nur als der Kreis seiner Sinne um ihn gewesen ist oder in +seiner Erinnerung ein Bilderbuchdasein geführt hat, je nachdem er +zufällig an etwas dachte, wächst sich zur Weite ihrer unabhängigen +und ungeheuren Existenz aus. Es wird ein leidenschaftliches Spiel +seiner Einbildung, sich vorzustellen, was alles in der gleichen Stunde +geschieht, da er mit seinen Büchern dasitzt: wie der Großvater in Höngg +den Pfarrhut in seiner Studierstube aufsetzt und hüstelnd -- er geht +nun schon an die siebzig -- die Treppe hinuntersteigt, die Kranken +der Gemeinde zu besuchen; wie die Großmutter unterdessen mit ihren +runzeligen Händen im Garten schafft, manchmal ein Viertelstündchen +mit einer Nachbarin plaudernd; wie rund herum in den Weinbergen +und Feldern die Bauern sich nach ihrer Arbeit bücken; wie auf der +Straße die Kaufmannswagen, mit runden Tüchern überspannt, ihren Trott +dahingehen, oft überholt von den Staubwolken eiliger Reisenden; wie +bald ein Sonnenstrahl, bald ein Wolkenschatten hinläuft über das breite +Limmattal, über die reisige Stadt Zürich und die Großmünstertürme -- +daneben er selber im Schulhaus sitzt und dies alles denkt -- über den +langen See hin bis Richterswil und weiter hinauf gegen den blaudunklen +Wall der Berge, die sich nicht so leicht überrennen lassen, über +ungezählte fleißige Menschen hin, welche, die fröhlich singen, und +andere, die um einer Not willen verzweifelt sind. In der Weite und +unausdenkbaren Vielgestaltigkeit dieses Lebens fühlt er sich und seine +Pfarrpläne kaum anders als den Vetter am See, der mit seinem Federhut +den Soldaten spielt. Die Welt ist nicht mehr so, daß einer mit seiner +Knabeneinfalt hineingehen und ihre Dinge umgestalten kann, die Dinge +selber sind es, die mit ihrem unübersehbaren Zustand den Einzelnen +festhalten und nötigen. Wie die Unheimlichkeit des Großmünsters +drohend gegen die Stubenwelt seiner frühen Knabenjahre aufgestanden +ist, so kommt jetzt der Lebenskreis der Dinge; nur, daß er diesmal +die wirklichen Zusammenhänge fühlt und demütig die Überhebung seiner +Knabenpläne einsieht. + +Dazu kommt etwas Zufälliges, das freilich mit dieser Art, die Dinge +zu empfinden, zusammenhängt, ihn völlig verzagt zu machen: Weil er im +Examen der Erste gewesen ist, trifft es ihn, daß er das Gebet vor der +Klasse sprechen muß. So feierlich für ihn die Worte des Vaterunsers +sind, da er sie selber zum erstenmal öffentlich sagen soll, überfällt +der komische Zwiespalt zwischen seiner in tausend Täglichkeiten +verbrauchten Knabenstimme und dem feierlichen Aufwand, den er damit +treiben soll, sein verscheuchtes Selbstgefühl derartig, daß er einem +unwillkürlichen Zwang zu lachen nicht widerstehen kann und dadurch zu +einer ernstlichen Vermahnung kommt. Auch in der Folge verliert sich +dieses Hindernis nicht; so oft er in der Schule oder gar in der Kirche +etwas öffentlich aufzusagen hat, ist das stete Gefühl dabei, vor den +anderen Knaben lächerlich dazustehen, und er braucht dann nur seinen +Blick mit einem andern zu kreuzen, um auch schon auszuplatzen. Es ist +ihm sicher, daß er niemals als Pfarrer seine Stimme in der Kirche wird +erheben können, ohne diesen Zwang zum Lachen. Die erste Erkenntnis der +Weltzusammenhänge hat ihm die Unschuld seines Knabendaseins unsicher +gemacht, und ängstlich fragt er, ob sie ihm jemals wiederkommt? + + + 14. + +Als Heinrich Pestalozzi mit dem fünfzehnten Jahr aus der Lateinschule +übertritt in das sogenannte Collegium Humanitatis, das auch beim +Chorherrngebäude des Großmünsters liegt, ist von seinen Knabenplänen +nichts geblieben als die Verzagtheit, überhaupt einen Platz mit seinem +Dasein in der Wirklichkeit zu finden. Da hilft ihm zum erstenmal +seine Vaterstadt; indem er anfängt, die Dinge zu beobachten, wie sie +außer dem Kreis seiner Sinne ihre eigenen wechselvollen Zustände +haben, sieht er sich unerwartet vor ihre Vergangenheit gestellt. Diese +Bastionen und Stadttürme, Kirchen und Brücken: das alles ist nicht +immer so gewesen, wie es nun für seine Augen dasteht. Es ist die +Erbschaft der Jahrhunderte -- wie die öffentlichen Einrichtungen der +Zünfte, der Lehrschulen und Gottesdienste auch -- von Menschenhänden +in den ewigen Kreislauf der Natur gestellt und von Menschen in der +unaufhörlich ablaufenden Frist ihrer irdischen Gegenwart verändert. +Noch bevor er Schüler vom alten Bodmer wird, der seit Jahrzehnten in +Zürich helvetische Geschichte lehrt, verfällt er mit Eifer auf die +Geschichte der stolzen Heimatstadt. Gerade weil sie ihm mit ihren +finsteren Gassen nie so heimelig geworden ist wie das Land, und weil +sein Gefühl sich so schwer zurechtfindet mit den Einrichtungen, die +überall Ehrfurcht fordern und ihn bedrücken: sucht er hitzig nach der +Herkunft aller dieser Dinge und Sitten, als ob es ihm so gelingen +müßte, sein eigenes Gefühl aus der drohenden Ungewißheit in eine +sichere Übereinstimmung mit der Heimat zu bringen. + +So liest Heinrich Pestalozzi, der zwischen den Bürgersöhnen immer noch +ein schmächtiges Gewächs und der Heiri Wunderli von Torliken ist, +die mehr als tausendjährige Geschichte seiner Stadt: wie schon zu +römischen Zeiten der Lindenhof ein befestigtes Kastell war und in den +Märtyrern der thebäischen Legion, Felix und Regula, seine christlichen +Schutzheiligen gewann; wie Karl der Große ihm seine geistlichen +Stifte, das Großmünster und das Fraumünster, gab und eine Reichsvogtei +das römische Kastell auf dem Lindenhof ablöste; wie es lange vor +dem Eintritt in die Eidgenossenschaft reichsfrei und ein mächtiges +Stadtwesen war, bis es durch Zwingli der Vorort der reformierten +Christenheit wurde. Er liest von den berühmten Bürgermeistern der +Stadt: von Bruns, dem ränkevollen Aufrührer der Innungen, der die +Regierungen der Zünfte gegen die Geschlechter begründete und in der +Züricher Mordnacht die von Rapperswil eingebrochenen Adeligen grausam +unterwarf; von dem riesenhaften Stüssi, der um das Toggenburger Erbe +den Krieg mit den Eidgenossen aufnahm und vor dem Stadttor an der +Sihlbrücke fiel; von Hans Waldmann, dem Helden zu Murten, unter dessen +Hand Zürich zum Vorort der ganzen Eidgenossenschaft wurde, bis er, +von seinem eigenen Glanz verblendet, seinen Gegner, den Volkshelden +Frischhans Theiling, hinrichten ließ und bei der Empörung der Seebauern +selber den stolzen Hals aufs Schafott legen mußte. Er liest, wie sich +die Bürgermeister um Geld an mächtige Fürsten verkauften, wie Zürich um +seines Vorteiles willen mehrmals die Eidgenossen an die Österreicher +verriet, und wie durch den Bundesvertrag mit Frankreich das Reislaufen +der Eidgenossen ein bezahltes Handwerk wurde. Aber dann kommt +Zwingli, der gegen diese wie andere Unsitten in Zürich ein Regiment +schweizerischer Mannhaftigkeit aufrichtet und, obwohl er selber bei +Kappel kläglich umkommt, Zürich zur evangelischen Glaubensburg macht. +Aus dem ränkevollen Spiel der Jahrhunderte wächst ihm die Gestalt +dieses Glaubenshelden zu einer Größe heraus, daneben die Figuren der +Bürgermeister in den schwankenden Schatten böser Leidenschaften +versinken. + +Alle diese Dinge liest Heinrich Pestalozzi, wie ein anderer Zürcher +Knabe die Geschichte seiner Vaterstadt auch gelesen hätte; aber +unvermutet kommt eine Begebenheit, die seine eigene Herkunft angeht und +danach lange den heimlichen Schlüssel seiner vaterländischen Gefühle +abgibt: Zwingli ist seit vierundzwanzig Jahren tot, und überall haben +die Evangelischen mit der katholischen Gegenreformation zu kämpfen; da +ziehen an einem Mittag des Jahres 1555 einhundertsiebzehn Flüchtlinge +in Zürich ein, ziemlich die ganze reformierte Gemeinde aus Locarno, +die mit ihrem Pfarrer Beccaria über den schneebedeckten Bernardino und +den Splügen, durch Lawinengefahr und die Frühjahrsschrecknisse der Via +mala gewandert ist und in dem Nachfolger Zwinglis, dem Münsterpfarrer +und eigentlichen Regenten von Zürich, Heinrich Bullinger, einen +mannhaften Beschützer findet. Heinrich Pestalozzi weiß vom Großvater, +daß seine Familie ursprünglich italienisch und um des Glaubens willen +eingewandert ist: nun erkennt er die Umstände und wie tief er -- +mütterlicherseits sogar ein direkter Abkömmling jener Flüchtlinge -- +der Stadt Zürich verpflichtet ist. Zum andernmal wächst das Großmünster +mächtig auf vor einem Gefühl, aber es ist kein Grauen mehr; er sieht +die beiden Türme als reisige Wächter seines Glaubens die Stadt behüten, +und wenn nun Sonntags die mächtigen Glocken darin läuten, ist es der +Schlachtgesang Zwinglis und seiner Getreuen, die für das Evangelium +hinaus reiten in den Tod. + + + 15. + +Seitdem sich Heinrich Pestalozzi selber als einen Schützling dieser +mächtigen Stadt erkannte, mag er einsam durch ihre Straßen gehen +und sich allein von solchem Gang beglückt fühlen: Es braucht nur +ein Hufschmied zu hämmern, und schon hört er Schwertschlag auf +stählerne Panzer, und wenn er Sonntags mit der Gemeinde in den hohen +Münsterhallen singt, beim Donnerschall der Orgel, wenn er den Prediger +das Buch vom Altar nehmen sieht, wie es Zwingli an derselben Stelle +genommen hat, mischt sich mit dem ehrfürchtigen Grauen der Stolz und +Dank seiner von unbändigen Erinnerungen erfüllten Seele. Er weiß nun, +was es bedeutet, daß der steinerne Karl außen hoch am Münsterturm das +Schwert flach auf den Knien hält und warum auf den Brunnen die reisigen +Männer stehen. Als er einmal mit in die Zwölfbotenkapelle unter dem +Großmünster hinunter darf, läuft er nachher wohl eine Stunde lang +weinend vor Glück an der Limmat hin. + +Es ist, als ob er nun die Stadt erst sehe, in der er aufgewachsen +ist; und wenn er durch eine der alten Porten hinaus geht, die noch +immer wehrhaft dastehen, obwohl draußen die wohlgerüsteten neuen +Bastionen sind, kann es ihm ängstlich werden, die schützende Grenze zu +überschreiten. Der schwarze Pfahlwall im See am Grendel, der mit der +Dunkelheit die Schifffahrt absperrt, der Wellenbergturm mitten in der +Strömung, das mit mächtigen Quadern ins Wasser vorgebaute Rathaus, die +stattlichen Zunfthäuser und der breitbedachte Rüden am Stücklimärt, +wo immer noch die Constafel, die Geschlechter, tagen, das Haus zum +Königstuhl mit seinem derb vorgebauten Erker, darin der Bürgermeister +Stüssi gewohnt hat, oder das Haus zum Loch, mit seltsamen Sagen dem +großen Kaiser Karl verknüpft: jeder Stein der Stadt wird mit dem +Bewußtsein der Geschichte lebendig, die daran gebaut hat. + +Auch empfindet er nun, daß es etwas anderes ist, ob der Antistes +von Zürich durch die Straßen geht, oder ob sein Großvater von Höngg +zu einer Besorgung herein kommt; und als er erst einmal in der +Wasserkirche gewesen ist, wo die alte Bibliothek der Stadt in zwei +Galerien eingebaut steht und mit den alten Ölbildern an den Wänden +gleichsam das Uhrwerk ihrer geistigen Geschichte darstellt, wird der +stille Saal für ihn ein Raum mancher heimlichen Feier. Von hier aus +beginnt er mit Stolz nach den Männern zu sehen, die zum Ruhm und +Vorbild der Bürgerschaft leben, und wenn er nun den greisen Bodmer +daherkommen sieht, fühlt er: es ist mehr als ein Professor der +helvetischen Geschichte, es ist der Geist dieser tapferen Geschichte +selber, der unter seinen buschigen Augenbrauen in die Gegenwart blitzt. + + + 16. + +In dieser Zeit fängt Heinrich Pestalozzi auch an, Kameraden zu +bekommen; er ist den Wunderlichkeiten des alten Babeli entwachsen, +und so sehr die Gute schilt, wenn seine Kleider bei einer unnützen +Kletterei an der Stadtmauer oder sonst Schaden genommen haben: er ist +zu lange in ihrer Stubenhaft gewesen, um nicht mit Ausgelassenheit +die Freiheit solcher Streifereien zu genießen. Sogar reiten lernt er, +als wieder einmal der Vetter Weber aus Leipzig für einige Zeit in +Zürich auf Geschäften ist und ihm eins von seinen Rossen leiht. Es +geht ihm immer noch wie damals bei dem Großvater in der Kalesche, er +kann nicht mit dem Gaul übereinkommen, hält sich an den Zügeln fest, +als ob es Rettungsseile wären, und macht das arme Tier einmal am +Hottinger Pörtchen so wild, daß es auf der Holzbrücke anfängt, Männchen +zu machen, und ihn beinahe über das Geländer in den Stadtgraben +hinunter wirft. Schon läuft der Torwächter erschrocken hinzu, und die +Spaziergänger flüchten sich; irgendwie aber bleibt er doch noch im +Sattel hängen, das Pferd zieht es vor, den Stall zu suchen, und er +widerstrebt ihm nicht, obwohl er dabei seine Mütze verliert und nicht +gerade eine Reiterfigur macht. + +Schlimmer geht es ihm jenes Mal, als er an einem Sonntagnachmittag mit +einigen Kameraden in einem Weidling nach Wollishofen hinausgerudert +ist und nachher wieder heim will. Sie sind nach Knabenart laut +gewesen, haben Schweizerlieder gesungen und in dem schwanken Schiff +ihre Katzbalgereien gehabt, als ob ihnen garnichts Schlimmes begegnen +könnte. Beim Einsteigen aber, als sie noch mitten im Gelächter sind, +kommt er mit dem einen Fuß nicht vom Landungssteg los, während er den +anderen schon auf den Rand gesetzt hat. Durch den Ruck weicht das +Schiff unter ihm fort, bis seine Beine zu kurz für die Spannung sind +und er kopfüber in den See kippt. Er kann nicht schwimmen; das Wasser +ist ihm immer unvertraut gewesen, und nur dadurch, daß die andern ihm +schnell das Ruder hinhalten, als er mit zappelnden Armen hoch kommt, +ertrinkt er nicht. Sie schleppen ihn daran wie einen gefangenen Fisch +gegen das Ufer zurück, wo sie ihn diesmal mit größerer Vorsicht ins +Boot holen wollen. Er mag aber nicht mehr, verschlägt sich unter +den Scherzen der andern seitwärts an eine durch Büsche geschützte +Uferstelle und trocknet da seine Kleider in der Sonne. Das dauert +einige Stunden, während die andern wieder ihre Tollheiten in dem +Kahn machen und ihn schließlich, seine Feigheit verhöhnend, im Stich +lassen. Daß seine Kleider naß geworden sind, macht ihm nichts aus bei +der Sonne; auch ist er so rasch wieder oben gewesen, daß er gleich mit +den andern dazu gelacht hat: nun er aber allein so am Wasser sitzt, +das auf eine gierige Art ans Ufer schwappt, fängt das Erlebnis an, ihn +schwermütig zu machen. Er hat, als er untersank, für einen Augenblick +die Augen der Mutter dicht vor den seinen gesehen, und den Großvater +dahinter, wie er ihm die Hand auf die Schultern legte: nun hört er das +übermütige Geschrei der Knaben vom See und kann nicht begreifen, daß +er selber dabei war. Es wäre nichts als ein unnützer Knabe gewesen, +den das Wasser an ihm verschluckt hätte; weil aber nichts so heftig in +seiner Seele aufbegehrt als der Ehrgeiz, sich selber wert zu halten +und es den großen Männern seiner Stadt einmal gleich zu tun, werden +für Heinrich Pestalozzi die beiden Nachmittagsstunden, während er am +See bei Wollishofen in der Sonne sitzt, zu einem Selbstgericht, wo ein +beschämter Jüngling die Kleider halbtrocken wieder anzieht, die sich +der Knabe naß vom Leib gerissen hat. + +Stärker als damals in Höngg vor der Tür des Ernst Luginbühl ist das +Gefühl eines eitlen und selbstgefälligen Daseins in ihm. Mit all seinem +Selbstbewußtsein, mit seinen Vergangenheitsträumen und spintisierten +Taten ist er doch nur ein Schüler, nach dem niemand fragt, als die, +denen er mit seinen Großsprechereien zuleide ist. Seine Auflehnung +gegen die Ungerechtigkeit der Lehrer, wenn der Kantor betrunken in +die Singstunde kommt oder der Provisor Weber -- der selbe, der sich +einmal eine Laus vom Kopfe nahm und ihm auf dem Papier zerknickte +-- dem Ludwig Hirzel vom Schneeberg ein paar Fehler übersieht, weil +dessen Eltern ihm eine Metzgeten ins Haus geschickt haben; sein ganzes +Weltverbesserertum setzt er nun gegen die Unfähigkeit, mit sechzehn +Jahren sich selber und seine Kleider in Ordnung zu halten oder einen +Heller zu haben, den er seiner Mutter nicht abgebettelt hat, als ob die +ganze Schöpfung nur da wäre, einem Schulknaben nach seinen Einfällen +und Sinnen gefällig zu sein. + +Freilich, als er dann sucht, wie er seine unnützen Beine unter +dem Tisch der Mutter fortbringen könne, findet er nichts als die +Kaufmannschaft, dahinein sie schon im Frühjahr nicht ohne Tränen den +Johann Baptista getan hat. Ihr zuliebe muß er die Schule durchhalten; +so ist es unvermutet doch wieder der Zirkel solcher unnützen +Schülerschaft, darin er seine Jugend gebunden sieht. Trotzdem, als er +im späten Nachmittag allein gegen Zürich geht, fröstelnd von den nicht +völlig trockenen Kleidern, ist es ihm, als ginge er nun wirklich in den +großen Schritten des Vaters, die er als kleiner Knabe so gern versucht +hat. Er mochte sich kein Gelöbnis geben, und auch diesmal sind die +Kreise seiner Gedanken gleich dem Ringelspiel um die Steine verlaufen, +die er draußen in den See warf: doch geht eine Sicherheit mit ihm, als +läge sein unnützes Knabentum noch mit den Kleidern auf einem Häufchen +im warmen Uferschilf. Weil aber doch für einen Augenblick der Tod an +seine Natur gerührt hat, ist die heimliche Lust des Lebens in ihm, die +-- wie er danach noch tiefer erfahren soll -- durch nichts so sehr als +durch das Grauen des Todes angeregt wird. + + + 17. + +Heinrich Pestalozzi ist im Januar siebzehnjährig geworden, als er zum +Frühjahr ins Collegium Carolinum eintritt. Er weiß, daß er für keinen +schlechten Kopf gilt, wenngleich er bis zuletzt als ein unordentlicher +und zerstreuter Schüler gescholten worden ist: nun liegt die Zeit der +Abrichtung hinter ihm, und er steht als Student zu Hause wie vor den +Mitbürgern mit dem Stolz da, endlich auf die Wissenschaften selber zu +zielen. Wo Bodmer helvetische Geschichte lehrt und Breitinger außer den +alten Sprachen Philosophie, da hat die Schulmeisterei ihr Ende; das +sind Männer, um die er Zürich von halb Europa beneidet weiß, und zu +denen weither die Berühmtheiten angereist kommen. Namentlich Bodmer +mit seiner vaterländischen Begeisterung, der auch als Mitglied des +großen Rates in Zürich selber in die Regierung eingreift, ist das Ziel +seiner Verehrung. Der ist damals noch nicht der schrullenhafte Greis, +trotz seiner fünfundsechzig Jahre behend und rasch mit der trefflichen +Rede. Unter seinen Zuhörern zu sitzen, bedeutet für Heinrich +Pestalozzi, in die geistige Gemeinschaft seiner Stadt eingetreten zu +sein; und als es ihm zum erstenmal gelingt, einige Worte mit ihm zu +sprechen, erzählt er nachher der Mutter und dem Bärbel glückselig von +der Begegnung. Die Mutter, wie immer, hört mit leiser Trauer zu; das +Bärbel aber, das nun schon vierzehnjährig mit seinen Italieneraugen ein +zärtliches Kind vorstellt, ist stolz auf den großen Bruder. + +Heinrich Pestalozzi spürt seit dem ersten Tage, daß ihm die +Zeitumstände einen günstigen Wind in sein Studium bringen; tagtäglich +kann er neue Segel aufziehen, und wenn er sein Lebensschiff in dieser +ersten Studentenzeit aufmalen könnte, wäre es von der Mastspitze bis +zum Steuer bewimpelt. + +Aus Frankreich ist die Nachricht von einem Buch gekommen, das einen +Schweizer, den Genfer Uhrmacherssohn Jean Jacques Rousseau, zum +Verfasser hat und im Auftrag des Parlaments in Paris vom Henker +zerrissen und verbrannt worden ist; auch der Magistrat in Genf hat +das Buch verdammt, und so gibt es wenige, die seinen Inhalt wirklich +kennen. Aber als ob aus den Flammen des Henkers Funken fortgeweht +wären, nistet sich der Brand allerorten ein, sodaß die Wirkung des +»Emil« -- wie das Buch heißt -- ihm in hitzigen Gesprächen vorausläuft, +besonders da, wo die übrigen Schriften des welschen Schweizers seine +Naturreligion schon verbreitet haben. Heinrich Pestalozzi kann nicht +daran denken, so bald ein Exemplar dieses Buches zu erhalten, wohl aber +bekommt er seine Wirkung zu spüren. Er war eben aus der Lateinschule +gekommen, da haben die neun Schweizer, durch Iselin in Basel gerufen, +ihre Freundschaftsfahrt nach Schinznach gemacht, die helvetische +Gesellschaft zu gründen. Auch ein Zürcher, Hans Kaspar Hirzel, ist +dabei gewesen, und obwohl die Gestrengen Herren im nächsten Jahr die +Teilnahme an den Verhandlungen in Schinznach als staatsgefährlich +verboten haben, weiß er wohl, daß ihrer sieben heimlich dort gewesen +sind; und er entsinnt sich noch, mit welchen Augen selbst die Knaben in +der Schule davon sprachen, als ob Schinznach ein neues Rütli für die +Eidgenossenschaft wäre gegen den gewalttätigen Herrschaftsgeist der +einzelnen Kantone. Und nun kommt der Tag, wo der alte Bodmer das Licht +öffentlich aufsteckt, das bis dahin nur mit Tüchern verhüllt heimlich +von Haus zu Haus getragen worden ist; wo er als der einzige in Zürich, +der die Geltung und den Freimut zugleich besitzt, dergleichen zu wagen, +die helvetische Gesellschaft zur Gerwe einrichtet. + +Als Heinrich Pestalozzi sich mit andern Studenten vor den Anschlag +drängt, der den Arbeitsplan der Gesellschaft kundgibt, kommt zufällig +Bodmer mit zwei jungen Männern daher, die schon die Kleidung +der zukünftigen Geistlichkeit tragen und aus Respekt vor dem +Professor, obwohl er freundschaftlich mit ihnen spricht, die Hüte +in der Hand halten. Die beiden sind ziemlich allen bekannt als die +Predigtamtskandidaten Bluntschli und Lavater, die dem alten Herrn +eifrig zu Diensten und auch bei der Gründung der neuen Gesellschaft +seine Handlanger sind. Sie verziehen keine Miene ihrer feierlichen +Gesichter, als sie vorübergehen; Bodmer aber bleibt seiner scherzhaften +Laune folgend stehen, und weil er zufällig an Heinrich Pestalozzi +gerät, tippt er ihm mit dem Zeigefinger leicht auf die Brust: ob er +Lust zur Mitarbeit habe? Die Frage scheint nicht weiter gemeint, der +alte Herr wartet auch gar keine Antwort ab und geht mit den schwarzen +Pagen zur Münstertreppe hinunter: aber darum hat er ihm doch mit dem +Finger ans Herz gerührt. Er wäre auch sonst glücklich gewesen, mit +bei dieser Sache zu sein, die aus seinen glühenden Wünschen gemacht +scheint; nun aber sind seinem Ehrgeiz Hoffnungen geweckt, die er sich +selber wie eine Fahne aufrollt. + +Der schwarze Pestaluz wird Tambour! höhnt ein Bürgersohn, den die +Bevorzugung ärgert, und die andern lachen dazu, als ob sie ihn schon +trommeln hören; er aber ist viel zu erregt, darauf zu achten, und noch +als er zu Hause die Treppe hinaufgeht, spürt er die Stelle, wo ihm der +Bodmer genau auf das Herz getippt hat. + + + 18. + +Die Gesellschaft heißt zur Gerwe, weil ihre Versammlungen im Zunfthaus +der Gerber abgehalten werden, das unterhalb des Rathauses über die +Limmat hinaus gebaut ist. Als Heinrich Pestalozzi zum erstenmal +hinkommt, ist noch niemand da, weil seine Ungeduld sich verfrüht +hat; so wird er von einigen Männern, die nach ihm eintreten, um eine +Auskunft angesprochen und gerät dadurch gleich anfangs in die Stellung +eines Vertrauten, der mehr von dieser Sache weiß, um so mehr als Bodmer +nachher der Versammlung scherzhaft ankündigt, daß sie es einmal mit +der umgedrehten Welt versuchen und der Jugend das Wort lassen wollten, +indessen sie, die Alten, diesmal nur das Parterre im Theater wären. +Es mögen an die hundert Personen in dem getäfelten Saal sein, wie +Heinrich Pestalozzi an der Begrüßung merkt, zumeist Schüler Bodmers, +der seit vierzig Jahren vaterländische Geschichte in Zürich liest und +schon der Lehrer einiger Graubärte gewesen ist, die nun als begeisterte +Eidgenossen in seine Studiengesellschaft eintreten. Den ersten Vortrag +hält der Kandidat Bluntschli; er liest ihn mit einer Stimme, die +beinern vor Erregung ist, und das Papier zittert ihm so in den Händen, +daß ein Blatt mitten durch reißt. Auch seine Worte sind so, sie handeln +von den Grundsätzen der politischen Glückseligkeit, und wie Heinrich +Pestalozzi den blassen, schon durch die Schwindsucht gezeichneten +Menschen von den politischen Einrichtungen Zwinglis sprechen hört, +glaubt er den Reformator fast selber zu sehen, so erfüllt ist dieser +Kandidat von der unbeugsamen Sittlichkeit seiner Gedanken. + +Nachher gibt es eine Aussprache, und nun spürt Heinrich Pestalozzi, +daß dies mehr sein soll und ist, als eine Studiengesellschaft der +vaterländischen Geschichte. Einer der Männer, die ihn zu Anfang +angesprochen haben, nimmt auch das Wort, und es ist schon ein Zeichen +selbständiger Gesinnung, wie er mit seinem braunen Vollbart gegen die +rasierten Gesichter der modischen Herren steht. Er bringt die Rede auf +den Landvogt Grebel in Grüningen, der in seiner sechsjährigen Amtszeit +mehr ein Räuber als eine Obrigkeit im Sinne Zwinglis gewesen sei und +nur deshalb seinen Raub trotz aller Klagen des Landvolks behalten +könne, weil er der Eidam des Bürgermeisters wäre. Obwohl der alte +Bodmer sichtlich erschrocken die harten Worte mit erhobenen Händen +abwehrt, muß er sie wieder sinken lassen; denn aus der Versammlung +bricht die Empörung über die allbekannten Greuel des leichtfertigen und +bösen Mannes in solchen Zurufen aus, als ob sie sich alle nur deshalb +in der Gerwe vereinigt hätten. Bodmer weiß zwar die Erregung mit klugem +Bedacht wieder auf eine Aussprache zurückzulenken, aber die Worte, die +nun kommen, sind anders, als die vorher waren: als ob sie auf einem +Wasser hingerissen würden, so vergeht der einzelne Schall, aber die +stark strömende Flut der Erregung bleibt. + +Heinrich Pestalozzi fühlt sich aus seinem jünglinghaften Träumerdasein +mitten ins Leben versetzt; er könnte die Worte des bärtigen Mannes aus +dem Gedächtnis sagen, so sind es Hammerschläge auf sein Herz gewesen, +und als es zum Schluß noch ein erregtes Zwiegespräch mit dem Bluntschli +gibt, steht er im Rausch dabei: Der Kandidat ist mit der Anwendung +seiner Grundsätze nicht einverstanden; weil er aber nur abzulesen, +nicht frei zu sprechen vermag, hat er dem braunen Mann vor der +Versammlung nicht entgegnen können; nun, wo die meisten, auch Bodmer, +schon gegangen sind, gerät sein zu lange verhaltener Widerspruch in +Zorn, sodaß es fast einen Streit gibt. Der andere aber, der vorher so +scharf gewesen ist, weiß nun den Humor des Älteren herauszukehren, +sodaß sie zuletzt noch friedlich mit einander auf die Gasse kommen. +Heinrich Pestalozzi hätte längst heim gemußt, er kann sich aber nicht +von den andern lösen, solange derartige Dinge in den Worten sind; so +geht er treulich noch am nächtlichen Limmatufer mit den andern hinauf +und befindet sich, als es unvermutet eine Abschiedsecke gibt, zu seiner +eigenen Verwunderung mit dem Kandidaten allein. + +Der in seiner gereizten Stimmung ist augenscheinlich froh, noch einen +Zuhörer für seine zornigen Gedanken zu haben. Vielemal läuft er mit ihm +disputierend am Wasser auf und ab, auf dem der Mond sein Silberlicht in +einen ruhelosen Abgrund schüttet: Er habe die Grundlage der sittlichen +Bürgerordnung, nicht den Aufruhr stipulieren wollen, sagt der Kandidat, +und obwohl Heinrich Pestalozzi seine Freude an dem braunbärtigen Manne +gehabt hat, folgt er dem Aufgeregten in seine Welt. Es tut ihm wohl, +von dem Älteren so gewürdigt zu werden, und als er endlich allein -- +vom Nachtwächter verscheucht -- zum Roten Gatter hinaufgeht, geben +die einstürmenden Erinnerungen aus der Stadtgeschichte nur noch die +Begleitung zu seiner fast trunkenen Melodie, daß er nun mit beiden +Füßen in das Gemeinleben der Stadt eingetreten sei und daß er an dem +Kandidaten einen Bekannten gewonnen habe, von dessen entschiedenen +Meinungen er sich manches für seine eigene Zukunft erhoffen dürfe. + + + 19. + +In der Folge sorgt Heinrich Pestalozzi, daß ihn der Bluntschli nicht +wieder aus den Augen verliert. Er weiß, wie der unbemittelte Sohn +eines Steinmetzen es gleich ihm nicht leicht hat zwischen den reichen +Bürgersöhnen, aber um seines Fleißes und der jungmännlichen Strenge +willen mit besonderen Hoffnungen betrachtet wird. Wen der Bluntschli +von den Studenten seines Umgangs würdigt, der ist damit schon etwas +Besonderes; obwohl er den unfröhlichen Menschen bisher nicht günstig +angesehen hat, überläßt sich Heinrich Pestalozzi nun willig seiner +Führung, weil sein Ehrgeiz in dieser Gefolgschaft schneller einen Weg +in die Lebensdinge zu finden hofft, als auf dem Umweg der Schule. + +Es dauert auch nicht lange, so darf er ihn besuchen im Zunfthaus zu +den Zimmerleuten, wo sein Vater Stubenverwalter ist. Er spürt wohl, +daß der Bluntschli einen herrschsüchtigen Hang hat und seinen Freunden +strengere Pflichten auferlegt, als es einem Lehrer gestattet würde; +aber weil er selber in einen fanatischen Lerneifer geraten ist, sodaß +er nicht essen kann, ohne daß noch ein Buch neben dem Teller liegt, ist +ihm die Strenge recht. + +Eines Tages kommt es zu einem Spaziergang, durch Sihlport hinaus +gegen den Uto. Er muß sich einen Tadel gefallen lassen, weil er dem +Bluntschli zu hastig mit den Armen schlenkernd dahinläuft; als sie +dann gegen den Waldrand hinauf wollen, merkt er freilich, daß es +nicht nur die Sorge um seine Würde ist, die den andern so gemessen +schreiten läßt: der Atem wird ihm bald zu kurz, sodaß sie den steilen +Weg verlassen und einem Pfad links unter der Manegg her folgen. Wo +die Büsche den Blick frei lassen, geht er über die schattige Rinne +des Sihltals und den dunklen Waldrücken bei Wollishofen in das +blaue Himmelsbecken des Zürichsees, darin Wolken und Bergfernen ihr +schimmerndes Licht mischen: so erstaunt Heinrich Pestalozzi nicht, +als sie in einer grünen Wiesenbucht einen Maler emsig dabei finden, +die Linien und Farben dieser Ansicht auf ein Papier zu bringen. Ein +Genosse von ihm hat sich augenscheinlich als Staffage auf eine Kuppe +davor gesetzt, und ein weißer Hund liegt artig ihm zu Füßen, als ob er +seine Wichtigkeit im Bild fühle. So emsig der eine mit den Wasserfarben +hantiert, so eifrig liest der andere in einem Buch; und erst als der +Hund sich erhebt, die beiden Ankömmlinge knurrend zu stellen, schauen +beide auf, erst der Maler, und als der gleich einen Juchzer ausstößt, +auch der Leser. + +Der mit dem Buch ist Lavater, und Heinrich Pestalozzi begreift nicht, +daß er ihn nicht beim ersten Blick erkannt hat; von dem andern weiß +er, daß er ein Sohn des Malers Füeßli ist, gleichfalls Theologie +studierend, aber gern mit dem Handwerkszeug seines Vaters über Land, +und den Lehrern mit seiner freimütigen Art vielmals ein Ärgernis. Er +hat wie meist sein Waldhorn mit, und ehe sie noch ihren Gruß sagen +können, bläst er ihnen schon einen ländlichen Hopser ins Gesicht. +Dem Bluntschli scheint die Begrüßung zu mißfallen; er geht an dem +übermütigen Bläser vorbei gleich auf Lavater zu, und es sieht aus, als +ob er ihn zur Rede stelle. Dabei hat er den Hund des Malers nicht mit +berechnet; denn als er mit einer beschwörenden Gebärde auf den Freund +losgeht, stellt das große Tier seinen Mann und legt ihm die Pfoten auf +die Schultern, sodaß er statt dem Gesicht des Ungetreuen das bleckende +Maul vor sich hat. Der Füeßli kann vor Gelächter nicht mehr blasen; er +ruft den Hund erst zurück, als er sieht, daß der Bluntschli sich mit +seinem blassen Zorn in Gefahr bringt. + +Heinrich Pestalozzi hat den Auftritt, weil der Füeßli nicht zu seiner +Bekanntschaft gehört, wie ein überflüssiger Zuschauer erlebt; sein +Pflichtgefühl ist bereit, sich zu dem Zornigen zu schlagen; als aber +der Maler ihm lachend die Hand hinhält, vermag er den lustigen Augen +nicht standzuhalten. Die andern scheinen sich unterdessen auch geeinigt +zu haben; obwohl verstimmt, kommen sie hinzu, setzen sich auch zögernd, +wie der mit dem Waldhorn vorschlägt, miteinander auf den trockenen +Grasboden und betrachten sein Bild. Es zeigt erst die porzellanene +Bergferne und vorn das waldige Sihltal wie eine dicke grüne Raupe, aber +es ist sauber gemalt, und Heinrich Pestalozzi muß den leichtherzigen +Menschen bewundern, der gleichwohl solches vermag. Dem Bluntschli +scheint das Bild keiner Beachtung wert; er will wissen, was für ein +Buch Lavater gelesen hat, und als der ihm den Titel zeigt, weist er +es kopfschüttelnd zurück. Als ob er sich vor Pestalozzi rechtfertigen +müsse, gibt Lavater ihm das Buch in die Hand: es ist eine Schrift von +Winckelmann über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei +und Bildhauerkunst. Er weiß nicht weshalb, aber er hat im Augenblick, +da er es nahm, gehofft, es möchte der Emil von Rousseau sein; so gibt +er das Buch enttäuscht aus der Hand. + +Der Maler will die Stimmung retten und schlägt vor, daß sie zusammen +durch das Sihltal hinüber nach Wollishofen wandern und von da am Abend +in einem Schiff zurückfahren sollten. Heinrich Pestalozzi würde das +trotz seinem Erlebnis an dem Weidling mitgemacht haben; aber Bluntschli +steht geärgert auf und geht ohne Gruß den gleichen Pfad zurück, es ihm +überlassend, ob er folgen oder sich den andern anschließen will. Er +wäre auch bei besserer Stimmung eines solchen Verrats nicht fähig, gibt +also beiden mit einem flehenden Blick für seinen zornigen Genossen die +Hand und springt ihm nach. + +Bis zur Sihlbrücke kommen sie schweigend, Bluntschli immer vorauf und +er wie sein Pudel hinterher; dann scheint das rauschende Wildwasser +den Groll zu lösen, und obwohl Heinrich Pestalozzi deutlich fühlt, daß +nur die Eifersucht um Lavater den Verärgerten so sprechen läßt, horcht +er doch seinen Worten. Die ersten hört er kaum im Lärm der Sihl, erst +nachher versteht er, daß der Bluntschli streng und erbittert von dem +Geist der Aufklärung spricht, von dem Heidentum, das mit der gerühmten +modernen Bildung in die Stadt Zwinglis gekommen sei und sich da mit +dem Tand seidener Kleider, mit komischen Erzählungen lüsterner Art, +mit radierten Idyllen und dem armseligen Götterwerk der heidnischen +Welt breitmache. Solange man seine Urteilskraft an wahrhaft nützlichen +Gegenständen üben könne, sei es ein Abfall, dürre und unfruchtbare zu +wählen: Die nötigen Kenntnisse sind allen Menschen gemein, die nicht +allgemeinen sind unnötig! + +Es ist zuviel von seiner eigenen Gesinnung darin, als daß Heinrich +Pestalozzi ihm nicht zustimmen sollte, und für eine Weile stehen die +beiden da oben im Wald vor ihnen wie rechte Taugenichtse da; aber als +sie von der Meisezunft her gegen die Wasserkirche über die Brücke +gehen, lehnt bei dem Mühlrad ihr Lehrer, der weise Bodmer, und sieht in +das glatt strömende Wasser, als ob er etwas in seinem Grund suche. Sie +wollen ehrfürchtig grüßend an ihm vorbei; er erkennt sie aber und hält +sie an: ob sie schon wüßten? Als sie beide den Kopf schütteln, nimmt er +sie mit hinunter in die Gerwe und zeigt ihnen da eine Anklageschrift +gegen den Landvogt Grebel, die in der ganzen Stadt verbreitet wäre und, +wie er bestimmt vermute, Lavater und Füeßli zu Verfassern hätte: Wenn +sie sich dazu bekennen müssen, sagt er und faltet das Papier wieder in +seine Brusttasche, ist den beiden der Wellenberg sicher! + + + 20. + +Einige Tage später muß Heinrich Pestalozzi hinauf nach Höngg, wo seine +Mutter mit dem Bärbel die kränkelnde Großmutter pflegt. Sie ist nun +einundsiebzig und längst zu schwach für ihren Garten, doch hat sie +es gern, wenn sie bei gutem Wetter hinuntergelassen und auf Stühlen +zwischen den Beeten gebettet wird. Da liegt sie auch diesmal, als er +um einer Laune willen unten an der Limmat hin und dann den steilen Pfad +heraufgekommen ist. Es macht die alte Frau besorgt, daß er von dem +raschen Anstieg seine brandigen Hitzflecken im Gesicht hat, und sie +ruht nicht, bis er sich mit ihrer Schürze den Schweiß abtrocknen läßt. +Nachher muß er sich auf die Steinbank setzen und ihr erzählen; da ihn +die Vorfälle um den Vogt Grebel, die geheimnisvolle Anklageschrift und +die zornigen Untersuchungen der Gestrengen Herren bis in den heißen +Kopf erfüllen, spricht er ihr davon. Dann scheint es ihm freilich, +als ob ihr einfältiger Sinn den Dingen nicht zu folgen vermöchte; sie +streichelt nur immer eine Lilie, die sich in der linden Luft zu ihr +neigt, und lächelt auf eine kindliche Art dazu. Als er aufsteht, die +andern aufzusuchen, hält sie ihn fest mit ihrer welken Hand, und für +einen Augenblick scheint ihr Greisensinn völlig verwirrt. Du mußt im +Traum sein, Heiri, den Landvogt hat der Tell geschossen! + +Er findet die Mutter und das Bärbel, die er abholen soll, schon +reisefertig im Flur. Seitdem der Tochtermann des Pfarrers, der Vikar +Wolf, gestorben ist, führt ihm die Witwe den Haushalt; das Tantli, +wie sie bei ihnen heißt, ist noch eine junge Person und kann es trotz +ihrer beiden Kinder wieder allein machen, seitdem es mit der Großmutter +bessert. Er mag aber nicht sobald wieder fort; es drängt ihn, auch +mit dem Großvater zu sprechen; so läßt er die beiden allein gehen und +bleibt zur Nacht. Der Großvater hat mit der zunehmenden Gebrechlichkeit +des Alters eine Vorliebe für gelehrte Studien gefaßt und sitzt über +seinem Liebling, dem Kirchenvater Lactantius, den er den christlichen +Cicero nennt; er läßt sich aber diesmal gleich stören: Es geht mir +bald wie mit meinem Schwiegervater selig, dem Chorherrn Ott und seinem +Flavius Josephus, sagt er wehmütig lächelnd, indem er die alten Bände +zur Seite legt. Heinrich Pestalozzi weiß, wie merkwürdig die Weisheit +dieses Juden aus der Zeit Christi an dem Zürcher Baum der Erkenntnis +seines Urgroßvaters gehangen hat, und wie der alte Chorherr daran zum +Narren geworden ist; aber angefüllt von den Dingen der Gegenwart vermag +er nicht mit dem Großvater zu lächeln und sagt ihm das seltsame Wort +aus dem Garten, das einen Dammbruch in seine Gefühle gerissen hat. Der +alte Herr wird im Augenblick ernst und nimmt ihn hastig an der Schulter +hinaus, als ob dergleichen in seiner Amtsstube nicht gesprochen werden +dürfe. + +Sie machen danach miteinander einen Gang ins Dorf, wo der Pfarrer dem +Schulmeister eine Weisung zu geben hat. Heinrich Pestalozzi sieht von +weitem das Haus, darin er den Ernst Luginbühl an den Webstuhl genötigt +weiß, und das schmerzhafte Erlebnis mit dem Testament der Mutter, das +er seitdem tiefunterst im Schrank verwahrt, gibt seinen strömenden +Worten einen bitteren Beiklang. Der Großvater läßt ihn schweigend sein +übervolles Herz ausschütten und tadelt ihn nur, als er sich allzu +heftig zum Richter aufwirft. In seiner Kammer aber findet er an diesem +Abend -- vom Großvater heimlich hingelegt -- die Verordnungen für das +gemeine Landvolk, die den Pfarrern von den Gestrengen Herren übergeben +sind. Er liest darin, bis sein Kerzenlicht zu Ende ist; nachher vermag +er nicht zu schlafen, sitzt in den Kleidern am offenen Fenster bis +in den Morgen und sieht in die unruhige Mondnacht hinaus, darin die +jagenden Wolken ihre schwarzen Schatten vor die silberne Scheibe +drängen; so oft sie auch siegend daraus hervorkommt, unaufhörlich +steigen die schwarzen Sturmvögel vom Zürichberg herauf, ihr Licht zu +decken; nicht anders, als die Verordnungen der Züricher Stadtherren +über den mühsamen Lebensstand des gemeinen Landvolkes kommen: + +Alle Ämter in Staat und Kirche, alle ehrsamen Handwerke sind dem +Landvolk verschlossen, das mit Zehnten und Grundzinsen, mit dem Erb- +und Leibfall, der dem Landvogt bei jedem Todesfall das beste Stück der +Hinterlassenschaft sichert, mit Fronden und Kleidervorschriften, mit +Handelsverboten und strengen Strafen für jedes Gelüst der Freizügigkeit +von den Stadtbürgern wie leibeigen gehalten wird. Heinrich Pestalozzi +hat all diese Dinge einzeln auch schon vorher gewußt, wie der Bauer +nichts auf dem Dorf verkaufen, sondern alles auf den Zürcher Markt +bringen muß, wo die Bürger für jede Ware den Preis festsetzen, wie +ihm verboten ist, Geld auszuleihen, damit die Stadtherren den hohen +Zins behalten, wie er nicht einmal sein selbstgesponnenes Tuch und +Leinen selber färben darf: aber daß diese grausame Willkür mit allen +Folgen des Elends ein Verrat an den alten Sagen und Briefen der +Eidgenossenschaft ist, das hat er nicht durchgefühlt bis zu dieser +Nacht, wo ihn das einfältige Wort der Großmutter vom Landvogt und dem +Tell in einen Aufruhr aller Gedanken gebracht hat. + + + 21. + +Heinrich Pestalozzi kommt am nächsten Morgen aus Höngg zurück, als ob +der Geist Tells in der Stadt Zürich auf ihn warte. Er findet den Kram +der Straßen in der gleichmütigsten Geschäftigkeit, und nur am Rathaus +drängen sich die Leute vor einem Anschlag der Gestrengen Herren: Man +habe mißfällig vernommen, daß gewisse für die Ordnung des Staates +zwar wichtige Nachrichten auf eine illegale Weise angezeigt worden +wären, und wolle hiermit jedermann erinnert haben zu berichten, was +er von der Sache wisse! Der Vorwitz der Stunde treibt ihn, sich eines +Wortes von Bodmer zu erinnern, daß es der Charakter der Regierungen +sei, sich selber allen Patriotismus zuzuschreiben und bei andern +Leuten nichts als Unverstand, unreine Absichten, Wildheit und Aufruhr +zu bemerken. Aber einige grämliche Handwerker, die dabei stehen, +nehmen ihm den jugendlichen Vorwitz übel und hätten ihm die vorlauten +Worte mit Schlägen heimgezahlt, wenn er nicht eilig in die Marktgasse +hinauf entwichen wäre. Als er sich da nach den schimpfenden Verfolgern +umsieht, aber hastig weiterläuft, hat er das Unglück, in eine offene +Kellertreppe hinein zu fallen, wodurch er zwar ihrem Zorn entgeht, sich +aber schmerzhaft den Knöchel vertritt. Er ist noch nicht aufgestanden, +als schon mit einem Licht aus der Tiefe des Kellers ein Mann im +Lederschurz herzuläuft, den er gleich als den braunbärtigen Ankläger +aus der Gerwe erkennt. Der hilft ihm mit lustigem Spott auf, leuchtet +ihn ab und bringt einen Napf mit Wasser, die Schramme an, der Stirn +zu waschen, aus der ihm Blut in die Augen läuft. Es scheint nichts +Schlimmes damit, und da er bei seiner hastigen Art Beulen und Schrammen +gewöhnt ist, hält ihn das Gespräch mit dem handfesten Mann länger auf +als seine Wunde. Er erfährt, daß sich Lavater und Füeßli gleich tapfer +zu der Schrift bekannt haben und sofort ins schärfste Verhör genommen +sind: weil sie geblasen hätten, was sie nicht brannte. + +Um seine Mutter nicht unnötig zu erschrecken, humpelt er zunächst +ins Carolinum, wo ihm die allgemeine Aufregung die Mitteilung des +Mannes bestätigt. Er kommt in der kampflustigsten Stimmung, aber +mit schmerzendem Fuß zu Hause an, und über Nacht schwillt dieser so +auf, daß der Doktor kommen muß. Es ist nur eine Zerrung der Sehnen, +aber der Fuß wird eingepackt, und er liegt nun als das erste Opfer +der Begebenheit zu Hause. Das Babeli läßt ihn ihren Grimm über den +unnützen Fall spüren, und wenn ihm das Bärbel nicht mit schwesterlichem +Eifer zu Diensten wäre, hätte er es hart. Sie bringt ihm ans Lager, +was er braucht, und holt Erkundigungen über den Stand der Dinge ein: +Es gibt zwar eine zornige Partei, die den beiden Angebern nach altem +Brauch kurzerhand den Wellenberg verordnen möchte, aber der Kreis +der Patrioten aus der Gerwe sammelt Unterschriften aus der ganzen +Stadt, daß die beiden nur nach ihrem Bürgereid gehandelt hätten. +Da der Bürgermeister Leu sich in der Sache neutral verhält, obwohl +der beschuldigte Landvogt Grebel sein Eidam ist, auch Lavater wie +Füeßli aus angesehener Familie sind, gelingt es Bodmer, sie vorläufig +freizuhalten, indessen die Untersuchung nach anderen Aufrührern ihre +verbissenen Gänge weiter wühlt. + +Heinrich Pestalozzi kann schon wieder vom Fenster an die Ofenbank +humpeln, als es eines Abends gegen die Dämmerung zaghaft an die +Stubentür klopft. Das Babeli hebt noch schnell ein Stuhlkissen auf, +das er dem Bärbel im Scherz nachgeworfen hat, bevor es den Riegel +aufklinkt. Herein kommt aber nur die unsichere Gestalt Lavaters, der +den Hut schon draußen abgenommen hat und damit ein Päckchen in seiner +Hand bedeckt. Heinrich Pestalozzi kennt ihn bisher eigentlich nur aus +der Gerwe, wo er freilich einmal lange mit ihm gesprochen hat, und ist +ebenso überrascht von dem Besuch, wie der andere verlegen scheint. Er +habe erst jetzt von seinem Mißgeschick gehört, sagt er schließlich, +als ihm Hut und Päckchen abgenötigt sind, und fängt an, vor Heinrich +Pestalozzi auf und ab zu schreiten: seine eigene Sache stände nicht +günstig, er wolle zwar nicht vorher fliehen, aber nach dem Urteil außer +Landes gehen; zu Hause und vor der übrigen Verwandtschaft als einer +dazustehen, der aus Leichtsinn seine Zukunft verspielt habe -- hier +läuft das Babeli weinend aus der Stube -- wäre ihm unerträglich; er +wolle sehen, ob die Welt keinen andern Platz für ihn habe! Er spricht +noch manches, bis es völlig dunkel wird, und verhehlt auch nicht, daß +Füeßli der treibende Wille und er nur die Feder dieser Anklageschrift +gewesen sei, die ihn nun selber zum Angeklagten gemacht habe. Als +das Bärbel ein Licht bringt, nimmt er seinen Hut, bevor Heinrich +Pestalozzi weiß, was er eigentlich gewollt bat, das Päckchen läßt er +liegen; die Schwester will es ihm nachbringen, aber er wehrt mit einer +komischen Verdrießlichkeit ab und geht auf seine lautlose Art rasch die +Treppe hinunter, von dem Bärbel beleuchtet. + +Als sie wieder zurückkommt mit dem Licht und Heinrich Pestalozzi das +sauber verschnürte Päckchen ansieht, trägt es seinen Namen. Ungeduldig, +nun endlich zu wissen, was der seltsame Besuch des Kandidaten für ihn +bedeutet, reißt er den Umschlag ab, und dann steht für einen Augenblick +sein Leben still wie eine Kerzenflamme: was er in den Händen halt, ist +Rousseaus »Emil«. + +Was hast du? fragt die Schwester, als sie ihn mit dem Buch in den +Händen so dasitzen sieht; er hält ihr den Titel hin und weiß kaum +selber, was sein Mund spricht: Ich habe den Propheten! + + + 22. + +Heinrich Pestalozzi vermag nicht so fließend französisch zu lesen, +daß er das Buch verschlingen könnte; er muß es wie einen alten +Schriftsteller studieren, und oft genug stockt er bei einem Wort, +dessen Sinn ihm vieldeutig oder unklar ist. Aber darum ist es doch für +ihn, als ob er eine Feuersbrunst erlebte, wie erst nur die Flämmchen +nach dem First hinlaufen, auf einmal Pfannen niederprasseln und endlich +das feurige Gerippe brennender Balken in der Lohe steht, wo vorher ein +Dach jahrhundertelang die Menschlichkeit vor den Elementen beschützt +hat. Zeit und Raum verliert er vor dem Buch; und wenn er aus den +Seiten aufblickt in die Stube, kann er staunend seine Mutter oder das +Bärbel dasitzen sehen, als ob sie im Augenblick aus himmlischen Weiten +hergeweht wären. Vieles kennt er schon, aber gerade darum ist es ihm, +als ob in den Gesprächen Bluntschlis, in den Reden Bodmers und allen +Verhandlungen der Gerwe nur Irrlichter gewesen wären von dem Feuer, das +hier durch Tag und Nacht seinen Brand brennt. Mehr als dies alles aber +ist die heimlich wachsende Erstaunung, daß die Seele seiner Jugend in +dem Buch ihre Heimat findet; immer bis zu diesem Tag ist es gewesen, +daß es von ihr zur Welt keinen Zugang gab: So irrend er gesucht hat, +so lieb ihm die Mutter und das Bärbel, das Babeli und der Baptist, die +Großeltern in Höngg und das heimelige Pfarrhaus gewesen sind, er ist +doch in der Einsamkeit geblieben, als ob nicht schon seine Ahne vor +mehr als zweihundert Jahren, sondern er selber erst fremd über die +Alpen nach Zürich gekommen wäre. Auch alle Schriften, die er bis dahin +gelesen hat, sind für ihn von dieser fremden Welt gewesen; nun aber ist +es, als ob in diesem Buch seine Seele selber aufgebrochen wäre, sodaß +es in der Welt ringsum nichts mehr gäbe als sie. Alles bis zu diesen +Tagen, was er gefühlt, gewollt und getan hat, ist mit dem schmerzlichen +Gefühl des Unrechts geschehen; zum erstenmal steht seine Natur auf und +sieht, daß sie recht hat. + +Die Tage füllen sich zu Wochen, und die Wochen laufen schon in den +zweiten Monat, daß Heinrich Pestalozzi noch immer mit dem Buch dasitzt +und sich mit achtzehn Jahren erst eigentlich zur Welt bringen läßt. +Unterdessen läuft draußen alles seinen Gang ab: der Landvogt Grebel +wird schuldig gesprochen, aber Lavater und Füeßli müssen öffentlich +Abbitte tun; sie verlassen bald miteinander Zürich, wo die Patrioten +in der Gerwe vom Argwohn und Haß der Gestrengen Herren beaufsichtigt +bleiben und von den Kanzeln gegen den aufrührerischen Geist der Jugend +gepredigt wird. Im Carolinum werden die alten Schriften und die +Kirchenväter gelesen, und in den Zünften wird mißtrauisch über die +städtischen Rechte der Gewerke Buch geführt, das Bauernvolk bringt +zu Wagen und zu Schiff die Erträgnisse seiner Arbeit auf den Zürcher +Markt, und Sonntags strömen die geputzten Bürgersöhne und Mamsells +hinaus in seine ländliche Welt, in den Gasthöfen steigen Kaufleute +und empfindsame Reisende aus allen Ländern Europas ab, und die +Baumwollenweberei stellt zum Nutzen Zürcher Fabrikherren einen Stuhl +nach dem andern in den Dörfern auf, angeblichen Wohlstand verbreitend, +die Landreiter gehen auf die Betteljagd, und an zierlichen Tischen +werden die Idyllen Geßners gelesen: alles um ihn läuft seinen Gang +wie zuvor, nur steht das sehnsüchtige Gefühl seiner Jugend nicht mehr +als ein unbrauchbarer Fremdling darin. Es hat die Natur als Boden der +Menschlichkeit gefunden, wo alles Verirrung und Falschheit ist, was dem +inneren Gefühl um äußerlicher Vorteile willen widerstrebt, und er ist +sicher: dies ist der einzige Schlüssel für den Menschen in die Welt. + + + 23. + +Heinrich Pestalozzi hat den Emil zum drittenmal gelesen und ist noch +immer im Traum dieser Dinge, als Ende November in Höngg die Großmutter +sanft hinwegstirbt. Sie haben sie am Mittag bei milder Sonne noch +einmal in den Garten hinuntertragen müssen; da sind ihr mit den letzten +verirrten Blüten die Augen zugefallen, als ob sie schliefe. Er muß +mit dem Bärbel allein zum Begräbnis gehen, weil die Mutter selber zu +Bett liegt. Der matte Glast der Novembersonne steht in der unbewegten +Luft, als sie den Sarg um die Kirche auf den Acker tragen, wo die alten +Holzkreuze auf ein neues zu warten scheinen. Das ganze Dorf ist da, +auch die, denen es zu keinem sonntäglichen Kleid mehr reicht in ihrer +Armut; bis an die untere Mauer stehen sie als der letzte Kriegshaufe +lebendiger Liebe gegen den Tod. Bevor sie ihm seine Beute in das enge +Erdloch hinunterlassen, tritt der Schulmeister vor, mit den Kindern das +Abschiedslied ihres Lebens zu singen: Heinrich Pestalozzi ist oft mit +dem Großvater in der Dorfschule gewesen und hat ihnen zugehört, nun +will ihm der Gesang der Mädchen- und Knabenstimmen einstimmig vereint +herrlicher klingen, als er jemals Menschen singen gehört hat, und die +Erschütterung davon ist tiefer als die Trauer. + +Weinend kommt er in die Kirche; da vermag die kleine Halle nicht alle +zu fassen, daß ihrer viele noch draußen horchen, wie der alte Pfarrer +und Dekan seiner eigenen Frau die Leichenrede hält. Auch er ist welk, +und der Kopf kämpft mit dem gebeugten Nacken, das Angesicht von der +Erde zu heben, aber die Stimme trägt noch klar durch den Raum, als +er der Gemeinde den Lebenslauf der Dorothea Ott vorträgt, die seit +achtundvierzig Jahren seine Frau und seit sechsunddreißig Jahren ihre +Pfarrerin gewesen ist. Heinrich Pestalozzi weiß nun, es ist nicht +der liebe Gott seiner Knabenjahre, der da spricht, es ist ein Greis, +den sie selber bald um die Kirchecke tragen; umsomehr fühlt er, wie +ergreifend dies ist, daß ein Mensch mit seinem Leid dasteht und aus +der Ewigkeit den Lebenslauf seiner Gefährtin ablöst, deren irdisches +Dasein vor dem seinen vollendet ist. Aber was ihn tief erschüttert, ist +die Erfahrung, wie alles, was er hier sieht und hört, nur ein Stück +aus dem Buch des Genfers scheint. Wenn er von hier aus an die Stadt +denkt, an ihre Gassen, ihren Aufwand, ihr Gezänk: glaubt er niemals +wieder hineingehen zu können. Auf dem Dorf allein ist das menschliche +Wesen noch auf die Einfalt der Natur gestellt; von hier aus allein kann +deshalb der Geist natürlicher Sittlichkeit wieder gesellschaftliche +Rechte in der Menschheit erhalten. Es ist ihm nicht anders, als ob sie +drei: die ländliche Gemeinschaft, seine Seele und der Traum des Buches +in dieser Stunde einen Bund schlössen gegen den verkünstelten Aufwand +der städtischen Welt. + + + 24. + +Seitdem denkt Heinrich Pestalozzi wieder ernstlich daran, Pfarrer +zu werden; das Bild des Großvaters ist von neuem sein Lebensziel +geworden, aber nicht um den Armen ein väterlicher Freund, sondern +dem menschlichen Wesen ein Fürsprech und Märtyrer gegen Unnatur +und elende Versunkenheit zu sein. Er tritt mit seinen Studien, die +ihn immer leidenschaftlicher abgesondert haben, bis das Erlebnis +Rousseaus ihm alles andere überflüssig machte, wieder in den Kreis des +vorgeschriebenen Unterrichts ein. Selbst das Patriotentum in der Gerwe +scheint ihm für eine Zeit nicht mehr so wichtig, und als es im Januar +wieder zu einer Anklage diesmal gegen den Zunftmeister Brunner kommt, +der sich schwerer Veruntreuungen schuldig gemacht hat, bleibt er der +Sache fremd. + +Er geht schon in sein neunzehntes Jahr und sieht wohl die Sorge, mit +der die Mutter seine Unstetigkeit aufnimmt. Er wollte ihr auch den Emil +zu lesen geben, aber sie ist nur traurig dabei geworden und hat ihm das +Buch ungelesen wieder hingelegt. Seitdem er mehr von seinem Vater weiß, +wie der zwar ein geschickter Wundarzt, aber ein sorgloser Haushalter +gewesen ist, spürt er leicht eine Besorgnis in ihren stillen Augen, daß +er von seiner Art zuviel geerbt haben möchte -- zumal von seinem Bruder +Johann Baptista bedenkliche Nachrichten kommen -- und immer tapferer +wird sein Entschluß, auch ihr zuliebe etwas Tüchtiges zu werden. Er +weiß, wie schwer ihm alles in den Kopf geht, was nicht irgendwie +sein Gefühl ergreift; doch weil er gerade das, was eine kaltblütige +Beobachtung erfordert, als das Wichtigere geschätzt sieht, übt er sich +täglich im Zwang zur Aufmerksamkeit. Unvermutet aber wird er durch +einen Lehrer wieder aus der Zucht seiner strengen Entschlüsse geworfen: + +Im selben Frühjahr ist ein Schüler Breitingers mit Namen Steinbrüchel +als Lehrer der Eloquenz ins Collegium gekommen, ein noch jugendlicher +Mann, der die größte Belesenheit mit einem glänzenden Vortrag verbindet +und bald zum Abgott der Studenten wird, dabei von schneidender +Schärfe, wo er unklaren oder halben Dingen zu Leibe geht. Auch +Heinrich Pestalozzi tritt bei ihm ein, und er erwartet sich für seine +gegenwärtigen Absichten eine heilsame Kur davon. Es geht auch anfangs +vortrefflich, solange er nichts als seinen Schüler vorstellt; aber als +nach einem Vierteljahr die erste Bekanntschaft gesichert ist, sodaß +auch in diesem Verhältnis das Menschliche zum Vorschein kommen kann, +sieht er als Grundlage aller glänzenden Fähigkeiten dieses Mannes den +Geist der Aufklärung, den er immer gehaßt hat und der ihm seit dem +Emil als die Quelle aller Unnatur verächtlich wurde. Es ist eine Art, +die Welt in das Einmaleins der Vernunft aufzulösen, die seiner Natur +unmöglich ist und ihm als Vorbereitung für das Pfarramt verbrecherisch +scheint. Das Bild eines Seelsorgers, wie es ihm vorschwebt, ist der +Diener eines gütigen und demütigen Menschentums; dies aber dünkt ihm +eine Sklavenherrschaft der Bildung zu sein, die auch die jungen Pfarrer +noch von dem Volk absondert zu dem geistigen Hochmut, in dem er alles +städtische Wesen eingezirkelt sieht: In dem Zwiespalt dieser geistigen +Dressur zu seinem Lebensgrund zerreißen sich die tapferen Absichten +der Selbstzucht; denn gerade die freimütige Art des Professors, seine +Schüler zur tätigen Mitarbeit herauszufordern, bringt seine Natur +zu Äußerungen des Widerspruchs, die dem selbstsicheren und auch +selbstgefälligen Mann als mädchenhaft verächtlich sein müssen. + +So kommt es eines Tages, als Steinbrüchel über das vernünftige Denken +in der Religion mit allem Aufwand seiner gewetzten Vernunft und +seines spöttischen Witzes gesprochen hat und gerade dabei ist, seinen +Triumph aus den Äußerungen der Schüler zu ernten, zu einem Frage- +und Antwortspiel, darin der Streit von Anschauungen zu persönlicher +Feindschaft ausartet. Heinrich Pestalozzi, der das Rüstzeug Rousseaus +gegen Voltairesche Dialektik in Händen hat und an seine sterbende +Großmutter denkt, wie sie die Lilie im Garten streichelt, vergißt die +Eitelkeit des berühmten Lehrers und sagt: Wie alles Wahrnehmbare könne +auch die Religion Gegenstand der vernünftigen Denkarbeit sein, nur +dürfe man nie den Unterschied vergessen, der zwischen ihr selber und +den Gedanken über sie bestände, und um Gottes willen diese Gedanken +nicht schon für Religion halten; wie in allen Arten der Liebe, in der +Treue, im Haß und in der Trauer habe man in ihr eine direkte Äußerung +des Lebens -- und zwar die tiefste, da sie auf den Zusammenhang mit dem +Geheimnis der Welt ginge -- während alles Denken nur indirekt, eine +Hilfe des Lebens, aber nicht wie jene Dinge, das Leben selber sei! + +Er bringt das nicht so rasch heraus, verhaspelt sich vielmals und +sucht mit den Armen nach dem fehlenden Wort, sodaß die andern schon +zum Spott gestimmt sind, bevor der Professor ihn mit dem scharfen Witz +abfertigt, daß sie ja auch hier zum Denken und nicht zum Leben seien, +auch wenn ihm das eine schwerer zu fallen scheint als das andere! Mit +solcher Waffe hat er es natürlich leicht, die Spottlust der Klasse über +seinen ungeschickten Gegner herauszufordern, sodaß die Antwort Heinrich +Pestalozzis vom Gelächter verschüttet wird. Seit diesem Tag behandelt +Steinbrüchel ihn mit einer spöttischen Nachsicht, als ob er einen +komischen Störenfried in seiner Klasse hätte; und da der Geist der +Aufklärung, aus dem er sich mit den meisten seiner Schüler verständigt, +der Stolz von Zürich ist, kommt Heinrich Pestalozzi unvermutet wieder +in die Rolle des Heiri Wunderli von Torliken, und gerade die Klasse, +in die er mit so tapferem Willen eingetreten ist, wird ihm zu einem +Martyrium, darin er nun die Freude am Collegium überhaupt verliert. + + + 25. + +Mitten in den Entmutigungen dieser Zeit trifft Heinrich Pestalozzi ein +merkwürdiges Ereignis: Lavater ist nach fast einjähriger Abwesenheit +in der Stille zurückgekehrt, hat sich auch den Freunden einige Wochen +lang nicht gezeigt und überrascht sie eines Tages mit einem Bändchen +Schweizerlieder. Der nach seiner demütigen Abbitte aus der Vaterstadt +entwichene Kandidat kehrt damit als ein Dichter in die Heimat zurück, +den nun auch die Mißgünstigen nicht mehr wie einen jugendlichen +Störenfried abtun können. Als er danach zum erstenmal wieder in die +Gerwe kommt, von Bodmer an der Hand geführt, wird der Tag von den +Patrioten wie ein Sieg der vaterländischen Sache gefeiert. Auch +Heinrich Pestalozzi schüttelt dem Glücklichen die Hand, geht aber +bald wehmütig fort; nicht, daß er dem Lavater den Triumph weniger als +ein anderer gönnte, aber es wird ihm mitten im Kreis der Freunde, die +sich um ihn drängen, deutlich, daß er nicht zu ihnen gehört, daß er +nur einen jüngeren Nachzügler ihrer Generation vorstellt. Fast alle +sind älter als er und haben ihr Studium schon beendigt, während er sich +selber immer mehr als ein Gescheiterter vorkommt. Darin hilft ihm auch +sein Rousseau nur zu einem trotzigen Selbstbewußtsein, das letzten +Grundes seine Unfähigkeit zu einer bei jenen geachteten Existenz +bestätigt. + +In dieser Laune begegnet er Bluntschli, der unterdessen Hauslehrer +in Zürich geworden ist und, durch seine Verpflichtungen verspätet, +noch zur Gerwe will. Um mit seinem frühen Weggang nicht sonderbar +zu erscheinen, geht er einige Straßen mit ihm zurück und klagt ihm +offenherzig seine Not. Der hört ihn schweigend an, aber als sie vor der +Gerwe stehen, kehrt er kurzerhand um: Wenn es ihm recht wäre, könnten +sie miteinander noch auf den Lindenhof gehen! + +Es ist eine unermeßliche Sternennacht da oben; obwohl der Mond noch +nicht aufgegangen ist, scheinen die Dächer der Stadt vom Licht +begossen, und der See leuchtet den Himmel in einer zarten Verklärung +wider. Sie schweigen lange, bis Bluntschli spricht: Du hast mir von +einem Menschen gesagt, der sein Leben nicht wie einen sauberen Parkweg +vor sich sieht und darum verzweifelt ist; ich könnte dir von einem +andern erzählen, der seine Stunden sorgfältig vorbereitet hat, nur daß +er sie selber nicht mehr wird schlagen hören, weil ihm das Uhrwerk vom +Rost zerfressen ist! Er hat die Hand auf seine vom Anstieg angestrengte +Brust gelegt, als er das sagt, und danach schweigt er, sodaß Heinrich +Pestalozzi -- der kein Wort findet, das ehrlich und zart zugleich ist, +um eine Antwort auf dieses Bekenntnis eines Todgeweihten zu sein -- in +einer Spannung dasteht, als müsse ihm der Kopf zerspringen. Auch der +andere kommt nicht mehr zurecht, bis sie schweigend aus dem Schauer +dieser Sternennacht hinunter gehen, in die dunklen Gassen und auf der +Brücke mit dem Mühlrad nach der großen Stadt hinüber. Erst auf der +Münsterterrasse, wo die beiden Türme sich riesenhaft in die Sterne +einzubauen scheinen, findet die Erregung noch einmal ein Wort: Wozu +meinst du, sagt der Bluntschli und zeigt an den Steinmauern hinauf, +wozu meinst du, daß die dastehen? Für dich nicht und für mich nicht, +für jeden einzelnen wären sie zu groß, und für alle sind sie auch nicht +da; denn ich weiß hundert, denen sie gleichgültig bleiben! Aber daß +die Menschlichkeit im Namen des Höchsten, das wir kennen, täglich in +die Geschäfte und die Arbeit eingeläutet wird, dafür sind sie so dick +und dauerhaft gebaut. Und daß sie uns sagen: was einer für sich selber +Irdisches zuwege bringt, das hört mit seinem Leben auf; aber was er an +der Menschlichkeit tut, das ist unsterblich. Du sorgst, was aus dir +werden soll, und mir ist die Sorge bald abgenommen -- am Ende aber ist +es wichtiger, was wir gewesen sind! + +Er läßt ihn danach stehen, gibt ihm nicht einmal die Hand und geht auf +seine vorgebeugte Art davon. Heinrich Pestalozzi kommt nach Haus, als +ob er aus dem Jenseits wiederkehre. + + + 26. + +Seit diesem Frühwinterabend verliert Heinrich Pestalozzi die enge +Fühlung mit den Freunden in der Gerwe nicht mehr; es ist, als habe er +eine Verkündigung erlebt, was zwischen ihnen Gemeinsames sei. Als sie +zum Januar ein Wochenblatt gründen, das der Erinnerer heißt und von +der klugen Hand Lavaters in Gemeinschaft mit Heinrich Füeßli -- einem +Vetter des Malers, der unterdessen in London seine Künstlerlaufbahn +begonnen hat -- geleitet wird, ist er eifrig dabei. Sie haben nun alle +Rousseau gelesen; und wenn Bodmer sie von Anfang an lehrte, daß der +sicherste Weg zur persönlichen Freiheit der sei, sich aller unnötigen +Bedürfnisse zu entwöhnen, da man nur durch diese den Machthabern +ausgeliefert, ohne Bedürfnisse aber frei wäre: so wird nun ein +asketischer Wetteifer daraus, der über die persönliche Unabhängigkeit +hinaus eine spartanische Vereinfachung der Sitten erzwingen will. +Mit jugendlicher Behendigkeit wird dadurch das Ideal des sittlichen +Lebens aus der Zeit Zwinglis und der Eidgenossen in das Kriegslager +der Spartaner zurückverlegt; und auch Heinrich Pestalozzi überrascht +das Babeli damit, daß er sich auf den Stubenboden bettet, nur mit +einem Rock zugedeckt, und dies auch monatelang zu ihrer Verzweiflung +durchhält. + +Unvermutet gibt die Züricher Regierung den patriotischen Jünglingen +Gelegenheit, die spartanische Tugend zu erproben: Schon in der +deutschen Schule ist in der Klasse von Heinrich Pestalozzi ein Sohn +des Amtmanns Schinz zu Embrach gewesen, der -- ein Jahr älter als er +-- jetzt mit ihm Theologie studiert und auch einer aus der Gerwe ist. +Dessen Eltern besitzen einen Pachthof in Dättlikon, wo der Pfarrer +Hottinger von seiner Gemeinde eher für einen Wolf im Schafspelz als +für einen guten Hirten gehalten wird. Da ihn die Züricher Regierung +trotz der bösesten Gerüchte weiter amtieren läßt, weil er anscheinend +beim Antistes einen verläßlichen Fürsprecher hat, setzt der Student +Rudolf Schinz eine Anklageschrift auf, die von dem Gerichtsvogt und dem +Schulmeister in Dättlikon, den Gebrüdern Ernst, unterschrieben und mit +sorgfältiger Beachtung aller Vorschriften in Zürich eingereicht wird. +Als darauf zwei Monate lang nichts geschieht, als ob die Gestrengen +Herren auch diese Anklage noch verschweigen wollten, findet der +Antistes Heß an einem Maitag in seinem Kirchenstuhl einen mit Bleistift +geschriebenen Zettel, auf dem der Oberpfarrer an seine Pflicht erinnert +wird: Weil sonst die Steine anfangen möchten zu schreien! + +Dieser Lästerbrief, wie er danach in den Akten heißt, bringt die +Gestrengen Herren mehr in Zorn als alle Amtsvergessenheit eines +lasterhaften Pfarrers. Wer von den Patrioten fähig scheint, ihn verfaßt +zu haben, wird peinlich ins Verhör genommen; auch Heinrich Pestalozzi +trifft es diesmal. Seine Mutter verschließt sich traurig in die Kammer, +als er den Weg aufs Rathaus antreten muß, und das Babeli putzt ihn +grimmig zurecht, daß er zum wenigsten noch in der Kleidung als ein +ordentlicher Mensch vor die Herren käme; er selber ist voll überlegener +Verachtung. In einem öffentlichen Anschlag des Kleinen Rates sind +dem, der den Briefschreiber verriete, zweihundert Dukaten versprochen +worden unter Verschweigung seines Namens: Daß eine Regierung, die in +ihren Schulen die Tugenden der Römer und Spartaner lehren läßt, sich +so weit vergißt, hat -- wie der Bluntschli sagt -- aus dem Schwert der +Gerechtigkeit ein Dolchmesser gemacht. So hört Heinrich Pestalozzi die +umständlichen Vermahnungen der Herren mit verächtlichem Trotz an und +verweigert wie die andern den verlangten Eid -- nichts von der Sache zu +wissen -- mit der vereinbarten Begründung, daß er bereit sei, einen Eid +für alles zu schwören, was er nach seinem Bürgergewissen zu sagen sich +für verpflichtet halte. + +Gegen so viel Festigkeit der Jünglinge, die sich in die Hand gelobt +haben, ein Beispiel spartanischer Tugend zu geben, wagen die Gestrengen +Herren diesmal noch nicht vorzugehen: der Pfarrer Hottinger wird seines +Amtes enthoben, die Brüder Ernst in Dättlikon als Landbürger müssen +»übertriebener Anklägten« halber zweimal vierundzwanzig Stunden aufs +Rathaus in Arrest, Rudolf Schinz kommt als Stadtzürcher mit einer +Verwarnung davon. + +In Heinrich Pestalozzi löst das Ergebnis einen Plan aus, den er +schon lange mit sich herumgetragen hat: Seitdem Klopstock und andere +deutsche Dichter Zürich hoch gerühmt haben, ist es eine beliebte +Äußerung des Heimatstolzes geworden, die Stadt an der Limmat mit Athen +zu vergleichen. Ihm scheint der Vergleich in dem besonderen Sinn +zu passen, daß athenischer Luxus und athenische Verweichlichung in +der Stadt Zwinglis überhand genommen haben, und daß es not täte, sie +auf das Beispiel Spartas zurückzuführen. Nun hat Heinrich Pestalozzi +in der ganzen Geschichte des lakonischen Staates nichts so gerührt +wie das Schicksal des jungen Königs Agis, der die von athenischen +Sitten angesteckte Stadt wieder zu den Gesetzen des großen Lykurgus +zurückführen wollte und darüber von seinen eigenen Landsleuten +hingerichtet wurde. Lykurgus und Zwingli sind für sein Gefühl eins; +weil aus dem spartanischen Zürich der Reformationszeit das Limmatathen +des Dättlikoner Handels geworden ist, liegt es für ihn nahe, auch +für Zürich einen Agis zu erwarten, und tatsächlich vermag er nicht +an seinen Freund Bluntschli zu denken, ohne daß dieser ihm das Bild +jenes edlen und unglücklichen Agis vorstellt. Nun sie in dem Handel +Sieger geblieben sind, gewinnt er Mut zur Beschwörung des alten +Heldenjünglings; aber seine Darstellung soll so deutlich auf Zürcher +Verhältnisse zielen, als ob der spartanische Reformator noch einmal in +die Welt gekommen wäre. + +So schreibt Heinrich Pestalozzi, der sein zwanzigstes Lebensjahr +noch nicht vollendet hat und unter den Patrioten immer noch das +Nesthäkchen ist, als Antwort auf den Dättlikonhandel seinen »Agis« +nieder, den er dem greisen Bodmer in Handschrift überreicht, und +den er nachher auch in der Gerwe vorlesen darf. Endlich kommt sein +Ehrentag, und er hätte am liebsten seine Mutter, das Bärbel und das +Babeli dabei -- den Großvater hat er gefragt, aber der hat sich +nicht entschließen können mit seinen dreiundsiebzig Jahren -- wie +er den jungen und alten Patrioten seiner Heimatstadt ein Bild ihrer +schlimmen Zustände im Spiegel Spartas zeigen darf. Nicht allen sind +seine starken Ausdrücke recht, wie er das Reislaufen für fremdes Gold, +die Raubsucht der Reichen, die aufgeblasene Weisheit, das kriechende +Wesen der Untertänigen und den Redner, der um Beifall spricht, mit +dem Zeigefinger aus dem Bild herausholt; als er die Verleumdung gegen +Agis auch die Sprache der Niedrigkeit unserer Tage nennt, stürmen die +Jünglinge so laut mit ihrem Beifall, daß einige Ältere aufstehen und +sich entfernen; und als er den Agis sagen läßt: Ich rede die vergessene +Sprache der Freiheit in ein Jahrhundert hinein, das gewohnt ist, die +ewigen Gesetze der Freiheit verletzen, Mitbürger in Sklaverei stürzen +und das Heil des Staates vertilgen zu sehen! sind auch manche von +den Jüngeren erschrocken, und viele Augen richten sich fragend auf +den sonst so klugen Bodmer. Der aber, der den Schluß kennt, sieht +unbewegt und fast spöttisch unter seinen weißen Augenbüscheln gegen das +vertäfelte Gebälk der alten Zunftdecke. Als sich dann das Schicksal +des spartanischen Jünglings unter hohen Worten erfüllt, kommt alles +so, wie es der alte Herr vorausgesehen hat: mit ihrer Rührung um den +Helden gehen sie doch wieder in das griechische Altertum ein; soweit +sie ängstlich gewesen sind, sichtlich froh, alle harten und bösen Worte +mit dahinein packen zu können. + +Aber in den Erinnerer wagt Lavater die Arbeit doch nicht zu nehmen, +und selbst Bluntschli, der sich die Handschrift noch an dem Abend +mitnimmt, bringt sie nach einigen Tagen, manchen Ausfall tadelnd, +zurück. Bei den Jungen und Stürmischen aber trägt ihm die Vorlesung +ein, daß sie seitdem auf ihn als einen Führer sehen, wie er selber beim +Eintritt ins Collegium auf Lavater und Bluntschli gesehen hat. + + + 27. + +Der Beifall, den Heinrich Pestalozzi an seinem Abend in der Gerwe +genossen hat, die Achtung selbst von denen, die bis dahin bereit +gewesen sind, ihn um seiner Wunderlichkeit willen zu verspotten, +die bedenklichen Gesichter der Abwägenden und das Gemunkel um seine +rebellischen Ausfälle: bringen für ein paar Wochen einen Überschwall in +ihm zustande, als ob er selber seiner Stadt ein Agis werden könne. In +dieser Stimmung findet er eines Mittags, aus dem Collegium heimkehrend, +ein Billett, das ihm jemand unbemerkt zwischen seine Bücher und Hefte +gesteckt hat: Einer, der von seinem Vortrag gehört habe, bäte ihn +aus einer verzweifelten Notwendigkeit um ein geheimes Gespräch; er +möge nachmittags um fünf Uhr unauffällig durch die Stadelhofporte +hinausgehen bis ans Zürichhorn, wo ihn dort oder schon unterwegs jemand +ansprechen würde. + +Das Wetter ist dem sonderbaren Ausflug nicht günstig; schwarze +Wolkenballen drohen ein Gewitter, und gerade, als er zur Porte hinaus +will, prasselt ein Platzregen los mit Hagelkörnern und Donnerschlägen. +Er wartet mit drei modischen Mamsells, die sich nicht rechtzeitig +haben retten können und nun verdrießlich die Federn hängen lassen, +den schlimmsten Aufruhr ab und geht dann tapfer den Wiesenpfad am +See entlang. Unterwegs kommt die Sonne in die Nässe, und über den +Weinbergen versucht sich ein Regenbogen. Am Zürichhorn ist niemand; +aber als er sich schon für gefoppt hält, legt ein Weidling an, darin +jemand mit einer Angel gesessen hat. Es ist ein Student aus dem +Alumnat, den er von Ansehen, nicht mit Namen kennt, ein ungewöhnlich +langer und blasser Jüngling, dem die Hosen an den Beinen kleben von +dem Regen. Der fragt ihn nach einer scheuen Begrüßung, ob er ein +Stück mitfahren wolle auf die Seehöhe hinaus; und erst, als sie so +weit auf der gleißenden Wasserfläche sind, daß sie vom Ufer aus nicht +mehr erkannt werden können, fängt er an zu sprechen: nicht scheu und +stockend, wie Heinrich Pestalozzi erwartet, sondern rasch und fest wie +einer, der sich die Worte vielmals überlegt hat und seiner Scheu damit +Gewalt antut. + +Was er mitteilt, ist Heinrich Pestalozzi nicht unbekannt; es betrifft +die geheimen Dinge im Alumnat, von denen im Carolinum längst +die schändlichsten Gerüchte gehen. Aber was ihm bisher nur ein +verächtliches Laster gewesen ist, bekommt in den Worten des Jünglings +eine Gefährlichkeit, daran er nicht gedacht hat: auch die noch +unbefleckt einträten, würden Opfer der allgemeinen Verführung, sodaß +die gesundesten Landsöhne schon ein halbes Jahr nach ihrem Eintritt +wie junge Birken wären, denen im Frühjahr der Saft abgezapft wurde. Er +selber sei einer von denen, die sich anfangs gewehrt hätten: aber weil +das Laster nicht mehr heimlich, sondern die allgemeine Gewohnheit im +Alumnat sei, würde die Tapferkeit nur verhöhnt als ländliche Dummheit, +auch vermöge sie schließlich der Lüsternheit, die doch nun einmal in +jeder menschlichen Natur läge -- hier fühlt Heinrich Pestalozzi in der +Erinnerung an seinen Rousseau einen feinen Stich im Herzen -- nicht +standzuhalten: Was er von ihm verlange, sei nichts als ein Antrag auf +Untersuchung, auch was die nächtlichen Zusammenkünfte auf dem hinteren +Speicher beträfe, der dafür seit Jahren eingerichtet sei. Aber ihn als +Angeber verraten dürfe er nicht, was auch käme, und er müsse ihm das +schon in die Hand versprechen, wenn ihm eine Hand wie die seine dazu +noch recht sei! + +Heinrich Pestalozzi verspricht es ihm in die Hand und läßt sich ans +Ufer fahren, wo die Sonne aus der Regenfeuchtigkeit einen heißen Dunst +macht. Er geht durch Binsen und Gebüsch der reisigen Stadt Zürich zu +wie ein Bote, dem die Feinde eine eiserne Halskrause umgeschmiedet +haben. Als er sich vor der Stadelhofporte zurückwendet, erkennt er +den Weidling noch, wie er mit beigelegten Rudern auf dem schimmernden +Wasserberg steht; es ist ihm nun fast sicher, daß er das häßliche +Geheimnis bewahren muß. Aber noch am selben Abend schreibt er tapfer +die Anzeige und gibt sie so ohne Vorsicht an der Tür des Antistes ab, +daß er schon am andern Mittag ins Verhör genommen wird. Er steht noch +immer in Verdacht, den Lästerbrief geschrieben zu haben, auch hat sein +spartanisches Sittenbild die Stimmung der Chorherren gegen ihn nicht +gebessert: so setzen sie ihm scharf zu. + +Es ist eine andere Luft als in der Gerwe zwischen den hitzigen Herren, +von denen ihm jeder einzelne seine bürgerliche Zukunft mit einem +Tintenstrich durchstreichen kann; er hält aber ihre Kreuzfragen aus und +verweigert standhaft, einen Gewährsmann zu nennen: er habe ihm seine +Hand darauf geben müssen, und niemand in der Welt dürfe ihn zwingen, +wortbrüchig zu werden. Er hätte seine Hand dem sagenhaften Römer gleich +ins Feuer stecken können, so überzeugt ist seine Gebärde, aber den +Herren scheint der Fall zu heikel für solche Gewalt. Sie ziehen sich +mit ihrer Unschlüssigkeit in das geheime Gemach zurück und lassen ihn +allein zwischen den Stühlen und Schränken. Doch steht ein Fenster +auf, und er kann hinunter sehen auf den Münsterplatz, wo gerade der +Bluntschli mit seinen vier Zöglingen daher kommt. Um eines Übermuts +willen laufen sie ihm fort, und der Kandidat vermag ihnen nicht zu +folgen gegen den steilen Berg. Heinrich Pestalozzi hört ihn husten und +sieht auch, wie ihn der Anfall würgt; er möchte ihm beispringen, aber +während er noch den unnützen Gedanken erwägt, machen die Kinder in +einem neuen Übermut kehrt und laufen an ihm vorbei gegen das Haus zum +Loch hinunter. Indem Bluntschli ihnen dahin folgt, sieht er ihn mit +seiner weltmännischen Höflichkeit eine Jungfer grüßen, die freundlich +nickend an ihm vorübergeht. Es ist Anna Schultheß, die schöne Schwester +ihres gemeinsamen Freundes, des Theologiestudenten, und wie er seitdem +erfahren hat, die Tochter des braunbärtigen Mannes aus der Gerwe. Er +weiß, daß die beiden miteinander im Gerede sind, und es macht ihn +wehmütig, sie so lebendig gegen den Berg schreiten zu sehen, der seiner +kranken Brust zu steil gewesen ist. + +Nach ihr kommen noch viele Menschen über den Platz, fremde und solche, +die er kennt; er hat Zeit, ihnen nachzudenken, denn dreimal schlägt die +volle Stunde am Münsterturm, bis seine Richter wiederkommen, verärgert +und erhitzt. Sie schicken ihn nach Haus, wo er sich unter Androhung +schwerer Strafen verhalten soll, bis sie ihn wieder rufen ließen. An +dem Abend hört er nichts mehr von ihnen; nur seine Mutter scheint +unterdessen eine Nachricht zu haben: sie hält sich in der Kammer +eingeschlossen, und er weiß, daß dies ein Zeichen schwerer Kränkung +ist. Andern Mittags wird sie statt seiner vor die Herren gerufen; sie +bringt ihm, blaß wie der Tod, die Weisung mit, daß er sich noch am +selben Tag zu seinem Großvater, dem Dekan in Höngg, verfügen müsse, +dem er vorläufig für vier Wochen zur Ahndung seiner vorlauten Anzeige +überantwortet sei. Diese Weisung steht in der Schrift, die sie ihm +überbringt; sie selber sagt kein Wort, nimmt auch das Bärbel mit in die +Kammer, sodaß er ohne Abschied, nur vom bitterbösen Babeli vor die Tür +getan, den Weg antreten muß, den er nun doch in Trotz und Bitterkeit +geht. + + + 28. + +Heinrich Pestalozzi findet den Großvater auch diesmal in seiner +Studierstube; seit dem Tod der Pfarrerin ist er im Regiment des Tantli +und sitzt fast den ganzen Tag bei seinen Kirchenvätern. Er liest die +Weisung mehrmals durch und legt sie mit einem Lächeln beiseite, das +Heinrich Pestalozzi an die Großmutter erinnert, nur ist es spöttischer. +Nachher werden sie von der Magd zum Vesperbrot gerufen und müssen mit +dem Tantli von andern Dingen sprechen. Der Großvater sagt ihr, daß +der Neffe diesmal vier Wochen bleibe, und scheint schon nicht mehr zu +wissen, warum; es drängt ihn augenscheinlich, wieder allein zu sein, +und Heinrich Pestalozzi sieht ihn an dem Tag nicht mehr. Doch wie er +am Abend frühzeitig in seine Kammer kommt, hat er ihm nach seiner +Gewohnheit etwas auf den Tisch gelegt. + +Es ist auch ein Schriftstück des Antistes, aber nicht seinetwegen an +den Dekan in Höngg gerichtet; als Heinrich Pestalozzi es gelesen hat, +legt er seine Verweisung mitten darauf, denn auch das andere ist ein +Stück Papier behördlicher Ungnade! In dem selben Dorf Buchs, woher +das Babeli ist, hat der Dorfpfarrer einigen Kindern die Konfirmation +verweigert, angeblich wegen ungenügender Kenntnisse, anscheinend aber, +weil er mit den Eltern Streitigkeiten hatte. Darauf hat der Dekan in +Höngg die Zurückgewiesenen ohne Umstände selber konfirmiert, und das +Schriftstück da ist der sanfte Tadel für seine Eigenmächtigkeit. Wie +Heinrich Pestalozzi nun an das spöttische Lächeln des Großvaters denkt, +muß er laut lachen, sodaß er aus diesem verdrießlichen Tag doch noch +mit Lustigkeit ins Bett kommt. + +Als er in der Frühe erwacht, hört er eine Sense dengeln; er besinnt +sich gleich, daß die Kornernte angefangen hatte, als er heraufkam, und +mit einem fröhlichen Einfall springt er aus dem Bett. Unten ist noch +die Dumpfheit der überstandenen Nacht im Haus, aber als er den Riegel +öffnet, strömt ihn die Morgenluft an wie ein Bad; überall krähen die +Hähne, und aus einigen Schornsteinen drehen sich schon die blauen +Rauchsäulen in den Himmel, der noch ohne Sonne ist, aber Hahnenruf und +Rauch als Frühopfer der Erde in seine reine Stille verschwinden läßt. + +Dem ersten Bauer, dem er begegnet, heftet er sich an; es ist ein zäher +Greis, der seine Enkelin an der Hand führt und den fröhlichen Gruß +mit der abwartenden Miene erwidert, darin der Bauer die städtische +Zutraulichkeit abweist. Er merkt es nicht, nimmt das Kind, das seine +sieben Jahre zählen mag, kurzweg bei der andern Hand, und so gehen +sie zu dritt die Straße hinunter, bis der Bauer vom Weg abklettert, +die gedengelte Schneide mit den Fingern prüft und seinen harten +Sensenschlag in die gelben Halme beginnt, die einen Sprung zur Flucht +zu machen scheinen, bevor sie ihren stolzen Wuchs für immer neigen. +Heinrich Pestalozzi steht am Grabenrand und denkt, daß sie mit dem +Sommerwind ihr geschmeidiges Fangspiel gemacht und im Gewitter sich +ängstlich geduckt haben, daß sie den dünnen Regen und das dicke goldige +Sonnenlicht tranken und nun über den süßen abgeschnitten werden, immer +ein Bündel zugleich, wie sie auch nur miteinander ihr schwankes Leben +aufrecht halten konnten. Doch ist er nicht da für solche Gedanken, und +er wartet auch nur ab, was das Mädchen beginnen wird, das vorläufig am +Rain einer Sternblume die weißen Blättchen auszupft und dazu einen +Zählreim sagt. Als er beobachtet hat, wie sie danach aus Halmen dünne +Seile dreht und damit die einzelnen Bündel zu Garben bindet, gibt er +sich mit daran und bleibt auch hartnäckig dabei, als der Bauer den +Wetzstein holt und sein Tun mißtrauisch besieht. Auf die Dauer einigen +sie sich doch, und wie gegen sieben Uhr der schmale Ackerstreifen +niedergelegt ist und nur noch ein letztes Büschel steht, läßt ihm der +Alte sogar die Sense, das abzuschlagen; er fährt freilich fast mit +der scharfen Sense gegen sein Bein, aber gerade das macht den andern +gesprächig, sodaß sie mit der warmen Morgensonne anders zurückkommen, +als sie in der kühlen Frühe auszogen. + +Das Frühmahl schmeckt ihm danach besser als sonst, und er sitzt schon +wieder in der Ungeduld dabei, was ihm der Tag nach diesem Anfang sonst +bringen könnte. Um noch beim Melken dabei zu sein, ist es zu spät; +doch tut er gleichwohl einen Sprung in den nächsten Stall. Da ist die +Frau gerade dabei, die seimige Milch durch das Haarsieb zu gießen; sie +braucht keine Hilfe, aber die hölzernen Eimer unter dem Brunnen sauber +zu waschen, versucht er doch, bis sie über seine Narrheit lacht und ihn +anders belehrt. Aus dem Stall geht es in die Matte, wo ein Bub noch +saftiges Futter vor der steigenden Sonne zu bergen hat, und so fort +durch das halbe Dorf, wo sich jeder über den närrischen Pfarrstudenten +wundert. Als er zum Mittagessen kommt, ist er brandig rot, und am Abend +muß ihm das Tantli einen Finger verbinden, der ihm irgendwo in ein +Schnitzmesser geraten ist. + +Mit dem Großvater spricht er an diesem Tag nur ein paar Worte, da +der in einer Dekanpflicht über Land gefahren ist; aber auch in den +nächsten Tagen hält ihn seine ländliche Tätigkeit so weit ab von den +Kirchenvätern des alten Herrn, daß sie sich nur beim Essen treffen; es +scheint ihm, als ob der lächelnde Mund immer sarkastischer würde; als +er es aber eine ganze Woche lang so fort getrieben hat und nun schon +fast wie ein Bauernknecht aussieht -- nur daß er jetzt schon drei +Finger verwickelt hat -- findet er abends ein Buch in seiner Kammer, +das er längst kennt, aber bisher kaum beachtet hat: »Die Wirtschaft +des philosophischen Bauers« oder, wie es kurzweg heißt, Der Kleinjogg. +Es ist von dem Doktor Hirzel in Zürich geschrieben, der zu den neun +Argonauten in Schinznach gehört und manchmal auch in die Gerwe kam. +Tags hat er immer noch keine Zeit, aber nachts liest er es bei der +Kerze, und bald schwört er darauf, daß es für einen echten Jünger +Rousseaus keinen andern Beruf geben könne, als Landmann zu werden. Wenn +er mitten aus seiner Feldarbeit heraus nach Zürich hinunter sieht und +an den Grund denkt, der ihn hergebracht hat, an die greulichen Dinge +im Alumnat, an die Schule und die Stadt mit dem Gezänk der Zünfte, dem +Gewerk der dunklen Kellerlöcher und dem Geschwätz der guten Stuben: +dann kann er mitten in seiner Freude traurig werden wie ein Narr, weil +ihn der Gedanke an die Rückkehr schreckt. + +Eines Tages schreibt er wirklich dem Bluntschli einen Brief, daß er +sein Studium aufgeben möchte, weil er doch nicht zum Pfarrer tauge und +es auch sonst in der städtischen Unnatur nicht mehr aushalten könne, +nachdem er einmal das wirkliche Leben eines Landmannes geschmeckt +habe. Alles andere wäre nur ein Maulwurfsdasein, zum wenigsten könne +er von seinem Berg die hochmütige Stadt Zürich nur ansehen wie einen +Maulwurfshügel. Wolken und Sonne und Schnee: für den Städter wären sie +nichts als veränderte Gelegenheiten zu gutem und schlechtem Wetter -- +und seinen Erdboden habe er gar mit Fundamenten und Straßen völlig +getötet -- für den Landmann aber bedeuteten sie die Elemente seines +natürlichen Daseins, sie brächten seiner Saat Regen und machten das +Korn reif; der Wechsel der Jahreszeiten, ja der ganze Kalender wäre für +ihn der Kreislauf eines in der Natur gegründeten Lebens. Wenn es ihm +nicht zuwider sei, möge er schon seiner Mutter bei Gelegenheit ein Wort +der Vorbereitung sagen, daß sie durch seinen Entschluß nicht auch ihren +zweiten Sohn verlöre, sondern ihn erst recht gewönne. + +Er hat den Brief schreiben müssen, um endlich einem Menschen etwas +von der Befriedigung seines ländlichen Daseins sagen zu können; der +Großvater weicht allen Gesprächen darüber aus, und das Tantli, das +aus einer ländlichen Pfarrerstochter eine Vikarsfrau geworden war und +nun wieder einem Landpfarrer den Haushalt führt, vermag nur hellauf +zu lachen, wenn er mit seiner Schwärmerei anfängt; aber als er am +dritten Tag danach gerade auf einem Wagen voll Korn glücklich obenauf +sitzt und ins Dorf gefahren kommt, steht vor dem Pfarrtor ein Wagen, +und Bluntschli sieht kopfschüttelnd seine Einfuhr an. Nachdem er dem +Dekan seine Aufwartung gemacht hat, die nur kurz ausfällt, gehen sie +miteinander durch seinen ländlichen Bereich, bis Bluntschli müde wird +und sich an einen Rain hinsetzen muß. Der hat den begeisterten Freund +bisher reden lassen; nun weist er auf seine Hände, an denen fast alle +Finger angeschnitten oder verwickelt sind: ob das seine besondere +Begabung für die ländliche Arbeit sei? Und ob er nicht wisse, daß zum +Bauerntum zuvörderst ein richtiger Bauernsitz gehöre? Wenn der Junker +Meis im Winkel aus der gleichen Begeisterung Bauer würde, wisse er, +wovon! Aber das alles seien Fragen, die ihn als seinen Freund nichts +angingen; denn Freundschaft hieße nicht, daß einer dem andern praktisch +beistände, Freundschaft sei eine Sache der Seele: Dies aber drehe sich +alles doch nur darum, daß er ein Dasein haben möchte, wie es für seine +Art möglichst bequem und vergnüglich wäre. Was er zu seinem Agis sagen +würde, wenn der die Not Spartas verließe, um sich einen Meierhof zu +suchen? Er möge doch nicht vor seinen eigenen Ideen verächtlich werden, +was sicherlich der eigentliche Verrat der Freundschaft sei! + +Heinrich Pestalozzi wird ihm auf keine dieser Fragen eine Antwort +schuldig, aber als der Freund, der es eilig hat, wieder abfährt, bleibt +er mit einem zerbrochenen Mühlrad zurück; obwohl er noch trotzig darein +blickt, merkt er gleich, er bringt es nicht mehr zum klappern. Und +als ihm nach drei Tagen der Großvater einen Brief der Mutter in die +Kammer legt, den sie an ihren Schwiegervater geschrieben hat: was es +für Torheiten habe mit ihrem Sohn? er möge ihm die Flausen aus seinem +Wirrkopf blasen! da fällt auch der Trotz rasch ineinander. + +Nachdem seine vier Wochen herum sind, läßt er sich vom Großvater die +Weisung des Antistes als erfüllt bescheinigen und marschiert nach der +Stadt zurück, die mit ihren Türmen und Dächern gleichmütig am See +geblieben ist und seine Schritte wie sonst in der Niederdorfporte +hallen läßt. Gerade, als er hindurchgeht, kommt ihm die Anna Schultheß +entgegen, die er als Freundin seines Freundes verehrungsvoll grüßt. Daß +sie das erste ist, was ihm in Zürich begegnet, gibt der Gedrücktheit +seiner Gedanken einen ziemlichen Stoß, sodaß er heller bei den Seinen +im Roten Gatter eintrifft, als er in Höngg fortgegangen ist; wobei +freilich die Liebe seiner Mutter auch das ihre tut, als sie ihn +herzlich weinend umfängt. + + + 29. + +So muß Heinrich Pestalozzi doch noch einmal ins Collegium, und es ist +nicht leichter für ihn geworden in dieser Zwischenzeit: im Alumnat hat +es eine böse Reinigung gegeben, und die davon betroffen sind, stehen +nun in tückischer Feindschaft gegen ihn; auch die Lehrer übertragen +zum Teil die Stimmung der peinlichen Enthüllung gegen ihn, und da +seine Erscheinung durch die ländlichen Sommerwochen nicht gewonnen +hat, finden sich Anlässe genug ihn zu verhöhnen. Das Schlimmste +bleibt trotzdem, daß er sich in den witzigen, aufklärerischen Geist +der Theologenschule nun gar nicht mehr zu finden weiß. Er kann es +nicht begreifen, daß sich im Zeitalter Rousseaus der humanistische +Bildungsdünkel noch so breitmachen kann wie in diesem Unterricht. +Selbst die alten Schriftsteller scheinen ihm aufs gröblichste +mißverstanden, indem das Leben aus ihren Schriften weggelassen und nur +das Wort gelehrt und gedreht wird. Als Steinbrüchel, der schon mit +Übersetzungen der griechischen Tragiker aufgetreten ist, im Lindauer +Journal die erste olynthische Rede des Demosthenes abdrucken läßt als +Stichprobe seiner Übersetzung der sämtlichen Werke des athenischen +Redners, kann Heinrich Pestalozzi der Lust nicht widerstehen, dem +hochmütigen Mann an einem Gegenbeispiel zu zeigen, was in diesen Reden +mehr als humanistisch sei. Obwohl er im Griechischen ein mangelhafter +Schüler ist, legt er im Examen ein Bruchstück der dritten olynthischen +Rede vor, das er danach auch, gleichsam als Vorrede zu seinem Agis, +mit diesem im Lindauer Journal abdrucken läßt. Der Beifall, den seine +Übersetzung durch das Feuer und rednerische Talent der Sprache findet, +ist so allgemein, daß der gelehrte Professor Steinbrüchel seine +geplante Demosthenes-Ausgabe im Pult behält und als Übersetzer von nun +ab peinliche Enthaltung übt. + +Damit ist das Studentenschicksal Heinrich Pestalozzis entschieden; aber +ihm hat die Übersetzung unvermutet ein Tor aufgemacht, durch das er +doch noch mitten ins Leben zu kommen hofft: Landwirt kann und Pfarrer +mag er nicht mehr werden; aber gleich dem Demosthenes ein Fürsprech +der Bedrängten und Volksredner der öffentlichen Dinge zu sein, das +scheint ihm ein Beruf, den er nun sich und andern mit glühender Liebe +ausmalt. Alles, was er von dem Leben des großen Griechen liest, wie der +gleich ihm den Vater früh verliert und erst durch mühevolle Gewöhnung +seine körperlichen Mängel überwindet, wie er die großen Dinge seines +Volkes in seine Reden einbegreift und aus einem Rechtsanwalt das +Sprachrohr der vaterländischen Gesinnung in Athen wird: in allem findet +er Hinweise für seine durch die Ähnlichkeit des Temperaments und der +Zeitumstände vorbestimmte Laufbahn. Auch Bluntschli billigt sie, und +die Mutter willigt schweigend ein. Da es im Collegium Carolinum keine +Klasse für die Rechtswissenschaft gibt, geht er nun endgültig von der +Anstalt ab, die ihm verhaßt geworden ist. Wie er zum letztenmal die +Steintreppe hinuntersteigt, drängt sich ein Trupp seiner Mitschüler +hinter ihm her, ihm einen höhnischen Abschiedsgruß zu pfeifen. Er +weiß, daß einige Lehrer gern mit dabei wären; obwohl noch nicht +zwanzigjährig, hat er nun schon erfahren, daß diese Erlebnisse zu +einem tätigen und ehrlichen Leben gehören; er schwenkt seinen Hut zu +den hochmütigen Zürchersöhnen zurück, als ob sie ihm den Wert und die +Rechtlichkeit seiner Entschließungen bestätigt hätten. + +Nach Hause geht er aber nicht, sondern er läuft, wie er da ist, nach +Höngg hinauf. Bei dem Spott der Jünglinge ist ihm der Ernst Luginbühl +eingefallen, und wie es die selben sind, die dem Weberknaben die Schule +verleidet haben. Sogleich hat ihn aber auch die Scham gepackt, daß er +sich selber nicht mehr um ihn kümmerte. Wohl hat er sich oft nach ihm +erkundigt, aber zu ihm gegangen ist er nicht mehr, und nur einigemal +Sonntags hat er ihn gesehen, wenn er, langaufgeschossen und längst mit +blassen statt roten Backen von seiner Stubenarbeit, in die Kirche kam. +Er kann nicht anders, er muß es gleich gut machen; aber wie er nach +Höngg hinaufkommt, läuft er dem Großvater in den Weg, der sich noch +etwas in der Herbstsonne ergehen will. Von dem erfährt er, daß der +Ernst Luginbühl vor einigen Wochen nachts seinem Vater davongegangen +sei, niemand wisse wohin: aber er würde schon überall in der Welt einen +besseren Platz finden als an seinem Webstuhl! Glaubst du das wirklich? +sagt Heinrich Pestalozzi und sieht mit einem seltsamen Blick in die +wellige Hügelferne, als ob er zum erstenmal fühle, daß hinter diesen +Bergen auch noch eine Welt ist. + + + 30. + +Die Nachricht von der Flucht Ernst Luginbühls hat Heinrich Pestalozzi +auf den Gedanken einer heimlichen Pilgerfahrt gebracht: Er weiß, daß +Rousseau seit dem Frühjahr auf der Petersinsel im Bielersee wohnt, und +er malt sich das Abenteuer aus, dort einmal mit dem großen Mann zu +sprechen; wenn er bis Baden eine Schiffgelegenheit nimmt, kann er den +Weg in zwei Tagen hinter sich bringen. Die Mutter wehrt mit der Hand +seine Worte ab, und er sieht, daß sie bis ins Herz erschrocken ist, als +er nur im Scherz davon spricht; den Bluntschli aber fragt er einmal in +der Gerwe auf den Kopf, was er davon hielte? + +Da müßtest du weit reisen, sagt der; denn Rousseau ist auf der Flucht +nach England! Und so erfährt Heinrich Pestalozzi, was der andere +freilich auch erst seit zwei Tagen weiß, daß die bernische Regierung +dem Flüchtling sein Asyl auf der Petersinsel gekündigt habe. Warum ist +er nicht nach Zürich gekommen? fragt er in der ersten Enttäuschung; +aber nun wird Bluntschli, der eben noch gescherzt hat, bitter: Weil +die Zeiten Zwinglis vorüber sind und wir keinen Ulrich von Hutten +mehr brauchen können; besonders, wenn es nur ein Genfer Uhrmachersohn +ist! Wollte der große Voltaire kommen, sie möchten den Regenten der +Aufklärung mit vierundzwanzig Pferden einholen und er könnte bei dem +Antistes wohnen, aber den Rousseau mit seinen Menschenrechten würden +die Gestrengen Herren in den Wellenberg stecken! + +Sie haben im Eifer nicht gemerkt, daß unterdessen der mit dem braunen +Bart -- wie Heinrich Pestalozzi nun längst weiß, der Pfleger Schultheß +zum Pflug, der Vater Annas und ihres gemeinsamen Freundes Kaspar -- +hinter sie getreten ist: Der Wellenberg wäre das Mindeste für einen +Mann, sagt er ernst, der seine Kinder ins Findelhaus schickt und +ungetraut mit einem Weibsbild lebt! + +Der Bluntschli steht artig auf, und Heinrich Pestalozzi sieht, wie er +todblaß geworden ist; auch ihn selber hat es ins Herz getroffen, das +Vorbild so von ihrer strengen Tugend entblößt zu sehen. Darüber treten +andere hinzu, die auch schon die Nachricht von Bern haben, und weil +durch ein Mißgeschick der angesagte Vortrag ausfällt, wird Rousseau das +erregte Abendgespräch an allen Plätzen. + +Heinrich Pestalozzi hat über den Sommer zuviel in den Wolken gesegelt; +nun merkt er erstaunt, wie sehr das sogenannte Genfer Geschäft auch +schon die Züricher erhitzt. Es heißt, daß der Rat von Genf gegen seine +eigene Bürgerschaft -- die das Verdammungsurteil über Rousseau und +seine Schriften nicht anerkennt und darum schon im vierten Jahr mit ihm +streitet -- die Gesandtschaften von Zürich, Bern und Frankreich als +Friedensrichter in dieser Sache anrufen wolle. Damit würde, wie Bodmer +freimütig über die Tische weg sagt, sich auch Zürich zu entscheiden +haben, wieviel Macht der Wahrheit noch über Interesse, Herrschaft und +falsche Politik geblieben sei! Heinrich Pestalozzi vermag aber nicht, +diese Gespräche noch weiter anzuhören; das Wort des Pflegers Schultheß +hat ihn zu sehr getroffen. Als er den Bluntschli bald aufstehen sieht, +folgt er ihm rasch, um mit ihm in den gleichen Gedanken eingespannt +früher als sonst heimzugehen: Auch der Hutten soll an einer häßlichen +Krankheit gelitten haben, sagt der andere mit leiser Stimme, als sie +oben auf der Niederdorfgasse sind; dann sprechen sie nichts mehr, bis +sie sich ohne Gruß und Handdruck trennen. + + + 31. + +Im Frühjahr sieht Heinrich Pestalozzi die Züricher Gesandtschaft +mit ihren kostbaren Staatsperücken in einem großen Aufwand von +Reisewagen die Fahrt nach Genf antreten: es ist gekommen, wie an +dem Abend gesprochen wurde, die Mächte sind angerufen, den Handel +um Rousseau zu schlichten. Er ist immer noch nicht im reinen, wie +einer sittenlos leben und Tugend lehren könne, und dieser Zwiespalt +verbittert ihm die Politik. Unterdessen sind nach dem Agis im Lindauer +Journal auch im Erinnerer eine Reihe von Wünschen gedruckt, die er +im vergangenen Jahr geschrieben hat, aber selbst seine eigene Feder +ist ihm verdächtig geworden. Als Bluntschli seine Hauslehrerschaft +aufgibt und nach Hütten reist, um da eine Kur gegen seine kranke Brust +zu machen, bleibt er vereinsamt in Zürich zurück. Einmal begegnet er +dem Alumnaten, zu dem er damals am Zürichhorn ins Schiff gestiegen +ist; er will ihn ansprechen, aber der weicht ihm scheu aus, als ob +er eine Schuld von ihm einzufordern hätte. Wenn Heinrich Pestalozzi +nun an seine Anzeige denkt, fällt eine brennende Unruhe über ihn; es +ist das einundzwanzigste Jahr seines Lebens, als er gewahr wird, daß +in der menschlichen Natur schlimmere Feinde der guten Sitten und der +einfältigen Menschlichkeit liegen als in allen Gewalthabern. + +Die Berichte der Gesandtschaft laufen ein, und jeder macht einen +Sturm im Großen Rat, wo Bodmer unerschrocken gegen die Mehrheit der +Gestrengen Herren auftritt. Es kommt, wie er prophezeit hat: die +Entscheidung der Genfer zwischen Wahrheit und Interessen wird auch den +Zürichern auferlegt; aber immer deutlicher sieht Heinrich Pestalozzi, +daß die Bürgerschaft durchaus nicht so auf der Seite der Patrioten +steht, wie seine spartanische Begeisterung gedacht hat. Wo ihrer +einige zu vorwitzig auf der Gasse sind, kann es ihnen geschehen wie +ihm damals, als er in den Keller fiel. Er ist verzagt genug, seinen +Traum nun selber zu belächeln, diese Bürger als ein neuer Demosthenes +zu reinen und hohen Dingen anzufeuern; es steht nicht einmal so, daß +er wie sein Agis das Leben wagen könnte, die Zünftler würden sich mit +einer Tracht Prügel genug tun. + +Unerquicklich geht ihm der Sommer und der Herbst hin, indessen er +noch immer hartnäckig an seiner Rechtswissenschaft mit dem Studium +alter und neuer Gesetzschriften festhält. Er sieht den Bluntschli +aus seiner Kur in Hütten mit einer Schwärmerei für die Schönheit der +Natur und die Einfalt des ländlichen Lebens heimgekehrt, die er nun +wehmütig belächeln muß. An seiner Gesundheit hat der Freund nichts +mehr zu klagen, und wenn Heinrich Pestalozzi nicht durch die Mienen +und Gespräche besorgt gemacht würde, er könnte glauben, daß ihm die +Kur völlige Heilung gebracht hätte, so heiter sieht er ihn. Als er +noch einmal über Rousseau mit ihm sprechen will, schüttelt Bluntschli +den Kopf; auch sonst scheint er den Eifer eines Patrioten verloren +zu haben, wo sich die andern erhitzen, lächelt er, und als aus Genf +die Nachricht kommt, daß die mit dem Rat vereinigten Gesandten den +Bürgern eine neue Verfassung auferlegt hätten, sagt er: da könnte das +Sechseläuten angehen! Auch in seinen Büchern liest er nicht mehr, das +Wissenswerte stände nicht darin, pflegt er zu scherzen; obwohl Heinrich +Pestalozzi die Unheimlichkeit hinter dem veränderten Wesen fühlt, +vermag er sich der Heiterkeit nicht zu entziehen, darin der Freund +Jüngling und Greis in einem geworden scheint, und so erlebt er den +Zürcher Ausklang des Genfer Geschäftes viel weniger aufgeregt, als es +sonst gewesen wäre. + +Mitte Dezember kommt die Nachricht aus Genf, daß die Bürgerschaft +mit großer Mehrheit das Machwerk der Gesandten verworfen habe; +gleichzeitig geht das Gerücht, nun würden Frankreich, Zürich und Bern +Gewalt anwenden und die aufsässige Bürgerschaft mit Krieg überziehen: +Alles um eines gedruckten Buches willen, scherzt Bluntschli, als ob +es keine vernünftigen Anlässe mehr gäbe in der politischen Welt! Aber +die andern Patrioten sind eifriger, und der Privatlehrer Müller, des +Stadttrompeters Sohn, schreibt das angebliche Gespräch eines Bauern +mit einem Stadtherrn und einem Untervogt über den Genfer Handel, +liest es auf seiner Stube auch einigen Freunden vor und verschließt +es dann in sein Pult. Es ist mehr witzig als aufrührerisch, und +Heinrich Pestalozzi, der es mit angehört hat, hätte nie gedacht, +daß sich der Zorn der Obrigkeit daran entzünden könnte. Der Müller +aber ist unvorsichtig genug, einem seiner Schüler die Handschrift +zu überlassen. Der macht eine Abschrift davon und gibt sie weiter, +immer mehr Abschriften werden gemacht, und Mitte Januar flattert das +Bauerngespräch, wie man es heißt, heimlich durch die ganze Stadt, +überall die Erregung des Genfer Geschäfts in lustigen Spott über die +Perücken auslösend, bis eine Abschrift den Gestrengen Herren selber vor +Augen kommt, die sofort mit heftigen Verhören den unbekannten Verfasser +suchen. + +Heinrich Pestalozzi, der sich mit Lavater besprochen hat, sucht noch +spät abends den Müller auf, und rät ihm, sich selber zu dem Scherz +zu bekennen, womit der Sache die Spitze abgebrochen sei; aber als er +am nächsten Morgen nachfragt, hat der Sohn des Stadttrompeters eine +richtigere Einsicht in seine Lage gehabt und ist über Nacht geflohen. +Aus seinem Scherzgespräch ist eine Schandschrift und aus der Lustigkeit +darüber ein Aufruhr geworden; ehe Heinrich Pestalozzi sich irgend einer +Gefahr versieht, sitzt er selber auf dem Rathaus in Arrest, weil er +dem Aufwiegler zur Flucht verholfen habe. Er wird auch drei Tage lang +wie ein Verschwörer in strenger Haft gehalten, bis von dem Flüchtigen +ein Brief eingelaufen ist, daß er das Bauerngespräch ohne böse Absicht +geschrieben hätte und an der Verbreitung unschuldig wäre. Darauf +lassen sie ihn zwar frei, aber die Untersuchung gegen den Aufruhr +verliert nicht an Hitzigkeit: in ganzen Kompanien ziehen die getreuen +Untertanen auf den Stadtplätzen auf, und bald wird von den Kanzeln des +Kantons ein Urteil verlesen: daß der Verfasser der aufwieglerischen +und höchst schandbaren Schrift aus dem geistlichen Stand removiert, +aus der gesamten Eidgenossenschaft verbannt sei und in den Wellenberg +geworfen werden solle, falls er betroffen würde. Die Schandschrift +solle zugleich mit dem Lästerbrief aus dem Hottinger Handel durch den +Henker öffentlich verbrannt werden, die Kosten für die drei Klafter +Brennholz seien durch die Patrioten zu bezahlen, ihre Wochenschrift +»Der Erinnerer« dürfe nicht mehr unter die Presse kommen, und sofern +die gefährliche Gesellschaft noch etwas gegen die Obrigkeit unternähme, +würden die schärfsten Strafen angewandt. + +Bluntschli hat recht gehabt: das Sechseläuten fängt an; und ob es +Heinrich Pestalozzi selber angeht, soviel obrigkeitliche Torheit vermag +auch er nicht mehr ernst zu nehmen; als die Schandschriften durch den +Henker verbrannt werden, spaziert er mit einem Freund auf dem Balkon +der Meise und macht auf einer Pfeife die Musik dazu. + + + 32. + +Heinrich Pestalozzi hat es gleich gefühlt, daß sein Gespött auch die +eigenen Träume trifft. Wie in der Heiterkeit des Bluntschli, den er +nun auch gleich den andern Freunden Menalk nennt, der bittere Ernst +immer deutlicher wird, so ist es auch mit ihm: er trägt im Übermut +dieser Tage das Gefühl unabweisbarer Entscheidungen in sich, die +mit all diesen flatternden Sehnsuchten und Lebensspielereien seiner +verzettelten Jugend aufräumen werden; daß der Demosthenes dabei sein +wird, ist ihm sicher. + +Das Frühjahr will diesmal nicht kommen; immer wieder schütten die +Wolken Schneeflocken in den Regen, und wo sich ein blaues Stück Himmel +zeigt, blasen die kalten Winde es wieder zu. Heinrich Pestalozzi geht +nun fast täglich nach der Zimmerleutenzunft hinunter, wo der Menalk +meist am Fenster sitzt und in die Limmat sieht. Er ist hager geworden, +mit tiefen, forschenden Augen und einer merkwürdigen Art, seine +Knochenhand auf die Dinge zu legen, die er braucht. Seine Heiterkeit +aber ist geblieben, und er spricht gern, als ob er jetzt erst den +richtigen Abstand von seiner Mitwelt habe, die ihm sonst zu nahe und +daher bedrückend gewesen sei. + +Wenn Heinrich Pestalozzi nachmittags gegen die Dämmerung kommt, trifft +er leicht mit der Anna Schultheß zusammen, die für eine Stunde bei dem +Freund ist. Menalk hat es nicht gern, wenn er dann stört, und so meidet +er die Stunde. Um so lieber spricht der Kranke, der immer deutlicher +ein Sterbender wird, von ihr, die -- um fünf Jahre älter als er -- +doch wie eine jüngere Schwester zu ihm steht. Sie hat als Mädchen noch +die merkwürdige Zeit erlebt, wo der Dichter Klopstock ein halbes Jahr +lang in Zürich lebte, und entsinnt sich seiner wohl, wie er auch in +ihrem Elternhaus zum Pflug war. Da sie wohlhabend und vielgereist ist, +dabei schön von Gesicht und Gestalt, gilt sie den jüngeren Freunden +ihres Bruders Kaspar als eine Art Muse, und es war immer eine besondere +Feier, wenn sie an einer ihrer Veranstaltungen teilnahm. Dabei ist +sie seit langem Bluntschli so offensichtlich zugetan, daß sich kein +anderer um sie zu bemühen wagt; und seitdem sie mehrmals Bewerbungen +abwies, was bei ihrem Alter auffällig war, gilt es für ausgemacht, daß +sie einmal Menalks Frau würde, obwohl die Eingeweihten wissen, daß ihr +Verhältnis zu dem Kandidaten viel mehr geschwisterlich ist. + +Je sichtlicher die kranke Brust Menalks den letzten Kampf mit dem +unheimlichen Feind aufnimmt, um so mehr spricht er von der Freundin; +einmal so schwärmerisch, daß Heinrich Pestalozzi ihn erstaunt ansieht. +Er bricht dann mitten in der Schilderung ab und sieht lange vor +sich hin, bevor er die Augen zu ihm hebt: Wir haben zu viel Eifer in +unsern Sitten gehabt und zu wenig Liebe! Und als ob auch das noch +nicht richtig sei, nach einer Weile: Ich habe nun so viele Tage vor +Gott gesessen; am Ende weiß er doch besser als wir, was vonnöten ist. +Es ist da eine leere Stelle in mir geblieben, aber ich kann sie nicht +mehr füllen! Er hat seine große Hand über das Herz gebreitet und +nimmt sie auch nicht mehr fort. Als Heinrich Pestalozzi aus seiner +Erschrockenheit aufblickt, sieht er die Spur einer Träne, die ihm über +die hageren Backenknochen in den Mundwinkel geronnen ist. + +An einem Abend im Mai wird er zu ihm gerufen. Der alte Steinmetz -- +Menalk ist der zweitjüngste von neun Kindern, und die Mutter liegt seit +drei Jahren auf dem Kirchhof -- hat ihn noch einmal aus dem Bett ans +Fenster tragen müssen, wo er im Kissen sitzt. Als ob er die Rechnung +mit der Bitterkeit seines frühen Todes nun fertig gemacht habe, sieht +er ihm befreit und heiter entgegen; spricht dann lange nichts, und +als Heinrich Pestalozzi zögernd fragt, wie er sich befinde, hört er +nicht darauf. Endlich scheint er die vorgefaßten Worte zu finden: Ich +gehe sterben, sagt er und sieht auf seine Hände, die nebeneinander vor +ihm liegen: du baust zuviel Pläne; die Menschen sind nicht so, wie du +sie glaubst. Bescheide dich in einer stillen Laufbahn, und laß dich +auf keine weitgehenden Unternehmungen ein ohne einen Ratgeber, der +die Menschen und die Sachen kaltblütiger nimmt als du. -- Es ist mein +Testament, setzt er nach einigen Atemzügen hinzu, und der Schatten +von einem wehmütigen Lächeln hängt an den Lippen, als ob er sich +entschuldigte, daß es nur Worte wären. Als Heinrich Pestalozzi nach +einer erschütternden Stille sprechen will, wehrt er ab: Geh jetzt, wir +sehen uns noch! + +Am andern Mittag will er nach ihm sehen, da kommt ihm aus der Tür +Anna Schultheß entgegen. Wie gehts? fragt er beklommen, weil sie die +Tränen achtlos rinnen läßt. Sie vermag nichts zu antworten, hebt nur +die Hände, als ob die allein noch sprechen könnten, und für einen +Augenblick scheint es, wie wenn sie in einer Ohnmacht hinsinkend sich +an ihm halten wolle; dann eilt sie fort. Ihre Augen, die vom Schrecken +übergroß geweitet und glanzlos vom Weinen sind, verlassen ihn nicht, +bis er in die Stube tritt. Da steht Lavater mit einigen Freunden; sie +sehen schweigend auf den Sterbenden, der nicht mehr spricht, nur hastig +atmet wie einer, der zu rasch gelaufen ist. Einmal macht er die Augen +groß auf, doch sieht er keinen mehr in der Stube; nach langem tut er +ein paar tiefe Atemzüge, als ob er endlich Luft genug in seine Lungen +bekäme, dann scheint er sich erlöst zum Schlaf hinzulegen; aber es ist +der Tod gewesen, und Lavater, der es am ersten sieht, drückt ihm mit +behutsamen Händen die Augenlider zu. + +Die andern gehen danach fort; Heinrich Pestalozzi vermag es nicht, er +fühlt, daß ihm mehr als ihnen gestorben ist. Aber als er stundenlang +vor der Unbegreiflichkeit gesessen hat und, einer Regung folgend, dem +Freund noch einmal die Hand geben will, ist sie schon kalt und nicht +mehr menschlich; da fühlt er mit Grauen, daß etwas Fremdes an seiner +Stelle liegt. Darüber kommt Lavater, dessen Umsicht dem alten Vater die +nötigen Besorgungen abnimmt, mit zwei Frauen wieder, die den Leichnam +waschen und für den Sarg herrichten wollen; der führt ihn hinunter und +geht, ohne ein Wort zu sagen, mit ihm vielmals am Wasser hin und her, +wo die Maisonne ihre Wärme in das Wasser schüttet und die Schwäne den +Blust ihrer Federn spreizen. Als sie sich trennen, verspricht er ihm +eine Zeichnung von dem toten Freund. + +Ich habe so viele Tage vor Gott gesessen! Das Wort Menalks ist in ihm +wie ein Stein geblieben, der immer tiefer sinkt; und je mehr er den +Freund im Unbegreiflichen fühlt, weit fort von dem Leichnam, den fremde +Frauen wuschen, um so inniger bildet er an seiner Gestalt, wie er da +tagelang vor der letzten Entscheidung gesessen hat. Am andern Morgen +bringt ihm Lavater die Zeichnung; er legt sie erschrocken fort, daß ihm +das Bildnis des Toten die Erinnerung an den Lebendigen nicht störe, und +während das Blatt unter seinen Blättern versteckt liegt, fangen seine +Gedanken ein Denkmal an, das mehr als diese Zeichnung sein möchte. + +Er soll Träger sein, aber als die Glocken zum Begräbnis läuten, steht +er noch immer mit dem Babeli im Eifer über seiner Kleidung. Bis er +hinunter kommt, tragen sie den Sarg schon ohne ihn die Gasse hinauf. Er +will sich verzweifelt durchdrängen, aber die Jünglinge und Männer, die +da mit ernsten Gesichtern in der vorgeschriebenen Ordnung schreiten, +lassen ihn nicht hinein. Unfähig, sich den letzten anzuschließen, irrt +er fort -- ein Überflüssiger auch hier -- und findet sich aus seiner +Beschämung erst am Kirchhof wieder, als die ersten schon heimkehren. +Hinter Büschen versteckt, wartet er die letzten ab und sieht den +Totengräber beschäftigt, dem Hügel mit der Schaufel die vorgeschriebene +Form zu geben. Er wagt nicht eher, an das Grab zu gehen, bis auch der +Mann fort ist. Was er dann vor sich hat, ist nichts als ein Stück +Frühlingserde, vom Gärtner frisch zubereitet, das er bald wieder +verläßt. + +Obwohl er den Totengräber beobachtet hat, wie der das Tor hinter sich +zumachte, bedenkt er nicht, daß es geschlossen sein könnte; erst +als er hinaus will, sieht er sich gefangen. Es ist kein zu großer +Schrecken für ihn, und er hätte schon einen Schlupf gefunden; aber +als seine Hände noch in der ersten Überraschung die Torstäbe halten, +sieht er den Totengräber mit einer schwarzen Jungfrau zurückkommen, +die einen Strauß Frühlingsblumen trägt. Er weiß auf den ersten Blick, +daß es Anna Schultheß ist, die dem Grab des Freundes zunächst einen +Gruß bringen will. Gern möchte er sich noch verstecken, aber die +beiden haben ihn schon gesehen; so wartet er steif an dem Tor, bis +es geöffnet wird. Der Mann ist mißtrauisch und augenscheinlich nicht +gewillt, ihn durchzulassen, wenn er nicht vor seiner Begleiterin in der +lächerlichsten Verwirrung den Hut gezogen hätte; so läßt er ihn laufen, +der aus seiner Scham weder ein Wort noch eine Miene der Erklärung +findet und fassungslos nach der Stadt hinunterstürmt. + +Er fühlt die Zweideutigkeit seiner Lage sofort: die Freundin kann +nicht anders glauben, als daß ihn der besondere Schmerz um den Menalk +zurückgehalten habe; und soviel er in seiner Bestürzung von ihrem +Gesicht wahrnahm, ist der Dank ihrer guten Meinung schon darin gewesen. +Indem er fortrennt, statt ihr gleich tapfer die Umstände zu gestehen, +hat er die Zweideutigkeit noch vermehrt; denn sie muß sich auch das +noch auf einen Schmerz deuten, was nichts als die erbärmlichste +Feigheit ist. So steht er am Grab des gemeinsamen Freundes in einer +Schauspielerei vor ihr, die unaufgeklärt eine böse Lüge und aufgeklärt +eine unerträgliche Beschämung bedeutet. Trotzdem er sich sogleich +tapfer für die Beschämung entscheidet, liegt bis dahin die Lüge auf +ihm; und das Gefühl davon saugt alles auf, was an selbstklägerischen +Gedanken seiner wirren und fahrlässigen Jugend schon vorher in ihm +gewesen ist, sodaß er an der alten Stadtmauer hin und gegen die +Bollwerke rennt, als ob ihn diese Flucht vor sich selber retten könne. +Als er sich ganz in das Mauerwerk verlaufen hat, wirft er sich hin, und +niemals hat er so die Erschütterung zu weinen gespürt wie unter der +blaßblauen Himmelsglocke dieses Frühlingstages. + + + 33. + +Heinrich Pestalozzi ist einundzwanzigjährig, als der Tod des +gemeinsamen Freundes ihn der Anna Schultheß nähert und dem +sehnsüchtigen Schwall seiner Jugend einen frühzeitigen Durchbruch +ins Leben bringt. Seit der Begegnung an der Kirchhofstür geht sie +schwarz gekleidet mit Frühlingsblumen durch seine Träume, und wo seine +wachen Gedanken den Gestorbenen wehmütig bekränzen. Er hat ihr eine +offene Darstellung seiner Irrgänge am Begräbnistag gesandt und den +flackernden Leichtsinn seiner Jugend nicht geschont, um das Gegenbild +des toten Freundes hell vor die Dunkelheit zu stellen, wie der sein +Jünglingsleben streng vollendete und von der Selbstüberwindung mit +Heiterkeit gesegnet in den Tod einging. + +Die Kaufmannstochter im Pflug dankte ihm kühler, als er erwartete; er +spürt aus ihren Schriftzügen und Sätzen, um wieviel gehaltener sie +mit ihren neunundzwanzig Jahren zum Leben steht als er mit seinen +einundzwanzig: aber weil ihn die heftigen Winde seiner Meinungen den +Altersgenossen voraus in die Schwierigkeiten einer eigenen Berufswahl +getrieben haben, indessen sie noch den behüteten Gang ihrer Studien +gehen, lockt ihn das Ältliche an ihr erst recht. Er weiß es abzupassen, +daß er sie bald danach auf einem Spaziergang trifft, und ruht nicht, +als sie zu Besorgungen fort muß, bis sie ihm noch eine Stunde am selben +Abend verspricht. + +Noch liegt für ihn selber das Eingeständnis einer andern als +freundschaftlichen Neigung nicht zutage; obwohl lebhaft von den +wechselnden Begebenheiten der Vaterstadt hingenommen und in hundert +Anlässen geschäftig, die ihn eher vorlaut erscheinen lassen, ist er +schüchtern, und er hätte aus sich selber kaum die Entschlossenheit, sie +in der Dämmerung auf dem Lindenhof abzuwarten, wenn er nicht durch die +schmerzliche Gemeinschaft um den toten Freund in eine so seltsame Nähe +zu ihr gekommen wäre. Sie wiederum mag durch Menalk viel Rühmliches +von ihm gehört haben, auch ist sie durch ihre Brüder an Kameradschaften +gewöhnt: aber als sie dann unter den Bäumen des Lindenhofs beieinander +stehen -- es ist diesmal noch zu hell, als daß die Sterne schon funkeln +könnten -- sind sie doch nur ein Menschenpaar, das, ungleich im Alter, +den Zwang der Natur zu fühlen bekommt. Heinrich Pestalozzi spricht +unablässig, von der Winternacht, wo er mit Bluntschli hier gestanden +hat, von dessen bitteren Worten und ihrer gemeinsamen Beklommenheit +nachher, auch von dem Vermächtnis des sterbenden Freundes am vorletzten +Abend, nicht anders, als ob erst jetzt das gedämmte Gefühl einen +Abfluß fände: aber er fühlt wohlig die innige Verbindung mit seiner +schweigsamen Hörerin, und wieviel er dabei von sich selber in ihre +Seele sprechen kann. + +Als sie sich trennen, erst leise dann dringend von ihr gemahnt, und sie +ihm die Hand gibt, eine weitere heimliche Zusammenkunft nicht unbewegt, +aber bestimmt ablehnend, vergißt er sich zu Tränen, sie darum zu +bitten, und läßt in seiner Inbrunst ihre Hand nicht wieder los, bis sie +sich selber freimacht und flüchtend von ihm fort eilt. + +Heinrich Pestalozzi beherrscht sich mühsam, ihr nicht zu folgen, aber +er fühlt jeden Schritt ihrer Entfernung wie einen körperlichen Schmerz, +und in der Frühe findet er sich, mit einem Seufzer aus sehnsüchtigen +Morgenträumen aufgewacht, aufrecht im Bett sitzen. So sehr er sich +selber zur Rede stellt und sich des schwärzesten Verrats an Menalk +beschuldigt, daß er das Gedächtnis an ihn für seine eigenen Gelüste +mißbrauche: der Drang, sie zu sehen, ist so unbezwingbar, daß er +unablässig Möglichkeiten aussinnt. Als es ihm am ersten Tag mißlingt, +am zweiten und dritten auch, weil sie sich offenbar der gewohnten +Gänge enthält, vermag er es am vierten nicht mehr und geht ihr mit +einem Vorwand ins Haus. Er weiß, daß sie in der Handlung des Vaters an +der Ladentheke bedient, und tritt um die stille Zeit nach Mittag ein. +Von der Ladenschelle gerufen, findet sie ihn als Kundschaft, die sie +bedienen muß; bis sie den zornig und fast mit Tränen verlangten Zucker +für die Haushaltung der Mutter abgewogen und ihm hingelegt hat, ist sie +gesammelt genug, ihn ernst zu bitten, das nicht mehr zu tun! + +Er kann kein anderes Wort vorbringen; doch hat er sie nun +wiedergesehen, und als er dem Babeli den heimlich erworbenen +Zuckervorrat in die Küche geschmuggelt hat, verhehlt er sich nichts +mehr von seiner Leidenschaft und beginnt, seine Aussichten zu prüfen: +Sie ist wohlhabend, und er ist arm; sie trägt ihr schönes Antlitz auf +einer wohlgebildeten Gestalt, während er als der schwarze Pestaluz um +seiner pockennarbigen und unordentlichen Erscheinung willen in den +Gassen verhöhnt wird; sie ist auf zahlreichen Reisen in den Formen +des Welttons gebildet und mit Geschmack sorgfältig gekleidet, also +auch darin sein Gegenbild: aber sie steht auch mehr als jedes andere +Mädchen, das er kennt, mit herzlicher und kluger Kenntnis in der Welt +seiner Jugendideale und ist durch die gemeinsame Freundschaft mit +Menalk seinem Herzen so nah wie sonst kein Menschenkind in Zürich. +Wenn -- wie es heißt -- Lebensgefährten einander ergänzen sollen, +vermag er sich nichts Vollkommeneres zu denken als sie; und auch er +hofft ihr -- so sehr er in der Gegenwart seine Mängel fühlt -- aus +seinen Zukunftsplänen einige haltbare Wechsel bieten zu können. Ihr +steht es frei, ihm nein zu sagen, nicht aber ihm, sie zu fragen. + +Um sich zu prüfen, schließt er sich vor der Schwester ein -- die Mutter +ist in Höngg, den kranken Großvater zu pflegen -- und sagt dem Babeli, +daß er krank wäre. Er wird auch wirklich krank in der Unruhe und Marter +seiner Sehnsüchte und Hoffnungslosigkeiten, bis er nach hitzigen +Fiebertagen einen Brief schreibt. Er sitzt den ganzen Tag daran, und es +wird mehr eine Abrechnung mit sich selber, darin er auf der einen Seite +die eigenen Mängel zu Bergen auftürmt, um auf der andern seine Neigung +und seine Vorsätze dagegen zu stellen. Aber als er nach einer dadurch +beruhigten Nacht den Brief noch einmal durchliest, erschrickt er selber +über seine Maßlosigkeit und zerreißt ihn. Er beginnt dann von neuem, +noch zweimal an dem Tag, auch diese Briefe wieder zerreißend; bis er, +aufs tiefste entmutigt über sein Mißgeschick, den ersten Brief noch +einmal in besonnener Form wiederholt und, um ein klares Ja oder Nein +bittend, ihn auch endlich absendet. + +Sie läßt ihn zwei lange Tage und längere Nächte auf Antwort warten; +und was sie ihm dann schreibt, ist nur eine Aufzählung der Gründe, die +gegen ein innigeres Verhältnis sprechen, und der unverhohlene Wunsch, +mit einem abgewiesenen Liebhaber nicht den Freund zu verlieren. Aber +Heinrich Pestalozzi ist nun ein abgeschossener Pfeil, der sein Ziel +treffen oder verfehlen, nicht mehr zurück kann. Er schreibt ihr wieder, +alle Gründe, namentlich den ihres verschiedenen Alters, mit einem +Feuerwerk edler Worte widerlegend, und bittet sie aufs neue um eine +Unterredung -- die sie ihm zögernd gewährt. Diesmal treffen sie sich +frühmorgens auf der Straße nach Höngg, wo die Morgenfrische ihr gegen +seine brandige Leidenschaft hilft; doch muß sie ihm zugestehen, daß er +ihr schreiben und sie manchmal auch sehen dürfe. Sie hält danach noch +wochenlang an ihrer Bedingung fest, daß alles zwischen ihnen im Rahmen +der Kameradschaft bleiben solle. Aber mit abendlichen Stelldicheins und +morgendlichen Spaziergängen, mit langen Briefen und innigen Gesprächen +nistet sich auch bei ihr die Liebe ein, und als der Sommer auf seiner +Höhe ist, vermag Anna Schultheß dem Ansturm seiner Gefühle nicht +mehr zu widerstehen. Es schreckt sie nicht mehr, daß ihre Mutter den +schwarzen Pestaluz als einen unnützen und prahlerischen Schwarmgeist +verabscheut und selbst ihr Bruder Kaspar ihn einen Knaben nennt, +während der Zunftpfleger ihr zuliebe mit seinen sichtbaren Bedenken +humoristisch zurückhält, es schreckt sie nicht einmal, daß sie selber +an seinen Äußerlichkeiten Anstoß nimmt: sie hat in dem Schwarmgeist die +Tiefe der Gesinnung und in dem Knaben die Weite der Seele gespürt, die +sich freilich an allzu vielen Projekten begeistert, deren grenzenlose +Kühnheit sie aber mit Stolz empfindet. Auch die rastlose Werbung tut +das ihre, sie von der Unbeirrbarkeit seines Willens zu überzeugen: +als er wieder einmal vor ihr steht mit den dunklen Augen, aus denen +seine Seele in wahren Strahlenkränzen zu leuchten scheint, beugt sie +ihren Stolz der Kaufmannstochter, ihre weltklugen Erwägungen und die +Einsicht der älteren Jahre vor dem Ungestüm seiner Jugend und legt sich +-- auf die mancher wohlhabende Geschäftsfreund ihres Vaters im stillen +noch hofft -- mit dem Gelöbnis unverbrüchlicher Treue in die Arme des +einundzwanzigjährigen Jünglings Heinrich Pestalozzi. + + + + + Mittag + + + 34. + +Der Drang seines frühreifen Schicksals will, daß Heinrich Pestalozzi +das Glück heimlicher Liebesstunden nur kosten, nicht genießen darf. +Um die Kaufmannstochter aus dem Pflug heim zu führen, kann er keinen +Beruf gebrauchen, der ihn mit unbestimmten Hoffnungen hinhält; und +mit den Entwürfen seiner Volksreden verbrennt er die hochmütigen +Advokatenpläne. Irgendwo die Handgriffe der Landwirtschaft zu lernen +und dann auf einem Gut zu üben, scheint ihm von allen Möglichkeiten die +rascheste; nun, wo er mit der Braut auch den Berater gefunden hat, der +durch Sachen- und Menschenkenntnis -- wie Bluntschli sagte -- seinen +Traumsinn ergänzt, glaubt er den Schritt aus der Schulweisheit in +das Bauerndasein wohl tun zu können, zumal Anna Schultheß ihn tapfer +billigt. Daß es zunächst ein Bruch mit den Beglückungsplänen seiner +Jugend ist, übersieht er nicht; aber auch hier beruhigt ihn ein Wort +des Freundes, daß man von den schwachen und niederen Stauden keine +Körbe voll Früchte ernten könne, der Baum müsse stark und groß sein, um +Früchte zu tragen! Wenn er erst einmal frei und wohlhabend auf eigenem +Boden sitzt, will er die vaterländischen Dinge schon nicht vergessen +haben! + +Unterdessen ist seine Mutter noch immer bei dem kranken Großvater in +Höngg gewesen, während er mit der Schwester und dem alt gewordenen +Babeli gewirtschaftet hat; nun kommt sie zurück, und er holt sie eines +Nachmittags ab, freudig, ihr sein Glück mitzuteilen. Der Dekan geht +kaum noch aus seiner Studierstube heraus; er hat Sterbegedanken und +ist verdrießlich, daß ihm der Antistes noch einen Vikar aufdrängen +will, statt seinen natürlichen Abgang abzuwarten. So kann Heinrich +Pestalozzi ihm nichts sagen, und auch bei der Mutter kommt er erst auf +dem Rückweg dazu, als hinter Wipkingen die Buben vom Tantli zurück +gesprungen sind. Sie gehen an der selben Stelle, wo sie mit dem Knaben +so bitterlich geweint hat, als er endlich Stimmung und Worte für seine +Freudenbotschaft findet. Zunächst ist sie erschrocken, daß er zu +den andern Torheiten seiner Jugend auch noch die einer überstürzten +Heirat über sie bringen will; wie sie den Namen Anna Schultheß hört, +steigt das Wetterglas auf schön, da sie die Vorzüge der Person und der +äußerlichen Vorteile in eins übersieht. Eine Schar Tauben flattert +aus dem Feld, und ihre Sorgen fliegen mit; es fehlt nicht viel, so +wanderten sie auch diesmal Hand in Hand zur Niederdorfporte hinein. + +Am nächsten Sonntag steht Heinrich Pestalozzi am Fenster und sieht +die Mutter aus der Predigt kommen, zögernden Schrittes, weil nicht +allzuweit hinter ihr auch die Anna Schultheß ihr Gesangbuch heimträgt; +er hätte der Mutter nicht soviel List zugetraut, wie sie dicht unter +seinem Fenster eine Nachbarin anspricht -- was sie sonst niemals tut +-- nur damit die Jungfrau an ihr vorbei muß. Sie grüßen sich still +nickend, aber er von seiner Warte nimmt den Blick, mit dem sich die +beiden Frauen umfassen, wie einen priesterlichen Segen wahr. + +Weiter als bis zu solchen Blicken freilich kommt es zunächst nicht, da +die Mutter Annas sich hartnäckig der Verbindung mit dem unansehnlichen +und -- wie sie sagt -- kindsköpfigen Wundarztsohn widersetzt; bevor +Heinrich Pestalozzi nicht vor der Welt etwas anderes vorstellt, kann er +nicht auf ein öffentliches Verlöbnis hoffen. Er offenbart sich Lavater, +weil der den Berner Chorschreiber Tschiffeli kennt, der mit seiner +Musterwirtschaft in Kirchberg als der beste Landwirt der Schweiz gilt +und namentlich die Zucht der Krappwurzel für die Rotfärberei als ein +neues und einträgliches Bauerngewerbe treibt. Lavater schreibt um eine +Lehrstelle, und rascher, als Heinrich Pestalozzi es gedacht hat, tut +sich für ihn eine Schlupftür ins praktische Leben auf. So schmerzlich +ihm die Trennung von Anna ist, der Drang, aus der Ungewißheit seiner +gescheiterten Studien in eine rechtschaffene Stellung vor der Welt zu +kommen, läßt ihn keinen Tag zögern. + +Den letzten Abend ist er bei ihr draußen in Wollishofen, wo ihre Eltern +ein Gütchen besitzen; sie haben sich schon mehrmals da getroffen, aber +nun drängt die Wehmut des Abschieds zum Genuß der Stunde. Heinrich +Pestalozzi fühlt, daß er wie ein Baum im Frühling ist; obwohl sie beide +das Heiligtum ihrer Liebe zu hüten wissen, verblaßt die Nacht schon in +den frühen Tag, als er aus Tränen und ewigen Gelöbnissen losgerissen +am See vorbei nach Zürich zurückwandert. Es sind noch die selben Wege, +es ist die Stadt mit dem Getürm ihrer Tore und Kirchen, und überall in +den verschlafenen Häusern erwacht die tägliche Arbeit; nur er selber +irrt nicht mehr mit ziellosen Sehnsüchten darin umher: Liebe und Beruf +führen ihn aus ihrem Wirrwarr in die Einfältigkeit eines natürlichen +Daseins hinaus, darin sein ländliches Besitztum, von der Anna +Schultheß als Stauffacherin verwaltet, durch Wohlstand und Wohltun den +Mittelpunkt einer Bauernschaft abgeben soll. Um in seinem Glück nichts +von den Vorsätzen seiner Jugend zu verlieren, sucht er noch einmal sein +Leben danach ab, sich feierlich für jeden einzelnen verbürgend, sodaß +er aus dieser in Liebe durchwachten Nacht mit Gelöbnissen beladen im +Roten Gatter ankommt. + +Da fängt der Abschied noch einmal an, und es gilt mehr als eine +Trennung auf Wiedersehen: hier packt er für immer ein. Trotzdem geht +alles viel leichter als in Wollishofen, und er schämt sich fast, mit +welchen Scherzen er das Nest seiner Jugend verläßt. Der Himmel seiner +Zukunft ist blausonnig wie der Septembermorgen, der seine Federwölkchen +nur zum Spiel aufsteigen läßt; und als er im Postwagen gegen Baden +und Aarau fährt, geht nicht ein trüber Gedanke mit. Lavater hat ihm +das Bild seiner Anna auf ein Papier gemalt, das hält er in Händen und +merkt nicht, wie die Mitreisenden sich über ihn lustig machen: sie ist +die Sonne, aus der alles Licht aufgeht, so sehr, daß ihm die Bäume +und Wiesen draußen in Schatten zu fallen scheinen, wenn er das Blatt +umdreht. + + + 35. + +Die Fahrt nach Kirchberg dauert zwei Tage; es ist die erste wirkliche +Reise, die Heinrich Pestalozzi macht. Sie geht das Limmattal hinunter +über Baden nach Brugg und dann im breiten Aaretal hinauf über Aarau +ins Berner Vorland hinein; die Landschaft wechselt aus der waldigen +Enge seiner Zürcher Heimat in die breite bernische Behaglichkeit, und +auch die Sprache macht diesen Wechsel mit: er nimmt davon so wenig +wahr wie von den Mitreisenden. Wenn ihn etwas so bewegt, wie jetzt +der Abschied und die kreisenden Gedanken um das Ziel, verlieren seine +Sinne den Zugang zum Bewußtsein; er kann stundenlang sitzen und ihren +Wahrnehmungen keine Aufmerksamkeit schenken, sodaß sie gleichsam an den +Zäunen Wächterdienste tun, indessen seine Seele im Garten ihrer selber +spazieren geht. + +Erst als sie am zweiten Nachmittag ins weite Emmental hinein fahren +und einer beim Anblick der ersten Krappfelder den Namen Tschiffeli +ausspricht, wacht er auf und möchte am liebsten gleich aus dem Wagen +springen, die berühmte Kultur der Färberröte zu sehen. Er weiß, daß es +nur die Wurzeln sind, die den Farbstoff enthalten, an mannshohe Stauden +mit stachligen Blättern und Blüten hat er nicht gedacht; als nun ein +leiser Wind hindurch rieselt, erschließt sich ihm die beglückende +Aussicht, daß dieser Anbau die Schönheit ländlicher Arbeit nicht +vermissen lasse: wie beim Korn, beim Flachs und in den Wiesen gibt sich +auch hier das Wachstum der Natur als ein Segen, der dem Menschen mit +allen Wundern der Blüte und der schwellenden Frucht in die Hände wächst. + +Er findet Tschiffeli als einen gebräunten Mann anfangs der Fünfziger, +der diesen Überschwall wogender Felder aus einer verwahrlosten Öde +geschaffen hat und wie ihr leibhaftiger Gottvater darin umher geht. +Als blutarmer Leute Kind verdankt er alles der eigenen Kraft, die +seine neumodischen Einfälle gegen die guten Meinungen und Ratschläge +der Gewohnheit durchgesetzt hat, bis er als erfolgreicher Mann vor +seinem Vaterland dasteht. Das gibt seinem mannhaften Wesen eine +andere Geltung, als die Zürcher Herren sie aus ihrer Herkunft oder +Gelehrsamkeit besitzen; Heinrich Pestalozzi fühlt hier einen Teil von +sich selber zur Vollendung gekommen, und wenn er ihn Vater nennt, +wie es auf dem Gut Sitte ist, liegt für ihn ein besonderer Sinn +darin. Tschiffeli wiederum freut sich dieses Zöglings, der garnicht +das Stadtsöhnchen spielt, den ganzen Tag in Hemdärmeln arbeitet und +abends noch lustig ist zu Tabellen und Berechnungen. Wenn seine +Ungeschicklichkeit auch viel mit zerschnittenen Fingern und Beulen zu +tun hat, so ist doch noch niemand da gewesen, der seinen Spekulationen +so begeistert und mit Verständnis anhängt. + +Es wird ein reicher Herbst und Winter für Heinrich Pestalozzi, der mit +seinen eigenen Plänen hier nicht verlacht wird, wie bei den Freunden +in Zürich, sondern einen bereitwilligen Berater findet. Wenn er sieht, +wie Tschiffeli für die fünf Gemeinden seiner Güter ein Wohltäter +geworden ist, indem durch ihn Ordnung und Verdienst dahin kam, wo +vorher Unordentlichkeit und Armut waren, erkennt er freilich auch, +daß es wirksamere Mittel zur Übung der Volkswohlfahrt gibt als die +öffentliche Anklägerei der jugendlichen Patrioten: das Beispiel und +der Antrieb zur Selbsthilfe. So wie Tschiffeli im bernischen Land will +er einmal im Zürcher Gebiet dastehen als der Mittelpunkt einer in +planvoller Gemeinsamkeit fröhlich schaffender Bauernsame. Er kann einen +wahren Spott mit sich selber treiben, wenn er an Winterabenden bei +den Berechnungen hilft -- wieviel Jucharten für diese und jene Kultur +einzurichten wären, um mit der mutmaßlichen Ernte den Abschlüssen +gerecht zu werden -- und dann an seine Jugendläuferei in Zürich denkt, +an den Schwall seiner Freunde, Pläne und Sehnsüchte, und wie hier +alles sich selber zufrieden macht; die Zürcher Stadtbürger haben den +schwarzen Pestaluz sicher kaum kritischer betrachtet, als er es nun +selber tut. + +Aber feierlich wie das große Himmelslicht jeden Morgen hinter den +Emmentaler Bergen wärmend und segnend über der Arbeit Tschiffelis +aufsteigt, so steht die Liebe über seinem Tageslauf: sie weckt ihn in +der Frühe und sie bläst ihm abends die Kerze aus, nichts gerät ihm, +ohne daß er die Stimme Annas zu hören glaubt, und nichts mißrät, ohne +daß er ihre Augen mit dem scherzhaften Tadel darin fühlt. Er hat sich +eine feste Ordnung gemacht, ihr seine Erlebnisse und Erfahrungen zu +schreiben, und da sie ebenso pünktlich antwortet, flechten die hin und +her reisenden Briefe aus ihren getrennten Lebensläufen einen Zopf, +darin die Hoffnung mit lustigen Schleifen eingebunden ist. + + + 36. + +Es sind fast neun Monate, die Heinrich Pestalozzi als Lehrling der +Landwirtschaft zubringt; aus dem Zürcher Theologiestudenten wird ein +bernischer Bauernknecht, der stolz auf seine vernarbten Hände ist und +Sonntags in Hemdärmeln zur Kirche geht. So findet ihn seine Braut, als +sie ein freundliches Geschick zu einem Besuch in Kirchberg ausnützen +kann. Ihr Bruder Kaspar hat eine Pfarrstelle im Württembergischen +bekommen, die nach alten Herkünften den Zürcher Herren untersteht; er +führt nun befriedigt seine Susanna Judith Motta aus dem Traverser Tal +heim, eine Herzensfreundin der Schwester und auch Heinrich Pestalozzi +aus ihrem Zürcher Aufenthalt wohlbekannt. Anna holt ihn zur Hochzeit +ab, da es über Kirchberg kein zu großer Umweg ist, und sieht mit +eigenen Augen das gelobte Land ihres Freundes. + +Es wird ein Jubeltag für Heinrich Pestalozzi, wie er noch keinen +erlebte, als er seinem Meister Tschiffeli und allen Leuten auf dem Gut +ein so stattliches und feines Frauenzimmer als seine Braut vorweisen +kann. Sie hingegen ist sichtlich bestürzt über die Verwahrlosung seiner +Hände und Kleider, doch findet sie sich rasch und folgt ihm in die +Gärten und Felder, die Schauplätze seiner Wochenberichte nun selber +zu sehen. Am Abend hat Tschiffeli dem Gast zu Ehren Wein und Blumen +auf den Tisch gestellt, und da er in ihrer Gegenwart den Eifer und das +Geschick seines Lehrlings mit anerkennenden Worten belegt, kommt der +Besuch zu einem fröhlichen Abschluß, sodaß Heinrich Pestalozzi der Tag +nicht mehr fern scheint, wo er selber mit ihr als solch ein Gutsherr +dasitzen wird. + +Als sie andern Morgens miteinander in den Wagen steigen, gegen +Burgdorf und Aarberg aus dem ländlichen Bereich seiner Bekanntschaft +hinauszufahren, sitzen ein paar Stutzer aus Neuenburg darin, die ihn +belächeln. Heinrich Pestalozzi im Eifer, ihr noch im Abfahren jeden Weg +und Hügel seiner Welt zu zeigen, merkt nichts davon; sie aber zupft ihm +seine Kleidung zurecht und wird schweigsamer, je weiter sie ins welsche +Land hineinfahren. Zum ersten Male erlebt er, wie ihn mit der Sprache +auch die Heimat verläßt; je näher sie an den waldigen Jura heranfahren, +je seltener trifft ein deutsches Wort sein Ohr. Das letzte ist der +Abschiedsgruß einer alten Bäuerin aus Erlach, die von Aarberg bis Ins +mitreist; dann fährt er mit Anna allein in die welsche Welt, und obwohl +er im Schutzgebiet der Eidgenossenschaft bleibt und obwohl die Sprache +Rousseaus seiner Seele mit mancher Wendung vertraut ist: der fremde +Klang schlägt an seine Ohren, als ob er ins Wasser geworfen wäre. + +Das wird im Val Travers nicht besser, wo sie spät abends von ihrem +Bruder Kaspar und seiner Braut abgeholt werden; in Zürich hat die +Judith Motta nicht anders als deutsch gesprochen, hier in ihrer Heimat +ist sie welsch, und Heinrich Pestalozzi erleidet ein Gefühl, als ob ihm +Anna von einer Strömung fortgerissen würde, wie sie nun selber in der +fremden Flut untergeht. Als sie sich im Eifer vergißt und ihn selber +in den welschen Lauten etwas fragt, vermag er ihr nicht zu antworten, +so schnürt ihm der Schrecken die Kehle zu. Er muß sich zwar am selben +Abend doch dazu bequemen, weil die Verwandten -- die im übrigen +freundliche Leute sind -- nur französisch sprechen; es macht ihm aber +Mühe, dem ungewohnten Schwall zu folgen, und er spürt grimmig, wie +seine Zunge über die fremden Silben stolpert. + +Er übersteht die Hochzeit indessen tapfer, und weil er neben einer +ältlichen Tante aus Môtier sitzt, die für Rousseau schwärmt und ihn +vielmals gesehen hat, als er noch selber mit seiner Therese da wohnte, +vermag er sogar seine Scheu vor den welschen Worten zu überwinden. +Sie bleiben aber ungeschickt auf seiner Zunge und geben Anlaß zu +manchem Gelächter; namentlich die beiden Stutzer aus Neuenburg, die +unvermutet auch Hochzeitsgäste sind und an seiner Kleidung wie an +seinem bäuerlichen Wesen Anstoß nehmen, fangen an, ihren Spott mit ihm +zu treiben, gegen den er sich um so weniger wehren kann, als er die +Andeutungen in der fremden Sprache meist garnicht versteht. Da überdies +die Verwandten der Anna ihr Mitleid nicht verhehlen, als ältliche +Jungfer noch an einen solchen Tölpel geraten zu sein, und da die +Geltung in der Welt des guten Tons ihre Empfindlichkeit ist, sieht er +sie danach mehrmals weinen und hitzig an ihm werden, bis ein Vorfall am +dritten Hochzeitstag seiner gequälten Stimmung Luft macht. + +Er hat das Haus sehen wollen, wo Rousseau wohnte; die Tante lud ihn +und die andern ein, und so schwärmt am Nachmittag die geputzte Schar +nach Môtier hinunter. Anna hat Freundinnen gefunden und plätschert in +der welschen Lustigkeit, als ob es ihr angeborenes Element wäre; der +eine Neuenburger hat sich als ihr Galan an sie gehängt, während der +andere angeblich als krank zurückgeblieben ist. Wie sie dann gegen das +Haus kommen, das ihm die andern in aufdringlicher Freundschaft schon +von weitem zeigen, geht die Tür auf, und augenscheinlich nach einem +Kupferstich des berühmten Mannes zurechtgemacht, tritt eine Gestalt im +Kaftan mit ausgebreiteten Armen heraus: Ob sie ihm sein Früchtchen, +den Emil, wieder mitgebracht hätten? Bevor Heinrich Pestalozzi die +Hänselei begreift, hat die Gestalt ihn gerührt ans Herz gezogen und ihm +von hinten her eine Zipfelkappe aufgestülpt, worüber sich dann alle +totlachen wollen. Er hört ihr Gelächter, als ob rundum Hunde bellten +-- auch Anna, so meint er, ist darunter -- aber ehe sich der Komödiant +dessen versieht, hat er ihn an der Gurgel, und als er unter dem Turban +das fade Gesicht des andern Neuenburgers erkennt, schlägt er zu, daß +dem die blutende Nase den Kaftan bemalt. Die andern springen abwehrend +herzu, und der hämische Scherz ginge mit einer bösen Prügelei aus, +wenn nicht Anna ihrem Freund die Hand von der Gurgel löste und ihn aus +dem Rudel zöge. Vor ihrer Bestimmtheit weichen die andern zurück; ohne +ihrer weiter zu achten, führt sie ihn ins Haus der Tante, deren Tür sie +hinter sich verschließt. + +Das gute Wesen hat einen festlichen Kaffeetisch gedeckt und erlebt +nun erschrocken, wie sich die andern drohend auf der Straße sammeln +und mit Fäusten gegen die Tür trommeln. Als ein Stein durchs Fenster +herein fliegt, nimmt Anna ihren Verlobten wieder bei der Hand, führt +ihn rasch durch den Garten gegen den Wald hinauf und auf einsamen Wegen +zu den Verwandten zurück. Heinrich Pestalozzi ist noch lange erregt und +will ihr nicht folgen auf dieser Flucht; aber mehr noch als der Zwang +der festen Hand hält ihn der Klang ihrer Stimme. Sie spricht wieder +die vertraute Sprache, und nach dem welschen Geschrei ist es ihm, wie +wenn die Heimat selber in ihren Worten mit ihm spräche. Es war nur ein +Scherz von ihnen, und ich hätte nicht aufbegehren sollen! sagt Heinrich +Pestalozzi zuletzt und bleibt vor ihr stehen, als ob er sie beruhigen +müsse; sie aber schüttelt den Kopf und wendet sich bittend von ihm +ab: Daß du aufbegehrtest, war recht und ich hab dich lieb darum; aber +wir hätten nicht herkommen sollen! Und dann nach einer Pause wieder +gewaltsam lächelnd in ihrer schelmischen Art: Du mußt denken, daß die +Traverser dem Rousseau auch die Fenster eingeworfen haben, bevor er auf +die Flucht ging nach der Petersinsel. + + + 37. + +Heinrich Pestalozzi hat auch die Frühjahrsbehandlung der Krappkultur +erlebt, und seine Lehrzeit geht zu Ende; aber noch immer fehlt ihm +das Jawort aus dem Pflug, sodaß er von dem zukünftigen Gut nicht mehr +als den Hausschlüssel der Liebe in den Händen hält. Um ihren Eltern +einen andern Begriff von dem schwarzen Pestaluz zu geben, schreibt +er der Anna eine für fremde Augen geeignete Darlegung seiner Pläne +mit scharfsinnigen Berechnungen der Rentabilität, wie er gleich +seinem Lehrer Tschiffeli Ödland ankaufen und zur Krappkultur instand +setzen wolle; nur zwanzig Jucharte, davon fünfzehn dem Krapp und fünf +der Gärtnerei dienten. Artischoken, Spargel, Cardiviol und anderes +Feingemüse im großen zu gewinnen und teilweise erst im Frühjahr -- nach +einer neuen Art der Überwinterung -- mit doppeltem Abtrag zu verkaufen, +dagegen keine Wiese, keine Äcker, keine Reben und wenig Vieh zu haben: +das solle die nährende Grundlage seiner Landwirtschaft sein, daraus er +genügenden Unterhalt zu finden glaube! + +Es ist alles wie für eine Doktorarbeit durchgedacht; aber die +praktischen Eltern im Pflug sehen den Scharfsinn auf die Mitgift ihrer +Tochter gegründet und sind weniger als je geneigt, damit in ungewisse +Projekte einzutreten; sie halten in den Dingen des Erwerbs praktische +Hände für wichtiger als Ideen und finden in solchen Projekten nur +den Bessermacher aus dem Roten Gatter, dem sie die Mitgift mit einem +glatten Nein zudecken, in der Hoffnung, daß ihnen dann auch die Tochter +bliebe. + +So kommt Heinrich Pestalozzi im Frühsommer als ein von Sonne und Regen +gebräunter Landwirt ohne Land nach Zürich zurück; auch seine Hoffnungen +auf die wohlhabende Tante Weber in Leipzig erfüllen sich nicht; der +Doktor Hirzel verschafft ihm zwar die Aussicht, das Pachtgut der +Johanniter in Bubikon zu übernehmen, doch geht ein so weitschichtiger +Betrieb über seine Kräfte. Verdrießlich an dieser Ungewißheit und weil +es regnet, steht er eines Tages unter den Lauben, als ihm jemand die +Hand auflegt; wie er umsieht, ist es der Pfarrer Rengger aus Gebistorf +bei Brugg, den er aus seiner Kollegienzeit kennt. Der fragt ihn aus +nach seiner Lehrzeit bei Tschiffeli, und als dabei der Grund seiner +Verdrießlichkeit zutage kommt, spricht er scherzend von dem Birrfeld +bei Brugg; dort habe man vor kurzem noch steinichte Äcker umsonst +ausgeboten: wenn er etwa bei dem Hexenmeister in Kirchberg die Kunst +gelernt habe, aus Steinen Brot zu machen, fände er dort Feld genug. + +Er hat nur einen spöttischen Scherz machen wollen; aber Heinrich +Pestalozzi nimmt den Vorschlag ernst und ist gleich eifrig dabei, +Näheres zu wissen. Da dem andern nicht mehr als der allgemeine +Verruf des Birrfeldes bekannt ist, führt er ihn von der Gasse weg +ins Weiße Rößli am See, wo er sich -- um einer geistlichen Tagung +willen in Zürich anwesend -- mit dem Pfarrer Fröhlich aus Birr und +andern Kollegen abgesprochen habe. Der weiß genauer zu berichten: +daß im ganzen fünf Gemeinden an dem Birrfeld teil hätten, daß es +vielleicht mehr als andere Gegenden an der Mißwirtschaft des Weidganges +leide, aber durchaus nicht nur ein wüstes Heideland sei, wie es +verschrien wäre. Er rät Heinrich Pestalozzi, als er seine Absichten +hört, ernsthaft zu einer Besichtigung, und da ihn nun auch Rengger +freundschaftlich einlädt, springt er mit beiden Füßen in den Plan ein; +um so mehr, als der Pfarrer Fröhlich von einem burgähnlichen Gebäude +in Müligen an der Reuß spricht, seit altersher der Turm genannt, das +mit Scheune, Stall und Garten zu mieten wäre. + +Noch in derselben Woche ist er nach Gebistorf unterwegs; er findet das +Birrfeld als eine stundenweite Hochfläche, die zur Reuß mit steilen +Waldhängen abfällt und sich in steinichten Halden gegen das Kalkgebirge +des Kestenbergs hebt, auf dem das alte Schloß Brunegg steht. Von einem +mit Kiesgeröll gemischten Moder bedeckt und an vielen Stellen sumpfig +wie ein altes Seebecken, ist sie mit Wacholder und kleinen Tännchen +bestanden und bietet den Anblick einer Heide, obwohl sie da, wo sie +wirklich bebaut ist, garnicht so üble Felder zeigt. Namentlich aber +gefällt ihm die Wohnung in Müligen; mit Efeu dicht berankt und unter +Bäumen am Hügelabhang sonnig gelegen, scheint sie ihm wohl geeignet als +Nest für sein kommendes Glück. Sie gehört einer begüterten Familie in +Brugg, und er beeilt sich, sie für vierzig Gulden jährlich zu mieten. +Der heimlichen Liebsten kann er nur in Briefen blühende Schilderungen +davon machen; aber seine Mutter kommt bald auf einem Wagen, das Nest +mit einem Bett und dem nötigsten Hausrat einzurichten. Es wird anders +mit ihren Söhnen, als sie gehofft hat: der eine tut als Kaufmann nicht +gut, und der andere hat mehr als ein Dutzend Jahre die Schulbänke +gedrückt, um die Weltverlassenheit dieser Bauernschaft als sein Glück +zu preisen. Sie vermag bei seinen Freudensprüngen nicht mehr zu lächeln +und sieht über die Stundenweite des Birrfeldes mit einer trostlosen +Wehmut hin. Dies wird einmal ein einziges Gartenfeld sein! sagt +Heinrich Pestalozzi und begreift die ärmlichen Dörfer des Landes in +einer großmächtigen Armbewegung. Sie zieht das schwarze Witwentuch um +ihre schmächtige Gestalt, als ob sie fröre; doch als er sie dann fast +knabentrotzig fragt, ob sie es nicht glaube? weht ihr ein Lächeln alles +Trübe fort aus dem blassen Gesicht: Wie soll eine Mutter anders als +gläubig zu ihren Kindern sein! + + + 38. + +Jeden Morgen steigt Heinrich Pestalozzi den steinichten Hügelweg +hinauf, das Birrfeld wie ein Eroberer zu durchqueren; die Mutter hat +ihm einen Rest des väterlichen Vermögens mitgebracht, den sie zur Not +entbehren kann, und so kann er auf eigenen Landerwerb ausgehen. Er +findet die besten Plätze bald in den Hummeläckern, die ziemlich mitten +im Birrfeld liegen und zu der Gemeinde Lupfig gehören. Die Üppigkeit +einiger Kirschbäume gibt ihm Gewißheit, daß der verwahrloste Boden mit +guter Düngung bald ertragreich zu machen wäre, und rasch entschlossen +wendet er siebenundfünfzig Gulden an, sich vier bis fünf Jucharte davon +zu kaufen, die er mit allem Eifer seiner gelernten Künste aus einem +Mergellager am Kestenberg aufbessern will. Darüber aber kommt er bei +den Leuten der Gemeinde auch schon ins Gespräch als Herrenbauer, und +mehr als einer hört die ungewohnte Geldquelle gegen seine Äcker rinnen. +Als er darauf mit weiteren Ankäufen zögert, fangen die bäuerlichen +Listen an, sich mit Wegerechten, Weidgang und andern Vorwänden drückend +zu machen, sodaß er wohl oder übel zu höheren Preisen kaufen muß. + +In diesen Schwierigkeiten, die ihn allein befallen, weil seine Mutter +wieder nach Höngg zum kranken Großvater gerufen ist, geht er eines +Nachmittags verdrießlich nach seinem Turm zurück, als ihn ein Mann +mit seinen Wägelchen einholt und aufsteigen heißt, da er gleichfalls +nach Müligen führe. Er hat den Mann auf seinen Gängen schon mehrmals +angetroffen, und weil ihn die Mißlichkeiten müde und unlustig zum Gehen +gemacht haben, nimmt er das Angebot gern an. Unterwegs holt ihn der +andere beiläufig aus, ob er auf seinem Hummelacker zu bauen gedächte, +und als er das bejaht: ob er denn Wasser habe? Warum er nicht weiter +aus dem Birrfeld hinaus, etwa da oben in den Letten baue? Da habe er +Quellen genug, brauche sich mit keinem Anlieger herumzuschlagen und sei +Herr auf seinem Boden. Billiger als da unten sei das Land sicher, wo +auch sonst die Lupfiger keine günstige Nachbarschaft wären. + +Heinrich Pestalozzi weiß, daß der Mann, den er von seinen Gängen her +als einen Metzger und Wirt aus Birr mit Namen Märki kennt, wohlhabend +und durch seine Geschäfte bewandert in allen Verhältnissen der Gegend +ist. Irgendwie fällt ihm das Wort Bluntschlis von dem Ratgeber ein, und +da ihn der Mann im Sprechen auffällig an seinen Lehrmeister Tschiffeli +erinnert, nur daß er genau so drastisch in seinen Ausdrücken wie +jener vorsichtig ist, sieht er ihn prüfend von der Seite an und nicht +unlustig, seine Dinge mit ihm zu besprechen. Der aber scheint von dem +Gespräch genug zu haben, kutschiert gleichmütig darauf los, bald hier +bald dort mit dem Peitschenstiel auf eine Merkwürdigkeit deutend, sodaß +Heinrich Pestalozzi fast bedauert, als sie hart bremsend den letzten +gewundenen Abstieg nach Müligen hinunter fahren. Eine Einladung, bei +ihm für einen Augenblick abzusteigen, nimmt der Mann nicht an, da er es +wegen der Dunkelheit eilig habe. Bald sieht er ihn denn auch wieder den +Weg hinauf kutschieren, rüstig zu Fuß, das Pferd am Zügel führend. + +Schon am andern Tag macht er einen Weg in die Letten hinauf; er findet +den Boden mit vermodertem Kalkgestein durchsetzt, das vielfach auch +mit einem beinernen Glanz zutage liegt: Hier ist wirklich Ödland, aber +wo der Hang ins ebene Feld ausläuft, doch wieder guter Boden, vor +allem aber ist reichlich Wasser da, und die abseitige Lage lockt ihn +besonders. Als er bis an den Waldrand hinaufgegangen ist und von da +unter einem Nußbaum über das stundenweite Birrfeld hinsieht -- stärker +als je in dem Traum, es von hier aus stückweise zu erobern und ein +Gartenmeer daraus zu machen, das Wohlstand in all die ärmlichen Dörfer +rundum verbreiten soll -- hört er hinter sich seinen Namen rufen, und +als er umsieht, steht der Märki dort und winkt ihm. Augenscheinlich +will er nicht gesehen werden, und so steigt Heinrich Pestalozzi zu +ihm hinauf in den Wald. Der selbe Mann, der gestern gleichmütig war, +scheint heute wütend: falls er etwa die Absicht habe, hier zu kaufen, +so möge er sich selber das Geschäft nicht verderben, indem er hellen +Tags hier herumlaufe! Bauern seien Bauern: wenn er, der Märki, etwa +hinginge und ihnen bares Geld für einen Acker brächte, wären sie +noch so froh; so aber der Herrenbauer käme, glaube jeder gleich das +große Los zu spielen. Er wolle sich mit diesem Beispiel nicht etwa +aufdrängen, er habe hier nur zufällig einer Klafter Kleinholz nachgehen +wollen, die überm Winter vergessen worden sei. Da er ihm aber nun +einmal den Rat gegeben habe, möge er natürlich nicht, daß er dabei zu +Schaden käme und ihm schließlich noch Vorwürfe mache! + +Nichts für ungut, sagt er dann wieder höflich, als er das alles mit +rotem Kopf mehr geschimpft als gesprochen hat, lüpft an seiner Kappe +und geht davon, gefolgt von einem Metzgerhund, der sich faul aus der +Sonne aufhebt. Heinrich Pestalozzi bleibt wie ein gescholtener Schüler +zurück, doch ist er dem Mann dankbar; wenn er an die Tagelöhner in +Lupfig denkt, daß nie einer ein richtiges Wort aus den Zähnen läßt und +jeder an seinem Mißtrauen würgt, irgend einen Vorteil zu verlieren, so +ist dies doch von der Leber gesprochen. Er folgt seiner Weisung, geht +nicht über Birr, sondern im Bogen durch den Wald gegen die Hummeläcker, +wo ihm nun nichts mehr gefällt, sodaß er seine Pläne umdenkend nach +Müligen heimkehrt. Noch am selben Abend schickt er dem Märki eine +Botschaft nach Birr hinauf, und nun wird es rasch ein anderes Geschäft +für ihn: in knapp acht Tagen hat er durch den gewandten Unterhändler +zehn weitere Jucharte dazu gekauft, nicht übles Land, noch in der +Ebene gegen den Letten gelegen, sodaß er einen guten Platz für sein +Haus, einen Brunnen dazu und Land genug besitzt, um seine Plantage +zu beginnen. Daß die nun in zwei Stücken auseinander liegt, die +Hummeläcker mitten im Birrfeld und das andere eine gute halbe Stunde +weiter hinauf am Letten, beunruhigt ihn ebensowenig wie der doppelte +Preis: auch Tschiffeli hat so zerstreut Boden fassen müssen, und +schließlich ist doch alles ein großer Besitz geworden. Seitdem er den +Metzger Märki als Ratgeber hat, fehlt es ihm nicht mehr an Zutrauen, +daß auch sein Traum gelingt. Denn daß er selber in die Hände eines +Mannes geraten ist, der vieles zu sich heranbiegt, um daraus nichts als +seinen Nutzen zu haben -- was unter Kaufleuten die einzige Moral ist -- +während er sich selber einen Nutzen immer nur erträumt, um eine Quelle +des Wohlstandes für die andern zu sein: das soll er noch erst erfahren. + + + 39. + +Über dem ist der Herbst gekommen und weht Heinrich Pestalozzi die +dürren Blätter vor die Haustür; die Singvögel ziehen der scheidenden +Sonne nach, und abends steigen die Nebel kalt aus der Waldschlucht, +darin die Reuß ihr spärlich gewordenes Wasser der Aare zuführt: nach +dem Sommer mit der sonnigen Fülle seiner langen Tage kommt der Winter, +der die Menschen in den Kreis der Lampe drängt. An der seinen war das +Messing blank, als Anna sie schenkte: aber ihre Hände sind nicht da, +es zu putzen. Nicht einmal ein Stück Vieh steht im Stall, und Heinrich +Pestalozzi, der doch ein Stadtkind und gewohnt ist, über seine Dinge zu +sprechen, sitzt Abend für Abend allein in seinem Turm. Die Mutter kann +nicht mehr kommen, weil der Großvater sie wieder nach Höngg gefordert +hat; und dem Bärbel war es bald zu grauslich zwischen Wald und Wasser. +Seit seinem heimlichen Verlöbnis ist mehr als ein Jahr verstrichen, +Anna hat im Sommer schon ihren dreißigsten Geburtstag erlebt, und immer +noch steht die Weigerung der Eltern vor der gemeinsamen Zukunft. Die +Melancholie der Einsamkeit läßt ihren bitteren Saft in seine Stunden +fließen, und andere Briefe flattern nach Zürich, als sie aus Kirchberg +gingen. Einigemal reist er selber hin, auch nach Brugg kommt er +Samstags, die Schaffhäuser Zeitung zu lesen: aber es ist eine tote Zeit +für Heinrich Pestalozzi, da er zum erstenmal den einsamen Winter des +Landmanns wirklich zu spüren bekommt. + +Noch im Spätherbst haben auf einer Spazierreise zu Pferd einige Freunde +aus Zürich bei ihm angeklopft, um sich den Scherz eines Besuchs bei +dem Einsiedler von Müligen zu machen; sie waren überrascht, alles +so heimelig bei ihm zu finden -- das Bärbel war gerade da -- und +namentlich der Johannes Schultheß aus dem Gewundenen Schwert, dessen +Vater Bankgeschäfte macht, zeigte für seinen Plan viel Aufmerksamkeit. +Er hat ihm unterdessen mehrmals geschrieben und ist tatsächlich auch +bei seinem Vater nicht untätig geblieben; als endlich das letzte +Schneewasser mit hundert Bächen die Reuß braun färbt und die ersten +vorwitzigen Singvögel den Sonnenschein prüfen, geht Heinrich Pestalozzi +in der Entschlossenheit eines Verschwörers nach Zürich, mit dem +Bankherrn in eine Geschäftsverbindung zu kommen. Es dauert zwar noch +ziemlich eine Woche, und er muß sich manche Laune des aufbrausenden +alten Herrn gefallen lassen; aber der Sohn läßt nicht locker, und +schließlich kommt eine Abmachung zustande, daß der Bankiers mit einem +Einsatz von fünfzehntausend Gulden allmählich in seine Pflanzung +eintreten will und ihm gleich ein Drittel dieser Summe als Kredit +eröffnet. + +Damit steht Heinrich Pestalozzi vor den Kaufmannsleuten im Pflug als +einer ihresgleichen da, und als er aus dem Gewundenen Schwert an die +Limmat hinaustritt, seinen Kreditbrief in der Hand, wagt er damit +auch den zweiten Gang. Er findet aber niemand zu Haus als den Bruder +Salomon, da die Eltern mit Anna nach Wollishofen hinaus gegangen +sind; das ist ein bequemer und weichlicher Mensch, der mit seinem +Doktorstudium nicht fertig wird und den Schwarmgeist aus dem Roten +Gatter wie eine Brummfliege haßt: er steht nicht einmal auf von der +Polsterbank, und als ihm Heinrich Pestalozzi seinen Kreditbrief zeigt, +spöttelt er, die Schwester sei ihnen kostbarer als solch ein Stück +Papier. Auch Anna, die er am Abend für eine Stunde sieht, vermag ihm +keine bessere Hoffnung zu geben, da die Mutter unversöhnlich sei und +der Vater nichts gegen sie vermöchte. So muß er andern Nachmittags doch +wieder ohne Braut in das Limmatschiff steigen. + +Vorher ist er noch einmal nach Höngg hinaufgegangen, wo sein Freund +Wüst als Vikar das Pfarramt versieht, dessen Würden der Großvater +nur noch in seiner Studierstube zu tragen vermag. Er ist mit seinen +sechsundsiebzig Jahren ganz wunderlich geworden, schüttelt zu allem, +was er ihm sagt, nur den leeren Kopf, als ob er genug von den Dingen +der Erde gehört habe. Erst wie er Abschied nehmen will und die zittrige +Geisterhand in die seine nimmt, hebt er den anderen Zeigefinger, ihn zu +vermahnen, läßt aber gleich wieder ab und schüttelt von neuem den Kopf, +sodaß Heinrich Pestalozzi nichts vermag, als weinend seinen Mund auf +die kraftlosen Hände zu legen. + +Im Juli danach ist er tot; Heinrich Pestalozzi erhält die Nachricht +so spät, daß er das Leichenbegängnis nicht mehr erreicht; wie er +nach der langen Postfahrt den Berg hinauf hastet, kommt ihm auf der +Straße still weinend Anna Schultheß entgegen, die außer dem Willen +ihrer Eltern mit auf den Kirchhof gegangen ist und nun nach Hause +will. Ihr so unvermutet auf dem Berg seiner Jugend zu begegnen, das +reißt ihn hin; und auch sie ist durch das Ereignis so bewegt, daß die +beiden sich aller Augen zum Trotz weinend in die Arme fliegen. Nachher +gehen sie Hand in Hand nach Höngg zurück, wo unter den leidtragenden +Amtsgenossen des verstorbenen Dekans noch die Mutter mit dem Bärbel +ist. Heinrich Pestalozzi läßt auch da die Hand der Geliebten nicht +los, und sie sträubt sich nicht, sodaß sie wie zwei Kinder an den +frischen Grabhügel kommen. Beide entsinnen sich da des Grabes, das +ihre Freundschaft zusammen führte; aber während er sie nun losläßt und +weinend niederkniet, bleibt sie aufrecht und verharrend bei ihm stehen, +bis sein Blick sie wiederfindet. Dann gibt sie ihm die Hand zurück, +und weil er seiner Füße nicht geachtet hat, kommt es so, daß sie zu +beiden Seiten des Grabes stehen, über dem ihre Hände sich für immer +geschlossen halten. + + + 40. + +Seit dieser Begegnung in Höngg müssen die Kaufmannsleute im Pflug +einsehen, daß nichts mehr ihre Tochter vor dem schwarzen Pestaluz +bewahren kann. Als nacheinander seine Freunde Füeßli und Lavater -- +der nun schon Diakonus ist -- sich um die Liebenden bemühen, als der +wohlhabende und angesehene Doktor Hotz von Richterswil als Freiwerber +für seinen Neffen erscheint und mit dem Antistes Wirz selbst der +Bürgermeister Heidegger ein Wort für die Heirat findet, schickt sich +die Mutter grollend in die Gewalt und gibt die Tochter frei; jedoch nur +sie selber, ohne Aussteuer, allein die Kleider, ihren Sparhafen und +das Klavier darf sie mitnehmen. Heinrich Pestalozzi kommt mit einem +Wagen von Brugg, sie abzuholen; er hat sich den Tag anders gedacht, als +daß er sie gleich einer Verstoßenen wegführen müsse. Der Zunftpfleger +ist aus dem Hause gegangen, den Auftritt nicht zu erleben; die Mutter +empfängt ihn ohne Gruß wie einen Landfahrenden und gibt der Tochter den +zornigen Spruch mit, daß sie bei ihm noch einmal mit Brot und Wasser +zufrieden sein müsse! Aber Anna verhält sich tapfer und schön; sie +fühlt nun andere Mächte über sich als die elterliche Gewalt, und obwohl +sie ihr Gesicht blaß geweint hat, steht keine andere Sorge darin, als +der Mutter nicht hart zu begegnen. + +Es fällt ein leichter Frühregen, wie sie durch die Sihlporte hinaus +auf der Straße nach Alstetten ihren Auszug beginnen; Heinrich +Pestalozzi hat die Geliebte eben noch in der Wohlhabenheit ihres +Hauses gesehen, die nun fröstelnd in der kühlen Nässe neben ihm auf +dem ärmlichen Fuhrwerk sitzt: so überkommt ihn die Wehmut, wie traurig +es für sie sein müsse, die Heimat so zu verlassen und mit ihm ins +Ungewisse zu fahren. Sie aber, die alles schon durchlebt hat, was +bitter daran ist, sieht nicht ein einziges Mal zurück; sie nimmt nur, +als sie seine Gedanken fühlt, mit einem tapferen Lächeln seine Hand +-- die nun ihre Heimat sei -- und in ihren Augen, die nicht dunkel +und voll Unruhe wie die seinen, sondern hell und ruhig sind, steht +der geklärte Entschluß aus harten Monaten, treu zu beharren bei ihrem +Herzen und dem Schicksal alles zu bezahlen, was es für die späte Liebe +fordert. So Hand in Hand beieinander auf ihren Siebensachen sitzend, +fahren sie durch den Herbsttag hin, der schon bei Alstetten zwischen +aufgeregtem Gewölk ein blaues Auge zeigt und gegen Baden die Sonne +zärtlich scheinen läßt. + +Bis zur Hochzeit bleibt Anna Schultheß bei dem Pfarrer Rengger in +Gebistorf, der auch der Freund ihres Bruders ist; dort in der alten +Dorfkirche werden sie am letzten September getraut. Nachher gehen +sie miteinander nach Müligen, wo ihnen das Babeli ein einfaches Mahl +bereitet hat und mit einem bäuerlichen Spruch für die junge Frau unter +der bekränzten Haustür wartet. Anna dankt dem treuen alten Wesen mit +einem Kuß auf die runzelige Stirn und heißt es mit in ihrer Reihe +sitzen, wie sie Heinrich Pestalozzi leise sagt, als Ehrengast. Der +sieht die Braut allein von ihrer Sippe in der Mitte der Seinigen, als +wäre er noch immer zu Haus; aber es sind andere Räume, und unmerklich +ist in seinem Leben die Anna Schultheß an die Stelle der Mutter +gerückt. Sie sitzen nebeneinander, die ihn geboren hat und die ihm +Kinder bringen soll; es scheint ihm, als wären sie Schwestern, so +ähnlich sind sie. Das ist so stark, daß ihm die beiden auf einmal +entfremdet scheinen, weil er die eine nur als Mutter gekannt hat +und staunend fühlt, wie unbekannt ihm ihre Frauenwelt war; in diese +Frauenwelt aber ist die andere nun durch ihn eingefordert worden. +Da fühlt er tief, daß menschliches Glück nicht in der Erfüllung der +eigenen Wünsche bestehen könne, weil ein Mensch mit seinen Wünschen im +Gefängnis einsamer Dinge bliebe. Nur, wessen Seele in andere Seelen +einginge, könne aus der Enge seines zufälligen Daseins ins Leben kommen! + + + 41. + +Als Heinrich Pestalozzi Anna Schultheß aus ihrem wohlhabenden +Stadtbürgertum in seine bäuerliche Einsamkeit holt, ist sein Besitz auf +neununddreißig Jucharte angewachsen, die meist im steinichten Letten +am Fuß und Abgang des Kestenbergs liegen. An die geplante Gärtnerei +kann er nicht denken, solange er selber noch so weit entfernt von +seinen zerstreuten Ländereien in Müligen wohnt; so beginnt er auf dem +Hummelacker wie auf den unteren Feldern im Letten seine Krappkultur und +sät die minderen Flächen vorerst mit Esparsette an, weil er weiß, daß +dieser Futterklee auch auf steinichtem Boden gerät und das Land für +anderen Anbau fruchtbar macht: das eifrigste seiner Geschäfte aber ist +der Plan eines eigenen Wohnhauses, das den zerstreuten Besitz erst zu +einem Gut machen muß, und mancher glückliche Herbstgang mit der tapfer +erkämpften Lebensgefährtin gilt der Bestimmung des Platzes, wo sie als +Hausfrau seiner Besitzung walten soll. + +Auch was hierbei wehmütig ihre Schritte begleitet, daß ihr das eigene +Elternhaus feindlich versperrt sei, erfährt bald eine unvermutete +Wendung: ihrem Vater, dem Zunftpfleger zur Saffran, ist augenscheinlich +die Trennung von seiner einzigen Tochter das eigentliche Ärgernis an +ihren Heiratsplänen gewesen -- um so mehr, als er mit den Söhnen nicht +aufs beste steht und oft Verdruß mit ihnen hat -- und auch die Mutter +sieht nach der Trennung ein, daß es besser sei, eine Frau Pestalozzi +als gar keine Tochter mehr zu haben. Nicht länger als zwei Monate hält +ihr gekränkter Bürgerstolz der Sehnsucht stand, dann kommen Briefe nach +Müligen, die deutlich nach einer Aussöhnung verlangen; und eben will +der Winter das einsame Paar einschneien, als eine Einladung erscheint, +den vorenthaltenen elterlichen Segen zu holen, damit Weihnachten keinen +Unfrieden mehr in der Familie fände. Mitte Dezember schließen sie +frühmorgens in dunkler Kälte die Haustür in Müligen ab und sind abends +miteinander im Pflug, wo die Rührung des Wiedersehens die verlegene +Erinnerung an die lange Zwietracht im ersten Augenblick zudeckt und +danach rasch ein so erträgliches Verhältnis entsteht, daß sie statt +der gewollten drei Tage bis über Weihnachten bleiben. Es kommt nun +doch noch zu den verwandtschaftlichen Besuchen; die Mutter Pestalozzi +erscheint im Pflug, und die Zunftpflegersleute bemühen sich zum Essen +ins Rote Gatter, wo die geborene Hotzin sie mit den Formen ihrer +Jugend empfängt. Auch sonst gehen die jungen Leute den Fäden ihrer +Freundschaften nach, und der heilige Abend kommt als der Schlußpunkt +fröhlicher Festwochen. Um den Übermut zu vollenden, erscheint der Oheim +Hotz von Richterswil mit aller Behaglichkeit seines Alters und nimmt +sie mit auf eine Schlittenfahrt nach Hegi und Winterthur. Als sie +endlich, diesmal im Schiff, aus dem winterlichen Zürich heimfahren, +sind sie beschüttet von Segenswünschen und Versicherungen herzlicher +Freundschaft; denn der Heinrich Pestalozzi, im Pflug als Tochtermann +angenommen, steht anders vor der Welt da als der Wundarztsohn, der mit +der Tochter im Unfrieden auf einem Bauernfuhrwerk davongefahren ist. + +So hätten sie Anlaß, fröhlich auf dem Wasser zu sein, das von der +winterlichen Mittagssonne dampft, und Anna sagt es auch, noch von dem +Übermut des Abschieds voll: daß dies erst ihre rechte Hochzeitsfahrt +sei. Aber ihre Fröhlichkeit schwimmt nur noch wie das Schiff auf dem +dunklen Wasser; und als ihr Heinrich Pestalozzi ins Auge sieht, traurig +fragend mit diesem Blick, wie sie das meine, kommt sie unvermutet ein +tiefes Weinen an, das er viel eher als den Übermut versteht. Ihm ist +aus dem Lärm dieses Mittags schon vorher die Wehmut aufgestiegen, +daß sie auf ihrem Wagen damals, den er selber durch den regnerischen +Herbsttag lenkte, einander näher gewesen seien, und mehr als dies, +daß sie näher am Herzen Gottes gehangen hätten als jetzt auf dieser +schaukelnden Schiffahrt, wo sich ihre Hände aus der Zerstreuung so +vieler Tage nicht zu finden vermögen. + +Erst als sie von Turgi noch unter der mondhellen Sternennacht den +langen Weg nach Müligen wandern und kein Wort sprechen, verliert sich +Klang und Schaum der überfüllten Tage bis auf den letzten erdigen Rest, +der ihnen bitter schmeckt -- bis sich noch vor der Haustür Hand und +Mund zum innigen Gelöbnis finden. + + + 42. + +Andern Morgens im Frühdunkel verläßt Heinrich Pestalozzi das Haus, um +noch einmal nach den Feldern zu sehen, darüber er am selben Vormittag +in Königsfelden vor dem Landvogt den Kaufvertrag machen will. Auf dem +einen steht der breite Nußbaum, unter dem er oft mit seiner jungen +Frau gestanden und das zukünftige Besitztum überblickt hat; da soll +dann ein schattiger Sitzplatz sein. Es ist kaum hell, als er hinkommt; +um so mehr erstaunt er, als Anschläge klingen und gleich darauf ein +schwerer Baum krachend niederstürzt; wie er Böses ahnend zuläuft, +liegt der Nußbaum auf der Erde, und der ihn gefällt hat, ist der Mann, +von dem er den steinichten Acker um dieses Nußbaums willen nicht eben +billig kaufen will. Es ist, wie er weiß, ein Tanner -- so nennen sie +die Tagelöhner im Birrfeld -- dem es mit sieben Kindern übel geht und +dem er deshalb auf Zureden Märkis auch den geforderten Kaufpreis ohne +Abrede zugestanden hat. Da er nur zufällig noch auf den Acker gekommen +ist und ihn andernfalls gekauft und bezahlt hätte, macht ihn die +Niedertracht des Mannes wütend, sodaß er schimpfend gegen ihn anläuft. +Der aber ist selber so im Zorn, daß er die Axt gegen ihn hebt; und +als er seinem Frevel dann mit Worten beikommen will -- nun kaufe er +den Acker überhaupt nicht oder nur um die Hälfte des Kaufpreises -- +schlägt der Mann die Axt in den Stamm, daß es zischt: das sei ihm beim +Leibhaftigen gleich, und nur der Märki habe den Schaden davon! Seine +Wirtsschulden würden ihm doch falsch angekreidet, und er bekäme keinen +Kreuzer von dem Kaufgeld. Den Baum habe er als Knabe selber gepflanzt +und er solle auch keinem andern gehören! + +Heinrich Pestalozzi hat schon mehrmals solche Dinge von dem Märki +vernommen, und von dem Pfarrer weiß er, daß die Leute um seiner +Verbindung mit dem Metzger willen gehässig gegen ihn sind; aber daß der +ihn betrügt wie hier, wo er sich den höheren Kaufpreis in seine eigene +Tasche gehandelt hat, das ist ihm eine bittere Erfahrung. Er geht +traurig von dem Platz fort und läßt dem Märki durch einen Boten sagen: +er könne nicht mit ihm fahren, würde aber pünktlich in Königsfelden +sein. Als er dann nach einer verstimmten und nicht gradlinigen +Wanderung den großspurigen Mann sieht, der auch unter Menschen immer +dasteht, wie wenn er gleich zu metzgen anfangen möchte, hat er nicht +den Mut, ihm den Handel auf den Kopf zuzusagen, unterschreibt auch +den Kaufvertrag trotz dem gefällten Nußbaum -- da der Märki die +Vollmacht des Tanners vorweist -- und ist erschrocken über soviel +Verschlagenheit. Nur auf seinen Wagen steigt er auch diesmal nicht, +und erst, als der andere ihn augenscheinlich um seiner Verstimmung +willen in allerlei Gesprächen aufhält, sagt er ihm sein Erlebnis aus +der Morgenfrühe ins Gesicht und läßt ihn stehen. Er hört ihn noch über +das Tannerpack schimpfen, als er mit langen Beinen aus seinem Bereich +eilt; und kaum ist er eine Viertelstunde unterwegs, da rollt der Wagen +schon hinter ihm her. Er denkt nicht anders, als daß der Metzger sein +Pferd zornig an ihm vorbeipeitschen würde; aber der läßt es in Schritt +fallen, immer neben ihm heran. Ob der Herr Pestalozzi dem versoffenen +Lumpenkerl vielleicht auch noch glaube? Dann möge er sich jemand anders +für seine Geschäfte suchen: er habe sich weder aufgedrängt noch sei er +versessen darauf, für ihn mit aller Welt in Händel zu geraten! + +Heinrich Pestalozzi kann nicht antworten, so widerlich ist ihm nun Art +und Stimme des Mannes. Er tritt in den Graben und will ihn vorfahren +lassen; der Märki aber hält sein Pferd an, wie wenn er ihn anders +verstanden habe: er wolle also doch noch aufsteigen? Da merkt er, daß +ihn der Metzger nicht loslassen will, und läuft querfeld über den +gefrorenen Acker davon, wo ihm das Fuhrwerk nicht folgen kann. Noch von +weitem hört er das höhnische Gelächter, und es hallt ihm noch in den +Ohren, als er verbittert über sich und seine Händel zum Mittag durch +die Haustür in Müligen eingeht. Da will es sein Unglück, daß auch Anna +Ärger mit ihrer aufsässigen Magd gehabt hat, sodaß sie beide gereizt +am Tisch sitzen. Er will ihr nichts sagen, aber sie fragt, bis seine +kargen Antworten ihr doch den Handel verraten. Da legt sie freilich den +Löffel hin: ob er den Kauf wirklich gemacht habe? Und als er, nun schon +trotzig, ja sagt, entfährt ihr ein hartes Wort. Sofort flammt auch sein +Jähzorn auf, und obwohl er innerlich verzweifelt vor ihr kniet, daß +sie ihm die Sätze nicht nachtragen möge, bleibt sein hitziges Blut im +bösen Streit mit ihr, bis er vom Tisch aufspringt und gegen die Reuß +hinunterläuft. + +Vor dem emsigen Zorn der Wellen findet er sich wieder, und schon zur +Vesper sind sie nach bitteren Tränen der Reue wieder ausgesöhnt: doch +bleibt das Weh seiner Scham, daß er sterben möchte und sich danach +auch wirklich bis zur Krankheit in die Selbstanklagen vergrübelt. +Sylvester feiern sie noch miteinander auf die vorbedachte Art, indem +sie an die Armen von Müligen einen Korb Brot verteilen -- was als ein +Anfang seiner Wohltätigkeit gedacht war, scheint ihm nun ein kläglicher +Rest seiner Beglückungspläne -- dann legt er sich hin und bleibt fast +eine Woche lang im Bett, unfähig vor Fieber und Mutlosigkeit. Es ist +längst nicht mehr der böse Tag allein, was ihn quält; es ist die erste +Abrechnung mit seinen Plänen und mit sich selber, dem hochmütigen +Plänemacher. Die Sehnsucht seiner Jugend hebt sich auf und steht ratlos +vor dem Schwall seiner Handlungen in diesem letzten Jahr. Er weiß +nicht, wo seine Füße anders hätten gehen sollen; nur daß sie falsch +gehen, das fühlt er genau. Gleich Trompeten schreit eine Stimme in +ihm, daß er die Forderungen seiner Natur betäubt habe: Was bin ich, +und was wird aus mir werden? schreibt er ins Tagebuch seiner Frau, das +immer offen vor dem Bett liegt, obwohl sie sich selber darin nicht +schont. Und alles, was er als Antwort findet, ist die Verzweiflung, in +Irrtum und Unrecht unwichtiger und falscher Dinge verstrickt zu sein; +nicht anders, als ob er selber mit der Peitsche im Metzgerwagen des +Märki säße und seine Seele über die hartgefrorenen Felder angstvoll +davonliefe. + + + 43. + +Als Heinrich Pestalozzi wieder aufsteht von seiner Krankheit, ist kein +Entschluß aus seinen bitteren Gedanken gekommen; sie sind vergangen, +wie nach Unwetter tagelang die Wolken auf den Bergen lasten, als ob sie +sich nie wieder heben wollten, und eines Morgens scheint doch die Sonne +in eine blanke Welt. Er kann wieder mit Freude an seine Unternehmungen +denken, und alle verzweifelten Gedanken daran kommen ihm als bequeme +Mutlosigkeiten und als Rückfälle in die unstete Natur seiner +Knabenjahre vor; er weiß, daß er in diesem Jahr Vater werden soll, und +schämt sich der Unmännlichkeit, die nicht für das Kind und seine Mutter +die selbstgewählte Pflicht erfüllt. + +Der erste, an dem er sich erprobt, ist Märki; der kommt, das vorgelegte +Kaufgeld einzufordern, und ist wieder der schlau beherrschte Mann, der +Nachsicht mit den Launen seines Schützlings hat und ihn, wo er sich +auflehnen will, die Überlegenheit an Alter und Erfahrung fühlen läßt. +Heinrich Pestalozzi begreift sich selber nicht mehr, wie er ihm damals +ausweichen konnte: er sagt ihm unverhohlen und ohne Zorn, daß er das +andere anweisen, jedoch die Kaufsumme für den Acker um den geschlagenen +Nußbaum kürzen müsse, da er ihn hierbei in einer Täuschung gehalten +habe. Der Märki will aufbrausen, aber er verweist ihm das gleich +so bestimmt, daß der den andern Wind merkt und sich nach mehreren +Seitensprüngen um der Freundschaft willen, wie er sagt, zu der Sache +bequemt. + +Nach einigen Tagen bringt der Baumeister den Plan des Wohnhauses, +wie es nach seinen eigenen Angaben sein soll: etwa dreißig Schritt +im Geviert mit einem Zeltdach und ganz aus Steinen gebaut; es soll +unten am Letten stehen, wo der angeschwemmte Boden als Gartenland +geeignet ist, und Neuhof heißen. Der Baumeister hat neben den Aufrissen +auch eine Ansicht des Hauses in Farben gemacht; es sieht mehr einer +italienischen Villa gleich als einem schweizerischen Bauernhaus, +aber gerade das gefällt ihm. Er scherzt, daß er selber ein Italiener +wäre, und so oft er das hübsche Bild ansieht, wird der Traum seiner +landwirtschaftlichen Existenz daran lebendig: wie er mit seiner +Stauffacherin da aus und ein gehen wird, wie unter den Bäumen -- die +bis jetzt nur auf dem Papier grün sind -- Kinder spielen und auf den +Feldern rundum fleißige Tanner lohnende Arbeit finden, wie die breit +gewölbten Keller sich mit Feldfrüchten füllen, und wie er als ein +neuer Tschiffeli der Mißwirtschaft des Birrfeldes aufhielt durch sein +Beispiel planvoller Arbeit! + +Auch der Baumeister Daniel Vogel, den er sich als fachmännischen +Berater aus Zürich holt, billigt den Plan; der setzt im +freundschaftlichen Vertrauen die Berechnungen fest und macht die +Akkorde mit den Handwerkern unter genauen Abmachungen über das Material +und die Ausführung. Es ist ein sicherer Gang der Ordnung, wie ihn +Heinrich Pestalozzi bisher noch nicht in seinen Dingen gespürt hat; +als ob ihm neue Hände gewachsen wären, seitdem in den abwartenden +Verdruß des Winters ein wirkliches Geschäft gekommen ist, so gibt sich +eins ins andere und bringt die Fröhlichkeit zweckbewußter Arbeit mit. +Als erst der Boden ausgehoben, Steine gebrochen und die Fundamente +gelegt werden, ist er von früh bis spät dabei und scheut das nasse +Schneewasser nicht, selber jede Art von Arbeit mitzutun. Daß morgens +die Leute kommen, Tag für Tag, zum Teil stundenweit und sichtlich froh, +gute Beschäftigung zu haben, gibt ihm ein Vorbild, wie es einmal auf +Neuhof sein soll; und wenn er sie Sonntags entlöhnt, ist sein Traum +schon Wirklichkeit: daß er als der Mittelpunkt einer Unternehmung +dasteht, daraus die ersten Quellen aller Wohlhabenheit, der sichere +Verdienst einer regelmäßigen Arbeit, ins magere Birrfeld fließen. + +Nachdem Ende Januar unerwartet ein Wechsel aus dem Pflug nach Müligen +geflattert ist für das Laufende, kommen nacheinander die Brüder, +am längsten der Doktor Salomon, der die warmen Frühlingstage schon +zum Angeln -- seiner Lieblingsbeschäftigung -- geeignet glaubt. Sie +mögen Bericht nach Zürich gegeben haben; denn an dem Mittag, da sie +abreisen wollen, steht unvermutet die alte Schultheßin mit dem jüngsten +Bruder gerade vor der Haustür, als sie hinaustreten. Nun bleiben +alle bis zum andern Tag, und weil die Aprilsonne scheint, wird noch +am Nachmittag ein fröhlicher Spaziergang durch die Felder und auf +den Bauplatz gemacht, wo die Fundamente schon kniehoch aus der Erde +sind und eingewölbt werden sollen. Auch auf den Hang kommen sie, wo +der Nußbaum niedergebrochen ist; sein Stamm reicht allen zum Sitz, +sodaß einer den Scherz macht, sie weiheten die Bank ein, bevor das +Holz dazu geschnitten wäre. Von unten klappert das Gewerk der Maurer, +und einer, der den Mörtel in der großen Pfanne rührt, singt das alte +Grenchenlied mit dem spöttischen Hohoho als Schlußreim, in den die +andern einfallen. Auch die Schultheßin, die mit unverhohlenem Mißtrauen +den ausgespreiteten Mergel auf den Kleefeldern für weißen Schutt +gehalten hat, vermag die fröhliche Luft nicht einzuatmen, ohne daß auch +ihr etwas davon ins gallige Blut geht. Die Scherze der Brüder sorgen +dafür, daß die Ausgelassenheit auch den Rückweg im sinkenden Nachmittag +besteht, durch den sie, nun selber das Grenchenlied singend, über die +Kante des Birrfeldes nach Müligen hinunter kommen. + +Andern Morgens nehmen sie Anna für ein paar Tage mit nach Zürich, wo +sie das Rote Gatter ebenso überraschen will, wie sie selber überrascht +worden sei. Heinrich Pestalozzi gibt ihnen das Geleit bis Baden; der +laute Abschied erinnert ihn an die wehmütige Winterschiffahrt, und daß +ihm die Brüder mit ihrer Ausgelassenheit die Geliebte für ein paar +Tage entführen, ist ihm auch nicht recht; doch läßt sie ihm ein inniges +Wort zurück, das er feierlich durch den Morgen nach Hause trägt: Ich +will deiner Mutter meine Hoffnung sagen! + +Er ist noch keine Viertelstunde unterwegs, als er den übrigen Schwall +schon vergessen hat und nur noch an das Glück denkt, das sie bei der +Mutter mit ihrem Geständnis einbringen wird. Dabei lallt er die sieben +Worte immerzu; sie bilden eine Perlschnur, an der die beiden Frauen +als die letzten angereiht sind -- bald werden sie eins weiter gerückt +und in die Kette eingereiht sein -- ihm aber ist sie mit der Sorge in +die Hand gelegt, daß die Perlen bei dem Wechsel der Vergangenheit in +die Zukunft keinen Schaden nähmen. Was bin ich, und was wird aus mir +werden? hat er ins Tagebuch seiner Frau eingeschrieben; aber auf die +Anklage seines Leichtsinns hat das Gefühl der Vorsehung einen Segen +gelegt, den er glücklich in den Lerchenmorgen hinein trägt: Was er ist, +darauf haben die beiden Frauen in unübersehbaren Stunden Schätze der +Liebe gehäuft. Und wenn er ein sinnloser Verschwender damit würde, es +kann ihm nicht gelingen bis in den Tod, sie auszugeben! Als ihn kurz +vor Brugg ein Bettler um Geld anspricht, bietet er ihm alles, was er in +seiner Tasche findet, und geht glücklich weiter, ihm für eine Stunde um +keinen Kreuzer voraus zu sein. + + + 44. + +Es ist auf lange Zeit der letzte reine Morgen für Heinrich Pestalozzi; +denn noch am Nachmittag erfährt er, daß über seine Unternehmung die +absprechendsten Gerüchte in Umlauf sind, sodaß der unvermutete Besuch +der Schwiegermutter nachträglich eine unfreundliche Bedeutung erhält. +Nicht lange danach, daß Anna wieder von Zürich zurück ist, erscheint +auch der Bankier Schultheß im eigenen Reisewagen mit zwei Söhnen und +einem Bedienten, die Grundlage seines Darlehens zu prüfen. Er will +jedes Feld und die Art der Besserung sehen, das Haus mißt er selber mit +dem Maßstab in den Fundamenten aus: er hat dabei eine Art, zornig den +Kopf zu schütteln, aber das ist nur eine Angewohnheit des alten Herrn, +und am Ende geht es wie mit der Schultheßin: die Stimmung bessert sich, +und wie damals Anna fährt nun Heinrich Pestalozzi mit dem Besuch nach +Zürich zurück. + +Sie sind kaum fort, als Anna hört, daß der Bediente unterdessen seine +eigenen Wege im Birrfeld gegangen ist, überall die Meinung aushorchend; +auch bei dem Märki ist er gewesen: nach seinen boshaften Bemerkungen +mit dem kläglichsten Ergebnis. Sie nimmt sich vor, es zu verschweigen, +aber als Heinrich Pestalozzi nach einigen Tagen von Zürich zurückkommt, +weiß er schon alles und wie das Urteil dieses Bedienten die Stimmung im +Gewundenen Schwert macht. Noch am gleichen Tage gehen sie miteinander +in den Letten hinauf, sich selber zu vergewissern, ob der tüchtige +Stand der Felder doch nur eine Selbsttäuschung wäre. Sie finden die +Esparsette auf den steinichten Ackern gut angesetzt, und auch die +Krappflanzen lassen sich nicht übel an; aber die boshaften Worte +des Bedienten werden damit nicht ausgewischt, und als Heinrich +Pestalozzi gegen die Baustelle seines stolzen Hauses kommt, faßt ihn +der Unwille so, daß er sich abwendet; gerade das ist von dem Bankherrn +zu kostspielig gefunden worden. Schlimmer aber als alles ist ihm das +Unkraut der Feindschaft, das der Bediente aus den Dörfern ans Licht +getragen hat. Er schreibt zwar noch eine lange Darlegung an den +Geldgeber, aber als Antwort kommt nach drei Tagen die unumwundene +Mitteilung, daß er die Unternehmung als ruiniert ansehe. + +Es ist Anfang Mai, als das geschieht, und für den Sommer trägt Anna +ein Kind unter dem Herzen; die frohe Hoffnung seiner Geburt vermehrt +nun die Sorgen dieser Tage. Es kommen zwar noch der Junker Meis und +der Pfarrer Schinz als Sachverständige zur Prüfung; sie finden, daß +mehr als eigentliches Mißgeschick die allgemeine Unkenntnis der bei +Tschiffeli erlernten Neuerungen den vorwitzigen Herrenbauer bei den +Leuten ins Gespött gebracht hat, und daß der Haß sich eher gegen s +einen Ratgeber Märki als ihn selber richtet. Auch treten sie ihm mit +Wärme bei in ihrem Gutachten; aber der Bankherr will wie alle Geldgeber +das Gold wachsen sehen, Mitte Mai kündigt er die Gemeinschaft, und +bevor Heinrich Pestalozzi seine Dinge ins Gehen bringen kann, sind +ihnen die Beine schon abgeschnitten. + + + 45. + +Das Kind wird im August geboren; es ist ein Knabe, den sie Hans +Jakob nennen. Obwohl der Bankherr noch einmal begütigt worden ist, +weiß Heinrich Pestalozzi, daß sein Mißtrauen nur auf den günstigen +Augenblick wartet, sich ganz zurückzuziehen. Die Sorgen und Kämpfe +um die Rettung seiner Existenz haben ihn so täglich beansprucht, +daß er mit Scham und Schrecken vor den Richterstuhl des Ereignisses +kommt. Seine Mutter ist zur Pflege da; sie legt ihm das kleine Wesen, +das aus dem Schoß der Geliebten ans Licht gebracht worden ist und +erschrocken von dieser Reise mit seinem dünnen Stimmchen schreit, mit +einem wissenden Lächeln in die Hände. Er vermag der Erschütterung +nicht standzuhalten, gibt ihr in einer abergläubischen Furcht das +Kissenbündel zurück und läuft in den sinkenden Sommertag hinaus. Seit +seinem Unglück mit dem Bankherrn ist ihm zumute, als ob alles mißraten +müsse, was seine Hände anfassen, und dies ist eine lebendige Seele. + +Doch irrt er noch im Schatten seiner Bäume, als ihm eine Stimme aus dem +Ungewissen Halt ruft: Ob er das Kind in seine Hände nimmt oder nicht, +es bleibt sein Sohn, mit dem er gegen Gott und die Welt in eine neue +Verantwortung getreten ist. Da gilt es andere Eigenschaften, als in +feigem Aberglauben davon zu laufen. Indem er sich beschämt nach dem +Haus zurück wendet, darin er sein Kind, seine Frau und seine Mutter +in der Heiligkeit einer Menschengeburt verlassen hat, und in einem +einzigen Aufblick die ewige Verantwortung seiner Vaterschaft fühlt, +erkennt er auch, wie kläglich seine Sorgen und Kämpfe in den Monaten +zuvor am Vergänglichen gehangen haben: Ein stolz gebautes Wohnhaus und +blühende Kleefelder, Darlehen und Kaufbriefe sind keine Dinge, die vor +Gott wichtig stehen; er ist ein Narr der Täglichkeiten geworden wie +tausend andere und hat keine Zeit mehr für seine Seele gehabt, die sich +darum furchtsam verkriechen wollte, wo etwas anderes als Geschäfte an +sie kam. + +Die Frauen fürchten sich fast, als er wieder zu ihnen in die Kammer +tritt, so sehr ist sein Gesicht von Tränen überströmt; auch verstehen +sie seine Gebärde nicht, wie er das Kind aus der Wiege nimmt. Er macht +es nicht recht, und seine Mutter springt ihm bei, daß er kein Unheil +anrichte mit den kleinen Gliedern; dann aber muß sie lächeln, wie er +in seiner Ungeschicklichkeit dasteht, die beiden Arme vorgestreckt, +das Kissen zu halten, darauf das Neugeborene mit seinem struppigen +Kopf liegt. Er läßt sich ehrfürchtig nieder mit einem Knie, wie wenn +er es darbringen wollte, steht auch nicht auf, als ihm die Mutter das +Bündel vorsichtig wieder abnimmt und in die Wiege legt. Darin hast du +auch gelegen, sagt sie scherzend, um ihn nicht zu erzürnen, und bringt +die Wiege leise tuschelnd in Gang, weil das Knäbchen schon wieder +weinen will. Heinrich Pestalozzi, den die Scham fast tötet, als Kind, +Mann und Vater im Geheimnis der Zeugung entblößt zwischen den Frauen +dazustehen, hört es nicht; erst als Anna ihn ängstlich bei Namen ruft, +hebt er die Augen wieder in die Welt und sinkt weinend zu ihr hin, wie +wenn er ihr ein Unrecht angetan hätte, daß er sie aus ihrer einsamen +Jungfrauenschaft zu einer Mannesfrau und Mutter machte. Sie aber, die +nur das Glück der Erlösung darin empfindet, streichelt ihm vielmals +die schwarzen Haare, als ob er ihr Neugeborener wäre: Heiri, sagt sie, +und ihre Stimme geht auf dem süßesten Grat der Liebe, nun muß unser +Haus bald fertig sein! + + + 46. + +Die Größe und Kostspieligkeit des Wohnhauses ist von den Ratgebern +des Bankherrn am meisten getadelt worden; aber Heinrich Pestalozzi +hat nicht an ein notdürftiges Dasein gedacht, als er mit seinen +landwirtschaftlichen Zukunftsplänen aufs Birrfeld kam. Nun er auf +weitere Gelder nicht mehr rechnen kann, nimmt er dem Haus das obere +Stockwerk fort und läßt das flache Zeltdach gleich auf die Steinmauern +des Erdgeschosses stellen; es wird zwar etwas anderes als eine +italienische Villa daraus, aber es kann noch vor dem Winter gedeckt Und +zum Frühjahr eingerichtet werden. + +Das unsichere Verhältnis mit dem Gewundenen Schwert schleppt sich +indessen unter Mißtrauen und Vertröstungen über den Herbst hin, bis +seine Freunde in Zürich ein Abkommen zustande bringen, wobei der +Bankherr ein Ende mit Verlust dem Verlust ohne Ende vorzieht und +angesichts der Schädigung, die sein Teilhaber durch diesen Rücktritt +erleidet, unter Zurücklassung von fünftausend Gulden auf das Geschäft +verzichtet. Das ist für Heinrich Pestalozzi, der seinen Dingen noch +immer ihren Wert beimißt, zunächst kein übler Schluß der mißlichen +Angelegenheit; aber aus den berittenen Plänen seiner Musterwirtschaft +werden simple Fußgänger, er kann nicht mehr über Jahre zielen und muß +aus der Hand in den Mund leben wie die andern auch. Für die Krappzucht +hat sich der Boden als zu rauh gezeigt, dagegen steht die Esparsette +ausnehmend gut und könnte Futter für manches Stück Vieh liefern; seine +Freunde raten zur Sennerei, und er müßte weniger Federkraft haben, um +nicht gleich mit beiden Füßen in das neue Arbeitsfeld hineinzuspringen. +Noch über den Winter werden neben der Scheune die Stallungen angebaut, +und als er zum Frühjahr auf Neuhof einzieht, brüllen schon die ersten +Kühe darin. + +Es ist ein verdrießliches Regenwetter, als sie den Umzug machen, +und einmal bleibt der Wagen mit dem Hausrat so in dem aufgeweichten +Landwege stecken, daß sie ihn mitten im Birrfeld bei schneeigem +Schlagregen abladen müssen, wobei ein jedes Stück seine Himmelswäsche +mitbekommt. Dafür ist es auch zum letztenmal, daß wir umziehen, sagt +er zu Anna, die unterdessen mit dem Kind im Pfarrhaus Obdach gehabt +hat, als er sie nachher abholt und ihr das Mißgeschick schildert. Sie +lächelt wehmütig dazu, als ob sie dieser Sicherheit nicht traue. Doch +geht sie tapfer mit, das Kind in Tüchern eingewickelt auf dem Arm, +den Einzug auf Neuhof zu halten. Er schreitet sorglich nebenher und +hält ihren Regenschirm, den sie in den Mädchentagen von einer Reise +mitgebracht hat, über sie und das Kind. Er ist für die Bauern in Birr, +die nur ihre Regentücher kennen, ein so absonderliches Gerät wie die +ganze Landwirtschaft dieses Züricher Stadtherrn: so stehen sie in den +Türen, wie die drei daherkommen; einige Buben laufen ihnen durch die +Nässe nach, und weil ein Witzbold unter den Alten das Wort aufgebracht +haben mag, rufen sie es zum Schimpf hinter ihm her. Heinrich Pestalozzi +hört nicht darauf, weil ihn der Gang sehr bewegt; doch als sie schon +das Dach vom Neuhof im Regen glänzen sehen, hält ihn Anna am Arm zurück +und hat ein seliges Lächeln in den Augen: Achtest du denn gar nicht, +was sie sagen? Sie rufen: die heilige Familie mit dem Regenschirm! + +Er versteht ihre lächelnden Augen lange nicht und erschrickt, als +er den Sinn erkennt, wie über eine Lästerung, sodaß auch ihr das +Lächeln in den Augen untersinkt. Als sie das letzte Stück dann +schweigend gegangen sind und vor das Haus treten, das er für sie und +sich, auch für den Knaben auf ihrem Arm aus kühnen Hoffnungen in +Sorgen hineingebaut hat, vermag sie nicht freudig über die Schwelle +hineinzugehen und beugt sich mit dem Kind weinend an seine Brust, als +ob dort eine bessere Heimat sei als in der Ungewißheit dieser Steine. +Nun aber hat sich ihr Lächeln in ihm zur Glut entzündet; gleich einem +Wanderstab hält er den zusammengeklappten Regenschirm in der Hand und +ist noch einmal Jüngling seiner rauschhaften Stunden: Die Knaben haben +recht; es mag wohl sein, daß wir dies bald verlassen müssen wie Joseph +und Maria auf der Flucht. Drum laß uns, Liebe, nur zur Rast eintreten, +weil es doch regnet. Vielleicht, daß morgen schon wieder die Sonne auf +unsere Wanderung scheint! + + + 47. + +Heinrich Pestalozzi beginnt seine eigene Wirtschaft auf dem Neuhof +mit ungefähr hundert Jucharten; doch liegen die einzeln gekauften +Acker nicht beieinander; er muß vielfach über fremde Felder fahren, +wenn er zu den eigenen will, und wiederum andere Bauern fahren ihm +über die seinen. Das macht Verdrießlichkeiten, weil er sich nicht an +ihre Dreifelderwirtschaft binden und die vorgeschriebenen Zeiten der +Zelgenwege einhalten kann. So muß er darauf sehen, sein zerstreutes +Gut durch Tausch und Kauf einheitlich abzurunden, Und ist bald in +hundert Händeln. Der Metzger Märki spielt darin immer noch die +Hauptfigur, er hat die nötigsten Stücke an sich gebracht, wie er sagt, +um der Preistreiberei der Bauern zuvorzukommen; aber darum sind seine +Forderungen nicht weniger gesalzen, und als es ihm gelingt, das gute +Land in den Hummeläckern gegen ein steinichtes Feld in den Letten zu +tauschen, das Heinrich Pestalozzi für sein Wegrecht nötig braucht, ohne +Nachzahlung, obwohl es nur halb so groß ist: wird dieser Handel zum +Wirtshausgespött im ganzen Birrfeld, um so mehr, als der Märki selber +mit dem Gelächter hausieren geht. + +Nachher wird dem schlauen Händler freilich die Haustür im Neuhof +zugemacht; aber weil er wirtet und das halbe Dorf in der Fron hält mit +Trinkschulden -- wie den Tanner, der den Nußbaum fällte -- hat Heinrich +Pestalozzi einen gefährlichen Feind an ihm. Gleich nach seinem Einzug +auf Neuhof ist er schon mit der Dorfgemeinde Birr in Streit gekommen um +einen Pfad nach Brunegg, den sie ihm mitten über seine Äcker laufen. Es +führt zwar auch ein Fahrweg gegen den Wald hinauf, aber in den Zeiten, +da die Felder meist unbebaut gelegen haben, ist der schnurgerade +Pfad eine Gewohnheit geworden, deren Beseitigung sie dem Herrenbauer +verübeln. Er versucht es mit Dornruten und Verhauen: aber was für +Hindernisse er auch am Tag baut, in dunkler Nacht werden sie hartnäckig +wieder zerstört, bis er den Weg durch den Pfarrer ins Verbot legen +läßt. Damit bringt er endlich sein Recht zur Geltung, aber die Gemeinde +ist ihm seitdem übel gesinnt, und als er auch den Weidegang auf seinen +Feldern öffentlich und rechtlich untersagen läßt, beruft sich die +Bauernsame von Birr auf ihr besonderes Weidrecht und fordert auch die +von Lupfig auf, dem neumodischen Herrenbauer auf Neuhof den Prozeß +anzusagen. Obwohl die Lupfiger sich dessen weigern, gibt es einen +langen Rechtshandel, der ihn die bäuerliche Verbissenheit in täglichen +Molesten spüren läßt. + +Endlich wird zwar durch obrigkeitliche Entscheidung das Weidgangsrecht +auf seinen Feldern gegen einen jährlichen Bodenzins von einem Neutaler +aufgehoben: aber gerade das setzt in den Köpfen der armen Tanner, +die keine eigenen Matten haben und auf den Weidgang angewiesen sind, +das Gefühl eines Unrechts fest, das ihnen von dem neuerungssüchtigen +Herrenbauer angetan wird. Was durch seine anfängliche +Handelsgemeinschaft mit dem Märki begonnen wurde, das wird nun durch +dessen hinterhältige Feindschaft vollendet: die Armen, denen zu helfen +die heimliche Hoffnung seiner Bauernschaft gewesen ist, hassen ihn +als einen neuen Ausbeuter ihrer Not. Und da der Neuhof kein einsames +Bauernhaus ist, sondern oft städtischen Besuch erhält, da namentlich +Anna einen freundschaftlichen Verkehr mit den Frauen der umwohnenden +Herrenleute unterhält, ist Heinrich Pestalozzi selber in die Rolle +eines der Stadtherren gekommen, wie er sie in seiner hitzigen Jugend +zu Höngg verabscheute; denn was für Sorgen und Nöte er unterdessen mit +seiner Besitzung hat, das sehen die Armen bei ihm so wenig, wie er es +damals sah. + +Eines Nachmittags muß er eine Bekannte seiner Frau zum Pfarrer nach +Birr zurück begleiten, wo sie auf Besuch ist. Sie kommt aus Zürich +und ist mit dem Aufwand der städtischen Mode derart geputzt, daß die +Kinder aus den Häusern kommen und einige ihr nachlaufen. Gleich hat sie +einige Batzen zur Hand, die sie zum Spaß hinwirft: nicht anders, als +ob Hühner nach hingestreutem Futter sprängen, sind sie augenblicklich +in einer Balgerei, die gleich einem Ball von Staub und Geschrei über +den Weg rollt. Andere laufen neugierig herzu, und da die Zürcherin +sich den Spaß noch ein paar Batzen kosten läßt, vergrößert sich der +balgende Knäuel, indessen die herzlose Person vor Lachen wie toll +auf ihren zierlichen Stiefelchen herum springt. Bisher hat Heinrich +Pestalozzi alles für unbedachten Übermut gehalten, aber als sie ihm +mit schadenfrohen Augen entgegen tritt -- da haben Sie Ihr Volk, Herr +Pestalozzi -- und lachend gegen das Pfarrhaus davonläuft, erkennt +er, daß der unwürdige Auftritt sein Gespräch mit ihr beantworten und +verhöhnen soll. + +Der Zorn über ihre Herzlosigkeit macht ihn wild: Dann gehöre ich +auch dazu! schreit er ihr nach und fährt mitten in die Balgerei. Das +erste, was er ergreift, ist der Schopf eines stakigen Mädchens, das +gerade über einen Vierjährigen herfällt, ihm seinen Batzen aus der Hand +zu reißen. Ehe er noch selber weiß warum, hat er sie und ein halbes +Dutzend der andren verwalkt und ihnen, soviel sie kratzen und beißen, +die Batzen abgenommen. Einigen gelingt es, mit ihrer Beute davon zu +laufen; die nichts haben, bleiben stehen, und als er das eroberte +Geld überzählt, braucht er nur drei Batzen aus seiner Tasche hinzu zu +legen und er hat für jeden einen: Hier ging Gewalt vor Recht, sagte +er, nun aber steht Recht vor Gewalt! zählt jedem seinen Batzen aus, +vom Kleinsten angefangen, und heißt sie heimlaufen. Die nichts gerafft +hatten, denen ist es recht, die andern aber -- die ihr erobertes +Eigentum aus seinen Händen verteilt sehen -- rufen mit mörderlichem +Geschrei die Ihrigen zur Hilfe, sodaß Heinrich Pestalozzi froh ist, +als er den letzten Batzen verteilt hat und sich heim wenden kann. +Doch hängt sich das schreiende Gefolge an ihn, und einige Mütter, +von ihren Kindern aufgeklärt, fordern drohend den Raub zurück. Unter +Schimpfreden und Steinwürfen kommt er gegen den Neuhof, wo ihn Anna mit +dem Knaben an der Hand erschrocken empfängt; denn nun erst nimmt er +wahr, daß er im Gesicht und an den Händen von Kratzwunden blutet und +mit seinen Kleidern durch den Staub gewälzt ist. In der folgenden Nacht +geschieht es zum ersten Mal, daß ihm einige von seinen blitzblanken +Fensterscheiben eingeworfen werden. + + + 48. + +Das Ergebnis dieser mißglückten Ausgleichung erschüttert Heinrich +Pestalozzi ebenso tief wie der höhnische Anlaß, und tagelang vermag +er nicht mehr an seine Dinge zu gehen, so mutlos wird er. Es ist nun +schon das sechste Jahr, daß er sich müht mit der Landwirtschaft, und es +ist nichts dabei heraus gekommen, als daß er sich und andere in Sorgen +und Verluste gebracht hat; er sieht kein Ende, danach es anders werden +könnte. Indessen gibt es solche Stadtfräuleins und solche Bettelbuben, +als ob sie in der Welt sein müßten wie alles Gute auch, und aus allen +seinen Plänen geschieht nichts, was etwas daran ändern könnte; denn +selbst, wenn er zum Wohlstand seiner Träume käme: die Unfeinheit +der einen und die häßliche Habgier der andern wäre damit doch nicht +geändert. Wieder einmal erkennt er die Quellen allen Übels in der +Natur des Einzelnen; und furchtsam sieht er auf seinen Knaben, der nun +ins vierte Jahr geht und die ersten Anzeichen seiner Persönlichkeit +nicht mehr verbirgt. Es ist sein Sohn, und schon meint er die eigenen +Fehler an ihm zu sehen, seine Zerstreutheit, Unordnung und den unsteten +Eigensinn. Namentlich die listigen Versuche des kindlichen Eigensinns +besorgen ihn; es ist nicht anders, als ob der kleine Geist unausgesetzt +eine Machtprobe gegen die Erwachsenen mache. + +Unvermutet kommt Heinrich Pestalozzi in Eifer, an seinem Jaköbli +den Schlichen und Trotzproben dieser kindlichen Willenskraft mit +Experimenten nachzugehen, immer bemüht, die störenden Blätter beiseite +zu biegen, damit der Kern aus sich selber wachsen könne. Er sieht +erstaunt und betroffen zugleich, wieviel Schleichwege der kindliche +Geist schon kennt, der Erziehung auszuweichen, und wievieler Strenge +es bedarf, ihn dieser Schleichwege zu entwöhnen. Die Erinnerung an +die eigene Jugendzeit macht seine Besorgnisse nicht geringer; denn +nun meint er zu sehen, warum er selber solch ein im Wind der Gefühle +schwankendes und von dem Rankenwerk wirrer Einfälle behangenes +Gewächs geworden ist. Anna versucht ihm zu wehren, wo er dem Kleinen +zu arg zusetzt; aber als der Winter gekommen ist, scheint es seinem +entzündeten Eifer schon, als gäbe es nichts Dringlicheres für ihn und +andere in der Welt, als diese Dinge in unausgesetzten Versuchen klar zu +stellen; denn alles, was mit einem Menschen später auch geschähe: seine +Kindheit bliebe die Wurzel seines Schicksals; wie die ins Erdreich +finde, so wüchse es. + +Als das Schwierigste erkennt er bald, die Wartung der kleinen Seele +so zu halten, daß sie den Mut und die Freude nicht verliert; und es +ist sein Knecht, der ihn auf diese Weisheit bringt. Denn als der das +Jaköbli einmal in seiner Gegenwart einige Weisheiten sagen läßt, die +er draußen am Bach mit ihm gelernt hat, und mit Vaterstolz fragt: ob +der Knabe nicht ein gutes Gedächtnis habe? schüttelt der Knecht, der +mit der kindlichen Munterkeit auf einem andern Fuß steht, traurig +den Kopf: Das wohl, jedoch Ihr übertreibt es mit ihm! Und als er ihm +betroffen sagt, das könne nicht wohl sein, weil das Jaköbli sonst +sicher die Freude verlöre und furchtsam würde; dann hieße es natürlich, +vorsichtig seinem Geist nachzugehen -- da richtet sich der Klaus von +seinem Holzscheit auf, daraus er einen Schwengel schnitzen will, und +die Freude steigt ihm ins ehrliche Gesicht: Ihr achtet also des Mutes +und der Freude! Eben das hatte ich gefürchtet, daß Ihrs vergessen +würdet! + +O, Klaus, sagt Heinrich Pestalozzi da zu seinem Knecht, und der +Schrecken mischt sich mit dem Glück über das Wort: alles Lernen wäre +nicht einen Heller wert, wenn Mut und Freude dabei verloren gingen! + + + 49. + +Es ist zum erstenmal, daß Heinrich Pestalozzi sich selber als +Entdecker fühlt; was er bis dahin auch getrieben hat, von seiner +Jünglingsschriftstellerei bis zur Landwirtschaft, immer hat ein anderer +das Tor aufgeschlossen: hier aber hält er den Schlüssel selbst in der +Hand, und so scheint ihm auch die nebensächlichste Erfahrung seiner +Erziehungsversuche wichtig genug, sie in einem besonderen Tagebuch +wortwörtlich aufzuzeichnen. + +Mit diesen Aufzeichnungen tritt er aber auch den Gedanken seiner +Jugend wieder näher, und als im Frühjahr die Helvetische Gesellschaft +ihre vierzehnte Tagung in Schinznach abhält, pilgert er hinüber, zum +erstenmal im Kreis dieser Männer zu sein, die aus dem herrschsüchtigen +Kantonsgeist wieder einer Eidgenossenschaft im Sinn der Väter +zustreben. Da sieht er den greisen Ratschreiber Iselin aus Basel, +dessen Gestalt als ein neuer Stauffacher in der jungen Schweiz ein +sagenhaftes Vorbild ist, und all die andern Träger würdiger Namen. +Er meint fast, noch einmal in der Gerwe zu sein, so werden die +spartanischen Vorbilder seiner Jünglingszeit in einem Vortrag wach, den +der Landvogt Tscharner von Wildenstein hält; aber während der Mann die +Abhärtung des Körpers und der Seele als Losung gegen den weichlichen +Luxus der Zeit ausgibt, fängt es in ihm selber anders an zu brennen: er +denkt an die Scharen der Bettelkinder, und daß keinem Tanner auf dem +Birrfeld mit einer solchen Losung gedient sei, die für die Herrenkinder +und Stadtbürgersöhne allein gedacht ist. Er sieht die gepflegten +Gesichter der Zuhörer, die aus der Sicherheit ihres Standes tapfer und +begeistert sind, gegen den Luxus zu kämpfen, und kommt sich plötzlich +als ein Fremdling der Armut unter ihnen vor: Es ist eine ältere +Generation! will er sich trösten; aber als er am andern Nachmittag +allein auf der Höhe bei Brunegg steht, wo der Blick zurück auf das +saubere Bad Schinznach trifft, aber vor ihm in die armselige Breite +des Birrfeldes geht, fühlt er die Scheidung der Menschlichkeit in arm +und reich wie zwei feindliche Heerlager, dazwischen er selber als +heimatloser Überläufer im Zwiespalt geblieben ist. Sein Jaköbli bekommt +zwar danach manches von den spartanischen Vorschlägen des Landvogts zu +spüren, aber ihn selber treibt sein Gefühl in andere Notwendigkeiten. + +Unterdessen machen ein böses Frühjahr und ein trockener Sommer auch +die Hoffnungen seiner Sennerei zunichte. Die ersten Viehkäufe hat ihm +der Märki noch besorgt, und es sind nicht einmal die schlechtesten +gewesen; als er sich selber in die Untiefen der Märkte wagt, stellt +er oft genug den Dummen dar, den die Händler suchen. Auch hat die +kostspielige Einrichtung Schulden auf ihn gelegt, deren Zins ihn schon +in guten Zeiten drückte; nun selbst die Bauern mit fetteren Ländereien +in Futternot geraten, sitzt er auf seinem steinichten Neuhof bald in +der Dürre da. Ein Stück Vieh nach dem andern geht ihm fort, bis der +Rest den Aufwand seiner Sennerei nicht mehr ertragen kann. Da er mit +den Zinsen in Rückstand bleibt, werden die Gläubiger besorgt; als erst +einer sein Kapital gekündigt hat, folgen die andern dem Beispiel, und +so steht eines Tages Heinrich Pestalozzi zum zweitenmal vor der Not, +daß ihm seine Besitzung versteigert wird. + +Es liegen fünfzehntausend Gulden Schulden darauf, und diesmal ist kein +Bankherr als Teilhaber da, der sich mit einem Verlust herauszieht. So +bitter und demütigend es für Heinrich Pestalozzi ist, nun können nur +noch die Erbhoffnungen seiner Frau den Neuhof retten. Sie einigt sich +mit ihren Brüdern -- und hat nicht einmal Tränen gegen ihren Spott -- +daß sie die dringendsten Schulden für einen entsprechenden Verzicht +auf ihre Erbschaft übernehmen. Nur glauben die nicht mehr an seine +Landwirtschaft und richten ihm einen Baumwollenhandel ein, wo sie nach +Zürcher Art den Rohstoff liefern, den er im Birrfeld zum Spinnen und +Weben in die Häuser geben muß, sodaß er nichts als den karg bezahlten +Aufseher ihrer Geschäfte vorstellt. Als endlich stürzende Herbstfluten +den dürren Sommer auslöschen, ist von dem Traum seines Lebenskreises, +der Wohlstand und Segen in der ärmlichen Landschaft verbreiten soll, +nichts geblieben, als daß er im Dienst städtischer Fabrikherren +die Not des Bauernvolks ausnützen hilft; und es bedürfte nicht der +Erinnerung an den Ernst Luginbühl im Webstuhl und an den Großvater mit +seiner Verachtung dieser ins bäuerliche Leben einfressenden Industrie, +um ihm sein zertretenes Dasein zur Qual zu machen. + + + 50. + +Es sind nicht immer die eigenen Kinder der Bauern und Tanner, +die Heinrich Pestalozzi in den Baumwollstühlen das Elend ihrer +verwahrlosten Jugend weben sieht, sehr häufig sind es Waisen, von der +Gemeinde ausgedungen, die ihren Pflegern das harte Brot verdienen +müssen. So schneidend traurig es für ihn ist, daß er Anna und ihren +Knaben mit in den Zusammenbruch seiner Traumgebäude gerissen hat, +schlimmer greift es ihn an, Helfershelfer dieser Ausnützung zu sein. +Sein Herz zittert, wenn er in die Häuser muß, und das früh verblaßte +Gesicht Ernst Luginbühls kommt wieder in seine Träume. Immer deutlicher +fühlt er die Hand des Schicksals, die ihm alles zerbricht, was er +selbstgefällig in seine Hand nimmt; und tagelang kann er verscheucht +im Neuhof sitzen, über seine Schuld an diesem Schicksal zu grübeln. +Zuletzt empfindet es sein verscheuchter Geist fast als Milderung, daß +die Teuerung ihm noch schlimmeres Elend vor den Neuhof treibt. + +Denn die an den Webstühlen sitzen, haben immer noch Bett und +Brot, während ihrer viele von der Hungersnot in den Straßenbettel +getrieben werden, daß sie wie herrenlose Hunde die Häuser der Reichen +umlagern und auf den Abfall der Haushaltung warten. Auch vor den +Neuhof kommen sie scharenweis, und Heinrich Pestalozzi, der ihre Hudeln +und die von der Krätze entstellten Hände, ihre Frechheit und die +Verkommenheit der jungen Gesichter sieht, kann Tränen der Bitterkeit +weinen, wenn er bei diesem Anblick an den Vortrag des Landvogts +Scharner denkt; solange es Luxus und dieses grausame Elend gleichzeitig +gibt, sind alle patriotischen Träume leichtsinnige Spielereien. Es +treibt ihn, sich ganz zu den Enterbten zu schlagen, und oftmals nimmt +er ihrer einige ins Haus, mehr als das Brot mit ihnen zu teilen; er +sieht, wie unmenschlich sie schon geworden sind, gierig und in aller +Heimtücke der Verstellung geschickt: aber er wendet unermüdlich die +Erzieherklugheiten an, die er an seinem Jaköbli erfahren und geübt +hat und immer sicherer wird es ihm, daß er damit an ein Zaubermittel +rührt, ihrer Verkommenheit statt von außen von innen zu begegnen. +Was sonst in Stadt und Land sich als Wohltätigkeit breitmacht, setzt +eine Weltordnung voraus, dazu die hilflose Verkommenheit der Armut +so unabänderlich gehört wie der Überfluß des Reichtums, während -- +das wird ihm sicherer mit jedem Tag -- in jedem dieser Bettelkinder +der natürliche Keim zu einem rechtschaffenen Menschen steckt, nur +daß keiner daran denkt, den zu bilden und also der Armut von innen +beizukommen. + +Was in andern Zeiten für Heinrich Pestalozzi nur eine hitzige Erfahrung +gewesen wäre, das ergreift seine gedemütigte Natur nun zur Rettung, und +eines Tages löst die Verzweiflung dieser Zeit die tiefe Erkenntnis +seines Schicksals aus: Ich mußte arm werden aus meinem Hochmut der +Wohlhabenheit; denn wie soll einer dem Armen helfen können, der mit +den Sorgen seines Besitztums belastet ist? Wohlstand und Reichtum +sind Zwangsherren; was für Umstände und Vorsichten braucht es, sie zu +erhalten? Der Reiche kann nicht der Bruder des Armen sein; denn Geben +und Nehmen scheidet ihre Seelen. Darum steht im Evangelium geschrieben: +verkaufe, was du hast, und gibs den Armen! + +Seine Frau erschrickt, wie sie die Botschaft hört; sie fühlt sofort, +daß dies eine neue Prüfung wird; doch kennt sie ihre Sendung, das +Senkblei seiner Stürme zu sein, und obwohl sie um ihren Knaben zittert +-- der durch all die neuen Worte des Vaters nicht gestört worden +ist, aus seinen Brettchen ein Haus zu bauen, und der sie ungestüm an +der Hand herbei holt -- nickt sie dem Mann erst zu, bevor sie das +Wunderwerk des Knaben bestaunt. Es ist einer wie der andere, denkt sie +und sieht die Spalten zwischen den Brettern, die trotzdem ein Dach +bedeuten sollen: aber es sind Männer und sie wollen bauen, während wir +Frauen wohnen möchten. + +Heinrich Pestalozzi hat nichts von ihrer Bewegung gemerkt, er ist +hinausgegangen in den Abend, wo der verspätete Herbstregen schon wieder +in Strömen fließt, und läuft dem Sturz seiner Gedanken nach bis in die +Dunkelheit. Und während die Täglichkeit danach auf dem Birrfeld ihre +Herbstarbeiten macht und mancher Blick mit Mitleid das niedrige Dach +des Neuhofs streift, wo die Sorgen -- wie jeder weiß -- dem vorwitzigen +Herrenbauer aus Zürich ans Fundament seines Daseins gegangen sind, +sitzt Heinrich Pestalozzi glücklich bei seinem Knaben und baut Häuser, +Brettchen auf Brettchen, ob sie zusammenstürzen, unermüdlich aufs +Neue, bis der Plan seiner Armenkinderanstalt fertig ist: Ich habe ein +zu großes Haus, sie haben keins; mir fehlen die Hände, die Felder zu +bestellen, und ihnen mangelt die Arbeit! Was gilts, wenn wir Armen +uns zusammentun, sind wir reich! Sie sollen mir spinnen für ihren +Unterhalt, und ich will sie lehren. Ich will sie säubern von ihrem +Schmutz und will selber rein werden von den Geschäften, für die ich +nicht geschaffen bin. Ich habe mein Haus Neuhof genannt, als ob es eine +Neuigkeit wäre, noch ein Haus wie tausend andere dahin zu stellen; nun +aber soll es ein Neuhof sein, wie keiner vordem war: ein Neuhof, wo die +Armut sich selber durch Arbeit und Lehre zur Menschlichkeit verhilft, +die sonst in Faulheit und Laster betteln geht. Jetzt weiß ich, warum +ich auf dieses steinichte Birrfeld mußte; und wenn weiter Sorgen und +Not kommen, will ich sie gern tragen, weil es die Sorgennot der armen +Menschheit, nicht mehr die meine ist! + + + 51. + +Das Jahr ist noch nicht zu Ende, als Heinrich Pestalozzi schon die +ersten Bettelkinder im Hause hat. Er kalkuliert, daß der Abtrag ihrer +Arbeit die Kosten einer einfachen Erziehung bestreiten müsse, und gibt +sich zuversichtlich daran, die Sennerei in einen Raum zum Spinnen +umzuwandeln, den er seine Fabrik nennt. Die Schwäger in Zürich, die mit +seinen Baumwollgeschäften schon unzufrieden waren, lamentieren über +den neuen Plan und beschwören Anna, daß sie ihn davon abhalten möge. +Ihnen, die seine Lage kennen, darf er sein Herz nicht öffnen, er muß +ihnen vorrechnen, daß es für ihn selber eine Rettung aus seinen Nöten +sei; es fällt ihrer Geschäftsgewandtheit nicht schwer, ihm die Irrtümer +seiner Kalkulation mit spöttischen Fragezeichen anzumalen; aber weil +Anna mit Standhaftigkeit die Mutterschaft seines Armenkinderhauses +antritt, schlägt er den Widerstand nicht an. + +Für Anna ist es ein Opfer, sie fängt schon an zu kränkeln, auch +stehen ihr als Stadtherrnkind die Hände nicht danach, verwahrlosten +Bettelkindern die Läuse abzulesen. So schlimm es ihr erging in den +Kämpfen dieser Jahre, in den Stuben ist die Ordnung und Reinlichkeit +ihrer Gewohnheit geblieben, Freunde sind auf Besuch gekommen, und +wenn Abends die Messinglampe brannte, senkte sich doch ein Stück +Gottesfrieden in ihren warmen Schein: nun geht das alles hin wie +ein schöner Traum; als ob sie selber mit ihrem Knaben ins Armenhaus +gekommen wäre, dringt der Geruch der Hudeln und das Geschrei der +Verwahrlosung durch ihre behüteten Räume. Aus sich selber hätte sie +dergleichen niemals vermocht, obwohl es ihrem Herzen nicht an Edelmut +fehlt; der gierigen Tatensucht ihres Gatten vermag sie um so weniger zu +widerstreben, als sie das Glück sieht, das nach der mutlosen Dumpfheit +so vieler Jahre über ihn gekommen ist. Sie hat ihn nun wieder, wie er +als Jüngling werbend vor ihr gestanden hat, trotzig bereit, sich die +Adern aufzuschneiden, wenn sein Blut für etwas Edles fließen müßte; +und da es dieser rauschhafte Edelmut ist, um dessentwillen sie ihn +andern Männern von soliderer Daseinsfestigkeit vorgezogen hat, nimmt +sie -- zum wenigsten im Anfang -- auch dieses Los gern auf sich, das +ums Vielfache schwerer als das ihres Mannes ist: weil ihr Teil allein +die Aufopferung ist, wo er den Genuß seiner Idee und die Befriedigung +seiner Natur hat. + +Heinrich Pestalozzi weiß von Anfang an, daß es mehr gilt als seine +eigene Anstalt, und daß er wohl die Menschenfreunde des Landes anrufen +darf, ihm beizustehen; wenn erst sein Versuch gerät, ist allerorten +ein Beispiel gegeben, auf menschlichere und gründlichere Art mit der +Bettlerplage aufzuräumen als durch Landreiter: das Wort des Großvaters +in Höngg, daß er andere Mittel wüßte als die monatliche Betteljagd der +gestrengen Herren, liegt ihm dabei wie ein Vermächtnis im Sinn. So +scheut er sich nicht, selber die Betteltrommel für sein Werk zu rühren +und mit einem Flugblatt an den Türen der reichen Häuser in Basel, Bern +und Zürich anzuklopfen. Es ist zum erstenmal seit jener jugendlichen +Mitarbeit am Erinnerer, daß er die Feder in die Hand nimmt; er ist +unterdessen ein Jahrzehnt älter geworden und steht mitten in den Nöten +des Lebens, dem sein Jünglingseifer mit römischen und griechischen +Schulideen zu Leibe wollte. So wird es eine andere Rede, als er sie +damals aus Demosthenes übersetzte, ein Quell wirklicher Nothilfe fließt +darin und rührt an die Herzen, daß vielerorten Gutwillige, von der +Neuheit des Planes wie von seiner hinreißenden Darstellung gewonnen, +dem Urheber auch das Vertrauen schenken, ihn auszuführen. Was er sich +in seiner Lernzeit als Lebensberuf gedacht hat, ein Fürsprech des +niederen Volks zu sein, das ist er damit unvermutet doch noch geworden, +und die Besten im Lande lohnen ihm seine erste Rede mit freudigem Opfer. + +Geschwellt von diesem Beifall wächst sich der Plan bald aus. Anna +Pestalozzi mit zwei Mägden leitet die Mädchen in allen Arbeiten der +Küche und des Haushalts an, sie lernen waschen, nähen, flicken, auch +die einfache Gartenarbeit, während die Knaben mit den Knechten auf die +Felder, in die Ställe und in die Scheune gehen: sie sollen für kein +anderes Leben aufgezogen werden als das der ländlichen Arbeit, wie +es ihrer wartet, und bei allem zugreifen lernen, was die gemeinsame +Haushaltung ihnen unter die Hände bringt. Daneben müssen sie spinnen +und weben, und hierfür hat Heinrich Pestalozzi das Glück, in der +Jungfer Madlon Spindler aus Straßburg eine vortreffliche Lehrmeisterin +zu finden, die bald als das Spinner-Anneli im ganzen Birrfeld bekannt +ist. Er selber gibt den Kindern Unterricht; denn wenn sie auch zu +keinem andern Leben als dem der Armut abgerichtet werden sollen, die +Wurzel seines Planes bleibt doch, Menschen aus ihnen zu machen, die +das Bewußtsein ihrer menschlichen Würde nicht mehr verlören und auch +dem schlimmsten Los die Unverlierbarkeit ihrer Seele entgegenzustellen +vermöchten. So lehrt er sie nicht nur das Abc, sondern versucht in +die zufälligen Wahrnehmungen ihrer Sinne die Ordnung einer bewußten +Anschauung zu bringen, indem er sie anleitet, über das Gefühl des +Augenblicks das Urteil ihrer eigenen Erfahrung Meister werden zu +lassen. Was er selber in den Gesprächen mit dem Jaköbli erfahren hat, +wendet er nun an, und ob er oft einsehen muß, daß ihm viel zu einem +Schulmeister fehlt, weil er zu hitzig und zu blind in seinem eigenen +Eifer wird, sodaß er leicht mit einem Gedanken schon ans Ende gelaufen +ist, während sie noch begossen vom Schwall seiner Worte den Anfang +garnicht gefunden haben: so verliert er doch hierin den Mut nicht, +schließlich die rechten Kunstmittel zu finden, um auch im Blödesten +noch den Keim zu wecken. + +Über allem aber steht wie eine himmelhohe Rauchsäule das Glück, als +Dreißigjähriger endlich dem Leben zu dienen, statt sich im Erwerb der +Lebensmittel aufzureiben. Als der Ratsschreiber Iselin eine Zeitschrift +nur für die Fragen der Volkswohlfahrt gründet, die er die Ephemeriden +nennt, glaubt Heinrich Pestalozzi wirklich wieder in den Zeiten der +Gerwe zu leben; nur, was damals Überschwall jugendlicher Ideen gewesen +ist, das lebt nun als Tat und Wirklichkeit, und er steht mitten drin. +Kein Geringerer als der Landvogt Tscharner auf Wildenstein tut ihm die +Ehre an, in siebzehn Briefen über Armenanstalten auf dem Lande seine +Pläne zu erörtern; und wie er ihm darauf mit eigenen Briefen in den +Ephemeriden antworten, seine Ansichten und Bedenken, seine Hoffnungen, +Erfolge und Enttäuschungen vor den Gebildeten seines Landes darlegen +darf, in der Gewißheit, man achtet seiner und horcht auf ihn: da steht +Heinrich Pestalozzi endlich da, wohin sein Traum in zwei Jahrzehnten +gegangen ist. Nicht zu genießen, sondern zu wirken ist der Trieb +seines Lebens; als er mit der Landwirtschaft sein Dasein auf die +eigene Wohlfahrt gründen wollte, hatte ihn das Schicksal gedemütigt, +bis er die Hand darin erkannte; nun liegt die Landwirtschaft und die +Collegienzeit hinter ihm als bittere Lebensschule, die Sehnsucht seiner +Jugend ist keine Täuschung gewesen, der Traum wurde doch Wahrheit; und +so mühsam, so aufreibend in hundert Hindernissen sein Dasein geworden +ist, ein gepeitschtes Wasser, darauf der Kahn seiner Häuslichkeit ohne +Segel und Ruder verlassen schwimmt: die Tage seines Glücks sind da, +weil nichts mehr zwischen seinem Gewissen und seinen Geschäften steht. + + + 52. + +Heinrich Pestalozzi merkt lange den Zwiespalt nicht, an dem sein Glück +scheitern muß. So überzeugend seine Zahlen auf dem Papier stehen, daß +die Anstalt sich aus sich selber zu halten vermöge: als die Armenkinder +wirklich da sind, kommt es zwingender als früher darauf an, die +vergrößerte Haushaltung wirtschaftlich zu halten; denn die Zuschüsse +der Menschenfreunde, so tapfer sie auf seine Bitte eingehen, decken +nicht einmal die erste Einrichtung. Um das Exempel aus dem Papier in +die Praxis zu bringen, bedarf es anderer Finanzkünste, als sie Heinrich +Pestalozzi geläufig sind; seine Geschäftsführung kommt schließlich +doch wieder auf die alte Torheit hinaus, die kleinen Löcher aus einem +großen Loch zu flicken, und wenn das zu bedenklich wird, mit einem +phantastischen Lappen die Blöße zu decken. An Einfällen hierzu fehlt es +ihm nicht; nach Jahresfrist ist aus seiner Anstalt schon eine wirkliche +Fabrik geworden, indem er die Baumwolle nicht nur spinnen und weben, +sondern die gewebten Stoffe auch färben und bedrucken läßt, und eines +Tages erleben die Zurzacher den Spaß, daß der Armennarr vom Neuhof -- +wie er nun schon im ganzen Aargau heißt -- selber seinen Stand auf +ihrer Messe aufgeschlagen hat, gefärbte und bedruckte Baumwollentücher +zu verkaufen. + +Irgend ein Spaßvogel bringt die Absprache auf, daß er sich eine +reichliche Bestellung abmessen läßt; wie aber Heinrich Pestalozzi +glücklich seine Elle geschwungen hat und schwitzend hinter dem Berg +seiner entrollten Ware steht, entdeckt der angebliche Käufer soviel +Fehler, daß er ihm scheltend alles hinwirft und unter dem Gelächter der +andern verschwindet. Erst als ihm das zum drittenmal begegnet, merkt +seine Harmlosigkeit, daß es die Rache der Händler für die unerbetene +Konkurrenz ist. Er läßt sich von seinem Zorn hinreißen, mit seiner Elle +dem Mann nachzuspringen, weil aber der halbe Markt mit Hetzgeschrei +hinter ihm herläuft, bleibt er doch der Gefoppte. Als er am dritten Tag +entmutigt abführt, hängt hinten an seinem Wagen -- ohne daß er es merkt +-- ein freches Schild: Hier wird um Gotteswillen schlechte Ware für +gute verkauft! + +Der Spott trifft ihn tief, weil seine Ware wirklich nicht gut ist +und es auch gar nicht sein kann. Die Kinder, zum Teil mit Zwang in +seine Arbeit gebracht, sind viel zu sehr ans Bettelgeläuf gewöhnt, +um die strenge Arbeitszucht zu ertragen; wenn sie den ersten Hunger +gesättigt haben und in sauberen Kleidern stecken, jammern sie nach +ihrem ungebundenen Elend. Immer wieder geht eins in der Sonntagnacht +mit den guten Kleidern davon, und es wiederzuholen ist schwierig, +weil die Bauern -- denen er die billigen Arbeitskräfte der Kinder +fortgenommen hat -- ihm feindlicher sind als je und auch die Behörden +der neumodischen Gesinnung im Neuhof argwöhnisch mißtrauen. Selbst die +Gutwilligen bleiben selten länger, als ihre Zwangszeit ist, und darum +hat sein klug ausgerechneter Plan, mit dem Verdienst der Zöglinge die +Anstalt zu erhalten, das böse Loch, daß er nur die fehlerhafte Ware von +Anfängern liefern kann. + +Zu alledem muß Heinrich Pestalozzi immer bitterer bemerken, daß +er selbst für die Schulmeisterei weder geeignet noch geübt ist; +unausgesetzt beschäftigt, die richtige Lehrart zu finden -- sodaß +eigentlich nur er allein bei seinem Unterricht etwas lernt -- ist er +ganz unfähig, drei Dutzend solcher Kinder in Disziplin zu halten. Im +Augenblick überfließende Liebe und im nächsten maßloser Zorn, steht er +machtlos inmitten ihrer Tücke, die sich vor seinen Schlägen fürchtet +und bei seiner Liebe heuchelt; um beides zu verhöhnen, wenn er den +Rücken gewandt hat. + +Niemand fühlt diese Mängel tiefer als seine Frau, die nun den Schmerz +erlebt, den Geliebten auch in den Dingen seiner Neigung unfähig wie +im praktischen Erwerb zu sehen; bald hat sie statt seiner die Leitung +der Anstalt in der Hand, während er unruhig von einem zum andern +läuft, mehr verwirrend als fördernd. Durch einige Jahre erhält sie +mit unmenschlichem Kampf den äußeren Bestand der Dinge, dann wird +sie krank, und kaum hat sie einige Wochen gelegen, als auch schon +die Unbotmäßigkeit zur Überschwemmung anschwillt, darauf Heinrich +Pestalozzi mit seinem unsteten Willen wie ein Kork schwimmt. Ein +paarmal rafft sich die Tapfere noch auf, die Sache zu retten; aber mit +ihren vierzig Jahren ist sie für die stündlichen Aufregungen nicht mehr +stark genug. Auf einem verzweifelten Besuch bei ihrer Freundin, der +Frau von Hallwyl, kommt sie ernsthaft zu liegen und kehrt nicht mehr +auf ihren Posten zurück. + +Die Anstalt ist unterdessen mit den Bedienten auf fünfzig Mäuler +angewachsen, deren Ernährer Heinrich Pestalozzi sein soll, schon drohen +die Gläubiger mit der Vergantung, während er immer nach neuen Plänen +rudert, die alten zu retten: Seit zwei Jahren ist das Bärbel mit dem +Kaufmann Groß in Leipzig verheiratet, wo sie schon an Kindesstelle +bei der verwitweten Tante Weber gewohnt hat. Ihr Mann führt die +Geschäfte des Hauses Weber, sodaß die Schwester als die eigentliche +Erbin im Wohlstand lebt; Heinrich Pestalozzi hat sich in seiner Not +an sie um ein Darlehen gewandt, und wirklich erscheint eines Tages +im November sein Bruder Johann Baptista, der nach wechselnden Jahren +einer verunglückten Kaufmannschaft wieder in Zürich lebt, als ihr +Mittelsmann, den letzten Versuch einer Rettung zu machen. Es kommt ein +Vertrag zustande, worin die Scheune mit zwanzig Jucharten um den Preis +von fünftausend und etlichen Gulden verkauft wird, um damit Deckung +für die dringendsten Schulden zu gewinnen. + +Eifrig wandert Heinrich Pestalozzi eines Morgens nach Hallwyl hinaus, +seiner kranken Frau die glückliche Wendung anzusagen, und schon malt +er sich den Traum einer Kolonie aus, wo Anna mit dem Knaben wieder auf +dem Neuhof ihr ruhiges Heim haben soll, während die Zöglinge rundum +mit einzelnen Hausvätern in besonderen Gebäuden wohnen; aber als er +heimkommt, ist Johann Baptista mit dem Geld unterwegs, sich in Amerika +eine Farm zu kaufen, wie er ihm in einem Abschiedsbrief hinterläßt. +So steht er mitten in seinem Unglück auch noch vor dem Zwang, für die +Mutter und vor der Welt seinen ehrlichen Namen zu retten. Er muß zum +andernmal nach Hallwyl, und nun wächst kein Traum einer Gartenkolonie +mehr in seiner verdüsterten Seele; er geht noch am selben Tag, und +weil es Abend geworden ist, den größten Teil des langen Weges in der +Dunkelheit. Hinter Lenzburg verirrt er sich und findet die Brücke nicht +über die Aa, bis er durch das kalte Wasser hindurch watet. Ein paarmal +ist der Gedanke in ihm, daß die Verirrung dauernd werden möchte, dann +hilft ihm der aufgehende Mond mit seinem ungewissen Licht auf die +Straße zurück, die ihn mit eisnassen Strümpfen nach Schloß Hallwyl +bringt. Da wartet er in der Dunkelheit des Morgens wie ein Bettler am +Tor, bevor er einen Knecht herausgeklopft hat. + +Nun muß Anna Schultheß noch einmal die Taschen ihrer wohlhabenden +Herkunft absuchen; ihr Vater, auch Freunde helfen schließlich, den +Schlund notdürftig zuzustopfen -- wie sie den Neuhof nennen -- +nur wird ihm unbarmherzig die Bedingung auferlegt, die Anstalt zu +schließen. Und damit es keinen Ausweg gibt, wird ein neuer Verkauf +gemacht, worin Johann Heinrich Schultheß die Fabrik und den größten +Teil des Landes übernimmt, um einen Pächter einzusetzen. + +So kommt nach fünf Jahren der Tag, da Heinrich Pestalozzi seine +Dienstleute entlassen und die Kinder wieder in die Bettelarmut +zurückgeben muß, daraus er sie in seinen Neuhof geholt hat. Er findet +noch die Tapferkeit, ihnen allen mit einer Abschiedsansprache ans +Herz zu gehen, und es sind nun doch viele Hände, die sich nach ihrem +Vater strecken. Dann aber, als auch dieser Vorfrühlingstag im ewigen +Kreislauf der Gezeiten dunkel wird, bleibt er allein in den verlassenen +Stuben zurück. Die Messinglampe ist noch da, die ihm so manchen Abend +seiner einsamen Jungmannszeit in Müligen erleuchtet hat; er steckt +sie nicht an, obwohl unter dem bedeckten Himmel kein Stern aufkommen +will; es tut ihm wohl, daß seine Augen nichts mehr von allem zu sehen +brauchen, das nun sinnlos geworden ist. Die ganze Nacht hindurch sitzt +er wach in seinem Stuhl; erst als der Morgen kommen will, legt ihm der +Schlaf seine Hand auf die Augen, daß er das Gespenst des leeren Hauses +nicht in der Todestraurigkeit der ersten Morgenfrühe sähe. + + + 53. + +Am Nachmittag des andern Tages schließt Heinrich Pestalozzi die Tür +am Neuhof zu, die dritte einsame Wanderung dieser Tage anzutreten. +Bis Brugg weiß er noch nicht, wohin sie führen soll, dann ist es der +Ratsschreiber Iselin in Basel, an den sein inneres Gefühl sich wendet; +er sieht die klargütigen Augen des Mannes und hört seine Stimme, als +ob er schon vor ihm stände: von allen Freunden seiner Jugendheimat +weiß er keinen seiner Not so nah wie diesen ihm wesensfremden Basler, +zu dem er nun über den Jura wandert. Er kommt an dem Tag nur noch bis +Frick und als er da eine Herberge suchen will, merkt er, daß er ohne +Geld wegging. Es scheint ihm fast recht, denn mehr als ein Bettler +kommt er sich kaum vor; müde sitzt er am Wegrain und denkt schon, +sich um Gotteswillen ein Obdach zu erbitten, da treibt ein Ziegenhirt +seine Herde an ihm vorbei, lustig auf einer Holzpfeife blasend, die +er aus jungem Saftholz geschnitten hat. Er selber hätte ihn garnicht +erkannt, aber der Bursche hält gleich mit dem Stecken sein meckerndes +Volk zurück und ruft ihn an, höflich den alten Hut lüftend. Es ist ein +Zögling, der vor einigen Jahren als Waisenkind kurz bei ihm war und nun +in Frick die Ziegen hütet. Treuherzig von ihm eingeladen, geht Heinrich +Pestalozzi mit auf den Hof, wo er bei einem rechtschaffenen Bauer +-- der durch den Burschen Gutes von ihm weiß -- ein sauberes Lager +angeboten erhält, bevor er darum zu bitten braucht. + +Der freundliche Zufall gibt ihm eine bessere Stimmung in den andern +Morgen, da er nach dankbarem Abschied seine Wanderung fortsetzt; und +eben läuten die Basler Glocken den Mittag ein, als er gegen Sankt +Albanstor kommt. Da hat sich ein Blinder an den Weg gesetzt, seinen +Hut vorzustrecken, so oft er Schritte hört. Heinrich Pestalozzi vermag +nicht, an ihm vorbeizugehen, und weil er nichts anderes schenken kann, +löst er die silbernen Schnallen von seinen Schuhen und wirft sie in +den Hut. Er fühlt, daß es unnütz ist, aber in seinem Zustand tut es +ihm zornig wohl, das Letzte freiwillig hinzuschenken, wo ihm soviel +gewaltsam genommen ist. Doch vermag er ohne die Schnallen nicht zu +gehen, und so flicht er aus Binsengras ein paar dünne Riemchen, mit +denen er die Schuhe zur Not bindet. + +Mehr als einer in den geläufigen Gassen sieht verwundert nach seinen +Füßen, und auch der Ratsschreiber, als er den unvermuteten Gast selber +an der Tür abnimmt, vermag seine Blicke nicht zu behüten. Da Heinrich +Pestalozzi nicht mit der Unwahrheit vor ihm stehen will, als fehle es +ihm schon derart am nötigsten, erzählt er ihm den Vorfall, worauf ihn +Iselin, der im Alter sein Vater sein könnte, kopfschüttelnd und nassen +Auges über soviel Einfalt in die Arme schließt. Nach diesem Empfang +ist es ihm nicht mehr schwer, die letzten Stationen des Leidensweges +seinem Patron bekannt zu geben, der sich mehr als ein andrer in den +Ephemeriden und sonst für ihn eingesetzt hat. Er ist bis ins einzelne +vorbereitet und hat auch schon eine Antwort zurecht, die mehr als ein +leerer Trost ist: die Anstalt sei ein Experiment gewesen, und wer in +der Wissenschaft gearbeitet habe, wisse wohl, daß es auf die Resultate +ankomme. Freilich bliebe es für ihn ein Schicksalsschlag, daß er das +Vermögen seiner Frau dabei verloren habe; aber er sei jung und besäße +in seinem Neuhof immer noch ein gutes Dach über dem Kopf. Am Ende +wäre alles für ihn nur die Grundlage einer anregenden und fruchtbaren +Schriftstellerei gewesen. Ob an dem Emil etwas schlechter würde, wenn +Rousseau selber etwa mit einem solchen Erziehungsversuch gescheitert +wäre? Man könne freilich mit derartigen Dingen keine goldenen Berge +erwerben, aber eine bescheidene Ernährung solle sich eine so starke +Feder wie die seine schon erzwingen können. Da wäre zum Beispiel das +Preisausschreiben der Basler Aufmunterungsgesellschaft: Wieweit es +schicklich sei, dem Aufwand der Bürger Schranken zu setzen? Ob er es +nicht einmal um die zwanzig Dukaten versuchen wolle? + +Iselin spricht das alles noch vor seinem Stuhl stehend, und reicht +ihm die Nummer der Ephemeriden hin, als ob es nur noch an ihm läge, +die zwanzig Dukaten einzuheimsen; dann geht er hinaus, den Gast zum +Essen einzumelden. Der sitzt mit dem Blatt in den Händen und vermag +keinen Buchstaben zu lesen; die Stimme des Ratsschreibers ist wie ein +Frühlingsregen auf seine verstaubte Stimmung gerieselt; auch hat er +die Worte nicht alle verstanden, nur wohlig den herrlichen Ton der +Gesinnung und den unbeugsamen Willen gespürt. Warum bin ich nicht mit +meinem Werk in der Nähe dieses Mannes gewesen statt in der Daseinsluft +des Metzgers Märki? denkt er immerfort, und die Tränen rinnen ihm auf +den Rock. Er ißt mit ihm, und als der Ratsschreiber -- der gerade +Strohwitwer ist -- mit einem Scherz das Glas gegen das seine hebt, +vermag er schon wehmütig wieder zu lächeln. Er läßt sich danach drei +Tage lang von ihm betreuen, auch seine Schnallen bekommt er wieder, +weil der Ratsschreiber sie heimlich bei dem blinden Stammgast vor St. +Alban eingelöst hat, und als er in der vierten Frühe die Rückwanderung +antreten will, hat ihm der väterliche Iselin einen Platz bei der Post +bezahlt. So kann er dem Ziegenhirt hinter Frick nur von fern zuwinken, +nicht einmal sicher, ob der auf ihn rät. Ihm ist er auf dieser traurig +begonnenen Wanderfahrt fast so wert gewesen wie der Ratsschreiber, und +noch während die Post in den breiten Talkessel von Brugg einrollt, +denkt er, daß sein Traum einer menschlichen Gemeinschaft trotz aller +Verschiedenheit der Stände, geeinigt durch ein sittliches Bewußtsein, +doch nicht von den Sternen wäre. + +Trotzdem wird es ihm schwer, von Brugg aus den Weg in das Trümmerfeld +seiner Wirksamkeit zu gehen, wo viele ihm ohne Gruß begegnen und einige +Buben ihm höhnisch nachrufen. Aber als er gegen den Neuhof kommt, sieht +er einen Knaben emsig am Brunnen spielen, der, als er ihn erkennt, +jubelnd in seine Arme läuft. Es ist das Jaköbli, und die Mutter -- der +er Nachricht von Basel gegeben hat -- ist auch da; sie sitzt, noch +schwach von ihrer Krankheit, auf einem Baumstamm in der Sonne und hält +tapfer lächelnd den Regenschirm in der Hand: Wir dachten, es möchte +regnen; aber, Lieber, die Sonne scheint! Und erst als sie beide, den +Kleinen an den Händen zwischen sich, hinein gegangen sind und die +verlassene Stube mit ihrer Gemeinschaft füllen, daß die Leere durchs +Fenster entweicht, tritt auch die Frau von Hallwyl zu ihnen, die +unterdessen beiseit gegangen war. + + + 54. + +So unsicher die Aussicht auf die zwanzig Dukaten der +Aufmunterungsgesellschaft und die anderen Schriftstellereinnahmen für +Heinrich Pestalozzi vorläufig ist, so bestimmt stehen die Schildwachen +der Bedrängnis rund um den Neuhof. Es fehlt am Nötigsten, und für +Anna ist die Zeit gekommen, die ihre Mutter prophezeite, ja selbst +das Brot ist nicht immer da. So sieht sich Heinrich Pestalozzi als +Schriftsteller in der lächerlichen Bedrängnis, nicht einmal das +notwendige Papier zu haben. In dieser Not fällt ihm ein alter Erbkoffer +ein, der mit anderem Haushalt von der Mutter bei der Einrichtung in +Müligen herübergekommen ist und seit Jahren vergessen auf dem Speicher +steht. Irgendein Vorfahr hat sein Leben lang in der Lotterie gespielt, +und zwar in der Meinung, daß sich das Glück in Tabellen nachrechnen und +erlisten ließe. Für diese Tabellen hat er sich dann Bogen mit roten +Linien herstellen lassen, die Berechnungszahlen einzutragen. Damit ist +der ganze eisenschwere Koffer gefüllt, durch den nun der gewinnsüchtige +Vorfahr seinem Erben einen späten Liebesdienst leistet; denn selbst +da, wo schon Zahlen eingeschrieben sind, lassen sich die Bogen noch +benutzen, und Hunderte sind ganz frei. + +In diese rote Linienwelt schreibt Heinrich Pestalozzi das erste +Resultat seiner Erfahrungen nieder, und es scheint fast, als ob die +Tabellenfächer die äußere Form bestimmten: es werden lauter einzelne +Sprüche daraus, deren Weisheit in den roten Linien wie der Honig +in Bienenzellen voneinander abgetrennt ist; aber ihr Geschmack ist +bitterer Wermut. Er nennt sein Schriftstück die »Abendstunde eines +Einsiedlers« und schickt es Iselin nach Basel, der es auch sogleich in +die Ephemeriden gibt. Dadurch ermutigt, macht Heinrich Pestalozzi sich +auch an die Preisaufgabe der Aufmunterungsgesellschaft. + +Es liegt nicht an der roten Liniatur, daß sein Eifer bei der zweiten +Schrift erlahmt; so reich die Gedanken drängen, so schwer fließen ihm +die Sätze dazu, auch mit den Forderungen der Schriftsprache kommt er +nur seufzend zurecht. Er muß Bogen vollschreiben, um einige brauchbare +Zeilen zu gewinnen, und die scheinen ihm wie gepreßte Pflanzen. Sich +und die Seinigen zu ernähren -- das sieht er bald -- ist es kein +Geschäft. Um andere Wege zu versuchen, nimmt er zum zweitenmal den +Stecken, diesmal nach Zürich, wo die meisten seiner Freunde wohnen. +Wieder geht er zu Fuß; es ist nur ein kleiner Tagesmarsch, und schon am +Nachmittag kommt er zur Sihlporte herein. Eben will er über den Rennweg +gegen das Fraumünster hin, als ihm einer der Schulgenossen begegnet, +mit denen er damals nach Wollishofen hinaus gerudert ist, er hat ihn +seither oft gesehen, zuletzt bei der lustigen Gesellschaft, die ihn +nach seinem ersten Weihnachtsbesuch im Pflug ans Schiff brachte. Er +freut sich, gleich einem Bekannten zu begegnen, aber ehe er noch bei +ihm ist, entweicht der andre in eine Nebengasse. + +Als er nachher das Erlebnis dem Buchhändler Füeßli erzählt, der +von allen Zürchern am treuesten zu ihm steht, obwohl er nicht zart +mit Worten ist, läuft der nach seiner Gewohnheit einigemal in der +Schreibstube hin und her, wirft zornig ein Bündel Papier aufs andre, +bis die Schriften in einem rechten Durcheinander sein müssen, und +sagt ihm dann mitten ins flehende Gesicht: soviel sollte er doch die +Zürcher kennen, daß sie ihn nur noch fürs Armenhaus oder das Spital +kalkulierten; in einem Jahrdutzend eine vermögende Frau arm zu machen +und wer weiß wen geschäftlich zu schädigen, das ginge ihnen über das +bürgerliche Maß. Wenn er ehrlich sein wolle, müsse er ihm schon sagen, +daß ihn seine Mitbürger für einen bösartigen Narren hielten! Dabei +wirft er sein Kontobuch, das er gerade ergriffen hat, mit einem solchen +Zorn in die Papiere, daß sein Tintenfaß erschrocken aufspringt und die +Umgebung mit mehreren Klexen bespritzt. Er schüttelt ihm dann zwar +freundlich die Hand, aber immer noch hat sein Zorn einen Hinterhalt: +Was er denn meine, daß ihm Lavater gesagt habe? Er solle ihm einen +einzigen Satz von Heinrich Pestalozzi beibringen, der sauber und ohne +Fehler geschrieben wäre, dann wolle er ihn auch sonst noch für eine +Sache im Leben brauchbar halten! Aber das unterschreibe er, der Hans +Heinrich Füeßli, nicht; wenn er nur erst von seiner Narrheit abkäme, +andern helfen zu wollen, bevor er sich selber geholfen habe, so würde +sich schon etwas für ihn finden! + +Das hat der Gekreuzigte auch hören müssen, sagt Heinrich Pestalozzi, +den der Zorn des andern angesteckt hat, und fegt nun auch hin und her, +sodaß es für einen Dritten, der in die Stube gekommen wäre, ausgesehen +hätte, als machten die beiden ihre schlimmsten Händel aus. Dann +überkommt ihn die Verzweiflung: Und wenn ich Perücken strählen müßte, +ich würde es um der Meinigen willen tun! sagt er schmerzlich und läuft +aus der Stube, weil ihm die Tränen fließen. + +Im Roten Gatter findet er auch keinen Trost; die Mutter, nun schon +sechzigjährig, sieht ihn augenscheinlich in den Fußspuren seines +Bruders, und das Babeli, eisgrau und wunderlich geworden in der +Einsamkeit mit der verhärmten Frau, redet mit ihm, als ob sie ihn am +liebsten noch einmal verwalke. Er muß von seinen Dingen günstiger +sprechen, als sie sind, und vermag nicht über Nacht zu bleiben. Noch +vor dem Abend geht er unter dem Vorwand dringender Geschäfte fort und +auf Umwegen aus der Stadt; er ist in den letzten Monaten in eine wahre +Gier gekommen, nachts zu wandern. An der Sihlporte fallen ihn die +Wächter mit scharfen Fragen an; wo ehemals ausgediente Stadtknechte ihr +Altersbrot hatten, stehen jetzt in aufgeputzten Uniformen stattliche +Burschen, als ob sie für die Fremden zur Zier dahingestellt wären. +In seiner Stimmung ärgert ihn die Neuerung, und während er in die +sinkende Dunkelheit hinein läuft, verbeißt er sich in einen Zorn, +daß solcherweise die Fortschritte wären, für die das Geld blindlings +geopfert würde. Er fühlt wohl, daß der Anlaß seinem Zorn nicht +entspricht, und um sich selber zu begegnen, übertreibt er den Vorfall, +bis eine Schnurre daraus geworden ist, über die er selber mitten in die +Nacht hinein lachen muß. + +Er kommt damit bis Baden; und wenn ihn dann seine Müdigkeit und die +Nähe des Neuhofs wieder in seine Melancholie bringen, sodaß er sich die +letzten Stunden nur noch in einer tonlosen Traurigkeit hinschleppt: +am andern Morgen ist doch noch so viel von der höhnischen Lustigkeit +dieser Nacht in seinem Bett, daß er bis in den Mittag darin liegen +bleibt und von neuem an der Schnurre formt. Nachher nimmt er sich +einige von den stockfleckigen Lotteriebogen vor und hängt seine +Einfälle in die roten Linien hinein; ohne Sorgen, wie die Sätze werden, +nur daß er seinen Zorn noch einmal so närrisch losbekäme. Um dem treuen +Füeßli den Beweis seiner vollkommenen Narretei zu geben, wie er in +einem Begleitbrief schreibt, schickt er ihm die Bogen zu; dann begibt +er sich ingrimmig wieder an seine Preisaufgabe. + +Er ist noch dabei, aus dem Wust mit Ändern und Streichen die endgültige +Fassung zu gewinnen, als er eines Nachmittags eine saubere Weibsperson +mit einem Bündel kommen sieht, die bestimmten Schrittes auf den +Neuhof zugeht und die er danach im Hausflur mit seiner Frau sprechen +hört. Es scheint ihm, daß er sie kennt, und als er, von dem Jaköbli +gerufen, hinzukommt, ist es die Lisabeth Näf aus Kappel, die vordem bei +seinem verstorbenen Onkel, dem Doktor Hotze, als Dienstmagd gewesen +und, soviel er weiß, von dessen Sohn -- seinem Vetter -- übernommen +worden ist. Sie wolle bei ihnen in Dienst treten, erklärt ihm Anna, +die augenscheinlich mit der resoluten Jungfer nicht fertig wird. Das +würde schwer gehen, sagt er, sie seien arm und könnten keine Dienste +bezahlen! -- Eben deshalb käme sie; sie wolle keinen Lohn; solange +Frau Pestalozzi noch nicht gesund sei, müsse ihr jemand an die Hand +gehen. Auch habe sie von dem Undank seiner Zöglinge gehört, daß sie +ihm alle davon gelaufen wären, und da sie sich in Richterswyl nach dem +Tod des alten Herrn entbehrlich oder gar überflüssig fühle, wolle sie +versuchen, ihre Nahrung, mehr nicht, bei ihnen zu verdienen. + +Während Heinrich Pestalozzi noch zweifelnd erst seine Frau, dann +wieder das Wunder ansieht, das aufrecht gewachsen und geraden Blickes +da vor ihm steht, bittet sie schon wieder die Hausfrau, ihr ein Lager +zu weisen, da sie heute jedenfalls nicht mehr zurück könne. In kaum +einer Viertelstunde ist sie schon emsig im Hause, und andern Morgens +denkt keiner daran, sie wieder fortzuschicken; nach einer Woche ist +es so, als ob sie immer dagewesen wäre, so unbemerkt weiß sie sich in +den gedrückten Haushalt zu schicken. Es sei fast zu spät, den Garten +zu bestellen, sagte sie, ist aber schon dabei, ihn umzugraben; und +bald merkt Heinrich Pestalozzi, daß in seinem verworrenen Hauswesen +wieder der sichere Tageslauf der Sonne ist: Schritt für Schritt wird +die Unordnung des Untergangs beseitigt und aus dem weiten Bereich des +verwüsteten Gutes der saubere Umkreis des Hauses abgetrennt. Und als +ob die eine tätige Hand ihren Takt auch in die andern brächte, fängt +das gestörte Uhrwerk des Hauslebens wieder an, zu gehen. Selbst bis in +seine roten Tabellen dringt ihre Sicherheit, sodaß er seine Preisarbeit +bald zu Ende bringen und die Reinschrift der Aufmunterungsgesellschaft +in Basel nicht ohne Vertrauen auf ihren Wert zusenden kann. Daß man +dem Aufwand der Bürger äußere Schranken setzen müsse, ist freilich +nicht seine Meinung: Hier wie überall käme es nicht auf die Landreiter, +sondern auf die Menschenbildung an. + + + 55. + +Unterdessen hat seine Schnurre über die Umwandlung der ungekämmten und +krummen Stadtwächter in gerade und gekämmte in Zürich eine Art Glück +gemacht. Auf der Durchreise von Italien nach London ist der ehemalige +Freund Lavaters, der Maler Füeßli einen Tag lang bei seinem Vetter +gewesen; er hat die Schnurre zufällig gelesen, und zwar mit so viel +Spaß, daß er nicht begreifen will, wie es einem Mann mit einer solchen +Begabung schlecht gehen könne: sein Talent als Schriftsteller sei +derart, daß ihm der Erfolg nachlaufen müsse! + +So kann ich meine Perücke wieder mitnehmen, scherzt Füeßli, als sie +in Baden eine rasche Zusammenkunft haben, das Ereignis zu besprechen: +ich hatte sie schon zum Strählen mitgebracht! Aber Heinrich Pestalozzi +ist es nicht zum Lachen, umsoweniger, als der andre augenscheinlich +kaum etwas andres als einen Sack voll solcher Schnurren im Sinn hat. +Er dämpft die Begeisterung des Buchhändlers sauersüß, ist noch ein +paar Stunden gern in der Luft einer Freundschaft, denkt aber nicht +daran, ihm zu folgen; bis er heimkommt und die moralischen Erzählungen +des Franzosen Marmontel noch aufgeschlagen auf dem Tisch seiner +Frau findet. Er liest darin, und unversehens überlegt er doch schon, +dergleichen besser zu machen; um statt weichlicher Rührung gute +Gedanken ins Volk zu bringen. + +Gleich andern Tags versucht er nun das Dichterhandwerk, angebliche +Menschen als Gestalten seiner Absichten in eine Handlung zu stellen. +Es gelingt ihm leichter, als er erwartete, und am Abend ist das +erste Ding schon rund gebracht; aber als er es dann überliest und +mit dem Vorbild vergleicht, findet er wohl, daß seine Gestalten sich +ernsthafter unterhalten als bei Marmontel, doch ist die Unterhaltung +so sehr die Hauptsache, daß es wenig Zweck hat, sie mit den Armen und +Beinen der Personen zu umgeben; auch haben sie für gemeine Bürgersleute +eine Art zu predigen, die ihnen nicht ansteht. Aber nun ist einmal +sein Eifer geweckt, und schon am nächsten Tage läßt er ein neues Paar +anmarschieren. Diesmal sind es zwei Bauern, ein alter und ein junger, +die sich über die neumodische Landwirtschaft erhitzen; haben die Bürger +gepredigt, so verkniffeln sich die Bauern wie zwei Advokaten, und da +auch hier wieder die Reden des Verfassers die Hauptsache sind, hätten +die Personen ebensowohl daheim bleiben können. Noch drei- oder viermal +versucht er es, um immer bedenklicher einzusehen, daß er kein richtiges +Bauernmundwerk aufs Papier bringt. Soviel er auch an den Tannern im +Birrfeld erlebt hat, nun merkt er, daß er sie garnicht kennt; und wie +er das Abc erst an seinem Knaben studiert hat, beginnt er nun, mit +ihnen seine heimlichen Experimente anzustellen. + +Die Leute von Lupfig und Birr machen sich verdächtige Zeichen, als der +Herrenbauer vom Neuhof anfängt, in ihren Wirtschaften herumzusitzen; +sie wissen aus Erfahrung, wie dies das Ende solcher Existenzen ist, +und weil er kaum etwas trinkt, deuten sie hämisch auf seine leere +Tasche. Er dagegen merkt bald, daß sie mit ihm anders als unter sich +sprechen, so hält er sich abseits, in einem Wettergespräch oder sonst +mit dem Wirt, während sie bei ihren Karten oder um irgend einen Handel +untereinander sind. Wenn ihm dabei eins seiner eigenen Bauerngespräche +beifällt, kommt ihm alles darin so papieren vor, daß er manchmal im +Eifer mitanfängt zu fuchteln, als ob er damit die richtigen Worte +festhalten könnte. + +Darüber fangen sie an, ihn vollends für übergeschnappt zu halten, und +legen sich aufs Hänseln; aber nun reitet ihn schon der Teufel seiner +Leidenschaft, auch um andrer Dinge als seiner Schriftstellerei willen +tiefer in ihre Wirtshauswelt hinein zu kommen. Er sieht, wieviele +Dinge hier ihren Anlaß und ihre Stärkung haben, wieviel aus der Bahn +geworfene Existenzen am Wirtshaustisch ihr Schicksal absitzen, und +wie nicht der Schnaps und der Wein allein sie dahin ziehen, sondern +der Trieb unnützer Buben, mit Hänseleien und großmäuligen Prahlereien +beieinander zu hocken. Hier müßte zu Hause sein, sagt er sich oft, +wer eine Armenanstalt aufmachen will; hier ist der Lebensboden aller +Laster, die in einem Menschen allein garnicht wachsen können, weil +immer nur mehrere zusammen das Ungetüm ausmachen, das den einzelnen +mit Haut und Haaren frißt; was nachher dann aus dem Wirtshaus nach +Hause geht, ist nur noch ein Stück von diesem Ungetüm, dem es natürlich +nirgend mehr wohl sein kann als bei sich zu Hause, nämlich auf der +Wirtshausbank, wo es zu fressen und zu saufen bekommt. + +Heinrich Pestalozzi hat schließlich ein System von Listen, das Ungetüm +lebendig zu sehen, indem er sich selber anscheinend mit auffressen +läßt oder unter einem Vorwand nebenan in der Küche lauscht. Als er +eines Nachmittags in Mellingen eintritt, weil er schätzt, daß ihrer da +mehrere vom Viehmarkt sitzen würden, findet er das Zimmer noch leer, +und da der Wirt augenscheinlich auch noch unterwegs ist, juckt ihn +der Vorwitz so, daß er in eine große Futterkiste klettert, die in der +dunklen Ecke neben dem Ofen als Truhe dient und deren offener Deckel +ihn wie eine Wand verbirgt. Er hört auch bald ihrer zwei hereinkommen +und über den Metzger Märki in Birr schimpfen, der ihnen beim Handel +die Flöhe abgesucht hat, wie sie sagen. Weil das Gespräch einmal den +Lauf genommen hat, bleibt es auch dabei, als andere eintreten, und +so bekommt Heinrich Pestalozzi unvermutet eine Predigt über seinen +ehemaligen Ratgeber zu hören, wie sie nicht in seine Tabellen gegangen +wäre. Aber als sich das Ungetüm so recht wieder aneinander gewachsen +hat und groß tut mit Fäusten und Flüchen, wird es still von einem +Schritt, der durch die Tür hereinkommt und nach einem brummigen Gruß +mitten im Zimmer stehen bleibt. Heinrich Pestalozzi hinter seiner +Wand hört das Ungetüm schnaufen, bis einer den Märki -- denn niemand +anders ist es -- nach den Hummeläckern fragt und gleich das Gelächter +über die Anspielung losbrüllt. Aber so ist der Metzger nicht, daß +er sich abtrumpfen läßt: im Nu ist er mit ihnen aneinander in einem +Maulgefecht; und wollten sie ihn um den ausgezogenen Herrenbauer im +Neuhof hänseln, so gibt er ihnen sein Kunststück mit frecher Prahlerei +preis: warum sie es nicht selber gemacht hätten, wenn es so leicht +gewesen wäre? Jedenfalls habe er das Kalb abgestochen; sie könntens ja +mit ihm auch einmal versuchen: er würde ihnen schon dartun, wer der +Meister wäre, wie er es diesem Herrn Pestalozzi auch dargetan habe! + +Die Abfertigung scheint dem Ungetüm plausibel, denn es schweigt; aber +als der Märki sich abseits von ihnen auf seinen Trumpf setzen will, +findet er keinen besseren Platz als die Futterkiste; er klappt den +Deckel zu, merkt garnicht, daß ein Widerstand da ist, und will sich +gerade noch einmal auslachen, als es unter ihm mit Faustschlägen +rumort. Wenn der Teufel selber aus dem Kasten gestiegen wäre, hätte +die Wirkung nicht anders sein können als nun, da das abgestochene Kalb +seiner Prahlerei heraus springt. Auch das verdutzte Ungetüm muß sich +einen Augenblick am Wirtstisch festhalten, und es ist noch nicht zu +sich gekommen, als Heinrich Pestalozzi durch die Tür dem gemeinsamen +Gelächter entgeht. + + + 56. + +Die Bauern auf dem Birrfeld sagen, daß dem Märki die schwarze Pestilenz +als Teufel aus der Futterkiste erschienen wäre; aber so sehr sie dem +Metzger den Schrecken gönnen, die Narrheit bleibt doch an Heinrich +Pestalozzi hängen; und wie sie ihn danach bei Sonnenschein und Regen +draußen herumlaufen sehen, bestätigt ihnen nur, daß ihm sein Unglück +mit dem Neuhof und der Armenanstalt auf den Verstand geschlagen sei. + +Er ist aber nur in eine Auseinandersetzung mit dem Ungetüm geraten, das +nicht -- wie es scheint -- vom Überfluß, sondern von Mühsal und Armut +lebt; denn die ihm zu fressen geben, sind die Schwachen, Leichtfertigen +und Verzweifelten, die, irgendwie von der Bank unverdrossener Arbeit +abgerutscht, ihr Letztes in Trunk und Geschwätz vertun, während der +Wirt die ärmlichen Groschen einsammelt und also von dem Ungetüm lebt +wie ein Savoyardenknabe von seinem Murmeltier. Er will es zum Helden +einer Geschichte machen; und ob er somit den Kampf mit dem Ungetüm +nur auf dem Tabellenpapier seines Erbahnen aufnehmen kann: mit einer +Handlung, einfach und drastisch genug in alle Köpfe einzugehen, wird +seine Feder, so hofft er, ihm doch eine gefährliche Waffe werden. + +Diese Handlung aber vermag er lange nicht zu finden, weil er immer noch +nicht von sich selber loskommt und sich stets wieder als vorwitziger +Advokat allein auf der Bühne redend findet. Da hilft ihm unvermutet +die tapfere Lisabeth aus der Not; als er sie eines Tages wieder bei +ihrer Unverdrossenheit beobachtet hat, wie sie den Kreis der Ordnung +Tag für Tag um ihren Mittelpunkt vergrößert, als er sich ausmalt, wie +sie einem Mann anders als die meisten Bauernweiber an die Hand zu +gehen vermöchte, von dem Ungetüm los zu kommen: da hat er endlich +den Gegenspieler seiner Handlung gefunden, um dem hundertköpfigen +Tier nicht mit den Mitteln fremder Hilfe, sondern mit den Waffen der +Armut selber beizukommen. Er braucht der tapferen Person nur einen +leichtfertigen Mann und Kinder anzudichten, wofür sie kämpft, und +schon ist der Aufbau einer Handlung gegeben, die sich anders als die +moralischen Erzählungen Marmontels in die Wirklichkeit einstellen soll. + +Als ihm dann noch der Märki als Vogt und Wirt in seine Handlung kommt +und er ihm um der Hummeläcker willen den Namen Hummel gibt, macht er +eine Gertrud aus ihr, die als die Frau eines Maurers namens Lienhard +den Kampf mit dem Vogt beginnt und schließlich das ganze Dorf von ihm +und dem Ungetüm befreit. Er hat sich dessen nie für fähig gehalten: +wie die Gestalten seiner Handlung von allen Seiten zulaufen, wie sich +Gespräch und Tat verflechten, und wie aus der geplanten Belehrung +eine Darstellung des Schicksals wird, die ihn selber oft genug zum +Weinen erschüttert. In wenigen Wochen stehen die hundert Kapitel +seines Buches da, als wären sie nicht erfunden, sondern ein Bericht +aus dem Leben, wie es sich wirklich abgespielt hätte. Da weiß er, daß +die Schriftstellerei mehr vermöge, als müßigen Leuten die Langeweile +zu vertreiben, daß sie eine geheimnisvolle Gabe sein könne, die +Erfahrungen des Lebens zu verdichten und Hunderten von Lesern die Wege +des Schicksals aufzuzeigen, wo sie selber nur heitere oder traurige +Vorfälle sehen. + +Ehe er es gedacht hat, ist er nach Zürich unterwegs mit seinem Schatz, +der diesmal ein handgreifliches Päckchen statt einem geträumten +Luftschloß ist, obwohl Anna, an den Zusammenbruch so mancher mit +Worten aufgebauten Hoffnung bitter gewöhnt, nur wehmütig über seine +Begeisterung gelächelt hat. Füeßli ist nicht der Mann dazu, in Rauch +und Feuer aufzugehen, auch sieht dies anders aus als die Schnurre +von den ungekämmten Nachtwächtern; er weist ihn an den gemeinsamen +Freund Pfenniger, der in den Dingen des literarischen Geschmacks +sachverständig wäre. An die Literatur hat Heinrich Pestalozzi freilich +nicht gedacht, als er schrieb, und erst garnicht an den gebildeten +Geschmack, der, statt den geistigen Dingen zu dienen, mit anmaßenden +Forderungen vor ihnen steht. Pfenniger findet die drei oder vier ersten +Bogen, die er ihm vorliest, nicht übel, aber so voll unerträglicher +Verstöße gegen den literarischen Geschmack, daß er ihm dringend die +Umarbeitung des Buches durch einen Menschen von schriftstellerischer +Übung empfiehlt und auch gleich einen theologischen Studenten nennt, +der das literarische Handwerk ebenso beherrsche, wie es ihm fehle. Das +Wort Lavaters von seiner Unfähigkeit, einen einzigen Satz richtig zu +schreiben, hat er noch nicht vergessen, und kleinlaut überläßt er sein +Buch den Ordentlichen, daß sie es für ihren Gebrauch zurecht machen: +Ich will nur abwarten, sagt er bitter, ob es mir Unordentlichem einmal +gelingt, ohne Euch richtig zu sterben! + +Doch vermag er nicht, sich ganz von seinem Buch zu trennen; er +läßt ihnen nur die ersten drei Bogen, damit er die Bearbeitung +erst sähe, und geht für ein paar Tage nach Richterswyl hinaus, wo +sein Vetter, der Doktor Johannes Hotze, die Praxis des Vaters mit +Klugheit verwaltet, während der jüngere Bruder mit dem Federhut +richtig unter die Soldaten gegangen und bei den Österreichern schon +General geworden ist. Er weilt gern dort, weil der Doktor Hotze ein +Philanthrop von Einsicht und Willenskraft ist; aber als er ihm mit +Andeutungen seines Buches begegnet, hält der es anscheinend für einen +neuen Seitensprung und wehrt warnend ab. So kommt er demütig zu +Pfenniger, seine Handschrift wie einen vom Lehrer verbesserten Aufsatz +zurück zu erhalten; aber als er sein Naturgemälde des bäuerlichen +Schicksals unter dem frömmelnden Firnis dieses Theologen wiedersieht +und angesichts der steifen Schulmeistersprache, die seine Bauern darin +reden, an seine Entdeckungsfahrten denkt, fällt die Demut erschrocken +ab: Dann wolle er doch lieber mit Beulen und steifen Gelenken ein +ungekämmter Stadtwächter sein, als ein derart gekämmter, sagt er zu +Füeßli, der zugegen ist, läßt dem Pfenniger die gesäuberte Umarbeitung +und macht sich auf den Heimweg mit seiner ungesäuberten Handschrift, +die anscheinend ebensowenig in die ordentliche Welt paßt wie er selber! + +Er ist schon in Baden, als er es nicht vermag, mit diesem Ergebnis +heimzukehren, und entschlossen seine Reise nach Basel fortsetzt, um +auch bei Iselin sein Glück zu versuchen, bevor er selber an seinem +Buch zweifelt. Er darf ihm und seiner Gattin noch am Abend seiner +Ankunft einige Kapitel daraus vorlesen; so inbrünstig seine Hoffnung +insgeheim um ein günstiges Urteil gefleht hat, auf einen solchen +Erfolg rechnete sie nicht. Die Frau Ratsschreiber weint vor Rührung, +und der Ratsschreiber selber geht mit erregten Schritten im Zimmer auf +und ab, bis er ihm die Handschrift aus den Händen nimmt, als ob er sich +vergewissern müßte, daß dies alles auch wirklich dastände. Er lachte +herzhaft auf, als er die Schrift in den roten Tabellen hängen sieht; +und auch als er dann liest, schüttelt er immer wieder den Kopf: es sei +nicht zu glauben, wie einer so etwas Herrliches ausdenken und zugleich +solche Sprach- und Schreibfehler machen könne! So wie es dastände, +wäre es allerdings ein ungekämmter Stadtwächter, aber den zu strählen, +brauche es keinen Theologen, sondern einen Setzer, der deutsch könne. +Er müsse freilich das Buch erst ganz lesen, aber nach dem, was er bis +jetzt gehört habe, wüßte er nicht seinesgleichen. + +Heinrich Pestalozzi bleibt drei Tage lang in Basel, und es ist eine +Zeit für ihn, als ob Schlaf und Wachen ein einziger Traum geworden +wären; so erlöst ihn der Beifall dieser klugen und herzlichen Menschen +aus dem Gefühl seiner Unbrauchbarkeit. Die Schreibfehler in der +Handschrift verspricht Iselin selber zu beseitigen; auch schickt er +gleich einen Brief an den Verleger Decker in Berlin, ob er das Buch +herausbringen wolle? Um ihm aber zu den vielen Tauben auf dem Dache +doch einen Spatz in die Hand zu geben, offenbart er ihm zum Abschied, +als er bis Liestal mit ihm gegangen ist und da auf die Post wartend im +Ochsen noch ein Glas Wein trinkt, daß die Aufmunterungsgesellschaft +zwar nicht ihm allein, aber doch ihm zu gleichen Teilen mit dem +Professor Meister in Zürich den Preis von zwanzig Dukaten zuerkannt +habe. + +Es geht mir wie dem Mann, sagt Heinrich Pestalozzi, der am Sonntag zehn +Louisdor verloren hatte und sich am Montag freute, weil er drei Kreuzer +fand. + + + 57. + +Schon Anfang September erhält Heinrich Pestalozzi Nachricht, daß der +Verleger Decker aus Berlin in Basel gewesen sei und ihm für jeden +Druckbogen einen Louisdor als Honorar bewilligt habe. Das wäre vormals +nicht viel gewesen, jetzt aber bedeutet es für den ausgeplünderten +Neuhof eine Quelle, die bei sparsamer Verwendung seine Insassen auf +eine gute Zeit vor Nahrungssorgen schützt und Heinrich Pestalozzi mutig +macht, auch noch den Rest seines Tabellenpapiers vollzuschreiben. An +eine neue Erzählung vermag er nicht zu denken, so voll sind ihm noch +Kopf und Herz von dieser. So beginnt er noch im Herbst, bevor das Buch +gedruckt ist, eine Erläuterung dazu zu schreiben, die er »Christoph +und Else« nennt! In einer angeblichen Bauernhaushaltung läßt er abends +seine Geschichte von Lienhard und Gertrud lesen und besprechen, wobei +er dann wieder selber auf der Bühne erscheinen und den Vorgängen der +Handlung seine Nutzanwendung mitgeben kann: So sind die Leiden und +Schäden des Landvolks, so sind die Wurzeln seiner Kraft und Urkraft, +und so kann der Verwilderung geholfen werden! Aus der Abendstunde eines +Einsiedlers werden Abendstunden einer gutwilligen Gemeinschaft. + +Er ist noch mitten in dieser Arbeit, als der Tod in der Familie seiner +Frau vorspricht und sich die kränkelnde Mutter, gebotene Holzlaub, +heimholt. Dem alten Zunftpfleger, dem der braune Bart längst weiß +geworden ist, wird es danach unheimlich im Pflug, wo seine Söhne +eigenwillig schalten; er zieht der einzigen Tochter nach, an der immer +sein Herz gehangen hat. So wird der Haushalt um einen Greis vermehrt, +dem das Leben die Augen zur Freundlichkeit und Milde geöffnet hat, +obwohl er von Haus aus zornig war. Von seinem Vermögen ist nur noch ein +bescheidener Altersteil in seinen Händen; aber auch damit bringt er +eine Sicherung in den Neuhof, die wohlig empfunden wird und das Gefühl +einer vorsichtigen Wiederherstellung verstärkt. Als dann zur Ostermesse +endlich »Lienhard und Gertrud« erscheint und seine Wirkung macht, +sodaß vieler Augen sich auf den Neuhof richten, finden sie nicht mehr +die Trümmerstätte selbstverschuldeter Armut, als die er den Bauern im +Birrfeld und dem selbstgerechten Bürgersinn der Zürcher gegolten hat. + +Der erste, der ihm Gutes berichtet, ist Iselin, der zwar bescheiden die +dankbare Widmung aus dem Buch beseitigt hat, aber stolz und beglückt +durch den Erfolg zu seinem Schützling steht. Er gibt Nachricht von +dem Beifall der Zeitungen in Deutschland und wie man dort nach dem +ungenannten Verfasser des Dorfromans riete; auch sammelt er, was +Rühmens in den Schweizerblättern steht, und hat einen fröhlichen Eifer +damit, ihm nach den ersten spärlichen Posten ganze Stöße von gedruckter +Anerkennung in den Neuhof zu schicken. + +Heinrich Pestalozzi, dem die Mißachtung einen bösen Bannkreis um seine +Einsamkeit gezogen hatte, sieht sich in die Beleuchtung eines rasch +wachsenden Ruhmes gestellt, in den nun mancher wieder hineinlärmt, +der sich vorher still beiseite getan hat; denn ob sein Name nicht auf +dem Deckel des Buches steht, dafür sorgen die fleißigen Gerüchte, daß +überall, wo die Gestalten von Lienhard und Gertrud in ein Schweizerhaus +eintreten, auch der Armennarr von Neuhof als ihr Pate gilt. So ist es +kaum noch nötig, daß Iselin den Namen des Verfassers in den Ephemeriden +bekannt gibt; wohl aber scheint es ein Signal zu sein für die Kutscher +und Postillone, die nun fast täglich Besucher nach dem Neuhof bringen. +Sie finden da einen freundlichen Greis, der sich über den Ruhm seines +Schwiegersohnes um seiner verhärmten Tochter willen freut und gern +ein Wort spricht; einen elfjährigen Knaben, der als das Jaköbli mit +den Bauern auf einem vertraulichen Spielfuß steht und augenscheinlich +beliebter bei ihnen ist als sein Vater; eine Frau von dreiundvierzig +Jahren, die sich dem Schwall nach Möglichkeit entzieht; endlich ihn +selber, dem das braune Gesicht mit Rünzelchen verkritzelt ist, als +ob er sechzig statt erst fünfunddreißig wäre, der aber alle fröhlich +willkommen heißt, nicht eitel, doch sichtbar glücklich, daß er nun +endlich Macht über die Menschen gewonnen hat, wie er sie für seine +Dinge jahrelang vergeblich erflehte. Als eines Morgens der Wagen des +Herrn von Effinger mit zwei galonierten Dienern vor dem Neuhof hält, +ihn nach Schloß Wildegg als Ehrengast zum Essen abzuholen, und als +noch am selben Tag von der Ökonomischen Gesellschaft in Bern fünfzig +Dukaten mit einer goldenen Denkmünze ankommen, da scheint es zu Ende +mit seiner angeblichen Unbrauchbarkeit, da ist Heinrich Pestalozzi, der +gescheiterte Landwirt und Armennarr auf Neuhof, ein Schweizerbürger +geworden, auf den die Augen seines Volks mit Stolz sehen. Und nun +endlich kann auch die Stunde nicht mehr fern sein, wo aus Reichen +und Armen, Klugen und Törichten, Herrschaften und Beherrschten die +Volksgemeinschaft wird, darin die Menschenbruderschaft des Evangeliums +aus der Sonntagspredigt in die wirklichen Wohnungen und Geschäfte +der Menschen kommt. Er ist auf der Höhe seines Lebens, als er diesen +Glückstraum erlebt; die Gier und Sehnsucht seiner Jugend, die Radbrüche +seiner ersten Fahrten und der grausame Unfall gelten ihm nun nichts +mehr, da er sich durch die Hand des Schicksals, die er in einem +tieferen Sinn als die Sonntagsgläubigen und Kirchenbeter Gott nennt, in +Schuld und Sorgen zu solcher Erfüllung geführt sieht. + + + 58. + +Könnte Heinrich Pestalozzi die siebzehn einsamen Wartejahre danach +voraussehen, darin er die Kräfte seiner Mannesjahre aufreiben soll, +bis ihn das Schicksal an die Dinge selber statt an die Worte läßt, so +würden ihm die Knospen kaum so schwellen, wie nun, wo er im Rausch des +Erfolges noch einmal die stürmischen Säfte seiner Jugend fühlt. Er +hat im Vorwort seines Buches angekündigt, daß die Erzählung aus dem +angeblichen Dorf Bonnal nur die Grundlage eines Versuchs wäre, dem +Volk mit einigen Wahrheiten in den Kopf und ans Herz zu gehen. Auf +alles, was als Tugend oder Laster an seinen Gestalten sichtbar wird, +Heuchelei und Tapferkeit, Hoffart und Sparsamkeit, Freiheitsliebe +und Tyrannei, auf alles läßt er nun Christoph und Else in ihren +Abendstunden mit dem Zeigestock hinweisen, und er selber gibt die +feurige Lehre seiner in tausend Nöten durchglühten Erfahrung dazu, um +die Quellen der Bosheit und des Elends in den Zuständen und in der +Gesetzgebung Europas darzustellen. + +Ein Drittel seines Buches hat er so erklärt, als ihn der Eifer drängt, +näher mit dem Volk zu sprechen; Iselin redet ihm zu, und so gründet er +sich selber eine Wochenschrift, die er »Ein Schweizerblatt« nennt. So +hitzig ist er in seinem Eifer, daß er fast alles selber darin schreibt; +er wird wieder der Marktschreier der Zurzacher Messe, aber diesmal sind +es nicht Baumwollentücher, sondern Einsichten und Weisheiten, die er +unablässig, mit Witz und hinreißender Gläubigkeit gemischt, anpreist: +»Himmel und Erde sind schön, aber die Menschenseele, die sich über den +Staub erhebt, ist schöner als Himmel und Erde!« + +Mitten in seinem Glück hört er schon wieder den Tod an die Tür klopfen, +und an einem Julitag fährt er im Innersten bewegt nach Basel, Iselin, +der ihm fast ein Vater war, zu begraben. Durch ein Gewitter erreicht +er die Post nicht mehr, und er ist gerade dabei, sich in Brugg auf +eigene Hand einen Wagen zu heuern, als Füeßli mit dem Doktor Hirzel +durchfährt. Die nehmen ihn mit, und so wird es eine Freundesfahrt der +Lebendigen zu dem Toten; denn auch die andern haben Iselin geliebt, +wenn sie auch nicht soviel Freundschaft von ihm erfahren konnten wie +er. Während sie so durch die grünen Täler hinfahren, manchmal im +Schritt, weil es scharf bergan geht, dann wieder trabend, will Füeßli +wissen, was er jetzt schreibe. Und weil Heinrich Pestalozzi durch den +Tod Iselins erst recht in seinem Eifer entzündet ist, jeder Stunde zu +achten, damit von seinem Leben ein Nutzen für das arme Volk bleibe, +spricht er von seinen Abendstunden und merkt lange nicht, daß die +beiden schweigen und ihn fast traurig ansehen. + +Ich dachte, sagte Füeßli endlich und kollert vor Zorn, daß du jetzt +dein Metier gefunden habest und wenigstens im Schwabenalter vernünftig +würdest, aber dich reitet die Bessermacherei, bis sie dich ganz vom +Neuhof ins Spital verschupfen! Über die bösen Worte ist Heinrich +Pestalozzi so erschrocken, daß er ihn fragt, wie er das meine. Er sehe +doch, wie die Menschen durch sein Buch gerührt würden, warum er die +dargebrachte Rührung nicht für die Menschlichkeit ausnützen solle! -- +Als ob die Leser dem Verfasser jemals ihre Rührung gäben, antwortet +Füeßli und ist nun selber bitter geworden. Sie erwarten und nehmen sie +als Genuß von ihm für ihr ausgelegtes Geld, gleich einem Kirschwasser +oder einem Schweinebraten auch! + +Sie begraben danach den Ratsschreiber in Basel; es ist ein Sarg, wie +Füeßli grausam vor Trauer sagt, darin der Hummelvogt den selben Platz +gehabt hätte. Für Heinrich Pestalozzi wird alles zum Verhängnis seit +dem bösen Wort im Wagen. Er hat es längst gespürt, daß er mit seinem +Buch nichts als ein Menschenmaler geworden ist, von dem man nun weitere +Bilder verlangt. Wenn die Bauern im Birrfeld sich hämisch freuen, +daß er es seinem Widersacher Märki gut gegeben habe, oder wenn die +literarischen Blätter die Vortrefflichkeit seiner Charakterschilderung +rühmen: es ist das Gleiche, daß sie ihn als ihren Spaß- oder Rührmacher +halten, nicht aber ihm redlich ins Menschliche folgen wollen. Er +vermag nicht, mit den beiden wieder heimzufahren, tut sich vor der +zudringlichen Begrüßung des berühmten Verfassers scheu zur Seite und +wandert frühmorgens heimlich aus Basel fort. Unterwegs gelüstet es ihn, +das bäuerliche Paar in Frick aufzusuchen, das ihn damals so freundlich +genächtigt hat, in der Sehnsucht, von ihm andere Botschaft des Volkes +zu hören als von den Gebildeten. + +Er trifft sie auch und bleibt zum zweitenmal bei ihnen zur Nacht, nicht +anders aufgenommen als beim erstenmal, obwohl der Ziegenhirt nicht mehr +da ist. Aber als er enttäuscht, daß sie nicht selber davon sprechen, +zuletzt nach ihrer Meinung über sein Buch fragt, haben beide zwar +einiges davon gehört, jedoch nichts daraus gelesen. Wir sind Bauern, +Herr Pestalozzi, sagt der Mann treuherzig, und seine Frau nickt ihm +zu: wir haben unser Tagwerk; was soll in einem Buch von unserm eigenen +Leben stehen, daß wir nicht selber wüßten? Und unsere Nachbarn? Wir +reden selber nicht schlecht von ihnen, warum sollen wir lesen, wie das +ein anderer tut! + +Es sind zwei Grabschriften, die Heinrich Pestalozzi von dem Begräbnis +seines väterlichen Freundes mitbringt und die nun in den Gärten +seiner Hoffnungen stehen. Er schreibt zwar danach noch tapfer sein +Schweizerblatt, Woche für Woche; aber daß es eigentlich keine Leser +hat, das nimmt er nun erst wahr. Als die ersten dreißig Abendstunden +von Christoph und Else erscheinen, die wie ein Katechismus des +bäuerlichen Lebens in alle Strohhütten gehen sollen, ist die Wirkung +so schwach, daß der Verleger das Buch nicht weiter drucken will. +Unterdessen singen die Blätter das Lob von Lienhard und Gertrud +unablässig weiter, bis der kleinste Kalender davon voll ist. Ich habe +das Pferd vorn und hinten eingespannt, denkt Heinrich Pestalozzi; und +da auch der Verleger um eine Fortsetzung seines Romans drängt, gibt er +sich tapfer daran, seine Pläne an dem Dorf Bonnal seiner Dichtung zu +versuchen und statt Ermahnungen und Vorschlägen die Darstellung einer +angeblichen Besserung zu geben. Ehe er es hofft, ist ein zweiter Band +von Lienhard und Gertrud fertig, aus dem nun der Ratsschreiber Iselin +die dankbare Widmung an seinen Schatten nicht mehr ausstreichen kann. +Die Neugier hilft, daß er diesmal noch gelesen wird; aber die den +ersten Band gepriesen haben, sind an dem zweiten enttäuscht und finden, +daß der Verfasser sich wiederhole und in der langen Jugendgeschichte +des Hummelvogtes nur eine überflüssige Nachrede brächte. Es ist mit +dem Ruhm und der Wirkung seiner Schriftstellerei wie mit einem der +Bäche im Kalkgebirge, die irgendwo stark aus dem Boden brechen, eine +Zeitlang trügerisch in der Sonne fließen und dann wieder im Gestein +verschwinden. + + + 59. + +Daß Heinrich Pestalozzi durch den Pfarrer seines Buches die +Jugendgeschichte des Hummelvogtes so ausführlich erzählen läßt, kommt +nicht von ungefähr. Das Jaköbli ist nicht nach seinen Hoffnungen +geraten; in den sechs Jahren der Armenanstalt ist es als Sohn der +Hausmutter vor dem Gesinde und den Zöglingen von selber der Prinz +geworden, an dem die einzelnen sich ein Wohlwollen verdienen wollen; +im wechselnden Drang der häuslichen Umstände danach zwischen die +überlieferten Erziehungsansichten der Mutter und die neumodischen +Absichten seines Vaters gestellt, hat seine Natur nicht die Ruhe an +den Wurzeln gehabt, die Kindern das Nötigste von aller Wartung ist. +So ist er mit zwölf Jahren wohl ein großer Knabe geworden, aber ohne +Festigkeit und geplagt von dem Eigensinn seiner reizbaren Art, die +zwischen der Heftigkeit des Vaters und der zärtlichen Liebe der Mutter +ihre Hinterhalte hat. + +Was an Abhärtung getan werden konnte, um der Weichlichkeit seiner Natur +zu begegnen, das hat Heinrich Pestalozzi spartanisch an ihm geübt, auch +ist er mit List und Stärke dabei gewesen, seinen kindlichen Eigensinn +zu brechen -- bis der gefährliche Untergrund dieser Eigenschaften +im Ausbruch seiner Krankheit herzschneidend zutage kommt. Es ist in +der Zeit, da die Stimme anfängt zu wechseln; er hat einen Korb mit +Pflanzkartoffeln aus dem Keller holen sollen und kommt nicht wieder. +Als Heinrich Pestalozzi heftig hinunterläuft, sitzt er verträumt vor +einem Spinnennetz; die Überraschung mag zu jäh gekommen sein: ehe +Heinrich Pestalozzi bei ihm ist, tut der Knabe einen Schrei und fällt +hin wie ein Toter. Doch hat er ihn kaum an der Schulter gefaßt, als +das Leben mit unheimlichen Zuckungen wieder anfängt. Das fallende Weh +rast in ihm und Heinrich Pestalozzi, der als eifernder Vater zu hadern +gekommen ist, sieht sein armes Kind in dem fahlen Kellerlicht Mächten +überliefert, die seiner Strenge wie seiner Liebe spotten. Erst als +alles vorüber ist und der Knabe aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht, +wagt er die Lisabeth zu rufen. + +Seine Hoffnung, daß es ein einzelner Anfall gewesen sein möge, wird +nicht erfüllt; die Krankheit kommt zurück und steht seitdem warnend +hinter jedem ärgerlichen Wort, das er dem Knaben sagen will. Das Grauen +nimmt ihm für lange den Mut; denn deutlicher als jemals sieht er, wie +das Schicksal des Menschen als einer Kreatur nicht an eigene oder +fremde Verschuldung allein gebunden ist, wie Glück und Unglück aus den +Naturgründen des Lebens kommen und alle sittliche Sorgfalt zu verhöhnen +scheinen. Lange versucht er, das Unheil Anna zu verheimlichen, die +bei dem ersten Anfall in Hallwyl war; als sie es eines Tages doch +erlebt -- sie sind in den Letten hinaus spaziert und müssen ihn da in +den rotblühenden Klee legen -- meint er in dem entsetzten Blick der +Mutter einen Vorwurf zu spüren, der ihm lange nachgeht und bald darauf +eine peinliche Ergänzung findet. Er hört, daß die Leute in Birr der +unvernünftigen Abhärtung -- den Knaben von kleinauf, auch im Winter, +im eiskalten Brunnenwasser zu waschen -- die Erkrankung zuschreiben. +Die Gewohnheit behält immer recht! sagt er bitter, aber ein grausamer +Rest ihrer Schadenfreude bleibt zurück und quält ihn mit Zweifeln, ob +er dem Knaben ein rechter Vater gewesen sei. Er sieht nun erst, daß der +Jakob kaum lesen und schreiben kann und auch sonst gegen die Kinder +seines Alters zurück ist. Am Ende kommt er mit Anna überein, ihn für +ein Jahr oder zwei nach Mülhausen in eine Erziehungsanstalt zu geben, +die ihm durch seinen Vetter, den Doktor Hotze in Richterswyl, empfohlen +ist; die zage Hoffnung auf seine Heilung muß ihnen über den schweren +Abschied forthelfen. + +Auf der Rückreise sucht er einen Herrn Battier in Basel auf, der +ihm noch durch Iselin bekannt geworden ist; ein Kaufmann, der +fest im Sattel seiner zahlreichen Geschäfte sitzt, aber allen +menschenfreundlichen Dingen mit der Kraft seiner unabhängigen und +kühnen Natur zugewandt blieb; der will den Jakob nachher in die Lehre +nehmen. Vorläufig aber hat er von all den kläglichen Nöten gehört, +in denen der berühmte Verfasser von Lienhard und Gertrud immer noch +lebt, und setzt ihm hartnäckig zu, eine Liste seiner Schulden und +Verpflichtungen aufzustellen. Es wird eine quälende Stunde für Heinrich +Pestalozzi, in dem blitzsauberen Kontor und vor dem schneeweißen +Halstuch dieses Kaufmanns seine verzwickte Lage zu offenbaren; auch +vermag er aus der Erinnerung unmöglich durch den Urwald seiner +Bedrängnisse hindurch zu kommen. Er weicht ihm schließlich aus mit dem +Verspruch, ein genaues Verzeichnis seiner Güter und ihrer Belastung +aufzuschreiben; aber der Kaufmann ist nicht für Ausflüchte: dann wolle +er sich, wenn es ihm recht sei, den Neuhof einmal selber ansehen, und +zwar gleich andern Tags, da er doch in Geschäften nach Zürich müsse! + +So kommt Heinrich Pestalozzi am nächsten Morgen nicht bescheiden +mit der Post aus Basel fort, wie er gedacht hat, sondern in dem +blitzblanken Reisewagen des Kaufmanns Battier mit zwei Apfelschimmeln, +die den Postwagen schellenklingelnd überholen und auch weiterhin nicht +wie die Postgäule bei jeder Steigung aus dem Trab fallen. Mein Leben +hat zwei Straßen, sagt er seinem unternehmenden Begleiter, als er +Stück für Stück der wohlbekannten Landschaft flinker als sonst nahen +sieht: auf einer bin ich von Zürich gekommen und die andre bringt +mich zeitweils nach Basel; es will mir scheinen, daß die Basler mir +allmählich geläufiger wird! Das ließe sich ändern, sagt Battier und +legt ihm von hinten -- als ob er ihn umarmen wolle -- die Hand auf die +Schulter: Wenn Sie selber nach Basel zögen, wäre es wieder nur die eine +Straße, auf der Sie gekommen sind, und zu Ihrem Sohn hätten Sie es +näher! + +Es zeigt sich bald, daß dies nicht nur eine Augenblicksrede war; denn +als der Kaufherr noch am selben Nachmittag stundenlang unermüdlich +gewesen ist, jeden Acker in Augenschein zu nehmen, mit vielen Scherzen, +als ob das alles nur ein Spaß dem schönen Wetter zuliebe wäre, und +als sie danach bei einem Glas Landwein in der Stube sitzen, holt er +aus seiner Tasche ein Bündel Papiere heraus, die längst schon in +der saubersten Ordnung enthalten, was er soeben gesehen hat: jeden +Acker nach seinem Tageswert abgeschätzt, und daneben das Verzeichnis +aller noch ungelöschten Schulden und Verbindlichkeiten in einer +Vollständigkeit, daß Heinrich Pestalozzi erstaunt und erschrocken +zugleich ist; denn wenn es vor den Augen eines nicht einmal übel +gesinnten Geschäftsmannes so mit ihm steht, brauchte nur das Soll mit +dem Haben vertauscht zu werden und die Rechnung ginge so auf, daß +er in der Mitte mit nichts übrig bliebe. Er muß an den Bankier aus +dem Geschwundenen Schwert in Zürich denken, der damals auch so im +Handumdrehen seinen Besitz beaugenscheinigte; nur daß der Basler sich +den Bericht des Bedienten anscheinend schon vorher verschafft hat. Aber +dann kommt statt der Enttäuschung von damals die Überraschung: das sei +der Vermögensstand von heute; aber wie die Felder ständen und wie sie +durch resolute Behandlung werden könnten, in dieser Differenz läge ein +möglicher Zukunftsgewinn für einen praktischen Mann, der den Neuhof +heute zu dem gültigen Satz übernähme. Dieser Käufer wolle er selber +sein und ihm also schon jetzt die Zinsen des zukünftigen Wertes als +eine Rente zahlen, die ihn und die Seinen mit einem Schlag sorgenlos +mache und ihm erlaube, ungehindert seiner Schriftstellerei zu leben! + +Heinrich Pestalozzi spürt die herzliche Absicht in dem Vorschlag; er +sieht, wie der Mann glüht, ihm wohlzutun: aber er ist den schmerzlichen +Blick noch nicht los, mit dem er seinen Knaben in der Franzosenstadt +im Elsaß gelassen hat. Es ist ein blauer Himmel, der sich da nach +Gewitter und Nebelschwaden auftut; nur würde er seinem Sohn das +Erbe ableben, wenn er den Vorschlag annähme! Auch wäre es für ihn +selber ein Verrat an seinen Plänen, die er heimlich viel ernsthafter +trägt, als der Basler ahnen kann, der schließlich wie die andern auch +nur den Schriftsteller in ihm sieht. Er nimmt die angebotene Frist +bis zur Rückkehr aus Zürich an, lässt den Kaufmann mit fröhlichem +Peitschenknall gegen Abend nach Baden fahren und steht winkend an der +Straße. Aber als Battier nach drei Tagen wiederkommt, ist er mit Anna +tapfer entschlossen, nicht die verlockende Fahnenflucht zu machen, +sondern nach soviel überstandenen Bedrängnissen auszuharren und, sei es +selbst durch bittere Nöte, dem Sohn das Hoferbe zu erhalten. + +Battier nimmt die Absage seines edel gesinnten Vorschlags zunächst als +Eigensinn, und er sagt das auch in der ersten Verstimmung, sodaß es +diesmal einen unbewinkten Abschied gibt. Aber schon nach drei Tagen ist +ein fröhlicher Brief von ihm da, als ob nichts anderes im Vorschlag +gewesen wäre: er wolle die drängenden Schulden auf sich nehmen ohne +Kauf und Verzinsung, nur gegen eine bestimmte Anerkennungsgebühr. Jetzt +braucht es also nur, sagt die Lisabeth, der er den Brief zeigt, daß ich +fleißig bin und daß der Herr Pestalozzi nicht über jeden Bettler mit +einem Gulden herfällt! + + + 60. + +Unterdessen geht Heinrich Pestalozzi schon gegen die Vierzig; es +kann ihm geschehen, daß er wie ein uralter Rabe dasitzt und über die +Trümmerfelder seiner Mannesjahre wehmütig in die ferne Jugend denkt. +Die erste Neugier um den Einsiedler auf Neuhof hat sich längst gelegt, +und es ist selten, daß ein Wanderer oder gar ein Wagen den Weg zu ihm +aufs Birrfeld findet. Solange der Knabe noch dagewesen ist mit seinen +Spielen und Gesprächen, hat die Einsamkeit nur zum Besuch kommen +dürfen; nun wohnt sie in seiner verlassenen Kammer und macht sich +täglich breiter im Haus. Die einzige Verbindung mit den Vorfällen der +Welt besorgt die Schaffhauser Zeitung, die Heinrich Pestalozzi Samstags +im Gasthof zum Sternen in Brugg liest. Da ihm der Weg dahin allmählich +zu mühsam wird, namentlich bei schlechtem Wetter, hat er sich angewöhnt +zu reiten. Sein struppiges Pferdchen ist, wie die Bauern sagen, genau +solch eine Vogelscheuche wie die Pestilenz selber, und da er immer +noch die Gewohnheit seiner Jugend hat, das Tier mit dem Zügel im Trab +zu halten, gibt er einen merkwürdigen Reiter ab, dem die vornehmen +Kurgäste aus Baden oder Schinznach mit spöttischem Vergnügen begegnen. + +Als er so eines Samstags sein Pferd am Sternen angebunden hat und +drinnen bei einem Kirschwasser die Schaffhauser Zeitung liest, ist ein +Fremder da, der ihn ungeduldig abwartet, ihn dann aber klug in ein +Gespräch verwickelt, daß Heinrich Pestalozzi bald merkt, einen Mann +von Kenntnissen vor sich zu haben, der auch seine Schriften und Taten +genau kennt, obwohl er sonst wie ein Handelsmann aussieht. Ehe er noch +eine Absicht des Mannes merkt, hat der ihm beigebracht, daß seine wie +alle ähnlichen Mißerfolge nur von der Vereinsamung der einzelnen +Menschenfreunde kämen, die wie die Prediger in der Wüste lebten und auf +die zufälligen Bekanntschaften angewiesen wären. Wenn die sich etwa an +den Jesuiten ein Beispiel nehmen und sich zu einer Gemeinschaft der +Heiligen zusammen tun wollten, würde der Einzelne mit einem Schlag eine +Macht bedeuten. Nur dürfe es keine öffentliche Gesellschaft mit dem +Ehrgeiz der Führer und der Scheu der einzelnen Mitglieder sein: Wie +zum Beispiel der Geheimorden der Illuminaten Hunderte von Mitgliedern +hätte, deren keins das andere persönlich kenne, weil jedes nur mit +einem selbstgewählten Namen geführt würde, aber unter diesem Decknamen +mit jedem einzelnen korrespondieren könne, und zwar mit vermögenden und +hochstehenden Persönlichkeiten. + +Das Gespräch dauert bis in die Dunkelheit, und Heinrich Pestalozzi +hätte es gern noch fortgesetzt, so beglückt ihn diese geheimnisvolle +Möglichkeit, seine Ideen bei Ministern und Fürsten anbringen zu können. +Aber der Fremde, der seinen Stand und Namen nicht einmal andeutet, muß +mit der Post nach Baden zurück, von wo er gekommen ist. Er sagt ihm +noch, daß eine Nachricht von Augsburg kommen würde, die er an die selbe +Stelle beantworten möge, und läßt ihn in einem Schwall von Hoffnungen +zurück, mit denen er nachher in einem gespenstischen Galopp durchs +nächtliche Birrfeld reitet. + +Durch diese Begegnung ist der Docht seiner Pläne wieder ins Glimmen +gebracht; tiefer als jeder andere glaubt er die Not des Volkes zu +kennen; während die Wohltätigkeit vergeblich an den bösesten Löchern +flickt und, wie er sagt, die Gerechtigkeit in der Mistgrube der Gnade +verscharrt, hält er die Menschenbildung als Heilmittel in der Hand. +Er hat von dem Herzog von Württemberg gehört, der mit den Seinen als +einfacher Landmann lebt; nun spürte er in der Rede des seltsamen +Fremden einen Hauch dieses Geistes aus Deutschland herüber wehen, +und als die angekündigte Schrift aus Augsburg kommt, tritt er mit +weitgreifenden Hoffnungen in den Bund der Illuminaten ein, obwohl ihm +die Geheimniskrämerei daran von Anfang an mißbehagt. + +Er legt sich nach dem sagenhaften König der Angelsachsen den Namen +Alfred zu und ist mit fiebrigem Eifer dabei, ein Memorial nach dem +andern in den namenlosen Bereich des Ordens hineinzusenden, wie ein +geschäftiger Apotheker sein Heilmittel anpreisend. Es gelingt ihm auch +bald, über seine Vorschläge zur Menschenbildung mit einflußreichen +Persönlichkeiten in einen direkten Briefwechsel zu kommen, unter denen +der Herzog von Toskana und Graf Zinzendorf, der Minister Josefs II. in +Wien, die wichtigsten sind. Von allen Zeiten seines Lebens ist diese +nun die seltsamste, wo er sich in der bäuerlichen Verborgenheit des +Neuhofs allmählich seinen Landsleuten aus dem Augenkreis verschwinden +und den Ruhm seiner Schriftstellerei nach jedem neuen Buch mehr +versiegen sieht, während er mit Ungestüm an das Gewissen von Ministern +und Fürsten klopft. Den ersten Teil von Lienhard und Gertrud hat er +noch im Angesicht des Birrfeldes geschrieben, und die Abendstunden +von Christoph und Else haben als Katechismus in die Strohhütten +gesollt: nun wachsen sich die beiden letzten Bände von Lienhard und +Gertrud immer mehr in Gesetzesvorschläge hinein; aus dem Ungetüm der +Wirtshäuser wird das Ungetüm der Verwahrlosung überhaupt, und an die +Regierenden in Europa geht sein Aufruf, es mit dem Heilmittel der +allgemeinen Menschenbildung zu bekämpfen. + +Er ist acht Jahre älter geworden seit dem ersten Band, als er den +vierten hinaussendet, und er stapft schon mit einem Fuß auf die +Fünfziger zu; die Straßen nach Basel und Zürich geht er nun gleich +wenig, wohl aber studiert er auf der Karte die Reise nach Wien, wo +Zinzendorf sich immer mehr für seine Dinge erwärmt und wo der Glanz +des Kaisers seine Hoffnungen anlockt. Für die Bauern im Birrfeld +bleibt er die Pestilenz, die sie nun schon wie etwas Zugehöriges über +die Straßen reiten oder Sonntags in der Kirche nach seiner Gewohnheit +am Halstuchzipfel lutschen sehen; für die weitere Heimat ist er die +Vogelscheuche seines Ruhms geworden, die immer noch den unnützen +Phantastereien seiner Jugend nachhängt und sich den letzten Ausweg zum +Wohlstand als Schriftsteller mit dem angeborenen Ungeschick verbastelt +hat. + + + 61. + +Lisabeth, die Magd, ist in den Jahren fleißig und sparsam gewesen, wie +sie Heinrich Pestalozzi versprochen hat; sie hält die verkleinerte +Wirtschaft über Wasser, bis der Jakob sie übernehmen kann. Der ist +aus Mülhausen durch den tapfer sorgenden Battier in seine Handlung +in Basel übernommen worden, um einmal besser als sein Vater für die +geschäftliche Führung gerüstet zu sein. Doch läßt ihn seine Krankheit +nicht mehr los; als er wieder auf den Neuhof kommt, ist es auf den +ersten Blick ein großer und starker Jüngling, aber für Heinrich +Pestalozzi stehen ihm die Spuren seines Zustandes zu grausam im +Gesicht, als daß er seiner froh werden könnte. + +Er ist ein Vierteljahr da, als der Vater Annas in seinem fröhlichen +Greisentum kränkelt; der Tod nimmt ihn weg, bevor ein längeres Siechtum +ihn mißmutig machen könnte. Sie begraben ihn an einem harten Wintertag +hinter dem kleinen Schulhaus in Birr; auch die Brüder Annas sind da, +und einer entäußert sich des gemeinsamen Verdrusses, daß sie nun ihren +Vater, der doch ein Zürcher Bürger und Zunftpfleger gewesen sei, auf +dem bäuerlichen Kirchhof im fremden Aargau begraben müßten, alles +um der Projekte seines Schwiegersohnes willen! Heinrich Pestalozzi +weiß, daß ihn viel mehr die Unstimmigkeiten mit den Söhnen auf den +landfremden Altenteil getrieben haben -- wodurch ihm die eigene Mutter +scheu in der Einsamkeit des Roten Gatters geblieben ist -- er hört aus +den Worten des Schwagers schon die Entscheidungen heraus, die nachher +kommen sollen, als es gilt, den Rest der Erbschaft aus dem Pflug zu +teilen; denn so fern die Geschwister Schultheß allem stehen, was nach +einem Erbstreit aussehen könnte, so wenig verhehlen sie ihre Besorgnis, +daß auch der letzte Teil Annas in neuen Plänen verschwinden möge. Es +findet sich auch eine Klausel im Testament, und ehe sich Heinrich +Pestalozzi dessen versieht, ist er in endlose und manchmal hitzige +Verhandlungen verwickelt, in denen sein eigener Sohn den Prozeßgegner +vorstellt. Es wird schließlich ein Pakt gemacht, laut welchem er seinem +minderjährigen Sohn Jakob den Neuhof für sechszehntausend Bernergulden +verkauft; doch erhält er dieses Geld nicht, sondern es werden damit die +Brüder Annas und andere Gläubiger abgelöst. + +Es ist eine klare Regelung, und Heinrich Pestalozzi kann mit dem +Ergebnis zufrieden sein, da es den Neuhof für seinen Sohn sichert, wie +er es selber gewollt hat; auch werden die Beratungen mit dem Respekt +geführt, den man dem berühmten Verfasser von Lienhard und Gertrud +schuldig zu sein glaubt: aber das mildert nur wenig an der Grausamkeit, +mit fünfundvierzig Jahren schon ausgezogen und auf die freiwillige +Unterhaltung durch seinen Sohn gesetzt zu sein! Und bitterer noch +als dieses Ergebnis sind die Bedenken, die dahin führten und die ihn +-- so sehr es auch verklausuliert wird -- gleich einem Verschwender +entmündigten. + +So bin ich denn lebendig begraben! spottet Heinrich Pestalozzi grausam, +als er seinen Namen unter den Vertrag gesetzt hat und unter dem +Vorwand, in Bern mit dem Herrn von Fellenberg unterhandeln zu müssen, +nicht mit Anna auf den Neuhof zurückgeht. Er kommt an dem Tag nur bis +Kirchberg; denn als er da gegen Abend mit der Post durchfahren will, +erschüttert ihn der Anblick der bekannten Fluren so, daß er aussteigt +und sich in wehmütige Erinnerungen verliert. Es sind mehr als zwei +Jahrzehnte vergangen, seitdem er hier gelernt hat, und da der Vater +Tschiffeli seit zehn Jahren in der Erde liegt, stehen die Felder längst +nicht mehr von ihm bereitet da. Die Krappkultur ist auch hier bis auf +spärliche Reste eingegangen, und wo damals junge Alleen führten, hängen +jetzt vereinzelte Bäume verwildert im roten Laub: Ich bin Landwirt +geworden, sagte er, wie ein Brot in den Backofen sollte; da haben sie +mich vergessen, und ich bin in den Krusten vertrocknet! + +Es fällt ihm ein, wie er hier mit Anna umher gegangen ist, mehr sie den +Leuten, als ihr die Dinge zeigend; und weil sie damals einen Ausflug +nach Burgdorf und seinem ragenden Schloß gemacht haben, läuft er noch +am selben Abend durch den Mondschein dahin. Er kommt erst in der Nacht +an und sieht nur noch im Unterdorf Licht in einer kleinen Wirtschaft, +weil eine Kuh kalbt. Da findet er zwar ein Lager, aber er schläft +nicht bis in die Frühe, und als dann endlich die bleierne Ermüdung auf +seine rastlosen Gedanken gefallen ist, wird er bald wieder aus dem +Morgenschlaf geweckt. Er träumt, daß er noch eine Armenanstalt habe +und sich eifrig mit den Kindern plage; aber wie er wach wird, ist es +die Hintersassenschule nebenan mit ihrem Lärm. Es lockt ihn nachher, +als er mit der Morgensuppe fortgeht, die Schultür zu öffnen und in +den Raum hinein zu sehen, wo immer noch wie damals in der Hausschule +zu Zürich der Lehrer mit einem Stock schreiend in der Klasse herum +wandert. Der Mann bemerkt ihn gleich und läuft unwirsch auf ihn zu: was +er wünsche? Heinrich Pestalozzi sieht an seiner Schürze, daß es ein +Schuhmacher ist, und die Bitterkeit schießt ihm auf, daß in der Schule +das gleiche Elend geblieben ist durch vier Jahrzehnte: Ich wünsche, daß +dies anders werden möchte! sagt er und geht fort, während der verdutzte +Schulmeister in der Tür steht und dem Landstreicher nachsieht. + +Von Burgdorf nach Bern sind es fünf Stunden; er braucht den ganzen Tag +dazu. Ich komme doch überall Zu früh, sagt er doppelsinnig zu sich +selber, indem er bald hier, bald dort seinen Einfällen nachgeht und +so schließlich erst gegen Abend vor dem Stadttor steht, bestaubt von +der Straße und auch sonst unansehnlich genug. Zufällig sieht ihn da +der Offizier der Wache, dem er verdächtig scheint; er fragt ihn nach +seinem Namen, den er nicht weiter kennt, und da der Wanderer an seinem +Halstuch lutschend ihm blöd vorkommt, läßt er ihn ohne weiteres als +einen Landstreicher abführen. So kommt Heinrich Pestalozzi statt zu dem +Ratsherrn von Fellenberg ins Fremdenarmenhaus, und seine Stimmung ist +so, daß er sich nicht einmal ungern dahin abführen läßt; es ist ihm +oft genug von den Züricher Freunden als sein sicheres Ziel prophezeit +worden. Meines Besitzes ledig, ohne Amt oder Beruf, auf nichts als auf +die Einfälle meiner Feder gestellt und auch damit längst nicht mehr +willkommen: was bin ich vor ihrer bürgerlichen Ordnung anders als ein +Bettler! + +Als er seine Suppe und nachher ein Bett erhält, die eine wohlschmeckend +und das andere sauber, vergeht sogar seine düstere Stimmung: er findet +sich besser aufgehoben als zur vergangenen Nacht in Burgdorf, und +die Freude, daß für die anwandernden Armen in Bern so gut gesorgt +ist, macht ihn fast fröhlich. Er schläft gut, ißt andern Morgens +in der Frühe wieder seine Suppe und macht sich Freund mit seinen +Leidensgenossen. Ich habe eine Frau, ein Gut und einen Sohn gehabt, es +ist ein Strudel von Sorgen und Aufregungen um mich gewesen, ich bin +berühmt geworden mit einem Buch und wieder vergessen mit einem andern: +aber alles das war mein Leben nicht! Ich hätte arm sein und bleiben +sollen wie einer von diesen; das andere hat mich vom Notwendigen +abgebracht und in tausend Alltäglichkeiten verstrickt, die nicht die +Atemzüge wert waren, die ich dran wandte! + +Er bleibt noch bis gegen Mittag da; erst, als er nachher eine Weile +spazieren will, merkt er, daß sie ihn gefangen halten, und schickt dem +Herrn von Fellenberg einen Zettel. Es dauert nicht eine halbe Stunde, +so kommt der Ratsherr selber angeritten, und der Aufseher kann sich +nicht genug verwundern, wie er vom Pferd springt und dem angeblichen +Landstreicher um den Hals fällt. Hernach scheint er gereizt genug, +sie alle um das Versehen anzufahren; aber Heinrich Pestalozzi legt +ihm sogleich die Hand auf den Arm und lächelt ihn listig an mit allen +Runzeln seines Gesichtes: Ich wollte doch nur sehen, wie ihr mit Betten +und Suppen für die Landarmen sorgt! + + + 62. + +Erst als er mit dem Ratsherrn, der sein Pferd am Zügel führt, durch +die Straßen von Bern geht, gesteht sich Heinrich Pestalozzi den Zweck +seiner Reise ein: Fellenberg hat ihn dem Grafen Zinzendorf empfohlen; +nun will er seinen Rat und andere Weisungen für Wien holen, denn +nichts anderes als eine Wanderung dahin hat er im Sinn. In den Neuhof +zurückzukehren, scheint seinem Trotz unmöglich, und sonst gibt es in +der Schweiz nichts mehr für ihn zu tun; in Zürich, Basel und Bern, +überall ist er der lästige Projektemacher. Zinzendorf war ziemlich +der einzige, der ihm über den vierten Teil von Lienhard und Gertrud +begeistert geschrieben hat; wenn er ihm unter die Augen träte -- er +hat sich den Augenblick hundertmal ausgemalt -- könnte es garnicht +fehlen, daß der Minister auch eine Stelle fände, sein Heilmittel der +allgemeinen Menschenbildung zu versuchen! + +Fellenberg scheint diesen Reiseeinfall zunächst für einen Witz zu +halten; er fitzt ein paarmal mit der Reitgerte durch die Luft und lacht +dazu, als sie nachher miteinander auf einer Fensterbank sitzen: Das +wäre allerdings keine üble Szene, wenn er in Wien als Wunderdoktor +aufträte! Aber als Heinrich Pestalozzi mit einem Freudenruf aufspringt +und redend ins Zimmer läuft, wie wenn er schon vor dem Grafen stände, +wobei er sich freilich in einen Teppich verfängt und stolpert, fällt +der Ratsherr ihm in den Arm, setzt sich aber gleich hin, ingrimmig +lachend und den Kopf abermals schüttelnd wie einer, der mit seinem +Verstande zu Ende ist. Je mehr sich Heinrich Pestalozzi in die +Einzelheiten seines phantastischen Plans hinein redet -- wie er als +dramatischer Dichter versuchen will, dem ganzen Hof ins Gewissen zu +reden -- je schweigsamer wird der andere; bis beide schweigen und +Fellenberg sich mit aller Gewandtheit seiner Diplomatie daran gibt, +das Schaukelbrett wegzuziehen, darauf die Pläne seines Gastes gebaut +sind: Der Wiener Hof und der Graf Zinzendorf hätten zur Zeit andere +Dinge zu bedenken; der Kaiser Josef, durch dessen Eifer alle Mühlen +in Österreich so eifrig am Mahlen gewesen wären, läge sterbenskrank +darnieder, verbittert am Widerstand seiner Zeit. Er würde ihn wohl kaum +noch lebend finden, wenn er in Wien ankäme; und so große Hoffnungen +auch auf seinen Bruder Leopold, den Herzog von Toskana, als seinen +Nachfolger zu setzen wären -- Heinrich Pestalozzi habe ihm ja immediat +schreiben dürfen und besitze sicher einen Gönner in ihm -- er würde den +Staat in einer Verfassung finden, die fürs erste auf andere Dinge als +noch mehr Reformen ginge! Und was er sich sonst unter Wien und seinem +Hof vorstelle? Es könne ihm passieren, daß er, einmal versehentlich +ins Armenhaus gebracht, nicht so leicht wieder herauskäme wie hier. +Jedenfalls würde ihn der Graf Zinzendorf kaum selber herausholen! + +Es hilft nichts, daß Heinrich Pestalozzi seine Gegengründe mit den +Armen heran bringt, diese Dinge kennt der Ratsherr besser als er; und +da der ihm weder in Bern noch sonst in der Schweiz einen Platz für +seine Experimente weiß, tritt er nach drei Tagen, gedemütigter als +er gekommen ist -- trotz aller ehrenden Sorge des Ratsherrn -- seine +Rückreise nach dem Neuhof an. Da es sein muß, vermag er den Weg nicht +durch eine neuerliche Wanderung in die Länge zu ziehen; er fährt mit +der Post und langt nach einer durchrumpelten Tagesfahrt nachmittags in +Lenzburg an, von da über den Berg zu laufen. Er will sich im »Löwen« +noch stärken für den Marsch, als ihm sein Sohn aus der Tür mit einem +Mädchen entgegentritt, das er nach der ersten Überraschung als eine +Brugger Tochter namens Fröhlich erkennt, die auch schon einigemal +im Neuhof gewesen ist. Die beiden haben sich, wie sie abwechselnd +errötend sagen, zufällig hier in Lenzburg auf dem Markt getroffen und +wollen mit ihren Eltern im Wagen nach Brugg heimkehren. Da er ablehnt, +mitzufahren, und der Wagen schon wartet, treten sie garnicht mehr mit +ihm ein; so kommt er trotz der Begegnung allein mit dem Abend ins +Birrfeld hinunter, nun völlig sicher, daß kein Platz mehr für ihn und +seine Pläne auf dem Neuhof ist. + + + 63. + +Es geschieht so, wie Fellenberg prophezeit hat; nach einigen Monaten +liest Heinrich Pestalozzi in der Schaffhauser Zeitung, daß der +edle Kaiser Josef im neunundfünfzigsten Jahr seines Lebens und im +fünfundzwanzigsten Jahr seiner Regierung gebrochenen Herzens gestorben +sei. Damit ist der Rest seiner heimlichen Hoffnungen allein auf seinen +Nachfolger Leopold gestellt, und im Herbst wagt er es, ihm mit einer +Schrift durch den Grafen Zinzendorf seine Dienste anzubieten. Aber +auch damit hat Fellenberg recht gehabt, der Brief bringt ihm nie eine +Antwort ein, und während er nach Trostgründen sucht, stirbt der neue +Kaiser seinem Bruder rasch hinterher. + +Unterdessen ihm die Weltgeschichte diese Striche durch seine +phantastische Rechnung macht, beeilt sich sein Sohn Jakob mit der +Anna Magdalena Fröhlich von Brugg; im einundzwanzigsten Jahr macht +er Hochzeit, und seitdem sitzt Heinrich Pestalozzi wirklich auf dem +Altenteil im Neuhof. Seine Frau ist nun fast immer bei ihrer Freundin +auf Schloß Hallwyl, und ihn treibt seine einsame Ruhelosigkeit nach +Zürich, wo er den Rest seiner Freunde gelegentlich um neue vermehrt. +Noch immer ist es die gelobte Stadt schwärmerischer Jünglinge, +denen die Lage am See, der Ausblick ins Gebirge, dazu die gastliche +Geselligkeit ihrer reichgewordenen Bürger und nicht zuletzt das durch +Bodmer -- den auch nun längst gestorbenen -- begründete literarische +Leben einen Zauber von freier Schönheit vortäuschen. Obwohl seine +Schriften weder im Einklang mit dem Wesen der Stadt noch mit ihrem Ruf +stehen, ist der Verfasser von Lienhard und Gertrud doch für manchen der +fremden Jünglinge eine Bekanntschaft, die ihnen zugehörig scheint; und +das Angenehmste, was Heinrich Pestalozzi von seinem Ruhm erlebt, wird +ihm von ihnen gelegentlich in Zürich zuteil. + +So trifft er einmal einen jungen Holsteiner namens Nicolovius, der +mit dem Grafen Stolberg nach Zürich gekommen ist und sich -- wie er +Heinrich Pestalozzi sagt -- seit Beginn der Reise darauf gefreut hat, +ihn zu sehen. Die norddeutsche Kühle des jungen Mannes entspricht +wenig dieser warmen Versicherung, und er erwartet eigentlich nicht +viel, als er ihn einlädt, ihn einmal auf dem Neuhof zu besuchen. Wie +er dann aber kommt, ist er ohne seinen Grafen viel weniger steif, und +als sie erst einen Spaziergang miteinander machen übers Birrfeld und +Müligen nach der Reuß hinunter, erschließt er ihm bald sein Herz. Der +Jüngling hat all seine Schriften mit glühendem Eifer gelesen und den +Plan seines eigenen Lebens darauf gebaut. So erlebt Heinrich Pestalozzi +ganz unvermutet an ihm das Glück einer wirklichen Jüngerschaft; in der +Gedrücktheit seiner Lage wird das ein berauschendes Erlebnis für ihn, +und wie er trotz Iselin und Battier niemals zu einem der Schweizer +Freunde hat sprechen dürfen, so öffnet er diesem Jüngling sein Herz. +Er kommt fröhlicher als seit langem heim, und darum fällt ihm die +Traurigkeit so schneidend ins Herz, als um einer Besorgung willen sein +Sohn ins Zimmer tritt und die beiden nebeneinander stehen, ziemlich +gleich groß im Bau, aber der eine stumpf und von der Verbitterung +seiner Krankheit mißmutig, trotzdem er das fröhlichste Frauenzimmer +der Welt sein eigen nennt, der andere hell, klug und voll Schwung, +ein junger Bach, in den er alle Trübheit seines Alters gießen könnte, +ohne die gläserne Helligkeit zu trüben. Ach wäre es mein Sohn! schreit +eine Stimme in ihm auf, wieviel leichter stände ich in der Welt, einen +solchen Erben meiner Wünsche für die Menschheit zu haben! Und um nicht +weinend über diesen Zwiespalt dazustehen, läuft er hinaus gegen den +Wald, mit stürzenden Tränen wie in seiner Jugend. + + + 64. + +Nicht lange danach macht Heinrich Pestalozzi die erste größere Reise +seines Lebens; die Tante Weber in Leipzig ist gestorben, und weil er +am ehesten abkömmlich ist -- wie ihm der Vetter Hotze in Richterswyl +nicht ohne Spott beibringt -- reist er als Erbbevollmächtigter seiner +mütterlichen Familie hin. Er reist gern, weil er sich freut, das Bärbel +wiederzusehen, das ihm in den fünfzehn Jahren als Frau Groß nicht +untreu geworden ist und aus seinen Briefen von allem Schicksal weiß. +Dahinter aber lockt die Hoffnung, daß er nun selber in dieses große +Deutschland fährt, aus dem ihm immer noch das stärkste Echo gekommen +ist. Vielleicht, daß er doch einen Reichsfürsten für seine Pläne findet! + +Die Fahrt geht noch im nassen März über Schaffhausen, Ulm, Nürnberg, +Bamberg; aber diese Städte sind nur die größeren Nachtpausen in der +endlosen Fahrt, die durch ein Gewirr von waldigen Hügeln, Wiesentälern +und Ackerfeldern unaufhörlich über neue Grenzen in immer fremdere +Gebiete führt. Wie es heißt, sind deutsche Heere nach Frankreich +gezogen, den gefangenen König zu befreien, und überall begegnet +er den Spuren dieses Feldzugs, sodaß er froh ist, nach einer fast +vierzehntägigen Reise endlich in Leipzig zu sein. Er findet seine +Schwester, die als Mädchen fortging, als eine stattliche Matrone +wieder an der Seite eines Mannes, der vom ersten bis zum letzten +Augenblick des Tages keinen andern Gedanken hat als sein Geschäft. Die +Förmlichkeiten der Erbschaft denkt er bald zu erledigen und danach +den eigenen Sachen nachzugehen; aber eine Eingabe zieht die andere +nach sich und ein Anwalt den andern; schon nach acht Tagen sitzt er +vor einem Berg von Akten, und jedes Papier hat die Sache schwieriger +gemacht. Dabei ist er ein Schweizer unter lauter Sachsen, und so +komisch er ihre Sprache findet, sie können das Lachen nicht verhalten +vor der seinen. Selbst wenn er jemand für seine Sache eifrig gemacht +hat, zerstört ein Gespräch mehr, als drei Briefe Nutzen brachten. Ist +er in der Schweiz mit seinen Taten der Narr der Leute gewesen, so wird +er es hier mit seiner Erscheinung; er vermag schließlich nur noch +ängstlich über die Straßen zu gehen, weil immer wieder die Buben mit +Gelächter hinter ihm drein laufen. + +Sein geheimer Plan, nach Weimar oder sonst an einen Fürstenhof zu +fahren, verdrückt sich dadurch; verschüchtert und ingrimmig über die +langwierigen Termine und die Ergebnislosigkeit seiner Reise fängt +er bald an, Heimweh nach seiner Schweiz zu kriegen, und eher, als +er gedacht hat, ist er auf der Rückfahrt. Nicht einem Menschen hat +er ernstlich von seinen Dingen sprechen können, aber mit seinen +Luftschlössern im Ausland ist er trotzdem fertig. Er hat gesehen, +daß Zürich und Leipzig für ihn dasselbe ist; hier wie dort gibt es +Stadtbürger, deren Namen einem gefüllten Geldsack den Klang verdankt; +hier wie dort sind diejenigen weiße Raben, die mehr als ihren Vorteil +wollen, nur daß er die weißen Raben daheim allmählich kennt und zu +beurteilen weiß, während er dort nicht einmal zu einer oberflächlichen +Kenntnis kommt! Auch auf der Heimreise sieht er nichts von den Ländern, +durch die sein Postwagen fährt. Überall Postmeister, Stadtsoldaten +und Zöllner, Schlagbäume und mürrisch geöffnete Stadttore. Ohne ein +eigentliches Erlebnis kommt er gedemütigt wieder an und nicht geneigt, +mehr als seinen geschäftlichen Bericht von der Reise zu geben. Daß er +zweimal dicht am Rheinfall vorüber gefahren ist, erfährt er erst, als +man ihn danach fragt. + +Das einzige, was er mitbringt, sind die ungeheuren Vorgänge in Paris, +von denen täglich neue Blutberichte nach Leipzig kamen. Noch lebt der +König, aber schon weiß man, daß er kaum mehr als ein Gefangener der +Empörer ist. Auch sonst scheint die Weltordnung einzustürzen; das Elend +und die Verzweiflung der Armut stehen auf, wie Heinrich Pestalozzi +es längst befürchtete, und da er das Heilmittel angepriesen hat, die +Regierungen mit ihren Völkern übereins zu bringen, kommt er sich wie +ein Prophet vor, auf den niemand hören wollte. Aber als bis in den +Hochsommer hinein sich die Schreckensnachrichten häufen, sodaß es +scheint, als ob Paris den Untergang Jerusalems noch einmal erleben +solle, bekommt er die Nachricht, daß ihm die Nationalversammlung +der Empörer in Paris das Ehrenbürgerrecht des französischen Volkes +verliehen habe. Achtzehn Ausländern ist es zugesprochen worden, und +neben den weltberühmten Namen Washington, Klopstock und Schiller sieht +er den seinigen geehrt, wie er es niemals geträumt hätte. + +Er ist wieder einmal mit Hans Heinrich Füeßli zusammen -- den sie +unterdessen in Zürich auf den Lehrstuhl für vaterländische Geschichte +am Collegium Carolinum berufen haben -- als die Nachricht eintrifft: +Das ist was Rechtes, spottet der, um seine Freude zu verbergen, +Ehrenbürger einer Räuber- und Mörderbande zu sein! Aber in seinem +Kopf haben alle Gedanken schon eine neue Windrichtung angenommen: +Wo Heinrich Pestalozzi Ehrenbürger wird, sagt er fest, und bleibt in +seiner Gläubigkeit allem Hochmut fern, ist etwas Gutes im Wege! Für +eine Räuberbande könnten sie landauf, landab schon andere Leute finden, +auch in Zürich. + +Trotzdem, ein Ehrenbürger des Aufruhrs bleibst du, sagt Füeßli nun +gleichfalls ernst und setzt seinen Hut auf, weil er doch gehen will! +Da gibt ihm Heinrich Pestalozzi die Hand, und jedes Rünzelchen seines +braunen Gesichts scheint einzeln zu lächeln: Du meinst, weil ich selber +ein Aufrührer sei? Ich hätte freilich gern euren Brei gerührt, er war +zu zäh für meine Holzlöffel, die mir nacheinander zerbrochen sind. Was +gilts, die haben eiserne Löffel, und ihr werdet daraus essen müssen! + + + 65. + +Seit diesem Tag ist ein Schein in der Welt, der Heinrich Pestalozzi +das Blut unruhig macht; er fühlt, daß es die Sache der Menschheit +ist, die in Paris verhandelt wird, und soviel Greuel da mit Greueln +totgeschlagen werden: er wartet aus der wilden Mordnacht getrost auf +ein Morgenlicht, das auch seinen Dingen scheinen soll. Für ihn bedeutet +die Verkündigung der Menschenrechte auch die der Menschenpflichten; +während die Franzosen ihrem König den Kopf abschlagen, schreibt er in +einer glühenden Schrift sein klares »Ja oder Nein« zu dem Aufruhr der +verwahrlosten Menschennatur; und weil er sieht, wie nun das Christentum +von denen zur Hilfe gerufen wird, die es bisher nicht brauchten, +scheut er sich nicht, die Übereinstimmung der christlichen Lehre mit +den sozialen Forderungen der Revolution in einer zweiten Flugschrift +darzulegen. Aber er findet keinen Drucker in der Schweiz für diese +Kühnheiten, und seine Freunde sind erlöst, daß er sie ins Schubfach +legt. + +Indessen Heinrich Pestalozzi so die flackernden Brände der +Zeitgeschichte in den Spiegel seiner Ideen nimmt, sitzt er selber noch +überflüssig auf dem Neuhof im Altenteil; so kommt ihm eine Anfrage +seines Vetters, des Doktors Hotze, recht: Der will eine längere Reise +nach Deutschland machen, wo seine Tochter einen Herrn von Neufville +in Frankfurt heiratet, und er soll ihm über den Winter das Haus in +Richterswyl hüten. Er sieht sich als stellvertretender Hausherr in die +Sorglosigkeit eines wohlhabenden Hauses am See verpflanzt, den Freunden +in Zürich mit einer nicht zu umständlichen Schiffahrt erreichbar und +mitten in einer Landschaft, die ihn mit den letzten Gesängen der +Weinernte umfängt und gegen das rauhe Birrfeld ein einziger Garten ist. +Zum erstenmal in seinem unrastigen Mannesleben weicht die Täglichkeit +der Sorgen von ihm zurück, und während er in den ersten Tagen sein +zeitweises Besitztum abschreitet, gegen den See hinunter und bis an den +Wald hinauf, kommt es ihm vor, als habe er in seinem Leben noch keinen +Spaziergang gemacht. + +Wie er nun eines Tages unten am See sitzt und sich von der letzten +Wärme der Herbstsonne durchschauern läßt -- es ist dieselbe Stelle, wo +ihn die Mutter damals auf den Armen ins Haus holte -- muß er an den +Knaben im Federhut denken, der es unterdessen bei den Kaiserlichen +zum General gebracht hat. Wo sind meine Taten? fragt er da in die +blausonnige Seewelt hinaus, und alles, was er an großen Dingen +versuchte, erst mit seinen mißlungenen Gründungen, danach mit seiner +Feder, scheint ihm ärmlich und zerstreut. Wohl hat er mit Lienhard +und Gertrud einen Plan aufgebaut, wie der verwahrlosten Menschheit +zu helfen wäre, aber der Plan ist auf das Herrenrecht gegründet +gewesen, das er nun überall wanken sieht. Er ist nicht auf den Grund +der Menschennatur gegangen, er hat seine Vorschläge an Verhältnisse +geklebt, die sich vor der großen Abrechnung, die nun kommt, nicht +halten können, und so bröckeln sie mit ihnen hin. Nichts scheint ihm +fest in dieser Zeit, als der Gedanke der menschlichen Verpflichtung, +der sich im Schicksal der Tage aufringt und aus dem allein die Ordnung +der Zukunft kommen kann. + +Er sitzt noch mitten in dieser Rechnung, als er drei Männer vom Haus +herunter an den See kommen sieht, von einer Magd zu ihm gewiesen: +Landfremde, die er aus Zürich kennt, zwei Deutsche und der dänische +Dichter Baggesen; der eine Deutsche aber, namens Fichte, hat die +Tochter einer Freundin in Zürich geheiratet und ist ihm dadurch wie +durch den Steilflug seiner Gedanken vertrauter geworden. Wie die +drei gerade in dieser Stunde daher kommen, wird ihm alttestamentlich +zumut, so wohl tut ihm ihre Gegenwart. Noch sind sie keine Stunde +da, als er schon tief im Gespräch ist, wie nichts nötiger sei als +eine Nachforschung über den Gang der Natur in der Entwicklung des +Menschengeschlechts. Die Abrechnung mit der alten Zeit ist da, und +allein aus der Natur kann die Formel für die neue gefunden werden. Er +hat ein Gefühl, als ob ihm in der Tiefe ein Strom aufgebrochen wäre, +daraus seine Rede zur Sprache des Lebens selber würde. Und da es Männer +sind, die wie er diese Zeit im Innersten erleben, die nicht wie die +Regierenden und Besitzenden händeringend um die bedrohte Macht und +ihren Reichtum dastehen, sondern in sich die Seele und das Schicksal +ihres Volkes und der Menschheit fühlen, spricht er nicht rauben Ohren. +Der Tag geht hin und die halbe Nacht; und obwohl sie kaum Wein dazu +trinken, ist ein Rausch in ihnen, daß sie sich aller Dinge kraft ihres +Geistes mächtig fühlen. + +Als gegen Mitternacht der Mond aufgeht, treten sie noch einmal hinaus, +wo eine alte Linde ihre Äste über den Hof senkt. Das ist unser +Freiheitsbaum, sagt Heinrich Pestalozzi und faßt die Hände seiner +Nachbarn: seine Wurzeln im Saft der Erde halten die Krone im Wind; +kein dürrer Steckling, sondern eine gewachsene Kreatur! Ehe sie es +selber merken, hat sich auch Fichte als der vierte eingefaßt, sodaß +sie in einem Ring um den Lindenbaum dastehen. Aber der Stamm ist so +dick in den Wurzeln, daß sie sich alle vier ihm dicht zuneigen müssen +und mehr in einer Umarmung als zum Reigen dastehen: Es ist nichts +mit dem Tanzen, sagt Heinrich Pestalozzi, jetzt weiß ich, warum die +Freiheitsbäume der Franzosen so dünn sind! + + + 66. + +Danach fühlt Heinrich Pestalozzi, wie alles in seinem Leben der +Auflösung entgegengeht. Nach dem Winter in Richterswyl findet er +sich nicht mehr in den Neuhof zurück; wohl hält er sich auch danach +noch wochenlang dort auf, aber seitdem seinem Sohn eine Tochter +Marianne geboren ist, die ihn zum Großvater macht, sitzt et nur noch +wie ein Zuschauer dabei, wenn sie sich abends im Lichtkreis um den +Tisch sammeln -- es ist immer noch die Messinglampe, die ihm schon in +Müligen geleuchtet hat und bis auf den Tag das Staatsstück des Hauses +vorstellt. Er ist nun wieder viel und gern bei seiner Mutter, die noch +einmal nach der kleinen Stadt hinübergezogen ist, wo sie mit einer +Aufwärterin in zwei Stuben ihr einsames Wesen hat; denn auch das Babeli +liegt bei St. Leonhard begraben nach seinem tapferen Leben. Sie ist +nun in der Mitte der Siebziger, schlohweiß und eingeschrumpft; doch +weiß sie noch immer, daß sie eine geborene Hotzin ist, und Heinrich +Pestalozzi erfährt manchen Tadel, weil er nicht acht gibt auf ihre +Ordnung und Reputation. Am liebsten hat sie, wenn er vom Bärbel und +seinem Besuch in Leipzig erzählt und wie da alles in den Glanz des +bürgerlichen Lebens gekommen ist, den sie entbehren mußte; es gibt +Fragen, die sie schon hundertmal gestellt hat und deren Antwort sie +doch immer mit der gleichen glücklichen Neugier abwartet. Auch ein paar +dunkle Stellen sind da um den andern Sohn, wo sie den Kopf schüttelt +und am Boden wie auf einer Landkarte den Verschollenen sucht; doch +kennt Heinrich Pestalozzi die Brücken, um sie rasch hinüberzubringen in +die sicheren Umstände ihrer Täglichkeit. + +Eines Tages im März wacht sie nicht mehr auf aus ihrem +Mittagsschläfchen; aber als er sie findet, liegt abgegriffen und +weich, kaum noch wie ein Papier, der letzte Brief ihres Johann Baptista +unter der Schürze, als ob sie ihn auch noch vor dem Tod ängstlich +verstecken wolle. + +Nun stehen wir vorn, sagt Heinrich Pestalozzi zu seiner Frau, als +sie von dem Kirchhof bei St. Anna zurückkommen und abgesondert von +den Leidtragenden in die leere Wohnung der Mutter gehen: wir beide +sollten nun hier wohnen und auf den Herold mit der Sense warten! Aber +Anna Schultheß, die auch schon achtundfünfzigjährig und eine rechte +Großmutter ist, hat in den dreißig Jahren gelernt, daß nichts weniger +als abwarten seine Sache ist: Wer weiß, sagt sie und lächelt ihn mit +der Güte an, die über alles Schicksal ihr edles Teil für ihn geblieben +ist: wer weiß, auf welchen Wegen wir noch gehen und den Herold abholen +müssen! + + + + + Abend + + + 67. + +Als Heinrich Pestalozzi und seine Frau Anna ein paar Stunden lang still +miteinander in den Stuben geblieben sind, daraus sie morgens seine +Mutter als die letzte von den vier Eltern ihrer Ehe auf den Kirchhof +getragen haben, trennen sich ihre Wege für lange Zeit. Nicht, daß sie +unfriedlich auseinander gingen; ihre Seelen sind selten so im Rätsel +der Vertrautheit gewesen wie an diesem Nachmittag, wo sie im Vorhof +des Todes und also im Allerheiligsten des Lebens ihre Hände und Augen +ineinander legen und das Naheste ihres Lebenskreises, ihr Fleisch +und Blut im Neuhof und dahinter die Herzensfreunde nur noch wie eine +fremde Ferne fühlen. Aber Abmachungen vom Morgen rufen Anna zu ihren +Brüdern im Pflug, wo noch am Abend ein Wagen sie zu einer Freundschaft +abholen soll. Er mag weder zum einen noch zum andern: Es sind deine +Sachen, sagt er, wie meine Mutter allein die meine ist; ich will noch +ein paar Tage ihr Sohn gewesen sein, weil nun der Faden meiner Kindheit +abgeschnitten wurde. + +Es schlägt fünf Uhr, und der Märztag geht rötlich dem Ende zu, als er +sie auf die Straße bringt. Wir sind im Nachmittag, sagt er, und weil +am Morgen und Mittag alles kam, wie es geschehen mußte, wird auch der +Abend unseres Lebenstages nicht anders sein! Danach geht er hinauf und +sitzt zum Abend schon tief in den Gedanken, die seit Wochen und Monaten +das Selbstgericht seines Daseins sind: »Ich will wissen, was der Gang +meines Lebens, wie es war, aus mir gemacht hat; ich will wissen, was +der Gang des Lebens, wie es ist, aus dem Menschengeschlecht macht!« Das +sind seine Nachforschungen aus Richterswyl, und er verläßt die Stuben +seiner Mutter nicht eher, als bis er die Schrift vollendet hat, an der +er nun schon im dritten Jahr seine Denkkraft versucht. Er schreibt +sie nicht für sich und nicht um seinetwillen, er sieht sich in der +Menschheit und die Menschheit in sich, er will der wirren Zeit einen +sicheren Maßstab und Weiser ihrer Taten geben. Dies aber ist ihm im +Einzelnen wie in Allen der gleiche Gang der Natur: aus dem tierischen +Paradies der Jugend in die gesellschaftliche Verpflichtung als Bürger, +als Teil der Familie, der Gemeinde, des Staates, als Erfüller eines +Berufes; doch kann für ihn dieses Dasein des brauchbaren Bürgers nicht +Sinn und Ziel des Lebens sein: das Ziel ist allein der Mensch als +sittlicher Zustand, der sich jenseits von allem bürgerlichen Zweck in +das Weltwesen einordnet, wie es der Weisheit des Alters vorbehalten +scheint. Die selige Unschuld der Jugend kann er mit dem Bewußtsein +des Alters nicht wieder erreichen, aber doch die Unfreiheit des +gesellschaftlichen Menschen überwinden und als letzte Einsicht die +Einheit der Kreatur mit dem Schöpfer wieder gewinnen, die das Tier in +seiner paradiesischen Unschuld nicht verliert. + +Es ist der Abschied von seinen Mannesjahren, den Heinrich Pestalozzi +einsam feiert, als er über dieser Schrift wochenlang mit dem hitzigen +Eifer seiner Jünglingsjahre sitzt. Daß er sie in der Stube seiner +Mutter niederschreibt, bringt ihm auch sonst die Stimmung der Zeiten +zurück, da er den spartanischen König Agis in die Zürcher Verhältnisse +beschwor. Wie damals hätte er gern einen Kreis Gleichgesinnter gehabt, +ihnen die gelungensten Stücke aus seiner Schrift vorzulesen; aber es +gibt keine Gerwe mehr, Bodmer liegt seit dreizehn Jahren in der Erde, +und statt seiner heiteren Menschlichkeit herrschen die Humanisten über +die Zürcher Jugend. Gleichwohl, als er zu Ende ist mit seiner Schrift +und im Gefühl tiefer Dankbarkeit aufatmet nach der fiebrigen Anspannung +dieser Wochen, treibt es ihn, einen Kreis alter Freunde zu suchen, +denen er die Hauptstücke seiner Nachforschungen vorlesen darf. Die +meisten sind unterdessen Großvater geworden gleich ihm, und der Beruf +hat nicht allen Zeit gelassen, den Lebensfragen so nahe zu bleiben wie +er; aber die Feuersbrunst von Westen hat so viele Brandflocken in die +Schweiz herüber geworfen, daß auch die Zurückhaltenden die Unruhe der +Zeit fühlen; und schließlich ist Heinrich Pestalozzi nicht mehr allein +der Armennarr von Neuhof, sondern auch der berühmte Verfasser von +Lienhard und Gertrud und schweizerischer Ehrenbürger der französischen +Republik. + +So kommt es zu einem Frühsommerabend, wo er wieder wie als Jüngling mit +dem Agis nun mit seinen Nachforschungen über den Gang der Natur dasitzt +und seine zitternde Stimme Wege in ihre Herzen suchen läßt. Er weiß, +dies ist für ihn mehr als eine Schrift, es ist die Grundlage alles +dessen, was er in Taten und Worten versucht hat, die Rechtfertigung +seines im bürgerlichen Sinn gescheiterten Daseins und zugleich ein +Religionsbuch der Zeit, wie er keines kennt. Aber die Freunde haben +etwas anderes von dem Ehrenbürger der Franzosen erwartet, etwas, darin +der Brand der Zeit ist; sie sehen sich wieder einmal enttäuscht durch +ihn, und obwohl sie betreten schweigen und vor seinen zitternden Worten +stumm bleiben, mag in allen das gleiche Gefühl sein: daß in diesem +Menschen eine krankhafte Sprunghaftigkeit sei; nun er als Figur für die +Öffentlichkeit feststeht und sein Weg durch die Erfolge vorgezeichnet +ist, verfällt er auf philosophische Spekulationen, zu denen es ihm -- +so scheint es ihnen -- durchaus an der Bildung fehlt. Der Abend geht +peinlich in eine betretene Stimmung aus; nur ein alter Landpfarrer +vom See, der ihn schon mehrmals im Neuhof besucht hat, ein ehrlich +gesinnter Menschenfreund, ist erregt von dem Abend. Er begleitet ihn +nach der kleinen Stadt hinüber, und Heinrich Pestalozzi scheint es, als +ob er auf der mondlichten Brücke und nachher in dem Schattengewinkel +der Gassen ein paarmal tief vom Herzen seufze. Erst vor seiner Tür +findet der Mann die Worte zu seiner Bewegung, indem er die Kappe +abnimmt und ein paarmal über sein weißes Haar streicht: er müsse +Abschied von ihm nehmen; er könne sich nun einmal sein Christentum +nicht als einen Kirschbaum denken, den sich die Menschen selber in +ihren Garten gepflanzt hätten! + +In seine Milde ist ihm unvermutet der pfarrerliche Zorn gefahren; ehe +Heinrich Pestalozzi -- der mehr den Zorn als die Worte versteht -- +aus seiner Bestürzung antworten könnte, ist der alte Mann schon im +Schlagschatten der nächsten Quergasse verschwunden. Sie wollen alle +das Beste, sagt er bitter, als er im Dunkeln die enge Stiege allein +hinauf tappt, aber sie fürchten das Gute. Noch in derselben Nacht aber +schreibt er sich selber eine bittere Grabrede als Nachwort zu seiner +Schrift: »Und die Welt zerschlug ihn mit ihrem eisernen Hammer, wie +die Maurer einen unbrauchbaren Stein zum Lückenfüller zwischen den +schlechtesten Brocken!« + + + 68. + +Es geht Heinrich Pestalozzi mit seinen Nachforschungen in der großen +Welt nicht anders als in der Enge seiner Zürcher Freunde; trotz seinem +flehentlichen Schlußwort kommt kein Echo, und wenn alles ein blasser +Unsinn gewesen wäre, könnte die Stille nicht peinlicher sein. Aber +nun ist es zu Ende mit der Einsiedlerschaft und der Wartezeit seiner +einsamen Mannesjahre: die Stube der Mutter hat ihn wieder in seine +Vaterstadt gebracht, und von den Signalen seiner Jünglingszeit erfüllt, +nimmt er teil an dem Handel mit dem aufrührerischen Stäfa, der auch den +Gestrengen Herren in Zürich die Schicksalsstunde läutet. + +Er hat den Anfang schon in dem Winter erlebt, als er seinem Vetter +Hotze das Haus in Richterswyl hütete. Auch durch die Dörfer am See ist +der Sturmwind der Menschenrechte geweht und hat in dem unterdrückten +Landvolk die Erinnerung an alte Gerechtigkeiten geweckt, an den +Kappeler Brief und den Waldmannischen Spruch. Als die Urkunden sich in +der Gemeindelade zu Küsnacht wirklich fanden, haben die Seebauern zu +Küsnacht, Horgen und Stäfa, ein Memorial an die Gestrengen Herren in +Zürich gesandt, ob diese Briefe noch zu Recht beständen? Das allein +aber hat den Rädelsführern schon den Kopf kosten sollen, und nur der +hinreißenden Beredtsamkeit Lavaters ist es gelungen, Bluturteile zu +verhindern. Seitdem sitzen ihrer zwei aus den drei Orten gefangen im +Wellenberg, und über dem Haupt des Ältesten, eines siebzigjährigen +Greises aus Stäfa, namens Bodmer, ist auf offenem Markt das Schwert des +Henkers geschwungen worden, zum Zeichen, daß sein Leben den Zürcher +Herren verfallen sei. + +Heinrich Pestalozzi hat damals selber im Verdacht gestanden, das +Memorial verfaßt zu haben; als nun der Handel in einen Bürgerkrieg +auszugehen scheint, indem das erbitterte Landvolk -- von den +Sturmnachrichten aus Frankreich mutig gemacht -- die Aufhebung des +ungerechten Urteils und die Freigabe der Eingekerkerten unter Androhung +offener Gewalt verlangt, sodaß die Revolution in der Schweiz hier +ihren Ausgang nehmen will: ist er der einzige Zürcher, der es wagen +darf, in das empörte Stäfa zu gehen, um mit der Geltung seines Namens +den blutigen Ereignissen entgegenzuarbeiten. Er hat es unterdessen +auf sonderbare Weise noch einmal zum Fabrikanten gebracht: eine +Seidenfirma Notz richtet auf der Platte in Zürich eine Fabrik ein +und braucht einen Zürcher Bürger als Inhaber, um die Erlaubnis der +Niederlassung zu erhalten; weil, wie er selber spottet, sein Name in +den zweiundfünfzig Jahren das einzig Brauchbare an ihm geblieben ist, +läßt Heinrich Pestalozzi sich den abkaufen. So führt er bürgerlich +nur noch ein Schattendasein; aber mit Sendschriften und Flugblättern +flackert sein landfahrender Menschengeist durch den wilden Handel. Zum +erstenmal seit seiner Jünglingszeit kommt er dabei wieder mit Lavater +überein, der -- wie er in den Seegemeinden -- in Zürich die Regierung +von gewaltsamen Schritten abhält. Überall liegen die Waffen zur offenen +Empörung bereit, Blut soll die verweigerte Gerechtigkeit auslösen, und +die Verhandlungen zwischen den feindlichen Mächten sind abgebrochen: +da überbringt Heinrich Pestalozzi einen offenen Brief Lavaters an +den redlichsten Mann in Stäfa, in dem eine friedliche Freilassung +der Verurteilten aufs bestimmteste in Aussicht gestellt wird. Und so +ehrlich ist das Vertrauen der Landbürger auf die beiden Männer, daß die +Waffen noch einmal ruhen. + +Umso aufrührerischer aber tut das zugelaufene Volk, das sich eine +Gelegenheit entschwinden sieht. Seitdem es sich herumgesprochen hat, +daß in Stäfa der Handel des unterdrückten Landvolks mit den hochmütigen +Stadtherren zum Austrag kommen soll, ist dort alles zusammengeströmt, +was in der Zürcher Herrschaft und in den Kantonen rundum auf den Tag +der Abrechnung wartet, sodaß die Wirtschaften und Scheunen in Stäfa +voll sind von einer braunen wilden Menge: ehrlich Verbitterte, die +auf Vergeltung lauern, und gewalttätiges Bettelvolk, das schon von +einer Plünderung der reichen Zürichstadt träumt, alte Kriegläufer, +die in der neuen Ordnung keinen Platz mehr gefunden haben. Sie haben +ihr Hauptlager in einer leeren Scheune, wo sie die Zürcher Herren mit +wilden Flüchen nach dem Pariser Vorbild an die Laternen hängen, obwohl +sie vorläufig weder Laternen noch Zürcher dahaben. Im Vertrauen auf +seine Geltung wagt sich Heinrich Pestalozzi mit dem Brief Lavaters +auch dahinein; aber da wissen sie nichts von Lienhard und Gertrud und +seinem Ehrenbürgertum, ihnen ist er nichts als ein Zürcher Spion, und +so empfängt ihn in der halbhellen Scheune eine Schweigsamkeit, die nur +höhnisch lachen, nicht mehr sprechen kann. Zu arglos in seinem Eifer +fängt er an, gutmütig scheltend auf sie einzureden; aber als er schon +denkt, sie zu rühren -- so still ist es um ihn -- tut einer einen Ruf, +und gleich ist es, als ob sich rundum ihre Hörner senkten. Er hat noch +ein Stück seiner Rede im Mund, da heben sie ihn wie eine Strohpuppe an +den Beinen hoch und tragen ihn, die Marseillaise heulend, durch den +Raum. Noch immer täuscht sich Heinrich Pestalozzi über die Gefahr und +versucht, auf sie einzureden; aber je mehr er dabei in ihren Fäusten +zappelt, umso höhnischer wird das Hetzgeschrei -- bis ein Schuß fällt. +Einer hat den Zürcher abschießen wollen wie einen Schützenvogel, aber +gefehlt, und die Kugel zischt ins Gebälk. In der Verwirrung kommt er +wieder auf den Boden; aber es wäre keine Rettung für ihn gewesen, wenn +sich nicht ein stakiger Kerl mit einem alten Soldatenhut vorgedrängt +hätte, der ihm gleich beim Eintritt durch das von feurigen Narben +entstellte Gesicht und um einer Ähnlichkeit willen aufgefallen wäre: +Heißt der Mann nicht Pestalozzi? Und als einige verblüffte die barsche +Frage bejahen: Dann Brand und Pest, wer ihn anrührt! Er gehört mir, wir +haben noch etwas miteinander auszumachen! Dabei hat er schon seinen +alten Reitersäbel blank, und Heinrich Pestalozzi meint, sein Arm müsse +unter dem Griff zerbrechen, wie er ihn durch das Gedränge schiebt und +mit dem Fuß das klappernde Tor aufstößt: So, Heiri, sagt er, als er ihn +draußen hat -- und Heinrich Pestalozzi aus dem verwüsteten Gesicht den +Ernst Luginbühl erkennt -- jetzt schau, daß du weiterkommst! + + + 69. + +Mit diesem Vorspiel in der Scheune ist das Kriegstheater in Stäfa schon +wieder aus; bereits am dritten Tag danach kommt der Bürgermeister +Wyß, durch einen dringenden Brief Lavaters aus der Tagsatzung in +Aarau gerufen, zu einer Sitzung der Rate und Bürger, die den Wünschen +des Landvolks nachgibt. Heinrich Pestalozzi ist dabei, wie sie unter +Glockengeläut und Freudenschüssen die Befreiten in geschmückten Wagen +heimholen, und an der Grenze von Zollikon spricht er dem ehrwürdigen +Bodmer einen Zuruf, dem diesmal die Freude lauter nachschreit, als die +Wut in der Scheune. Den Luginbühl findet er nicht mehr, der gehört zu +denen, die sich der neuen Lage mißtrauend davon gemacht haben, an einem +andern Ort die Abrechnung zu erwarten; denn daß die alte Zeit stürmisch +zu Ende geht, fühlt jeder in der Schweiz, seitdem der General Bonaparte +von seinem siegreichen Feldzug in Italien nach Rastatt selbstherrlich +durchs Land gereist ist, Gunst und Ungunst wie ein Herrscher verteilend. + +Heinrich Pestalozzi vermag die Stunde nun doch nicht in Zürich zu +erwarten; in der Seidenfabrik auf der Platte ist nur sein Name nötig, +er selber geht noch einmal auf das Birrfeld zurück. Vorher läßt er die +Stuben seiner Mutter ausräumen und fährt so nach dreißig Jahren zum +andernmal auf einem Wagen mit Hausrat aus der Sihlporte hinaus. Es ist +ein graulicher Wintertag, und er kommt im Dunkeln auf dem Neuhof an, wo +ihm seine Schwiegertochter unterdessen ein zweites Enkelkind geboren +hat, sein Sohn Jakob aber schon viele Monate gelähmt daliegt. Es war +noch zu früh, sagte er der Lisabeth, die noch im Mondlicht mit einem +schweren Korb aus der Scheune kommt und ihn vor Erstaunen hinsetzt: ich +muß ein kleines warten, bis sie mich brauchen; meinen Namen hab ich +dahinten gelassen; er ist in Zürich Fabrikant! + +Es ist wirklich nur noch ein kleines; fünfmal kommt er noch +Sonntags auf seinem Pferdchen nach Brugg, im Gasthof zum Sternen +die Schaffhauser Zeitung zu lesen, und jedesmal sind es der +Sturmnachrichten mehr: Im Waadtland fängt es an mit der lemanischen +Republik; wohl rufen die Berner den Landsturm auf gegen die +eindringenden Franzosen, und Tausende folgen den Sturmglocken, aber +die Kräfte sind verzettelt; als es dem tapferen Oberst von Grafenried +gelingt, die Welschen im Sensetal blutig zu schlagen, ist der Sieg +umsonst, weil unterdessen der General Schauenburg nach dem Gefecht +bei Fraubrunnen an einem Märzmittag in Bern eingezogen ist und der +unbesiegten Stadtherrlichkeit eines Jahrtausends ein unrühmliches Ende +gemacht bat. + +Wie Heinrich Pestalozzi zum sechstenmal geritten kommt, steht +von eilfertigen Patrioten aufgerichtet auch schon in Brugg der +Freiheitsbaum: es ist vorüber mit der alten Eidgenossenschaft der +Landstände; die Tagsatzung in Aarau muß im Zwang der französischen +Waffen die Helvetische Republik proklamieren. Obwohl der Baum ihm immer +noch zu dünn und ohne Wurzeln ist, steigt er ab von seinem Tier und +tauscht den Bruderkuß. Im Sternen will man ihn deshalb hänseln, er aber +fährt sie zornig an: Die alte Welt konnte von Heinrich Pestalozzi nur +noch den Namen gebrauchen, vielleicht, ihr Herren, daß in der neuen +Platz für mich selber ist! + + + 70. + +Heinrich Pestalozzi weiß wie wenige im Land, daß die Freiheit eines +Volkes andere Dinge verlangt, als daß ihm die Ketten einer ungerechten +Verfassung abgenommen werden: der Baum, den sie im Wald abschneiden und +ohne Wurzeln in die Straße pflanzen, scheint ihm ein passendes Sinnbild +solcher Freiheit. Er aber ist auf seinem Neuhof der Armennarr geworden, +weil er einen Freiheitsbaum mit Wurzeln wollte: Ein Volk, das sind +tausend und viele tausend Einzelne; jeder Einzelne aber bringt eine +lebendige Menschenseele mit auf die Erde, und wer diesen Seelen ein +Gärtner ist, daß sie in der Jugend Wurzeln schlagen können zu einer +wirklichen Anschauung der Weltzusammenhänge, tut mehr für die Freiheit, +als wer einen neuen Zaun mit prahlenden Fähnchen an den Toren um den +Garten zieht. Von allen Figuren um Lienhard und Gertrud steht ihm der +Leutnant Glüphi am nächsten, der sich kein besseres Los auf der Welt +findet, als den Dorfkindern in Bonnal ein Schulmeister zu sein; und +seit dem Tag, da die Helvetische Republik Raum für solche Dinge gibt, +brennt Heinrich Pestalozzi vor Begierde, es seinem Leutnant gleich zu +tun. + +Gleich in den Frühlingstagen der jungen Republik geht er hinüber nach +Aarau, sich dem Vaterland anzubieten. Er findet es ungünstig, indem der +zuständige Minister, an den er durch Lavater dringend empfohlen ist, +noch in Paris weilt. Trotzdem spürt er gleich, daß die Lebensluft der +neuen Verhältnisse ihm günstiger weht; sein Name schließt Türen auf, an +die er bisher vergeblich klopfte, und als er einen Brief hinterläßt, +weiß er sicher, daß in den Aktenfächern kein Stockfisch daraus wird. + +Der neugebackene Minister der Künste und Wissenschaften Albert Stapfer +ist vordem Professor der Philosophie in Bern gewesen; er kann Heinrich +Pestalozzi nicht freundlicher gesinnt sein, als es Iselin und Battier +vor ihm gewesen sind, aber seine Ministerhände greifen breiter als die +ihrigen; auch kehrt die neue Regierung noch scharf als neuer Besen, und +unter den Männern in der Schweiz ist keiner, der aufrichtiger dabei +helfen will, als der Einsiedler und Armennarr vom Neuhof. Stapfer +ist kaum aus Paris zurück, als ihn die Bürger von Aarau schon fast +täglich mit Heinrich Pestalozzi unterwegs sehen. Er lutscht noch immer +an seinem Halstuchzipfel und stellt auch sonst neben dem feinen und +gewandten Stapfer einen altmodischen Großvater vom Land vor; aber +hier kennen und ehren ihn viele, die ihm nun die lange Schicksalszeit +auf Neuhof als ein Martyrium der neuen Herrlichkeit anrechnen; denn +in Aarau als Vorort ist man mit der Helvetischen Republik nicht übel +zufrieden. + +Stapfer, der voll eigener Ideen ist, will zuerst der allgemeinen +Schulnot des Landes durch ein Lehrerseminar abhelfen, durch das +endlich andere Männer als Schneider und Schuster in die Dorfschulen +kämen; er tritt eines Tages auf der Straße mit dem Einfall auf ihn +zu, daß er die Leitung übernehme. Aber Heinrich Pestalozzi hat gerade +Kindern zugehört, die in einem schattigen Winkel Schule spielen und +sich mit dem Prügelstock und Geschrei den Katechismus abhören; die +ganze Sinnlosigkeit dieses Betriebes ist ihm aufgegangen als ein +Handwerk, das weder Werkzeug noch Fertigkeiten hat, und wehmütig +lächelnd entgegnet er dem Minister: Wie soll man etwas lehren können, +was noch keiner kann? Es hilft nichts, Bürger Minister, ich muß erst +Schulmeister werden! + + + 71. + +Heinrich Pestalozzi hat dem Minister den Plan einer Armenschule +eingereicht; der ist genehmigt worden, und er wartet auf die Anweisung, +wo er beginnen könne, als der neue Besen der Regierung schon im +Stiel zu wackeln beginnt. Im Juni soll der Helvetischen Republik +der Huldigungseid geleistet werden; aber die Urkantone, die unter +dem tapferen Reding den unerbetenen Geburtshelfern aus Frankreich +bis zuletzt blutigen Widerstand geleistet und bei Morgarten dem +Schlachtenruhm der Väter ein neues Blatt beigefügt haben, bleiben +halsstarrig. Sie werden von den französischen Heerhaufen überwältigt, +aber sie geben ihr Herz nicht aus der Hand. Ehe Heinrich Pestalozzi +es merkt, sieht er sich dem Uhrwerk in Aarau eingefügt, das solchem +Widerstand zum Trotz die neue Schweizerzeit einlaufen soll: es gilt, +Aufrufe zu schreiben, redlich und einleuchtend genug, zum wenigsten +die Gutwilligen für die neue Ordnung zu gewinnen. Es sind keine +Nachforschungen mehr, was er schreibt, es sind die quellenden Worte +eines Fürsprech, der das Schicksal des Angeklagten in die Macht seiner +Rede gelegt sieht. Für ihn ist die Sache Frankreichs die Entscheidung +der Menschheit; wenn sich die Schweiz ihr abwendet, ist sie für lange +verloren: »Ihr tretet jetzt hin, die Sache der Telle und Winkelriede +gegen alle Geßler, die Sache der Völker gegen alle Unterdrücker -- die +Sache der Kirchen und Schulen, der Vernunft und des Fleißes gegen die +Barbarei Dummheit, Bettelei und das Elend zu verteidigen!« Wieder wie +in Stäfa steht er mit der Macht seiner Rede im Kampf, aber diesmal geht +sie ans ganze Schweizervolk; ihm zuliebe hat er Fürsprech werden wollen +aus den Griechenträumen seiner Jünglingszeit, nun ist es zum zweitenmal +Wahrheit geworden. + +Als auch die Gewalt zu Aarau es mit einem Regierungsblatt versucht, +den guten Willen und die Einsicht ihrer Machthaber in alle Köpfe zu +predigen, ist Heinrich Pestalozzi der Mann des Schicksals, es zu +leiten: statt in eine Armenschule sieht er sich in die Redaktion des +Helvetischen Volksblattes gesetzt, das vom Herbst ab wöchentlich +erscheinen soll. Es wiederholt sich alles, denkt er, der es vordem mit +seinem Schweizerblatt schon auf eigene Hand versucht hat. Aber die +eigene Hand ist besser daran gewesen, sie hat schreiben können, was sie +wollte; hier kommen andere mit ihren Schriftstücken: er ist schließlich +nichts als ein Sekretär, der sich mit dem guten Willen und der Torheit +seiner Vorgesetzten herumschlägt. Auch was er selber schreibt, wird ihm +diktiert, und da er nichts ohne sein Herz vermag, steigert er sich in +einen blinden Glauben hinein, aus dem er redet und schreibt, als ob das +alles sein Herzblut wäre. + +Am 8. September endlich erscheint die erste Nummer, tags darauf aber +tut das Schicksal einen Schlag auf seinen Redaktionstisch, daß ihm die +Spreu seiner politischen Leitartikel für immer durcheinanderfliegt. +Er ist unterdessen mit der Regierung als ihr unlösbares Anhängsel +nach Luzern gezogen, der neuen Hauptstadt der Helvetischen Republik, +wo ihm die Berge der Telle und Winkelriede, von denen er geschrieben +hat, täglich vor Augen stehen. Auch fährt er eines Tages mit Legrand +von Basel und anderen Räten aus dem Direktorium über den grünblauen +See in die enge Bucht von Stansstad, wo sie unter freiem Himmel eine +Besprechung mit den aufständischen Nidwaldern haben, die der Republik +den verlangten Eid verweigern. Er ist den Bollwerken der heimatlichen +Unabhängigkeit noch nicht so nahe gewesen, und als er aus dem Kahn ans +Ufer tritt, möchte er sich vor Ehrfurcht hinwerfen, den heiligen Boden +zu küssen. Er sieht aber auch den Husarenkapuziner, wie sie ihn nennen, +den Pater Paul Styger, den roten Zünder der fanatischen Volksbewegung; +in Todesfeindschaft stehen sie auf dem geheiligten Boden gegeneinander, +die in beiden Lagern doch Schweizer und um der selben Heimat willen +voller Feindschaft sind. Wie leicht ist der Haß der Menschen aufzurufen +und wie schwer die Güte! denkt er und fühlt mit einem schaudernden +Blick in sein Leben, daß er nun selber Partei ist: mit anderen, aber +nicht besseren Gründen als diese Männer aus Nidwalden auch, die alle +ihre Hände wie zum Schwur übereinandergelegt halten und gleich den +Stieren ihres Landes dastehen, die vermeintliche Freiheit der Väter zu +verteidigen. + +Da die Nidwaldener es nicht bei ihrer Weigerung belassen, sondern +sich zu zweitausend waffenfähigen Männern um den Husarenkapuziner +scharen, die von Uri und Schwyz Zuzug erhalten und so dicht vor +den Toren der Hauptstadt Luzern eine böse Gefahr für die junge +Republik bedeuten, zumal die katholischen Luzerner selbst mehr zu den +Nidwaldenern als zu der ketzerischen Regierung halten: ruft die den +General Schauenburg zu Hilfe. Der rückt mit sechzehntausend Franzosen +an, das Ländchen zum Gehorsam zu zwingen; drei Tage brauchen sie nach +den ersten Schüssen, bis sie vor Stans aneinander kommen, aber dann +ist es kein Soldatenkrieg mehr: Frauen und Kinder, alles, was einen +alten Morgenstern, ein Beil oder eine Sense tragen kann, ist dabei, +und als die Franzosen am Sonntag mittag mit dem Glockenschlag zwölf +in Stans einrücken, gilt es nicht den Sieg, sondern den Anfang einer +grausamen Metzelei. Es ist den Nidwaldern eingeredet worden, daß +es um den Glauben gehe, drum wollen sie lieber sterben, als in die +Hände der Ketzer fallen. Jedes Haus wird eine Opferstätte verrückter +Menschlichkeit, tief in die Nacht geht der wahnsinnige Kampf, und am +Morgen ist das blühende Stans ein rauchendes Ruinenfeld, darin die +Leichen wie geerntete Feldfrüchte liegen. Nur der Husarenkapuziner, der +ihnen unverwundbare Leiber und Engelscharen versprochen hat, ist über +die Berge davon. + +Hunderte von Luzernern sind -- weil es Sonntag ist -- auf die +unteren Abhänge des Pilatus und auf den Bürgenstock gestiegen, um +dem schrecklichen Schauspiel wie einem Manöver zuzusehen. Heinrich +Pestalozzi war nicht unter ihnen, aber er hat in Luzern die fernen +Kanonenschläge gehört und noch in der Nacht Nachricht von dem Greuel +des Tages erhalten. Drei Tage später fährt er hinüber und sieht den +rauchenden Kirchhof, wo die Luft nach den verbrannten Leichen riecht +und die schwälenden Rauchsäulen der erstickten Brände den Gefallenen +die Totenwacht halten. Lebendiges scheint außer den französischen +Soldaten, die mit verbitterten Gesichtern noch immer Totengräberarbeit +tun, niemand mehr in Stans zu sein; was die Franzosen nicht +niedergemacht haben, ist in die Berge geflohen; nur ein Trüppchen +Kinder sieht er, das sich in seiner Verzweiflung unter der Kirchmauer +geschart hat und, von einigen Soldaten bewacht, kaum anders aussieht +als ein Haufe jungen Schlachtviehs. Er hat im Ranzen Nahrung für sich +selber mitgebracht, die teilt er ihnen aus, und was er an Geld bei sich +hat, gibt er eilig den Soldaten, daß sie ihm Brot holen unten am See, +wo schon Kähne mit Nahrungsmitteln angekommen sind. Auch spricht er mit +den Kindern und läßt sichs nicht angehen, daß kaum eines eine Antwort +gibt; er vergißt Zeit und Ort um ihrer Not willen und ruht nicht, bis +er sie alle in der Klosterscheune gebettet hat, weil im Kloster selber +die verwundeten Soldaten bis in den Gängen liegen; erst, als er sie +endlich schlafend weiß, sucht er sich selber ein Lager. + +So bleibt er drei Tage lang mit ihnen und ist glücklich bewegt, als +sich das Trüppchen mehrt; am vierten Mittag findet ihn ein dringender +Bote aus Luzern um der fälligen Nummer des Helvetischen Volksblattes +willen. Er braucht lange, bis er sich in die Papierwelt seines letzten +Daseins zurückbesonnen hat; er schüttelt den Mann, der ihm folgt, +jähzornig ab und wäre so ein Armer unter den Ärmsten geblieben, wenn er +nicht dem Minister Rengger in die Arme gelaufen wäre, der auch diese +Ernte der neuen Regierung besichtigen und einen Bericht machen will: +Sollen wir nicht ein paar Tausend Volksblätter kommen lassen, sagt er +ingrimmig zu ihm, und die Tränen quellen ihm aus allen Rinnen seines +Gesichtes, das Elend einzuwickeln? + +Ein Waisenhaus wäre nötiger, sagt Rengger und stellt sich hart wider +ihn. Da ist Heinrich Pestalozzi schon am Nachmittag wieder in Luzern, +um keine Stunde zu versäumen, das zu erreichen. + + + 72. + +Es dauert drei lange Monate, bis die Regierungsherren in Luzern sich +einigen, Heinrich Pestalozzi nach Stans zu lassen. Es ist die letzte +Wartezeit, doch wird das Vierteljahr ihm länger als Jahre vorher, so +drängt die Ungeduld, endlich aus dem Stauwasser seiner Schriften in +Fluß zu kommen. Er würde in den höchsten Alpen, ohne Feuer und Wasser, +anfangen, wenn man ihn nur einmal anfangen ließe. + +Endlich im Dezember beschließt das Direktorium der Helvetischen +Republik, dem Bürger Pestalozzi die Einrichtung und Leitung eines +Waisenhauses in Stans zu übertragen; er wartet die Ausfertigung nicht +ab und fährt schon am zweiten Tag danach über den nebeligen See, um +bei der Baueinrichtung dabei zu sein. Die Anstalt soll in einem Flügel +des Frauenklosters eingerichtet werden, und der Baumeister Schmidt +aus Luzern geht mit hinüber, die notwendigen Veränderungen zu machen. +Da schon im Herbst eine scharfe Kälte eingefallen ist, sodaß den +Bauern die Erdäpfel in den Feldern erfroren sind, hat der Hunger die +Bettelwaisen aus ihren Schlupflöchern in die Häuser gejagt, wo ohnehin +schon zuviel hungrige Mäuler warten. Längst schon, bevor er Betten +und die sonstige Einrichtung hat, fängt Heinrich Pestalozzi an, Brot +zu verteilen und dabei seine Zöglinge zu suchen; als er Mitte Januar +die ersten Waisen bei sich hat, kann er zunächst an keinen Unterricht +denken, so verelendet sind sie. + +Es ist nur eine Stube fertig, sie aufzunehmen, und überall in +den Gängen werkeln die Bauleute noch mit Staub und Lärm. Tiere +könnten nicht so verwahrlost sein wie diese Menschenkinder, die mit +eingewurzelter Krätze und aufgebrochenen Köpfen, viele wie ausgezehrte +Gerippe, gelb, grinsend, mit Augen voll Angst und Mißtrauen von den +Verwandten oder auch vom Landjäger in den Kreis seiner Liebe gebracht +werden. Es ist anfangs kein Platz da, außer einer Haushälterin in der +Küche irgendwen zur Hilfe unterzubringen; auch wenn es ginge, Heinrich +Pestalozzi möchte es nicht. Damals in den rauchenden Trümmern hat das +Mitleid sein Herz hineingerissen; jetzt aber gilt es das Experiment +seiner Lehre: daß auch in dem niedrigsten Opfer der menschlichen +Verwahrlosung noch ein Keim läge, der zum Dasein einer sittlichen und +freien Menschlichkeit gepflegt werden könne. Er weiß, daß der Zwang +einer äußeren Ordnung, Ermahnungen oder gar Strafen die Herzen nur +verhärten würden, aus denen er dem Keim die erste Nahrung geben will; +nur die Liebe vermag ihn zu wecken, und was diese Liebe von ihm zu tun +verlangt, das vermöchte ihm kein anderer: er schält sie selber aus +ihren Lumpen heraus, er wäscht ihnen die Geschwüre und die Krusten der +Verwahrlosung ab, als ob er eine Tiermutter wäre in dem Winterlager, +wohin sie die Not und Kälte aus der verschneiten Bergwelt getrieben +hätten. Er ißt und schläft mit ihnen, er weint mit ihren Leiden und +lächelt zu ihren kleinen Freuden, sie sind außer der Welt und außer +Stans, sie sind bei ihm, als ob sie wieder in den Ausgang ihres +Lebens zurückgekehrt wären, um hier den Mut zu finden, nach so vieler +Bitterkeit das Dasein noch einmal zu versuchen. + +In kaum einem Monat sind es siebzig Waisen, und obwohl allmählich mehr +Stuben fertig werden und auch schon fünfzig Betten dastehen, sodaß +er ihrer nur zwanzig am Abend heimschicken muß, die tagsüber kommen, +ist er immer noch allein unter ihnen. Der Pfarrer Businger, den die +Regierung an Stelle des entwichenen nach Stans gesandt hat, und der +Bezirksvorsteher Truttmann -- beides wohlgesinnte Männer, die tapfer zu +ihm stehen -- drängen darauf, daß er sich Hilfe nähme. Er fände keinen, +der ohne Schaden zwischen ihn und die verscheuchten Seelen seiner +Zöglinge treten könnte. + +Als die Frühlingssonne den Schnee wegschmilzt, daß sich die grünen +Matten immer höher hinauf in die weißen Berge heben, ist in der +verwahrlosten Schar die Menschlichkeit schon äußerlich zu Hause; die +älteren Kinder helfen ihm, daß sich die kleineren sauber halten, die +ordentliche Nahrung hat vielen die Backen gerötet, und nun wartet er, +daß die Frühlingssonne sie bräune. Einige lockt ihr Straßenblut, und +manchmal geschieht es, daß eins in der Dämmerung entwischt, andere +kommen dafür wieder: es ist ein wenig wie ein Bienenstock, wenn die +Wärme drängt. Er läßt es sich nicht verdrießen, so sehr ihn der Undank +und die Untreue schmerzen; denn nun ist er längst in den Dingen mit +ihnen, die ihm mehr gelten als ordentliches Essen und saubere Kleidung. +Der Seelenfänger hat ihnen die Schlingen gelegt, und ob ihn das +Mitgefühl hinreißt, wo ein Schmerz oder eine Freude an sie kommt, ob +er mit seinen Großvaterbeinen treppauf und -ab rennen muß und zwanzig +Hände zu wenig wären, alles das zu tun, was auf ihn wartet: es sind nur +die Spinnfäden seiner Absicht, die er unermüdlich um ihre Seelen legt; +er selber sitzt still mitten im Nest und wartet auf die Stunden, wo er +seine Lehre an ihnen versuchen darf. + + + 73. + +Längst hat Heinrich Pestalozzi angefangen zu unterrichten; anfangs ist +er sich vorgekommen wie der alte Lehrer, zu dem ihn das Babeli brachte; +auch so mit der Ungeduld seines Alters im Gedränge ihrer Wünsche +und Fragen: wo es schwer wäre, mit einem Frager fertig zu werden, +sind es Dutzende, und dabei sitzen die Trägen noch immer abseits in +ihrer Untätigkeit. Doch merken sie bald, wenn er sich laut sprechend +hinstellt, daß sie alle nur sein einziger Zuhörer sind. Er lehrt sie, +seine Sätze im Chor zu wiederholen, und lockt Antworten heraus, die sie +gemeinsam sagen können; täglich gewitzter in dieser Kunst, die auch die +Unaufmerksamen in seinen Sprachkreis zieht, entdeckt er das Geheimnis +der Klasse, die aus dem Vielerlei von Schülern ein Wesen macht, sodaß +es gleich ist, ob ihrer drei oder dreißig dasitzen. Dabei nimmt er sich +ängstlich in acht, etwas Fremdes in sie hineinzusprechen; immer lauert +er, wo ihre Sinne und Gedanken sind, um sie für sich einzufangen. +Irgendwo ist ein Riß in der Wand, der wie ein seltsames Tier aussieht, +einen langen Schnabel wie eine Ente, aber Füße wie ein Maikäfer hat; ob +sie wollen oder nicht, wenn ihre Blicke durch den Raum gehen, hängen +sie daran fest: er fängt ihnen das Ungeheuer ein in Sätze, die sie +willig nachsprechen, weil sie von ihnen selber gefunden sind. + +Einige haben Bücher, und ein paar können sogar ein weniges lesen; er +zeigt den andern, wo diese Hexenmeisterkunst ihre Herkunft hat. Er +läßt sie in den Worten die tönenden und zischenden Laute finden und +macht ein lustiges Spiel daraus, ihrer zwei miteinander zu verbinden, +jeden einzelnen durchs Abc hindurch; dabei schont er sich nicht, +unermüdlich das ba, be, bi, bo mitzusprechen, bis ihm die Stimme in +der Brust schartig wird; manchmal kommt er sich vor wie ein Hahn, wenn +er schwitzend dasteht und mit ihnen kräht. Bis eine Stunde mit Minuten +und ein Tag mit Stunden abgelaufen ist, läßt sich viel hineinfüllen, +und Tag für Tag geht es verzwickter zu, vom bal, bel, bil, bol, bul zum +balk, belk, bilk: immer anders marschieren die Soldaten aus ihrem Mund +auf, bis ihnen alle Übungen, rechts- und linksum, kehrt und vorwärts +marsch gleich geläufig sind. Und eines Tages läßt er für die Augen +sichtbar werden, was solange nur durch Mund und Ohren ging. + +Er hat ihnen keine Fibeln mitgebracht, nur einen Korb mit Täfelchen, +darauf die Buchstaben einzeln mit ihren Häkchen und Schnörkeln wie +Vögel mit ihren Schwanzfedern prahlen, und rastet nicht, bis jeder +seinen Laut als Namen hat, sodaß er ihn nur zu zeigen braucht, und +schon gibt ihm die ganze Klasse Antwort. Sie wissen nun längst, +daß keiner die siebzig Einzelnen verstehen kann, wenn jeder nach +seinem Einfall losschreit, und warten das Zeichen ab, das ihnen sein +Finger gibt. Sie sind dann wirklich eine Klasse, ein Wesen, das +hundertvierzig Ohren und Augen, aber nur einen Takt und darum nur +einen Mund hat. Und manche Nacht, während sie schlafen und er allein +in der Schlaflosigkeit des Alters wach unter ihnen liegt, bildet +sich traumdünn die Ahnung einer Lehrmethode: daß es wie mit den +Buchstaben mit allen andern Kenntnissen des Menschen sei, daß sie sich +bauen ließen, Steinchen um Steinchen, bis eine Wand, ein Zimmer und +schließlich das Haus einer Wissenschaft dastände. + +Kühner aber, als jemals sein Kopf ein Gespinst machte, scheint ihm +dies: daß auch alles andere, was einen Menschengeist mitsamt der +Seele ausmache, seine Denkkraft, seine Fertigkeiten, sein Wille, +seine Wünsche, seine Absichten, sein Glauben wie seine Taten, in +einem solchen Takt einzufangen sei, und daß, wenn einer erst den +Taktstock dazu finde, ihn hundert andere gebrauchen könnten, um +überall die wildaufwachsenden Menschenseelen in den Wohlklang der +Ordnung einzuführen. Er kann sich dann ein Zukunftsbild austräumen, +daß es zwar reich und arm, jedoch nicht mehr die häßliche Anwendung +davon gäbe, wo die Habsucht und Willkür des Reichen den Armen +unterdrücke und ausnütze; denn das einzige Mittel dieser Geldherrschaft +sei die Unwissenheit des Armen: erst einmal im Besitz seiner +entwickelten Seelen- und Geisteskräfte, könne er nicht mehr das Opfer +herrschsüchtiger Ausbeutung sein! Was jetzt allerorten geschähe, daß +Reiche den Armen helfen wollten durch Wohltätigkeit, sei Täuschung +und Selbstbetrug: der Reiche könne dem Armen garnicht helfen, er habe +nichts als sein Geld, das auch im Wohltun das Zwangmittel ungerechter +Herrschaft bliebe; erst wo Gerechtigkeit regiere, könne eine +brüderliche Hilfe von Herzen wohltätig sein! + + + 74. + +Während Heinrich Pestalozzi so mit seinen Waisen auf der Wanderung +nach einer neuen Menschlichkeit ist, wächst das Dickicht der alten ihm +rundum die Wege mit Unkraut und Brennesseln zu. Noch immer zieht der +Haß seine Schwaden durch die Täler des Nidwaldener Landes; der Aufruhr +wurde in Blut und Brand erstickt, aber was ihn heraustrieb, blieb mit +tausend Wurzeln lebendig. Für die Stanser ist Heinrich Pestalozzi +ein Ketzer, von der Revolutionsregierung gesandt, ihre Waisen und +Armenkinder im Unglauben der neuen Zeit abzurichten, sie den Sitten +der Väter und dem Glauben der Heimat mit Teufelslisten zu entfremden. +Sie sehen seine verwahrloste Kleidung und achten ihn für einen +Landstreicher, der bei der neuen Herrschaft der Lumpen und Schelme +untergeschlupft ist. + +Aber auch die Freunde fangen an zu zweifeln; sie verstehen nicht, +warum er sich allein mit siebzig Kindern abplagt, eigensinnig ihr +Lehrmeister, Aufseher, Hausknecht und Dienstmagd in einem und dabei +selber zum Erbarmen verwahrlost ist. Sie raten und drängen, doch +Gehilfen zu nehmen, damit er endlich aus seiner Anstalt ein richtiges +Waisenhaus mache, und sind verstimmt, weil er sich unter Ausflüchten +weigert. Er scheint ihnen vom Eigensinn des Alters wie von einem +Fieber befallen, und vertrauliche Briefe gehen an die Minister, daß +man dem alten Mann mit Gewalt aus diesem Zustand helfen möge. Stapfer +aber hält treu und weitsichtig zu ihm, weil er das Experiment fühlt +und daß Heinrich Pestalozzi erst zu Resultaten gekommen sein muß, +bevor er Hilfe brauchen kann. Er ermuntert ihn auch im Mai, als warme +Sonnenbläue die Täler füllt und der See rund an den Ufern in einem +Blust von Blumen zu schäumen scheint, mit seinen Zöglingen einen +Ausflug nach Luzern zu machen. + +Es ist Sonntag, und sie gehen die drei Stunden zu Fuß, bei Stansstad in +Kähnen hinüber nach Hergiswyl und dann zwischen Pilatus und dem See bis +Horw, wo sie den weiten Talboden der Allmend von Luzern erreichen. In +Horw rasten sie, und da sie früh aufbrachen, sehen sie da erst, wie die +Sonne überm Rigi hochschießt; ein jedes hat Brot im Sack, und Wasser +fließt überall aus den Brunnenrohren. Die älteren haben gesorgt, daß +sie alle sauber sind; nur auf ihren Schuhen liegt der Staub wie Mehl, +als sie singend über die alte Kapellbrücke in Luzern gehen und die +vielgetürmte trutzige Stadt bestaunen. Es ist Sonntag, und viele Leute +spazieren auf den Straßen, die den seltsamen Zug und den seltsameren +Mann davor belächeln. Einige kennen ihn von seinem Luzerner Aufenthalt +und lüpfen den Hut, um ihm kopfschüttelnd nachzusehen. Aber Stapfer, +der Minister, hat gesorgt, daß die Stanser Waisen nicht unbegrüßt in +der Landeshauptstadt sind: auf dem alten Kornmarkt vor dem Rathaus +steht einer in blanker Uniform mit einem Leinenbeutel, darin rasseln +lauter nagelneue Zehnbatzenstücke der Helvetischen Republik, und +jedes Kind bekommt eins zum Andenken in seinen Sack. Sie singen ein +Schweizerlied zum Dank, und Heinrich Pestalozzi, dem nichts so fern +liegt wie Musik, kräht mit vor Rührung; garnicht merkend, wie falsch er +die Töne nimmt, bis alles hinter ihm lacht. + +Auch sonst geschieht den Kindern der Nidwaldener Gutes in dem +katholischen Luzern, und wie ein siegreicher Heerhaufe ziehen sie +am Nachmittag wieder hinaus. Aber nun hat die Sonne ihre strahlende +Bahn durch den Himmel gezogen und aus dem Weltall Glut auf die Erde +geschüttet. Die Kinder werden müde, und er muß nun hinter ihnen gehen, +die letzten anzutreiben. Dabei ist ihm selber schwül und nicht froh +zumut; er hat in Luzern von dem Lauf der Dinge gehört, die für Monate +außer ihm gewesen sind: der Krieg ist wieder im Land, überall bläst +der Wind hitziger Zeitläufte den Zunder an, und es gilt schon als +ausgemacht, daß die Regierung der Helvetischen Republik nach Bern +übersiedeln wird, wo ihr der Boden sicherer scheint als hier in der +Aufsässigkeit der Urkantone. Am Gotthard schlagen sich die Franzosen +mit den Österreichern herum, und viel wird gesprochen von den Taten +seines Vetters Hotze, der als kaiserlicher General über den Bodensee +bis Zürich ins Land gedrungen ist; es kann in einigen Wochen wieder aus +sein mit der republikanischen Herrlichkeit. Zu diesen Sorgen tut ihm +die Brust weh, und er merkt, wie ihm die Monate zugesetzt haben. Der +Pilatus zieht verdächtige Wolken an, und als ob über eine ferne Brücke +Lastwagen rollten, grollt ein Gewitter in der Luft: er kann sonst über +Ahnungen lachen, aber nun ist ein Gefühl da, daß es ihn treffen wird. +Gerade gehen sie von Steinrüti gegen Hergiswyl am See hin, der dick und +still daliegt, da wird ihm süßlich im Mund, und das Licht tanzt ihm wie +Mücken vor den Augen; er will einem Buben, der vor Müdigkeit weint, die +Hand geben, da fühlt er sich tiefer zu ihm hinsinken, als es nötig ist, +und sieht noch für einen Augenblick die erschrockenen Augen über sich. + +Heinrich Pestalozzi meint, er sei gleich wieder aufgewacht, aber es +muß wohl länger gewesen sein; nebenan steht ein Wagen, der vorher +nicht da war, und im Kreis der Kinder bemühen sich Leute in Hemdärmeln +um ihn. Tiefer als im Schlaf war er aus allem fort, nun er die Augen +aufschlägt, nimmt sein Bewußtsein mit einem Blick den Kreis seines +Daseins auf, darin er Kind, Mann und Greis zugleich ist. Rund um +diesen Kreis sieht er die Berge spukhaft in den gewitterlichen Dunst +des Himmels ragen und fühlt, daß so die Schwierigkeiten um ihn stehen, +denen er nichts als die Willenskraft seiner zu Boden geworfenen Natur +entgegenstellen kann. Im gleichen Augenblick setzt er sich auf, von dem +ungebeugten Willen kommandiert; da merkt er, daß Blut in seinem Mund +ist. + +Darüber erschrickt er tief und läßt sich nun willig in den Wagen heben. +Die von den Kleinen am müdesten sind, müssen zu ihm, und so im Schritt +vor seiner Schar her geht es heim. Einer hat sich neben den Knecht +gesetzt, und der läßt ihm die Zügel, weil er den Gaul kennt. Heinrich +Pestalozzi muß wehmütig an den Tag denken, wo er mit dem Großvater +nach Höngg fuhr und auch so unablässig an den Zügeln rupfte, wie nun +der Knabe vor ihm: Ich habe mirs nicht abgewöhnt bis heute, lächelt +er bitter, wo ich selber ein Großvater bin, und alles, was ich in die +Hand nehme, ist so geblieben! Wenn mir jedes so in Ordnung ginge, wie +hier dem Gaul und dem Knecht, ich würde auch die Zügel gleichmütig +hängen lassen; aber nun bin ich dreiundfünfzig und über meine Jahre +gealtert, gar noch krank, und habe erst den Anfang vom Weg gefunden. +Ich müßte wohl den Gaul für ein paar Wochen in den Stall tun; doch ist +er unabkömmlich, weil ich noch weit mit dem Abend muß! + + + 75. + +Die zweite Woche seit seiner Wallfahrt nach Luzern ist noch nicht +ins Land gegangen, als Heinrich Pestalozzi eines Mittags durch +Trommelwirbel aufgeschreckt wird. Wie er ans Fenster läuft, rücken die +schweizerischen Soldaten, die gegen Engelberg und Seelisberg hinauf als +Rückendeckung der Franzosen ausgestellt sind, eilig in Stans ein: die +Österreicher kommen, heißt es und die im Uri geschlagenen Franzosen +seien über den See zurück. Die Panik des Krieges ist wieder in Stans, +bevor ein Schuß in den Nidwaldener Bergen fiel; wer noch bewegliche +Habe hat, flüchtet sie in die Sennhütten hinauf, händeringende +Weiber und trotzige Männer kommen, ihre Kinder zu fordern, und +Heinrich Pestalozzi vermag nicht, sie zu halten. Als ob eine Mure +vom Stanserhorn niederginge, läßt er die andern ihre Bündel raffen, +zur Flucht bereit zu sein. Gerade hat er sie um sich versammelt im +Arbeitssaal, da fällt ein Schuß; die Kinder schreien, einige laufen ihm +zu, viele aber auch hinaus auf die Gasse, sich noch in die Berge zu +retten. + +Als danach alles still bleibt -- die Alarmnachrichten waren falsch, +und auch der Schuß ist nur einem hitzigen Sennbuben losgegangen -- +sitzt kaum noch die Hälfte seiner Kinder da. Zwar kommen im Nachmittag +noch einige wieder, auch finden sie andere weinend irren, als sie +gegen Abend den Ort absuchen: aber die Besorgnis bleibt über ihnen +wie die schwarze Wolkendecke, die sich mit dem Abend vom Entlebuch +herüberdrängt. Die Kinder schlafen sich schließlich in angstvolle +Träume ein; Heinrich Pestalozzi bleibt wach: seit seiner Ohnmacht +fühlt er, daß es in Stans zu Ende geht. Mit einer Kerze in der Hand +wandert er um Mitternacht von Bett zu Bett; einigen, die sich stöhnend +wälzen, legt er seine Hand auf die Stirn, daß sie, erwachend, ins Licht +blinzeln und vor seinem Gesicht mit einem erlösten Lächeln um die +Lippen einschlafen. Nachher sitzt er noch, bis das Licht niedergebrannt +ist, streicht in seiner Liste die Schäflein an, die ihm fehlen, und +denkt den einzelnen nach, wo sie wohl seien. Bald aber wandern die +bekümmerten Gedanken auf einsamen Höhen, wo er mit seinem Werk allein +ist. Was auch mit den Kindern geschieht, für keins -- das fühlt er +sicher -- ist die Zeit vergebens gewesen: aber sein Werk, wenn er +es jetzt abbrechen muß, ist verloren. Es ist ihm zumut wie einem +Kundschafter im weglosen Dickicht; er hat sich durchgearbeitet, bis er +eine getretene Fußspur fand, die ihn zum Weg führen muß: da reißt ein +Bergbach die Schlucht vor ihm auf, und ob er drüben die Spur deutlich +weiter gehen sieht, er kann nicht hinüber. + +Andern Tags ist alles vorbei, als ob es nur böse Träume gewesen wären; +die Bauern sind wieder bei ihrer Arbeit, und die Soldaten in den +Quartieren singen Schweizerlieder. Die Sonne geht ihren strahlenden +Lauf, als wolle sie es diesmal zwingen, über die Ermattung des Mittags +fort in den unendlichen Himmel hinein zu steigen. Noch ein paar Kinder +wagen sich unsicher wieder herzu, und als nach diesem Tag noch ein +zweiter und dritter die weißen Sommervögel durch sein dickes Blau +schwimmen läßt, fängt auch Heinrich Pestalozzi an, den Nacken zu heben. +Am dritten Abend sitzt er scherzend und fragend mit ihnen bei der +Hafersuppe, da ruft ihn ein Bote eilig zu dem Regierungsstatthalter +Zschocke. + +Der empfängt ihn mit einem Blatt in der Hand. Er habe Stafette +bekommen, daß am frühen Morgen der General Lecourbe einrücken würde; +er müsse Platz besorgen für einige tausend Mann und ein Hospital für +die Verwundeten und Kranken herrichten, dazu habe er keinen andern +Platz als das Waisenhaus. Obwohl Heinrich Pestalozzi beim ersten +Wort weiß, daß ihm nun das Brett unter den Füßen fortgezogen wird, +damit er noch über den Bergbach zu kommen hoffte, kämpft er wie ein +aufgescheuchtes Tier für sein Nest und seine Brut. Aber nun ist er mit +allem Ruhm seiner Bücher und mit der ewigen Absicht seines Werkes nur +der Bürger Pestalozzi, der andere aber steht als Regierungsgewalt da +und löst das Waisenhaus auf. Weil er nicht wie die Nidwaldener kämpfen +und sterben kann, sondern dem Federstrich gehorchen muß, erfüllt er +bitteren Herzens den Rest seiner Pflicht. Er teilt jedem Kind doppelte +Kleidung, Wäsche und einiges Geld aus für das Notwendigste, rechnet mit +dem Statthalter ab und übergibt ihm von den sechstausend Franken, die +ihm das Direktorium bewilligt hat, den Rest mit dreitausend Franken -- +mehr hat er nicht gebraucht in den fünf Monaten mit all den Kindern. +Noch eine Nacht geht er in seiner schlafenden Herde ruhelos umher, +nimmt in der Frühe weinenden Abschied von ihnen allen, deren Vater +er durch seine Liebesgewalt geworden ist, und am Nachmittag, als die +ersten Franzosen einrücken, fährt er nach Stansstad hinunter mit dem, +was er für bessere Zeiten retten will. Wieder einmal sitzt er auf +einem bepackten Wagen, diesmal auf Säcken neben einem Knecht, der ihn +gleichmütig in sein ungewisses Schicksal hinaus kutschiert; es ist ein +Appenzeller, der den Pferden mit der Peitsche die Fliegen vertreibt und +dazu mit halber Kehle seine heimatlichen Jodler singt, als ob es eine +Lustfahrt wäre. Er fühlt die Schmerzen in seiner Brust heftiger und die +brennende Angst fährt mit ihm, daß er nun sterben muß: dann ist alles +umsonst gewesen, was er Unmenschliches in diesen Monaten ertrug; denn +er allein weiß, daß er in Stans den Weg zur Befreiung der Menschheit +entdeckt hat, kein anderer kann fortsetzen, was für ihn selber ein +tastend beschrittener Anfang, aber darum doch das Ergebnis vieler +Tausend fiebernd benützter Stunden ist. + +Immer noch läuft eine letzte Hoffnung hinter dem Wagen her, daß die +Luzerner Freunde mächtiger sein könnten als der Regierungsstatthalter; +als er ankommt in der vieltürmigen Stadt, muß er erfahren, daß die +Regierung der in tausend Nöten gefährdeten Helvetischen Regierung nach +Bern ausgeflogen ist. + + + 76. + +Es ist ein heißer Julitag, als Heinrich Pestalozzi durch das breite +Entlebuch ins waldige Emmental hinüber und durch seine reichen Dörfer +nach Bern hinunter fährt. Die Fahrt über die holprigen Bergstraßen +bekommt ihm schlecht, und als er spät abends anlangt, fühlt er sich +sterbenselend. Bis zum Schluß sind immer noch die Bauleute im Kloster +zu Stans gewesen, und wenn er hustet, meint er noch den scharfen +Kalkstaub in der Lunge zu spüren. Trotzdem ist er am andern Morgen +schon früh bei dem Minister Stapfer. Der erschrickt, wie er ihn sieht, +und rät ihm, den ungewollten Urlaub vor allem zu einer Kur zu benutzen, +damit er wieder zur Arbeit fähig sei, wenn nach dem Krieg die Anstalt +neu eingerichtet würde. Da er selber zu einer Sitzung muß, übergibt er +ihn seinem Kanzleivorsteher Fischer, einem ehemaligen Theologen, der +auch schon in Stans war. + +Der bietet ihm willfährig seine Begleitung an, wohin er auch wolle, +und ehe Heinrich Pestalozzi sich beiseite tun kann, hat er ihn auch +schon eingefangen mit klugen und ehrlichen Fragen. Es findet sich, daß +sie Leidensgenossen sind, indem auch er den Traum seines Lebens an die +Schule gehängt hat. Er ist Schüler bei dem Philanthropen Salzmann in +Schnepfental gewesen und will nun in Burgdorf eine Musterschule, wenn +es erreichbar ist, ein Lehrerseminar einrichten. Es ist immer noch +das Lehrerseminar, das Stapfer ihm selber in Aarau angeboten hat, und +obwohl sich Heinrich Pestalozzi im stillen wundert, wie unbekümmert +sein Nachfolger die Schwierigkeiten übersieht, die ihm fast das Leben +kosten, ist er ihm doch dankbar, weil er die Lauterkeit in seinem +Wesen spürt. Er bleibt ziemlich den ganzen Tag mit ihm zusammen und +erwirbt durch ihn eine Bekanntschaft, die in seine gehetzten Tage eine +breite Pause bringt: Noch am selben Abend sitzen sie zu einem Mann +aus Bad Gurnigel, namens Zehender, der seine Schriften liebt und sein +Märtyrertum in Stans glühend bewundert; der lädt ihn ein, einige Wochen +bei ihm da oben in der reinen Gebirgsluft zu wohnen und von der Quelle +zu trinken. Stapfer und Fischer reden ihm dringend zu, und da der Mann +mit seinem Wagen andern Tags zurück muß, kommt Heinrich Pestalozzi +schon am Abend mit ihm auf dem Gurnigelberg an. + +Ein verrauschtes Gewitter hat ihnen einen Regen nachgeschickt, der die +Talweite unter ihnen mit Nebelschwaden bedeckt; auch wirft ihn sein +Elend nun ganz hin, sodaß sie ihn fast aus dem Wagen ins Haus tragen +müssen. Den andern Tag läßt ihn sein Gastfreund nicht aus dem Bett, +auch den zweiten nicht: da es draußen doch noch regne! Am dritten +Morgen liegt er schon lange wach und wartet mit Sehnsucht auf den Tag; +als die Fensterscheiben in der Morgenröte warm werden, springt er mit +beiden Füßen aus dem Bett und reißt ein Fenster auf, seine Faulheit +zu lüften. Er tritt erschrocken zurück vor der unendlichen Weite; in +einer überirdischen Bläue sieht er das Tal zu seinen Füßen liegen, +unermeßlich und schön; er hat noch nie eine so weite Aussicht gesehen, +und das Glück davon überwältigt ihn so, daß er die Hände wie ein Kind +danach ausbreitet. Fast ängstigt ihn die Höhe, aber als er nach rechts +und links äugt, sieht er die hohen Baumgruppen; er fühlt den Wald und +den Berg hinter sich als sicheres Ufer, von dem aus er über das Meer +der morgendlichen Erde tief unter sich hinschaut. Und ehe sich noch +die Worte dazu bilden, ist ein Gefühl in ihm, wie wenn da unten sein +eigenes Leben läge: aus den blauen Seeweiten der Kindheit durch die +ruhelose Brandung seiner Mannesjahre bis auf die Bergkanzel dieser +Stunde hinauf. + +Aber wie er sich umwendet, ist sein niedriges Menschenzimmer wie ein +Kästchen ganz getäfelt und auf dem runden Birnenholztisch liegt ein +Buch, das ihm bekannt scheint: »Nachforschungen über den Gang der Natur +in der Entwicklung des Menschengeschlechts« steht auf dem Titel. Er +weiß nicht, warum ihn die Erschütterung hindert, es in die Hand zu +nehmen; er sieht sich wieder in dem Sterbezimmer seiner Mutter daran +schreiben -- als ob es gestern oder vor hundert Jahren gewesen wäre, so +nah und so fern -- fast meint er, es wäre dasselbe Zimmer, aber seine +Augen suchen vergebens in den fremden Sachen. Er ist wieder mitten +drin im hochmütigen Elend jener Tage; die Brandung spritzt, und er +fühlt sich versinken in die Tatenlosigkeit der endlosen Mannesjahre: da +weiß er, es ist kein Ufer, an dem er gesichert steht, es ist nur eine +Insel, ein Stein im Meer, darauf ihn die Brandung geworfen hat. + + + 77. + +Sechs Wochen lang ist Heinrich Pestalozzi auf dem Gurnigel, von lieben +Menschen treu gepflegt. Die reine Höhenluft heilt in seiner Lunge aus, +was Kalkstaub und Abc-Geschrei darin verwüstet haben. Es sind noch +andere Kranke oben, auch Gesunde, die vor der herrlichen Natur in +Schwärmerei vergehen. Seit seinem ersten Morgen vermag er nicht mehr in +die blaue Talweite hinunter zu blicken, ohne an sein verlassenes Werk +zu denken. Er sieht unter allen Dächern die Wohnungen der Menschen und +weiß, von wieviel Verwahrlosung jede Wohlhabenheit da unten umgeben +ist. »Meine Natur ist der Mensch,« sagt er den Schwärmern, und eines +Morgens ist er mit seinem Stock und Ranzen nach Bern unterwegs. Er hat +keinen Wagen gewollt; es tut ihm wohl, so bergab schreitend den Takt +seines fröhlichen Marsches zu fühlen: alle lebendigen Dinge gehen im +Zweischritt, hat er dem besorgten Zehender zum Abschied gesagt, nur das +Leblose und Kranke rollt auf Rädern. + +Zum Mittag hat er die sechs Stunden bis Bern hinter sich, und als +Rengger und Stapfer, die beiden Minister, aus einer gemeinsamen Sitzung +noch etwas zu besprechen haben, das sich auf dem Heimweg besser als +im Betrieb der kommenden und gehenden Posten erledigen läßt, läuft er +ihnen buchstäblich in die Arme und lacht mit seinem Runzelgesicht wie +ein Knabe, der aus den Ferien wiederkommt. Er will Kinder haben, es +ist ihm gleich wo, an denen er seine Versuche fortsetzen kann, bis +sein Waisenhaus in Stans wieder kriegsfrei ist; und noch in derselben +Viertelstunde schlägt ihm Stapfer vor, nach Burgdorf zu gehen, wo auch +Fischer seit einem Monat sei und an dem Statthalter Schnell wie an +dem Doktor Grimm einsichtige Helfer habe. Als Heinrich Pestalozzi das +Wort hört, fährt ihm eine halbvergessene Erinnerung auf, wie ihn der +Vorwitz eines Morgens dort in die Hintersassenschule brachte; er nimmt +es als eine Fügung, auch scheint es ihm eine Erleichterung, in Burgdorf +nicht wieder einsam zu sein. In seiner Fröhlichkeit sagt er gleich zu, +so kann Stapfer die Eingabe ans Direktorium vorbereiten, er selber +macht sich am andern Morgen gleich unterwegs, sein neues Arbeitsfeld +abzuschreiten. + +Über Nacht gibt es Regen, und er muß die Post nehmen; ein guter Zufall +setzt ihm den Statthalter Schnell aus Burgdorf in denselben Wagen. Der +kennt ihn, hat am Abend vorher schon durch Stapfer von seinen Absichten +gehört und ist begeistert, dem berühmten Verfasser von Lienhard und +Gertrud gefällig sein zu können. Die Fahrt wird in Gesprächen kurz, und +in Burgdorf muß Heinrich Pestalozzi sein Gast sein; auch der Doktor +Grimm wird Hals über Kopf zu Tisch geladen, und es ist eine wahre +Verschwörung, wie sie ihm alles einrichten wollen. Sie wundern sich, +daß er gerade an der Hintersassenschule lehren will, und wollen ihm +das ärmliche Lokal erst zeigen. Er erzählt ihnen von dem Morgen, wo er +vorwitzig hinein sah, und ist fast ausgelassen vor Erwartung. Gegen +den Abend, als der Regen endlich nachläßt, macht er noch einen Gang zum +Schloß hinauf, das eine kleine Festung vorstellt, aber augenscheinlich +seit langem verwahrlost ist. Das äußere Tor hängt offen in den Angeln, +und an dem innern läutet er so lange vergebens, bis er merkt, daß +die Schlupftür geöffnet ist. Die Kiesel im Schloßhof sind vom Gras +überwachsen, hinten steht eine Linde, und als er bis an die Mauer geht, +fällt der Berg da fast senkrecht in die schäumende Emme, die ihn im +Bogen umfließt. Es nisselt immer noch, und sein Rock ist längst feucht; +er merkt es nicht, er hat zuviel gesprochen bei den Männern da unten, +und nun sind die Gedanken wie eine Krähenschar, die nicht zur Ruhe +kommt: + +Er hat es Mord genannt, wie die Kinder bis ins fünfte Jahr im +sinnlichen Genuß der Natur bleiben, wie sie sehen, sprechen und ihre +andern Sinne gebrauchen lernen, und sich von selber eine natürliche +Anschauung der Welt in ihrer Seele aufbauen: wie sie dann aber gleich +Schafen zusammengedrängt in eine stinkende Stube geworfen würden, um +der fremden, sinnlosen Buchstabenwelt ausgeliefert zu sein! Nun denkt +er, wie auch die Moral und das Gesetz, selbst die Religion und ihre +Tugenden von hier aus der jungen Menschenseele aufgenötigt würden +und dadurch leicht das bittere Beigefühl lebensfeindlicher Mächte +behielten; sodaß, was dem Leben des Menschen einen höheren Sinn geben +solle, im Gefühl der Armen als Mittel der Unterdrückung bliebe. Seine +Gedanken können es noch nicht greifen, aber er fühlt sie dicht daran: +daß er alles, was nur aus dem Buchstaben gelernt würde, als fremd und +gleichgültig in seinem Unterricht ausscheiden, daß er den Naturgang +der ersten fünf Lebensjahre weiterführen möchte; nicht, um es den +Kindern bequemer zu machen, sondern um die Unnatur aus dem Wachstum des +Menschen zu nehmen. + +Er ist so versessen in diese Gedanken, daß er garnicht hört, wie jemand +von hinten zu ihm kommt und die Hand auf die Schulter legt. Als er sich +umkehrt, ist es Fischer, der ihn zufällig aus seinem Fenster gesehen +hat: Wir sind die einzigen Menschenseelen in dem ganzen Gebäude, sagt +er erklärend zu ihm; aber Heinrich Pestalozzi ist noch viel zu sehr +bei den Reitversuchen seiner stolzen Gedanken, um ihn wörtlich zu +verstehen: Dann müssen wir jeden Tag den Berg hinunter traben, sagt +er und muß hellauf wie ein Knabe lachen, so rasch springt ihm aus +der abendlichen Grübelei ein Scherz auf: Zwei Narren in einem leeren +Schloß mit einem Steckenpferd, das wird ein schönes Rittertum, wenn wir +ausreiten. + + + 78. + +Nach acht Tagen kommt Heinrich zum zweitenmal aus Bern; diesmal in +einem heiteren Wolkenwetter zu Fuß; die Verwaltungskammer hat ihm im +Schloß ein Zimmer als Wohnung eingeräumt und für die Hintersassenschule +die Lehrerlaubnis erteilt. Der Schulmeister Samuel Dysli muß ihm +einen Teil von seinen dreiundsiebzig Schülern überlassen; weil aber +nur eine Stube da ist, vereinbaren sie einen Strich, der die Klassen +trennt: auf der einen Seite stellt sich Heinrich Pestalozzi auf und +fängt wieder tapfer an, aus der Sprache die Buchstabenlaute abzulösen; +auf der andern wandert der Schuhmacher von Bank zu Bank und behört +den Heidelberger Katechismus. Er kann es nicht verwinden, daß man +ihm den alten Landstreicher in die Schulstube schickt, die doch mit +dem Haus sein angeerbtes Eigentum ist, und wenn er in der Folge das +unaufhörliche Geschrei hört, wie der andere die Kinder abrichtet, im +Chor zu sprechen, wobei er selber mitkräht, wenn er sieht, wie sie +keine Bücher und Schreibhefte, nur eine Schiefertafel haben -- nie hat +er solch ein Schreibzeug gekannt -- darauf sie mit dem Griffel allerlei +Winkel und Figuren kritzeln: glaubt er einem Tollhäusler zuzusehen. +Er versucht, ihm zur Beschämung, mit seiner Schar die gewohnten Dinge +zu treiben, aber auch die ist von dem seltsamen Wesen angesteckt, hat +Augen und Ohren auf der andern Seite; und weil er sich scheut, vor den +Augen dieses Narren wie sonst mit dem Stock drein zu fahren, frißt ihm +der Ingrimm über die Vergewaltigung Stunden und Tage auf. Er sieht +bald, daß einer von ihnen beiden hier unmöglich wird, und da es seine +eigene Werkstatt ist, aus der er sich hinterlistig verdrängt sieht, +richtet er sich auf den Krieg ein. + +Wenn Heinrich Pestalozzi, der ihn im Eifer meist ganz vergißt, ihn +kollegialisch ansprechen will, stellt er den gekränkten Stolz seiner +Bildung zwischen sich und ihn; denn er hat bald gemerkt, daß der +andere den Firlefanz nur treibt, weil er weder den Katechismus noch +sonst etwas nach der Vorschrift kann. Der Wurm der Kränkung will ihm +unterdessen das Herz abfressen, und schließlich geht er zum Pfarrer. +Dem ist es verdächtig, sich in diesen Handel zu mischen, weil er die +Hintermänner kennt; doch gibt er ihm Lienhard und Gertrud mit, damit +er sehe, was für ein Wundertier dieser Mann vorstelle. Samuel Dysli +hat schon gehört, daß es ein Romanschreiber sei, doch macht es ihm zu +viel Mühe, so dicke Bücher zu lesen; er blättert nur höhnisch darin +herum, und so findet er die Stelle, wie es dem alten Schulmeister in +Bonnal übel geht und wie sich der stelzbeinige Leutnant mit allerlei +Schleicherkünsten an seiner Stelle einnistet. Nun weiß er Bescheid, +und während Heinrich Pestalozzi schon wieder besessen von seiner +Absicht ist und gleich einem Specht an der Anschauungskraft der Kinder +herumklopft, bearbeitet Samuel Dysli die Väter, und eines Sonntags +halten die Burgdorfer Hintersassen eine Art Landesgemeinde in seiner +Werkstube ab: Wenn die Bürger und Herren schon ihre Narrheit mit der +neumodischen Lehrart hätten, möchten sie die Probe auch an den eigenen +Kindern machen! + +So aufgereizt sind sie, daß sie es nicht bei dem Beschluß belassen; als +Heinrich Pestalozzi am Montag danach um sieben Uhr in die Schulstube +kommt, sitzen auf seiner Hälfte nur noch drei Kinder und heulen. In +der ersten Bestürzung ist er töricht genug, den Dysli zu fragen; der +läßt den Katechismus herunter schnurren, als ob er ihn extra für ihn +aufgezogen hätte. Da merkt er, daß ihm einer das Uhrwerk abgestellt +hat; doch kann er seinen Jähzorn noch meistern und geht hinaus. Und +nun meint er, daß der Schulmeister ihn wiederkennen müsse; denn wie +damals an dem Morgen kommt er ihm nach bis in die offene Tür. Auch +sonst stehen die Leute an den Fenstern und auf der Gasse; er sieht im +Vorbeigehen, daß sie die Kinder hinter sich halten, als ob sie ihre +Brut vor dem Wolf schützen müßten. Einige vermögen ihre Schadenfreude +nicht zu meistern und rufen ihm nach; ein Flickschneider, der ein +Schwager des Dysli ist, verfällt auf die Rache, laut zu buchstabieren: +b u bu, b e be, b a ba! Die ganze Gasse ist begeistert davon, und so +muß Heinrich Pestalozzi Spießruten laufen durch sein höhnisches Echo, +das ihm noch nachkräht, als er schon im Oberdorf ist. + +Er will zu seinen Freunden, aber weder den Statthalter Schnell noch +den Doktor Grimm trifft er zu Hause, und Fischer ist für ein paar +Tage nach Bern gereist. So geht er kopfschüttelnd und trotz seiner +Großvaterschaft dem Weinen nahe wie ein Knabe den steilen Schloßweg +hinauf. Der Hof ist leer wie immer, und die Sonne malt die verzogenen +Schatten der Dächer hinein, als ob auch die ihm Fratzen schneiden +wollten. Es ist ihm für den Augenblick gleichgültig, wohin er geht, +weil jeder Schritt zwecklos ist; so tritt er unter die Linde und starrt +über die Mauer in die glitzernde Emme hinunter. Auch da unten sind noch +Hütten der Hintersassen, denen er aus der hilflosen Armut helfen will, +aber die bellen ihn an wie Hunde. Der Abend fällt ihm ein, wo er zum +erstenmal hier stand und das von dem Steckenpferd sagte. Nun haben sie +mir auch das fortgenommen, denkt er, und jetzt laufen ihm richtig die +trotzigen Tränen übers Gesicht, daß er ihre Schärfe in den Mundwinkeln +schmeckt. + + + 79. + +Das Erlebnis geht Heinrich Pestalozzi so nah ans Herz, daß er an diesem +und auch am folgenden Tag das Schloß nicht verläßt, obwohl er Hunger +leidet. Dann kommt Fischer aus Bern zurück, hört schon im Stadthaus, +wo er aus der Post steigt, von dem Aufruhr der Hintersassen, und +nun erlebt der Geschlagene, was treue Freundschaft für ihn vermag: +Grimm und Schnell helfen, und noch in derselben Woche steht Heinrich +Pestalozzi in der Buchstabier- und Leseschule der Margarete Stähli, wo +er seine Versuche ohne Widerstände fortsetzen kann. Da sind nur zwei +Dutzend Kinder in einer hellen Stube, und die Jungfrau bescheidet sich, +ihm eine Gehilfin zu sein. Er ist zwar im Anfang noch verscheucht, man +möchte ihn noch einmal aus der Schulstube fortschicken, und hält sich +ängstlich an die äußeren Vorschriften -- täglich von acht bis sieben +Uhr, die Mittagspause abgerechnet, steht er in seiner Klasse -- aber +indem er nun nicht mehr wie in Stans durch die wirtschaftlichen Sorgen +als Hausvater belästigt und bedrückt wird, auch keine verwahrlosten +Bettelkinder, sondern gepflegte Bürgertöchter vor sich hat, kann +er sich ungehindert dem Abc der Anschauung widmen, das ihm als die +Grundlage aller Kenntnisse und Fertigkeiten täglich geläufiger wird. +Noch immer geht er von keinem vorgefaßten System aus; er verläßt sich +auf seinen Instinkt, daß er für jeden Unterricht den natürlichen +Anfang finden wird. Namentlich im Rechnen versucht er nun, von den +kindlichen Zählspielen ausgehend, zu den Schwierigkeiten der vier +Spezies zu gelangen. Er ist wie ein Chemiker im Laboratorium, immer +neue Mischungen versuchend, bis er die rechte Verbindung gefunden hat; +und die Jungfrau Stähli geht ihm mit gemischter Verwunderung zur Hand. + +Unterdessen spielt das Kriegstheater auf Schweizerboden seine +europäischen Stücke, und es sieht nicht aus, als ob er sobald wieder +nach Stans käme: über den Gotthard drängen die Russen unter Suworow, +und über Zürich ins Glarner- und Einsiedlerland die Österreicher +unter seinem Vetter Hotze, der ein berühmter Kriegsheld geworden +ist. Aber Hotze fällt bei Schänis, Masséna nimmt Zürich ein -- wobei +Lavater durch einen betrunkenen Grenadier schwer verwundet wird -- +und als Suworow die Franzosen nach dem mörderlichen Kampf um die +Teufelsbrücke zurückgedrängt hat bis Flüelen, sind die Kaiserlichen +überall geschlagen, und er muß sich seitwärts in böser Jahreszeit über +den Kinzig-, den Pragel- und den wüsten Panixerpaß ins Vorderrheintal +retten, wo er ohne Pferde und Geschütze ankommt und mit dem Rest +seiner Scharen die Schweiz bald verläßt. Als Bonaparte, aus Ägypten +heimkehrend, sich zum ersten Konsul der Franzosen macht, hat er die +Eidgenossenschaft ganz in der Hand, und den Urkantonen vergeht die +Hoffnung, daß ihnen fremde Hilfe aus der Helvetischen Republik in die +alte Kantonsherrlichkeit zurück helfen könnte. + +Im Bernischen sind die Kriegsschläge nur von fern hörbar gewesen, aber +viele Heerhaufen rückten durch, und jeden Abend sank die Sonne in eine +Nacht voll ungewisser Furcht. Heinrich Pestalozzi hat in Stans erlebt, +was die ruhmvollen Taten der Kriegshelden in der Nähe bedeuten, wie +aus einer blühenden Landschaft ein Schlachtfeld wird, darin die Dörfer +brennen und die Verwundeten mit ihren Blutlachen zwischen Leichen auf +den Straßen und in den Feldern liegen, während in den Bergställen und +in Felsschlüften Frauen und Kinder schreckensbleich die Schießerei +abwarten, bis der Hunger sie doch in das Unheil hineintreibt. Er kann +nur auf den Tag warten, an dem dieser Kriegsbrand endlich gelöscht sein +wird; es wird auch für ihn der Tag sein, wo er für sein Werk gerüstet +dastehen muß. + +Darüber fallen auch die Blätter dieses Jahres und eines Tages im +November, als der Regen schon eiselt, erfährt er, daß die Regierung ihn +nicht nach Stans zurücklassen will. Er hat gewußt, daß sich Stapfer +seit dem September vergebens darum bemühte, und ist gefaßt, daß ihm +die Tür nicht wieder geöffnet werde, die der Krieg zuschlug; aber die +Hoffnung hat doch jeden Abend auf seinem Bettrand gesessen, wenn er mit +den Kleidern auch die Mühsale des Tages auf den Stuhl legte. Im äußeren +Schloßhof steht noch ein Tretrad über dem tiefen Brunnen, der bis in +den Talgrund reicht; er ist einmal vorwitzig hineingestiegen, das +sonderbare Hand- und Beinwerk probieren; nun träumt er in der Nacht, +der Strick mit dem Eimer sei abgerissen, während er in den Sprossen +stände, sodaß er die Radtrommel, des Gegengewichtes beraubt, nur immer +um sich selber drehen müsse. Er tröstet sich zwar in der Folge, daß +er für seine Versuche in der hellen Stube der Jungfrau Stähli besser +aufgehoben sei als in dem Kalkstaub des Stanser Waisenhauses, aber der +Lebensstrang seiner Arbeit ist ihm doch schmerzlich abgerissen, und +unruhig fängt er an zu suchen, wo er ihn nach dieser Probierzeit wieder +einhaken könne. So kommt es, daß er mit dem Ende des Jahres von neuem +an seinen Neuhof denkt. + +Dieses Ende marschiert mit den Schritten der allgemeinen Not, wie +keines vorher, als ob es die Leidensreste des vergehenden Jahrhunderts +noch über der Schweiz ausgösse, die durch die Kriegszüge verwüstet und +von den Franzosen mit Millionen von Kriegskosten ausgesogen ist. Als +er für die Weihnachtstage nach dem Neuhof fährt, wandern Scharen von +Bettlern über die winterlichen Straßen, sodaß er wehmütig an seine +Flugblätter und das Helvetische Volksblatt denkt, darin er sich und +dem Schweizervolk so herrlich viel von der neuen Ordnung der Dinge +versprach. + +Er findet Anna, die er in Hallwyl abholt, mit eisengrauem Haar; sie hat +die Sechzig hinter sich, und sie sind nun die Großvatersleute, die zum +Besuch aufs Birrfeld kommen. Da schaltet die gebotene Fröhlich, und +Lisabeth hilft ihr, auch die schlimmen Dinge tapfer zu überstehen; sie +müssen den Hof allein halten; denn Jakob ist trotz seiner dreißig Jahre +ein übellauniges Gebreste. Es wird trotzdem ein inniges Weihnachtsfest, +die Großmutter hat aus Hallwyl den Enkelkindern viel Liebes +mitgebracht, und die fünfjährige Marianne vermag schon Christlieder +zu singen, in die der dreijährige Gottlieb selbstbewußt einstimmt. Als +danach die heiligen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr mit Rauhreif +kommen, der in der Sonne mit Millionen Kristallen funkelt, ist es +für Heinrich Pestalozzi mehr als die Insel auf dem Gurnigel, es ist +die Küste, von der er ausfuhr, und fast scheint es ihm, dies sei die +Heimkehr. + +Silvester, als sich die Kälte in einen näßlichen Nebel gewandelt +hat, wandert er zufällig durch das Gehölz bis nach Brunegg auf den +Waldkamm hinauf. Er weiß, das kleine Schloß steht seit der neuen +Ordnung mit leeren Fenstern da, aber wie er hinzukommt, ist an der +verschlossenen Tür ein vergilbter Zettel angeheftet, daß die Regierung +den verlassenen Besitz mit sechzig Jucharten Wald und Weide zum Verkauf +ausbietet. Er braucht garnicht zu überlegen, der Plan steht gleich wie +eine Eingebung da: Schloß Brunegg zu erwerben und mit dem Neuhof zu +vereinigen in einem Besitztum, auf dem sich ein helvetisches Waisenhaus +wohl einrichten und halten ließe. Die Seinigen wissen nicht, warum er +allein an dem Abend fröhlich ist, während ihre Wehmut dem scheidenden +Jahrhundert die Totenwacht hält; nur Anna, die das Wetterglas seiner +Stimmungen besser kennt als sie, merkt bald, daß er irgend etwas im +Schilde führt. Wie dann die Standuhr auf dem Gang ihre zwölf Schläge +mit dem gleichen schnarrenden Klang wie sonst getan hat, und sie alle, +die im Schein der Lampe darauf warteten, sich den Menschenkuß geben, +nimmt er sie wie in den jungen Zeiten bei der Hand und führt sie aus +dem Kreis der andern hinaus in die Nacht, die durch die Erschütterung +der Glocken aus ihrer Stille aufgeschreckt und von Menschenlichtern +nah und fern durchleuchtet mit ihren Geheimnissen in die Wälder +zu flüchten scheint: So war die Nacht, wo ich mit Menalk auf dem +Lindenhof stand, sagt er draußen zu ihr, als sie unsicher schreitend +den Landweg nach Brunegg gehen: nur daß wir damals die Glocken in uns +selber hatten, und draußen war es still. Das ist das Schicksal dieser +Zeit gewesen, daß jeder in seinem Gehäuse saß; das einzige, was die +Menschen miteinander verband, hießen sie ihre Bildung: ich heiße es +ihre Ungläubigkeit. Das neunzehnte Jahrhundert der Christenheit wird +wieder einen Glauben wie zu Zwinglis Zeiten haben, aber es wird das +Jahrhundert der Menschlichkeit sein, wo die guten Werke nicht mehr für +einen guten Platz im Himmel getan werden. Wer die ewige Seligkeit erst +im Himmel anfangen will, hat sie schon versäumt. In Indien, heißt es, +werden die Heiligen ihrer auf Erden teilhaftig, indem sie ihre Wünsche +und Begierden Gott zum Opfer darbringen. Das heißen sie Nirwana oder in +Gott ruhen; aber Gott hat auch unsere Wünsche und Begierden gemacht, +nicht daß wir sie töten, sondern seinen Willen damit erfüllen. Wenn wir +Gott selber in unsern Wünschen und Begierden haben, können sie kein +Hindernis mehr sein. Ihre Seligkeit heißt, in Gott zu ruhen; unsere +wird sein, Gott zu tun. + +Sie sind unter Brunegg stehen geblieben, weil es ihn angestrengt hat, +im Steigen soviel zu sprechen; nun sagt er ihr seinen Plan eines neuen +Waisenhauses. So bist du der Alte geblieben? fragt sie, und er sieht in +der ungewissen Helligkeit der Winternacht, wie sie selber die Antwort +dazu lächelt. Ihm aber ist es auf einmal zumut, als ob er wieder in +der Schule das Vaterunser sprechen müsse; er kann die Worte fast nicht +herausbringen, so unbändig kichert seine Fröhlichkeit: Ja, Liebe, und +darum wollte ich dich fragen, ob wir nicht Schloß Brunegg kaufen sollen! + + + 80. + +Seit dieser Nacht fühlt Heinrich Pestalozzi einen fremden Flügelschlag +über seinen Dingen, sodaß er sich eilen muß, den Ereignissen zu folgen, +statt sie mühsam anzuzetteln. Er macht zwar noch das Höchstgebot auf +Brunegg und findet bei der aargauischen Regierung eine unerwartete +Willfährigkeit, ihm bei der Einrichtung eines helvetischen Waisenhauses +behilflich zu sein; aber das Schicksal verlegt ihm mit gütigen +Wendungen den Rückweg aufs Birrfeld: Schon im November hat der Doktor +Grimm sich erboten, einige Waisen aus dem Kriegsgebiet in sein Haus +zu nehmen, andre Bürger sind ihm willig gefolgt, und da Fischer den +Plan mit Feuer betreibt, kommen Ende Januar sechsundzwanzig Kinder in +Burgdorf an, die der Pfarrer Steinmüller zu Gais im Appenzeller Land +gesammelt hat. Heinrich Pestalozzi will gerade zum Schloß hinauf, als +die Bürger ihnen entgegenleuchten; überall sind Betten und warme Suppen +für die Zitternden bereit, es könnten ihrer hundert sein, soviel Hände +strecken sich hilfreich aus. Auch sein Herz wallt ihnen entgegen, +und gleich ist er mitten in der Schar, mit scherzenden Fragen seinen +Willkomm zu sagen; aber eins nach dem andern wird ihm eingefordert, und +ehe er sichs versieht, steht er allein auf der Straße da. Meine Zeit +ist noch nicht gekommen, sagt er kopfschüttelnd vor sich hin, als er in +einer bestürzten Wehmut durch die Dunkelheit zum Schloß hinaufgeht. + +Aber unversehens fällt das, was andre begonnen haben, ihm in den Schoß, +der die Seele solcher Taten ist: die Kinder sind durch einen jungen +Dorfschulmeister namens Hermann Krüsi aus Gais gebracht worden, der +als dritter ein Zimmer im Schloß erhält. Er ist ein lernbegieriger +Mensch von vierundzwanzig Jahren, dem die Nähe des berühmten Verfassers +von Lienhard und Gertrud eine Erhöhung seines Lebens bedeutet; +für seine Appenzeller Kinder wird ihm eine besondere Schule im +Ort eingerichtet, sodaß sie morgens miteinander in den Burgdorfer +Schuldienst hinuntergehen. Obwohl Heinrich Pestalozzi sich mit seinen +Menschheitsplänen in der Buchstabierschule der Jungfrau Stähli -- wie +er dem Krüsi sagt -- allmählich gleich einem Seefahrer vorkommt, der +seine Harpune verloren hat und mit der Angel probiert, Walfische zu +fangen, bleibt er unverdrossen dabei, bis er im Frühjahr die Burgdorfer +zu einer öffentlichen Prüfung einladen kann. Schon die Neugierde, in +die seltsamen Karten des wunderlichen Fremdlings zu blicken, treibt sie +zahlreich herzu; aber nun steht nicht mehr das Mitleid kopfschüttelnd +da wie in Stans, es gibt eine wahre Verblüffung über die Fertigkeiten +so junger Schüler, und die Schulkommission stellt ihm ein öffentliches +Zeugnis aus, dankbar, daß er gerade Burgdorf für seine Lehrversuche +gewählt habe. Diese Anerkennung macht ihn zittrig vor Freude, weil +er nun endlich die Weite für seine Dinge geöffnet sieht, sodaß er +in seinem fünfundfünfzigsten Jahr trotz dem Ehrenbürgertum der +französischen Republik wie ein belobter Schüler in die Ferien kommt und +seiner Frau Anna das Zeugnis in den Schoß legt. Eigentlich bist du zu +alt dazu, lächelt sie wehmütig mit dem Papier in der Hand: oder sollte +die Zeit gekommen sein, wo die Großväter wieder zur Schule gehen? Aber +er läßt sich sein Glück nicht erschüttern: »Man hat mir schon in meinen +Knabenschuhen gepredigt, es sei eine heilige Sache um das von unten +auf Dienen; ich achte es für die Krone meines Lebens, daß man mich mit +grauen Haaren in der Schule von unten anfangen läßt!« + +Er hätte nötig, daß diese Ostertage Ferien für ihn würden, aber sein +Sohn Jakob will sterben, und während draußen der Frühling schäumt, +zerreißen die Schmerzen den hilflosen Mann, dem er den Neuhof als +Erbschaft mühsam aufgespart hat. Zerstört von Nachtwachen kommt er +wieder in Burgdorf an, wo Krüsi allein auf ihn wartet, weil Fischer +enttäuscht und todkrank nach Bern zurückgegangen ist. Als Heinrich +Pestalozzi spät abends den Steilweg aus dem Ort hinauf tastet, findet +er den Appenzeller, der seitdem einsam und landfremd in den leeren +Gebäuden haust, sehnsüchtig harrend am Tor. Mein Sohn stirbt, sagt er, +als sich der Jüngling ihm weinend in die Arme wirft: kommst du mir an +Sohnes Statt? + +Danach gibt es einen Erntesommer für ihn, wie er noch keinen erlebte: +die Bürger haben ihn dankbar zum Lehrer an der zweiten Knabenschule +gemacht, darin er an die sechzig Knaben und Mädchen zu lehren hat; +und kaum, daß er mit Krüsi überlegt, wie ihre Schulen sich vereinigen +und, in Klassen eingeteilt, besser im Lehrplan einrichten ließen -- +nur an Raum fehlt es im Schulhaus, während im Schloß die schönsten +Räumlichkeiten leer stehen -- sind die Herren in Burgdorf und Bern +gleich so diensteifrig, daß die Kinder schon zum Sommer auf dem Berg +einrücken können. Als der Schloßhof von dem emsigen Gewirr ihrer +Stimmen widerhallt, müssen die Knaben und Mädchen von der Linde ein +Schweizerlied ins waldige Emmental hinunter singen, und diesmal stehen +keine Luzerner da zum Lachen, weil er selber mit seiner alten Stimme +fröhlich den Takt hineinkräht: Nun ist es kein leeres Schloß mehr, +denkt er, und ich brauche morgens nicht auf einem Steckenpferd den +Berg hinab zu reiten! Wie ein Feldherr einen Engpaß bezwungen hat, +das bedrängte Land von den Feinden zu räumen, fühlt er sich längst +über die ersten Buchstabier- und Rechenkünste hinaus und mächtig, in +die entlegenen Gebiete der herkömmlichen Schulmeisterei den Gang der +Natur zu tragen. Er hat zum Wort und zu der Zahl die Form der Dinge als +drittes Element für seinen Unterricht gefunden und hält nun endlich +das Geheimnis in der Hand: das Abc der Anschauung, daraus sich alle +Fertigkeiten und Kenntnisse gewinnen lassen. + +Mit dem Sommer fängt die Nachricht von der Wunderschule im Schloß +zu Burgdorf an durchs Land zu gehen, und wie ehemals auf dem +Neuhof, kommen Gläubige und Zweifelnde an, sich mit eigenen Augen +zu überzeugen, was Wahres an dieser neuen Zeitung sei. Sie finden +keinen Einsiedler mehr: Krüsi hat aus Basel seinen Freund Tobler +geholt, der dort als Theologiestudent den Hauslehrer spielte; der +wiederum bringt einen jungen Buchbinder namens Buß aus Tübingen mit, +weil er sich trefflich aufs Zeichnen und die Musik versteht, welche +Künste Heinrich Pestalozzi auch in den Anfängen versagt sind. Sie +hausen zu vieren in dem Schloß und müssen manchmal selber lachen, +was für einen seltsamen Verein sie bilden: ein Romanschreiber, ein +Theologiestudent, ein Buchbinder und ein Dorfschulmeister. Ich bin +nun wirklich ein Wundertier, scherzt Heinrich Pestalozzi oft, ich +habe vier Köpfe und acht Hände. Er wird auch nicht müde, die Fremden +durch die Klassen zu führen, wo im ersten Stock die Körbe mit den +Buchstabentäfelchen stehen, daraus sich vor den Augen der Kinder die +Silben und Wörter auswachsen; in der zweiten fangen die Schreibkünste +auf den Schiefertafeln an -- die meist als die größte Neuheit bestaunt +und befühlt werden -- und durchsichtige Hornblättchen mit eingeritzten +Buchstaben sind die stummen Schulmeister in den Händen der Kinder, +ihre Schriftzüge zu kontrollieren; der dritte Raum ist groß genug zu +Marschübungen, und wenn den Besuchern schon aus den andern Stuben +der Takt im Chorsprechen als das Erstaunlichste im Ohr geblieben +ist, weil er die Vielheit der Schüler mit einem Mund sprechen läßt, +so sehen sie nun den selben Takt als Erscheinung lebendig werden, +wenn die Kinder fröhlich singend oder deklamierend gleichen Schritt +halten. Heinrich Pestalozzi weiß wohl, daß dies alles nur die +Augenfälligkeiten seiner Lehrübungen sind, und es ficht ihn nicht an, +wenn ein gelehrter Herr kopfschüttelnd über die Einfalt solcher Methode +den Berg hinuntergeht. Sie suchen den Stein der Weisen, spöttelt er, +aber es darf kein Stein sein, weil sie sonst nur an den Bach zu gehen +brauchten! Auch meinen sie, ich plagte mich in meinen Großvaterjahren +um neue Schulmeisterkünste, wo ich doch nur der Armut eine Treppe bauen +will. Und als der sinnende Tübinger, dem es am schwersten fällt, sich +einzuleben, ihn einmal am Abend fragt, wie er das meine? sagt er sein +Beispiel von dem Haus des Unrechts. + +Sie sitzen auf der Mauer unterm Lindenbaum und sehen, wie die +Sonnenröte die Alpen herrlich überschüttet, und auch die beiden anderen +kommen horchend herzu, als er beginnt: Was meint ihr, daß einer im +Keller unseres Schlosses von diesem Abend sähe! Die Luken im Gewölbe, +zu hoch für die Augen, werden ihm nur einen bläßlichen Schein der Röte +geben! Besser wird es in den Stuben des unteren Stockwerks sein; obwohl +es nach außen kein Fenster hat, sieht man den Widerschein im Hof und +ahnt die Herrlichkeit! Nur oben, wo die Fenster aus den Sälen nach +allen Seiten den freien Ausblick gestatten, kann der Bewohner sich +gemächlich in eine Nische setzen, den Anblick zu genießen! Nun denkt +euch, Freunde, es gäbe keine Treppe in diesem Haus, sodaß die Herren +in den Sälen die einzigen Genießer wären, die Bürger in den Stuben +darunter könnten nicht hinauf, obwohl ihnen der Widerschein im Hof das +Blut unruhig machte; das arme Volk aber in den Gewölben säße gefangen +im fensterlosen Dunkel und hätte von Gottes Sonne nur die trübe Röte an +der Luke! + +So, Freunde, ist das Haus des Unrechts um die Klassen der Gesellschaft +gebaut. Drum hab ich mich gemüht mein Leben lang und bin ein Narr +geworden vor ihren Augen, daß ich in dieses Haus des Unrechts die +Treppe der Menschenbildung baute. + + + 81. + +Wenn die Morgenstunden seiner Schule zu Ende sind, geht Heinrich +Pestalozzi bei gutem Wetter an die Emme hinunter, Steine zu suchen. Er +kennt nur wenige Arten und wählt sie mehr wie ein Kind nach der schönen +Farbe aus, doch schleppt er gern ein Taschentuch voll davon, wenn +er zum Stadthauswirt Schläfli an den Mittagstisch kommt. Meist geht +auch eins oder das andere der Appenzeller Kinder mit, und namentlich +ein Knabe namens Ramsauer begleitet ihn gern. Wie er eines Tages mit +dem im sonnigen Gestein sitzt -- trotzdem ihm die Gehilfen tapfer +beistehen, schmerzt ihn die Brust vom Sprechen -- denkt er mit einer so +traurigen Sehnsucht an sein verlassenes Waisenhaus in Stans, daß ihm +die Tränen rinnen. Er weiß schon lange, daß ihn die Regierung nicht +dahin zurücklassen will, aber er hat es nicht angeschlagen um seiner +neuen Arbeit willen; nun läuft ihm die Bitterkeit der unbefriedigten +Gedanken von allen Seiten zu. Es gerät ihm wie niemals vorher mit +seiner Treppe der Menschenbildung, er hat den Schlüssel, alle +Stockwerke zu öffnen, aber es sind doch nur die Bürgerkinder dieser +wohlhabenden Kleinstadt, die davon Nutzen haben: Schlimmer als jemals +ist die Not im Land, und ich habe in eitler Selbstgefälligkeit die +Fremden durch meine Methode spazieren geführt. Als sie mich für einen +Narren hielten, schrieb ich meine Schriften; jetzt, wo mir die Bürger +gute Zeugnisse geben und ein Gehalt zahlen, bin ich Großvater wirklich +ihr Narr geworden! + +Als er bedrückt von solchen Gedanken, diesmal ohne Steine im Sacktuch, +in die Stadthauswirtschaft kommt, sieht er Tobler schon wieder mit zwei +Fremden dasitzen, einem rotköpfigen Pfarrer und einem Tirolerknaben, +die erfreut aufstehen, ihn zu begrüßen. Er kann seinen Groll zu +keinem freundlichen Wort zwingen, macht augenblicklich kehrt und +läßt sein Mittagsmahl im Stich, obwohl Tobler gleich hinter ihm her +ruft. Unterwegs tut ihm die Torheit leid, aber wie er dann an seinem +Sorgenplatz unter der Linde steht, kommen ihm die drei hartnäckig +in den Schloßhof nach, und nun muß er selber lachen, weil der junge +Pfarrer niemand anders als der Freund Toblers, Johannes Niederer aus +Sennwald ist, mit dem er seit Monaten im herzlichsten Briefwechsel +steht. Den Tirolerknaben, der auf eigene Faust sein Schüler werden +will, hat er zufällig unterwegs getroffen. So geht mirs, klagt er und +schließt sie beide in die Arme: vor Gleichgültigen mache ich meine +Kapriolen, und wenn Freunde kommen, rennt der Hase fort! + +Er kehrt danach mit ihnen in das Stadtwirtshaus zurück, und es wird +ein fröhlicheres Mittagsmahl, als er es seit Wochen hatte; denn seit +dem Holsteiner Nicolovius ist ihm nicht mehr solche Liebe widerfahren, +wie in den Feuerbriefen dieses kaum zwanzigjährigen Pfarrers aus +Sennwald, der nun wie der Husarenkapuziner aus Stans neben ihm sitzt, +so rotköpfig und so verbissen in seine Gedanken. Er ist zwar vorläufig +nur zum Besuch gekommen, aber Heinrich Pestalozzi reißt wieder einmal +gierig die Zukunft aus der Gegenwart los: Ihr seid die Jugend, die zu +mir aufsteht, sagt er und halt ihnen sein Glas hin, als ob er alle Tage +so schöppelte; nun will ich den Fischzug meines Lebens machen! Und weiß +auf einmal garnicht, warum er sich bis zu diesem Tag geweigert hat, +die Erbschaft Fischers ganz anzutreten: ein Schullehrerseminar, eine +Musterschule und eine Pensionsanstalt hat der in Burgdorf gewollt, den +nun in Bern der Rasen deckt, indessen er noch immer eigensinnig auf +sein Waisenhaus in Stans wartet, als ob es diese oder jene Waisen und +nicht die Treppe seiner Lehre gelte. + +Noch in den Tagen, da Niederer wie ein Spürhund durch die Klassen geht +und jeden Fund verbellt, verhandelt er mit der Regierung in Bern. Er +fühlt, daß sich die Summe seines Lebens einsetzen will: was er als +Landwirt, Armennarr und Schriftsteller auf dem Neuhof, als Waisenvater +in Stans und als Winkelschulmeister in Burgdorf an Erfahrungen +einbrachte, soll nun Erscheinung werden. Zwar haben die politischen +Hagelwetter seinen Freund Stapfer als Minister verdrängt, aber +noch in den letzten Wochen hat er ihm eine helvetische Gesellschaft +von Freunden des Erziehungswesens gegründet, die ihm nun mit einem +Aufruf an die Bürger aller Kantone beisteht. Zum andernmal nach einem +Vierteljahrhundert rasselt seine Werbetrommel durch das Land, aber nun +treten ihrer viele zu dem Bürger, dessen Ruhm im Ausland geklungen +hat. Schon im November sind an die fünfzig Zöglinge im Schloß, nicht +Bettelkinder wie im Neuhof, die ihren Unterhalt durch eigene Arbeit +verdienen sollen, sondern Bürgersöhne und Töchter, deren Eltern den +Aufenthalt mit gutem Geld bezahlen. Er löst die Burgdorfer Schule ab, +und nur die von den Appenzeller Kindern bei ihm bleiben wollen, behält +er um Gotteswillen; der Tiroler Schmidt ist auch darunter. + +Heinrich Pestalozzi staunt, wie rasch ihm dies alles ins Kraut +geschossen ist, aber der Erfolg macht ihn fröhlich, sodaß er dem Herbst +und Frühwinter die Tage wie die Blätter eines Märchenbuches abliest. +Darüber kommt Weihnachten, und er kann diesmal nicht in Neuhof sein, +weil einige Kinder mit den Gehilfen bleiben, denen er als Vater das +Fest bereiten muß. Zum Neujahr deckt ein dicker Schnee alles mit runden +Kappen zu, und der Weg vom Schloß hinunter bis in die Häuser ist +eine steile Schlittenbahn. Selbst seine Burgdorfer Freunde schütteln +mißbilligend den Kopf, als sie ihn da mit den Kindern schlitteln +sehen, und der Doktor Grimm sagt ihm, daß dies kein Geschäft für einen +Großvater sei; er aber, der nichts Schöneres auf der Welt kennt, als +wenn verschüchterten Kindern die Augen fröhlich aufgehen, nimmt +einen Schneeball und wirft ihn, sodaß es -- als die Knaben seinem +Beispiel folgen -- ein lustiges Gefecht um die Fröhlichkeit gibt, bei +dem der Griesgram in die Flucht geschlagen wird: Das ist keine so +einträgliche Schlacht für euch Doktoren, als wenn mit Bleikugeln auf +Menschen geschossen wird, sagt er ihm einige Tage später, als er ihn +bei Tauwetter wiedertrifft, aber sie macht rote Backen! Der Doktor +schüttelt unwillig den Kopf: er habe ihm nur die Post mitgebracht, weil +er doch zu dem Knaben müsse, der sich bei dem Spaß bös erkältet habe. + +Es ist nur ein zierlicher Brief, von Frauenhand mit dünnen Buchstaben +adressiert; er öffnet ihn gleich und liest, daß ihm die Tochter +Lavaters den Tod ihres Vaters meldet, der am zweiten Januar seiner +Verwundung nach langem Siechtum erlegen sei. Von ihm selber aber liegt +ein Zettel dabei, den er als Abschiedsgruß noch auf dem Sterbebett an +ihn geschrieben hat: + + »Einziger, oft Mißkannter, doch hochbewundert von vielen, + Schneller Versucher des, was vor dir niemand versuchte, + Schenke Gelingen dir Gott! und kröne dein Alter mit Ruhe!« + +Heinrich Pestalozzi ist so erschüttert, daß er den erstaunten Doktor +ohne Wort auf der Straße stehen läßt und quer über die nassen +Schneefelder zur schwarzen Rinne der Emme hinunterläuft. Dies ist genau +so unvermutet wie in den Jünglingstagen, als Lavater ihm den »Emil« ins +Rote Gatter brachte: Er war nicht mein Freund, überschlägt sein Gefühl, +er hat mich nie recht gemocht, und nur ein paarmal hat uns das Leben +nebeneinandergestellt; nun hat er wie Bluntschli vor Gott gesessen +mehr als ein Jahr, kaum, daß ich einmal an ihn dachte im Strudel meiner +Dinge, und er schickt mir dieses Wort! + +Nur die treue Erinnerung hat er aus dem Zettel gelesen, kaum die +Sätze; doch wagt er nicht, ihn noch einmal vor die Augen zu bringen, +so ehrfürchtig ist ihm zumute, weil er von einem Toten kommt: Wie +dieser Bach im Schnee übereilen wir unsern Weg, sagt er und läßt seine +Augen mit den Glattwellen laufen, bis sie hinter den schwarzen Büschen +verschwinden. Nur an unsern Ufern sehen wir die Dinge, alles nur einmal +im Gedränge, und kein Augenblick kann gegen den Wellenschlag zurück. +Wenn wir unten sind, ist dies unser Leben gewesen; aber unser Wasser +war es nicht. Das Wasser gehört der Welt, der kein Tropfen an irgend +wen verloren geht; unser Teil ist, daß wir fließen. Durch ein paar +Mühlräder können wir laufen unterwegs, aber nicht mehr sehen, wieviel +von Gottes Korn damit gemahlen wird. + + + 82. + +Heinrich Pestalozzi hat sich in dem nassen Schnee eine Erkältung +geholt, die über Nacht fiebrig wird, sodaß ihn der Doktor Grimm für +ein paar Tage zur Vergeltung ins Zimmer sperrt. Kröne dein Alter mit +Ruhe! steht auf dem Zettel Lavaters, den er nun auswendig weiß; aber +selten hat ihm ein Wort so viel Unruhe bereitet. Er weiß, wie dünn ihm +die Kräfte geworden sind und daß ihn täglich die Gefährlichkeit seiner +Jahre ankommen kann; aber keine drohende Krankheit vermöchte ihn so zu +schrecken wie die Sorge, lässig zu werden: Die Ruhe des Alters kommt +denen zu Recht, die Glück mit ihrem Leben hatten; ich aber, dem alles +unter den Händen zerbrach und der ich noch als Großvater in die Schule +mußte, ich wäre damit einem Bauer gleich, der seine Felder und Gärten +in Dürre und Kriegsnot bestellt hat und danach die Ernte versäumte. + +Diese Ernte aber wächst weder in Burgdorf noch in einer andern +Anstalt allein, sie ist ihm auf den unübersehbaren Feldern seines +Lebens gereift, und nur, wenn er eine alles umgreifende Darstellung +seiner Lehre der Menschenbildung hinterläßt, hat er nicht umsonst +gelebt. Unter den Gehilfen, die er nun wieder mit den Zöglingen +Schneeballen werfen sieht -- weil der Winter neuen Schnee auf den +glatt gefrorenen Guß des Tauwetters gelegt hat -- ist keiner, der +von der Last seiner Erfahrungen und dem Gang der Methode mehr als +die Anfänge wüßte; und was sie davon ausbrächten, wenn er stürbe, +wäre nichts als eine notdürftig gebesserte Schulmeisterei. Schneller +Versucher des, was vor dir niemand versuchte, schreibt er mit den +Worten Lavaters auf das oberste der Blätter, die er gleich am ersten +Tag seiner Stubenhaft herauskramt, um sein Lehrbuch der Menschenbildung +zu beginnen. In seinen Nachforschungen über den Gang der Natur in +der Entwicklung des Menschengeschlechts hat er versucht, seine Sache +auf eine Weltanschauung zu gründen; nun will er den gleichen Gang +der Natur in der Erziehung aufweisen. Aber als er gleich in diesen +Januartagen anfängt zu schreiben, wird es zugleich ein Bekenntnisbuch +seines fünfundfünfzigjährigen Lebens: alle Einsichten, die er sich +in mühseligen und schmerzenden Erfahrungen für die Volksbildung +erkämpft hat, fließen ihm hin in zwölf angeblichen Briefen, von denen +jeder eine Schrift für sich sein könnte. Es ist nun wirklich, als ob +er die Früchte abnähme vom Baum seines Lebens, obwohl draußen erst +das Frühjahr den Winter ablöst und sich von einem Strauch zum andern +durchblüht in den grünen Sommer. Immer wieder füllen die Zöglinge den +Hof mit ihrem fröhlichen Lärm, von den Gehilfen zum Spiel geführt, Tag +für Tag steht er selber unter ihnen mit Zuspruch und Lehre, Eltern +kommen, ihre Kinder zu bringen, und Freunde weither in Reisewagen, +seine Schule zu sehen: was sonst der Sinn seines Tages war, ist nun +eine bunte Füllung geworden, und erst abends, wenn Heinrich Pestalozzi +wieder an seinen Blättern sitzt, blüht ihm die Seele im eigenen +Herzschlag auf. Wer ganz bei sich ist, ist bei den andern! schreibt er +einmal auf einen Zettel, als er sich selber zu eigensüchtig vorkommt +inmitten der durch ihn bewegten Dinge. + +Das zwölfte Stück ist fertig, als ein Brief vom Neuhof anlangt, daß +sein Sohn Jakob im einunddreißigsten Jahr seines schmerzvollen Lebens +gestorben ist; seine Frau schreibt ihm die Nachricht und daß sie ihr +Kind selber, von Zürich hingerufen, nur noch auf dem Totenbett gefunden +habe. Es tut ihm einen Stich ins Herz, aber er vermag die Feder nicht +hinzulegen, so sehr scheint ihm die Nachricht aus der Verwirrung seiner +Gedanken aufzuquellen. Er ist mit seiner Arbeit in eine böse Stockung +geraten: wie er die Uhrfeder der Sittlichkeit in seine Methode +einsetzen will, erkennt er, daß die sinnliche Befriedigung bei jedem +Kind auf den Genuß geht und dem sittlichen Zwang feind ist. Soviel +er denkt und deutelt, er vermag die Sittlichkeit auf kein Bedürfnis +der Kindnatur zu gründen, und so muß er seiner Lehre selber die +Natürlichkeit fortnehmen, als er sie damit krönen will: »Es ist hier, +wo du das erste Mal der Natur nicht vertrauen, sondern alles tun mußt, +die Leitung ihrer Blindheit aus der Hand zu reißen und in die Hand von +Maßregeln und Kräften zu legen, die die Erfahrung von Jahrtausenden +angegeben hat.« In diese Verwirrung fällt die Todesnachricht, die +dadurch nicht gemildert wird, daß er sie für den Sohn als eine Erlösung +empfindet. Er hat den Blick Annas nicht vergessen, als sie ihn damals +ins Kleefeld legen mußten; irgendwie stürzt ihm das Gebäude seiner +Lehre ein und er hört die Säulen krachend zerbrechen: Wenn jetzt seine +Gläubigkeit nachläßt, wird ihm alles da entwertet, wo er es geheiligt +sehen wollte. + +Die Schriftzüge seiner Frau retten ihn; er weiß, ihr ist es als Mutter +schwerer geworden, die Nachricht mit einer Feder zu schreiben, als ihm, +sie zu lesen; aber kein Wort steht anders als in der Ergebung da, die +ihr heiliges Erbteil ist. So beugt er sich aus seinen Wirrsalen über +das tiefe Geheimnis der Mutter, darin die sinnliche Befriedigung alles +Daseins im Anfang beschlossen ist. Die Sitte der Appenzeller Frauen +fällt ihm ein, dem Neugeborenen einen papierenen Vogel über die Wiege +zu hängen, bunt bemalt, um so die ersten Sinneseindrücke des Säuglings +in den menschlichen Bannkreis zu zwingen. Die Mutter ist der Brunnen, +darin Gott und Natur noch eins sind, aus ihr wächst die erste Nahrung +des Kindes, wie es selber gewachsen ist, und alles, was sie ihm danach +gibt, wird natürlich durch ihre Gabe, sie kann aus Gott das Brot des +Lebens machen. Nachdem rastet Heinrich Pestalozzi nicht mehr, schreibt +durch diese Nacht und noch tief in den Morgen, bis er die letzten +Briefe seines Buches fertig hat, die nun ein Lobgesang auf die Mutter +werden und auch den Titel des Buches bestimmen: »Wie Gertrud ihre +Kinder lehrt«. Eine gehetzte Angst hat seinen Überschwall getragen, bis +er am andern Mittag vor den Blättern -- leergeflossen an ihrem Inhalt +-- auf dem Stuhl in einen bleiernen Schlaf sinkt. + +Am andern Morgen in der Frühe holt er den Stecken und den Ranzen vor, +noch einmal aufs Birrfeld zu wandern, wo seine Frau das frische Grab +des Sohnes hütet. Es wird ihm leichter zu gehen, als er gedacht hat; +und als er schon tief im Aargau drin zwei Kinder bei einer Scheune +trifft, die eine Leiter quer über einen Brunnentrog zu einer Schaukel +gelegt haben, auf der sie abwechselnd mit glücklichen Augen in den +Himmel fahren, ruht er sich rätselvoll bewegt bei ihnen aus. Gleich +wird die Magd mit dem Eimer kommen, Wasser zu schöpfen, und der +Knecht wird die Leiter brauchen; das Glück ihres Spiels bleibt ihnen +trotzdem unangetastet: eine paar Steine auf dem Feld, eine Kuhherde +auf der Weide werden ihnen vielleicht in einer Stunde noch höhere Lust +bereiten, weil die nicht aus den Dingen -- und also aus den Sinnen -- +sondern aus ihren Seelen kommt. Es gibt keine bösen Lockungen der +Sinne zum Genuß, es gibt nur eine Lust der Seele, die sich in ihrem +Körper fühlt; sie ist das Leben selber und kann kein Hindernis der +Bildung sein: gerade sie muß der Mutter das Leitseil werden, ihr Kind +ins Gute zu führen. Die Hölle und das Paradies liegen gleichviel darin, +oder fast nicht, weil Lust und Pein Feuer und Wasser sind, während jede +Lust in ewige Seligkeit ausfließen will! + +Er trifft Anna, wie sie mit Gottlieb, dem Enkel, am Brunnen steht, als +ob es noch ihr Knabe wäre. Die Rührung überströmt ihn, sodaß er ihr +ins Ungewisse hinein die Hand hin hält, so hindern die Tränen ihn, +ihr Gesicht zu sehen: Nun ist das Band fort, das von meinem zu deinem +Leben ging! Aber als ob ein Schwamm ihm dreißig Jahre von seinem Leben +auslöschte, wird er vom Klang ihrer Stimme berührt: Nein, Pestalozzi, +es ist nur in die Ewigkeit gelegt! + + + 83. + +Im Oktober läßt Heinrich Pestalozzi das Buch erscheinen, und noch vor +Weihnachten sieht er die Saat seiner Worte in den deutschen Blättern +aufgehen; es können zunächst freilich auch nur Worte sein, aber die +Namen der Schreiber sagen der aufhorchenden Schweiz, daß aus dem +Armennarr im Neuhof eine geistige Macht geworden ist. Auch könnte +ihm Füeßli nicht noch einmal mit seiner Rede von der Rührung und dem +Kirschwasser kommen; denn alles an dem Buch ist Rede und Überredung, +und jeder Beifall bedeutet eine Entscheidung für ihn, die irgendwie +in Taten endigen muß. Indem sich danach die Zöglinge für seine Anstalt +reichlicher melden, hilft das Buch auch seiner äußeren Lage, sodaß er +diesmal zuversichtlicher als sonst das Frühjahr abwartet. + +Die geborene Fröhlich ist zu ihm gezogen mit der kleinen Marianne, +die ein überzartes Kind von sechs Jahren ist und schon am Unterricht +teilnehmen kann. Zum Fest kommt auch die Großmutter mit dem Gottlieb, +sodaß sie bis auf Lisabeth, die den Neuhof hüten muß, in Burgdorf +beisammen sind. Es befriedigt ihn, endlich einmal Anna seine Dinge +in der neuen Gestalt zeigen zu können, wo er nicht selber mehr der +Lehrling, sondern der Meister ist; und selbst damals, wo er sie auf dem +Gut Tschiffelis umher führte, ist er nicht stolzer auf sie gewesen als +nun, wo sie lächelnd über seinen Eifer mit ihm durch die Schulstuben +und Schlafsäle der Anstalt geht. Die zweiunddreißig Jahre der Ehe +haben ihm nichts von ihrer Schönheit ausgelöscht, und während sie den +Gehilfen eine ehrfürchtig begrüßte Matrone vorstellt, ist ihm bräutlich +zumut. Der Tod ihres einzigen Kindes geht noch mit ihr, und obwohl sie +willig zu seinen Erklärungen nickt, bleibt der Schmerz in ihren Augen +wie Glas, darin sich die Eindrücke dieser Dinge mit der Spiegelung +schmerzhafter Erinnerungen mischen. Es wird ein stilles Fest, aber +heilig für ihn; und als sich gleich nach Neujahr Tobler im Schloß +trauen läßt, und Niederer zum zweitenmal nach Burgdorf kommt, seinem +Freund die Traurede zu halten, sitzt er wirklich -- wie Niederer sagt +-- als Erzvater dabei. + +Aber die Zeiten sind nicht testamentarisch; unversehens zieht noch +einmal ein Kriegsjahr seine Unruhen und Bedrängnisse um die Anstalt. +Schon im vergangenen Oktober haben die Föderalisten, wie sich die +Anhänger der alten Kantonswirtschaft nennen, die helvetische Regierung +in Bern gestürzt und eine andere gewählt, die dem Schwyzer Aloys +Reding als Landammann untersteht. Da es der neuen Herrschaft aber wie +der alten an Geld fehlt, um aus der Schuldenwirtschaft zu kommen, +steigen im Frühjahr schon wieder die sogenannten Unitarier auf der +Schaukel hoch. Dagegen erheben sich die Urkantone, die auch sonst +überall die Mißvergnügten an der neumodischen Franzosenwirtschaft +finden, und während für Europa endlich ein Friedensjahr gekommen +ist, fangen die Schweizer unter sich Kriegshändel an. Obwohl sie es +selber um der altmodischen Bewaffnung willen den Stecklikrieg nennen, +muß die helvetische Regierung vor den Aufständischen aus Bern nach +Lausanne flüchten, und gerade soll der Tanz im Waadtland losgehen, +als zwischen den feindlichen Scharen der General Rapp sechsspännig +vorfährt, den Einspruch Bonapartes zu bringen, dem ein nachrückendes +Heer von vierzigtausend Franzosen ein unwiderstehliches Gewicht gibt: +die einzelnen Kantone sollen ihm, statt diesen Bruderkrieg zu führen, +Abgeordnete nach Paris schicken, um dort unter seiner Aufsicht eine +neue Verfassung zu beraten. Es bleibt den hitzigen Schweizern nichts +übrig, als ihr Waffenzeug heimzutragen und die Tagsatzung statt in +Schwyz in Paris vorzubereiten, weil sie -- wie ein Witzbold sagt +-- ihrem vielbeschäftigten Ehrenpräsidenten Bonaparte jetzt keine +Schweizerreise zumuten dürften! + +Heinrich Pestalozzi hat diese Händel als einen Streit von Bauleuten +angesehen, die sich über den Plan ihres neuen Hauses nicht einigen +können und dem alten nachjammern, obwohl sie es selber eingerissen +haben; er ist zu der bitteren Einsicht gekommen, daß es bei solchen +Parteikämpfen mehr um die Macht, zu regieren, als um das Volkswohl +geht. Bevor noch das sechsspännige Fuhrwerk des Generals Rapp in +die Schweiz eingefahren ist, hat er in einer Flugschrift die vier +Eckpfeiler aufgestellt, mit denen das Haus einer helvetischen +Verfassung besser als mit Flinten und Kanonen unter Dach zu bringen +wäre: wirkliche Volksbildung, unbestechliches Gericht, allgemeine +Militärpflicht und gerechte Finanzen. Der Grundstein aber müsse unter +dem Pfeiler der Volksbildung eingesetzt werden; weil an die anderen +Pfeiler ohne diesen ersten nicht zu denken wäre, sei er dem heutigen +Geschlecht das einzig Erreichbare. Er hat die Schrift in wenigen Tagen +hingeschrieben; sie stellt ihn auf den schmalen Grat, wo der Haß von +beiden Seiten aufbrandet, aber als die Wahlen für die Tagung in Paris +vorüber sind, ergibt sich, daß er an zwei Stellen, von den Bauern des +Emmentals wie von dem Landvolk in Zürich, als Abgeordneter gewählt ist. + +Ich werde nicht sechsspännig fahren, scherzt er, mein Wagen geht auf +zwei Beinen! Obwohl er dann um der unruhigen Zeiten und der Mühsale +willen -- auch geht es in den Winter -- die Reise doch im Wagen machen +muß, fährt er fröhlich und mit besonderen Hoffnungen für seine Sache +ab. Seitdem er seine Anstalt in Burgdorf hält, haben drei französische +Gesandte in Bern gewechselt, doch jedem sind seine Dinge mehr als +einen flüchtigen Besuch wert gewesen; auch weilt Stapfer in Paris, +der ihm die rechten Türklopfer in der Stadt zeigen kann, darin die +Zukunft Europas zurechtgehämmert wird. Und seine Anstalt läßt er gut +besorgt zurück, weil Anna sich tapfer entschließt, während seiner +Abwesenheit das Hausregiment zu führen. Es ist seine zweite Reise und +in der Strecke fast der Fahrt nach Leipzig gleich, die er vor zehn +Jahren machte; auch werden die Tage wieder in die selbe Kette von +Zollhäusern, Posthaltereien und Gasthöfen eingespannt, nur daß die +Uniformen französisch sind. Doch als er am zwölften Nachmittag die +Unermeßlichkeit der Stadt um den blinkenden Lauf der Seine daliegen +sieht, ist es ein anderes Wesen als das Landstädtchen an der Elster. So +hat sich auch sonst alles um mich geweitet, denkt er: damals kam ich um +eine Familienerbschaft, heute schickt mich mein Volk für seine Zukunft; +in Leipzig lief ich als Unbekannter die Türen kleinstädtischer Behörden +ab, hier werde ich als Ehrenbürger der Franzosen vor ihren Konsul +treten! + +Aber er bekommt den Machthaber nur einmal zu sehen, als Bonaparte +unvermutet in ihren Saal tritt, anscheinend zufällig, als ob er nur +den Durchgang benützte, aber eindrucksvoll mit seinem goldflirrenden +Gefolge. Das letzte Wort der unterbrochenen Rede findet noch Zeit, +in das Stuckwerk der Decke zu flattern, dann ist die starre Ruhe +der Augen da, die alle auf den kleinen Mann blicken, der, im Alter +der jüngste unter ihnen, Europa mit dem Ruhm seines Namens erfüllt +hat. Er läßt sich kurz rapportieren, wobei er mehr durch die Augen +als die Ohren zu hören scheint, schneidet mit der Handbewegung eines +ungeduldigen Knaben die Rede ab und wendet sich mitten durch die +Reihen, sie gleichsam überrumpelnd, einigen Köpfen zu, die ihm ins +Auge fallen. Auch Heinrich Pestalozzi fährt unvermutet eine Frage ins +Gesicht; er ist geistesgegenwärtig genug, eine Antwort zu finden, die +den Machthaber festhält, sodaß der sich schon halb im Weitergehen noch +einmal zu ihm wendet. Heinrich Pestalozzi merkt sofort, daß er mehr als +ein Name für ihn ist, er umklammert ihn gleichsam mit Worten und sieht +mit einer glücklichen Hoffnung, daß in dem kalt forschenden Blick etwas +von ihm selber zu leben beginnt. Kein Zweifel, daß er den Konsul der +Franzosen mehr als einer der Männer vor ihm interessiert; während die +andern im Kreis zurückgetreten sind, weiß er auf die Zwischenfragen +des blassen und verarbeiteten Gesichtes ebenso rasch zu antworten: +Jetzt oder nie, denkt er, ist meine Stunde da! Auch noch, wie er in +hastig abgerissenen Sätzen von der Volksbildung spricht -- daß sie das +Fundament jeder wirklichen Verfassung und ohne sie alles nur der Schein +einer Gesetzgebung sei -- hört der Konsul noch sichtbar nachdenklich +zu, als ob er versuche, den Gedanken bei sich einzustellen. Irgendwie +scheint ihm das nicht zu geraten; er klopft ein paarmal unwillig mit +der Fußspitze, und während Heinrich Pestalozzi noch von Worten der +Zukunft überströmt, ist er für den Mann der Gegenwart nur noch ein +unangenehmer Greis, der ihm mit seinen haspelnden Armen an die Brust +will: Ich kann mich nicht in euer Abc mischen, sagt er spöttisch und +verläßt unverzüglich den Saal, als ob er versehentlich in eine Schule +geraten wäre. + +Heinrich Pestalozzi bleibt in dem Kreis der schadenfrohen und +bestürzten Gesichter, die wieder an ihre Plätze gerufen werden, und +braucht lange, bis er seinen Stuhl findet; aber während die Verhandlung +weiterstolpern will, kommt ihm alles wie eine leer laufende Mühle vor. +Noch immer ist er mit dem blassen Mann allein in dem Saal: Wir beiden, +denkt er -- und tritt über Scham wie Hochmut hinweg in den Bereich des +Menschengeistes, wo die Persönlichkeit aufgibt, sich selber zu gehören +-- wir beiden sind verschieden an dem Gefährt der Menschheit beteiligt: +er will sein Lenker sein, und ich möchte haltbare Räder machen; er aber +kanns nicht abwarten, weil er nur seine Stunde hat, drum knallt mir +seine Peitsche um die Ohren. + +Herab mit dem Schild, wenn die Sache weg muß! sagt er zu seiner +eigenen Erstaunung laut in die Verhandlung hinein und geht durch die +Hinterpforte hinaus, wie der andere durch die Flügeltüren gegangen ist. + + + 84. + +Heinrich Pestalozzi merkt bald, daß der Pariser Wind der helvetischen +Republik ungünstig weht. Die Franzosen haben genug Menschenrechte +proklamiert, und Bonaparte hält wieder Hof in den Tuilerien; er +braucht Glanz und Aufwand um sich, und die Aristokraten von Bern +passen besser in seine Pläne als die hartnäckigen Unitarier. Bevor +die Verhandlungen beginnen, ist die Schweiz durch sein Dekret schon +wieder in neunzehn Kantone eingeteilt; was den Abgeordneten noch zu tun +bleibt, sind nur die einzelnen Kantone, und es ist vorgesorgt, daß die +Herren von Herkunft und Vermögen darin das Heft in Händen behalten. +Heinrich Pestalozzi versucht es noch einmal mit einer schriftlichen +Darlegung seiner Ansichten, aber er weiß nun schon, daß er Wasser in +den Bach trägt. Selbst sein Ehrenbürgertum scheint bei den Franzosen +des Konsulats schäbig geworden zu sein; er braucht nur zu sehen, wie +die geputzten Herren und Damen seine Erscheinung belächeln, um sich +aller Illusionen zu schämen: Sie müssen mich für ein großes Wundertier +gehalten haben, wie ihren Cagliostro, spottet sein Grimm, nun bin +ich bloß ein Mensch! Und wie es ihm mit seiner Kleidung und der Art, +ihre Sprache zu sprechen, geht, so bleibt auch seine Methode mit all +dem Umstand ihrer tiefen Begründung den Parisern eine belächelte +Geheimniskrämerei; es brauchte nicht das unaufhörliche Geknatter ihrer +Sprache in seinen Ohren zu sein, und die Nötigung, seine Herzensdinge +dahinein zu sperren, um ihm seine Wesensfremdheit unter den Welschen +bald unerträglich zu machen. + +So hält er es für zwecklos, das Ende der Händel abzuwarten; als Ende +Januar die Hauptverhandlung ist, fährt er durch ein mildes Frostwetter, +das die Wege trocken gemacht hat, im Sundgau schon auf Basel zu, und +fünf Tage später holt ihn Anna am Stadthaus in Burgdorf aus der +Post. Da hast du deinen Odysseus wieder! versucht er zu scherzen, um +seiner Tränen Herr zu werden. Sie schafft ihm seinen Ranzen nach, +den er vor Rührung vergessen hätte, und er meint das Lächeln um ihre +schmerzensreichen Lippen zu sehen, als er ihre Stimme auf seinen Scherz +eingehen hört: So bin ich mit fünfundsechzig Jahren gar deine Penelope? +In Wahrheit, Pestalozzi, es war mir schwer, die Freier zu füttern; nun +magst du wieder deinen Bogen spannen! + +Er findet aber alles aufs beste besorgt, und daß sie als Hausmutter in +der Anstalt waltete, hat einen Segen hinein gegeben, der bisher fehlte; +von den Kindern wie von den Gehilfen ehrfürchtig begrüßt, bringt sie +eine ruhige Gangart in das Tagwerk. Der Bienenschwarm hat seine Königin +erhalten! sagt Krüsi in seiner biederen Art, als Heinrich Pestalozzi +sich verwundert, um wie weniger lärmend es bei den Mahlzeiten zugeht, +nur weil sie still an ihrem Platz sitzt. Auch sonst hat sie der Anstalt +wohlgetan: Briefe und Bücher sind in eine schöne Ordnung gebracht, und +wenn er nun aus dem Trubel in seine Stube tritt, wohnt die Häuslichkeit +darin. Daß es so bleiben könnte, denkt er jeden Tag; denn seitdem sie +damals aus Hallwyl nicht wiederkam, ist seine Seite leer geblieben; +und ob es bitter oder fröhlich mit seinen Plänen ging, daß ihre +Abwesenheit ihm alles entkrönte, war immer die leise Trauer darin. +Auch diesmal ist sie nur gekommen, an seiner Stelle das Hauswesen zu +leiten, und mit heimlicher Sorge wacht er über ihre Schritte, ob sie +nicht wieder zur Abreise rüsten werde. Doch läßt sie Wochen gleichmütig +verstreichen, und er hofft schon, daß sie dauernd bliebe, als ihr mit +den ersten Frühlingsblumen das Heimweh in die Säfte steigt. Sie ist +im Winter schwer krank gewesen, nun kommt die Schwäche wieder über +sie mit Todesahnungen: Ich möchte unsern See noch einmal sehen, klagt +sie; aber als sie dann endlich nach Zürich zu ihren Brüdern reisen +will, hat sie wohl seine erschrockenen Augen gesehen; denn andern Tags +möchte sie wieder bleiben. Doch sieht er, daß die Unruhe in ihr nicht +mehr rastet; ihr Ehrenplatz im Saal bleibt immer häufiger leer, da sie +die Mahlzeiten allein nimmt: der Taubenschlag ist ihr zu laut, aber in +ihrer Stube plagt sie die Einsamkeit. + +So steht sein Barometer mit ihr schon wieder auf veränderlich, als +eines Tages ein Jüngling das Quecksilber rasch auf schön Wetter steigen +läßt. Heinrich Pestalozzi bringt ihn aus Bern mit, aber er hat ihn +nicht dort erst gefunden: Ich mußte nach Paris reisen, um meinen Jünger +Johannes zu finden, scherzt er oft, so froh ist er selber, daß ihm +der Thurgauer von Muralt dort in die Hände kam. Es fehlt ihm nicht +mehr an Gehilfen, seitdem die dänische Regierung zwei junge Lehrer aus +Kopenhagen sandte und die gebildete Welt Deutschlands von Burgdorf +als einem Wallfahrtsort der Erziehung spricht; auch sind junge Leute +von Geist darunter, aber alles Schwarmseelen und wie ihr Meister +mehr auf stürmische Absichten als auf Sorgfalt gestellt, allmählich +Burgdorf mit ihrer buntgewürfelten Absonderlichkeit erfüllend. Johannes +von Muralt bringt nicht nur den Klang eines in der ganzen Schweiz +bekannten Namens, sondern auch die Vorzüge einer guten Erziehung und +gründlichen Bildung mit; als er zum erstenmal mit zu Tisch sitzt, +sorgfältig gekleidet und frei von der hastigen Schüchternheit, die +mit Empfindlichkeit gepaart das Erbteil einer durchgekämpften Jugend +ist, schweigt Heinrich Pestalozzi und Anna spricht. Es sind freilich +diesmal nicht die gewohnten Schuldinge; Johannes von Muralt ist durch +drei Semester in Halle der Lieblingsschüler des Philosophen Friedrich +August Wolf gewesen und hat in Paris mit dem Dichter Schlegel und +seiner Gattin Dorothea freundschaftlich verkehrt: der Geist schöner +Bildung lebt in seinen Gesprächen auf, der für Anna Schultheß seit der +Erscheinung Klopstocks in ihrer Jugend die heimliche Liebe geblieben +ist. + +So schließt sie den Jüngling mit einem Eifer ins Herz, der Heinrich +Pestalozzi fast eifersüchtig macht, bis der Schalk in ihm den Vorteil +erkennt. So schmerzlich er den Zwiespalt zum Vorschein kommen sieht, +der seit Anfang zwischen seinen Absichten und ihren Neigungen bestand +und schließlich zur Trennung ihrer äußeren Lebenswege führte -- obwohl +sie durch alle Schicksalsschläge treu zu ihm stand -- das Leben hat ihn +nicht so verwöhnt, daß er sich die Äpfel wie andere frank und frei von +den Bäumen pflücken kann. Fast listig läßt er sie gewähren, da sie nun +den See und ihre Abreise zu vergessen scheint: Wir Alten wollen die +Kinder unseres Geistes haben, überlegt er, und da es uns beiden mit +einem Sohn mißraten mußte, weil die Natur aus diesem Zwiespalt nichts +machen konnte, müssen wir Ersatz für unsere ungesättigte Elternschaft +suchen. Ich will ihr gern diesen Sohn gönnen, wenn sie mir damit die +Mutter meines Hauses bleibt! + + + 85. + +Heinrich Pestalozzi lächelt fast hinterhaltig, als er Anna nicht +lange danach den Johannes Niederer anbringt, der sein Pfarramt in +Sennwald aufgegeben hat, um -- wie er sagt -- mit bei der Wiege der +Menschenbildung zu sein: Nun habe auch ich wieder einen Sohn, und es +ist seltsam, daß sie beide Johannes heißen, denkt er, als er neben +dem schwarzen Muralt den roten Schopf Niederers sieht. Der hat auf +seinem Dorf keine Zeit gehabt, sich an der Welt zu schleifen: mit +neunzehn Jahren voreilig in den Pfarrdienst gekommen, hat er seit fünf +Jahren in der Feldschlacht menschenfreundlicher Bemühungen gestanden +und um Gottes willen seine wohlhabende Gemeinde im Appenzell mit dem +armseligen Rheindorf Sennwald vertauscht; da haben andere Dinge als +Bildungsformen gegolten, so sitzt er wie ein Glaubensstreiter aus +dem Heerhaufen Zwinglis da. Heinrich Pestalozzi sieht, wie Anna fast +erschrickt vor ihm, der mit seinen vierundzwanzig Jahren noch ein +Jüngling wie Muralt, aber in Mannesgeschäften kantig geworden ist; +Jakob und Esau, vergleicht er, in diesem fließt das stillere Blut von +Anna, aber in jenem arbeitet mein Ungestüm! + +Als im selben Juli auch noch Tobler -- mit einer eigenen +Erziehungsanstalt am hochmütigen Widerstand der Basler gescheitert -- +zu ihm zurückkommt, ist Heinrich Pestalozzi mit diesen dreien, mit +Krüsi, Buß und dem Zustrom von Gehilfen aus aller Welt, die nur kurz +bei ihm lernen wollen, auch für die Burgdorfer kein Steckenpferdritter +mehr, der morgens aus dem Schloß zu ihnen herunter reitet: Der Weg geht +zu steil, sonst würde es von Wagen nicht leer werden im Schloßhof, die +täglich neue Fremde nach Burgdorf bringen, das aus einem bäuerlichen +Städtchen durch ihn ein Hauptort der Schweiz geworden scheint. Schon +was die Zöglinge -- längst über hundert -- an Besuch von Eltern und +Verwandten nachziehen, würde für die Gasthäuser und Fuhrleute etwas +bedeuten, dazu die Pädagogen und Pfarrer aus aller Welt: das Schloß +ist wirklich ein Taubenschlag geworden, und die Bürger bestaunen die +fremden Vögel, die seiner Berühmtheit zufliegen. + +Längst schon denkt Anna nicht mehr daran, daß sie nur für die Zeit +seiner Pariser Reise nach Burgdorf gekommen ist; sie sieht endlich die +Erntewagen in die Scheune fahren, die weder seine Landwirtschaft noch +alle Bemühung seines hingehetzten Lebens jemals zu ernten vermochte. +Daß kein Gold daraus in seine Taschen fließt, weiß sie wohl; trotzdem +die meisten Zöglinge zahlen -- wenn auch nicht alle den vollen Preis +-- sind es doch viele Mäuler, die täglich auf Nahrung warten, und wenn +die Haushaltungskünste der geborenen Fröhlich, ihrer schaffnerischen +Schwiegertochter, nicht wären, würden die Sorgen sich manchmal dichter +auf ihrem Schreibtisch sammeln; aber daß der angeblich unbrauchbare und +vor der Zeit entmündigte Mann nun vor sich selber und vor dem Spott der +Tüchtigen im Glanz eines Ruhmes dasteht, der alles für sie Erreichbare +in den Schatten enger Bürgerlichkeit stellt: das ist für sie wie eine +Abendsonne, die in der letzten Stunde doch noch über einen trübseligen +Regentag gesiegt hat. + +So wird es ein bewegter Geburtstag für sie, als ihr die fünfundsechzig +Jahre vollgezählt werden, und es ist unwirklich schön, daß er auf +einen Sonntag fällt. Muralt und Niederer haben ihn als ein Sommerfest +vorbereitet, das bei kühlsonnigem Augustwetter im Schloßhof gefeiert +wird. Da sind Bänke und Tische aufgestellt, auch ist ein Boden +aufgeschlagen, einen Tanz oder ein Spiel zu machen, und solange die +Sonne in den Hof geschienen hat, mag sie nicht ein so buntes Getümmel +darin gesehen haben wie an diesem Tag. Das Gemäuer rundum ist mit +Laubgewinden und Schweizerfahnen aller Kantone geschmückt, und eine +Musikkapelle -- von den Zöglingen unter Bußens Leitung gestellt -- +sorgt, daß die Schweizerlieder auch Begleitung haben. + +Als dann die Röte sich aus dem Licht der Sonne ablöst und umso wärmer +zu leuchten scheint, jemehr die Wärme versiegt, treten ihrer viele an +die Mauer, nach den Bergen zu schauen, die langsam von der Glut voll zu +laufen scheinen. Auch Heinrich Pestalozzi ist mit Muralt vorgegangen, +und Mutter Pestalozzi, wie sie an diesem Tag mehr als hundertmal +begrüßt worden ist, wird von Niederer in einem galanten Anfall am Arm +herzu geleitet. Wie sie dastehen, mag über Tobler, der seit seinem +Mißerfolg in Basel leicht wehmütig wird, der Schatten einer Eifersucht +fallen, daß er nun sichtlich an die dritte Stelle geraten ist; als +ob er den Meister in die gemeinsame Frühzeit zurück führen müsse, +erinnert er ihn an den Abend, wo sie zu vieren hier standen und er +sein Beispiel vom Haus des Unrechts sagte. Daß die andern davon nichts +wissen, tut ihm sichtlich wohl, und als sie darum drängen, versucht +er es mit eigenen Worten zu sagen, wie der Anteil an den Lebensgütern +in drei Stockwerke geteilt wäre, darin die Wenigen, wenn sie wollten, +Gottes Herrlichkeit aus allen Fenstern sähen, die Mehreren nur den +Glanz an den Hofwänden, während die Vielen im Keller nicht einmal den +trüben Schein in ihren Löchern zu deuten vermöchten. + +Heinrich Pestalozzi, der die Schwermut im Grund seiner Heiterkeit schon +den ganzen Tag gefühlt hat, spürt den Schrecken bei der ersten Frage +ans Herz klopfen; während der ahnungslose Erzähler vor den andern seine +Erinnerung ausbreitet, quillt das schwarze Wasser der Trübnis in ihm +auf, so überkommt ihn der Zwiespalt zwischen dem lauten Freudentag und +der verschütteten Heimlichkeit seiner Absichten. Er wagt nicht, Annas +Blick zu suchen, so wehmenschlich ist ihm zumut, legt Muralts Hand +von seinem Arm weg auf den Mauerrand, und ehe die andern wissen, was +ihn ankommt, läuft er durch ihre Reihen hinaus und über den unteren +Hof vors Tor. Da breitet sich die abendliche Landschaft in ihrer +Sommerfülle aus, und die Dächer der Bürgerhäuser stehen behäbig darin, +sodaß ihm der Schritt auch hier gehemmt wird: Warum hab ich es nicht +im Birrfeld vermocht? Ein Armenkinderhaus habe ich gewollt und die +Pensionsanstalt sollte mir nur die Mittel dazu geben: nun sind die +Mittel längst selber Zweck. Ich sitze als Glücksvogel hier auf dem +Schloß und spreize das Rad meiner Federn; im Birrfeld, oder wo sonst +die Not der Zeit ist, geht alles wie vor dreißig Jahren, nur diesem +Bürgerort hab ich neues Fett gemästet! + +Er weiß nicht, daß er weint, aber als sich das Gesicht Annas zu ihm +beugt, die ihm allein nachgegangen ist, vermag er ihre Augen vor Tränen +nicht zu erkennen; auch quillt der Zorn noch so in ihm, daß er fast +nach ihr schlägt. Du hast gesiegt! schreit er und schlägt den Kopf in +beide Fäuste: der Armennarr ist tot! Ich hab verloren. Sie streichelt +und tröstet ihn nicht, wie er fürchtet, sie setzt sich still gegenüber, +wo ihr der andere Torstein einen Platz anbietet, und wartet ab, bis aus +der Mure seiner Verzweiflung die gröbsten Blöcke ins Tal gefahren sind +und endlich der zähe Schlamm seiner Verbitterung zum Stehen kommt. Sie +hat ihn klug verstanden, daß es zwei Welten wären: ihre Stille, den +Wohlstand herzugeben, und seine Unrast, ihn zu vertun; auch hat sie das +böse Wort nicht überhört, warum Kampf sein müsse zwischen ihm und ihr, +zwischen Mann und Frau durchs Leben? Aber als es dann still wird, weil +nichts mehr fließt, und nur ein Wind vom Tal sie beide mild bestreicht, +die in der sinkenden Dunkelheit am Tor dasitzen, als ob sie all das +junge Leben dahinter bewachen müßten gegen die unheimlichen Gestalten +der Nacht, fängt ihre Stimme an zu sprechen, daß nach dem Getöse seines +Bergsturzes nun wieder ein Bach hörbar wird: Pestalozzi, sagt sie und +wägt die Worte: ich dachte, daß wir vor Gott gleich wären, arm und +reich! Warum willst du das Unrecht nach unten in der Menschenordnung +mit Unrecht nach oben vergelten? Oder sollten Kinderseelen schon darum +unwert sein, weil die Eltern Geld im Beutel haben? Was nötig ist, sind +nicht die Waisenhäuser im Birrfeld oder hier, sondern daß du dein +Vorbild und deine Lehre hinterläßt. Am Ende kommt es darauf an, was +wir gewesen sind, hat dir der Menalk gesagt, als wir jung waren und +er schon sterben mußte. Nun, wo wir vierzig Jahre älter geworden sind +und alt an dem Tor dasitzen, will ich das Wort noch einmal sagen; doch +hat es sich verändert: Am Ende, Pestalozzi, fragt Gott nicht, was wir +gewesen sind, er rechnet, was aus uns werden möchte! + + + 86. + +Heinrich Pestalozzi hat seine Unternehmung im Namen der helvetischen +Republik begonnen; seit der Tagsatzung in Paris gibt es aber nur +noch einen Schweizer Bund mit neunzehn selbstherrlichen Kantonen: +sein Landesherr ist nun die bernische Regierung, ihr gehört das +Schloß Burgdorf, und er muß zuwarten, ob sie ihn darin wohnen läßt. +Im vierspännigen Wagen, wie ein Landesfürst, kommt eines Tages der +Regierungspräsident von Wattenwyl an, seine Anstalt zu besichtigen; +obwohl es schwierig und steil geht, muß ihn der Kutscher bis in den +Schloßhof fahren, und als ihn Heinrich Pestalozzi dann begrüßen +darf, ist es kaum anders, als wenn ein Schloßherr sich von seinem +Kastellan Aufwartung machen läßt. Er schnurrt durch alles hindurch +mit einem deutlichen Mißbehagen an dem landfremden Zürcher, der sich +hier eingenistet hat und der Regierung mit seiner Berühmtheit und +dem intoleranten Heer der deutschen Geister lästig wird, dem sogar +französische Gelehrte, Generale und Minister beistehen, sodaß selbst +eine allmächtige Kantonsgewalt zuwarten muß. In einigen Stunden hat +er nach der Art solcher Regierungsherren das Ergebnis einer Arbeit +besichtigt, die Heinrich Pestalozzi ein Lebensalter mühsamer Kämpfe +gekostet hat, und ist im Dampf seiner eigenen Bedeutung wieder +abgefahren. + +Seine Haltung in den Verfassungshändeln hat ihn den Aristokraten, die +nun wieder auf ihren alten Plätzen sitzen, mißliebig gemacht, und den +Kirchlichen ist er immer mit seiner Religion ein Aufwiegler geblieben: +nun, wo er sichtbar zu Paris in Ungnade und nicht mehr durch ein +helvetisches Direktorium geschützt ist, fängt die Hetze an, und noch +in dem Sommer muß sich Heinrich Pestalozzi durch eine Eingabe an den +Kirchenrat wehren, als fehle es in seiner Anstalt -- wie die Anklage +lautet -- an einem richtigen Religionsunterricht. Er überläßt die +Verteidigung Niederer, dem Religionslehrer und ehemaligen Pfarrer, +und zum erstenmal erhebt dieser Herold seine dröhnende Stimme für den +Meister. + +Unterdessen ist aus dem Lehrerseminar wie aus der Waisenanstalt nichts +geworden, und die Zuwendungen der Regierung sind ihm gestrichen; das +einzige, was er von ihr noch hat, ist das Gebäude, und auch darin wird +es unsicher: Mit der neuen Ordnung ist ein Oberamtmann nach Burgdorf +gekommen, der zu seinem Ärger in einem Privathaus wohnen muß, während +oben im Schloß sich das fahrende Volk der Abc-Schützen breit macht. Er +fängt an, bei der Regierung in Bern um eine Änderung dieses krankenden +Zustandes zu mahnen, und weist alle anderen Vorschläge als unpassend +zurück; als es gegen Weihnachten geht, kann Heinrich Pestalozzi nicht +mehr zweifeln, daß ihm zum Frühjahr die Räumlichkeiten gekündigt +werden: »Es war das Haus der Herren und soll wieder das Haus der Herren +werden,« schreibt er an einen Freund, »ich hoffe, mein Ei sei bald +ausgebrütet, und dann achtet es auch der schlechteste Vogel nicht mehr, +wenn ihm die Buben sein Nest vom Baum herabwerfen.« + +Doch kann die bernische Regierung angesichts der Schwärmerei, mit +welcher die gelehrte Armee Deutschlands die Vorteile dieser Anstalt +ausposaunt -- wie der Herr von Wattenwyl in einem Gutachten schreibt -- +die Gefahr nicht herausfordern, mit diesem intoleranten Heer öffentlich +in eine Fehde zu geraten: so bietet man ihm das leere Kloster +Münchenbuchsee an, und im Januar fährt Heinrich Pestalozzi mit einer +Abordnung hin, es zu besichtigen. Er findet ein niedriges Gebäude, +das eine Zeitlang als Spital krätzischer und venerischer Soldaten +gedient hat, seitdem verwahrlost in einer melancholischen Ebene dasteht +und weder die grünen Hügel Burgdorfs noch sonst etwas von seinem +malerischen Reichtum um sich sieht. Am liebsten möchte er, all dieser +Dinge müde, seinen Stecken nehmen und in den Aargau zurückwandern; +aber es ist unmöglich, jetzt aus dem Kreis der Zöglinge und Gehilfen +fortzugehen; in den Möbeln, Betten und Lehrgegenständen stecken ihm +schon wieder zwanzigtausend Schweizerfranken, die er nicht lassen +kann, auch brennt der Abend an dem Tor immer noch in seiner Seele. +Um Anna zu halten, nimmt er das Obdach an, das ihm schäbiger Weise +zunächst bloß für ein Jahr instandgesetzt werden soll. Nur nicht wieder +als ein Unbrauchbarer vor ihr dastehen, denkt er, als er die vorläufige +Abmachung unterzeichnet, und ahnt nicht, daß diese Kränkung schon auf +ihn wartet. + +So zieht dieses Frühjahr hin -- es ist das fünfte seiner Burgdorfer +Zeit -- wie wenn das Jahr mit ihm erschrocken seinen Lauf einstellen +wolle; denn ob das Emmental den Blumenteppich seiner Wiesengründe +ausbreitet, und ob die Wälder täglich grüner werden: im Schloß fängt +heimlich das Aufräumen an, die Möbel warten, daß sie von kräftigen +Händen hinausgetragen werden -- sie sind sich selber ihre Särge, sagt +Heinrich Pestalozzi -- und wie auch ein Änderungsgedanke auftaucht, +gleich tritt ihm das Bedenken in den Weg, daß mit den Ferien der Auszug +beginnen soll. Als der Tag da ist, werden die meisten Zöglinge in +Trupps mit je einem Lehrer auf die Reise geschickt, meist ins sonnige +Waadtland hinüber, und nur Freiwillige bleiben, den Umzug mitzumachen. +Auch Anna geht nun auf ihre Reise an den Zürcher See: Ich bin das +erste Möbel, das ihr fortschafft, scherzt sie, als er mit ihr in der +Morgenfrühe zur Post hinuntergeht; denn sie selber hat tapfer dableiben +und helfen wollen. Er hört ihre Worte garnicht, weil seine Gedanken in +Sorgen sind, daß sie nicht wiederkommen möchte: Ich war ein halbes Jahr +lang im Traum, sagt er, und stellt ihre Reisetasche hin, dem Gottlieb +einen Klatschmohn abzunehmen, den der für die Großmutter anbringt: +Jetzt habt ihr mich wach gemacht, und du gehst fort! Er will ihr die +Blume geben, aber der fallen die roten Blätter ab, daß nur die grüne +Fruchtkapsel mit dem Deckel bleibt. Das kann die Großmutter nicht mehr +brauchen! klagt er zu dem Kleinen und will das Ding wegwerfen; sie aber +nimmt ihm die Kapsel rasch aus der Hand und lächelt ihn fast listig an +mit einem Schulmädchengesicht: Bis ich nach Münchenbuchsee komme, ist +der Same reif, dann streuen der Gottlieb und ich ihn aus, damit wir +doch ein Andenken vom Schloßberg haben! + + + 87. + +Am selben Tag, da Heinrich Pestalozzi von diesem Abschied fröhlich +wird und den ernsthaften Niederer durch die Mitteilung in Verwirrung +bringt, daß er in Münchenbuchsee wieder Landwirtschaft treiben und +lauter Felder mit Klatschmohn anbauen wolle, erscheinen mittags zwei +ländliche Männer im Schloß, die garnicht aussehen, wie die sonstigen +Wallfahrer. Sie kommen aus Peterlingen im Waadtland und bringen einen +Antrag der Stadt, mit seiner Anstalt dorthin zu kommen; sie wollen +ihm ihr Schloß mit allen Gärten lebenslänglich zur Verfügung halten, +ihm das Ehrenbürgerrecht mit einer Pension geben und jährlich ein +bestimmtes Maß von Korn, Weizen, Wein und Holz. So bin ich immer noch +im Traum, sagt er, und reicht den Männern gern die Hand; auch müssen +sie zum Mittag bleiben, und es wird fast ein Fest, das er mit Niederer +und Krüsi -- den einzigen Gehilfen, die noch bei ihm sind, weil der +Auszug schon begonnen hat -- und den Bürgern von Peterlingen feiert. +Wir werden einen Orden der neuen Menschlichkeit gründen und all die +verlassenen Schlösser der Gewaltherren in der Schweiz mit neuem Leben +bevölkern, schwärmt Niederer, der gern bei einem Glas ins Weite +schweift. Aber Heinrich Pestalozzi, der die enttäuschten Gesichter +der Männer sieht, lenkt schalkhaft ein: Zuerst müssen wir einmal nach +Münchenbuchsee auswandern und sehen, ob es von da einen Fahrweg für +unsere Möbelwagen nach Peterlingen gibt! + +Der Abschied hat danach seinen Stachel verloren; als andern Tages noch +ein Herr von Türck aus Mecklenburg anreist, ein Päckchen neuer Liebe zu +bringen, machen sie mit dem und den Burgdorfer Freunden, die wehmütig +dabei sind, einen schwärmerischen Gang nach Kirchberg hinüber, bevor +sie die letzte Nacht in Burgdorf schlafen -- nun schon nicht mehr im +leergeräumten Schloß, sondern beim Stadthauswirt -- und andern Morgens +mit der ersten Sonne nach Münchenbuchsee wandern, wo die Zöglinge mit +Tobler sehnsüchtig ihren Vater erwarten. + +Es sind drei Stunden Wegs, und sie müssen an Hofwyl vorbei, +wo Fellenberg, der Sohn des Ratsherrn, seit fünf Jahren eine +landwirtschaftliche Musterwirtschaft als Grundlage seiner +Erziehungsanstalt für alle Stände eingerichtet hat. Wir suchen die +Goldkörner der Methode im Land, und er prägt die Goldstücke daraus, +sagt Niederer sarkastisch, als sie in einiger Entfernung an der +sauberen Erscheinung seiner Gebäude vorüberwandern und überall in +den Feldern und Gärten die Zeichen der wohlhabenden Ordnung sehen. +Aber Heinrich Pestalozzi verweist ihm den Spott; er weiß zwar, daß +Fellenberg gleich mit einer Viertelmillion Franken das Gelände ankaufen +und aus dem Vollen wirtschaften konnte -- wo er sich notdürftig +durchhalf und gerade noch in diesem Augenblick erstaunt ist, daß er +mit Ehren aus den Burgdorfer Schulden kam -- aber er weiß auch, daß +der Sohn seines alten Freundes, des Ratsherrn in Verehrung zu ihm groß +geworden ist, und daß diese Anstalten nur eine Frucht aus Lienhard und +Gertrud sind: »Er deckt wenigstens das Elend nicht mit dem Mist der +Gnade zu, wie es die andern machen!« + +Als sie dann aber gegen Münchenbuchsee kommen und die wenigen Zöglinge, +die nicht in Ferien sind, unter Toblers Leitung mit einem Schweizerlied +anmarschieren, hält seitwärts ein Reiter, als ob die kleine Truppe +ein Vorposten seines Regiments wäre; es ist Fellenberg, der nach +der jubelnden Begrüßung respektvoll herzu reitet: auch er habe den +Nachbarn nicht unbegrüßt einziehen lassen wollen! Er bleibt nicht auf +seinem stolzen Gaul sitzen, als er das sagt; aber gerade, wie er vom +Pferd springt und seine hohe Gestalt beugt, ihn zu umarmen, wird der +Unterschied zwischen dem gepflegten Aristokraten und dem ärmlichen +Greis so deutlich, daß Niederer für seinen Meister gekränkt beiseite +geht. Auch Heinrich Pestalozzi ist durch die Umstände dieser Begrüßung +verstimmt: Wir sind zu nahe an den Schloßherrn von Hofwyl geraten, +sagt er nachher zu Tobler, nun reitet er schon auf seinem Vorwerk herum! + +Er bemerkt nicht, daß Tobler betreten schweigt, so sehr bewegt ihn +die Sorgfalt, mit der die geborene Fröhlich schon Ordnung in die +neue Wirtschaft gebracht hat: Du bist die Schwalbenmutter, scherzt +er zu ihr, wir sperren die hungrigen Schnäbel auf, und du hast immer +etwas hineinzutun. Tobler schweigt zum zweitenmal; er weiß, daß ihre +Haushaltungskünste allein es nicht vermocht hätten, der Anstalt einen +so guten Abgang aus Burgdorf zu sichern, und daß die Sorge vor den +Gläubigern manche Woche auf Pestalozzi gelegen hat, bevor sich alles +unerwartet löste; er weiß auch, wie diese Lösung zustande kam, und er +ist mit Muralt, seinem Mitverschworenen, fest entschlossen, den Meister +endlich aus allen wirtschaftlichen Sorgen zu befreien. Noch muß er die +Rückkehr des andern abwarten, aber als die kurzen Ferien vorüber sind +und von allen Seiten die Vögel wieder zufliegen, der melancholischen +Gegend zum Trotz in Münchenbuchsee ihr Geschwärm wieder zu beginnen, +gehen die beiden entschlossen ans Werk: Wenn die Anstalt in Burgdorf +zuletzt nur noch mit Mühe zu halten war, steht sie hier, wo sie sich +ohne Zuschüsse der Regierung ganz aus sich selber erhalten muß, nur an +der Schwelle neuer Schwierigkeiten. Sie haben die Ordnung in Hofwyl +gesehen, und da sie die Verehrung Fellenbergs für den Verfasser von +Lienhard und Gertrud kennen, ist es ihr Plan, die wirtschaftliche +Leitung der Anstalt in die festen Hände dieses Mannes zu legen, um +Heinrich Pestalozzi für seine wertvolleren Dinge unabhängig zu machen. +Nichts als treue Liebe führt sie auf diesen Weg, an dem die Sorge, ihn +nicht zu verletzen, die Meilensteine setzt. + +Mit vorsichtigen Andeutungen und Besuchen in Hofwyl, mit Besorgnissen +über die ungewisse Zukunft, mit Mahnungen an sein Alter und was er +der Methode noch schuldig sei, bringen sie ihn endlich zu einer +Zusammenkunft mit Fellenberg. Sie findet, damit der Boden neutral sei, +unter einer Linde statt, die ziemlich in der Mitte zwischen Hofwyl +und Buchsee mit einer alten Steinbank steht. Fellenberg kommt diesmal +nicht geritten, doch trägt er die Reitgerte in der Hand, und zwei Hunde +kläffen ihm vorauf. Heinrich Pestalozzi hat um so weniger eigensinnig +scheinen wollen, als Muralt und Tobler die Vertrauten Annas unter den +Gehilfen sind; er sieht dem Mann mit der Reitgerte und den Hunden nicht +einmal mißmutig entgegen, da er sich seiner Sache sicherer fühlt, +als seine Harmlosigkeit merken läßt. Aber wie sie dann anfangen zu +sprechen, sind es drei gegen ihn, und jedes Wort wird so sorgsam auf +die Goldwage seiner Empfindlichkeit gelegt, daß er unmöglich hart und +abweisend gegen soviel treue Vorsorglichkeit werden kann: Es ist ein +Dachsfang, wo ich alter Kerl in die Sonne gelockt werden soll, denkt +er und läßt sie sprechen, bis dem blassen Tobler die Schweißperlen +auf der Stirn stehen und Muralt verzweifelt die Hände reibt. Nur der +selbstsichere Fellenberg verliert die Zuversicht nicht und entfaltet +ein Papier aus der Brusttasche: ob er ihm einmal den Entwurf einer +Übereinkunft vorlesen dürfe? Heinrich Pestalozzi hat nie recht zuhören +können, wenn einer etwas aus einer Schrift vorlas; er läßt die Worte +fließen und fühlt fast, wie sie an seinem Rock heruntertropfen. Zum +Schluß nimmt er die Handschrift, in keiner andern Absicht, als den +dreien die Enttäuschung nicht zu fühlbar zu machen. Wie dann aber seine +Augen, fast so taub wie vorher seine Ohren, über die Buchstaben laufen, +tut es ihm unvermutet einen Stich zwischen die Rippen: Haben wir nicht +heute den fünfzehnten Juli? fragt er und bringt den Zeigefinger nicht +von dem Datum fort, das am Schluß steht. Beschlossen auf den ersten +Juli 1804. Sie wollen ihm erklären, daß dies nur um des Semesters +willen so zurückgeschrieben sei; aber seine Gedanken sind schon Milch +auf dem Feuer: er reißt den Schriftsatz in zwei Fahnen und wirft sie +den Hunden hin, die ihn sofort anbellen und ihm, als er die bestürzten +Mienen und beruhigenden Worte abwehrend davon läuft, in die Hacken +fahren, sodaß ihr Herr sie mit der Pfeife zurückholen muß. + +Sie haben mich verhandelt wie eine Kuh! schreit ihm sein Grimm in +die Ohren, während er seitwärts in das Wäldchen läuft, sich da einen +Schlupfwinkel zu suchen; aber erst, als er sich gegen das Gewässer +verlaufen hat, das seine Binsenfelder vor ihm auftut und -- wo seine +Fläche durchblinkt -- den langen Tierrücken des Jura spiegelt, merkt +er, daß ihm der Stich ein Gift beibrachte: warum Muralt und Tobler +und nicht die andern? Weil Anna dahinter steht? Er sieht sie wieder +abfahren mit der Mohnkapsel, davon ihm die roten Blätter abgefallen +sind, er hört ihr Wort und sieht ihr Lächeln: Ich dachte, klagt er +laut in den Sommertag, ich wäre endlich etwas vor ihr gewesen! Nun war +ich doch im Traum und bin erwacht in meine Unbrauchbarkeit! + +Weit in der Ferne tut es einen Schuß von einem verlorenen Donnerschlag, +und über den Jura bläht sich ein Wölkchen grellweiß in den blauen +Himmel. Daß es ein Gewitter würde und mich kalt machte, damit es +endlich einmal ein Ende hätte mit diesem Strom von Irrtum und Unrecht, +darin mein Leben geflossen ist! Es bleibt aber schön, und er geht +stundenlang auf dem weichen Moosboden hin, bis die Frösche aus dem +Röhricht quaken. Sie werdens auch schon wissen! zürnt er noch einmal, +dann überläßt er sich willig der dämmrigen Traurigkeit, bis die leise +Nacht kommt und ihn doch noch den Heimweg finden läßt: Bist du es, will +er flüstern, als ihm ihre Gestalt zur Seite schreitet; sie nickt nur +und sieht ihn kaum an; da merkt er, daß es die Jungfrau Anna Schultheß +ist, die mit einem Strauß Frühlingsblumen an das Grab Menalks will. +Sie haben mir das Tor zugemacht, weil ich zu spät gekommen bin! klagt +er und staunt, wie weit sich der Weg über den Kirchhof zieht. Auch +weiß er nicht, warum ein Licht auf dem Grab brennt. Bis Niederer ihm +aus dem Schein entgegentritt und der Spuk verschwindet, weil er den +Klostergiebel in Münchenbuchsee erkennt. + + + 88. + +Nach diesem Abend fühlt Heinrich Pestalozzi sein Dasein in +Münchenbuchsee nur noch wie einen Krug, der an einem Sprung leer +läuft; er widerstrebt den Freunden nicht mehr und unterzeichnet den +Dienstvertrag, wie Niederer das Schriftstück nennt. Wenn Fellenberg +angeritten kommt und mit Sporen durch den Hof klirrt, schließt er +sich in sein Zimmer ein, das er auch sonst wenig verläßt. Er hat +Wandergedanken, aber er findet kein Ziel, bis eine Mahnung aus Ifferten +kommt. Dort hat ihm der Stadtrat schon vor den Männern von Peterlingen +das Schloß des Herzogs von Zähringen angeboten; er ist auch einmal im +Frühjahr dort gewesen und hat das viertürmige Gebäude angesehen, aber +er fürchtet sich vor dem welschen Land. Nun, wo die Stadt ihm schreibt, +daß sie das Schloß von der Regierung angekauft habe und seine Wünsche +vernehmen möchte, wie es einzurichten sei, kommt die Aufforderung +seiner Sehnsucht recht, ganz aus dem Bereich seiner Enttäuschung +fortzugehen. Abschied vermag er keinen zu nehmen; die Seinen denken, +es gelte nur eine Fahrt, als sein Wagen in der Frühe gegen Aarberg +davonrollt. Er wäre lieber gewandert, aber die Kräfte haben ihn +verlassen, als ob nun das Alter mit einem Male käme. + +Die Stadtherren in dem verschlafenen Ifferten haben schon vernommen, +daß der berühmte Volksfreund nur ein unscheinbarer Greis ist; sie +finden seine Wünsche bescheiden und laden ihn zu einem Mahl ein, die +Bekanntschaft festlich zu besiegeln. So kommt Heinrich Pestalozzi am +dritten Abend, den er aus Münchenbuchsee fort ist, an eine Tafel mit +ehrenfesten Bürgern, die beglückt sind, einen solchen Fang zu tun. Der +schöne Wein mundet ihm, der sonst nur selten mehr als ein Kirschwasser +nimmt, und die lebhaften Gespräche dieser weinfröhlichen Waadtländer +helfen, ihm die Zunge zu lösen; gerade, daß sie französisch sprechen, +läßt ihn auf ihre Worte hören, und daß er selber welschen muß, macht +ihn unversehens lustig, sodaß die Stadthäupter zu ihrem Erstaunen den +Greis mit dem Sorgengesicht lebhaften Geistes und schlagfertig finden. +Ihn selber freilich stimmt der Abend, als er andern Tages erwacht, +noch trauriger als zuvor; seit ihm die Verwirrung seiner Sinne an dem +abendlichen Gewässer die Erscheinung Annas vorgetäuscht hat, fürchtet +er, kindisch zu werden, und so nimmt er auch seine Fröhlichkeit +nachträglich als einen Beweis dafür. Er bleibt aber fürs erste in +Ifferten, weil ihm die Landschaft um das kleine Städtchen gefällt; +namentlich in die Wiesen gegen den See geht er gern, wo in den hohen +Bäumen auch bei der Hitze noch der Jurawind rieselt: Sie stehen wie +müßige Greise da, und ich bin der müßigste unter ihnen! + +Unterdessen erreichen ihn Briefe Niederers, der als ein angeschossener +Wolf in Münchenbuchsee geblieben ist; sie schildern ihm den Zustand der +Anstalt nach seinem Weggang so wenig günstig, daß er in einigen Wochen +noch einmal zurückgeht, seinen Abschied nachzuholen. Er bringt keine +Ermutigung daraus mit; Fellenberg ist gereizt, daß er sich beiseite tun +will, und droht, von der Übereinkunft zurückzutreten; als sie sich noch +einmal an dem Wäldchen treffen -- diesmal ist Niederer dabei -- sieht +sich Heinrich Pestalozzi von einer Flut böser Vorwürfe überschüttet, +die er nur mit großen Augen anhören kann. Es kommt danach zwar noch +eine Versöhnung zustande, die ihn seiner persönlichen Verpflichtungen +entläßt, aber die Trennung ist nun sicher. Mit Buß und Krüsi und +mit neun Zöglingen geht er zum andernmal nach Ifferten; er selber +aber vermag es nun auch dort nicht mehr auszuhalten. Auf einer Fahrt +nach Lausanne, um bei der waadtländischen Regierung den Gesetzen der +Niederlassung zu genügen, verläßt ihn in Cossonay der Mut zur Rückkehr. +Er hat dort nur übernachten wollen, aber am andern Morgen läßt er die +Post fahren und bleibt in dem kleinen Ort, der zwischen Weinbergen +auf einem Hügel liegt und ihn mit seinem Ausblick über die Talweite +wehmütig an seinen verlorenen Schloßberg in Burgdorf erinnert. Da hockt +er einsam und in den Gedanken seiner Schwermut verhangen, bis der +biedere Krüsi ihn findet und wie ein Sohn um ihn sorgt. Nach Ifferten +aber, wo Buß unterdessen die neue Anstalt einrichtet, folgt er ihm +vorläufig nicht. + +Das Weinland der Waadt, in dem er lebt, ist die Heimat von Laharpe, +dem ehemaligen Direktor der helvetischen Republik, der seiner Sache +mit hoher Achtung zugetan ist. Als Erzieher des Kaisers Alexander +von Rußland vermag er noch viel in Petersburg, und so kommt eines +Tages in das kleine Cossonay eine kaiserlich russische Berufung an +Heinrich Pestalozzi, das livländische Schulwesen von Dorpat aus nach +seinen Vorschlägen einzurichten. So verdonnert ihn Krüsi ansieht, +und so abenteuerlich der Plan ist, in seinem Alter noch nach Rußland +auszuwandern, seine Stimmung hängt sich mit Leidenschaft daran. Er +hat schon seine Bedingungen mitgeteilt und macht allen Abratungen zum +Trotz Vorbereitungen für die Auswanderung, von der er nicht mehr zurück +zu kommen hofft, als ihm ein zufälliges Erlebnis ein Loch in seine +Schwermut reißt: + +Als er eines Tages nach Ifferten gefahren ist und am Abend mit Krüsi +neben dem Wagen her gegen Cossonay hinauf geht, begegnen ihnen in +der frühwinterlichen Dunkelheit einige leere Weinfuhren, die sie im +Geräusch des eigenen Wagens nicht hören, bis Heinrich Pestalozzi dicht +vor sich zwei Pferde spürt. Er glaubt, es seien Tiere von der Weide, +und will zwischen ihnen durch; da wird er von der Deichsel getroffen, +die ihn unter die Hufe der Pferde wirft: So jäh es ihn gefaßt hat, +so schnell arbeitet sein Instinkt, daß er noch vor den Rädern gleich +einer Katze unter den Pferden her auf allen Vieren seitwärts in den +Graben springt und die beiden Wagen an sich vorüber rasseln läßt. Als +Krüsi ihn findet, der seitlich gegangen war, ist er schon dabei, sich +aufzurichten; die Kleider sind ihm bis auf den bloßen Leib zerrissen, +aber ihm selber ist nichts geschehen, sodaß er -- durch Gefahr und +Rettung in einem Augenblick des Wunders hindurch gegangen -- gegen den +Berg schreitend wie vorher das Gasthaus erreichen kann. + +Er hat in diesem Herbst, wo er sich kindisch glaubte, oftmals zu +sterben gewünscht, bevor er ganz dem Siechtum des Alters verfiele; +nun ist er durch den Tod in einer Jünglingskraft hindurch gesprungen, +die er sich längst verloren glaubte. Was er schon als Knabe erfuhr, +als er bei Wollishofen aus dem Weidling in den See fiel, daß die +heimliche Lust des Lebens durch nichts so sehr als durch das Grauen +des Todes angeregt würde, das bewirkt nun eine Wiedergeburt in ihm, +die ihn fast übermütig macht: Er glaubte schon sterben zu müssen wie +Moses, ehe er einen Fußbreit von seinem Kanaan sah; nun fühlt er sich +im ungeminderten Besitz von Kräften, die alle Nervenschwäche und die +Müdigkeit seines vermeintlichen Siechtums als trübe Einbildungen von +sich abfallen lassen. Die Kränkung durch Muralt und Tobler, der Streit +mit Fellenberg und die Böswilligkeit der bernischen Regierung, die -- +wie er längst weiß -- seine Anstalt in Münchenbuchsee als eine staats- +und kirchengefährliche Unternehmung überwachen läßt: alles, was ihm den +ängstlichen Geist in diesen Monaten ans Kreuz geschlagen hat, scheint +ihm vor dem Gefühl, zu leben und seiner Kräfte noch mächtig zu sein, so +nebensächlich, daß er seine Schwermut wie eine Torheit belächelt: Wo +ich Kränkungen ohne Maßen sah, sehe ich nun die treue Liebe, sagt er +glücklich, und niemals ist ihm das Bild seiner Lebensgefährtin klarer +dagestanden als in diesen Tagen. + +Als bald danach der König von Dänemark ihm hundert Louisdor übersenden +läßt als Anerkennung für die gastliche Aufnahme der dänischen Lehrer, +ist er übermütig vor Glück: Schau, zweitausend Schweizerfranken, sagt +er zu Krüsi, mit nichts als einer Idee und etwas Güte verdient! So +bleibt es Monate lang, während er noch einmal an die Lehrbücher seiner +Methode geht; und so voll fühlt er den Segen strömen, daß ihm das +Wort Lavaters nun sein liebster Spruch wird: Ich war mürrisch, als +ich die Ruhe des Alters für Müdigkeit hielt; sie ist die Sammlung auf +der Lebensstraße, wo das Glück auf der Straße lag, indessen ich den +Seifenblasen meiner Wünsche nachlief. Nun der Höchste mir mein Alter +mit Ruhe gekrönt hat, sehe ich, daß es der Jungbrunnen ist, von dem die +Väter sagten. + + + 89. + +Indessen Heinrich Pestalozzi sich so die Trennung zum Besten dienen +läßt, sind die Nachrichten aus Münchenbuchsee immer mehr mit +Enttäuschung beschwert. Muralt und Tobler haben nicht bedacht, daß +sich Fellenberg mehr als Pädagoge denn als Landwirt fühlt und als +solcher -- wie Niederer sagt -- die Drei- und Vierfelderwirtschaft auch +auf die Zöglinge anwenden will; die Buchführung ist besser geworden, +und die Ordnung wird streng gewahrt, aber die Luft steht stiller und +kälter in den Räumen, die sonst auch an Nebeltagen immer noch von +einem Sonnenstrahl väterlicher Liebe und menschlicher Laune belebt +und erwärmt war. Daraus wächst Mißmut und -- weil es Fellenberg auch +nicht leicht hat mit Zöglingen und Gehilfen, die einen andern Meister +schwärmerisch verehren -- endlich der böse Streit. + +Niederer ist der erste, den es nach Ifferten zieht; er hat im Herbst +ein schweres Nervenfieber durchgemacht und ist noch hohlwangig davon. +Seit dem Sommer hat er gemeinsam mit Fellenberg und den andern +Lehrern über dem Wortlaut einer Einladung an die Eltern Europas +gesessen, ihre Kinder als Zöglinge nach Münchenbuchsee zu geben; Satz +für Satz ist darin durchberaten worden, auch Heinrich Pestalozzi hat +mitgeholfen, bis eine umfängliche Flugschrift seiner Methode fertig +war. Als aber der Druck Weihnachten ankommt, hat Fellenberg ihn +nachträglich mit eigenen Ankündigungen zum Teil großsprecherischer +Art für seine besonderen Zwecke zurecht gemacht, was nun auch Muralt +und Tobler gegen den eigenmächtigen Mann aufreizt. Das Frühjahr geht +in einem unaufhörlichen Wechsel von Streit und Versöhnung hin, der +seine Wellenschläge nach Ifferten hinüber tut. Heinrich Pestalozzi +sucht aus dem Knäuel der Verstimmungen die Fäden der Liebe und der +gemeinsamen Ideale herauszuziehen; am liebsten aber möchte er den +Knäuel in den Bach werfen: er läßt sich nun nicht mehr beirren, daß die +Anstalt im Umkreis seiner Absichten nur einen Versuch bedeutet, und +ist weder für Münchenbuchsee noch für Ifferten aus dem Dachsbau seiner +Schriftstellerarbeit herauszubringen, die der Welt andere Resultate als +die zufälligen einer solchen Anstalt sichern soll. + +Doch wird er hier wie dort die Geister, die er rief, nicht los: er hat +das Klostergebäude in Münchenbuchsee von der bernischen Regierung nur +für ein Jahr erhalten und müßte zum Juli einen neuen Antrag um gnädige +Überlassung für ein weiteres Jahr stellen; weil aber Fellenberg in +einer Zuschrift an die Regierung die Leitung niedergelegt hat, sind +die Hunde der Verdächtigung auf seine Sache losgelassen. Um nicht +abzuwarten, daß er böswillig ausgeräumt wird, reicht er selber die +Kündigung ein. Damit hat er nach einem halben Jahr der Trennung alles +wieder, was ihm nun nicht mehr wie beim Abschied Glück und Unglück +seines Lebens bedeutet; aber daß die Herde ihm sehnsüchtig nachfolgt +und ihn durch diese Nachfolge anerkennt, tut ihm doch wohl, und um +dieses Wohlgefühls willen tritt er tätiger in die Leitung ein, als er +es nach seiner Rettung bei Cossonay für möglich gehalten hätte; auch +reißen ihn die glücklich veränderten Umstände hin, und eine heimliche +Hoffnung überredet den Widerstand: + +In Ifferten ist er nicht mehr wie in Burgdorf der zugewanderte Greis, +der froh sein muß, eine Schulstube für seine Versuche zu finden; der +Ruhm seiner Sache ist europäisch geworden und die Bürgerschaft setzt +viel daran, davon zu profitieren. Sie hat ihm -- um die Lockung nach +Peterlingen zu schlagen -- die weiten Räume des Zähringer Schlosses +und die Gärten dazu unkündbar überlassen und richtet alles nach seinen +Wünschen ein. Auch steht die Regierung im Kanton Waadt, aus dem +dreihundertjährigen Zwang der bernischen Landvögte befreit, anders zu +ihm, als die Aristokratenherrschaft in Bern; ihr ist er keiner staats- +und kirchenfeindlichen Gesinnung verdächtig. Die Zöglinge, die von +Anfang aus dem liberalen Waadtland am reichlichsten kamen, mehren +sich rasch; als auch die geborene Fröhlich -- die aus Münchenbuchsee +bald fortgegangen war, einen wohlbegüterten Landwirt namens Kuster +zu heiraten -- den Haushalt von neuem in ihre unverdrossenen Hände +nimmt, ist unvermutet der ganze Bienenstaat wieder um ihn versammelt, +eifriger als je, den Honig einer neuen Menschenbildung einzutragen; +nur noch die verscheuchte Königin fehlt, weil Heinrich Pestalozzi noch +immer eine abergläubische Furcht hat, sie schon zu rufen. + +Als aber der Winter den Reichtum nicht vermindert und das Frühjahr +den Ruhm der Anstalt in einen Erntesommer trägt, der ihm -- wie er +einem Freund bestürzt durch diese Wendung schreibt -- das Geld zum +Dach hinein regnet, bittet er sie frohen Mutes, wieder wie in Burgdorf +seine Hausmutter zu sein! Sie kommt ihm mit einem Schiff über den See +gefahren, und er wartet manche Stunde unruhig unter den alten Bäumen, +die immer noch den Jurawind durch ihre Blätter rieseln lassen, bis +gegen Abend das Boot anschwimmt. + +Schon von weitem sieht er ihre Gestalt still darin sitzen und meint +fast, ihre Augen auf sich zu spüren, wie er unruhig am Ufer hin und +her läuft. Sie ist alt geworden, und ihr kranker Fuß, an dem sie +lange in Zürich gelegen hat, hindert sie noch immer beim Gehen, sodaß +der Schiffsmann ihr über den Steg ans Land helfen muß: Das sind +meine vier dicken Türme, sagt er mit glücklichen Augen und zeigt +auf das Schloß, das zwischen dem Grün weißlich durchschimmert. Sie +gibt keine Antwort und ist auch schweigsam, während sie das kurze +Stück über die weichen Wiesen gehen, nur bringt sie die Lippen +nicht so fest wie sonst aufeinander, weil die strengen Falten einem +hinterhaltigen Lächeln nicht Meister werden. Erst als sie sich durch +die stürmische und ehrfürchtige Begrüßung der Zöglinge und Lehrer +-- die haben sich im bekränzten Schloßhof aufgestellt und singen ihr +ein Lied -- hindurchgelächelt hat und endlich in ihrer Turmstube im +Lehnstuhl sitzt, fragt sie: Hast du auch einen Garten? Er hört die +Frage garnicht, weil er nun erst mit seinem vergessenen Blumenstrauß +ankommt, den er ihr ans Ufer bringen wollte; sie aber fängt in ihrer +perlenbestickten Reisetasche an zu kramen und holt ein Schächtelchen +heraus, darin die Mohnkapsel winzig zusammengeschrumpft zwischen den +schwarzen Samenkügelchen liegt. Das legt sie ihm behutsam mitten auf +seine Blumen und lächelt sich die Tränen der Rührung fort: Wenn die +Samen nur nicht überjährig geworden sind! + + + 90. + +Heinrich Pestalozzi ist über sechzig und Anna Schultheß fast siebzig +Jahre alt, als sie ihr gemeinsames Leben im Zähringer Schloß zu +Ifferten beginnen; in Burgdorf war der Unterschied ihrer Jahre +ausgelöscht, nun aber fängt sie an, ihr Leben abzurüsten, während er +noch neue Segel einsetzt. Wenn sie miteinander in dem weitläufigen +Gebäude, im Garten oder weiter hinaus gegen Clindy gehen, ist er im +Eifer, ihr alles günstig zu zeigen, immer voraus, während sie oft +still steht und am Stock nachkommend mehr ihm zuliebe als für sich +ihre Augen auf seine Dinge richtet. Habe ich dirs nicht gleich gesagt, +Pestalozzi, ich sei zu alt für dich! scherzt sie einmal, als er wie +ein ungeduldiger Knabe am Bach nach ihr ruft, weil eine Ringelnatter +fortschwimmt, bevor sie zur Stelle ist. Aber es gefällt ihr alles +sichtbar wohl, und wenn sie mit ihrem Enkel Gottlieb durch die Straßen +der ländlichen Kleinstadt geht, gern gegrüßt von den Leuten, sehen +sie eine wirkliche Schloßherrin. Sie hat noch einmal geerbt von ihrem +Bruder Jakob in Zürich und braucht in ihrer bescheidenen Wohlhabenheit +nicht gleich zu sorgen, wenn es irgendwo eine Spalte in dem großen +Hauswesen gibt. + +So treibt das unruhige Wasser seines Lebens mit dem letzten Stauwehr +doch noch eine reiche Mühle, und er ist sicher, daß im Land kein +besseres Korn gemahlen wird. Aber er denkt noch immer nicht daran, +hier für lange den Müller zu spielen; sein Brot soll für die Armen +gebacken werden. Nun es ihm mit dem andern herrlich geraten ist, nun +er die Methode eines auf die Natur des Kindes gegründeten Unterrichts +in Händen hat, nun ihm Hilfskräfte jeder Art verfügbar sind und er +des Beistandes vieler für eine solche Unternehmung sicher sein kann: +fängt die Armenkinderanstalt wieder an, das Ziel zu werden, mit dem er +sein Leben krönen will. Der Schauplatz seiner letzten Tat aber soll +nicht das welsche Waadtland, sondern der Kanton Aargau sein: wo er +den Kampf um die allgemeine Menschenbildung begonnen hat, will er ihn +auch enden. Das Schloß Brunegg hat unterdessen einen andern Besitzer +gefunden, aber Wildenstein bei Schinznach steht noch leer, und mitten +aus dem fröhlichen Gesumm seines wohlbestellten Hauses reicht er den +Antrag um den Wildenstein bei der Regierung in Aarau ein. Die kommt +ihm willig entgegen, und so steht er vor dem geöffneten Tor seiner +letzten Ausfahrt, als die Zustände in Ifferten ihn nötigen, den Wagen +vorläufig wieder abzuspannen. + +Als ob sie die Ansteckung aus Münchenbuchsee mitgebracht hätten, ist +der Lehrerstreit da und reißt ihm einen Spalt mitten durch die Anstalt, +den weder Anna mit ihrer Erbschaft noch er aus dem Faß seiner Liebe +verstopfen kann. Den ersten Riß bringt eine Erholungsreise Niederers +mit, die ihn nach einem Rückfall seines Nervenfiebers fast zwei +Monate lang von Ifferten fernhält und gleichzeitig eine Studienreise +sein soll für die Lebensgeschichte des Meisters, die er schreiben +will. Von Anfang an hat er sich als Herold der Methode gefühlt, und +Heinrich Pestalozzi, der wohl weiß, wie eigenwillig ihm selber in der +Rede und Schreibe die Gedanken zulaufen, kann erstaunt zuhören, um +wieviel gelehrter und selbstbewußter sie in dem Mund Niederers klingen. +Selbst, wo ihm Zweifel überkommen, ob nicht im Strom dieser Worte +fremdes mitfließt, steht er willig dafür ein, weil er der Einsicht und +selbstlosen Begeisterung des Eiferers sicher ist. Er hat ihn immer als +seine rechte Hand gehalten und ihm die Führung in Ifferten zugedacht, +wenn er selber als Armenhausvater fortgehen wird: nun aber sieht er +während seiner Abwesenheit gründlicher in die Mädchenanstalt hinein, +die unter Niederers Leitung in einem besonderen Gebäude neben dem +Schloß eingemietet ist, und nimmt eine Lässigkeit wahr, die sich mit +keiner Liebe mehr zudecken läßt. + +Als Niederer danach heimkommt, geladen mit Eindrücken und +schwärmerisch beglückt über sein gesammeltes Material zu der geplanten +Lebensgeschichte, vermag Heinrich Pestalozzi keine Freude mehr an +diesen Dingen zu gewinnen. Ihm ist in der Abwesenheit der rechten +Hand die linke wichtiger geworden, und mit Eifersucht sieht der +Ideenmensch Niederer an der andern Seite des Meisters den Realmenschen +Schmid stehen, der in allem seinen Gegenspieler vorstellt. Es ist der +Tirolerknabe, mit dem er damals nach Burgdorf kam, und der sich im Lauf +der wenigen Jahre aus einem unwissenden, aber begabten Schüler zum +glänzenden Lehrer der Anstalt durchgearbeitet hat: Wie er in seinem +Fach der Zahl- und Raumlehre die Methode als Schulmeisterkunst ausübt, +das wird von den andern Gehilfen immer williger anerkannt und von +den Besuchern bestaunt; vor den glänzenden Leistungen seiner Klasse +vollzieht sich meist die Bekehrung der Ungläubigen. Er ist zu einseitig +gebildet, um die Niedererschen Gedankenflüge mitzumachen, auch liegt +die Schwärmerei seiner Natur nicht: sonnengebräunt und fest wie das +Gesicht ist sein Wesen und in Tüchtigkeit verbissen, die auf alle +Unordnung und Faulheit in der Anstalt wie ein Raubvogel Jagd macht; für +das geplante Armenkinderhaus ist er begeistert, er mag die wohlhabenden +Zöglinge nicht und verachtet die Eltern, die ihre Kinder -- wie er sagt +-- nur aus Bequemlichkeit in Erziehungsanstalten schicken. + +Ehe Heinrich Pestalozzi Augen für ihre Eifersucht hat, ist sie schon +zur Feindschaft geschwollen, und er steht mitten darin: Ich bin wie +eine Jungfer zwischen zwei Liebhabern, scherzt er zu Krüsi und glaubt +noch lange, er könne den bösen Zustand mit launigen Zurechtweisungen +lösen; aber weil beide ihren besonderen Anhang haben, sieht er zu +seinem Schrecken die Anstalt in zwei feindliche Lager geteilt und wird +mit seiner hülflos suchenden Liebe ein Fangball, den sie einander +zuwerfen: der alte Vorwurf seiner Unbrauchbarkeit ist über Nacht aus +dem Boden gewachsen, grausamer als sonst, weil er ihn diesmal aus allen +Himmeln reißt. Um kein Trümmerfeld in Ifferten zu hinterlassen und Anna +für immer zu verscheuchen, die sich jetzt schon verstimmt durch die +Händel in ihrem Zimmer hält, muß er den Plan der Armenkinderanstalt in +Wildenstein vertagen. So gießt ihm der Herbst des mit Siegesgedanken +begonnenen Jahres Galle in seinen Jungbrunnen, und obwohl schließlich +durch den vermittelnden Muralt eine Aussöhnung zustande kommt, sodaß +sie Weihnachten in Frieden feiern, bleibt eine bittere Stimmung in ihm, +die seiner gewohnten Neujahrsrede nicht günstig ist. + +Am letzten Nachmittag des Jahres kommt er zufällig mit einer Besorgung +in die Werkstatt des Schreiners, der seit der Einrichtung die Arbeiten +im Schloß hat. Sie nennen ihn in Ifferten den Heiden, und Heinrich +Pestalozzi kennt unter andern Seltsamkeiten des alten Sonderlings +auch diese, daß er sich für jedes Neujahr einen Sarg herrichtet, die +erste Nacht des Jahres darin zu schlafen. Wie er nun bei ihm eintritt, +stehen die fünf Bretter schon fertig genagelt da, und er ist gerade +dabei, dem Deckel eine Hohlkante anzuhobeln. Den brauch ich vorläufig +nicht, spöttelt er und bietet ihm eine Prise an, es ist nur wegen der +Vollständigkeit! Und als Heinrich Pestalozzi, den der selbstgefällig +lächelnde Greis neben dem Sarg verwirrt, ihn fragt, warum er sich +jedes Jahr solch ein neues Bett mache, streicht der mit der Hand die +Hobelkante ab und paßt den Deckel ein, wie einer, der das Schicksal +pfiffig überlistet: Weil es mir noch keinmal geraten ist, ihn zu +verwahren; schon im Frühjahr ist meist ein anderer Liebhaber da! + +Heinrich Pestalozzi vermag keinen Geschmack an dieser +Lebensversicherung zu finden, aber der gehobelte Sarg hat ihm das +Herz bewegt, und als er draußen den Schmid trifft, wie er mit einigen +Zöglingen einen Handwagen voll Tannenreisig aus dem Wald anbringt, die +Schloßkapelle zu schmücken, übermannt es ihn so, daß er ihn gerührt +in die Arme schließt. Ein hämischer Zufall will, daß Niederer seither +dazu kommt, todblaß, weil er die Herzlichkeit gesehen hat. Sie gehen +zu dreien miteinander vor dem Handwagen der Zöglinge her in einem +verlegenen Gespräch, und Heinrich Pestalozzi in der Mitte will sich +schon der Begegnung freuen, als die Worte zerbrechen und die Scherben +im Streit umher fliegen. Er rafft die Zöglinge an den Händen fort, daß +sie nicht Zeugen der Häßlichkeit würden; aber noch, als er drinnen auf +dem oberen Treppenumgang steht, hört er die bellenden Stimmen durch die +Mauern dringen. + +Er sieht an dem Abend niemand mehr und erlebt die Mitternacht allein +und verdüstert in seiner Kammer: Ich Narr der Eitelkeit, jammert er, +was soll die Welt mit meiner Lebensgeschichte, die ein Buch voller +Grabreden ist! Als er in den Kleidern auf dem Bett liegend endlich +einschläft, bleibt seine letzte Empfindung die mutlose Müdigkeit, daß +es der Sarg des Schreiners sein möchte! Und noch, als die ersten +Glocken den Morgen ansagen, quält er sich im Halbschlummer mit den +engen Brettern. So trifft Heinrich Pestalozzi die Stunde, wo er als +Hausvater vor den Seinen mit dem Bekenntnis des alten und dem Gelöbnis +des neuen Jahres stehen soll. + +Er läßt durch zwei Zöglinge den Sarg des Schreiners holen und vor den +Altar stellen; und ob er Anna bei dem Anblick die Kapelle verlassen +sieht und aus all den fragenden Augen der andern das Entsetzen vor +seinem Frevel spürt: nichts vermag ihn aus der Nötigung zu reißen, den +Sarg als den seinen zu betrachten und statt einer Neujahrsansprache +sich selber eine Grabrede zu halten. Niemand vermöchte seine +Unbrauchbarkeit grausamer anzuschlagen, als er es nun selber tut, und +fast ist es mit Gott gehadert, wie er ihm die Unfähigkeit seiner Natur +vorhält und alle Schuld an dem Zerwürfnis auf sich selber legt. Aber so +erschütternd seine Klagen durch die Kapelle irren und in manchem Herzen +den Schrecken um seinen Verstand aufjagen: ihm selber ist es, als ob +sein Körper damit ausfließe wie ein verunreinigtes Gefäß; bis er, von +aller Verbitterung leer, die Brunnen der Demut in sich aufquellen +fühlt. Da weiß er, daß seine Anklagen nur die Torheit eines Kindes +sind, das sich durchtrotzen möchte und hundert Wohltaten vergißt, weil +ihm eine verwehrt wird: Wie undankbar und eigensinnig ist es, gegen +mein Schicksal zu hadern, das mich vor allen Menschen mit meinem Werk +gesegnet hat! Sodaß Heinrich Pestalozzi die Kapelle in einem Gefühl der +Begnadung verläßt, darin selbst die Beschämung über sein zorniges Tun +ins Ferne verfliegt. + + + 91. + +Nach dem Gewitter dieser Neujahrsrede fängt die Sonne wieder an zu +scheinen, und Heinrich Pestalozzi, der die schlimmen Dinge leichter +als die guten vergißt, fühlt ihre Wärme über Ifferten, als ob erst +Mittag wäre. Auch Anna, die lange gekränkelt hat, lebt wieder auf und +braucht nicht mehr am Stock zu gehen: Ich mußte die alternde Frau in +mir los werden, sagt sie einmal zu ihm, als sie dem bunten Getriebe der +Zöglinge auf der Eisbahn zusehen: jetzt sind die Reste fort, und ich +bin ganz eine Greisin; ich konnte nicht alt werden, nun ich es bin, ist +alles wieder frei; ich möchte fast ein paar Eisschuhe antun, so leicht +ist mir! + +So bin ich doch der Ältere von uns beiden, antwortet er und nimmt +zärtlich ihre Hand; denn auch das habe ich dir vorgelebt: Nur das +Gesicht und die Hände waren jung und werden alt, die Seele lebt als +eine schwingende Schnur, die in der Mitte heftig schwirrt und am Ende +-- wie am Anfang -- nur noch zittert, bis der andere Knoten kommt, wo +sie an den Bogen ihres Erdendaseins gespannt ist! + +Er spricht auch sonst wieder viel mit ihr, fast wie damals auf ihren +ersten Spaziergängen, und lächelt hinterhaltig, wenn er sich bei den +Listen seiner Liebe ertappt. Als ob er noch einmal seine Mutter hätte, +geht er behutsam mit ihren Wünschen um und verschweigt ihr die Unrast +um sein Werk, die noch immer weit vom Knoten schwingt: Es ist nur mein +Sterbeteil, denkt er oft, der bei ihr die heimlichen Schlupfwinkel +seines Lebens hat; der Menschengeist in mir, dem die schwingende Seele +die zitternde Spindel war, ist nicht an ihre Schnur gebunden; der +trägt den Takt ihrer Bewegung fort ins Breite, wenn die Schnur längst +still steht! Und deutlich fühlt Heinrich Pestalozzi die Unheimlichkeit +dieser Trennung, wie die Seele sich zur Ruhe rüstet, indessen sein +Menschengeist immer ferner auf Abenteuer reitet. + +Das Wort verläßt ihn nicht; der Zwiespalt seines Lebens wird +ihm sinnbildlich darin, daß seine Seele für die Abenteuer des +Menschengeistes einstehen mußte, der nicht den Seinigen, sondern dem +Volk gehörte und von dem Gewissen der Menschheit in Pflicht genommen +war. So hat die Seele daheim im Streit gelegen bis auf diese Stunden, +wo er zurseite Annas gemächlich am See spaziert -- unter den überhohen +Bäumen, die ihre Blätter nur deshalb im Jurawind rieseln lassen können, +weil ihre Wurzeln ihnen unablässig den Saft aus dem schwarzen Grund +zubringen -- indessen sein unruhiger Geist mehr als je in das Abenteuer +der Menschenbildung verwickelt ist: nur daß er, anstatt auf eigene +Faust zu kämpfen, längst ein Häuptling wurde mit einem Kriegslager, +dahinein von fernher die Krieger reiten, sich Weisung zu holen. + +Denn Heinrich Pestalozzi -- der Greis, wie ihn die Burgdorfer schon +nannten -- ist unversehens in Europa eine Macht geworden; nicht, +weil er überall in den Regierungen Anhänger hat, die ihm Lehrlinge +der Methode nach Ifferten schicken, das dadurch eine Hochschule +der Erziehung wird, sondern weil nun die Weltgeschichte auch sonst +seinen mißachteten Ideen nachkommt: Seitdem ihm der Konsul Bonaparte +spöttisch den Rücken zukehrte, sodaß er mit dem verschmähten Sauerteig +der allgemeinen Volksbildung von Paris heimkehren mußte, hat sich +der korsische Advokatensohn zum Gewalthaber Europas gemacht, der +Fürstentitel und Königskronen wie Kinderspielzeug verschenkt, den +Papst nach Paris kommen läßt, ihn als Kaiser zu krönen, und der sich +die habsburgische Kaisertochter als seine Frau einfordert. Nichts in +der Welt scheint seiner Selbstherrlichkeit zu widerstehen; so ist +ihm auch der Preußenstaat des großen Friedrich nur ein Hindernis auf +seiner neuen Landkarte, das er mit einer kriegerischen Handbewegung bei +Jena beseitigt, wobei er noch Zeit findet, dem Dichter der Deutschen +das Kreuz der Ehrenlegion an die Weltbürgerbrust zu heften. Aber +diese Handbewegung macht dem Totengräber seiner Schwertmacht, dem +Menschengeist in Preußen, die Hände frei. + +Wie immer kehrt auch hier der eiserne Besen der Not die unfähigen +Gewalthaber auf den Mist, und Männer treten in ihre Stellen ein, +nach den Menschenrechten die Menschenpflichten zu proklamieren, +in denen allein die Blutsaat der Revolution zu einer Volks- und +Menschengemeinschaft aufgehen kann. Einer der ersten ist sein Freund +aus den Tagen in Richterswyl Johann Gottlieb Sichte, der Schwiegersohn +des Wagenmeisters Kahn in Zürich; in seinen Reden an die deutsche +Nation, in denen er die sittlichen Mächte im deutschen Geist aufruft, +setzt er Heinrich Pestalozzi und seine Idee der Menschenbildung in eine +Beleuchtung, die keine Gegnerschaft mehr auslöschen kann. Als auch +der Holsteiner Nicolovius in die Leitung des preußischen Schulwesens +berufen wird, will der Traum in einem Land Europas Wirklichkeit werden; +die besten Geister haben die Regierung des preußischen Staates in +der Hand, und ihr Ziel ist das seine: Befreiung und Erneuerung des +Volkes als einer sittlichen Gemeinschaft, und als Grundlage dieser +Gemeinschaft die Erziehung aller mit den Mitteln, wie er sie in dem +Naturgang seiner Methode gefunden hat. So ist Heinrich Pestalozzi +aus einem einsamen Abenteurer des Menschengeistes doch ein anderer +Heerführer geworden als sein Vetter Hotze mit dem Soldatenhut, von dem +nur noch der verblaßte Ruhm übrig geblieben ist. + +So gut geht alles, daß auch die feindlichen Lager in Ifferten +Gottesfrieden halten. Muralt hat vermocht, daß eine genaue Teilung +der Pflichten Niederer und Schmid auseinander hält, und namentlich, +seitdem Rosette Kasthofer aus Grandson das Töchterhaus in ihren +jüngferlich festen Händen hält, während Niederer -- der auch nicht +mehr im Schloß wohnt -- nur noch seine Pflichtstunden gibt und die +schriftstellerischen Tagesbedürfnisse der Anstalt besorgt, ist die +tägliche Verärgerung beseitigt. So kommt der letzte September des +Jahres 1809, an dem es vierzig Jahre her ist, daß Heinrich Pestalozzi +sich mit Anna Schultheß aus dem Pflug in der Dorfkirche zu Gebistorf +trauen ließ, recht in die Zeit für ein Freudenfest: Nun haben wir es +doch einmal beide nach unserem Herzen, sagt er neckend zu ihr, die +fast bräutlich geschmückt im Lehnstuhl auf ihn wartet, wird aber gleich +wieder ernst vor ihrem würdigen Gesicht: Unser Haus ist wohlbestellt +unter einem großen Dach, wie ich dir den Neuhof bauen wollte, und mir +ist sein Glanz keine Unruhe mehr, weil ich der Lebensströme sicher bin, +die daraus fließen! + +Als sie dann miteinander in den geschmückten Saal treten und in das +fröhliche Bienengesumm die Stille ihrer Gegenwart bringen, als Niederer +seine Festrede aus der Brunnentiefe seiner gewaltigen Begeisterung +holt und ihnen Kränze von innigen Worten auf die weißen Häupter legt, +indessen sie Hand in Hand wie zwei Kinder im Augenblick hundertfacher +Liebe dasitzen: sind alle Wechsel, die der Lehrling Tschiffelis an +die Kaufmannstochter im Pflug sandte, so über alle damalige Geltung +eingelöst wie im Märchen, wo auch die gehäuften Nöte auf einmal von dem +vorbestimmten Glück abfallen. Nur ganz den feierlichen Ernst der Stunde +zu ertragen vermag Heinrich Pestalozzi noch immer nicht; es ist auch +hier ein wenig bei den hohen Worten, als ob er wieder nach dem Examen +vor den andern Schülern das Vaterunser sprechen solle: so lächert es +ihn durch seine Glückstränen. Kaum sind die Ströme der Feier über +ihn hingeflossen, und die Frühlingsblumen dieser Herbstfröhlichkeit +wollen in einem Tanz der Kinder aufblühen, da muß er ihnen zeigen, +wie es damals zuging, als er noch der schwarze Pestaluz aus dem Roten +Gatter und Anna Schultheß die scheu verehrte Muse der jungen Patrioten +aus der Gerwe war: und übermütig, wie er es damals nicht vermocht +hätte, schreitet Heinrich Pestalozzi, der Armennarr auf Neuhof, die +Pestilenz des Birrfeldes, der Waisenvater in Stans und der Prophet +der Menschenbildung in Burgdorf und Ifferten, mit seiner schlohweißen +Gattin zu einer alten Weise den ersten Tanz. + + + 92. + +Wenn die Deutschen nach Ifferten kommen, meist über Basel und Bern +oder auch über Zürich, geschieht es ihnen leicht, daß sie mit ihrer +Begeisterung für Heinrich Pestalozzi an diesen Orten als närrische +Wallfahrer aufgenommen werden, weil man da eine andere Ansicht +von dem unruhigen Projektenmacher hat, sodaß sie kleinlauter in +das viertürmige Schloß eintreten und dann nicht selten durch die +unordentliche Erscheinung ihres Propheten abgeschreckt werden, als ob +die achselzuckende Mißachtung des Mannes in seiner Heimat am Ende doch +das Klügere sei. Sie haben erwartet -- weil sie als Deutsche blindlings +ans Gute glauben -- daß sein Vaterland wie eine stolze Familie zu ihm +stände, und finden ihn eher als verlorenen Sohn darin, zu dem sich +nur die Tapferen ohne Vorbehalt bekennen. Je höher der Lichtschein +seines Ruhmes draußen steigt, umso ängstlicher wird die Vorsicht, +als Schweizer für seinesgleichen gehalten zu werden, als ob etwa die +gesicherte Kultur Helvetiens noch seiner seltsamen Bildungsversuche +bedürfe. + +In Basel und Zürich sind es die Humanisten, die seine Abc-Künste +bespötteln, und in Bern die Aristokraten, die seine Anstalt als staats- +und kirchengefährlich hassen, besonders seitdem er in dem abtrünnigen +Waadtland haust. Und gerade während der Zeit, da in Preußen Humboldt, +Stein und Fichte seine Grundmittel der Menschenbildung mit heiliger +Überzeugung ergreifen, muß Heinrich Pestalozzi sich in der Heimat gegen +böswillige Angriffe wehren. Um ihrer mit einem Mal Herr zu werden, +stellt er der schweizerischen Tagsatzung in Freiburg das Ansinnen, +seine Anstalt von Landeswegen zu prüfen, ob die Methode nicht auch +in der Schweiz, wie in Preußen zum Vorteil des Vaterlandes allgemein +eingeführt werden könne! Auch hat der Eifer Niederers vermocht, daß +eine schweizerische Gesellschaft der Erziehung gegründet wird, die +wie vormals die helvetische Gesellschaft in Schinznach so jährlich +zum Sommer in Lenzburg tagen soll, und bevor noch die Dreimänner der +Tagsatzung zur Prüfung der Methode nach Ifferten kommen, hält Heinrich +Pestalozzi als Präsident der Gesellschaft eine Rede über seine Idee +der Menschenbildung, mit der er noch einmal als ein Demosthenes +seines Landes auf den Markt tritt: aber die ihn anhören, sind einige +vierzig für seine Sache schon vorher bemühte Leute, nicht die neunzehn +Kantonsregierungen des Schweizervolks, das in seinen Blättern manchen +Spott lesen kann, ob eine solche Sache wohl berechtigt sei, ernsthafte +und gelehrte Leute zu bemühen? Und als die nächste Tagsatzung den +Bericht der Dreimänner bekannt gibt, ist es eine hämische Aufzeichnung +der Mängel, die sie in der Anstalt gefunden haben, sodaß nun Niederer +wieder mit einer Flugschrift auf dem Wall erscheint und den Gegnern der +Anstalt mit Heroldsworten den Fehdehandschuh hinwirft. + +Bevor darauf die Angreifer aus allen Kantonen mit den entrollten +Bannern der überkommenen Weltordnung anrücken, das Nest des Aufruhrs +in Ifferten auszuheben, bricht es innen auseinander. Einem Dämon +der Zwietracht gelingt es, die verhaltene Feindschaft Schmids und +Niederers in das innerste Glas ihrer Männlichkeit zu gießen, wo sie +zischend auseinander fahren muß. Seit einiger Zeit ist eine Lehrerin, +namens Luise Segesser, in der Anstalt, ein schönes und herzlich +verankertes Mädchen aus Luzern, um das sich beide mit der Leidenschaft +ihrer fanatischen Seelen bemühen. Schmid, der gegen den rotköpfigen +und schwächlichen Niederer ein starkes Mannsbild von unverkennbarem +Tirolertum ist, glaubt sich schon als Katholik im Vorteil gegen +den pfarrerlichen Protestanten, da die Segesser selber aus einem +katholischen Hause kommt. Sie würde es bei ihrer Familie mit ihm ebenso +leicht haben wie mit Niederer schwer, aber nach dem Instinkt solcher +Frauen wählt sie das Schwere. Schmid ist immer noch erst ein Jüngling +von dreiundzwanzig Jahren, ihm werden durch ihre Wahl stolze Bäume +aus der Wurzel gerissen; er war bis auf diese Zeit der Liebling des +Meisters und die sichtbare Stütze der Anstalt, selbst der hämische +Bericht der Dreimänner hat seine Leistungen ausnehmen müssen: jetzt ist +ihm alles unwert, weil ein Mädchen sich gegen ihn entschieden hat. Es +fängt an, in seiner Galle zu wühlen, und nun ist es nicht mehr seine +Feindschaft mit Niederer allein, nun hat ihn der Geist der Anstalt +verraten, wo jeder -- so scheint es ihm -- vom kleinsten Zögling bis +zum ältesten Lehrer das tut, was seiner Neigung bequem ist, und wo +Heinrich Pestalozzi nur als Strohpuppe gehalten wird, mit der sie +abwechselnd ihr Ränkespiel treiben: Er vermag nicht mehr, in der +Gemeinschaft zu bleiben, deren fester Stundenschlag er mehr als jeder +andere gewesen ist; eines Tages steht er tief vergrollt vor dem Meister +und sagt ihm, daß er für immer fortgehen müsse! + +Es ist ein Frühlingsabend, und Heinrich Pestalozzi, dem das Alter +den Rücken müde gemacht hat, liegt nach seiner Gewohnheit in den +Kleidern auf dem Bett und diktiert, als er zu ihm tritt. Er kennt den +Herzenslauf des Jünglings seit langem, und die Schadenfreude hat ihm +zugetragen, an welches Ende es nun damit gekommen ist: Du nimmst meinem +Dach den Firstbalken weg, sagt er zu ihm, als sie allein sind: und es +ist kein anderer da, der ihn mir wieder aufrichtet; aber wenn dir alles +im Blut verleidet ist, will ich dich nicht mit dem Wasser meiner Worte +halten! Er greift ihm nach den Händen, und einen Augenblick ist es, +als ob der andere ihm seinen Kopf an die Brust werfen und in Tränen +aufgehen möchte; aber der Trotz hält ihn erschlossen gegen solche +Weichheit, daß er die Hände zurücknimmt und bald mit hohen Schultern +das Gemach verläßt. + +Der Wind hat die Tür hinter ihm wieder aufgedrückt, daß sie leidmütig +in den Angeln knarrt. Heinrich Pestalozzi ruft nach Anna; sie scheint +nach ihrer Gewohnheit hinuntergegangen zu sein in den Garten, wo die +Vögel das junge Laub anschreien, daß ihm ein einziges Geschrill +davon durchs offene Fenster kommt. Um nicht allein zu sein mit der +Entscheidung, die unsichtbar in der Kammer auf ihn wartet, tappt er +hinunter, sie zu suchen. Es ist die Stunde, da die Knaben unten am See +unter den Bäumen spielen, und darum eine Stille auf den Gängen und +Treppen, die ihn fast ängstlich macht. Bin ich auf einmal allein in der +Welt, denkt er; als er aufatmend unten Schritte hört und, rasch über +die Galerie gebeugt, Muralt mit einem Brief in der Hand quer durch den +Hof zur Treppe gehen sieht. Den schickt mir der Himmel, hofft er und +wartet still, während der andere auf seine schlanke Art heraufkommt; +aber als er ihm seine Sache klagen und ihm sagen will, daß er der +einzige sei, Schmid umzustimmen, wehrt Muralt gleich schmerzlich ab +und reicht ihm seinen Brief. Es ist seine Berufung nach Petersburg, +die schon seit Monaten schwebt: So wollt ihr mich alle verlassen, wie +die Ratten das sinkende Schiff, schreit er im Zorn und will ihm das +Papier an die Brust werfen. Aber es fliegt übers Geländer und tanzt im +Zickzack in den Hof nieder, wo es wie eine Anklage seiner Heftigkeit +liegen bleibt, bis Muralt nach einer Pause hinuntergeht und es aufhebt. +Er kommt nicht zurück, schreitet mit gesenktem Gesicht aus dem Hof +hinaus, sodaß Heinrich Pestalozzi wieder allein in dem leeren Gemäuer +bleibt: ein Bettler im eigenen Haus, wie er bitter vor sich hindenkt, +bevor er zurück in seine Kammer geht, wo die Vögel noch immer das junge +Laub anschreien. Aber die Sonne ist fort, und aus den Ecken wachsen die +grauen Gespinste, den letzten Tag zu verzehren. + + + 93. + +Meine Anstalt ist ein Uhrwerk, klagt Heinrich Pestalozzi, als Schmid +und Muralt nicht mehr in Ifferten sind, davon mir irgendwer den +Stundenzeiger und das Schlagwerk fortgenommen hat: nun schnurren die +Räder weiter, und der Minutenzeiger läuft unaufhörlich im Kreis herum, +aber niemand weiß die Stunde! Umso eifriger ist Niederer; er hat nun +endlich freie Hand, die Gewichte nach seiner Neigung aufzuziehen, und +macht aus der Stunde siebzig Minuten, die Anstalt und die Methode vor +den Angreifern zu retten. + +Bisher haben die Gegner ihren Zorn nur in den Kantonsblättern auslassen +können; der Aristokratenprofessor von Haller in Bern macht ihnen +endlich im Ausland auf eine Weise Luft, die auch die Anspruchsvolleren +befriedigt. Unter dem schützenden Mantel der Gelehrsamkeit -- darin +seit je die Bosheit ihren geliebten Schlupf hat -- tritt er in den +Göttinger Gelehrten Anzeigen auf, um dem harmlosen Deutschland die +Augen über die gefährliche Revolutionsschule in Ifferten zu öffnen. +Da kann der Haß gegen den Unruhestifter einmal dick ausfließen, und +fleißige Schaufelräder bemühen sich allerorten, ihn ins Land zu +leiten. Niederer, für den nun endlich die Methode aus dem Staub der +Schulklassen in das Feuer der geistigen Prüfung kommt, schlägt mit dem +Schwert seines Eifergeistes in den Brei, bis er selber in einem Berg +von Schaum dasteht. Aber schon meldet sich von Zürich der Humanismus, +der seit Agis Zeiten noch eine Abrechnung mit dem vorlauten Patrioten +aus der Gerwe hat: in der viel gelesenen Zürcher Freitagszeitung +stellt der Chorherr Bremi drei Dutzend Zeitungsfragen, die sich mit +gewandter Bosheit gegen den rasselnden Niederer richten, aber Heinrich +Pestalozzi dem gebildeten Geschmack preisgeben. Er will nun selber +antworten, aber weder die Zeitung in Zürich noch die in Bern nimmt +seine Einsendungen auf, sodaß doch wieder Niederer das Wort nimmt, +diesmal in einem zweibändigen Werk, das den Streit in den Untiefen der +Dialektik entscheidet. + +Die Aufregungen dieser papierenen Kämpfe machen aus dem Zähringer +Schloß in Ifferten mehr eine belagerte Festung als eine Schule. +Manchmal genug muß Heinrich Pestalozzi an seine Kattunfabrik und +die Zurzacher Messe denken, wenn er zusieht, wie sich bei Niederer +die Pläne jagen, wie im Handumdrehen ein Verlagsgeschäft, eine +Buchdruckerei und eine Buchhandlung im Schloß eingerichtet werden, um +besser für diese Händel gerüstet zu sein; doch liegt er nun fast immer +an seinem Rückgrat in Schmerzen auf dem Bett und läßt es geschehen, daß +ihm der Zielpunkt seines Lebens täglich mehr auf die Seite geschoben +wird, als ob er um solcher Klopffechterkünste willen gelebt hätte. + +Darüber kommt er durch einen törichten Unfall auch noch fast ans +Sterben: als er eines Tages mit einer Stricknadel im Ohr bohrt, +aber nicht recht aus dem Gehänge seiner Gedanken aufwacht, läuft er +unversehens damit gegen den Kachelofen, so unglücklich, daß ihm die +Nadel durch das innere Ohr in den Kopf hinein sticht. Trotzdem es ihm +wehtut, scherzt er selber noch über sein täppisches Ungeschick, bis +die Schmerzen nach einigen Tagen heftiger werden, Fieber dazu kommt +und ihm wie den andern die Gefährlichkeit ankündigt. Krüsi begleitet +ihn nach Lausanne, aber da lassen ihn die Ärzte nicht mehr fort, weil +nun schon das Fieber mit den Schmerzen um sein Bewußtsein kämpft und +der Tod an seine Bettstelle treten will. Vier Monate seines Lebens +kostet ihn die falsche Anwendung dieser Stricknadel, und manche Woche +irrt sein Geist in Delirien hin, darin die Kämpfe der letzten Zeit in +den Spuk früher Kinderträume tauchen, wo die Feinde mit greulichen +Gesichtern und langen Messern heran schleichen. Namentlich ein plumpes +Tier peinigt ihn lange, das dicht über seinen Augen schwebt und ihn +erdrücken wird, wenn es sich niederläßt. Als seine Sinne heller werden, +weil die Sonne durchs Fenster scheint und mütterliche Hände um seine +Wiege sind, ist es der bunte Papiervogel, von dem er geschrieben hat, +daß ihn die Appenzeller Mütter ihren Kindern übers Bett hängten, +damit der suchende Blick daran den ersten Anhalt aus dem Unbewußten +in die Menschenwelt fände. Endlich an einem Nachmittag erwacht er +wieder in seine Greisenwelt, Anna Schultheß lächelt ihn an mit ihrem +Faltengesicht, und der Vogel ist fort: aber die Erinnerung an seine +Farben bleibt in ihm, wie wenn er aus dem Paradies gewesen wäre. Und +noch einmal wird Heinrich Pestalozzi überwältigt von dem tiefen Sinn +dieses Volksgebrauches: Mir löscht das Bewußtsein meiner alten Tage den +Traum bald wieder aus, denkt er und liegt noch immer wie ein Kind in +der Wiege lächelnd mit gefalteten Händen da; aber das Kind, das sich +die Welt mit seinen Sinnen erst aufbauen soll, sieht am Eingang den +paradiesischen Vogel, und es wird immer diesen Kern von Wohllaut in dem +Weltgebäude seiner Anschauung fühlen. + +Mitten in diese Gedanken hinein muß er so herzhaft lachen, daß +sich Anna erschrocken -- das Fieber möchte wiederkommen -- zu ihm +hinunterbeugt. Es dauert lange, bis er mit den schwerfälligen Worten +dem blitzschnellen Lauf seiner Gedanken nachkommen kann: Er hat von dem +Papiervogel aus an das Bergwerk gedacht, darin die Seele im Verlauf +einer Jugend von den Erfahrungen der Sinne begraben wird, und an die +unendliche Geduld seiner Methode, sie mit der Ordnung einer wirklichen +Weltanschauung wieder ans Licht zu bringen, auf einmal ist aber noch +Niederer dagewesen mit dem Papierberg seiner Wissenschaft: Weißt du +noch, kichert er und malt ihr mit dem Finger einen Vogel auf die Hand, +wie mich der Henning aus Preußen neulich nach der Stelle in meiner +Lenzburger Rede fragte, aus der Niederer ein gedrucktes Buch gemacht +hat? Es wäre mir auch zu tiefsinnig, was ich da gedacht hätte, sagte +ich: er müsse Niederer fragen! + +Als aber Anna schon wieder in Ifferten ist und er noch immer geschwächt +von seiner Krankheit daliegt, bleibt der mühsame Weg von dem +Appenzeller Vogel bis zur Wortposaune der Lenzburger Rede der Strich, +an dem er den Gang seiner Absichten auf der Bettdecke abtasten kann: +Es geht schon arg über den Rand damit, sagt er kopfschüttelnd, und +macht sich fast ein Spiel daraus, wie alles andre danach, der Professor +Haller in den Gelehrten Anzeigen und der Chorherr Bremi mit den drei +Dutzend Zeitungsfragen samt den Niedererschen Antwortschriften auf den +Boden purzelt, wo sie das Turnier in ihrer eigenen Welt, nicht in der +seinen abmachen. + +Endlich nach fast vier Monaten kann ihn Anna im Wagen wieder holen; er +möchte -- wie er wehmütig scherzt -- den Umweg über Ifferten garnicht +mehr machen, da es über Burgdorf näher nach dem Birrfeld wäre. Und bei +Cossonay muß ihn der Kutscher ein Stück gegen den Berg hinauf fahren, +damit er ihr die Stelle seiner Rettung unter den Pferden zeigen kann. +Es ist seit Januar Anfang Mai geworden, und die sonnige Luft hat ihn +heiter gemacht; aber wie sie nachher durch das Sumpftal der Orbe +hinunter fahren, fängt er bitterlich an zu weinen. Er hat an das Glück +der Ruhe damals gedacht, und wie anders dies jetzt ist, in das er +hinein fährt: Wo ist mein Jungbrunnen geblieben? klagt er unaufhörlich, +sodaß Anna, die nicht an den Boden seiner Trauer gelangen kann, schon +bitter zweifelt, ob die Nadel seinem Kopf nicht doch geschadet habe. + + + 94. + +In den selben Maitagen, da Heinrich Pestalozzi so weichen Herzens +von der überstandenen Krankheit nach Ifferten zurück fährt, reist +Bonaparte seinem Heer nach, den Feldzug gegen Rußland zu wagen. Noch +einmal versammelt er in Dresden die deutschen Könige und Fürsten als +seine Vasallen um sich, bevor er dem Winter in den russischen Steppen +entgegen zieht. Das Gepränge seines Ausmarsches, den auch Tausende +von Schweizersöhnen mitmarschieren, ist kaum in die Einöde verklungen, +und eben legt der erste Winterschnee dem Jurarücken seine Schutzdecke +auf, als der Brand von Moskau sein blutiges Nordlicht leuchten läßt. +Noch sind es Wenige, die den Schein zu deuten wagen; aber bald fliegen +die Gerüchte an den Landstraßen hin, daß der Weltherrscher in einem +Schlitten allein durch Deutschland zurück geflohen sei, indessen die +Leichensaat der großen Armee in Rußland geblieben wäre. Während sich +eine dumpfe Erwartung über die Menschen legt, fängt bei den preußischen +Lehrern, die noch in Ifferten sind, die Unruhe an zu brennen; +kaum fallen die ersten Eiszapfen von den Dachrändern, als sie dem +Befreiungskrieg ihres Vaterlands zufliegen. + +Wenn der Krieg auch fürs erste der Schweiz fern bleibt, bekommt ihn die +Anstalt doch zu spüren; schon mit den preußischen Lehrern sind Zöglinge +heimgereist, und auch sonst holen besorgte Eltern ihre Kinder. Mit dem +Frühjahr schmelzen die Einnahmen bedenklich hin, während die Ausgaben, +von den Niedererschen Ideen gedüngt, üppig ins Kraut schießen. Es geht +schon wieder wie mit der Fabrik im Neuhof, Heinrich Pestalozzi in +seiner Bedrängnis stopft die kleinen Löcher aus einem großen Loch, und +noch einmal muß Anna Schultheß aus ihrem Ererbten sechstausend Franken +hergeben, den Bankrott abzuwehren. Sie ist fünfundsiebzigjährig, als +sie den Pakt unterzeichnet, und ihr Enkel steht schon als Jüngling +dabei; ihm den Rest des Vermögens zu sichern, wird ein Vertrag gemacht, +der sie nun selber auch auf den Altenteil setzt, sodaß sie beide +nichts mehr besitzen, als daß sie -- wie die Lehrer auch -- ihre +Unterkunft in der Anstalt haben: Jetzt kann ich nicht mehr das Senkblei +deiner Stürme sein, sagt sie zu ihm, jetzt bin ich leicht wie du! + +Während er so das Schneckenhaus seiner Gründung mühsam weiterschleppt, +ist die Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen, und wie Bonaparte +früher die Völkerscharen Europas gegen seine Feinde geführt hat, so +drängen sie nun gegen ihn. Ehe die Schweiz sich dessen versieht, steht +die Hauptarmee der Verbündeten in Basel, bereit, nach Frankreich +einzudringen; die Tagsatzung beschließt eine vorsichtige Neutralität, +aber nun gibt es zwischen Für und Wider keine Möglichkeit mehr, und +hundertdreißigtausend Österreicher rücken ungefragt ins Schweizerland, +den Heerweg zwischen Jura und den Alpen nach Genf zu nehmen. Ifferten +liegt mitten in der Bahn, und als schon Tausende durchgerückt sind, +reitet eines Tages ein Offizier mit dem Befehl in die Stadt, das Schloß +für ein Lazarett zu räumen! Kommt mir alles wieder? denkt Heinrich +Pestalozzi; aber nun ist er nicht mehr der hilflose Waisenvater in +Stans, und als die Stadt zwei Abgeordnete nach Basel ins Hauptquartier +schickt, das Übel noch abzuwenden, schließt er sich trotz seiner +neunundsechzig Jahre den beiden an. + +Die modischen Stadtherren sind nicht erfreut, als ihnen der ungekämmte +Sonderling auch noch in den Wagen gepackt wird, und wo sie Rast machen +unterwegs, verleugnen sie ihn vorsichtig, um nicht für seinesgleichen +zu gelten. Aber als sie nach Basel kommen, wo es von Federbüschen +und goldbestickten Uniformen wimmelt und auf den Straßen die Karossen +der Fürstlichkeiten drängen, sind die Türen der Heeresämter nicht +so offen wie unterwegs die Gasthöfe; der Weltkrieg hat keine Zeit +für die Wünsche kleiner Landstädte, und selbst die Abgeordneten der +Tagsatzung zucken mit den Achseln; die Stadtherren von Ifferten müßten +ungehört abfahren, wenn ihnen nicht der mißachtete Greis die Türen und +Ohren aufmachte. Wie sie sich wieder nach ihm umsehen, ist er eine +vielbegehrte Berühmtheit, und schon am dritten Tag dürfen sie ihm zur +Audienz beim russischen Kaiser folgen. + +Der empfängt den runzeligen Alten inmitten seiner Würdenträger wie +einen Zauberer, und schon sein erstes Wort entledigt die Stadtherren +von Ifferten aller Sorgen. Nur wurmt es sie, daß Heinrich Pestalozzi +sich nicht sogleich -- wie es schicklich wäre -- mit ehrfürchtigem +Dank zurückzieht, sondern den Herrscher aller Russen wie ihresgleichen +ins Gespräch nimmt; obwohl sie nicht hören, was er ihm alles sagt, +weil der Kaiser schrittweise vor seiner Lebhaftigkeit zurückweicht, +zittern sie um seiner Zudringlichkeit willen, und als er ihn nach +einer Viertelstunde bis an die gegenseitige Tür gedrängt hat und +immer noch nicht nachgibt, sogar die Hand hebt, um den Kaiser nach +seiner Gewohnheit am Knopf zu fassen, möchten sie ihn an den Beinen +hinausziehen. Doch scheint der Kaiser anderer Ansicht zu sein; sie +wollen es nicht glauben, aber sie sehen es mit ihren Augen, wie er den +alten Mann, dem im Eifer sein Strumpf gerutscht ist, gerührt in die +Arme schließt, bevor er sich wieder zu den Staatsgeschäften seines +Gefolges wendet. + +Bei der Rückfahrt möchten die beiden seinem Alter diensteifrig zu Hilfe +sein; aber nun scheint dem Greis die letzte Vernunft zu entfahren: er +fragt sie selber aus seinem Traum, ob alles in Ordnung sei? Heinrich +Pestalozzi sind in diesen Basler Tagen andere Dinge wichtig geworden +als Ifferten und seine Anstalt. Wohl hat er dem Kaiser der Russen +vieles gesagt, wie der Mensch durch einen naturgemäßen Bildungsgang +in die Menschheit eingeführt werden müsse; aber er fühlt, es müßten +Monate, nicht Stunden der Predigt sein, um seiner Botschaft wirklich +solch ein Herz zu wecken: Es sind nicht die Menschendinge, die den +Mächtigen ans Herz gehen, sagt er zu den Stadtherren, die garnicht +merken, daß er mit sich selber spricht, es gilt nicht die Menschheit +und nicht einmal ihr Volk, es ist nur ihre Macht. Aber diese Macht +allein kann nichts als Heere unterhalten und Länder mit Krieg +überziehen; wenn danach der Friede kommt, ist sie wie eine Schelle +ohne Klöppel. Ich wüßte Einem, der mir folgte, eine Macht in Europa zu +gründen, die mächtiger als Bonaparte wäre; und ich sage euch, wer es am +ersten mit mir hält, dem wird die Herrschaft in Europa zufallen! + +Er hat die beiden Stadtherren aus Ifferten nun wirklich an den +Rockknöpfen gepackt, und obwohl sein Menschengeist kühner als jemals +auf Abenteuer in die Zukunft reitet, murmelt er nur Worte, die sie +nicht verstehen. Darum sind sie froh, als er endlich schweigt und sie +losläßt; denn ob sie noch immer über die Geltung dieses unscheinbaren +Greises betroffen sind, ihn in die Arme zu schließen vermöchten sie +nicht, trotzdem es ihnen ein Kaiser vormachte. + + + 95. + +So zufällig der Anlaß dieser Reise nach Basel für Heinrich Pestalozzi +gewesen ist, so bedeutend wird ihre Folge. Er fährt den Stadtherren +zuliebe über Bern zurück, wo sie einen Tag lang bleiben wollen, noch +ohne Ahnung, daß dies gefährlich sein könnte. Schon zwei Tage vor +Weihnachten haben die Berner die napoleonische Verfassung abgeschafft +und sich wieder nach der ehrwürdigen Ordnung der Väter eingerichtet, +die ihnen von neuem die Zwingherrschaft über den Aargau und das +Waadtland geben soll. Sie wissen, daß sie beim Fürsten Metternich für +solche Gelüste Rückhalt finden und haben schon den österreichischen +Oberst Bubna beauftragt, im Durchrücken die verhaßte liberale Regierung +in Lausanne einzustecken. So ist jeder Waadtländer in Bern wieder ein +Empörer wie zu Davels Zeiten, und als Heinrich Pestalozzi sich in der +Frühe nach seinen Ratsherren umsieht, sind sie noch am Abend eilig +wieder abgefahren. + +Es wird zwar noch nicht mit Musketen geschossen, und er kommt +ungefährdet aus den finsteren Trutzgassen der alten Bärenstadt wieder +hinaus; aber seine Schweizer Gedanken haben eine böse Erschütterung +erfahren. Nun erst sieht er, was dieser Siegesmarsch der Verbündeten +bedeutet: er soll der europäischen Welt die letzten zwanzig Jahre wie +ein Geschwür ausschneiden, und dies begreift er sofort, daß seine +Menschenbildung mit zu dem Geschwür gehört. Zwar wird er auf den Schutz +des russischen Kaisers und der preußischen Regierung rechnen können, +aber sein Werk wird in einer so kurierten Welt keine Lebensluft mehr +haben. Er ist nun selber die Schelle ohne Klöppel, und so lustig er +über die vorsichtigen Ratsherren gespottet hat: nun kommt er wie sie +mit einem Gefühl der Gefahr in Ifferten an. Die ersten Zöglinge, denen +er vor dem Ort begegnet -- es sind die goldäugigen Zwillinge eines +Pfarrers aus dem Traverser Tal -- holt er zu sich in den Wagen und hält +sie fest, als ob schon die Landreiter kämen. + +Er findet Anna und die geborene Fröhlich in einer Aufregung, die der +seinen gewachsen ist: Niederer, den jedermann noch im Verhältnis +mit der Segesser glaubte, hat sich mit Rosette Kasthofer verlobt, +der Heinrich Pestalozzi im vergangenen November das Töchterhaus als +Eigentum abgetreten hat, was den Frauen schon damals nicht recht +gewesen ist. Auch ihm kommt die Nachricht unerwartet, aber länger als +eine Minute vermag er nichts Ärgerliches daran zu finden: Wir müssen +nun alle zusammen halten, sagt er aus seiner andern Welt, und erst als +Anna, die schon Wunderdinge aus Basel gehört hat, ihn verdutzt fragt, +ob es vielleicht doch anders gewesen sei, als das Freudengespräch durch +Ifferten gehe: berichtet er von seiner Audienz, darüber sie für diesen +Abend doch noch fröhlich miteinander sind. + +Am andern Morgen aber ist der Spuk wieder da und böser, als er ihn von +Bern mitbrachte. So muß Noah zumute gewesen sein, denkt er, als er die +Arche baute: und meine vier dicken Türme können nicht schwimmen, auch +ist es gar die Zwingburg des Zähringers selber, darin ich sitze! Ich +muß mein Testament schreiben, sagt er zu Anna, aber sie merkt bald, +daß es nicht ihrem Enkel Gottlieb gilt: »An die Unschuld, den Ernst +und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes« steht oben +darüber, und wenn er jemals Worte für seine innere Beredtsamkeit fand, +so gelingt es ihm diesmal. Er hat in Bern und schon in Basel sagen +hören, daß es die alte Kultur herzustellen gelte: aber nun leuchtet +er die gerühmte Zeit der Väter mit dem Lichtschein der Menschlichkeit +ab und zeigt, daß ihre hitzigen Preiser nur den äußeren Glanz des +gesellschaftlichen Lebens meinen. Kultur aber ist nur da -- dies +setzt er scharf ins Licht -- wo das Gewissen des einzelnen sich zur +sittlichen Persönlichkeit durchfindet und wo die Gesellschaft zur +Gemeinschaft solcher Persönlichkeiten wird. Darum kann Kultur nicht +durch eine Veränderung der äußeren Zustände herbeigeführt werden, +ihr Boden ist allein der Mensch: Laßt uns Menschen werden, damit wir +Bürger, damit wir Staaten werden können! + +Es schwinden ihm Wochen und Monate über dieser Schrift, und die +Täglichkeit, so peinlich und verworren sie ihn bedrängt, wird eine +ferne Unwirklichkeit. Mancherlei Freunde wollen der bankrotten Anstalt +mit Neuerungen in der Verwaltung aufhelfen, und Anna kommt von einer +Reise nach Zürich nicht zurück, weil sie der Besserung nicht im Wege +stehen will; Niederer heiratet die Kasthofer und geht für Monate +mit ihr auf die Hochzeitsreise: es wird abgerüstet, das ist das +einzige, was er davon wahrnimmt, und das treibt ihn wieder in die +Gedanken seiner Schrift zurück. Es geht an den Grund seiner ganzen +Lebensarbeit, es geht an die Wurzeln der europäischen Menschheit, +da ist das zufällige Schicksal seiner Anstalt nichts mehr als die +verspritzte Welle eines rauschenden Stromes. Als die siegreichen +Mächte auf dem Wiener Kongreß das Schicksal Europas bestimmen wollen, +ist der Freiherr von Stein der erste, dem er die Schrift übersendet; +ganz ahnungslos, daß der als Triebfeder der deutschen Befreiung schon +wieder ausgeschaltet ist, weil es nur noch die gierige Verteilung der +Länderbeute gilt. + +Es ist zum letzten Mal, daß der Menschengeist in Heinrich Pestalozzi +auf ein europäisches Abenteuer reitet; seine Seele sitzt unterdessen +in den Nöten seiner Anstalt zu Ifferten und wartet, wer ihr daraus zum +Frieden helfe. Die Reise nach Basel hat nicht das benachbarte Grandson +von den Lazaretten freihalten können; von dort aus verbreitet sich das +Nervenfieber der österreichischen Soldaten doch nach Ifferten, und +als der Herbstwind die gelben Blätter auf den Weg zu treiben beginnt, +trifft es die geborene Fröhlich. Im siebenundvierzigsten Jahr ihres +schaffnerischen Lebens legt ihr der Tod die Hände ineinander, die seit +dreizehn Jahren das Hauswesen der Anstalt gehalten haben. Als sie den +Sarg hinaus bringen, trägt Heinrich Pestalozzi keine Hoffnung mehr +hinterher: Anna ist von Zürich auf den Neuhof gegangen; er möchte vom +Kirchhof zu ihr laufen, statt in das verwahrloste Schloß zurück zu +gehen, wo fremde Hände sein Geld und seine Worte ausgeben. + +In dieser Zeit nimmt Niederer sein Herz in die Hand; er hat schon +auf der Hochzeitsreise seinen Gegner Schmid in Bregenz besucht, +den alten Groll auszulöschen; nun setzt er viele Briefe daran, dem +Trotzigen die Rückkehr abzubitten, weil er allein mit dem Ruf seiner +Lehr- und Regierfähigkeit die Anstalt retten könne. Und während +die eifersüchtig streitenden Mächte auf dem Wiener Kongreß wie +eine gestörte Spatzenschar auffliegen, weil Bonaparte noch einmal +das Glück der Weltgeschichte versucht, kommen kurz nacheinander +zwei Wagen nach Ifferten gefahren, die Heinrich Pestalozzi seine +siebenundsiebzigjährige Frau Anna mit der hart und grau gewordenen +Lisabeth und den Tiroler Schmid wiederbringen. Beide werden auch von +den andern jubelnd begrüßt, und Pfingsten ist noch nicht im Land, da +zeigen Stundenzeiger und Uhrwerk wieder den festen Gang des Uhrwerks +an. Das Geld regnet nicht noch einmal zum Dach herein, aber es fliegt +auch nicht mehr hinaus, weil eiserne Sorgfalt es behütet. + +Heinrich Pestalozzi hat schon nicht mehr gedacht, noch einmal sorgenlos +unter den hoben Seebäumen spazieren zu können; aber so sehr er die +Erlösung aus den täglichen Nöten fühlt, die Landschaft ist taub für +ihn geworden, und es kann ihm begegnen, wenn er Anna zuliebe vor dem +Gelärm der Zöglinge beiseite geht, daß er sich selber erleichtert +fühlt, das Gewühl ihrer Stimmen nicht mehr zu hören: er hat Sehnsucht +nach der harten Stille des Birrfeldes, die Anstalt ist ihm verleidet, +und er möchte sein Waisenhaus haben. Mit all seinem Ruhm -- sogar den +Wladimirorden hat ihm der russische Kaiser gesandt -- mit dem fremden +Zulauf in seine Anstalt kommt er sich vor wie ein Wagen, der mit den +Achsen nach oben auf der Wiese steht und seine schnurrenden Räder +nur noch als Spielzeug der Kinder hat: Solange ich nicht mit einem +Armenkinderhaus gezeigt habe, wie der Armut aus sich selber geholfen +werden kann, hat die Methode nur der Schule, nicht dem Leben gedient, +und mein Werk ist nur halb getan! sagt er zu Schmid. Aber der schüttelt +eisern den Kopf: Ehe er nicht ohne Verschuldung auf den Neuhof zurück +könne, ließe er ihn nicht fort! Er brauche vielleicht nicht länger als +ein Jahr, aber das müsse er aushalten! + +Wenn Heinrich Pestalozzi über solche Worte bei Anna klagt, obwohl +er sich der Liebe darin freut, legt sie wohl seufzend ihr Buch aus +der Hand und sieht ihn über die Brille wie ein Meerwunder an, daß er +noch mit grauen Haaren solch ein Kind seiner Unrast sei. Sie liest +nun ziemlich den ganzen Tag und spricht von den Dingen und Gestalten +ihrer Bücher, als ob sie die Wirklichkeit wären. Von ihrer letzten +Anwesenheit im Neuhof hat sie das Nibelungenlied mitgebracht, wie es +der Stadttrompeterssohn und Patriot Müller aus der Gerwe zum ersten Mal +in Druck gab; daraus ist es gekommen, daß sie Schmid den ingrimmigen +aber treuen Hagen von Tronje nennt. + +Er mag das grausam heidnische Buch nicht, wie er es nennt, und +er schmollt oft in einen Greisenzank, wenn sie schon wieder über +Kriemhildens Klage weint; aber es tut ihm wohl wie alter Wein, daß sie +so geruhsam am Fenster sitzt und zum wenigsten sein Werk in Ifferten +nun als gesichert ansieht. Wenn ihn selber die Unruhe quält, schlüpft +er gern für einige Minuten in das Behagen ihres beruhigten Alters ein; +er weiß, daß sie einen gepreßten Klatschmohn im Buch liegen hat, den +sie im Sommer aus dem Schloßgarten anbrachte, und das verblaßte Rot +davon braucht nur aus den Blättern zu leuchten, so möchte er schnurren +wie ein Kater in der Ofenwärme. + +So glüht ihnen das Jahr still zu Ende, das unerwartet das letzte ihres +Lebens ist. Anfangs Dezember wird sie von heftigen Brustschmerzen +überfallen, die sich nach einer fiebrigen Nacht in Schlafsucht lösen. +Am dritten Nachmittag wacht sie auf und streicht ihr dünnes Haar +zurecht wie ein Mädchen, das sich verschlafen hat: Siegfried hat +wie Christus keinen Sohn gehabt, sagt sie aus ihrem Traum und muß +noch lächelnd weinen, weil sie an ihren Jakob denkt. Als sie dann +kopfschüttelnd über ihre Verwirrung aufgestanden ist und auf dem Sofa +sitzt, hebt sie die beiden Hände vor die Brust und sieht ihn aus einer +tiefen Verwunderung an: Wie seltsam ist dies, Pestalozzi, in Schlaf +zu fallen und wieder zu erwachen! Er hört nicht recht darauf, weil er +ihr die Schuhe holen will; auch fällt ihm ein, daß nun bald wieder +Weihnachten und Neujahr ist, wo er in der Kapelle sein Haus ansprechen +muß, und wie er diesmal eher ein Brot, aus Gottes Korn gebacken, +mitbringen könne als einen Sarg! Weil solche Einfälle in ihm ihr +eigenwilliges Leben haben, ist er gleich eifrig dabei, Gedanken daran +zu schnüren, indessen sie -- nicht anders glaubt er -- die Hände sinken +läßt, noch einmal in ihren Schlaf zu fallen. Aber wie es darüber +dunkel in der Stube wird und er die Messinglampe holt, die auch den Weg +vom Neuhof hierher gefunden hat, sieht er, daß sie zu dreien im Zimmer +gewesen sind, von denen zwei ihm unbemerkt weggingen. + + + 96. + +Als Anna Schultheß begraben wird, die für Heinrich Pestalozzi durch +achtundvierzig Jahre das Senkblei seiner Stürme gewesen ist, gibt +es eine Trauerfeier für Ifferten, als ob wirklich die Schloßherrin +gestorben wäre. Eilfertige Liebe hat bei der Regierung in Lausanne +bewirkt, daß ihr Sarg im Schloßgarten beigesetzt werden darf, unter +zwei alten Nußbäumen, die sie gern hatte; und für Heinrich Pestalozzi +ist schon der Platz daneben bereit. Irgendwer heftet ihm den +Wladimirorden an den Rock, und auch sonst ist soviel Sorgfalt um die +feierliche Stimmung des Tages bemüht, daß er sich als die willenlose +Hauptfigur dieser Handlung umher geschoben fühlt und erlöst ist, +endlich aus dem Schwall von Glockengeläut und feierlichen Mienen in +seine Stube zu können. Er hat noch immer für das Frühjahr heimliche +Pläne mit dem Neuhof gehabt, und es sollte eine gemeinsame Heimkehr +aus der welschen Fremde sein. Nun hat er keine Heimat mehr; denn Anna +liegt hier in der fremden Erde und wartet auf ihn. Ob seine ruhelosen +Gedanken auf den Wegen der Vergangenheit mit Vorwürfen und Klagen +seiner Unbeständigkeit nach ihr suchen, diese Qual steht unbeweglich in +ihm: Nun bin ich schiffbrüchig, klagt er, und niemand kann mir wieder +ans Land zurück helfen! + +So erlebt er seinen siebzigsten Geburtstag einsam und düster, und auch +die Zustände in der Anstalt sind nicht mehr so, daß sie ihn aufheitern +könnten. Als ob er nur den Tod der Hausmutter abgewartet hätte, ist +der Lehrerstreit heftiger als je ausgebrochen; die Kränze liegen noch +auf ihrem Grabhügel, da sind die Hände, die sie banden, schon wieder +in Feindschaft geballt. Sie haben den Tiroler gerufen, daß er Ordnung +in die Verwahrlosung brächte, nun er Unmenschliches leistet, die +Anstalt zu retten, nehmen sie Anstoß an seinen Mitteln: Obwohl nur noch +achtundsiebzig Zöglinge da waren, als er kam, lebten zweiundzwanzig +Lehrer von den Einnahmen; er kündigte den Entbehrlichen und kürzte das +Gehalt der andern, er sorgte für einen Stundenplan, der die Lehrkräfte +ausnützte, und sah unbeugsam darauf, daß er eingehalten wurde; er +richtete eine Buchführung ein, darin kein Rappen seitwärts ging, und +räumte mit den Niedererschen Verlagsgeschäften, der Buchhandlung und +Druckerei auf. Auch kann ihm niemand nachsagen, daß er den eigenen +Vorteil suche, weil er am ersten Tag seine mühsamen Ersparnisse ohne +Schein und Zins in das Loch der Verschuldung hineingeworfen hat. So ist +er in Wahrheit der unabänderliche Stundenschlag, der alles bedrängt, +was faul und sorglos ist. + +Der, den es am ärgsten trifft, ist Niederer; er war die rechte Hand +und soll nun gehorchen, wo die linke kommandiert. Mehr als je hält +er sich für den Herold der Methode und verachtet den unwissenden +Rechenmeister: so wird er die Brandstelle für die Verstimmung der +andern. Verbittert durch den Undank, und daß sie ihm mit ihrem Streit +diese Zeit entweihen, stellt sich Heinrich Pestalozzi selber vor ihren +Groll, Schmid zu schützen; um zu erfahren, daß sich seit den Tagen +Steinbrüchels nichts für ihn geändert hat: kein Lehrer damals hat ihm +seine Mängel grausamer vorgehalten, als es nun die eigenen Gehilfen +tun, und namentlich Niederer führt eine Sprache, als ob er nur das +verunreinigte Gefäß von Ideen wäre, die in seinem Feuer viel reiner und +mächtiger brennten. Ach, daß ich einmal gerade und einfach meine Straße +gehen könnte, klagt Heinrich Pestalozzi, statt immer auf die Folter +meiner Unfähigkeit gespannt zu sein! + +Darüber wird es Pfingsten, und die Konfirmanden der Anstalt sollen +durch Niederer in die Christengemeinschaft aufgenommen werden; um +der besonderen Feierlichkeit willen sind auch viele Einwohner in der +Schloßkapelle, als er die Kanzel besteigt. Vorher haben die Zöglinge +eine Kantate aufgeführt, und wie draußen im jungen Grün ist in den +Herzen drinnen die Stimmung des Festes, das so seltsam dem Geist in der +Menschheit gewidmet ist, dem Heiligen Geist, der nach dem apostolischen +Glaubensbekenntnis sogar gleich dem Vater und Sohn als göttlich verehrt +wird. Das merkwürdige Mädchenwort seiner sterbenden Frau von Siegfried +und Christus ist Heinrich Pestalozzi noch nicht so aufgeblüht wie an +diesem Pfingstmorgen, wo es ihm wunderlich an die Schläfen klopft, +um wieviel heller und siegfriedhafter die Gestalt Christi in dieser +Erscheinung geworden ist als in seinem ganzen Leben von Bethlehem +bis Golgatha. Der Geist macht lebendig, sagt er glückselig vor sich +hin, indessen der Brustton Niederers mit wahren Wortschauern über +die Versammlung regnet. Und merkt erst, daß etwas geschieht, als die +Worte, die eben noch so rauschend flossen, gehackt und heiser in die +Stille fallen, die sich ihnen erschrocken entgegenstellt. Und auch +dann muß er seine verstörte Seele lange an der Schulter rütteln, daß +es Wirklichkeit sei, wie Niederer sich auf der Kanzel mit hadernden +Worten von ihm lossagt und ihm am Pfingstfest vor der Gemeinde sein Amt +hinwirft. + +Der Zorn faßt ihn augenblicklich, und er hört seine Löwenstimme +durch den Raum schallen, ihm den Frevel zu verweisen, bevor er die +Worte bedenken kann. Der rote Niederer bringt danach seine Rede +zu Ende und spricht auch das Gebet zum Schluß wie sonst; es ist +Heinrich Pestalozzi, als müsse ein Wasser einbrechen und sie alle +hinausschwemmen, die statt einer Pfingsterbauung nur die Häßlichkeit +dieser Zänkerei in der Seele haben. Er spricht mit keinem, als sie +hinausgehen, senkt seine Augen vor den Zöglingen und flüchtet in sein +Zimmer wie ein Gerichteter: Es ist mein Haus, in dem das geschah, und +es ist mein Werk, das zu diesem Ende zielte! + +Andern Tags erhält er von Niederer einen Brief; er zittert, daß eine +Abbitte des Frevels darin sein möchte; als er ihn öffnet, ist es eine +Aufrechnung seines Stundengeldes. Unter allen Mißlichkeiten seiner +Lebenserfahrung ist ihm keine so verhaßt wie die, immer wieder an +den Punkt zu kommen, wo die menschlichen Verhältnisse mit Franken +und Rappen bezahlt werden. Er fürchtet, daß der Streit hierin noch +häßlicher auslaufen möchte, schickt ihm am selben Tag das Geld und +zugleich für die geborene Kasthofer eine Generalquittung, daß er auf +alle Ansprüche aus dem Mädchenheim verzichte, sich aber bereit erkläre, +was sie noch etwa zu fordern habe, als gültig anzunehmen und zu +bezahlen. Nur endlich fort in eine reinliche Welt, fleht er, als er die +Quittung fortschickt; und die Gewißheit, zum wenigsten in Geldsachen +durch das Ordnungswerk Schmids nicht mehr unfähig zu sein, gibt dem +Abschied eine grimmige Tröstung bei. + +Unterdessen hat der Austritt Niederers dessen Freundschaft mitgerissen; +in den nächsten Tagen kündigen ihm andere Lehrer den Dienst, sodaß er +zum guten Teil mit Schmid allein in der Anstalt bleibt, die dadurch in +der Wurzel angeschnitten wird. Und als er sich durch diese Kündigung +doch wieder in das Elend des Streites zurückgeworfen sieht, den er mit +der Quittung aus dem Haus senden wollte; kommt ihm das Papier selber +höhnisch zurück. Niederer und seine Gattin erkennen die Quittung nicht +an; sie glauben, selber viel höhere Forderungen an ihn zu haben, deren +er sich dadurch mit einer böswilligen Unterstellung entledigen wolle, +und melden den Streit beim Friedensrichter an. + +Es ist schon dämmerig, als er diese Nachricht erhält in Worten, +die ihn als einen Satan von Bosheit und hinterlistiger Berechnung +hinstellen. Und nun erst erlebt er, wie die äußere Ruhe dieser Tage +eine Selbsttäuschung gewesen ist, wie das Erlebnis in der Kirche noch +garnicht auf den Grund seiner Seele gekommen war: jetzt schlägt es den +Bodensatz seiner Verbitterung auf; daß er meint, in Verzweiflung und +Galle ausfließen zu müssen. Warum lebe ich noch! jammert er und irrt +hinaus in den Abend, um aus der Welt seiner Unfähigkeit fort zu laufen. +Die Sonne des Frühsommertages hat nicht alle Helligkeit mitnehmen +können hinter die Juraberge; nur unter den hohen Bäumen hat der Abend +seine Schatten eingesetzt, über dem See und auf den Wiesen an seinem +Ufer liegt das vergessene Licht bis hinauf in den unwirklich hellen +Himmel: Es ist der Dämmerungsspuk meines übriggebliebenen Daseins, +fühlt er, indem er schwer gegen das aufrauschende Wasser vor seinen +Füßen angeht, es will nicht Nacht werden und ist doch kein Tag mehr! + +Als es Mitternacht schlägt, findet er sich in nassen Kleidern unter den +Nußbäumen im Schloßgarten wieder. Sie haben ihr einen gemeißelten Stein +aufs Grab gesetzt und auch da schon Raum gelassen für seinen Namen. +Ach, daß ich darunter läge, weint seine verzweifelte Seele; gleich +aber jagt sein Zorn auf, daß es der Boden seiner Feinde sei, darin er +liegen soll. Sie haben mir schon lebendig den Grabstein aufgesetzt, +schreit etwas in ihm, und als ob alle Feindschaft dieser Tage gegen +ihn stände in diesem Stein, springt er ihn an und rüttelt an seiner +Unbeweglichkeit und rast mit Wahnsinnskräften, bis er ihn wanken fühlt. +Und obgleich Orgelstimmen in ihm aufquellen, ihn zu warnen: er vermag +die Raserei nicht aus den Händen zu bringen, bis der Steinklotz sich +hintenüberneigt und dumpf ins Erdreich schlägt. Da erst sieht er, daß +seine Füße auf dem Grab und den zerstampften Blumen stehen; der Bann +weicht von ihm, und mit einem wehen Aufschrei wirft er sich hin. + + + 97. + +Noch lange danach, wenn Heinrich Pestalozzi an diese Nacht denkt, +fürchtet er, den Verstand von neuem zu verlieren, so fürchterlich +ist seiner Seele der Einbruch sinnloser Wut noch in der Erinnerung. +Schmid hat ihn andern Tages nach Bulet auf den Jura gebracht, wo ihn +der Bergwind und die Stille in eine starke Kur nehmen. Soviel er kann, +kommt Schmid abends die drei Wegstunden noch zu ihm herauf; aber er mag +nichts mehr von Ifferten hören, fast abergläubisch ist seine Furcht, +noch einmal in die Hölle der Feindschaft hinunter zu müssen. Ich bin +wieder auf dem Gurnigelstein, sagt er bitter, diesmal endgültig, weil +mich die Welt nicht brauchen kann! + +Aber Schmid hat ein Heilmittel bereit, das ihn aus der Wüste wieder zu +den fließenden Brunnen seines Lebens bringt. Schon vor dem schlimmen +Pfingstfest ist er nach Stuttgart zu dem Verleger Cotta gefahren, um +einer Gesamtausgabe der Schriften willen; er hat auch einen Vertrag +zustande gebracht, aber wie günstig dessen Bedingungen sind, zeigt sich +nun erst, als die Vorausbestellungen anfangen, einzulaufen. Der Kaiser +von Rußland steht mit fünftausend Rubel an der Spitze, und gegen den +Herbst kann Heinrich Pestalozzi aus seinem Anteil mit einer Einnahme +von fünfzigtausend Franken rechnen. Das ist ein Erfolg, den er auch +in hoffnungsvollen Stunden nicht erträumte; nun kommt der Segen in +die Entmutigung. Also bin ich den Leuten doch nur ein Buchschreiber +geblieben, sagt er zuerst noch grollend und will auch nichts mehr von +seinen Schriften wissen. Als er sie endlich zur Hand nimmt, in seiner +Bergstille zu prüfen, was die bittere Erfahrung dieser Jahre daran +geändert habe, packt ihn allmählich doch der Eifer, das Veraltete darin +neu zu sagen. Damit wird er, sich selber unbemerkt, auf die Heerstraße +seines Lebens zurück geführt; er sieht wieder, in wieviel Abenteuer +er für die Befreiung der Menschheit gezogen ist, und wird Blatt für +Blatt aufs neue begeistert für den Sinn seiner Sendung: die Treppe der +Bildung in das Haus des Unrechts zu bauen. + +Selbst, was die Geißel seines Lebens gewesen ist, die eigene +Unbrauchbarkeit, die er -- in seiner Krankheit nichtswürdig vollendet +-- aus dem Seeboden herauf brachte in die Juraluft, hört auf, ihn zu +lähmen: Ich sollte nicht anders sein, als ich da bin; Gott hat meine +Seele gemacht, nicht ich; er wird wissen, warum sie solch ein unreines, +undichtes und verbeultes Gefäß sein mußte! Vielleicht, oder gewiß, daß +ich anders dem Menschengeist untauglich gewesen wäre, weil es doch +soviel saubere und glatte Kannen gibt, darin nur Selbstgefälligkeit +ist. Und darf ich wohl klagen, daß es mir übel ging, wo es meine +Begnadung war, um der Menschheit willen aus Schuld Und Irrtum zu lernen? + +Wenn er in solchen Gedanken von der sonnigen Bergweide hinunter +sieht über den See, der von hier oben betrachtet mit seinem Becken +tief in die Berge gezwängt ist wie das Tal unterm Gurnigel, kann es +ihm geschehen, daß ihn schon wieder ein Lächeln anfliegt, weil er das +großmächtige Dach des Zähringer Schlosses klein wie ein Spielzeug +sieht: Es waren nicht seine vier dicken Türme, die mich ängstigten -- +sie sind garnicht dick, ein Finger vor meinen Augen hält sie alle vier +zu -- es war der babylonische Turm meiner Erziehungsanstalten. Was +mir nur ein Mittel sein sollte, meine Methode klar zu machen und mir +das Geld für mein Armenkinderhaus zu bringen, das ist mir in Wahrheit +über den Kopf gewachsen, so hoch, daß ich vom Himmel nur noch das +Viereck über meinem Gemäuer sah. Hätte ich Waisenvater in Stans bleiben +können, wäre meine Welt klar und einfach und übersichtlich für meinen +Verstand geblieben. Ich hätte es schwerer gehabt, gleichviel, ich wäre +glücklicher gewesen! Und Heinrich Pestalozzi freut sich wie ein Knabe, +als er auf der Kuhweide in Bulet ein Wort findet, das ihm alle Qual der +letzten Monate in einen bittersüßen Scherz umkehrt: Weil ich es leicht +hatte, weil ich es mir zu leicht machte, nur darum bin ich unglücklich +geworden! Und jedesmal -- wie ein Sennbub wettend die Hand hinhält -- +steht hinter dem Wort und dem Gedanken sein Mut schon wieder auf beiden +Beinen da: Topp, was gilts? Mein Leben hat noch Raum, glücklich zu +werden! + +Als er im Herbst von seinem Berg herunter kommt, nußbraun von der +Sonne, daß seine Augen wie zwei Porzellanschilder darin stehen -- hat +ihm Schmid in die Hand versprochen, daß er den Traum seiner Seele, +sein Armenkinderhaus, sogleich versuchen darf. + +Er findet ein Gebäude dafür in dem benachbarten Clindy; denn nun hat er +keine Fluchtgedanken mehr: meine Welt ist überall! sagt er, der sich +mit den Einnahmen aus seinen Schriften fürstlich genug vorkommt, die +Heimat des Werkes selbst zu wählen. Auch Gottlieb, der Enkel, der von +den Frauen einem Gerber in die Lehre gegeben war -- damit er einmal +fester als sein Großvater im Leben stände -- und der ihm zu Neujahr +fröhlich wiederkommt, will gern hier bleiben, wo seine Mutter und die +Großmutter begraben liegen. Ich habe meinen Jungbrunnen wieder! sagt +Heinrich Pestalozzi, und als er in sein dreiundsiebzigstes Jahr tritt, +liest er den Seinen zum Geburtstag eine Rede vor, die ihnen und der +Welt ein Testament seiner befreiten Stimmung sein soll; sie schreitet +Schritt für Schritt noch einmal die Absichten seines Lebens ab, um mit +dem letzten in Clindy am Ziel zu sein. Gleich für den Neuhof hat er die +Betteltrommel rühren müssen, und bis ins Alter sind ihm die Geldsorgen +auf den Fersen geblieben: jetzt endlich einmal steht er selber als +Stifter da, und keine Stunde in seinem Dasein ist er so stolz im Glück +gewesen wie nun, da er die fünfzigtausend Franken als ewiges Kapital +für seine Anstalt in Clindy stiftet. + +Es ist die Höhe seines Lebens, die er nun in der dünnen Luft seines +Alters doch noch erreicht. Als ich auszog, war ich Einer; jetzt sind +es Tausende in der Welt, die meinem Gedanken diese Hülfe bringen! Aus +dem Einsiedler im Neuhof ist eine Gemeinde in Europa geworden; mein +letztes Werk in Clindy soll dem Menschengeist in Europa eine andere +Stunde der Befreiung einläuten als das Jakobinertum der Revolution! +In Stans, wo ich meine Schulmeisterschaft begann, ist auch die Heimat +von Winkelried, der in der Schlacht bei Sempach dem Vaterland mit +seiner Brust eine Gasse durch die Lanzen machte: mir hat es die Brust +zerstochen gleich ihm, aber nun ich sterben gehe, schallt Sieg um mich, +weil ich die Gasse der Menschenbildung gebrochen habe! + + + 98. + +Es sind die Sturmtage mit jagenden Regen- und Hagelschauern, die +das schönste Abendrot auftun und die Berge mit den Wolken in eine +Herrlichkeit verklären. Aber leicht ist dann noch hinter den Bergen +ein Hinterhalt der kalten Winde, die den Nachthimmel doch wieder mit +schwarzem Sturmgewölk bedecken, als ob der Aufruhr nun in die hohen +Lüfte gekommen wäre, indessen die Nacht sich ruhig in die Täler der +Erde legt. So brennt die Abendröte Heinrich Pestalozzis in die letzte +Täuschung hinein: er hat die fünfzigtausend Franken aus den Händen +gegeben, ehe sie darin waren; erst nach drei Jahren kommt eine Rate +von zehntausend Franken an; so kann er die Anstalt auftun, aber nicht +halten. Niederer hat den Streit um Mein und Dein zu einem Prozeß +gemacht. Demütigung und Trotz, Zorn und Verzweiflung, Liebe und Verrat: +alles jagen die kalten Winde aus dem Hinterhalt der Berge in den +Sturmhimmel der sinkenden Nacht. + +Noch sechs lange Jahre bleibt Heinrich Pestalozzi in Ifferten, und +immer mehr entsinken die Zügel seiner zitternden Hand; wohl hält +Schmid die Peitsche, die Pferde doch noch in den Stall zu bringen, +aber längst schon ist es kein fröhlicher Trab mehr, den sie laufen; +sie sind vom Weg gekommen, und ihre Beine stapfen im Moor, das die +Räder versinken läßt, bis keine Hoffnung bleibt, den Wagen zu retten: +sie müssen abspannen vor der Nacht und mit den Pferden den Heimweg +nach dem einsamen Licht suchen, das aus der Ferne leuchtet. Es kommt +vom Birrfeld, wohin sein Enkel Gottlieb mit der Schwester Schmids, als +seiner jungen Frau, ihnen voraus gegangen ist, den dritten Hausstand im +Neuhof zu versuchen. Am letzten Februar seines achtzigsten Jahres nimmt +Heinrich Pestalozzi Abschied von dem Grabstein unter den Nußbäumen; +seine Hände sind nicht mehr stark genug, daran zu rütteln, und in +seiner Seele rast kein Zorn mehr: Ich muß heim, Anna, klagt er, du +bleibst unter deinem gemeißelten Stein; ich armer Müdling gehe bei den +Enkelkindern im Birrfeld eine Zuflucht suchen. Aus Reichtum und Armut +kamen unsere Wege zusammen, nun scheidet sich der meine in die Armut +zurück; dich lasse ich im Schloß, als dessen Herrin sie dich begruben! + + + 99. + +Der Schnee vergeht im Tauwind, und die Wasserrinnen ziehen schwarze +Striche hindurch, als Heinrich Pestalozzi nach siebenundfünfzig Jahren +zum zweitenmal auf das Birrfeld kommt: Es gibt keinen Punkt auf +diesem meilengroßen Kirchhof, sagt er zu Schmid, darauf ich nicht eine +Erinnerung als Grabstein stellen könnte! Aber wie sie gegen den Neuhof +fahren, steht Lisabeth da, die fast ein halbes Jahrhundert lang seine +Schaffnerin gewesen ist, und hängt Kinderwäsche in den Wind. So bin ich +auch noch Urgroßvater geworden! will er sagen, aber der Boden seines +Lebens bricht durch, daß Anna und Jakob, sein Enkel Gottlieb mit seiner +Frau nichts mehr als die Erinnerung eines fremden Romans in seiner +Seele sind. Ich habe mich verspätet, Babeli, ruft er und will aus dem +Wagen zu ihr hinspringen; doch sind ihm die Beine steif von der langen +Fahrt, und ehe er an die Gartentür kommt, steht Lisabeth statt ihrer +vor ihm und nimmt ihn an der Hand: Wir haben erst für morgen auf Euch +gerechnet, Herr Pestalozzi, aber die Suppe wird bald gerichtet sein! Er +sieht ihr hartes, treues Gesicht und findet das Babeli nicht; als ob er +sich verirrt hätte, tritt er in das Haus. Auch als sie ihm den Urenkel +darbringen, betrachtet er das eigene Geschlecht kopfschüttelnd wie +ein fremdes und beugt sein braunes Runzelgesicht über das Kissen, als +ob er sich vor ihm entschuldigen müsse: Ich will hier nur den andern +Wagen abwarten, sagt er und merkt nicht, daß seine Tränen dem Säugling +ins Gesicht tropfen, bis der ein Geschrei anhebt und in die Kammer +zurückgebracht wird. + +Als danach die letzten Leintücher des Winters aus dem Birrfeld +verschwinden und die Quellen wieder klar fließen, geht er viel um den +Neuhof herum, die Obstbäume zu suchen, die noch aus seiner Zeit stehen +geblieben sind -- es ist mancher ein Krüppel geworden, den er noch als +schwankes Stämmchen kannte -- da drängen sich die Grabsteine seiner +Erinnerung am dichtesten, und je nachdem sie lustig oder ärgerlich +sind, kann er zornig brummen oder lachen. Wenn ihn die Birrer so sehen, +wie er mit dem Halstuchzipfel im Mund seine ewige Unterhaltung hat, +sagen sie, er sei kindisch geworden; aber die Alten, die ihn noch +kennen, wehren ab: so sei er immer gewesen, im Streit mit den eigenen +Gedanken. Daß sie ihn die schwarze Pestilenz nannten, will keiner so +recht mehr wissen; alle aber wundern sich, wie er mit seinen achtzig +Jahren noch rüstig zu Fuß ist und weder einen Gang nach Brugg oder +hinauf nach Brunegg anschlägt, wo die Frau Hünerwadl -- ehemals seine +Schülerin zu Ifferten -- ihm noch immer wie eine Tochter anhängt. +Wenn ihm der Berg zuviel geworden ist in der Maisonne, fordert er +sich von ihr ein Ruhebett, ein Stündchen friedlich zu schlafen. So +lebt er den ersten Frühling, als ob er nur auf den Tod warte und von +der Rastlosigkeit seines langen Lebens allein noch seine schrulligen +Gewohnheiten hätte. + +Wie dann aber die Maienblust auch im Birrfeld ihre weißen Fahnen weht +mit Wolken und Blühebäumen und in Schinznach wieder die Helvetische +Gesellschaft tagt, in der er vor einundfünfzig Jahren den Vortrag des +Landvogts Tscharrner hörte, läßt er sich hinüber fahren und erscheint +unter den Jungleuten, die da im Geist ihrer Väter und Großväter raten. +Es lebt keiner mehr aus jenen Tagen, und so steht er erschüttert am +selben Ort und in der selben Stube unter den fremden Gesichtern einer +neuen Zeit; aber es sind wenige da, die ihn nicht kennen, und auch +diese Wenigen schätzen es als ein Glück, den Greis zu sehen, der wie +eine ehrwürdige Gestalt der Vorzeit in ihre Gegenwart eintritt. Und +so erlebt Heinrich Pestalozzi noch einmal, daß es außer den Zürcher +Humanisten und den Berner Aristokraten doch andere Schweizer gibt, +die ihm innig anhängen; und daß es die besten seines Volkes sind, die +sich hier treffen, weiß er aus seinen Tagen. Es wird ein Jubel ohne +gleichen, als sie ihn zu ihrem Präsidenten wählen; und wenn er sich wie +ein dürres Eichblatt vorkam, als er eintrat, vom Wind in ihr junges +Grün geweht: so geht er andern Tags fort in dem Gewühl eines Baumes, +der seine Blätter rauschen hört. + +Seit diesem Maitag drängen die Säfte noch einmal hoch, die ihm selber +in der Vereinsamung und Enttäuschung der letzten Jahre eingetrocknet +schienen. Seine Wurzeln haben die Heimat wiedergefunden; aber es ist +nicht das Birrfeld, es ist das ganze Schweizerland, darin er sich +gewachsen fühlt, indessen zu Ifferten nur das Gezänk von Lehrern und +Zöglingen war. Nun braucht ihn niemand mehr an die noch ausstehenden +Bände seiner Gesammelten Werke zu mahnen; eher müssen die Seinen +aufpassen, daß er sich nicht zuviel zumute. Sie haben ihm einen +Mann gefunden, der sein Diener und Schreiber in einem ist, einen +ordentlichen Glarner, namens Steinmann; der hat nun manchmal bis +tief in die Nacht zu schreiben, während Heinrich Pestalozzi nach +der Gewohnheit seines müden Rückens in den Kleidern auf dem Bett +liegt und unermüdlich das Band seiner Gedanken abwickelt. Ehe er es +selber gedacht hat, ist er mitten darin, noch einmal die Lehre seiner +Menschenbildung darzustellen. Er nennt es seinen Schwanengesang, +und der treue Steinmann muß oft genug anhören, wieviel Wehmut und +Schelmerei sich in dem Titel mischen; denn als er noch einmal mit dem +Eifer seines Alters das Ziel und die Mittel seiner Lehre durchgegangen +ist, als ob er behend eine Leiter hinauf liefe, die er sich Sprosse +für Sprosse selber mit dem Schnitzmesser machen mußte: kommt er wieder +an das Fragezeichen, das ihm seine Lebenserfahrung als Fähnchen oben +hingesteckt hat: Warum, wenn dies alles so klar und notwendig ist, +warum bin ich selber mit meinen Versuchen immer wieder gescheitert und +als ein Unbrauchbarer auf den Neuhof zurückgekehrt? + +Noch einmal zieht er die Lehre aus seinem Leben, die ihm die harte +Juraluft in Bulet gab, daß er ein unreines und verbeultes Gefäß für +seine Lehre gewesen sei; und der selbe Bekennerdrang, der ihm den +Sarg in die Kapelle stellte, läßt ihn nun nach den Mängeln seiner +Natur und ihrer Erziehung suchen. Sich selber unerwartet schreibt +er mit achtzig Jahren seine Lebensgeschichte; aber es ist weder +Altersgeschwätzigkeit noch Eitelkeit oder Jugendwehmut darin, es wird +die Schicksalsgeschichte seiner Fehler und Schwächen. Und er ist tapfer +genug, vor Ifferten nicht Halt zu machen; obwohl ihm doch wieder +Bitterkeit und Zorn einfließen, daß er oft genug an den Bodensatz +seiner Verzweiflung kommt, läßt er nicht nach, bis er auch da seine +Lehre und ihre Gültigkeit von seiner eigenen Unbrauchbarkeit gereinigt +hat. + +Der Sommer weht ihm darüber hin wie kaum einer in seinem Leben; es wird +Herbst und Winter, ehe er es weiß, und erst, als wieder Frühjahr um +ihn ist -- es sind nur einundachtzig Lenze, denkt er, man könnte sie +in einer Minute zählen, wenn sie neben- statt hintereinander ständen; +und nur, weil man immer eins durchs andere sieht, scheint es wie eine +Unendlichkeit -- kann er die Druckbogen absenden. Es ist unterdessen +noch einmal bunt um ihn geworden; seitdem er sich so unvermutet in +Schinznach zeigte, wissen viele, daß er wieder im Land ist; und mancher +erinnert sich seiner als eines Ideals der eigenen Jugend, das er über +den toten Jahren zu Ifferten fast vergessen hat, als ob Heinrich +Pestalozzi längst gestorben wäre: nun ist er für den Aargau von den +Toten auferstanden, und es vergeht selten ein Tag, der ihm nicht einen +Dank zubrächte, ein Stück seines Menschengeistes, das irgendwo zum +eigenen Leben kam und sich seines Schöpfers erinnert. Er hat sich noch +einmal durch den Groll schreiben müssen: es waren die Reste des alten +Mannes in mir, denkt er nun oft mit den Worten Annas; seitdem ich den +los bin, ist mir frei und leicht. + +So geht er zum andernmal in die Helvetische Gesellschaft, diesmal +nach Langental als ihr Präsident; und was im vergangenen Jahr eine +Überraschung gewesen ist, fällt nun als Springbrunnen des Segens auf +ihn zurück. Er fühlt es und sagt es auch: dies ist der Dank meines +Landes! und alle bitteren Jahrzehnte wiegen nun die eine Stunde +nicht auf, da er sich im Kreis dieser Männer und Jungmänner als eine +Lebensquelle fühlt, die immer noch über den Rand zu fließen vermag. Er +kommt beschüttet vom Glück und mit der seligen Wehmut heim, daß es sein +letzter Tag in ihrem Kreis gewesen sei, weil er ein Nocheinmal nicht +ertrüge. + +Im Spätsommer ist er immer noch rüstig genug, mit Schmid -- der seit +Ifferten ein Unsteter geworden ist und nun nach Paris will, um dort +eine französische Ausgabe der gesammelten Werke einzurichten -- bis +Basel zu reisen; in die Stadt, die ihn, das weiß er, bis auf den Tag +verachtet in dem Hochmut ihrer gesicherten Kultur, und die ihm doch +zweimal durch einen ihrer Bürger zur Rettung geworden ist. Ich hätte +nicht her kommen sollen, klagt er; es stimmt ihn wehmütig, die Gassen +und Häuser wieder zu sehen, die einmal lebendig um sein Leben standen +und jetzt für ihn gestorben sind. Doch läßt er sich durch Schmid +verleiten, im Wagen nach Beuggen hinaus zu fahren, wo Zeller ein +Waisenhaus in seinem Sinn führt. Da hat sich die Anstalt seit Tagen +gerüstet, den Vater der Waisen zu empfangen, und die Kinder treten ihm +mit Gesang entgegen. Er weiß beim ersten Ton: das hätte ich mir nicht +antun dürfen, meinem versagten Herzenswunsch das Bild eines fremden +Gelingens zu zeigen. Sie wollen ihm einen Kranz überreichen, aber er +wehrt ihn ab und wankt vor ihnen in den Saal, wo ein Ehrenpult steht, +daß er zu den Kindern spräche. Vorher singen sie noch einmal: + + »Der du von dem Himmel bist, + alles Leid und Schmerzen stillest, + den der doppelt elend ist, + doppelt mit Erquickung füllest, + ach! ich bin des Treibens müde! + Was soll all der Schmerz und Lust! + Süßer Friede, + komm, ach komm in meine Brust!« + +Hat ihm schon draußen der Gesang an sein tiefstes Leid gerührt, +so reißt er ihn nun zu Tränen hin, daß er meint zu ersticken. Die +Goetheschen Verse, die ihm schon in Lienhard und Gertrud klangen, wie +wenn irgendwo in der Welt eine Quelle der Liebe unerschöpflich quölle, +ergreifen ihn nun in ihrer überirdischen Schönheit; er vermag vor den +Augen dieser Waisen, die alle mit fragender Neugier an seinem Schmerz +hängen, nichts als aus der Tiefe seines Herzens zu schluchzen, wie +vielleicht in seiner ersten Jugend, aber nie mehr in seinem bitter +gesegneten Leben. + +Der Tag hat ihm in seine Heiterkeit einen Schnitt gemacht, der nicht +wieder heilt. Obwohl sein Verstand kopfschüttelnd dabei steht, er +vermag seiner Seele nicht Halt zu gebieten, die nun ihre Sehnsucht +immer nach der gleichen Seite fließen läßt, bis sein Enkel Gottlieb ihm +nachgiebt und neben dem Neuhof noch den Bau eines Armenkinderhauses +beginnt. Er weiß es genau und sagt es sich immer wieder, daß er nicht +mehr hineinkommt, daß es aus seinem Leben in die Nachwelt gebaut wird; +aber er kann seine Hände nicht davon lassen, und wieder wie damals am +Neuhof steht er unter den Bauleuten, ihnen übereifrig Handreichung zu +tun, obwohl es nasser Schnee ist, darin seine Füße kalt werden. + +Unterdessen ist sein Schwanengesang erschienen; aus seiner +Lebensgeschichte hat ihm der Verleger die Jahre in Ifferten +herausgenommen, er hat sich aber nicht abhalten lassen, daraus eine +besondere Schrift zu machen, die er »Meine Lebensschicksale« nannte. +Lobendes und Tadelndes kommt ihm darüber zu, es ist ihm nicht mehr +wichtig, seitdem er in Beuggen war: Ich bin auf dem Altenteil der +Seele, sagt er dem Steinmann, der Menschengeist muß sehen, wie er +allein in der Welt zurecht kommt! Aber im Spätwinter fällt ihm die +Antwort aus Ifferten wie ein Stein auf den Tisch; Niederer hat ihn +geworfen, jedoch nicht die Tapferkeit gehabt, dafür einzustehen, sodaß +nun ein junger Lehrer an der Mädchenschule mit dem Namen Biber die +Schrift decken muß. Als Heinrich Pestalozzi die Anklage liest, die ein +ziemliches Buch ist, hat er ein Gefühl, als ob er noch immer lebe, aber +die Welt um ihn hätte ihren Lauf eingestellt. Vor einem halben Jahr +würde er es verwunden haben, sich aus dem eigenen Haus als Lügenvater +und als Wahnsinniger beschimpft zu sehen; jetzt nach dem Tag in Beuggen +trifft ihn der Dolchstich, daß er hinstürzt. + +Mitten aus seiner hartnäckigen Gesundheit haben sie nun im Neuhof einen +Kranken zu pflegen, dem das Fieber aus der Seele in den Körper zu +rasen scheint. Schon liegt er von Schmerzen zerrissen auf dem Bett, da +will er noch die Antwort schreiben, und er fleht den Arzt an, ihm ein +paar ärmliche Wochen zu schenken, da er vorher doch so sinnlos lange +gelebt habe! Nicht mehr wie sonst vermag er zu diktieren, er muß die +Feder selber führen, und es ist grausig für den getreuen Steinmann, daß +er ihn vielmals ohne Tinte schreiben sieht: Tupfen, Herr Pestalozzi, +tupfen! sagt er ihm immer wieder; aber die gequälte Seele sieht nicht +mehr, was sie tut. + +Die Schmerzen werden bald so stark -- es sind Harnbeschwerden -- daß +der Arzt ihn nach Brugg haben möchte, um besser nach ihm zu sehen. +Noch liegt dicker Schnee, als sie ihn mit Kissen und Decken in einen +Schlitten packen. Das ist mein Wagen, diesmal der letzte, sagt er zu +seinem Urenkel, den sie ihm aus der Wiege anbringen müssen, daß er den +fiebrigen Kopf über ihn neige; auch den andern gibt er mit tapferen +Worten die Hand, nur als sie an den halbfertigen Mauern des Armenhauses +vorbeifahren, hält er sich die weinenden Augen zu. + +Im Gasthaus zum Roten Haus in Brugg wartet die Sorgfalt auf ihn und +Steinmann ist da, ihn zu pflegen. Noch eine Woche lang strömt ihm +die besorgte Liebe seiner Freunde aus dem Aargau zu, und er ist wach +genug, sie zu empfinden; nur der Glarner, der ihn nun besser kennt +als irgend einer, sieht durch Tränen, wie er die Hände nicht mehr zu +halten vermag, die Hände und die Lippen, als ob er unablässig aus einem +niederstürzenden Schutt die Worte ausscharren müsse. + +Als es stiller damit wird, weiß der treue Diener zuerst, wer die Ruhe +bringt; und während die andern an seiner Heiterkeit wieder auf Genesung +zu hoffen wagen und mit ihm sprechen, als ob dies nur ein unpäßlicher +Aufenthalt auf einer Poststation sei, geht Steinmann in blinder Trauer +um seinen erwürgten Herrn beiseite. Bis mit dem Abend die Heiterkeit +aus den Augen Heinrich Pestalozzis auch in die Sprache kommt, daß +sie hell und frei wird wie bei einem Knaben, und endlich sich ein +überirdisches Lächeln um die Greisenlippen legt, dem nur die Augen +nicht standhalten, weil sie im Anblick der jenseitigen Welt erstarren +und für diese leblos aufgerissen sind: da schließt seine Dienerhand die +beiden Fensterläden, die zwischen dieses und jenes Leben von Anbeginn +der Menschheit gelegt sind. + + + + + Nacht + + + 100. + +Selten sind über das Birrfeld solche Schneemassen niedergegangen wie +in der Februarnacht, da der Glarner im Roten Haus zu Brugg Heinrich +Pestalozzi die erste Totenwacht hält; und erst am andern Nachmittag +ist soviel Bahn gemacht, daß sie ihn mühselig genug im Schlitten nach +dem Neuhof holen können. Da wird er bei Kerzenlicht in der Kammer +aufgebahrt, wo die stummen Dinge seiner Gewohnheit eine Woche lang +auf ihn gewartet haben; als ob er aus tiefem Schlaf erwachen wolle, +liegt er im Sarg, und das Lächeln glücklicher Träume scheint sich in +den Runzelfalten seines verwelkten Gesichtes zu verstecken. So ist er +über Nacht geworden, erklärt Steinmann dem Pfarrer und gibt auch seine +Dienerweisheit dazu: Der Körper freut sich, endlich die unruhige Seele +los zu sein! + +Am andern Vormittag begraben sie ihn auf dem verschneiten Dorfkirchhof; +der Wind fegt eisig über das Birrfeld, und die Wege zwischen den +Dörfern sind wie Maulwurfsgänge durch den meterhohen Schnee gegraben: +aber die Schulkinder aus der ganzen Kirchgemeinde kommen, ihm ein Lied +ins Grab zu singen, und die Schulmeister tragen den Sarg. Damit sie auf +dem Kirchhof stehen können, haben die Bauern dem Küster helfen müssen, +einen Hof aus dem Schnee zu schaufeln, und die gefrorenen Erdschollen +poltern gleich Steinen auf die Bretter: es ist ein anderes Begräbnis +als vor elf Jahren, da sie Anna Schultheß im Schloßgarten zu Ifferten +begraben. Das bäuerliche Dasein, aus dem er mit seiner Bitte an +Menschenfreunde hervortrat, hat seinen Leib zurück gefordert, und bevor +die Freunde im Land Und draußen seinen Tod erfahren, verweht der eisige +Wind den einsamen Grabhügel schon mit neuem Schnee. Als ihrer dann +einige mit dem Frühjahr kommen, staunen sie, wie das Mißgeschick ihm +bis auf den Kirchhof folgte: er ist mit seinem Sarg unter die Traufe +des Schulhauses geraten; der Regen, den das Dach von den Dorfkindern +abhält, gießt auf seinen Hügel. Statt des Rosenstockes, der darauf +steht, möchten sie ihm einen Stein setzen; aber der Enkel im Neuhof +zeigt ihnen ein vergilbtes Blatt, darauf er sich selber den Grabschmuck +wünschte. + +Der Stock trägt weiße Rosen und wird mit den Jahren ein Busch, der +im Frühsommer als ein schäumender Ball vor dem kleinen Schulhaus +steht. Selten kommt dann ein Fremder, der sich nicht eine Blüte davon +mitnähme; und an diesen Wallfahrten zu seinem Rosenstock merken die +Birrfelder, daß etwas von Heinrich Pestalozzi lebendig geblieben sein +muß. + + * * * * * + +Sein Sterbeteil ist längst vermodert, und die Seele Heinrich +Pestalozzis ruht im Zeughaus des Lebens aus von der Ruhelosigkeit +ihrer Tage; nur der Menschengeist, dem sie die schwingende Unruhe +war, reitet sein Abenteuer in die Unsterblichkeit. Die Zeiten sind +nicht danach, seinen Wahlspruch, Freiheit durch Bildung, beliebt +zu machen, und das prophezeite Jahrhundert der Menschlichkeit will +nicht anbrechen. Nach dem Traum der Befreiungskriege ist Europa +wieder eingeschlafen, und die deutsche Jugend der schwarzrotgoldenen +Burschenschaften wird hinter Gitterstäben von dem Traum kuriert. +Überall hat sich der Geist der Väter auf die vergoldeten Stühle der +alten Herrlichkeit gesetzt, und die Landreiter spähen, daß seine Hüte +an den Stangen in der schuldigen Ehrfurcht gegrüßt werden. Darüber +flackern die Menschenrechte, denen zuliebe soviel Köpfe abgeschlagen +wurden, zum andernmal auf in einer Revolution, aber diesmal schlägt ein +nasser Sack die Strohfeuer aus: Das Reich fällt noch einmal in einen +bleiernen Morgenschlaf, und über den Ozean her leuchtet ein Morgenrot, +dem die halbwachen Schläfer in Millionen zutaumeln. + +Indessen so von den Luftschlössern der Freiheit nichts übrig bleibt +als die Schwärmerei für Ruinen -- selbst der neue Napoleon begnügt +sich, von Gottes Gnaden auf dem angestammten Kaiserthron zu sitzen -- +ist aus den Zeiten Steins in Preußen der Eckpfeiler der Volksschule +durch alle Schwierigkeiten pietistischer Bedrängung stehen geblieben, +und im preußischen Lehrerstand reitet der Menschengeist von Heinrich +Pestalozzi sein Abenteuer in die kleinsten Dörfer. Längst ist die +deutsche Frage ein Rattenkönig geworden, da tut es bei Königgrätz einen +scharfen Schlag, der die Schwänze blutig auseinander reißt: Preußen +marschiert und ein geflügeltes Wort kommt auf, daß der preußische +Schulmeister die Schlacht an der Bistritz gewonnen habe. Dann +schmiedet Bismarck das neue Reich aus Blut und Eisen, wie es in den +Ruhmesblättern heißt; aber er selber schreibt aus Versailles an seine +Frau, daß Deutschland dem gemeinen Soldaten mehr als den Generälen den +Erfolg in Frankreich verdanke. + +Ich wüßte Einem, der mir folgte, eine Macht in Europa zu gründen, die +mächtiger als Bonaparte wäre; und ich sage euch, wer es am ersten mit +mir hält, dem wird die Herrschaft in Europa zufallen! hat Heinrich +Pestalozzi zu den Stadtherren von Ifferten gesagt, als sie von der +Audienz in Basel zurück fuhren: nun steht das Deutsche Reich mächtig in +Europa da aus seiner Lehre. + +Aber wenn der Armennarr vom Neuhof, der den Rockknopf des russischen +Kaisers nicht zu fassen kriegte, danach seine dritte Reise machte, +diesmal fröhlicher nach Berlin als damals nach Paris: er würde das +goldblinkende Dach des Reichstags staunend von außen betrachten und +in die zweite Volksschule nur aus dem Zweifel gehen, ob die erste mit +ihren sauberen Klassen und dem peinlich umzirkelten Lehrplan nicht ein +Blendwerk der Schulbehörde gewesen sei; er würde nach den Wohnungen der +Armen fragen und aus dem Prunk der Linden hinaus wandern in die trüben +Straßen, wo die Kinder in engen Höfen spielen; und unverdrossen mit den +ärmsten bis in die letzte Dachwohnung steigen: Ich will sehen, was die +Treppe der Menschenbildung aus dem Haus des Unrechts gemacht hat! + +Wohl würde er schaudern vor dem Haß des Klassenkampfes, aber er würde +sich tapfer zu seinem Anteil bekennen: daß der Arbeiterstand die +Gerechtigkeit nicht im Mist der Gnade verscharrt haben wolle, sondern +-- durch Bildung frei gemacht -- Macht gegen Macht einsetze, sie zu +ertrotzen. Er würde vor den Gewerkschaftshäusern und Konsumanstalten +beklommen vor Glück dastehen, daß aus der Masse von einzelnen Schwachen +soviel Stärke im Ganzen möglich wäre, und er ließe sich nicht mit +der Verdächtigung schrecken, daß da die vaterlandslosen Gesellen +ihre Kriegslager des Umsturzes hätten: Er hat es zu sehr am eigenen +Leib gespürt, wie rasch die herrschenden Mächte mit der bedrohten +Moral bei der Hand sind, wenn ihnen einer um der Gerechtigkeit willen +widerstrebt! Wie er dem Pfarrer Lavater einmal schrieb, daß er leicht +nach oben milder und nach unten strenger sei, als es sein Herr Jesus +Christus gehalten habe! + +Freilich, wenn Heinrich Pestalozzi, der es im Leben zu keinem Wohlstand +brachte, der in schlechten Kleidern ging und auch so aß und wohnte, von +seinen einsamen Gängen wieder in die Hauptstraßen zurück käme und den +Aufwand der Schaufenster, die geputzten Menschen und die Marmorsäle +sähe, die jeden Mittag und Abend gefüllt sind, als ob es ewig Feste +zu feiern gäbe: er würde in einem tiefen Schrecken von neuem seitab +irren in die dunkleren Straßen der unermeßlichen Steinwüste und den +Plakaten folgend in eine der Versammlungen geraten, wo die Männer der +Lohnarbeit einem jüdischen Redner zuhörten, der die Schlupfwinkel +einer wirtschaftlichen Frage mit juristischer Dialektik ableuchtete. +Sie würden erstaunt sein, wenn sich nachher der Greis mit dem +blatternarbigen Runzelgesicht zum Wort meldete, und mißtrauisch seine +seltsame Erscheinung betrachten, ob er ihnen nicht mit lächerlichen +Einfällen Unfrieden stiften wolle? Auch bliebe Heinrich Pestalozzi +selber im Anfang noch verschüchtert, wie wenn ihn der Schulmeister +Dysli mit seinem Anhang unter den Hintersassen noch einmal aus der +Stube schicken könnte; bald aber fände er in den feindlich abwartenden +Augen eine Menschenseele, zu der er also spräche: + +Lieber Bruder und Genosse -- wie ihr euch nennt -- meiner Seele ist es +gegangen wie deiner, sie fand sich in eine Ordnung gestellt, die aus +dem Unrecht der Gesellschaft gewachsen war, und seit den Jünglingstagen +wallte mein Herz wie ein Strom, die Quellen des Elends zu verstopfen, +darin ich das niedere Volk um mich versunken sah: aber wie mir die +Methode nur das Mittel und nicht das Ziel war, so auch die äußere +Wohlfahrt. Darum habe ich zwei Dinge nicht gekannt, die mir in diesen +Tagen mehr, als es gut ist, begegneten: den Neid und den Haß. Warum, +Bruder und Genosse, willst du den Reichen hassen, und um was willst du +ihn beneiden? Er hat ja selber nichts als sein Geld und was er sich für +sein Geld kaufen kann? Ist es aber dies, warum wir zwischen Geburt und +Tod unser rasches Leben haben, und kann es unser Glück sein, daß unsere +Frauen sich putzen können mit kostbaren Kleidern, und daß wir die edlen +Weine trinken und Kapaune essen? + +Ich weiß wohl und habe es bitter gefühlt wie du, daß ein Mindestes +für jeden Menschen nötig ist: daß er im Winter nicht friere und im +Sommer nicht hungrig sei, daß er Stunden haben möchte, wo er aus der +harten Arbeit zu sich selber käme, und daß er um seines Lohnes willen +niemandes Knecht zu sein braucht! Auch weiß ich wie du, daß dies +abscheulich an unserer gesellschaftlichen Ordnung ist, wie sie am +Geldsack hängt: aber geht nicht vieles, wie ihr es ändern wollt, geht +es nicht auch nur im Gelüst auf jene Genüsse, die aus dem Geldsack +kommen? Ist nicht in eurem Haß auf die besitzenden Klassen auch der +Neid? Der Neid auf Güter, deren Genuß euch nicht weniger als der Mangel +im Elend eines nichtigen Lebens ließe! + +Eine gute Verfassung ist zwar von einer schlechten wie ein guter Acker +von einem schlechten verschieden; aber du weißt, es wächst dir weder +auf dem guten noch auf dem schlechten Acker etwas aus dem Acker allein, +sondern aus der Arbeit und dem Samen, die du darauf verwendest! Wie +aber kann deine Arbeit wertvoll für dich und die andern sein, wenn du +doch wieder das alte Unkraut säst? Wie anders haben wir es damals von +den Welschen gelernt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! nur laß es +mich verdeutschen: + +Es gibt vielerlei ~Freiheit~ auf der Welt: aber die Freiheit der +Sau im Wald, die ihren Suhl hat, und die Freiheit des Reichen, der +sich mit seinem Gold das Tischlein-deck-dich herzaubern kann, ist +Knechtschaft der Begierden. Frei sein heißt nicht, tun dürfen, was du +möchtest, sondern tun wollen, was du mußt; darum achte, daß du draußen +wie drinnen keinen Herrn über dein Gewissen habest! Jesus Christus, +der sich für die Mühseligen und Beladenen ans Kreuz schlagen ließ, war +freier als Pontius Pilatus, der den Befehl dazu gab. + +Es gibt vielerlei ~Gleichheit~, aber willst du dem Schlechten +und Geringen gleich sein oder dem Besten? Soviel dir einer voraus +hat in Gütern, Wissen und Fertigkeiten, im Selbstgefühl kannst du +dem Reichsten und Klügsten gewachsen sein trotz all seinem Geld, +seinen Künsten und seiner Wissenschaft. Vor Gott gleich sein, wie die +Frommen wissen, heißt etwas anderes, als nichts vor seiner Allmacht zu +bedeuten; denn frage deine Seele, ob du dich als Sandkorn von Meer und +Wind verweht fühlen oder selber Meer und Wind sein willst? Vor Gott +gleich sein, heißt aus dem Ungewissen ins Gewissen der Welt, heißt in +die Allmacht berufen sein. + +Es gibt vielerlei ~Brüderlichkeit~; aber daß der Reiche im Wagen +dich mitnimmt hinter seine Pferde, in sein Haus und an seinen Tisch: +dadurch wirst du nicht sein Bruder, sondern sein Knecht, der Wohltaten +empfängt. Und wenn er all das Seine mit dir teilte, gutwillig und +gerecht: er würde vielleicht dein Bruder sein, du aber nicht der seine; +denn Brüderlichkeit ist ein Geschenk, das nur gegeben, nicht empfangen +werden kann; du aber willst empfangen! Es gibt nur eine Brüderlichkeit, +die ist vor Gott -- und ich meine nicht die Stündlisbruderschaft -- ihr +sind die Güter der Erde wenig vor dem Gefühl der Seele, aus dem Rätsel +in das Menschenschicksal geboren zu sein und wieder in das Rätsel +der Welt hinein sterben zu müssen. Allein vermöchten wir das Grauen, +aus dem ewigen Weltall durch unser menschliches Bewußtsein für eine +flackernde Sekunde abgesondert zu sein, nicht auszuhalten, wir würden +vor Schreck daran verdorren: nur weil wir gleich den Halmen im Feld +dastehen, können wir miteinander auf den Schnitter warten und uns doch +wiegen im Wind und wärmen in der Sonne und den Saft der Erde trinken +für unsere Frucht! + +Wenn Heinrich Pestalozzi das gesagt hätte, würde er noch einmal in +dem Saal dastehen, als ob er nach bestandenem Examen vor den andern +Schülern das Vaterunser sprechen müsse, so zum Lachen würde ihn schon +wieder eine Einsicht und ein Irrtum überraschen; und wie immer ginge +auch diesmal seine Rede in einem Selbstgespräch zu Ende, das keiner +der Männer in dem bleichen Gaslicht dieses Saales verstehen würde: +Ich dachte, es wäre der Menschengeist von mir, der immer noch auf +Abenteuer reitet, indessen sie meinen Körper unter die Dachtraufe und +den Rosenstock legten! Nun muß ich sehen, daß er nur der Diener unserer +Menschenbruderschaft und nicht das Leben selber ist, daß er die Worte +setzt, damit eine Botschaft von meiner Seele in deine, Bruder und +Genosse, käme; da beide sonst einsam im gemeinsamen Schicksal bleiben. +Denn allein die Seelenkraft ist das Leben, darin wir alle eins und von +Gott und also unverletzlich sind. Botschaft der Weltseele in unser +irdisches Dasein zu bringen, ist das Abenteuer des Menschengeistes, +dessen Tapferkeit sonst nur Ehrgeiz und Rauflust und vor der Ewigkeit +ein windiger Spaß wäre, ein grausames Puppenspiel der Menschen für ihre +Götter, wie es die Hoffnungslosigkeit der Alten dachte. + + + + + Berichtigung. + + +Der letzte Band meiner Erzählenden Schriften mußte durch widrige +Umstände ohne Korrektur gedruckt werden. Dadurch sind Druckfehler +stehen geblieben, die nach meinem Willen schon in früheren Ausgaben +beseitigt wären. Hierzu gehört auch, daß statt Tauner (Tagelöhner) +durchgehend Tanner gedruckt wurde, was natürlich falsch ist. + + S. + + + + + Die Erzählenden Schriften von Wilhelm Schäfer + + + ~Mannsleut~, Westerwälder Bauerngeschichten. Verlag Samuel Lukas, + Elberfeld 1894 (vergriffen). + + ~Die Zehn Gebote~, Erzählungen des Kanzelfriedrich. Verlag + Schuster & Loeffler, Berlin 1897. + + ~Gottlieb Mangold~, Der Mann in der Käseglocke. Verlag Schuster & + Loeffler, Berlin 1900. + + ~Die Béarnaise~, eine Anekdote. Sonderdruck der Rheinlande + Düsseldorf, 1901 (vergriffen). + + ~Rheinsagen~, mit Zeichnungen von Bernhard Wenig. Verlag Fischer + & Franke, Düsseldorf 1908 (vergriffen). + + -- Neue Ausgabe für die Mitglieder des »Frauenbundes zur Ehrung + rheinländischer Dichter«, umgearbeitet und ergänzt. 1913. + + -- Dieselbe Ausgabe zweite Auflage, Verlag Georg Müller, München 1913. + + ~Anekdoten~ (erste bis dritte Auflage), Verlag der Rheinlande, + Düsseldorf 1908. + + -- seit der vierten Auflage Verlag Georg Müller, München 1911. Fünfte + Auflage 1913. + + ~Der verlorene Sarg~ und andere Anekdoten, Verlag Georg Müller, + München 1911. + + ~Dreiunddreißig Anekdoten.~ Verlag Georg Müller, München 1914. + Vierte Auflage. + + ~Die Mißgeschickten.~ (Zuerst in der »Neuen Rundschau«, Januar + 1909.) Verlag Georg Müller, München 1909. + + ~Die Halsbandgeschichte.~ Verlag Georg Müller, München 1909, + Zweite Auflage. (Zuerst in den »Rheinlanden« 1908.) + + ~Karl Stauffers Lebensgang~, eine Chronik der Leidenschaft. + Verlag Georg Müller, München 1911. Sechste Auflage. + + ~Die unterbrochene Rheinfahrt.~ Verlag Georg Müller, München + 1912. (Zuerst in der Frankfurter Zeitung.) + + ~Lebenstag eines Menschenfreundes.~ Verlag Georg Müller, München + 1915. Zehnte Auflage. (Zuerst in der »Deutschen Rundschau«. Okt. 1914 + bis April 1915.) + + ~Die begrabene Hand~, Sonderausgabe der neuen Anekdoten und + Novellen, Verlag Georg Müller, München 1918. + + ~Die Erzählenden Schriften.~ Gesamtausgabe in vier Bänden. Verlag + Georg Müller, München 1918. + + ~Lebensabriß.~ Verlag Georg Müller, München 1918. + + + Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75169 *** diff --git a/75169-h/75169-h.htm b/75169-h/75169-h.htm new file mode 100644 index 0000000..d4bae96 --- /dev/null +++ b/75169-h/75169-h.htm @@ -0,0 +1,10538 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> + <meta charset="UTF-8"> + <title> + Lebenstag Eines Menschenfreundes | Project Gutenberg + </title> + <link rel="icon" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <style> + +body { + margin-left: 10%; + margin-right: 10%; +} + + h1,h2,h3 { + text-align: center; + clear: both;} + +h1 { font-size: 220%; + page-break-before: avoid;} + +h2, .s2 { font-size: 170%} +h3, .s3 { font-size: 125%} + +p { text-indent: 1em; + margin-top: .51em; + text-align: justify; + margin-bottom: .49em;} + +.p0 {text-indent: 0em;} + +.p2 {margin-top: 2em;} +.p6 {margin-top: 6em;} + +.hang2 { + margin-left: 2em; + text-indent: -2em } + + +hr { + width: 33%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + margin-left: 33.5%; + margin-right: 33.5%; + clear: both;} + +hr.k {width: 30%; margin-left: 35%; margin-right: 35%; border-width: 2px;} +hr.tb {width: 45%; margin-left: 27.5%; margin-right: 27.5%;} +hr.chap {width: 65%; margin-left: 17.5%; margin-right: 17.5%;} +@media print { hr.chap {display: none; visibility: hidden;} } + +hr.r5 {width: 5%; margin-top: 1em; margin-bottom: 1em; margin-left: 47.5%; margin-right: 47.5%;} + +div.chapter {page-break-before: always;} +h2.nobreak {page-break-before: avoid;} + +table { + margin-left: auto; + margin-right: auto; + width: 50% } + + +.tdl {text-align: left;} +.tdr {text-align: right;} + + +.pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */ + /* visibility: hidden; */ + position: absolute; + left: 92%; + font-size: small; + text-align: right; + font-style: normal; + font-weight: normal; + font-variant: normal; + text-indent: 0; +} /* page numbers */ + + +.blockquot { + margin-left: 5%; + margin-right: 10%;} + +.center {text-align: center;} + +.r5 {text-align:right; margin-right: 5%;} + +.gesperrt {letter-spacing: 0.2em; + margin-right: -0.2em;} + +em.gesperrt {font-style: normal;} + +img { + max-width: 100%; + height: auto;} + +img.w100 {width: 100%;} + +.figcenter { + margin: auto; + text-align: center; + page-break-inside: avoid; + max-width: 100%;} + +/* Transcriber's notes */ +.transnote {background-color: #E6E6FA; + color: black; + font-size:small; + padding:0.5em; + margin-bottom:5em; + font-family:sans-serif, serif;} + +/* Illustration classes */ +.illowp46 {width: 46%;} +.x-ebookmaker .illowp46 {width: 100%;} + + + </style> +</head> +<body> +<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75169 ***</div> + +<div class="transnote"> +<p class="s3 center"><strong>Anmerkungen zur Transkription</strong></p> +<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und Interpunktion +des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche +Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden. Worte in Antiquaschrift sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p> +<p class="p0">Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter erstellt; der Schmutztitel entfernt</p> +</div> + +<figure class="figcenter illowp46" id="cover" style="max-width: 100em;"> + <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt=""> +</figure> + +<hr class="k"> + +<div class="chapter"> +<p class="s2 center"><b>Wilhelm Schäfer</b></p><br> +<h1>Lebenstag eines<br> +Menschenfreundes</h1><br> +<h3>Roman</h3> +<p class="center">Georg Müller Verlag München 1920</p><br> +</div> +<p class="p6 center">12. Tausend</p> +<p class="center">Copyright 1920 by Georg Müller Verlag A.-G. München</p><br> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_1">[S. 1]</span></p> +<hr class="k"> + +<div class="chapter"> +<p class="p2 s2 center"><b>Inhalt</b></p> + +<table> +<tr> +<td class="tdl"> </td> +<td class="tdr">Seite</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Morgen</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_3">3</a></td> +</tr> + +<tr> +<td class="tdl">Mittag</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_113">113</a></td> +</tr> + +<tr> +<td class="tdl">Abend</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_239">239</a></td> +</tr> + +<tr> +<td class="tdl">Nacht</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_397">397</a></td> +</tr> + +<tr> +<td class="tdl">Berichtigung</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_407">407</a></td> +</tr> +</table> + +</div> +<hr class="k"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_3">[S. 3]</span></p> +<h2 class="nobreak" id="Morgen">Morgen</h2> +</div> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>1.</h3> +</div> + +<p>Als die Menschenseele in Heinrich Pestalozzi erwacht, liegt sie in +einer Stube am Hirschengraben, wo sich jenseits der alten Stadtmauer +bis zu den neuen Bastionen am Zürichberg hinauf die Landhäuser der +Reichen sonnen. Sie selber spürt nicht viel von dieser Sonne, sie +haust mit Kleinbürgersleuten im Gedränge hoher Steingebäude, die nur +finstere Gäßchen zwischen sich lassen und mit dunklen Treppen in +beengte Wohnungen führen. Außer der Mutter und einer Magd, die Babeli +gerufen wird, sind noch drei Geschwister in der Stube, ein Knabe +Johann Baptista und zwei Mädchen, von denen das kleinste in der Wiege +liegt. Das wird eines Tages von schwarzen Männern fort getragen, über +die dunkle Treppe hinunter in die Stadt, die draußen mit beschneiten +Dächern wartet. Im Sommer aber ist es wieder da, schläft in der Wiege +und heißt Bärbel, wie es vorher auch geheißen hat. Doch weint die +Mutter immer noch, und der Vater, der sonst mit großen Schritten durch +die Stube gegangen ist, liegt in der Kammer nebenan, nicht anders als +das Bärbel in der Wiege; seine haarigen Hände ruhen auf dem Leintuch, +und die Augen forschen an der Zimmerdecke.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span></p> + +<p>Eines Tages muß das Babeli hinein zu ihm — allein und lange, während +die Dachtraufe vor dem Fenster einen langen Strahl zerstäuben läßt; +als es wieder herauskommt, fällt es der Mutter um den Hals und weint. +Die hat, das Bärbel säugend, auf der Ofenbank gesessen; nun tut sie +das Kind schnell von der Brust und läuft in die Kammer. Nachher muß +Heinrich Pestalozzi mit den Geschwistern auch hinein; der Vater bemerkt +sie schon nicht mehr, seine Augen aber forschen noch immer an der +Zimmerdecke, nur die eine Hand ist von der Bettdecke abgerutscht, und +die Mutter hängt daran, als ob sie ihn festhalten wolle.</p> + +<p>Am andern Tag ist er in einen Sarg getan, die Hände sind auf der Brust +gefaltet, und die Lider haben wie zwei Deckel aus Wachs die forschenden +Augen zugemacht. Heinrich Pestalozzi und sein Bruder bekommen die +Sonntagskleider an und müssen — als fremde Männer in schwarzen Röcken +und Hüten kommen, den Vater zu holen — mit hinunter über die dunkle +Treppe und hinter ihnen her durch die Gassen nach dem Großmünster +gehen, wo gesungen und gebetet wird, bevor sie den Sarg auf den +Kirchhof bringen und bei Wind und Regen in ein frisch gegrabenes Loch +versenken. Seitdem Heinrich Pestalozzi die hohen Münsterhallen mit dem +Donnerschall der Orgel gesehen hat, weiß er, wo die Schwester Bärbel so +lange gewesen ist; der Vater aber kommt nicht wieder, bis er ihn fast +vergißt und nur noch manchmal gleich ihm mit langen Schritten die Stube +messen will.</p> + +<p>Als wieder Winter wird, nimmt ihn das Babeli<span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span> eines Abends schnell +bei der Hand, einen Arzt zu suchen; sie finden den ersten nicht und +müssen den zweiten erst aus einem Wirtshaus holen, wo viele Männer +bei der Lampe in einer qualmigen Stube sitzen. Der läuft gleich +mit, doch geht er bald wieder kopfschüttelnd fort von dem Bettchen +der Schwester Dorothea, und andern Morgens sagt die Mutter, es sei +gestorben an der Bräune. Die schwarzen Männer kommen zum drittenmal, +aber diesmal tragen sie das Dorli fort, mit dem er jeden Tag gespielt +hat. Seitdem ist ihm das Großmünster ein furchtbares Geheimnis, und +so oft er die Glocken läuten hört, läuft er zur Stubentür, den Riegel +vorzuschieben. Manchmal aber kommen doch Menschen über die Treppe +herein, die mit der weinenden Mutter sprechen und denen er die Hand +geben muß; er tut es gehorsam, doch immer in der Furcht, daß sie ihn +mitnehmen könnten in das Großmünster. Auch wenn die Mutter oder das +Babeli ihn selber an der Hand hinunter führen, ist er nicht froh, +bis er endlich durch die Haustür hinein schlüpfen kann und oben die +Heimeligkeit der Stube wiederfindet. Und nur dadurch, daß seine +seltenen Ausgänge meist den gleichen Verlauf nehmen, durch die steilen +Gassen und über Treppen zum Markt hinunter, wo die Limmat unter den +Holzbrücken hindurch ihr reißendes Wasser drängt, oder Sonntags bis an +den gleißenden See hinaus, wo die Schiffe und Schwäne schwimmen und die +Wolken auf den fernen Bergen Rast machen, die den blauen Himmel mit +ihrem weißen Zackenrand begrenzen: bahnt sich seine furchtsame Seele +allmählich Straßen in die fremde<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> Unermeßlichkeit, darin die Türme des +Großmünsters drohend stehen. Sonst aber bleibt die Stube die einzige +Sicherheit seiner Welt.</p> + + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>2.</h3> +</div> + +<p>Einmal macht Heinrich Pestalozzi auch eine Reise an den See mit +seiner Mutter; mittags nach dem Markt fahren sie hinaus, unaufhörlich +am Seeufer hin durch Dörfer mit weißen Kirchen, durch Weinberge und +Matten, wo die Bauern lustige Haufen Heu zusammen bringen, bis nach +Richterswil, wo der Onkel Johannes wohnt. Es ist dort ein großes Haus +mit einem prächtigen Garten und vielen fremden Menschen, die seiner +schwarzen Mutter um den Hals fallen und denen er die Hand geben muß. +Auch einen Knaben gibt es, älter als er und wie ein Soldat mit einem +stolzen Federbusch gekleidet; der führt ihn auf den großen Speicher, +wo Korn in Haufen liegt, durch die Ställe mit unheimlich behörnten +Kühen und stampfenden Pferden in die Weinberge hinauf zu einer Bank, +die unter einer Linde einen Ausblick auf den See gibt bis tief in die +blauen Bergschlüfte hinein, und danach an das weiche Ufer hinunter, wo +das Ried mit hohen Halmen aus dem Wasser wächst und seine Büschel im +Wind verneigt. Da haben Jünglinge gerade ein Schiff los gemacht, und +weil der eine ein Bruder des Knaben mit dem Federhut ist, sollen sie +mit einsteigen. Die Mutter aber kommt gelaufen, todblaß, und trägt ihn +auf den Armen, obwohl er sich dessen schämt und schreiend wehrt, durch +den Garten zurück ins Haus.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span></p> + +<p>Sie bleiben zwei Tage dort, bis sie am dritten Morgen noch in der +Dunkelheit abfahren auf dem selben Bauernwagen und in der Morgenfrühe +zurück kommen in die Stadt und in die Stube, wo der dicke Kachelofen +mit der kühlen Steinbank auf sie wartet und das Babeli mit den +Geschwistern ist. Er denkt später nicht gern an diese Reise; es ist ihm +alles fremd geblieben, als ob er nur geträumt hätte.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>3.</h3> +</div> + +<p>Lieber hat Heinrich Pestalozzi die Ausflüge nach Höngg, wo der +Großvater als Pfarrer amtet. Sie brauchen keinen Bauernwagen dahinaus, +sie gehen durch die Niederdorfporte auf die Schaffhauser Straße und +dann am Käferberg sacht hinauf durch Weinberge bis an den Hügelrand, +wo nach einer Stunde das Dörfchen mit der sauberen Kirche und dem +Pfarrhaus erscheint. Unten zieht die Limmat ihren Silberstreifen +durch das breite Tal, und hinten zeigt der Albisrücken die steile +Schmalseite; wo seine Kante gegen den See verläuft, steht vor der +Heiligkeit der Berge und gegen das blanke Wasser die Stadt Zürich mit +ihren Mauern und Türmen dunkel wie ein Haufe reisigen Kriegsvolks da.</p> + +<p>Jedesmal, wenn er mit seinem Bruder Johann Baptista angekommen ist und +sie sich in dem unteren mit spitzen Feldsteinen gepflasterten Flur von +dem Staub des Marsches gereinigt haben, dürfen sie zu dem alten Herrn +in die Studierstube hinauf. Sie liegt ganz oben und ist in der Ecke +des Pfarrhauses so eingebaut, daß<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> durch die breiten Fenster von Süden +und Osten die Helligkeit der weiten Landschaft hinein sieht und den +würdigen Greis mit Heiterkeit umspielt. Er steht nicht auf, wenn die +Buben zu ihm herein kommen, auch dürfen sie nicht anders als einzeln +gerufen zu ihm an den Tisch treten. Jedes muß sein Sprüchlein sagen, +wie sie die Mutter verlassen haben und wie lange sie unterwegs gewesen +sind; und niemals fällt es ihnen bei, hier oben die Ehrwürdigkeit +durch eine Zärtlichkeit zu verletzen. Erst unten, wenn er mit am Tisch +sitzt, wo die Großmutter mit den gütigen Zwickelfalten ihres alten +Gesichtes das Gespräch führt, wird er der Großvater, der sie aus den +Schoß nimmt und Scherze mit ihnen treibt. Aber wenn sich allmählich aus +dem Donnergott des Großmünsters das Bild Gottes als eines himmlischen +Vaters in Heinrich Pestalozzi umbildet, sind es die Züge des Großvaters +in der Studierstube, die dem Bild ihr Wesen geben.</p> + +<p>Stärker wird dieser Eindruck, als er am Gottesdienst teilnehmen darf. +Das Pfarrhaus ist an die Kirche so angebaut, daß es mit dem Totenacker +seitlich vom Dorf und am äußersten Rand des Hügels eine Art Gutshof +vorstellt, der wie ein solcher auch durch einen Torweg zugänglich ist. +Durch den sieht Heinrich Pestalozzi Sonntags die Kirchgänger kommen, +sauber gekleidet in ihrer bäuerlichen Tracht. Die Glocken klingen +heller, und auch die Orgel hat nicht den brausenden Schall wie im +Großmünster. Wenn sie anfängt zu spielen, ist es nicht anders, als ob +sich die dunkleren Stimmen der Männer mit denen der stauen und Kinder +mischten,<span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span> und wenn das Lied dann wirklich einsetzt, wird alles zum +Gesang der Gemeinde.</p> + +<p>Weil er die Stimme und das Wesen des Großvaters kennt, bleiben ihm auch +die Worte seiner Predigt nicht gar so fremd, so wenig er im einzelnen +davon versteht. Es ist fast der himmlische Vater selber, der zu seinen +Kindern in dem feierlichen Ton der Studierstube spricht, aber der +gütige Klang in seiner Stimme bleibt; und weil er niemals poltert, +niemals aus den Rand der Kanzel schlägt wie die Prediger in der Stadt, +bekommt die Predigt nichts von ihrem gottfremden Haß. So trägt Heinrich +Pestalozzi jedesmal einen warmen Glanz von der Empore mit hinunter; +und weil er die Kirchgänger nachher nicht gleich den Zürchern in die +dunklen Schlüfte der Gassen verschwinden sondern langsamen Schrittes +sich rund herum in die Gehöfte zerstreuen sieht, zweifelt er nicht +daran, daß sie überall etwas von dem Glanz hinbringen. Um so stolzer +ist ihm zumut, daß er selber danach im Pfarrhaus bleiben und mit dem +Träger dieser feierlichen Macht zu Tisch sitzen darf — wo der Pfarrer +freilich am Sonntag außer dem Gebet niemals ein Wort spricht, wie er +auch an diesem Vormittag das Frühbrot in seiner Studierstube nimmt +und sich vor dem Gottesdienst niemandem zeigt. Erst wenn er seine +Mittagsruhe gehalten hat, sehen ihn seine Enkel als Großvater wieder, +der gern fröhlich ist und sie manchmal noch bis vor das Tor der Stadt +zurück begleitet; hinein geht er seit dem Tode seines einzigen Sohnes +nicht mehr gern.</p> + +<p>So bewirkt der Großvater in Höngg durch die weise<span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span> Trennung amtlicher +Würde von seiner gütigen Menschlichkeit, daß sich für die Kindheit +Heinrich Pestalozzis das Grauen von den kirchlichen Dingen hebt.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>4.</h3> +</div> + +<p>Auch außerhalb des Pfarrhauses findet Heinrich Pestalozzi im ländlichen +Leben zu Höngg vertrautere Wege aus der engen Stube als in der +finsteren Stadt. Wo jeder den andern kennt und die Großmutter wohl +weiß, mit welchen Kindern sie den Enkel spielen läßt, ergibt sich +leichter ein Kamerad. Der angenehmste heißt Ernst Luginbühl und wird +ihm bald ein sehnsüchtig erwarteter Führer in die hügeligen Gebiete +bis an den Wald am Käferberg hinauf oder gar in die steinichten +Limmatwiesen hinunter, wo Samstags die Schiffe der geputzten Zürcher +eilfertig mit der Strömung nach Baden treiben und Sonntags von dem +Landvolk an Stricken mühsam stromauf gezogen werden. Er trägt keinen +stolzen Federhut wie der Vetter in Richterswil, er läuft barhaupt und +barfuß wie die andern Landbuben auch und hat prallrote Backen mit +wasserhellen Augen; aber er weiß, wo man am sichersten einen Specht bei +seiner Klopfarbeit belauscht oder wo ein Ameisenberg ist. Sein Vater +arbeitet als Baumwollenweber, der erste und einzige in Höngg; einmal +geht Heinrich Pestalozzi mit hinein und sieht den bärtigen Mann gebückt +in dem Gestänge sitzen. Er hat nichts Ähnliches von menschlicher Arbeit +gesehen; Küfer, Schmiede, Bäcker und Schreiner und erst recht die +Bauern: alle schaffen mit den Händen und bleiben für sich selber frei; +dieser Weber<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> aber sitzt im Gestänge seiner Arbeit als ein Teil von +ihr, wie die Spinne ans Netz gebunden. Er bleibt eine Stunde lang mit +den Knaben dasitzen und hört dem unablässigen Geklapper zu, das aus +dünnen Fäden Stoff macht. Als er nachher beim Abendessen ausgefragt +wird, wo er gewesen ist, und anfängt, von dem Baumwollenweber zu +erzählen, will der Großvater stirnrunzelnd nichts mehr hören von dem +Unglück dieser städtischen Neuerung — es ist das einzige, was Heinrich +Pestalozzi von seinem Unwillen versteht.</p> + +<p>Einmal ist er eine ganze Woche lang in Höngg geblieben und kommt +sich selber schon wie ein Landkind vor, als ihn die Mutter wieder +holt. Auch diesmal geht der Großvater mit, aber nur bis Wipkingen, +von wo er sich geärgert gegen den Berg zurückwendet. Er ist böse +auf das geputzte Stadtvolk in den Schiffen, das sich am Sonntag von +den Dorfleuten heimziehen läßt, ihre schwere Arbeit mit übermütigem +Geschrei begleitend, und Heinrich Pestalozzi hört wieder, wie er von +dem städtischen Unglück zu der Mutter spricht. Es geht schon gegen die +Dämmerung, und so wendet sich der alte Mann von ihnen fort in einen +dunkelroten Abendhimmel hinein, der den Häusern glühende Augen macht. +Heinrich Pestalozzi weiß nicht warum, aber die Traurigkeit überkommt +ihn so, daß er herzbrechend hinter dem Großvater her weint; es dauert +lange, bis die erschrockene Mutter heraus bekommt, daß es die dunkle +Stadt ist, vor der er sich fürchtet, und daß er alle Tage mit ihr +und den Geschwistern und dem Babeli auf dem Land wohnen möchte. Da +gesteht sie ihm, daß die Verwandten<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> in Richterswil ihr das schon +damals bei dem Besuch vorgeschlagen hätten, daß sie es aber nicht +möchte der Stadtschulen wegen. In Richterswil möchte ich auch nicht, +sagt er fast trotzig, lieber in Höngg! und weiß nicht, warum nun seine +Mutter herzbrechender weint als er vorher; sodaß sie beide mit einer +verlorenen Traurigkeit durch die Niederdorfporte in Zürich eingehen.</p> + + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>5.</h3> +</div> + + +<p>Nach diesem Abend verlangt Heinrich Pestalozzi sehnsüchtig in die +Schule. Seitdem die Schwester Dorothea gestorben ist und der Johann +Baptista, um ein Jahr älter als er, täglich sechs Stunden zu den +Schulmeistern am Neumarkt geht und nachher bei den Schularbeiten sitzt, +ist er tagsüber allein mit dem Bärbel, das immer noch in der Wiege +liegt und ihm kein Gespiele sein kann. Für die deutsche Schule scheint +es der Mutter noch zu früh, so bringt ihn das Babeli eines Morgens in +die Hausschule.</p> + +<p>Es wird aber kein schönes Erlebnis für ihn: als sie in den schmalen +Raum eintreten, der eigentlich nur einen breiteren Gang vorstellt, ist +der alte Lehrer gerade dabei, einen Buben zu walken; es sieht aus, als +ob er ihm die Haare in Büscheln ausreißen wolle; zugleich vollführen +die beiden ein weinerliches Geschrei, über das die andern Kinder, Buben +und Mädchen durcheinander, schadenfroh lachen. Erst als das Babeli den +Zornigen anruft, hört er auf. Hinten ist noch eine Bank frei, dahinein +wird Heinrich Pestalozzi mit seinen Sachen gesetzt; das Babeli droht +ihm noch einmal mit dem Finger<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span> und überläßt ihn den Kindern, von denen +er nicht eines kennt, und dem weißköpfigen Schulmeister, der — als er +den Namenszettel gelesen hat — die Magd für die Frau Pestalozzi selber +hält und ihr mit vielen Komplimenten an die Tür nachläuft. Der Lärm, +der durch die Neugier gestockt hat, hebt wieder an: die Kinder haben +neben den Büchern ihre Eßwaren, und was sie sonst mit sich führen, +auf den Pulten ausgebreitet; ein jedes liest laut oder schreibt für +sich wie zuhause: der Lehrer ist nur eine Art Unhold, der eines nach +dem andern vornimmt und die andern schwatzen und balgen läßt. So hört +das Geklatsch seiner Prügel und sein Geschrei ebensowenig auf wie der +Lärm der Kinder, die meist garnicht hinsehen, wenn sich sein Zorn +beim nächsten Opfer neu entzündet. Auch Heinrich Pestalozzi kommt +endlich an die Reihe, als er eine Stunde lang verängstigt dagesessen +hat; er wundert sich fast, als es diesmal ohne Prügel abgeht, malt +danach Buchstaben, wie er es von seinem Bruder gelernt hat, und ist +noch fleißig dabei, als die andern mit eiligem Geklapper ihre Sachen +zusammen raffen.</p> + +<p>Auf der Gasse wartet das Babeli; und wenn ihm das schon diesmal Spott +einträgt, so wird ein paar Tage später ein wahres Schicksal daraus: es +macht sich gerade so, daß ein Platzregen losgeht, das handfeste Babeli +will ihn unter die Schürze nehmen; und rafft ihn kurzerhand — da er +sich vor den andern schämt — als Bündel unter den Arm, um mit ihm heim +zu rennen, so sehr er schreit und strampelt; sogleich verfolgt von +einem Rudel der Kinder, die sich nun alle aus dem Regen<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> nichts mehr +machen und die Tropfen in ihre Gesichter klatschen lassen.</p> + +<p>Seitdem haben sie ihren Schabernack mit ihm, wo sie nur können. Seine +Vorfahren vom Vater her sind Italiener gewesen, davon hat er die +schwarzen Haare und die dunklen Augen behalten, und von den Blattern +ein Gesicht voll Narben: so sieht er eher einem Savoyardenknaben +ähnlich als einem Stadtzürcher und ist für sie ein fremder Vogel. +Obwohl er nichts lieber gemocht hätte als mit ihnen spielen, macht ihn +die Erfahrung scheu, sodaß er nun erst recht ein einsames Stubenkind +wird.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>6.</h3> +</div> + +<p>Später in der deutschen Schule tritt Heinrich Pestalozzi statt mit +dem Babeli mit seinem Bruder Johann Baptista auf; der ist beweglicher +als er und hat auch schon Bekanntschaften; dadurch kommt er mit den +Knaben anfangs besser zurecht, um so leidvoller wird die Schule +selber für ihn. Obwohl die Lehrer nicht solche Zornickel sind wie +in der Hausschule, bleibt auch ihr Unterricht eine fortgesetzte +Streitigkeit mit dem einzelnen Schüler, wobei sie die Schwächen eines +jeden mit geübter Schulmeistergrausamkeit zu finden wissen. Heinrich +Pestalozzi, dem es niemals völlig gerät, sich selber und seine Bücher +in Ordnung zu halten, der bald ungekämmt in die Schule kommt, bald +seine Schreibsachen oder Hefte vergessen hat, der aus den Spaziergängen +seiner Gedanken aufgeschreckt die törichtsten Dinge zu sagen vermag und +dem die richtigen Antworten meist erst<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> auf dem Nachhauseweg einfallen, +ist ihnen bald nur eine Gelegenheit, die herkömmlichen Schulwitze +anzubringen. Daß er im ganzen eifriger als die meisten ist und sich +leicht geschickter anstellt als es zu ihren Späßen paßt, stört sie +nicht in ihren Hänseleien.</p> + +<p>Und weil die Lehrer es so halten, widerstehen auch die Mitschüler der +Verlockung nicht, ihren Witz an diesem Neuling zu üben, der nichts von +ihren Spielen kennt und sich gutgläubig zum Narren halten läßt. Ihm +steht diese Gutgläubigkeit gleichsam schon im Gesicht geschrieben, +und seine linkischen Hände scheinen nur geschaffen, für ihr Gelächter +fehl zu greifen. So weiß ihn eines Tages einer mit Äpfeln begehrlich +zu machen, die er im Sack hat: er würde ihm den schönsten schenken, +wenn er ihm damit auf sechs Schritte in den Rücken werfen dürfe. Mehr +um der Tapferkeit als um des Apfels willen geht Heinrich Pestalozzi +auf den Handel ein; der Knabe aber trifft ihn so hart zwischen den +Schultern, daß er wie von einem Büchsenschuß hingestreckt wird, und — +als er sich mit einer Übelkeit kämpfend an dem nassen Steintrog unter +dem steinernen Brunnenmann aufrichtet — nur noch sehen kann, wie ein +Flinker unter dem Hallo der andern den Apfel aufhebt und davon rennt.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi fühlt damals schon, daß es die Absperrung seiner +häuslichen Erziehung ist, die ihn so fremd und linkisch unter den +andern Knaben macht; er ginge trotz solcher Späße gern nach der Schule +zu ihren Spielen auf die Gasse, aber das Babeli, das immer mehr wie ein +handfester Weibel die Stubenwelt der<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> Witwe Pestalozzi regiert, duldet +dergleichen schon aus Sparsamkeit nicht: Warum wollt ihr unnützerweise +Kleider und Schuhe verderben? Seht eure Mutter, wie sie wochen- und +monatelang an keinen Ort hingeht und jeden Kreuzer spart, euch zu +erziehen! Und um dem Grund praktische Kraft zu geben, nimmt sie den +Buben nach der Schule sogleich die Schuhe weg.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi vermag nicht wie sein Bruder Johann Baptista den +gutgemeinten Zwang mit allerlei Listen zu umgehen; er hat unterdessen +durch die Mutter erfahren, was damals am Sterbebett des Vaters +geschehen ist: da hat die Magd dem todkranken Wundarzt um ihrer +Christenheit willen versprochen, die Frau nicht zu verlassen, weil +seine Kinder sonst womöglich in fremde und harte Hände kämen! Das +Babeli in seiner Einfalt, damals dreißigjährig, hat es dem Sterbenden +in die Hand gesagt, an ihrem Platz zu bleiben, bis sie stürbe; auch +hat sie tapfer Wort gehalten, als sie den Antrag eines ehrlichen +Stadtbürgers ausschlagen mußte, und ist dem bedrängten Haushalt ohne +Lohn durch alle Schwierigkeiten treu geblieben. Seitdem Heinrich +Pestalozzi das weiß, kann er das faltige Sorgengesicht der guten +Magd nicht anders als ehrfürchtig ansehen; und wenn der Großvater in +Höngg dem Bild des himmlischen Vaters für seine Vorstellung die Züge +herleiten muß, so vermag er die biblische Erzählung von Christus und +den Schwestern in Bethanien nicht zu hören, ohne daß ihm seine Mutter +zur still vertrauenden Maria und das Babeli zur schaffenden Martha +wird. Soviel innige Gläubigkeit er aber damit auf die zarte Gestalt +der Mutter legt, die<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> — als Susanna Hotze in Richterswil bei den +wohlhabenden Brüdern aufgewachsen — ihre bescheidene Lage niemals als +Armut fühlt und auch den Kindern das Gefühl ihres guten Standes erhält; +so wenig vermag er aus dem Evangelium eine Verachtung für die treue +Magd zu ziehen, deren Stunden nichts als schaffende Sorgen kennen; ja, +so oft er die abweisenden Worte Jesu liest, drängt ihn sein Gefühl, für +die schaffende Martha aufzustehen.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>7.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi ist acht Jahre alt, als ihm eine Veränderung der +äußeren Lebensumstände die Gedanken der Armut dennoch aufdrängen +will. Seine Mutter, die immer noch die alte Wohnung gehalten hat, +sieht sich genötigt durch die wachsenden Ausgaben für die Kinder, +den Haushalt in der kleinen Stadt jenseits der Limmat bescheidener +einzumieten. So lustig die Knaben mit dem Bärbel, das nun schon aus +der Kammer in die Stube laufen kann, den äußeren Aufwand des Umzugs +finden: so schmerzlich ist der Augenblick, als sie hinter dem Wagen mit +ihrem Hausrat her — das Babeli trägt die Schwester auf dem Rücken, +und die Mutter führt die Brüder an der Hand — am steinernen Rathaus +hinübergehen auf die breite Bretterbrücke und in die kleine Stadt. +Die ist freilich um den hohen Lindenhof herum gebaut, von dem die +Schriften sagen, daß er schon in römischen Zeiten befestigt und der +eigentliche Ursprung der Stadt gewesen wäre; aber darum lassen sie +doch das Großmünster mit dem Haus Zwinglis<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> drüben, von wo der Zürcher +Glaubensheld für seinen Gott in den Krieg und Tod gezogen ist. Überdies +will ein Mißgeschick, daß am Hotel zum Schwert gerade ein fremder Herr +mit drei Rossen vorfahren will und bei der Wendung in die Deichsel +ihres Gefährtes gerät. Der Ruck ist heftig und bricht dem Tisch, der +hinten mit abgesperrten Beinen aufgebunden ist, eins davon ab, das +schief herunterhängt. Gleich gibt es zwischen den Fuhrleuten ein +Geschimpfe, und weil der ihrige zu Fuß geht, der andere aber in einer +stolzen Uniform auf dem Bock sitzt, auch der Wirt zum Schwert gleich +seinem vornehmen Gast zu Hilfe kommt, bleibt der mit den drei Rossen +Sieger, indessen sie mit ihrer Habe, verbellt von Hunden, demütig um +die Ecke ziehen.</p> + +<p>Es ist kein großer Schaden; sie müssen den Tisch nachher in eine +Wandecke stellen, damit er ihnen beim Abendbrot nicht umfällt; doch +liegt die Stimmung des verschimpften Auszuges aus der großen Stadt so +jämmerlich auf ihnen, daß sie miteinander in eine Heulerei geraten. Die +neue Wohnung ist sichtlich beengter als die alte; außer der Küche mit +einem Alkoven für das Babeli und der gemeinsamen Kammer für die andern +hat sie nur einen Raum, der fortab Besuch- und Wohnstube in einem sein +muß: es ist die Lebensluft verschämter Armut, in die sie nun eingezogen +sind. Mehr als die Mutter hat das praktische Babeli auf den Umzug +gedrängt.</p> + +<p>Die Mutter will auch da noch die geborene Hotzin bleiben; und wenn in +der Folge eine Bekanntschaft aus den besseren Zeiten, da der Wundarzt +Pestalozzi noch<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> auf die Jagd oder fischen ging, oder gar einer aus +der vornehmen Verwandtschaft vom See den Weg in die kleine Stadt +findet, wird die Stube jedesmal mit allem Staat aufgemacht, den sie +aus ihrer Mitgift gerettet hat. Auch hält die einsam verhärmte Frau +ängstlich darauf, was sie als Stadtbürgerin an Ehrengaben zu leisten +ihrem Stande schuldig ist; und ob sie manchmal dem letzten Gulden mit +Ehrenfestigkeit zu Leibe geht, und ob das Babeli danach die Kreuzer +zusammenkratzen und auf dem Markt das Billigste erfeilschen muß: nach +außen soll alles den Anschein eines unabhängigen Bürgerhaushalts +behaupten.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>8.</h3> +</div> + +<p>Für Heinrich Pestalozzi wird der Abstieg in die Armut dadurch +gemildert, daß er gleich am andern Tag nach Höngg hinauskommt. Er ist +mit der deutschen Schule zu Ende, und bevor er in die Lateinschule +am Fraumünster eintritt, will der Großvater seinen Kenntnissen noch +etwas nachhelfen. Er holt ihn diesmal selber ab; die Übersiedelung hat +ihn besorgt gemacht, doch findet er alles recht und gegen Abend ist +eine Kalesche da, sie miteinander hinauszufahren. Vor der Stadt darf +Heinrich Pestalozzi auch einmal kutschieren; er zupft aber unablässig +an den Zügeln, als ob es an ihm läge, daß die vier Beine sich bewegten, +sodaß der Gaul am Ende wild wird und sie in einem unfreiwilligen Galopp +nach Wipkingen bringt. Der Großvater liebt solche Vorfälle nicht; als +er ihm kurzerhand die Zügel abgenommen und das Pferd zur Ruhe gebracht +hat, sagt er<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> strafend, das würde einem Knaben vom Land nicht begegnen; +es wäre ein rechtes Stadtbubenstück. Er bleibt aber nicht unfreund mit +ihm, und als er vor der Wegsteile gegen Höngg aussteigt und das Pferd +am Zügel führt, nimmt er ihn gütig an der Hand, als ob trotzdem noch +etwas Rechtes aus ihm werden könne.</p> + +<p>Der Großvater hat den armen Kindern der Gemeinde erlaubt, hinter der +Kirche zu spielen, wo neben dem Kirchhof ein sonniger Rasenplatz auf +neue Gräber wartet. Obwohl manche von den Kindern nur mit Hudeln +bekleidet sind, tadelt er es nicht, wenn seine Enkel an ihren Spielen +teilnehmen. So ist Heinrich Pestalozzi eines Tages mit ihnen dabei, +das Wasser aus einer Pfütze neben der Kirche in einer Rinne bergab zu +leiten, wo es gerade den schönsten Wasserfall macht, als auf einmal +einige der Kinder, dann alle auseinander laufen und sich unter der +alten Steinbank, hinter Gräbern oder wo sie sonst einen Schlupfwinkel +finden, verstecken: ohne ihr sonstiges Geschrei und sichtbar in Angst, +nicht anders, als ob Hühner einen Habicht in der Luft gespürt hätten. +Er hält alles zunächst für eins von ihren Spielen, aber so still es aus +dem Kirchhof ist, so laut wird es auf der Landstraße: die Gestrengen +Herren in Zürich haben allmonatlich eine Betteljagd verordnet, und +nun kommen die Landreiter von ihrer Pirsch mit einer verlumpten +Schar, Alten und Kindern, in einem langen Strick wie eine Schafherde +eingehürdet.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi besinnt sich nicht, er läuft nach vorn um die +Kirche an den Torweg, und obwohl die Holzflügel schwer mit Eisen +beschlagen sind, bringt er<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> sie mit allen Kräften doch in die Riegel. +Die Landreiter sind unterdessen schon durch das Dorf geritten, sie +hätten sich auch schwerlich durch das Tor abhalten lassen; doch als +er eben dabei ist, den Verschüchterten anzusagen, das Tor wäre zu und +kein Landreiter könne herein, kommt der Großvater um die Kirche herum +neugierig nach. Er hat das eilige Geschäft seines Enkels bemerkt, tut +aber nicht weiter dergleichen, nur wie er ihn nachher an der Hand mit +ins Pfarrhaus genommen hat und der Knabe in dem dämmrigen Hausflur +schon denkt, er werde ihn strafen: hebt er ihn auf den Arm, als ob er +ihm sagen wolle, bist ein tapferer Bub! Und als sie miteinander oben +in dem Studierzimmer sind, wo er nun lernen soll, wendet er sich zu +ihm hin, wie wenn er ein Großer wäre: Ich wüßte den Herren in Zürich +andere Mittel als Landreiter und Betteljagden, der Armut auf dem Lande +abzuhelfen!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>9.</h3> +</div> + +<p>Als Heinrich Pestalozzi diesmal von Höngg zurück kommt, trägt er einen +Schatz bei sich, mit dem er sich stolz und vieler Dinge mächtig fühlt. +Um ihm den ungewissen Weg in die lateinische Wissenschaft vertrauter zu +machen, hat ihn der Großvater das Vaterunser lateinisch gelehrt. Auf +dem ganzen Weg nach Zürich hinunter, den er diesmal tapfer allein geht, +sagt er die fremden Worte vor sich hin, ängstlich, daß ihm eins davon +entfallen könnte. Es ist aber nicht die Schule, der zuliebe er sorgsam +mit ihnen ist; dahinter steht das Bild des Großvaters als Lebensziel +auf: auch einmal<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> so in einem Dorf Seelsorger zu werden — womöglich in +Höngg selber — den Armenkindern ein väterlicher Freund; das scheint +ihm alle kommenden Mühsale der Schule wert zu sein.</p> + +<p>Er wird auch im Fraumünster kein Schüler, wie ihn die Schulmeister +brauchen können. Zu sehr gewöhnt in seiner behüteten Stubenwelt, die +Dinge von sich aus zu erleben und eigene Wege in das Geheimnis der +Augenwelt zu suchen, sieht er sich bei ihnen vor ein unaufhörliches +Vielerlei von leeren Worten gestellt. Bloß auswendig Gelerntes +herzuplappern, wie es die meisten tun, vermag er nicht; und selbst, +wenn er etwas verstanden hat, wird es ihm schwer, Worte daraus zu +machen, weil er sich damit leicht wie ein Komödiant vorkommt. Damit er +etwas sagen kann, darf es nicht schon ausgedacht sein, es muß ihm aus +den Gedanken selber, nicht aus dem Gedächtnis kommen: weil aber die +Fragen der Lehrer selten in seine Gedanken treffen, findet er trotz +bestem Willen und innerer Lebendigkeit wenig Gelegenheit, sich als +guten Schüler zu zeigen; ja, weil er gerade dann, wenn ihn eine Sache +des Unterrichts wirklich beschäftigt, leicht für Minuten und länger +von dem unwiderstehlichen Fluß seiner Gedanken fortgetragen werden +kann, stellt er nur selten den gelehrigen Schüler dar — der er doch +ist —, sondern er wird gerade dann gescholten, wenn er vielleicht +mehr als ein anderer bei der Sache ist. Am selben Tag kann er in einem +Fach der beste und gleich darauf doch wieder der schlechteste sein; +so kommt er bei allem Eifer auch in der Lateinschule bald wieder in +ein feindseliges Verhältnis<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> zu den Lehrern, das mit zornigen Strafen +über seine Zerstreutheit anfängt und mit der Verspottung seiner +absonderlichen Art ausgeht, ihn nach wie vor dem Gelächter der Klasse +bloßstellend.</p> + +<p>Obwohl das Babeli ihn stets ordentlich herausputzt, steht er doch in +der Kleidung gegen die gepflegten Herrenbuben zurück, und was er von +der mühsamen Ordnung heimbringt, ist manchmal übel genug. Auch hält +das Babeli immer noch strenge Hauszucht, sodaß er auch jetzt nicht zu +den Spielen der andern auf die Gasse darf und für die lateinischen +Mitschüler der gleiche fremde Vogel bleibt, der er auf der deutschen +Schule war. Als der erste Sommer zu Ende geht, hat er bei ihnen schon +den Spottnamen, der ihm von da ab durch die ganze Schule bleibt: Heiri +Wunderli von Torliken.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>10.</h3> +</div> + +<p>Trotzdem hört Heinrich Pestalozzi allmählich auf, der unfreiwillige +Spaßvogel seiner Mitschüler zu sein; er lernt sich zu wehren, und kommt +durch einen Vorfall sogar in den Ruf einer besonderen Tollkühnheit:</p> + +<p>Er ist ein Jahr lang Lateinschüler gewesen, als sein zeitweiliger +Spielfreund Ernst Luginbühl aus Höngg in die untere Klasse eintritt. +Dessen Vater ist herkömmlich ein verarmter Stadtbürger, der sich in +sein dörfliches Anwesen hinein geheiratet hat, aber bis in seine +Baumwollenweberei ein unruhiger Kopf bleibt, weshalb ihn auch der +Großvater nicht gern in seiner Dorfgemeinde sieht. Ihm selber ist es +mit allen möglichen Anschlägen fehl gegangen, darum will er seinem +Buben eine bessere<span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span> Bildung mitgeben und bringt ihn — der einen klaren +Kopf hat und gern lernt — in die Lateinschule, wo er, älter als die +andern, in die untere Klasse aufgenommen wird. Er hat noch immer +seine roten Backen und die wasserhellen Augen, aber er trägt Schuhe +an den Füßen und ist auch sonst für die städtische Schule zurecht +gemacht, in einer ländlichen Art, die den Stadtkindern von selber zum +Gespött wird. Heinrich Pestalozzi weiß längst, wie die Bürgersöhne +den Knaben vom Land die Schule verleiden, als ob sie Eindringlinge in +ihre Vorrechte wären; ihn selber lassen sie deutlich genug merken, +daß seine Mutter nur eine Landbürgerin ist; nun aber trifft es seinen +Freund, der in dieser fremden, feindseligen Welt mit den Bauernaugen +um Mitleid zu flehen scheint. Jeden Morgen kommt er den mühsamen Weg +von Höngg herunter, manchmal, wenn es geregnet hat, naß bis auf die +Haut; und mittags, wenn die andern heimgehen, fertigt er seinen Hunger +im Klassenraum mit einem Stück Brot ab. Er gerät in ein hartes und +verstocktes Dasein, und wenn ihn Heinrich Pestalozzi anspricht, ist +es fast, als ob er etwas von seinem Haß gegen die hochmütigen und +grausamen Bürgersöhne auf ihn übertrüge, sodaß es hier in der Stadt +keine rechte Fortsetzung der ländlichen Freundschaft geben will.</p> + +<p>Eines Mittags kommt Heinrich Pestalozzi zufällig als der Letzte aus der +Klasse und hört unter dem Gang im Hof ein Hetzgeschrei. Einige größere +Knaben haben den mißliebigen Weberssohn in eine Ecke gedrängt und hauen +auf ihm, der sich kratzend und beißend wehrt, mit<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> Linealen herum; +einer muß ihn am Kopf getroffen haben, denn aus dem weißblonden Haar +laufen ein paar Zickzacklinien von Blut herunter. Heinrich Pestalozzi +weiß nichts von dem Anlaß des Streites, er sieht nur das Blut, und +wie sie ihren Übermut und Hohn an dem Knaben auslassen; darüber faßt +ihn augenblicklich der zornige Eifer so, daß er blindlings aus der +offenen Halle über die Steinbrüstung hinunter klettert. Es ist eine +kleine Stockwerkshöhe, und er könnte sich leicht zu Tode stürzen, als +er für einen Augenblick selber erschrocken an der Steinbrüstung hängt. +Er purzelt aber einem, der sich gerade bückt, auf die Schultern, daß +der bäuchlings hinfällt und ihn wie einen Igel abkugeln läßt, ist +gleich von Zorn besessen wieder auf und springt auf die andern ein, +die im ersten Schrecken auseinander rennen. Auch der von seinem Sprung +Betroffene will fort, kann aber nicht auf und kriecht auf Händen und +Füßen eilig davon. Darüber erheben die andern, die schadenfroh der +Prügelei zugesehen haben, ein solches Hohngeschrei, daß ein Lehrer +dazukommt, ehe die Überfallenen ihrem kuriosen Angreifer heimzahlen +können. Es gibt nun zwar ein strenges Verhör, bei dem Heinrich +Pestalozzi, weil er trotzig schweigt, als der allein Schuldige +übrigbleibt und auch in Strafe genommen wird: aber mit seinem +tollkühnen Sprung ist er doch Sieger geblieben, und die Schande einer +feigen Flucht vor dem schmächtigen Heiri Wunderli von Torliken bleibt +auf den andern sitzen. Das Babeli, als es durch den Johann Baptista +davon hört, will ihn strafen, weil die Hosen zerrissen sind; aber die +Mutter wehrt ihr und streichelt ihn.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span></p> + +<h3>11.</h3> +</div> + +<p>Im Dezember des gleichen Jahres sind die Schüler in der Klasse von +Heinrich Pestalozzi gerade aufgestanden, ein Weihnachtslied zu üben, +als es einen Erdstoß gibt, wie wenn Pferde einen Wagen anzögen, auf dem +sie ständen. Sie hören in derselben Sekunde auf zu singen und halten +sich an den Bänken fest; dann ist der Lehrer der erste, bei dem sich +die Erstarrung auf die Gefahr besinnt. Mit langen Beinen springt er +zur Tür, die Geige und den Bogen noch in den Händen; aber ehe er dort +ist, drängen sich ihm schon die nächsten Knaben vor. Draußen quillt +die Schreckensflucht aus den andern Räumen ebenso zur Treppe; und ist +es zuerst totenstill gewesen, so erhebt sich nun das Geschrei; erst +derer, die hinfallen und getreten werden, dann der andern, die davon +angesteckt die letzte Besinnung verlieren. Es gibt keinen Einzelnen +mehr, nur noch eine Herde, dahinein die Todesfurcht gefahren ist; und +die am ehesten Kaltblütigkeit bewahren sollten, die schulmeisterlichen +Hirten gehen mit langen Beinen über die Köpfe und abwehrenden Hände der +Knaben hinweg.</p> + +<p>Auch Heinrich Pestalozzi ist wie die andern von der Besessenheit +gepackt worden und hat Arme und Beine gebraucht, sich in dem Strudel +oben zu halten; aber darum haben seine Augen doch das unwürdige +Beispiel der Lehrer aufgefaßt; und als er unten auf dem Hofe steht, +wo rundherum die Stücke von Dachziegeln in dem schwärzlichen Schnee +liegen und die Nachzügler kommen, die von den andern überrannt wurden +und teilweise bluten — einer liegt leichenblaß seitwärts allein,<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> +weil er aus dem Fenster gesprungen ist und den Fuß gebrochen hat — +muß er weinen vor Zorn. Die meisten drängen auf die Gasse hinaus, +wo die Bürger unterdessen aus den Werkstätten gelaufen sind und in +den Himmel starren, der unbewegt über dem Erdbeben steht. Die zurück +bleiben, möchten zum Teil gern ihre Bücher und Hüte herunterholen, +aber keiner wagt sich hinein; obwohl nach der ersten Erschütterung, +die gleich einem langen Gerolle von unterirdischen Wagen gewesen ist, +nichts mehr geschieht und die leeren Gebäude gleichsam verwundert auf +die ängstliche Menschheit herunter sehen. Der Widerspruch zwischen +dieser lächerlichen Flucht und dem alten Heldentum, davon sie täglich +durch die selben Lehrer hörten, macht, daß ihm sein Knabenherz trotzig +aufspringt, sich selber und den andern ein Beispiel von Tapferkeit zu +geben. Während einige Bürger in den Schulhof gekommen sind und den +Jungen mit dem zerbrochenen Fuß aufheben, geht er in das verlassene +Schulhaus zurück: obwohl es unheimlich ist auf der leeren Treppe und +oben im Gang, wo alle Türen offen stehen, kommt er bis an die Klasse +und holt seine Sachen heraus; auch einigen andern bringt er mit, was +er rasch greifen kann; und nachher zwingt er seine Furcht, daß er die +Treppe nicht hinunter springt, Schritt für Schritt die Stufen nimmt und +triumphierend zu den Wenigen hinaus tritt, die da noch warten.</p> + +<p>Als er danach heim kommt in die Stube, ist der Johann Baptista schon +längst dabei, dem Bärbel das Abenteuer zu erzählen, indessen das Babeli +verzweifelt durchs Fenster sieht und ihn scheltend empfängt, daß er +so spät<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> käme; nun wäre die Mutter aus Angst um ihn schon auf die +Gasse gelaufen! Er könnte ihr anders antworten; doch wirft er nur die +Sachen verächtlich auf einen Stuhl und springt hinunter, den Schrecken +der Mutter abzukürzen. Er findet sie auch gleich, wie sie mit blassem +Gesicht zurück kommt und ihn erblickend nichts anderes vermag, als ihn +hastig am Arm zu nehmen, wie wenn sie ihn jetzt noch retten müßte.</p> + +<p>Bei den Genossen aber gilt der Heiri Wunderli seit diesem Erdbebentag +als einer, der sich aus Großmannssucht für etwas Besseres hält, und +ihrem Spott ist fortab deutlich der Haß beigemischt, der für das +Ungewöhnliche das sicherste Erbteil unter den Menschen ist.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> + +<h3>12.</h3> +</div> + +<p>Mit zwölf Jahren kommt Heinrich Pestalozzi wieder hinüber in die große +Stadt, wo seine Mutter im Haus zum Roten Gatter an der Münstergasse +eine billige Wohnung gefunden hat. Er tritt nun in die Lateinschule +am Großmünster über und verliert dadurch seinen ländlichen Freund +aus Höngg ganz aus den Augen. Um so betroffener wird er, als er beim +Großvater in die Ferien einrückt und dort erfährt, dem Baumwollenweber +sei es zu teuer geworden mit der Schule, auch habe der Ernst Luginbühl +selber die Plage mit den Stadtsöhnen nicht mehr gemocht. Er benutzt +den ersten Ausgang, ihn zu besuchen; schon draußen vor dem kleinen, +windschiefen Haus hört er den Webstuhl klappern, aber als er zögernd +hinein kommt, sitzt statt des bärtigen Baumwollenwebers der Sohn im +Gestänge. Es ist so laut in<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> der Stube, daß der ihn nicht gleich +bemerkt; als er sich nachher umsieht, dauert der Streifblick nicht +länger als eine Sekunde, dann starrt er wieder in seinen Webstuhl.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi denkt, daß es die Arbeit so erfordere, und wartet +geduldig eine Pause ab; als sich nach einer Viertelstunde immer noch +nichts ändert an dem gleichförmigen Takt, ruft er ihn an, erst leise, +dann mehrmals lauter: der andere aber zieht nur trotzig die Schultern +ein. Da merkt er, daß ihn der Ernst Luginbühl nicht mehr ansehen +will, und in einer tief rinnenden Traurigkeit verläßt er die Stube. +Draußen sieht er gerade noch, wie die mattrote Sonnenscheibe in dem +Wolkengerinnsel am Horizont versinkt; was ein warmer Glanz mit lustig +langen Schatten war, als er herauf kam, ist nun eine rote Glut, die +sich brandig in den Himmel einfrißt. Nur am Ütliberg läuft noch eine +feurige Kante hinauf, und unten starrt das Kriegslager von Zürich vor +dem See, als ob es dunkel auf eine bläßliche Glasscheibe gemalt wäre. +Er fühlt mit seinen zwölf Jahren, daß alles, was bisher in seinem +Herzen gewesen ist, Zorn und Empörung, Mitleid und Freude: mit den +Stunden kam und verrann, wie dort das Sonnenlicht verrinnt und morgen +wiederkommt; aber, was da am Webstuhl angeschlossen ist, kam nicht mehr +los aus seiner Unabwendbarkeit.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi vermag nicht ins Pfarrhaus zurückzugehen; bis +zur Dunkelheit sitzt er am Rain und versucht, aus dem Knäuel dieser +Gedanken heraus zu kommen. Das einzige, was er gewinnt, ist ein +Gefühl, dass bis zur Stunde alles eitel und selbstsüchtig in ihm<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> war: +nur, weil er die reichen Verwandten am See und hier den Großvater im +wohlbestallten Pfarrhaus hat, durch kein anderes Vorrecht, ist er vor +dem gleichen Schicksal behütet. Je tiefer er sich da hinein denkt, +um so mehr schämt er sich vor dem Knaben und um so glühender wird +sein Wunsch, ihm wenigstens ein Pfand der Liebe aus seinem Herzen +hinzulegen, da er ihm sonst nicht helfen kann. Und als er das Pfand +gefunden hat — es darf nur das Liebste sein, was er besitzt — hindert +Heinrich Pestalozzi nichts mehr, sein Herz zu erfüllen:</p> + +<p>Vor der Tür des Pfarrhauses, aus dem ein Licht der Wohlhabenheit in den +Abend leuchtet, zieht er die Schuhe aus und schleicht auf Strümpfen +in die Kammer. Der Ranzen ist noch nicht ausgepackt, und seine Hände +wühlen im Dunkeln nach dem silberbeschlagenen Testament, das seine +Mutter von ihrem Vater zur Konfirmation erhalten und ihm kürzlich am +Grab des eigenen Vaters in die Hand gegeben hat. Er fühlt das Unrecht, +das er damit tut: es gehört ihm selber garnicht, es ist ein Vorrecht +vor den Geschwistern, es zu haben. Aber gerade das bestimmt ihn, es +herzugeben; denn nur darum ist er wie alle übermütigen Stadtbürgersöhne +in Zürich gegen den Weberknaben im Vorteil, weil sie in den Reichtum +solcher Familienstücke hineingewachsen sind! Und daß es ein Liebespfand +von seiner Mutter ist, darauf hat Christus selber zu Maria gesagt: +Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?</p> + +<p>Als er zitternd und mit einem schmerzenden Knie, weil er im Eifer +gefallen ist — auch die Schuhe wieder anzuziehen, hat er vergessen — +zu dem Knaben in die<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> Stube kommt, ist von dem Lichtspan an der Wand +ein trübes Licht darin, das die Schatten des Webstuhls wie Ratten in +dem halbhellen Raum hin und her laufen läßt. Diesmal hört der Ernst +Luginbühl gleich auf zu weben, so sehr scheint er erschrocken, wie +einer aus der Dunkelheit mit bittend hingestreckten Armen in sein +Licht kommt. Vor den heißen Augen weiß Heinrich Pestalozzi keins von +den Worten zu sagen, mit denen er her gelaufen ist; weil die Hände +des Knaben am Webstuhl hängen bleiben, legt er ihm das Testament mit +dem blinkenden Silber darauf. Wohl eine Minute lang ist es still +um die Atemzüge der beiden Knaben, wie wenn dieses Liebespfand sie +wirklich vereinen könnte; dann reißt der Webersohn die Hände fort, als +ob ihn mit dem kalten Metall des Buches ein widerliches Tier berührt +hätte. Klappernd fliegt es gegen das Holz und fällt seitwärts auf den +Lehmboden; doch darf es auch da nicht liegen, der Dämon in dem Knaben +fährt auf und spuckt danach; und als Heinrich Pestalozzi schützend +seine Hände über sein Heiligtum breiten will, tritt er mit beiden +Füßen darauf, bis es in den Lehm eingestampft ist. Erst dann bricht er +schluchzend aus und läuft durch die offene Tür in die Nacht.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi meint, die Mutter laut mit sich weinen zu hören, +als seine zitternden Finger das Buch aus dem Boden graben; mit einem +Grauen, darin das Großmünster aus seiner ersten Jugend über ihm +einstürzt, geht er aus der Stube. Am Zürichberg wird unheimlich das +Signal der Mondscheibe aufgezogen; so rot ist sie, als hätte sie dem +Abendrot das Blut ausgetrunken.<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> Und wenn Heinrich Pestalozzi auch erst +nach Jahren die Verzweiflung verstehen soll, die ihm sein Liebespfand +bespien und zertreten hat, eine Ahnung trägt er schon an diesem +Abend ins Pfarrhaus hinunter: alles andere, nur nicht das gedruckte +Evangelium hätte er dem Knaben auf die Hände legen dürfen, der sich von +einer auf dieses Evangelium gegründeten Welteinrichtung verraten fühlt.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>13.</h3> +</div> + +<p>Seitdem geschieht es Heinrich Pestalozzi häufig, daß er unversehens +an den Webstuhl in Höngg denken muß; er meint dann, das unaufhörliche +Geklapper zu hören, und kann, wenn er sich auf die Schulgegenwart +besinnt, staunend in eine neue Anschauung der Wirklichkeit versinken: +die sonst nur als der Kreis seiner Sinne um ihn gewesen ist oder in +seiner Erinnerung ein Bilderbuchdasein geführt hat, je nachdem er +zufällig an etwas dachte, wächst sich zur Weite ihrer unabhängigen +und ungeheuren Existenz aus. Es wird ein leidenschaftliches Spiel +seiner Einbildung, sich vorzustellen, was alles in der gleichen Stunde +geschieht, da er mit seinen Büchern dasitzt: wie der Großvater in Höngg +den Pfarrhut in seiner Studierstube aufsetzt und hüstelnd — er geht +nun schon an die siebzig — die Treppe hinuntersteigt, die Kranken +der Gemeinde zu besuchen; wie die Großmutter unterdessen mit ihren +runzeligen Händen im Garten schafft, manchmal ein Viertelstündchen +mit einer Nachbarin plaudernd; wie rund herum in den Weinbergen +und Feldern die Bauern sich nach ihrer Arbeit<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> bücken; wie auf der +Straße die Kaufmannswagen, mit runden Tüchern überspannt, ihren Trott +dahingehen, oft überholt von den Staubwolken eiliger Reisenden; wie +bald ein Sonnenstrahl, bald ein Wolkenschatten hinläuft über das breite +Limmattal, über die reisige Stadt Zürich und die Großmünstertürme — +daneben er selber im Schulhaus sitzt und dies alles denkt — über den +langen See hin bis Richterswil und weiter hinauf gegen den blaudunklen +Wall der Berge, die sich nicht so leicht überrennen lassen, über +ungezählte fleißige Menschen hin, welche, die fröhlich singen, und +andere, die um einer Not willen verzweifelt sind. In der Weite und +unausdenkbaren Vielgestaltigkeit dieses Lebens fühlt er sich und seine +Pfarrpläne kaum anders als den Vetter am See, der mit seinem Federhut +den Soldaten spielt. Die Welt ist nicht mehr so, daß einer mit seiner +Knabeneinfalt hineingehen und ihre Dinge umgestalten kann, die Dinge +selber sind es, die mit ihrem unübersehbaren Zustand den Einzelnen +festhalten und nötigen. Wie die Unheimlichkeit des Großmünsters +drohend gegen die Stubenwelt seiner frühen Knabenjahre aufgestanden +ist, so kommt jetzt der Lebenskreis der Dinge; nur, daß er diesmal +die wirklichen Zusammenhänge fühlt und demütig die Überhebung seiner +Knabenpläne einsieht.</p> + +<p>Dazu kommt etwas Zufälliges, das freilich mit dieser Art, die Dinge +zu empfinden, zusammenhängt, ihn völlig verzagt zu machen: Weil er im +Examen der Erste gewesen ist, trifft es ihn, daß er das Gebet vor der +Klasse sprechen muß. So feierlich für ihn die Worte des Vaterunsers<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> +sind, da er sie selber zum erstenmal öffentlich sagen soll, überfällt +der komische Zwiespalt zwischen seiner in tausend Täglichkeiten +verbrauchten Knabenstimme und dem feierlichen Aufwand, den er damit +treiben soll, sein verscheuchtes Selbstgefühl derartig, daß er einem +unwillkürlichen Zwang zu lachen nicht widerstehen kann und dadurch zu +einer ernstlichen Vermahnung kommt. Auch in der Folge verliert sich +dieses Hindernis nicht; so oft er in der Schule oder gar in der Kirche +etwas öffentlich aufzusagen hat, ist das stete Gefühl dabei, vor den +anderen Knaben lächerlich dazustehen, und er braucht dann nur seinen +Blick mit einem andern zu kreuzen, um auch schon auszuplatzen. Es ist +ihm sicher, daß er niemals als Pfarrer seine Stimme in der Kirche wird +erheben können, ohne diesen Zwang zum Lachen. Die erste Erkenntnis der +Weltzusammenhänge hat ihm die Unschuld seines Knabendaseins unsicher +gemacht, und ängstlich fragt er, ob sie ihm jemals wiederkommt?</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>14.</h3> +</div> + +<p>Als Heinrich Pestalozzi mit dem fünfzehnten Jahr aus der Lateinschule +übertritt in das sogenannte Collegium Humanitatis, das auch beim +Chorherrngebäude des Großmünsters liegt, ist von seinen Knabenplänen +nichts geblieben als die Verzagtheit, überhaupt einen Platz mit seinem +Dasein in der Wirklichkeit zu finden. Da hilft ihm zum erstenmal +seine Vaterstadt; indem er anfängt, die Dinge zu beobachten, wie sie +außer dem Kreis seiner Sinne ihre eigenen wechselvollen Zustände<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> +haben, sieht er sich unerwartet vor ihre Vergangenheit gestellt. Diese +Bastionen und Stadttürme, Kirchen und Brücken: das alles ist nicht +immer so gewesen, wie es nun für seine Augen dasteht. Es ist die +Erbschaft der Jahrhunderte — wie die öffentlichen Einrichtungen der +Zünfte, der Lehrschulen und Gottesdienste auch — von Menschenhänden +in den ewigen Kreislauf der Natur gestellt und von Menschen in der +unaufhörlich ablaufenden Frist ihrer irdischen Gegenwart verändert. +Noch bevor er Schüler vom alten Bodmer wird, der seit Jahrzehnten in +Zürich helvetische Geschichte lehrt, verfällt er mit Eifer auf die +Geschichte der stolzen Heimatstadt. Gerade weil sie ihm mit ihren +finsteren Gassen nie so heimelig geworden ist wie das Land, und weil +sein Gefühl sich so schwer zurechtfindet mit den Einrichtungen, die +überall Ehrfurcht fordern und ihn bedrücken: sucht er hitzig nach der +Herkunft aller dieser Dinge und Sitten, als ob es ihm so gelingen +müßte, sein eigenes Gefühl aus der drohenden Ungewißheit in eine +sichere Übereinstimmung mit der Heimat zu bringen.</p> + +<p>So liest Heinrich Pestalozzi, der zwischen den Bürgersöhnen immer noch +ein schmächtiges Gewächs und der Heiri Wunderli von Torliken ist, +die mehr als tausendjährige Geschichte seiner Stadt: wie schon zu +römischen Zeiten der Lindenhof ein befestigtes Kastell war und in den +Märtyrern der thebäischen Legion, Felix und Regula, seine christlichen +Schutzheiligen gewann; wie Karl der Große ihm seine geistlichen +Stifte, das Großmünster und das Fraumünster, gab und eine Reichsvogtei +das<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> römische Kastell auf dem Lindenhof ablöste; wie es lange vor +dem Eintritt in die Eidgenossenschaft reichsfrei und ein mächtiges +Stadtwesen war, bis es durch Zwingli der Vorort der reformierten +Christenheit wurde. Er liest von den berühmten Bürgermeistern der +Stadt: von Bruns, dem ränkevollen Aufrührer der Innungen, der die +Regierungen der Zünfte gegen die Geschlechter begründete und in der +Züricher Mordnacht die von Rapperswil eingebrochenen Adeligen grausam +unterwarf; von dem riesenhaften Stüssi, der um das Toggenburger Erbe +den Krieg mit den Eidgenossen aufnahm und vor dem Stadttor an der +Sihlbrücke fiel; von Hans Waldmann, dem Helden zu Murten, unter dessen +Hand Zürich zum Vorort der ganzen Eidgenossenschaft wurde, bis er, +von seinem eigenen Glanz verblendet, seinen Gegner, den Volkshelden +Frischhans Theiling, hinrichten ließ und bei der Empörung der Seebauern +selber den stolzen Hals aufs Schafott legen mußte. Er liest, wie sich +die Bürgermeister um Geld an mächtige Fürsten verkauften, wie Zürich um +seines Vorteiles willen mehrmals die Eidgenossen an die Österreicher +verriet, und wie durch den Bundesvertrag mit Frankreich das Reislaufen +der Eidgenossen ein bezahltes Handwerk wurde. Aber dann kommt +Zwingli, der gegen diese wie andere Unsitten in Zürich ein Regiment +schweizerischer Mannhaftigkeit aufrichtet und, obwohl er selber bei +Kappel kläglich umkommt, Zürich zur evangelischen Glaubensburg macht. +Aus dem ränkevollen Spiel der Jahrhunderte wächst ihm die Gestalt +dieses Glaubenshelden zu einer Größe heraus, daneben die Figuren der +Bürgermeister<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> in den schwankenden Schatten böser Leidenschaften +versinken.</p> + +<p>Alle diese Dinge liest Heinrich Pestalozzi, wie ein anderer Zürcher +Knabe die Geschichte seiner Vaterstadt auch gelesen hätte; aber +unvermutet kommt eine Begebenheit, die seine eigene Herkunft angeht und +danach lange den heimlichen Schlüssel seiner vaterländischen Gefühle +abgibt: Zwingli ist seit vierundzwanzig Jahren tot, und überall haben +die Evangelischen mit der katholischen Gegenreformation zu kämpfen; da +ziehen an einem Mittag des Jahres 1555 einhundertsiebzehn Flüchtlinge +in Zürich ein, ziemlich die ganze reformierte Gemeinde aus Locarno, +die mit ihrem Pfarrer Beccaria über den schneebedeckten Bernardino und +den Splügen, durch Lawinengefahr und die Frühjahrsschrecknisse der Via +mala gewandert ist und in dem Nachfolger Zwinglis, dem Münsterpfarrer +und eigentlichen Regenten von Zürich, Heinrich Bullinger, einen +mannhaften Beschützer findet. Heinrich Pestalozzi weiß vom Großvater, +daß seine Familie ursprünglich italienisch und um des Glaubens willen +eingewandert ist: nun erkennt er die Umstände und wie tief er — +mütterlicherseits sogar ein direkter Abkömmling jener Flüchtlinge — +der Stadt Zürich verpflichtet ist. Zum andernmal wächst das Großmünster +mächtig auf vor einem Gefühl, aber es ist kein Grauen mehr; er sieht +die beiden Türme als reisige Wächter seines Glaubens die Stadt behüten, +und wenn nun Sonntags die mächtigen Glocken darin läuten, ist es der +Schlachtgesang Zwinglis und seiner Getreuen, die für das Evangelium +hinaus reiten in den Tod.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span></p> + +<h3>15.</h3> +</div> + +<p>Seitdem sich Heinrich Pestalozzi selber als einen Schützling dieser +mächtigen Stadt erkannte, mag er einsam durch ihre Straßen gehen +und sich allein von solchem Gang beglückt fühlen: Es braucht nur +ein Hufschmied zu hämmern, und schon hört er Schwertschlag auf +stählerne Panzer, und wenn er Sonntags mit der Gemeinde in den hohen +Münsterhallen singt, beim Donnerschall der Orgel, wenn er den Prediger +das Buch vom Altar nehmen sieht, wie es Zwingli an derselben Stelle +genommen hat, mischt sich mit dem ehrfürchtigen Grauen der Stolz und +Dank seiner von unbändigen Erinnerungen erfüllten Seele. Er weiß nun, +was es bedeutet, daß der steinerne Karl außen hoch am Münsterturm das +Schwert flach auf den Knien hält und warum auf den Brunnen die reisigen +Männer stehen. Als er einmal mit in die Zwölfbotenkapelle unter dem +Großmünster hinunter darf, läuft er nachher wohl eine Stunde lang +weinend vor Glück an der Limmat hin.</p> + +<p>Es ist, als ob er nun die Stadt erst sehe, in der er aufgewachsen +ist; und wenn er durch eine der alten Porten hinaus geht, die noch +immer wehrhaft dastehen, obwohl draußen die wohlgerüsteten neuen +Bastionen sind, kann es ihm ängstlich werden, die schützende Grenze zu +überschreiten. Der schwarze Pfahlwall im See am Grendel, der mit der +Dunkelheit die Schifffahrt absperrt, der Wellenbergturm mitten in der +Strömung, das mit mächtigen Quadern ins Wasser vorgebaute Rathaus, die +stattlichen Zunfthäuser und der<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> breitbedachte Rüden am Stücklimärt, +wo immer noch die Constafel, die Geschlechter, tagen, das Haus zum +Königstuhl mit seinem derb vorgebauten Erker, darin der Bürgermeister +Stüssi gewohnt hat, oder das Haus zum Loch, mit seltsamen Sagen dem +großen Kaiser Karl verknüpft: jeder Stein der Stadt wird mit dem +Bewußtsein der Geschichte lebendig, die daran gebaut hat.</p> + +<p>Auch empfindet er nun, daß es etwas anderes ist, ob der Antistes +von Zürich durch die Straßen geht, oder ob sein Großvater von Höngg +zu einer Besorgung herein kommt; und als er erst einmal in der +Wasserkirche gewesen ist, wo die alte Bibliothek der Stadt in zwei +Galerien eingebaut steht und mit den alten Ölbildern an den Wänden +gleichsam das Uhrwerk ihrer geistigen Geschichte darstellt, wird der +stille Saal für ihn ein Raum mancher heimlichen Feier. Von hier aus +beginnt er mit Stolz nach den Männern zu sehen, die zum Ruhm und +Vorbild der Bürgerschaft leben, und wenn er nun den greisen Bodmer +daherkommen sieht, fühlt er: es ist mehr als ein Professor der +helvetischen Geschichte, es ist der Geist dieser tapferen Geschichte +selber, der unter seinen buschigen Augenbrauen in die Gegenwart blitzt.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>16.</h3> +</div> + +<p>In dieser Zeit fängt Heinrich Pestalozzi auch an, Kameraden zu +bekommen; er ist den Wunderlichkeiten des alten Babeli entwachsen, +und so sehr die Gute schilt, wenn seine Kleider bei einer unnützen +Kletterei an der<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> Stadtmauer oder sonst Schaden genommen haben: er ist +zu lange in ihrer Stubenhaft gewesen, um nicht mit Ausgelassenheit +die Freiheit solcher Streifereien zu genießen. Sogar reiten lernt er, +als wieder einmal der Vetter Weber aus Leipzig für einige Zeit in +Zürich auf Geschäften ist und ihm eins von seinen Rossen leiht. Es +geht ihm immer noch wie damals bei dem Großvater in der Kalesche, er +kann nicht mit dem Gaul übereinkommen, hält sich an den Zügeln fest, +als ob es Rettungsseile wären, und macht das arme Tier einmal am +Hottinger Pörtchen so wild, daß es auf der Holzbrücke anfängt, Männchen +zu machen, und ihn beinahe über das Geländer in den Stadtgraben +hinunter wirft. Schon läuft der Torwächter erschrocken hinzu, und die +Spaziergänger flüchten sich; irgendwie aber bleibt er doch noch im +Sattel hängen, das Pferd zieht es vor, den Stall zu suchen, und er +widerstrebt ihm nicht, obwohl er dabei seine Mütze verliert und nicht +gerade eine Reiterfigur macht.</p> + +<p>Schlimmer geht es ihm jenes Mal, als er an einem Sonntagnachmittag mit +einigen Kameraden in einem Weidling nach Wollishofen hinausgerudert +ist und nachher wieder heim will. Sie sind nach Knabenart laut +gewesen, haben Schweizerlieder gesungen und in dem schwanken Schiff +ihre Katzbalgereien gehabt, als ob ihnen garnichts Schlimmes begegnen +könnte. Beim Einsteigen aber, als sie noch mitten im Gelächter sind, +kommt er mit dem einen Fuß nicht vom Landungssteg los, während er den +anderen schon auf den Rand gesetzt hat. Durch den Ruck weicht das +Schiff unter ihm<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span> fort, bis seine Beine zu kurz für die Spannung sind +und er kopfüber in den See kippt. Er kann nicht schwimmen; das Wasser +ist ihm immer unvertraut gewesen, und nur dadurch, daß die andern ihm +schnell das Ruder hinhalten, als er mit zappelnden Armen hoch kommt, +ertrinkt er nicht. Sie schleppen ihn daran wie einen gefangenen Fisch +gegen das Ufer zurück, wo sie ihn diesmal mit größerer Vorsicht ins +Boot holen wollen. Er mag aber nicht mehr, verschlägt sich unter +den Scherzen der andern seitwärts an eine durch Büsche geschützte +Uferstelle und trocknet da seine Kleider in der Sonne. Das dauert +einige Stunden, während die andern wieder ihre Tollheiten in dem +Kahn machen und ihn schließlich, seine Feigheit verhöhnend, im Stich +lassen. Daß seine Kleider naß geworden sind, macht ihm nichts aus bei +der Sonne; auch ist er so rasch wieder oben gewesen, daß er gleich mit +den andern dazu gelacht hat: nun er aber allein so am Wasser sitzt, +das auf eine gierige Art ans Ufer schwappt, fängt das Erlebnis an, ihn +schwermütig zu machen. Er hat, als er untersank, für einen Augenblick +die Augen der Mutter dicht vor den seinen gesehen, und den Großvater +dahinter, wie er ihm die Hand auf die Schultern legte: nun hört er das +übermütige Geschrei der Knaben vom See und kann nicht begreifen, daß +er selber dabei war. Es wäre nichts als ein unnützer Knabe gewesen, +den das Wasser an ihm verschluckt hätte; weil aber nichts so heftig in +seiner Seele aufbegehrt als der Ehrgeiz, sich selber wert zu halten +und es den großen Männern seiner Stadt einmal gleich zu tun, werden +für Heinrich<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> Pestalozzi die beiden Nachmittagsstunden, während er am +See bei Wollishofen in der Sonne sitzt, zu einem Selbstgericht, wo ein +beschämter Jüngling die Kleider halbtrocken wieder anzieht, die sich +der Knabe naß vom Leib gerissen hat.</p> + +<p>Stärker als damals in Höngg vor der Tür des Ernst Luginbühl ist das +Gefühl eines eitlen und selbstgefälligen Daseins in ihm. Mit all seinem +Selbstbewußtsein, mit seinen Vergangenheitsträumen und spintisierten +Taten ist er doch nur ein Schüler, nach dem niemand fragt, als die, +denen er mit seinen Großsprechereien zuleide ist. Seine Auflehnung +gegen die Ungerechtigkeit der Lehrer, wenn der Kantor betrunken in +die Singstunde kommt oder der Provisor Weber — der selbe, der sich +einmal eine Laus vom Kopfe nahm und ihm auf dem Papier zerknickte +— dem Ludwig Hirzel vom Schneeberg ein paar Fehler übersieht, weil +dessen Eltern ihm eine Metzgeten ins Haus geschickt haben; sein ganzes +Weltverbesserertum setzt er nun gegen die Unfähigkeit, mit sechzehn +Jahren sich selber und seine Kleider in Ordnung zu halten oder einen +Heller zu haben, den er seiner Mutter nicht abgebettelt hat, als ob die +ganze Schöpfung nur da wäre, einem Schulknaben nach seinen Einfällen +und Sinnen gefällig zu sein.</p> + +<p>Freilich, als er dann sucht, wie er seine unnützen Beine unter +dem Tisch der Mutter fortbringen könne, findet er nichts als die +Kaufmannschaft, dahinein sie schon im Frühjahr nicht ohne Tränen den +Johann Baptista getan hat. Ihr zuliebe muß er die Schule durchhalten; +so ist es unvermutet doch wieder der Zirkel solcher<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> unnützen +Schülerschaft, darin er seine Jugend gebunden sieht. Trotzdem, als er +im späten Nachmittag allein gegen Zürich geht, fröstelnd von den nicht +völlig trockenen Kleidern, ist es ihm, als ginge er nun wirklich in den +großen Schritten des Vaters, die er als kleiner Knabe so gern versucht +hat. Er mochte sich kein Gelöbnis geben, und auch diesmal sind die +Kreise seiner Gedanken gleich dem Ringelspiel um die Steine verlaufen, +die er draußen in den See warf: doch geht eine Sicherheit mit ihm, als +läge sein unnützes Knabentum noch mit den Kleidern auf einem Häufchen +im warmen Uferschilf. Weil aber doch für einen Augenblick der Tod an +seine Natur gerührt hat, ist die heimliche Lust des Lebens in ihm, die +— wie er danach noch tiefer erfahren soll — durch nichts so sehr als +durch das Grauen des Todes angeregt wird.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>17.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi ist im Januar siebzehnjährig geworden, als er zum +Frühjahr ins Collegium Carolinum eintritt. Er weiß, daß er für keinen +schlechten Kopf gilt, wenngleich er bis zuletzt als ein unordentlicher +und zerstreuter Schüler gescholten worden ist: nun liegt die Zeit der +Abrichtung hinter ihm, und er steht als Student zu Hause wie vor den +Mitbürgern mit dem Stolz da, endlich auf die Wissenschaften selber zu +zielen. Wo Bodmer helvetische Geschichte lehrt und Breitinger außer den +alten Sprachen Philosophie, da hat die Schulmeisterei ihr Ende; das +sind Männer, um die er Zürich von halb Europa beneidet weiß, und zu +denen weither die Berühmtheiten<span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span> angereist kommen. Namentlich Bodmer +mit seiner vaterländischen Begeisterung, der auch als Mitglied des +großen Rates in Zürich selber in die Regierung eingreift, ist das Ziel +seiner Verehrung. Der ist damals noch nicht der schrullenhafte Greis, +trotz seiner fünfundsechzig Jahre behend und rasch mit der trefflichen +Rede. Unter seinen Zuhörern zu sitzen, bedeutet für Heinrich +Pestalozzi, in die geistige Gemeinschaft seiner Stadt eingetreten zu +sein; und als es ihm zum erstenmal gelingt, einige Worte mit ihm zu +sprechen, erzählt er nachher der Mutter und dem Bärbel glückselig von +der Begegnung. Die Mutter, wie immer, hört mit leiser Trauer zu; das +Bärbel aber, das nun schon vierzehnjährig mit seinen Italieneraugen ein +zärtliches Kind vorstellt, ist stolz auf den großen Bruder.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi spürt seit dem ersten Tage, daß ihm die +Zeitumstände einen günstigen Wind in sein Studium bringen; tagtäglich +kann er neue Segel aufziehen, und wenn er sein Lebensschiff in dieser +ersten Studentenzeit aufmalen könnte, wäre es von der Mastspitze bis +zum Steuer bewimpelt.</p> + +<p>Aus Frankreich ist die Nachricht von einem Buch gekommen, das einen +Schweizer, den Genfer Uhrmacherssohn Jean Jacques Rousseau, zum +Verfasser hat und im Auftrag des Parlaments in Paris vom Henker +zerrissen und verbrannt worden ist; auch der Magistrat in Genf hat +das Buch verdammt, und so gibt es wenige, die seinen Inhalt wirklich +kennen. Aber als ob aus den Flammen des Henkers Funken fortgeweht +wären, nistet sich der Brand allerorten ein, sodaß die Wirkung des<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> +»Emil« — wie das Buch heißt — ihm in hitzigen Gesprächen vorausläuft, +besonders da, wo die übrigen Schriften des welschen Schweizers seine +Naturreligion schon verbreitet haben. Heinrich Pestalozzi kann nicht +daran denken, so bald ein Exemplar dieses Buches zu erhalten, wohl aber +bekommt er seine Wirkung zu spüren. Er war eben aus der Lateinschule +gekommen, da haben die neun Schweizer, durch Iselin in Basel gerufen, +ihre Freundschaftsfahrt nach Schinznach gemacht, die helvetische +Gesellschaft zu gründen. Auch ein Zürcher, Hans Kaspar Hirzel, ist +dabei gewesen, und obwohl die Gestrengen Herren im nächsten Jahr die +Teilnahme an den Verhandlungen in Schinznach als staatsgefährlich +verboten haben, weiß er wohl, daß ihrer sieben heimlich dort gewesen +sind; und er entsinnt sich noch, mit welchen Augen selbst die Knaben in +der Schule davon sprachen, als ob Schinznach ein neues Rütli für die +Eidgenossenschaft wäre gegen den gewalttätigen Herrschaftsgeist der +einzelnen Kantone. Und nun kommt der Tag, wo der alte Bodmer das Licht +öffentlich aufsteckt, das bis dahin nur mit Tüchern verhüllt heimlich +von Haus zu Haus getragen worden ist; wo er als der einzige in Zürich, +der die Geltung und den Freimut zugleich besitzt, dergleichen zu wagen, +die helvetische Gesellschaft zur Gerwe einrichtet.</p> + +<p>Als Heinrich Pestalozzi sich mit andern Studenten vor den Anschlag +drängt, der den Arbeitsplan der Gesellschaft kundgibt, kommt zufällig +Bodmer mit zwei jungen Männern daher, die schon die Kleidung +der zukünftigen Geistlichkeit tragen und aus Respekt vor dem<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> +Professor, obwohl er freundschaftlich mit ihnen spricht, die Hüte +in der Hand halten. Die beiden sind ziemlich allen bekannt als die +Predigtamtskandidaten Bluntschli und Lavater, die dem alten Herrn +eifrig zu Diensten und auch bei der Gründung der neuen Gesellschaft +seine Handlanger sind. Sie verziehen keine Miene ihrer feierlichen +Gesichter, als sie vorübergehen; Bodmer aber bleibt seiner scherzhaften +Laune folgend stehen, und weil er zufällig an Heinrich Pestalozzi +gerät, tippt er ihm mit dem Zeigefinger leicht auf die Brust: ob er +Lust zur Mitarbeit habe? Die Frage scheint nicht weiter gemeint, der +alte Herr wartet auch gar keine Antwort ab und geht mit den schwarzen +Pagen zur Münstertreppe hinunter: aber darum hat er ihm doch mit dem +Finger ans Herz gerührt. Er wäre auch sonst glücklich gewesen, mit +bei dieser Sache zu sein, die aus seinen glühenden Wünschen gemacht +scheint; nun aber sind seinem Ehrgeiz Hoffnungen geweckt, die er sich +selber wie eine Fahne aufrollt.</p> + +<p>Der schwarze Pestaluz wird Tambour! höhnt ein Bürgersohn, den die +Bevorzugung ärgert, und die andern lachen dazu, als ob sie ihn schon +trommeln hören; er aber ist viel zu erregt, darauf zu achten, und noch +als er zu Hause die Treppe hinaufgeht, spürt er die Stelle, wo ihm der +Bodmer genau auf das Herz getippt hat.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>18.</h3> +</div> + +<p>Die Gesellschaft heißt zur Gerwe, weil ihre Versammlungen im Zunfthaus +der Gerber abgehalten werden, das unterhalb des Rathauses über die +Limmat hinaus<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> gebaut ist. Als Heinrich Pestalozzi zum erstenmal +hinkommt, ist noch niemand da, weil seine Ungeduld sich verfrüht +hat; so wird er von einigen Männern, die nach ihm eintreten, um eine +Auskunft angesprochen und gerät dadurch gleich anfangs in die Stellung +eines Vertrauten, der mehr von dieser Sache weiß, um so mehr als Bodmer +nachher der Versammlung scherzhaft ankündigt, daß sie es einmal mit +der umgedrehten Welt versuchen und der Jugend das Wort lassen wollten, +indessen sie, die Alten, diesmal nur das Parterre im Theater wären. +Es mögen an die hundert Personen in dem getäfelten Saal sein, wie +Heinrich Pestalozzi an der Begrüßung merkt, zumeist Schüler Bodmers, +der seit vierzig Jahren vaterländische Geschichte in Zürich liest und +schon der Lehrer einiger Graubärte gewesen ist, die nun als begeisterte +Eidgenossen in seine Studiengesellschaft eintreten. Den ersten Vortrag +hält der Kandidat Bluntschli; er liest ihn mit einer Stimme, die +beinern vor Erregung ist, und das Papier zittert ihm so in den Händen, +daß ein Blatt mitten durch reißt. Auch seine Worte sind so, sie handeln +von den Grundsätzen der politischen Glückseligkeit, und wie Heinrich +Pestalozzi den blassen, schon durch die Schwindsucht gezeichneten +Menschen von den politischen Einrichtungen Zwinglis sprechen hört, +glaubt er den Reformator fast selber zu sehen, so erfüllt ist dieser +Kandidat von der unbeugsamen Sittlichkeit seiner Gedanken.</p> + +<p>Nachher gibt es eine Aussprache, und nun spürt Heinrich Pestalozzi, +daß dies mehr sein soll und ist, als eine Studiengesellschaft der +vaterländischen Geschichte.<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> Einer der Männer, die ihn zu Anfang +angesprochen haben, nimmt auch das Wort, und es ist schon ein Zeichen +selbständiger Gesinnung, wie er mit seinem braunen Vollbart gegen die +rasierten Gesichter der modischen Herren steht. Er bringt die Rede auf +den Landvogt Grebel in Grüningen, der in seiner sechsjährigen Amtszeit +mehr ein Räuber als eine Obrigkeit im Sinne Zwinglis gewesen sei und +nur deshalb seinen Raub trotz aller Klagen des Landvolks behalten +könne, weil er der Eidam des Bürgermeisters wäre. Obwohl der alte +Bodmer sichtlich erschrocken die harten Worte mit erhobenen Händen +abwehrt, muß er sie wieder sinken lassen; denn aus der Versammlung +bricht die Empörung über die allbekannten Greuel des leichtfertigen und +bösen Mannes in solchen Zurufen aus, als ob sie sich alle nur deshalb +in der Gerwe vereinigt hätten. Bodmer weiß zwar die Erregung mit klugem +Bedacht wieder auf eine Aussprache zurückzulenken, aber die Worte, die +nun kommen, sind anders, als die vorher waren: als ob sie auf einem +Wasser hingerissen würden, so vergeht der einzelne Schall, aber die +stark strömende Flut der Erregung bleibt.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi fühlt sich aus seinem jünglinghaften Träumerdasein +mitten ins Leben versetzt; er könnte die Worte des bärtigen Mannes aus +dem Gedächtnis sagen, so sind es Hammerschläge auf sein Herz gewesen, +und als es zum Schluß noch ein erregtes Zwiegespräch mit dem Bluntschli +gibt, steht er im Rausch dabei: Der Kandidat ist mit der Anwendung +seiner Grundsätze nicht einverstanden; weil er aber nur abzulesen,<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> +nicht frei zu sprechen vermag, hat er dem braunen Mann vor der +Versammlung nicht entgegnen können; nun, wo die meisten, auch Bodmer, +schon gegangen sind, gerät sein zu lange verhaltener Widerspruch in +Zorn, sodaß es fast einen Streit gibt. Der andere aber, der vorher so +scharf gewesen ist, weiß nun den Humor des Älteren herauszukehren, +sodaß sie zuletzt noch friedlich mit einander auf die Gasse kommen. +Heinrich Pestalozzi hätte längst heim gemußt, er kann sich aber nicht +von den andern lösen, solange derartige Dinge in den Worten sind; so +geht er treulich noch am nächtlichen Limmatufer mit den andern hinauf +und befindet sich, als es unvermutet eine Abschiedsecke gibt, zu seiner +eigenen Verwunderung mit dem Kandidaten allein.</p> + +<p>Der in seiner gereizten Stimmung ist augenscheinlich froh, noch einen +Zuhörer für seine zornigen Gedanken zu haben. Vielemal läuft er mit ihm +disputierend am Wasser auf und ab, auf dem der Mond sein Silberlicht in +einen ruhelosen Abgrund schüttet: Er habe die Grundlage der sittlichen +Bürgerordnung, nicht den Aufruhr stipulieren wollen, sagt der Kandidat, +und obwohl Heinrich Pestalozzi seine Freude an dem braunbärtigen Manne +gehabt hat, folgt er dem Aufgeregten in seine Welt. Es tut ihm wohl, +von dem Älteren so gewürdigt zu werden, und als er endlich allein — +vom Nachtwächter verscheucht — zum Roten Gatter hinaufgeht, geben +die einstürmenden Erinnerungen aus der Stadtgeschichte nur noch die +Begleitung zu seiner fast trunkenen Melodie, daß er nun mit beiden +Füßen in das Gemeinleben der Stadt eingetreten sei und daß er an<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> dem +Kandidaten einen Bekannten gewonnen habe, von dessen entschiedenen +Meinungen er sich manches für seine eigene Zukunft erhoffen dürfe.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>19.</h3> +</div> + +<p>In der Folge sorgt Heinrich Pestalozzi, daß ihn der Bluntschli nicht +wieder aus den Augen verliert. Er weiß, wie der unbemittelte Sohn +eines Steinmetzen es gleich ihm nicht leicht hat zwischen den reichen +Bürgersöhnen, aber um seines Fleißes und der jungmännlichen Strenge +willen mit besonderen Hoffnungen betrachtet wird. Wen der Bluntschli +von den Studenten seines Umgangs würdigt, der ist damit schon etwas +Besonderes; obwohl er den unfröhlichen Menschen bisher nicht günstig +angesehen hat, überläßt sich Heinrich Pestalozzi nun willig seiner +Führung, weil sein Ehrgeiz in dieser Gefolgschaft schneller einen Weg +in die Lebensdinge zu finden hofft, als auf dem Umweg der Schule.</p> + +<p>Es dauert auch nicht lange, so darf er ihn besuchen im Zunfthaus zu +den Zimmerleuten, wo sein Vater Stubenverwalter ist. Er spürt wohl, +daß der Bluntschli einen herrschsüchtigen Hang hat und seinen Freunden +strengere Pflichten auferlegt, als es einem Lehrer gestattet würde; +aber weil er selber in einen fanatischen Lerneifer geraten ist, sodaß +er nicht essen kann, ohne daß noch ein Buch neben dem Teller liegt, ist +ihm die Strenge recht.</p> + +<p>Eines Tages kommt es zu einem Spaziergang, durch Sihlport hinaus +gegen den Uto. Er muß sich einen Tadel gefallen lassen, weil er dem +Bluntschli zu hastig mit<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> den Armen schlenkernd dahinläuft; als sie +dann gegen den Waldrand hinauf wollen, merkt er freilich, daß es +nicht nur die Sorge um seine Würde ist, die den andern so gemessen +schreiten läßt: der Atem wird ihm bald zu kurz, sodaß sie den steilen +Weg verlassen und einem Pfad links unter der Manegg her folgen. Wo +die Büsche den Blick frei lassen, geht er über die schattige Rinne +des Sihltals und den dunklen Waldrücken bei Wollishofen in das +blaue Himmelsbecken des Zürichsees, darin Wolken und Bergfernen ihr +schimmerndes Licht mischen: so erstaunt Heinrich Pestalozzi nicht, +als sie in einer grünen Wiesenbucht einen Maler emsig dabei finden, +die Linien und Farben dieser Ansicht auf ein Papier zu bringen. Ein +Genosse von ihm hat sich augenscheinlich als Staffage auf eine Kuppe +davor gesetzt, und ein weißer Hund liegt artig ihm zu Füßen, als ob er +seine Wichtigkeit im Bild fühle. So emsig der eine mit den Wasserfarben +hantiert, so eifrig liest der andere in einem Buch; und erst als der +Hund sich erhebt, die beiden Ankömmlinge knurrend zu stellen, schauen +beide auf, erst der Maler, und als der gleich einen Juchzer ausstößt, +auch der Leser.</p> + +<p>Der mit dem Buch ist Lavater, und Heinrich Pestalozzi begreift nicht, +daß er ihn nicht beim ersten Blick erkannt hat; von dem andern weiß +er, daß er ein Sohn des Malers Füeßli ist, gleichfalls Theologie +studierend, aber gern mit dem Handwerkszeug seines Vaters über Land, +und den Lehrern mit seiner freimütigen Art vielmals ein Ärgernis. Er +hat wie meist sein Waldhorn mit, und ehe sie noch ihren Gruß sagen +können, bläst er ihnen<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> schon einen ländlichen Hopser ins Gesicht. +Dem Bluntschli scheint die Begrüßung zu mißfallen; er geht an dem +übermütigen Bläser vorbei gleich auf Lavater zu, und es sieht aus, als +ob er ihn zur Rede stelle. Dabei hat er den Hund des Malers nicht mit +berechnet; denn als er mit einer beschwörenden Gebärde auf den Freund +losgeht, stellt das große Tier seinen Mann und legt ihm die Pfoten auf +die Schultern, sodaß er statt dem Gesicht des Ungetreuen das bleckende +Maul vor sich hat. Der Füeßli kann vor Gelächter nicht mehr blasen; er +ruft den Hund erst zurück, als er sieht, daß der Bluntschli sich mit +seinem blassen Zorn in Gefahr bringt.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat den Auftritt, weil der Füeßli nicht zu seiner +Bekanntschaft gehört, wie ein überflüssiger Zuschauer erlebt; sein +Pflichtgefühl ist bereit, sich zu dem Zornigen zu schlagen; als aber +der Maler ihm lachend die Hand hinhält, vermag er den lustigen Augen +nicht standzuhalten. Die andern scheinen sich unterdessen auch geeinigt +zu haben; obwohl verstimmt, kommen sie hinzu, setzen sich auch zögernd, +wie der mit dem Waldhorn vorschlägt, miteinander auf den trockenen +Grasboden und betrachten sein Bild. Es zeigt erst die porzellanene +Bergferne und vorn das waldige Sihltal wie eine dicke grüne Raupe, aber +es ist sauber gemalt, und Heinrich Pestalozzi muß den leichtherzigen +Menschen bewundern, der gleichwohl solches vermag. Dem Bluntschli +scheint das Bild keiner Beachtung wert; er will wissen, was für ein +Buch Lavater gelesen hat, und als der ihm den Titel zeigt, weist er +es kopfschüttelnd zurück. Als ob er sich vor Pestalozzi rechtfertigen +müsse,<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> gibt Lavater ihm das Buch in die Hand: es ist eine Schrift von +Winckelmann über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei +und Bildhauerkunst. Er weiß nicht weshalb, aber er hat im Augenblick, +da er es nahm, gehofft, es möchte der Emil von Rousseau sein; so gibt +er das Buch enttäuscht aus der Hand.</p> + +<p>Der Maler will die Stimmung retten und schlägt vor, daß sie zusammen +durch das Sihltal hinüber nach Wollishofen wandern und von da am Abend +in einem Schiff zurückfahren sollten. Heinrich Pestalozzi würde das +trotz seinem Erlebnis an dem Weidling mitgemacht haben; aber Bluntschli +steht geärgert auf und geht ohne Gruß den gleichen Pfad zurück, es ihm +überlassend, ob er folgen oder sich den andern anschließen will. Er +wäre auch bei besserer Stimmung eines solchen Verrats nicht fähig, gibt +also beiden mit einem flehenden Blick für seinen zornigen Genossen die +Hand und springt ihm nach.</p> + +<p>Bis zur Sihlbrücke kommen sie schweigend, Bluntschli immer vorauf und +er wie sein Pudel hinterher; dann scheint das rauschende Wildwasser +den Groll zu lösen, und obwohl Heinrich Pestalozzi deutlich fühlt, daß +nur die Eifersucht um Lavater den Verärgerten so sprechen läßt, horcht +er doch seinen Worten. Die ersten hört er kaum im Lärm der Sihl, erst +nachher versteht er, daß der Bluntschli streng und erbittert von dem +Geist der Aufklärung spricht, von dem Heidentum, das mit der gerühmten +modernen Bildung in die Stadt Zwinglis gekommen sei und sich da mit +dem Tand seidener Kleider, mit komischen Erzählungen lüsterner Art, +mit radierten Idyllen und dem armseligen Götterwerk der<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> heidnischen +Welt breitmache. Solange man seine Urteilskraft an wahrhaft nützlichen +Gegenständen üben könne, sei es ein Abfall, dürre und unfruchtbare zu +wählen: Die nötigen Kenntnisse sind allen Menschen gemein, die nicht +allgemeinen sind unnötig!</p> + +<p>Es ist zuviel von seiner eigenen Gesinnung darin, als daß Heinrich +Pestalozzi ihm nicht zustimmen sollte, und für eine Weile stehen die +beiden da oben im Wald vor ihnen wie rechte Taugenichtse da; aber als +sie von der Meisezunft her gegen die Wasserkirche über die Brücke +gehen, lehnt bei dem Mühlrad ihr Lehrer, der weise Bodmer, und sieht in +das glatt strömende Wasser, als ob er etwas in seinem Grund suche. Sie +wollen ehrfürchtig grüßend an ihm vorbei; er erkennt sie aber und hält +sie an: ob sie schon wüßten? Als sie beide den Kopf schütteln, nimmt er +sie mit hinunter in die Gerwe und zeigt ihnen da eine Anklageschrift +gegen den Landvogt Grebel, die in der ganzen Stadt verbreitet wäre und, +wie er bestimmt vermute, Lavater und Füeßli zu Verfassern hätte: Wenn +sie sich dazu bekennen müssen, sagt er und faltet das Papier wieder in +seine Brusttasche, ist den beiden der Wellenberg sicher!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>20.</h3> +</div> + +<p>Einige Tage später muß Heinrich Pestalozzi hinauf nach Höngg, wo seine +Mutter mit dem Bärbel die kränkelnde Großmutter pflegt. Sie ist nun +einundsiebzig und längst zu schwach für ihren Garten, doch hat sie +es gern, wenn sie bei gutem Wetter hinuntergelassen und auf Stühlen +zwischen den Beeten gebettet wird. Da<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> liegt sie auch diesmal, als er +um einer Laune willen unten an der Limmat hin und dann den steilen Pfad +heraufgekommen ist. Es macht die alte Frau besorgt, daß er von dem +raschen Anstieg seine brandigen Hitzflecken im Gesicht hat, und sie +ruht nicht, bis er sich mit ihrer Schürze den Schweiß abtrocknen läßt. +Nachher muß er sich auf die Steinbank setzen und ihr erzählen; da ihn +die Vorfälle um den Vogt Grebel, die geheimnisvolle Anklageschrift und +die zornigen Untersuchungen der Gestrengen Herren bis in den heißen +Kopf erfüllen, spricht er ihr davon. Dann scheint es ihm freilich, +als ob ihr einfältiger Sinn den Dingen nicht zu folgen vermöchte; sie +streichelt nur immer eine Lilie, die sich in der linden Luft zu ihr +neigt, und lächelt auf eine kindliche Art dazu. Als er aufsteht, die +andern aufzusuchen, hält sie ihn fest mit ihrer welken Hand, und für +einen Augenblick scheint ihr Greisensinn völlig verwirrt. Du mußt im +Traum sein, Heiri, den Landvogt hat der Tell geschossen!</p> + +<p>Er findet die Mutter und das Bärbel, die er abholen soll, schon +reisefertig im Flur. Seitdem der Tochtermann des Pfarrers, der Vikar +Wolf, gestorben ist, führt ihm die Witwe den Haushalt; das Tantli, +wie sie bei ihnen heißt, ist noch eine junge Person und kann es trotz +ihrer beiden Kinder wieder allein machen, seitdem es mit der Großmutter +bessert. Er mag aber nicht sobald wieder fort; es drängt ihn, auch +mit dem Großvater zu sprechen; so läßt er die beiden allein gehen und +bleibt zur Nacht. Der Großvater hat mit der zunehmenden Gebrechlichkeit +des Alters eine Vorliebe für gelehrte<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> Studien gefaßt und sitzt über +seinem Liebling, dem Kirchenvater Lactantius, den er den christlichen +Cicero nennt; er läßt sich aber diesmal gleich stören: Es geht mir +bald wie mit meinem Schwiegervater selig, dem Chorherrn Ott und seinem +Flavius Josephus, sagt er wehmütig lächelnd, indem er die alten Bände +zur Seite legt. Heinrich Pestalozzi weiß, wie merkwürdig die Weisheit +dieses Juden aus der Zeit Christi an dem Zürcher Baum der Erkenntnis +seines Urgroßvaters gehangen hat, und wie der alte Chorherr daran zum +Narren geworden ist; aber angefüllt von den Dingen der Gegenwart vermag +er nicht mit dem Großvater zu lächeln und sagt ihm das seltsame Wort +aus dem Garten, das einen Dammbruch in seine Gefühle gerissen hat. Der +alte Herr wird im Augenblick ernst und nimmt ihn hastig an der Schulter +hinaus, als ob dergleichen in seiner Amtsstube nicht gesprochen werden +dürfe.</p> + +<p>Sie machen danach miteinander einen Gang ins Dorf, wo der Pfarrer dem +Schulmeister eine Weisung zu geben hat. Heinrich Pestalozzi sieht von +weitem das Haus, darin er den Ernst Luginbühl an den Webstuhl genötigt +weiß, und das schmerzhafte Erlebnis mit dem Testament der Mutter, das +er seitdem tiefunterst im Schrank verwahrt, gibt seinen strömenden +Worten einen bitteren Beiklang. Der Großvater läßt ihn schweigend sein +übervolles Herz ausschütten und tadelt ihn nur, als er sich allzu +heftig zum Richter aufwirft. In seiner Kammer aber findet er an diesem +Abend — vom Großvater heimlich hingelegt — die Verordnungen für das +gemeine Landvolk, die den Pfarrern von den Gestrengen Herren<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> übergeben +sind. Er liest darin, bis sein Kerzenlicht zu Ende ist; nachher vermag +er nicht zu schlafen, sitzt in den Kleidern am offenen Fenster bis +in den Morgen und sieht in die unruhige Mondnacht hinaus, darin die +jagenden Wolken ihre schwarzen Schatten vor die silberne Scheibe +drängen; so oft sie auch siegend daraus hervorkommt, unaufhörlich +steigen die schwarzen Sturmvögel vom Zürichberg herauf, ihr Licht zu +decken; nicht anders, als die Verordnungen der Züricher Stadtherren +über den mühsamen Lebensstand des gemeinen Landvolkes kommen:</p> + +<p>Alle Ämter in Staat und Kirche, alle ehrsamen Handwerke sind dem +Landvolk verschlossen, das mit Zehnten und Grundzinsen, mit dem Erb- +und Leibfall, der dem Landvogt bei jedem Todesfall das beste Stück der +Hinterlassenschaft sichert, mit Fronden und Kleidervorschriften, mit +Handelsverboten und strengen Strafen für jedes Gelüst der Freizügigkeit +von den Stadtbürgern wie leibeigen gehalten wird. Heinrich Pestalozzi +hat all diese Dinge einzeln auch schon vorher gewußt, wie der Bauer +nichts auf dem Dorf verkaufen, sondern alles auf den Zürcher Markt +bringen muß, wo die Bürger für jede Ware den Preis festsetzen, wie +ihm verboten ist, Geld auszuleihen, damit die Stadtherren den hohen +Zins behalten, wie er nicht einmal sein selbstgesponnenes Tuch und +Leinen selber färben darf: aber daß diese grausame Willkür mit allen +Folgen des Elends ein Verrat an den alten Sagen und Briefen der +Eidgenossenschaft ist, das hat er nicht durchgefühlt bis zu dieser +Nacht, wo ihn das einfältige Wort der Großmutter vom Landvogt<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> und dem +Tell in einen Aufruhr aller Gedanken gebracht hat.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> + +<h3>21.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi kommt am nächsten Morgen aus Höngg zurück, als ob +der Geist Tells in der Stadt Zürich auf ihn warte. Er findet den Kram +der Straßen in der gleichmütigsten Geschäftigkeit, und nur am Rathaus +drängen sich die Leute vor einem Anschlag der Gestrengen Herren: Man +habe mißfällig vernommen, daß gewisse für die Ordnung des Staates +zwar wichtige Nachrichten auf eine illegale Weise angezeigt worden +wären, und wolle hiermit jedermann erinnert haben zu berichten, was +er von der Sache wisse! Der Vorwitz der Stunde treibt ihn, sich eines +Wortes von Bodmer zu erinnern, daß es der Charakter der Regierungen +sei, sich selber allen Patriotismus zuzuschreiben und bei andern +Leuten nichts als Unverstand, unreine Absichten, Wildheit und Aufruhr +zu bemerken. Aber einige grämliche Handwerker, die dabei stehen, +nehmen ihm den jugendlichen Vorwitz übel und hätten ihm die vorlauten +Worte mit Schlägen heimgezahlt, wenn er nicht eilig in die Marktgasse +hinauf entwichen wäre. Als er sich da nach den schimpfenden Verfolgern +umsieht, aber hastig weiterläuft, hat er das Unglück, in eine offene +Kellertreppe hinein zu fallen, wodurch er zwar ihrem Zorn entgeht, sich +aber schmerzhaft den Knöchel vertritt. Er ist noch nicht aufgestanden, +als schon mit einem Licht aus der Tiefe des Kellers ein Mann im +Lederschurz herzuläuft, den er gleich als den braunbärtigen Ankläger +aus der Gerwe<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> erkennt. Der hilft ihm mit lustigem Spott auf, leuchtet +ihn ab und bringt einen Napf mit Wasser, die Schramme an, der Stirn +zu waschen, aus der ihm Blut in die Augen läuft. Es scheint nichts +Schlimmes damit, und da er bei seiner hastigen Art Beulen und Schrammen +gewöhnt ist, hält ihn das Gespräch mit dem handfesten Mann länger auf +als seine Wunde. Er erfährt, daß sich Lavater und Füeßli gleich tapfer +zu der Schrift bekannt haben und sofort ins schärfste Verhör genommen +sind: weil sie geblasen hätten, was sie nicht brannte.</p> + +<p>Um seine Mutter nicht unnötig zu erschrecken, humpelt er zunächst +ins Carolinum, wo ihm die allgemeine Aufregung die Mitteilung des +Mannes bestätigt. Er kommt in der kampflustigsten Stimmung, aber +mit schmerzendem Fuß zu Hause an, und über Nacht schwillt dieser so +auf, daß der Doktor kommen muß. Es ist nur eine Zerrung der Sehnen, +aber der Fuß wird eingepackt, und er liegt nun als das erste Opfer +der Begebenheit zu Hause. Das Babeli läßt ihn ihren Grimm über den +unnützen Fall spüren, und wenn ihm das Bärbel nicht mit schwesterlichem +Eifer zu Diensten wäre, hätte er es hart. Sie bringt ihm ans Lager, +was er braucht, und holt Erkundigungen über den Stand der Dinge ein: +Es gibt zwar eine zornige Partei, die den beiden Angebern nach altem +Brauch kurzerhand den Wellenberg verordnen möchte, aber der Kreis +der Patrioten aus der Gerwe sammelt Unterschriften aus der ganzen +Stadt, daß die beiden nur nach ihrem Bürgereid gehandelt hätten. +Da der Bürgermeister Leu sich in der Sache neutral verhält, obwohl +der beschuldigte Landvogt<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> Grebel sein Eidam ist, auch Lavater wie +Füeßli aus angesehener Familie sind, gelingt es Bodmer, sie vorläufig +freizuhalten, indessen die Untersuchung nach anderen Aufrührern ihre +verbissenen Gänge weiter wühlt.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi kann schon wieder vom Fenster an die Ofenbank +humpeln, als es eines Abends gegen die Dämmerung zaghaft an die +Stubentür klopft. Das Babeli hebt noch schnell ein Stuhlkissen auf, +das er dem Bärbel im Scherz nachgeworfen hat, bevor es den Riegel +aufklinkt. Herein kommt aber nur die unsichere Gestalt Lavaters, der +den Hut schon draußen abgenommen hat und damit ein Päckchen in seiner +Hand bedeckt. Heinrich Pestalozzi kennt ihn bisher eigentlich nur aus +der Gerwe, wo er freilich einmal lange mit ihm gesprochen hat, und ist +ebenso überrascht von dem Besuch, wie der andere verlegen scheint. Er +habe erst jetzt von seinem Mißgeschick gehört, sagt er schließlich, +als ihm Hut und Päckchen abgenötigt sind, und fängt an, vor Heinrich +Pestalozzi auf und ab zu schreiten: seine eigene Sache stände nicht +günstig, er wolle zwar nicht vorher fliehen, aber nach dem Urteil außer +Landes gehen; zu Hause und vor der übrigen Verwandtschaft als einer +dazustehen, der aus Leichtsinn seine Zukunft verspielt habe — hier +läuft das Babeli weinend aus der Stube — wäre ihm unerträglich; er +wolle sehen, ob die Welt keinen andern Platz für ihn habe! Er spricht +noch manches, bis es völlig dunkel wird, und verhehlt auch nicht, daß +Füeßli der treibende Wille und er nur die Feder dieser Anklageschrift +gewesen sei, die ihn nun selber zum Angeklagten gemacht habe. Als +das Bärbel ein Licht<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> bringt, nimmt er seinen Hut, bevor Heinrich +Pestalozzi weiß, was er eigentlich gewollt bat, das Päckchen läßt er +liegen; die Schwester will es ihm nachbringen, aber er wehrt mit einer +komischen Verdrießlichkeit ab und geht auf seine lautlose Art rasch die +Treppe hinunter, von dem Bärbel beleuchtet.</p> + +<p>Als sie wieder zurückkommt mit dem Licht und Heinrich Pestalozzi das +sauber verschnürte Päckchen ansieht, trägt es seinen Namen. Ungeduldig, +nun endlich zu wissen, was der seltsame Besuch des Kandidaten für ihn +bedeutet, reißt er den Umschlag ab, und dann steht für einen Augenblick +sein Leben still wie eine Kerzenflamme: was er in den Händen halt, ist +Rousseaus »Emil«.</p> + +<p>Was hast du? fragt die Schwester, als sie ihn mit dem Buch in den +Händen so dasitzen sieht; er hält ihr den Titel hin und weiß kaum +selber, was sein Mund spricht: Ich habe den Propheten!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>22.</h3></div> + +<p>Heinrich Pestalozzi vermag nicht so fließend französisch zu lesen, +daß er das Buch verschlingen könnte; er muß es wie einen alten +Schriftsteller studieren, und oft genug stockt er bei einem Wort, +dessen Sinn ihm vieldeutig oder unklar ist. Aber darum ist es doch für +ihn, als ob er eine Feuersbrunst erlebte, wie erst nur die Flämmchen +nach dem First hinlaufen, auf einmal Pfannen niederprasseln und endlich +das feurige Gerippe brennender Balken in der Lohe steht, wo vorher ein +Dach jahrhundertelang die Menschlichkeit vor den Elementen<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> beschützt +hat. Zeit und Raum verliert er vor dem Buch; und wenn er aus den +Seiten aufblickt in die Stube, kann er staunend seine Mutter oder das +Bärbel dasitzen sehen, als ob sie im Augenblick aus himmlischen Weiten +hergeweht wären. Vieles kennt er schon, aber gerade darum ist es ihm, +als ob in den Gesprächen Bluntschlis, in den Reden Bodmers und allen +Verhandlungen der Gerwe nur Irrlichter gewesen wären von dem Feuer, das +hier durch Tag und Nacht seinen Brand brennt. Mehr als dies alles aber +ist die heimlich wachsende Erstaunung, daß die Seele seiner Jugend in +dem Buch ihre Heimat findet; immer bis zu diesem Tag ist es gewesen, +daß es von ihr zur Welt keinen Zugang gab: So irrend er gesucht hat, +so lieb ihm die Mutter und das Bärbel, das Babeli und der Baptist, die +Großeltern in Höngg und das heimelige Pfarrhaus gewesen sind, er ist +doch in der Einsamkeit geblieben, als ob nicht schon seine Ahne vor +mehr als zweihundert Jahren, sondern er selber erst fremd über die +Alpen nach Zürich gekommen wäre. Auch alle Schriften, die er bis dahin +gelesen hat, sind für ihn von dieser fremden Welt gewesen; nun aber ist +es, als ob in diesem Buch seine Seele selber aufgebrochen wäre, sodaß +es in der Welt ringsum nichts mehr gäbe als sie. Alles bis zu diesen +Tagen, was er gefühlt, gewollt und getan hat, ist mit dem schmerzlichen +Gefühl des Unrechts geschehen; zum erstenmal steht seine Natur auf und +sieht, daß sie recht hat.</p> + +<p>Die Tage füllen sich zu Wochen, und die Wochen laufen schon in den +zweiten Monat, daß Heinrich Pestalozzi<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> noch immer mit dem Buch dasitzt +und sich mit achtzehn Jahren erst eigentlich zur Welt bringen läßt. +Unterdessen läuft draußen alles seinen Gang ab: der Landvogt Grebel +wird schuldig gesprochen, aber Lavater und Füeßli müssen öffentlich +Abbitte tun; sie verlassen bald miteinander Zürich, wo die Patrioten +in der Gerwe vom Argwohn und Haß der Gestrengen Herren beaufsichtigt +bleiben und von den Kanzeln gegen den aufrührerischen Geist der Jugend +gepredigt wird. Im Carolinum werden die alten Schriften und die +Kirchenväter gelesen, und in den Zünften wird mißtrauisch über die +städtischen Rechte der Gewerke Buch geführt, das Bauernvolk bringt +zu Wagen und zu Schiff die Erträgnisse seiner Arbeit auf den Zürcher +Markt, und Sonntags strömen die geputzten Bürgersöhne und Mamsells +hinaus in seine ländliche Welt, in den Gasthöfen steigen Kaufleute +und empfindsame Reisende aus allen Ländern Europas ab, und die +Baumwollenweberei stellt zum Nutzen Zürcher Fabrikherren einen Stuhl +nach dem andern in den Dörfern auf, angeblichen Wohlstand verbreitend, +die Landreiter gehen auf die Betteljagd, und an zierlichen Tischen +werden die Idyllen Geßners gelesen: alles um ihn läuft seinen Gang +wie zuvor, nur steht das sehnsüchtige Gefühl seiner Jugend nicht mehr +als ein unbrauchbarer Fremdling darin. Es hat die Natur als Boden der +Menschlichkeit gefunden, wo alles Verirrung und Falschheit ist, was dem +inneren Gefühl um äußerlicher Vorteile willen widerstrebt, und er ist +sicher: dies ist der einzige Schlüssel für den Menschen in die Welt.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span></p> + +<h3>23.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat den Emil zum drittenmal gelesen und ist noch +immer im Traum dieser Dinge, als Ende November in Höngg die Großmutter +sanft hinwegstirbt. Sie haben sie am Mittag bei milder Sonne noch +einmal in den Garten hinuntertragen müssen; da sind ihr mit den letzten +verirrten Blüten die Augen zugefallen, als ob sie schliefe. Er muß +mit dem Bärbel allein zum Begräbnis gehen, weil die Mutter selber zu +Bett liegt. Der matte Glast der Novembersonne steht in der unbewegten +Luft, als sie den Sarg um die Kirche auf den Acker tragen, wo die alten +Holzkreuze auf ein neues zu warten scheinen. Das ganze Dorf ist da, +auch die, denen es zu keinem sonntäglichen Kleid mehr reicht in ihrer +Armut; bis an die untere Mauer stehen sie als der letzte Kriegshaufe +lebendiger Liebe gegen den Tod. Bevor sie ihm seine Beute in das enge +Erdloch hinunterlassen, tritt der Schulmeister vor, mit den Kindern das +Abschiedslied ihres Lebens zu singen: Heinrich Pestalozzi ist oft mit +dem Großvater in der Dorfschule gewesen und hat ihnen zugehört, nun +will ihm der Gesang der Mädchen- und Knabenstimmen einstimmig vereint +herrlicher klingen, als er jemals Menschen singen gehört hat, und die +Erschütterung davon ist tiefer als die Trauer.</p> + +<p>Weinend kommt er in die Kirche; da vermag die kleine Halle nicht alle +zu fassen, daß ihrer viele noch draußen horchen, wie der alte Pfarrer +und Dekan seiner eigenen Frau die Leichenrede hält. Auch er ist welk, +und der Kopf kämpft mit dem gebeugten Nacken, das Angesicht<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> von der +Erde zu heben, aber die Stimme trägt noch klar durch den Raum, als +er der Gemeinde den Lebenslauf der Dorothea Ott vorträgt, die seit +achtundvierzig Jahren seine Frau und seit sechsunddreißig Jahren ihre +Pfarrerin gewesen ist. Heinrich Pestalozzi weiß nun, es ist nicht +der liebe Gott seiner Knabenjahre, der da spricht, es ist ein Greis, +den sie selber bald um die Kirchecke tragen; umsomehr fühlt er, wie +ergreifend dies ist, daß ein Mensch mit seinem Leid dasteht und aus +der Ewigkeit den Lebenslauf seiner Gefährtin ablöst, deren irdisches +Dasein vor dem seinen vollendet ist. Aber was ihn tief erschüttert, ist +die Erfahrung, wie alles, was er hier sieht und hört, nur ein Stück +aus dem Buch des Genfers scheint. Wenn er von hier aus an die Stadt +denkt, an ihre Gassen, ihren Aufwand, ihr Gezänk: glaubt er niemals +wieder hineingehen zu können. Auf dem Dorf allein ist das menschliche +Wesen noch auf die Einfalt der Natur gestellt; von hier aus allein kann +deshalb der Geist natürlicher Sittlichkeit wieder gesellschaftliche +Rechte in der Menschheit erhalten. Es ist ihm nicht anders, als ob sie +drei: die ländliche Gemeinschaft, seine Seele und der Traum des Buches +in dieser Stunde einen Bund schlössen gegen den verkünstelten Aufwand +der städtischen Welt.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>24.</h3> +</div> + +<p>Seitdem denkt Heinrich Pestalozzi wieder ernstlich daran, Pfarrer +zu werden; das Bild des Großvaters ist von neuem sein Lebensziel +geworden, aber nicht um den Armen ein väterlicher Freund, sondern +dem menschlichen<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span> Wesen ein Fürsprech und Märtyrer gegen Unnatur +und elende Versunkenheit zu sein. Er tritt mit seinen Studien, die +ihn immer leidenschaftlicher abgesondert haben, bis das Erlebnis +Rousseaus ihm alles andere überflüssig machte, wieder in den Kreis des +vorgeschriebenen Unterrichts ein. Selbst das Patriotentum in der Gerwe +scheint ihm für eine Zeit nicht mehr so wichtig, und als es im Januar +wieder zu einer Anklage diesmal gegen den Zunftmeister Brunner kommt, +der sich schwerer Veruntreuungen schuldig gemacht hat, bleibt er der +Sache fremd.</p> + +<p>Er geht schon in sein neunzehntes Jahr und sieht wohl die Sorge, mit +der die Mutter seine Unstetigkeit aufnimmt. Er wollte ihr auch den Emil +zu lesen geben, aber sie ist nur traurig dabei geworden und hat ihm das +Buch ungelesen wieder hingelegt. Seitdem er mehr von seinem Vater weiß, +wie der zwar ein geschickter Wundarzt, aber ein sorgloser Haushalter +gewesen ist, spürt er leicht eine Besorgnis in ihren stillen Augen, daß +er von seiner Art zuviel geerbt haben möchte — zumal von seinem Bruder +Johann Baptista bedenkliche Nachrichten kommen — und immer tapferer +wird sein Entschluß, auch ihr zuliebe etwas Tüchtiges zu werden. Er +weiß, wie schwer ihm alles in den Kopf geht, was nicht irgendwie +sein Gefühl ergreift; doch weil er gerade das, was eine kaltblütige +Beobachtung erfordert, als das Wichtigere geschätzt sieht, übt er sich +täglich im Zwang zur Aufmerksamkeit. Unvermutet aber wird er durch +einen Lehrer wieder aus der Zucht seiner strengen Entschlüsse geworfen:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span></p> + +<p>Im selben Frühjahr ist ein Schüler Breitingers mit Namen Steinbrüchel +als Lehrer der Eloquenz ins Collegium gekommen, ein noch jugendlicher +Mann, der die größte Belesenheit mit einem glänzenden Vortrag verbindet +und bald zum Abgott der Studenten wird, dabei von schneidender +Schärfe, wo er unklaren oder halben Dingen zu Leibe geht. Auch +Heinrich Pestalozzi tritt bei ihm ein, und er erwartet sich für seine +gegenwärtigen Absichten eine heilsame Kur davon. Es geht auch anfangs +vortrefflich, solange er nichts als seinen Schüler vorstellt; aber als +nach einem Vierteljahr die erste Bekanntschaft gesichert ist, sodaß +auch in diesem Verhältnis das Menschliche zum Vorschein kommen kann, +sieht er als Grundlage aller glänzenden Fähigkeiten dieses Mannes den +Geist der Aufklärung, den er immer gehaßt hat und der ihm seit dem +Emil als die Quelle aller Unnatur verächtlich wurde. Es ist eine Art, +die Welt in das Einmaleins der Vernunft aufzulösen, die seiner Natur +unmöglich ist und ihm als Vorbereitung für das Pfarramt verbrecherisch +scheint. Das Bild eines Seelsorgers, wie es ihm vorschwebt, ist der +Diener eines gütigen und demütigen Menschentums; dies aber dünkt ihm +eine Sklavenherrschaft der Bildung zu sein, die auch die jungen Pfarrer +noch von dem Volk absondert zu dem geistigen Hochmut, in dem er alles +städtische Wesen eingezirkelt sieht: In dem Zwiespalt dieser geistigen +Dressur zu seinem Lebensgrund zerreißen sich die tapferen Absichten +der Selbstzucht; denn gerade die freimütige Art des Professors, seine +Schüler zur tätigen Mitarbeit herauszufordern, bringt seine Natur +zu Äußerungen<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> des Widerspruchs, die dem selbstsicheren und auch +selbstgefälligen Mann als mädchenhaft verächtlich sein müssen.</p> + +<p>So kommt es eines Tages, als Steinbrüchel über das vernünftige Denken +in der Religion mit allem Aufwand seiner gewetzten Vernunft und +seines spöttischen Witzes gesprochen hat und gerade dabei ist, seinen +Triumph aus den Äußerungen der Schüler zu ernten, zu einem Frage- +und Antwortspiel, darin der Streit von Anschauungen zu persönlicher +Feindschaft ausartet. Heinrich Pestalozzi, der das Rüstzeug Rousseaus +gegen Voltairesche Dialektik in Händen hat und an seine sterbende +Großmutter denkt, wie sie die Lilie im Garten streichelt, vergißt die +Eitelkeit des berühmten Lehrers und sagt: Wie alles Wahrnehmbare könne +auch die Religion Gegenstand der vernünftigen Denkarbeit sein, nur +dürfe man nie den Unterschied vergessen, der zwischen ihr selber und +den Gedanken über sie bestände, und um Gottes willen diese Gedanken +nicht schon für Religion halten; wie in allen Arten der Liebe, in der +Treue, im Haß und in der Trauer habe man in ihr eine direkte Äußerung +des Lebens — und zwar die tiefste, da sie auf den Zusammenhang mit dem +Geheimnis der Welt ginge — während alles Denken nur indirekt, eine +Hilfe des Lebens, aber nicht wie jene Dinge, das Leben selber sei!</p> + +<p>Er bringt das nicht so rasch heraus, verhaspelt sich vielmals und +sucht mit den Armen nach dem fehlenden Wort, sodaß die andern schon +zum Spott gestimmt sind, bevor der Professor ihn mit dem scharfen Witz +abfertigt, daß sie ja auch hier zum Denken und nicht zum<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> Leben seien, +auch wenn ihm das eine schwerer zu fallen scheint als das andere! Mit +solcher Waffe hat er es natürlich leicht, die Spottlust der Klasse über +seinen ungeschickten Gegner herauszufordern, sodaß die Antwort Heinrich +Pestalozzis vom Gelächter verschüttet wird. Seit diesem Tag behandelt +Steinbrüchel ihn mit einer spöttischen Nachsicht, als ob er einen +komischen Störenfried in seiner Klasse hätte; und da der Geist der +Aufklärung, aus dem er sich mit den meisten seiner Schüler verständigt, +der Stolz von Zürich ist, kommt Heinrich Pestalozzi unvermutet wieder +in die Rolle des Heiri Wunderli von Torliken, und gerade die Klasse, +in die er mit so tapferem Willen eingetreten ist, wird ihm zu einem +Martyrium, darin er nun die Freude am Collegium überhaupt verliert.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>25.</h3> +</div> + +<p>Mitten in den Entmutigungen dieser Zeit trifft Heinrich Pestalozzi ein +merkwürdiges Ereignis: Lavater ist nach fast einjähriger Abwesenheit +in der Stille zurückgekehrt, hat sich auch den Freunden einige Wochen +lang nicht gezeigt und überrascht sie eines Tages mit einem Bändchen +Schweizerlieder. Der nach seiner demütigen Abbitte aus der Vaterstadt +entwichene Kandidat kehrt damit als ein Dichter in die Heimat zurück, +den nun auch die Mißgünstigen nicht mehr wie einen jugendlichen +Störenfried abtun können. Als er danach zum erstenmal wieder in die +Gerwe kommt, von Bodmer an der Hand geführt, wird der Tag von den +Patrioten wie ein Sieg der vaterländischen Sache gefeiert. Auch +Heinrich<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> Pestalozzi schüttelt dem Glücklichen die Hand, geht aber +bald wehmütig fort; nicht, daß er dem Lavater den Triumph weniger als +ein anderer gönnte, aber es wird ihm mitten im Kreis der Freunde, die +sich um ihn drängen, deutlich, daß er nicht zu ihnen gehört, daß er +nur einen jüngeren Nachzügler ihrer Generation vorstellt. Fast alle +sind älter als er und haben ihr Studium schon beendigt, während er sich +selber immer mehr als ein Gescheiterter vorkommt. Darin hilft ihm auch +sein Rousseau nur zu einem trotzigen Selbstbewußtsein, das letzten +Grundes seine Unfähigkeit zu einer bei jenen geachteten Existenz +bestätigt.</p> + +<p>In dieser Laune begegnet er Bluntschli, der unterdessen Hauslehrer +in Zürich geworden ist und, durch seine Verpflichtungen verspätet, +noch zur Gerwe will. Um mit seinem frühen Weggang nicht sonderbar +zu erscheinen, geht er einige Straßen mit ihm zurück und klagt ihm +offenherzig seine Not. Der hört ihn schweigend an, aber als sie vor der +Gerwe stehen, kehrt er kurzerhand um: Wenn es ihm recht wäre, könnten +sie miteinander noch auf den Lindenhof gehen!</p> + +<p>Es ist eine unermeßliche Sternennacht da oben; obwohl der Mond noch +nicht aufgegangen ist, scheinen die Dächer der Stadt vom Licht +begossen, und der See leuchtet den Himmel in einer zarten Verklärung +wider. Sie schweigen lange, bis Bluntschli spricht: Du hast mir von +einem Menschen gesagt, der sein Leben nicht wie einen sauberen Parkweg +vor sich sieht und darum verzweifelt ist; ich könnte dir von einem +andern erzählen, der seine Stunden sorgfältig vorbereitet hat, nur<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> daß +er sie selber nicht mehr wird schlagen hören, weil ihm das Uhrwerk vom +Rost zerfressen ist! Er hat die Hand auf seine vom Anstieg angestrengte +Brust gelegt, als er das sagt, und danach schweigt er, sodaß Heinrich +Pestalozzi — der kein Wort findet, das ehrlich und zart zugleich ist, +um eine Antwort auf dieses Bekenntnis eines Todgeweihten zu sein — in +einer Spannung dasteht, als müsse ihm der Kopf zerspringen. Auch der +andere kommt nicht mehr zurecht, bis sie schweigend aus dem Schauer +dieser Sternennacht hinunter gehen, in die dunklen Gassen und auf der +Brücke mit dem Mühlrad nach der großen Stadt hinüber. Erst auf der +Münsterterrasse, wo die beiden Türme sich riesenhaft in die Sterne +einzubauen scheinen, findet die Erregung noch einmal ein Wort: Wozu +meinst du, sagt der Bluntschli und zeigt an den Steinmauern hinauf, +wozu meinst du, daß die dastehen? Für dich nicht und für mich nicht, +für jeden einzelnen wären sie zu groß, und für alle sind sie auch nicht +da; denn ich weiß hundert, denen sie gleichgültig bleiben! Aber daß +die Menschlichkeit im Namen des Höchsten, das wir kennen, täglich in +die Geschäfte und die Arbeit eingeläutet wird, dafür sind sie so dick +und dauerhaft gebaut. Und daß sie uns sagen: was einer für sich selber +Irdisches zuwege bringt, das hört mit seinem Leben auf; aber was er an +der Menschlichkeit tut, das ist unsterblich. Du sorgst, was aus dir +werden soll, und mir ist die Sorge bald abgenommen — am Ende aber ist +es wichtiger, was wir gewesen sind!</p> + +<p>Er läßt ihn danach stehen, gibt ihm nicht einmal die Hand und geht auf +seine vorgebeugte Art davon. Heinrich<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> Pestalozzi kommt nach Haus, als +ob er aus dem Jenseits wiederkehre.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>26.</h3> +</div> + +<p>Seit diesem Frühwinterabend verliert Heinrich Pestalozzi die enge +Fühlung mit den Freunden in der Gerwe nicht mehr; es ist, als habe er +eine Verkündigung erlebt, was zwischen ihnen Gemeinsames sei. Als sie +zum Januar ein Wochenblatt gründen, das der Erinnerer heißt und von +der klugen Hand Lavaters in Gemeinschaft mit Heinrich Füeßli — einem +Vetter des Malers, der unterdessen in London seine Künstlerlaufbahn +begonnen hat — geleitet wird, ist er eifrig dabei. Sie haben nun alle +Rousseau gelesen; und wenn Bodmer sie von Anfang an lehrte, daß der +sicherste Weg zur persönlichen Freiheit der sei, sich aller unnötigen +Bedürfnisse zu entwöhnen, da man nur durch diese den Machthabern +ausgeliefert, ohne Bedürfnisse aber frei wäre: so wird nun ein +asketischer Wetteifer daraus, der über die persönliche Unabhängigkeit +hinaus eine spartanische Vereinfachung der Sitten erzwingen will. +Mit jugendlicher Behendigkeit wird dadurch das Ideal des sittlichen +Lebens aus der Zeit Zwinglis und der Eidgenossen in das Kriegslager +der Spartaner zurückverlegt; und auch Heinrich Pestalozzi überrascht +das Babeli damit, daß er sich auf den Stubenboden bettet, nur mit +einem Rock zugedeckt, und dies auch monatelang zu ihrer Verzweiflung +durchhält.</p> + +<p>Unvermutet gibt die Züricher Regierung den patriotischen Jünglingen +Gelegenheit, die spartanische Tugend<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> zu erproben: Schon in der +deutschen Schule ist in der Klasse von Heinrich Pestalozzi ein Sohn +des Amtmanns Schinz zu Embrach gewesen, der — ein Jahr älter als er +— jetzt mit ihm Theologie studiert und auch einer aus der Gerwe ist. +Dessen Eltern besitzen einen Pachthof in Dättlikon, wo der Pfarrer +Hottinger von seiner Gemeinde eher für einen Wolf im Schafspelz als +für einen guten Hirten gehalten wird. Da ihn die Züricher Regierung +trotz der bösesten Gerüchte weiter amtieren läßt, weil er anscheinend +beim Antistes einen verläßlichen Fürsprecher hat, setzt der Student +Rudolf Schinz eine Anklageschrift auf, die von dem Gerichtsvogt und dem +Schulmeister in Dättlikon, den Gebrüdern Ernst, unterschrieben und mit +sorgfältiger Beachtung aller Vorschriften in Zürich eingereicht wird. +Als darauf zwei Monate lang nichts geschieht, als ob die Gestrengen +Herren auch diese Anklage noch verschweigen wollten, findet der +Antistes Heß an einem Maitag in seinem Kirchenstuhl einen mit Bleistift +geschriebenen Zettel, auf dem der Oberpfarrer an seine Pflicht erinnert +wird: Weil sonst die Steine anfangen möchten zu schreien!</p> + +<p>Dieser Lästerbrief, wie er danach in den Akten heißt, bringt die +Gestrengen Herren mehr in Zorn als alle Amtsvergessenheit eines +lasterhaften Pfarrers. Wer von den Patrioten fähig scheint, ihn verfaßt +zu haben, wird peinlich ins Verhör genommen; auch Heinrich Pestalozzi +trifft es diesmal. Seine Mutter verschließt sich traurig in die Kammer, +als er den Weg aufs Rathaus antreten muß, und das Babeli putzt ihn +grimmig zurecht, daß er zum wenigsten noch in der Kleidung als ein<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> +ordentlicher Mensch vor die Herren käme; er selber ist voll überlegener +Verachtung. In einem öffentlichen Anschlag des Kleinen Rates sind +dem, der den Briefschreiber verriete, zweihundert Dukaten versprochen +worden unter Verschweigung seines Namens: Daß eine Regierung, die in +ihren Schulen die Tugenden der Römer und Spartaner lehren läßt, sich +so weit vergißt, hat — wie der Bluntschli sagt — aus dem Schwert der +Gerechtigkeit ein Dolchmesser gemacht. So hört Heinrich Pestalozzi die +umständlichen Vermahnungen der Herren mit verächtlichem Trotz an und +verweigert wie die andern den verlangten Eid — nichts von der Sache zu +wissen — mit der vereinbarten Begründung, daß er bereit sei, einen Eid +für alles zu schwören, was er nach seinem Bürgergewissen zu sagen sich +für verpflichtet halte.</p> + +<p>Gegen so viel Festigkeit der Jünglinge, die sich in die Hand gelobt +haben, ein Beispiel spartanischer Tugend zu geben, wagen die Gestrengen +Herren diesmal noch nicht vorzugehen: der Pfarrer Hottinger wird seines +Amtes enthoben, die Brüder Ernst in Dättlikon als Landbürger müssen +»übertriebener Anklägten« halber zweimal vierundzwanzig Stunden aufs +Rathaus in Arrest, Rudolf Schinz kommt als Stadtzürcher mit einer +Verwarnung davon.</p> + +<p>In Heinrich Pestalozzi löst das Ergebnis einen Plan aus, den er +schon lange mit sich herumgetragen hat: Seitdem Klopstock und andere +deutsche Dichter Zürich hoch gerühmt haben, ist es eine beliebte +Äußerung des Heimatstolzes geworden, die Stadt an der Limmat mit Athen +zu vergleichen. Ihm scheint der Vergleich in<span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span> dem besonderen Sinn +zu passen, daß athenischer Luxus und athenische Verweichlichung in +der Stadt Zwinglis überhand genommen haben, und daß es not täte, sie +auf das Beispiel Spartas zurückzuführen. Nun hat Heinrich Pestalozzi +in der ganzen Geschichte des lakonischen Staates nichts so gerührt +wie das Schicksal des jungen Königs Agis, der die von athenischen +Sitten angesteckte Stadt wieder zu den Gesetzen des großen Lykurgus +zurückführen wollte und darüber von seinen eigenen Landsleuten +hingerichtet wurde. Lykurgus und Zwingli sind für sein Gefühl eins; +weil aus dem spartanischen Zürich der Reformationszeit das Limmatathen +des Dättlikoner Handels geworden ist, liegt es für ihn nahe, auch +für Zürich einen Agis zu erwarten, und tatsächlich vermag er nicht +an seinen Freund Bluntschli zu denken, ohne daß dieser ihm das Bild +jenes edlen und unglücklichen Agis vorstellt. Nun sie in dem Handel +Sieger geblieben sind, gewinnt er Mut zur Beschwörung des alten +Heldenjünglings; aber seine Darstellung soll so deutlich auf Zürcher +Verhältnisse zielen, als ob der spartanische Reformator noch einmal in +die Welt gekommen wäre.</p> + +<p>So schreibt Heinrich Pestalozzi, der sein zwanzigstes Lebensjahr +noch nicht vollendet hat und unter den Patrioten immer noch das +Nesthäkchen ist, als Antwort auf den Dättlikonhandel seinen »Agis« +nieder, den er dem greisen Bodmer in Handschrift überreicht, und +den er nachher auch in der Gerwe vorlesen darf. Endlich kommt sein +Ehrentag, und er hätte am liebsten seine Mutter, das Bärbel und das +Babeli dabei — den Großvater<span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span> hat er gefragt, aber der hat sich +nicht entschließen können mit seinen dreiundsiebzig Jahren — wie +er den jungen und alten Patrioten seiner Heimatstadt ein Bild ihrer +schlimmen Zustände im Spiegel Spartas zeigen darf. Nicht allen sind +seine starken Ausdrücke recht, wie er das Reislaufen für fremdes Gold, +die Raubsucht der Reichen, die aufgeblasene Weisheit, das kriechende +Wesen der Untertänigen und den Redner, der um Beifall spricht, mit +dem Zeigefinger aus dem Bild herausholt; als er die Verleumdung gegen +Agis auch die Sprache der Niedrigkeit unserer Tage nennt, stürmen die +Jünglinge so laut mit ihrem Beifall, daß einige Ältere aufstehen und +sich entfernen; und als er den Agis sagen läßt: Ich rede die vergessene +Sprache der Freiheit in ein Jahrhundert hinein, das gewohnt ist, die +ewigen Gesetze der Freiheit verletzen, Mitbürger in Sklaverei stürzen +und das Heil des Staates vertilgen zu sehen! sind auch manche von +den Jüngeren erschrocken, und viele Augen richten sich fragend auf +den sonst so klugen Bodmer. Der aber, der den Schluß kennt, sieht +unbewegt und fast spöttisch unter seinen weißen Augenbüscheln gegen das +vertäfelte Gebälk der alten Zunftdecke. Als sich dann das Schicksal +des spartanischen Jünglings unter hohen Worten erfüllt, kommt alles +so, wie es der alte Herr vorausgesehen hat: mit ihrer Rührung um den +Helden gehen sie doch wieder in das griechische Altertum ein; soweit +sie ängstlich gewesen sind, sichtlich froh, alle harten und bösen Worte +mit dahinein packen zu können.</p> + +<p>Aber in den Erinnerer wagt Lavater die Arbeit doch<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> nicht zu nehmen, +und selbst Bluntschli, der sich die Handschrift noch an dem Abend +mitnimmt, bringt sie nach einigen Tagen, manchen Ausfall tadelnd, +zurück. Bei den Jungen und Stürmischen aber trägt ihm die Vorlesung +ein, daß sie seitdem auf ihn als einen Führer sehen, wie er selber beim +Eintritt ins Collegium auf Lavater und Bluntschli gesehen hat.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>27.</h3> +</div> + +<p>Der Beifall, den Heinrich Pestalozzi an seinem Abend in der Gerwe +genossen hat, die Achtung selbst von denen, die bis dahin bereit +gewesen sind, ihn um seiner Wunderlichkeit willen zu verspotten, +die bedenklichen Gesichter der Abwägenden und das Gemunkel um seine +rebellischen Ausfälle: bringen für ein paar Wochen einen Überschwall in +ihm zustande, als ob er selber seiner Stadt ein Agis werden könne. In +dieser Stimmung findet er eines Mittags, aus dem Collegium heimkehrend, +ein Billett, das ihm jemand unbemerkt zwischen seine Bücher und Hefte +gesteckt hat: Einer, der von seinem Vortrag gehört habe, bäte ihn +aus einer verzweifelten Notwendigkeit um ein geheimes Gespräch; er +möge nachmittags um fünf Uhr unauffällig durch die Stadelhofporte +hinausgehen bis ans Zürichhorn, wo ihn dort oder schon unterwegs jemand +ansprechen würde.</p> + +<p>Das Wetter ist dem sonderbaren Ausflug nicht günstig; schwarze +Wolkenballen drohen ein Gewitter, und gerade, als er zur Porte hinaus +will, prasselt ein Platzregen los mit Hagelkörnern und Donnerschlägen. +Er wartet mit drei modischen Mamsells, die sich nicht rechtzeitig<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> +haben retten können und nun verdrießlich die Federn hängen lassen, +den schlimmsten Aufruhr ab und geht dann tapfer den Wiesenpfad am +See entlang. Unterwegs kommt die Sonne in die Nässe, und über den +Weinbergen versucht sich ein Regenbogen. Am Zürichhorn ist niemand; +aber als er sich schon für gefoppt hält, legt ein Weidling an, darin +jemand mit einer Angel gesessen hat. Es ist ein Student aus dem +Alumnat, den er von Ansehen, nicht mit Namen kennt, ein ungewöhnlich +langer und blasser Jüngling, dem die Hosen an den Beinen kleben von +dem Regen. Der fragt ihn nach einer scheuen Begrüßung, ob er ein +Stück mitfahren wolle auf die Seehöhe hinaus; und erst, als sie so +weit auf der gleißenden Wasserfläche sind, daß sie vom Ufer aus nicht +mehr erkannt werden können, fängt er an zu sprechen: nicht scheu und +stockend, wie Heinrich Pestalozzi erwartet, sondern rasch und fest wie +einer, der sich die Worte vielmals überlegt hat und seiner Scheu damit +Gewalt antut.</p> + +<p>Was er mitteilt, ist Heinrich Pestalozzi nicht unbekannt; es betrifft +die geheimen Dinge im Alumnat, von denen im Carolinum längst +die schändlichsten Gerüchte gehen. Aber was ihm bisher nur ein +verächtliches Laster gewesen ist, bekommt in den Worten des Jünglings +eine Gefährlichkeit, daran er nicht gedacht hat: auch die noch +unbefleckt einträten, würden Opfer der allgemeinen Verführung, sodaß +die gesundesten Landsöhne schon ein halbes Jahr nach ihrem Eintritt +wie junge Birken wären, denen im Frühjahr der Saft abgezapft wurde. Er +selber sei einer von denen, die sich anfangs gewehrt<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> hätten: aber weil +das Laster nicht mehr heimlich, sondern die allgemeine Gewohnheit im +Alumnat sei, würde die Tapferkeit nur verhöhnt als ländliche Dummheit, +auch vermöge sie schließlich der Lüsternheit, die doch nun einmal in +jeder menschlichen Natur läge — hier fühlt Heinrich Pestalozzi in der +Erinnerung an seinen Rousseau einen feinen Stich im Herzen — nicht +standzuhalten: Was er von ihm verlange, sei nichts als ein Antrag auf +Untersuchung, auch was die nächtlichen Zusammenkünfte auf dem hinteren +Speicher beträfe, der dafür seit Jahren eingerichtet sei. Aber ihn als +Angeber verraten dürfe er nicht, was auch käme, und er müsse ihm das +schon in die Hand versprechen, wenn ihm eine Hand wie die seine dazu +noch recht sei!</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi verspricht es ihm in die Hand und läßt sich ans +Ufer fahren, wo die Sonne aus der Regenfeuchtigkeit einen heißen Dunst +macht. Er geht durch Binsen und Gebüsch der reisigen Stadt Zürich zu +wie ein Bote, dem die Feinde eine eiserne Halskrause umgeschmiedet +haben. Als er sich vor der Stadelhofporte zurückwendet, erkennt er +den Weidling noch, wie er mit beigelegten Rudern auf dem schimmernden +Wasserberg steht; es ist ihm nun fast sicher, daß er das häßliche +Geheimnis bewahren muß. Aber noch am selben Abend schreibt er tapfer +die Anzeige und gibt sie so ohne Vorsicht an der Tür des Antistes ab, +daß er schon am andern Mittag ins Verhör genommen wird. Er steht noch +immer in Verdacht, den Lästerbrief geschrieben zu haben, auch hat sein +spartanisches Sittenbild die Stimmung der Chorherren gegen ihn nicht +gebessert: so setzen sie ihm scharf zu.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span></p> + +<p>Es ist eine andere Luft als in der Gerwe zwischen den hitzigen Herren, +von denen ihm jeder einzelne seine bürgerliche Zukunft mit einem +Tintenstrich durchstreichen kann; er hält aber ihre Kreuzfragen aus und +verweigert standhaft, einen Gewährsmann zu nennen: er habe ihm seine +Hand darauf geben müssen, und niemand in der Welt dürfe ihn zwingen, +wortbrüchig zu werden. Er hätte seine Hand dem sagenhaften Römer gleich +ins Feuer stecken können, so überzeugt ist seine Gebärde, aber den +Herren scheint der Fall zu heikel für solche Gewalt. Sie ziehen sich +mit ihrer Unschlüssigkeit in das geheime Gemach zurück und lassen ihn +allein zwischen den Stühlen und Schränken. Doch steht ein Fenster +auf, und er kann hinunter sehen auf den Münsterplatz, wo gerade der +Bluntschli mit seinen vier Zöglingen daher kommt. Um eines Übermuts +willen laufen sie ihm fort, und der Kandidat vermag ihnen nicht zu +folgen gegen den steilen Berg. Heinrich Pestalozzi hört ihn husten und +sieht auch, wie ihn der Anfall würgt; er möchte ihm beispringen, aber +während er noch den unnützen Gedanken erwägt, machen die Kinder in +einem neuen Übermut kehrt und laufen an ihm vorbei gegen das Haus zum +Loch hinunter. Indem Bluntschli ihnen dahin folgt, sieht er ihn mit +seiner weltmännischen Höflichkeit eine Jungfer grüßen, die freundlich +nickend an ihm vorübergeht. Es ist Anna Schultheß, die schöne Schwester +ihres gemeinsamen Freundes, des Theologiestudenten, und wie er seitdem +erfahren hat, die Tochter des braunbärtigen Mannes aus der Gerwe. Er +weiß, daß die beiden miteinander im Gerede sind, und es<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> macht ihn +wehmütig, sie so lebendig gegen den Berg schreiten zu sehen, der seiner +kranken Brust zu steil gewesen ist.</p> + +<p>Nach ihr kommen noch viele Menschen über den Platz, fremde und solche, +die er kennt; er hat Zeit, ihnen nachzudenken, denn dreimal schlägt die +volle Stunde am Münsterturm, bis seine Richter wiederkommen, verärgert +und erhitzt. Sie schicken ihn nach Haus, wo er sich unter Androhung +schwerer Strafen verhalten soll, bis sie ihn wieder rufen ließen. An +dem Abend hört er nichts mehr von ihnen; nur seine Mutter scheint +unterdessen eine Nachricht zu haben: sie hält sich in der Kammer +eingeschlossen, und er weiß, daß dies ein Zeichen schwerer Kränkung +ist. Andern Mittags wird sie statt seiner vor die Herren gerufen; sie +bringt ihm, blaß wie der Tod, die Weisung mit, daß er sich noch am +selben Tag zu seinem Großvater, dem Dekan in Höngg, verfügen müsse, +dem er vorläufig für vier Wochen zur Ahndung seiner vorlauten Anzeige +überantwortet sei. Diese Weisung steht in der Schrift, die sie ihm +überbringt; sie selber sagt kein Wort, nimmt auch das Bärbel mit in die +Kammer, sodaß er ohne Abschied, nur vom bitterbösen Babeli vor die Tür +getan, den Weg antreten muß, den er nun doch in Trotz und Bitterkeit +geht.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>28.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi findet den Großvater auch diesmal in seiner +Studierstube; seit dem Tod der Pfarrerin ist er im Regiment des Tantli +und sitzt fast den ganzen<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> Tag bei seinen Kirchenvätern. Er liest die +Weisung mehrmals durch und legt sie mit einem Lächeln beiseite, das +Heinrich Pestalozzi an die Großmutter erinnert, nur ist es spöttischer. +Nachher werden sie von der Magd zum Vesperbrot gerufen und müssen mit +dem Tantli von andern Dingen sprechen. Der Großvater sagt ihr, daß +der Neffe diesmal vier Wochen bleibe, und scheint schon nicht mehr zu +wissen, warum; es drängt ihn augenscheinlich, wieder allein zu sein, +und Heinrich Pestalozzi sieht ihn an dem Tag nicht mehr. Doch wie er +am Abend frühzeitig in seine Kammer kommt, hat er ihm nach seiner +Gewohnheit etwas auf den Tisch gelegt.</p> + +<p>Es ist auch ein Schriftstück des Antistes, aber nicht seinetwegen an +den Dekan in Höngg gerichtet; als Heinrich Pestalozzi es gelesen hat, +legt er seine Verweisung mitten darauf, denn auch das andere ist ein +Stück Papier behördlicher Ungnade! In dem selben Dorf Buchs, woher +das Babeli ist, hat der Dorfpfarrer einigen Kindern die Konfirmation +verweigert, angeblich wegen ungenügender Kenntnisse, anscheinend aber, +weil er mit den Eltern Streitigkeiten hatte. Darauf hat der Dekan in +Höngg die Zurückgewiesenen ohne Umstände selber konfirmiert, und das +Schriftstück da ist der sanfte Tadel für seine Eigenmächtigkeit. Wie +Heinrich Pestalozzi nun an das spöttische Lächeln des Großvaters denkt, +muß er laut lachen, sodaß er aus diesem verdrießlichen Tag doch noch +mit Lustigkeit ins Bett kommt.</p> + +<p>Als er in der Frühe erwacht, hört er eine Sense dengeln; er besinnt +sich gleich, daß die Kornernte angefangen hatte, als er heraufkam, und +mit einem fröhlichen Einfall<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> springt er aus dem Bett. Unten ist noch +die Dumpfheit der überstandenen Nacht im Haus, aber als er den Riegel +öffnet, strömt ihn die Morgenluft an wie ein Bad; überall krähen die +Hähne, und aus einigen Schornsteinen drehen sich schon die blauen +Rauchsäulen in den Himmel, der noch ohne Sonne ist, aber Hahnenruf und +Rauch als Frühopfer der Erde in seine reine Stille verschwinden läßt.</p> + +<p>Dem ersten Bauer, dem er begegnet, heftet er sich an; es ist ein zäher +Greis, der seine Enkelin an der Hand führt und den fröhlichen Gruß +mit der abwartenden Miene erwidert, darin der Bauer die städtische +Zutraulichkeit abweist. Er merkt es nicht, nimmt das Kind, das seine +sieben Jahre zählen mag, kurzweg bei der andern Hand, und so gehen +sie zu dritt die Straße hinunter, bis der Bauer vom Weg abklettert, +die gedengelte Schneide mit den Fingern prüft und seinen harten +Sensenschlag in die gelben Halme beginnt, die einen Sprung zur Flucht +zu machen scheinen, bevor sie ihren stolzen Wuchs für immer neigen. +Heinrich Pestalozzi steht am Grabenrand und denkt, daß sie mit dem +Sommerwind ihr geschmeidiges Fangspiel gemacht und im Gewitter sich +ängstlich geduckt haben, daß sie den dünnen Regen und das dicke goldige +Sonnenlicht tranken und nun über den süßen abgeschnitten werden, immer +ein Bündel zugleich, wie sie auch nur miteinander ihr schwankes Leben +aufrecht halten konnten. Doch ist er nicht da für solche Gedanken, und +er wartet auch nur ab, was das Mädchen beginnen wird, das vorläufig am +Rain einer Sternblume die weißen Blättchen auszupft<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> und dazu einen +Zählreim sagt. Als er beobachtet hat, wie sie danach aus Halmen dünne +Seile dreht und damit die einzelnen Bündel zu Garben bindet, gibt er +sich mit daran und bleibt auch hartnäckig dabei, als der Bauer den +Wetzstein holt und sein Tun mißtrauisch besieht. Auf die Dauer einigen +sie sich doch, und wie gegen sieben Uhr der schmale Ackerstreifen +niedergelegt ist und nur noch ein letztes Büschel steht, läßt ihm der +Alte sogar die Sense, das abzuschlagen; er fährt freilich fast mit +der scharfen Sense gegen sein Bein, aber gerade das macht den andern +gesprächig, sodaß sie mit der warmen Morgensonne anders zurückkommen, +als sie in der kühlen Frühe auszogen.</p> + +<p>Das Frühmahl schmeckt ihm danach besser als sonst, und er sitzt schon +wieder in der Ungeduld dabei, was ihm der Tag nach diesem Anfang sonst +bringen könnte. Um noch beim Melken dabei zu sein, ist es zu spät; +doch tut er gleichwohl einen Sprung in den nächsten Stall. Da ist die +Frau gerade dabei, die seimige Milch durch das Haarsieb zu gießen; sie +braucht keine Hilfe, aber die hölzernen Eimer unter dem Brunnen sauber +zu waschen, versucht er doch, bis sie über seine Narrheit lacht und ihn +anders belehrt. Aus dem Stall geht es in die Matte, wo ein Bub noch +saftiges Futter vor der steigenden Sonne zu bergen hat, und so fort +durch das halbe Dorf, wo sich jeder über den närrischen Pfarrstudenten +wundert. Als er zum Mittagessen kommt, ist er brandig rot, und am Abend +muß ihm das Tantli einen Finger verbinden, der ihm irgendwo in ein +Schnitzmesser geraten ist.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span></p> + +<p>Mit dem Großvater spricht er an diesem Tag nur ein paar Worte, da +der in einer Dekanpflicht über Land gefahren ist; aber auch in den +nächsten Tagen hält ihn seine ländliche Tätigkeit so weit ab von den +Kirchenvätern des alten Herrn, daß sie sich nur beim Essen treffen; es +scheint ihm, als ob der lächelnde Mund immer sarkastischer würde; als +er es aber eine ganze Woche lang so fort getrieben hat und nun schon +fast wie ein Bauernknecht aussieht — nur daß er jetzt schon drei +Finger verwickelt hat — findet er abends ein Buch in seiner Kammer, +das er längst kennt, aber bisher kaum beachtet hat: »Die Wirtschaft +des philosophischen Bauers« oder, wie es kurzweg heißt, Der Kleinjogg. +Es ist von dem Doktor Hirzel in Zürich geschrieben, der zu den neun +Argonauten in Schinznach gehört und manchmal auch in die Gerwe kam. +Tags hat er immer noch keine Zeit, aber nachts liest er es bei der +Kerze, und bald schwört er darauf, daß es für einen echten Jünger +Rousseaus keinen andern Beruf geben könne, als Landmann zu werden. Wenn +er mitten aus seiner Feldarbeit heraus nach Zürich hinunter sieht und +an den Grund denkt, der ihn hergebracht hat, an die greulichen Dinge +im Alumnat, an die Schule und die Stadt mit dem Gezänk der Zünfte, dem +Gewerk der dunklen Kellerlöcher und dem Geschwätz der guten Stuben: +dann kann er mitten in seiner Freude traurig werden wie ein Narr, weil +ihn der Gedanke an die Rückkehr schreckt.</p> + +<p>Eines Tages schreibt er wirklich dem Bluntschli einen Brief, daß er +sein Studium aufgeben möchte, weil er<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> doch nicht zum Pfarrer tauge und +es auch sonst in der städtischen Unnatur nicht mehr aushalten könne, +nachdem er einmal das wirkliche Leben eines Landmannes geschmeckt +habe. Alles andere wäre nur ein Maulwurfsdasein, zum wenigsten könne +er von seinem Berg die hochmütige Stadt Zürich nur ansehen wie einen +Maulwurfshügel. Wolken und Sonne und Schnee: für den Städter wären sie +nichts als veränderte Gelegenheiten zu gutem und schlechtem Wetter — +und seinen Erdboden habe er gar mit Fundamenten und Straßen völlig +getötet — für den Landmann aber bedeuteten sie die Elemente seines +natürlichen Daseins, sie brächten seiner Saat Regen und machten das +Korn reif; der Wechsel der Jahreszeiten, ja der ganze Kalender wäre für +ihn der Kreislauf eines in der Natur gegründeten Lebens. Wenn es ihm +nicht zuwider sei, möge er schon seiner Mutter bei Gelegenheit ein Wort +der Vorbereitung sagen, daß sie durch seinen Entschluß nicht auch ihren +zweiten Sohn verlöre, sondern ihn erst recht gewönne.</p> + +<p>Er hat den Brief schreiben müssen, um endlich einem Menschen etwas +von der Befriedigung seines ländlichen Daseins sagen zu können; der +Großvater weicht allen Gesprächen darüber aus, und das Tantli, das +aus einer ländlichen Pfarrerstochter eine Vikarsfrau geworden war und +nun wieder einem Landpfarrer den Haushalt führt, vermag nur hellauf +zu lachen, wenn er mit seiner Schwärmerei anfängt; aber als er am +dritten Tag danach gerade auf einem Wagen voll Korn glücklich obenauf +sitzt und ins Dorf gefahren kommt, steht vor dem Pfarrtor ein Wagen, +und Bluntschli sieht kopfschüttelnd<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> seine Einfuhr an. Nachdem er dem +Dekan seine Aufwartung gemacht hat, die nur kurz ausfällt, gehen sie +miteinander durch seinen ländlichen Bereich, bis Bluntschli müde wird +und sich an einen Rain hinsetzen muß. Der hat den begeisterten Freund +bisher reden lassen; nun weist er auf seine Hände, an denen fast alle +Finger angeschnitten oder verwickelt sind: ob das seine besondere +Begabung für die ländliche Arbeit sei? Und ob er nicht wisse, daß zum +Bauerntum zuvörderst ein richtiger Bauernsitz gehöre? Wenn der Junker +Meis im Winkel aus der gleichen Begeisterung Bauer würde, wisse er, +wovon! Aber das alles seien Fragen, die ihn als seinen Freund nichts +angingen; denn Freundschaft hieße nicht, daß einer dem andern praktisch +beistände, Freundschaft sei eine Sache der Seele: Dies aber drehe sich +alles doch nur darum, daß er ein Dasein haben möchte, wie es für seine +Art möglichst bequem und vergnüglich wäre. Was er zu seinem Agis sagen +würde, wenn der die Not Spartas verließe, um sich einen Meierhof zu +suchen? Er möge doch nicht vor seinen eigenen Ideen verächtlich werden, +was sicherlich der eigentliche Verrat der Freundschaft sei!</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi wird ihm auf keine dieser Fragen eine Antwort +schuldig, aber als der Freund, der es eilig hat, wieder abfährt, bleibt +er mit einem zerbrochenen Mühlrad zurück; obwohl er noch trotzig darein +blickt, merkt er gleich, er bringt es nicht mehr zum klappern. Und +als ihm nach drei Tagen der Großvater einen Brief der Mutter in die +Kammer legt, den sie an ihren Schwiegervater geschrieben hat: was es +für Torheiten<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> habe mit ihrem Sohn? er möge ihm die Flausen aus seinem +Wirrkopf blasen! da fällt auch der Trotz rasch ineinander.</p> + +<p>Nachdem seine vier Wochen herum sind, läßt er sich vom Großvater die +Weisung des Antistes als erfüllt bescheinigen und marschiert nach der +Stadt zurück, die mit ihren Türmen und Dächern gleichmütig am See +geblieben ist und seine Schritte wie sonst in der Niederdorfporte +hallen läßt. Gerade, als er hindurchgeht, kommt ihm die Anna Schultheß +entgegen, die er als Freundin seines Freundes verehrungsvoll grüßt. Daß +sie das erste ist, was ihm in Zürich begegnet, gibt der Gedrücktheit +seiner Gedanken einen ziemlichen Stoß, sodaß er heller bei den Seinen +im Roten Gatter eintrifft, als er in Höngg fortgegangen ist; wobei +freilich die Liebe seiner Mutter auch das ihre tut, als sie ihn +herzlich weinend umfängt.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>29.</h3> +</div> + +<p>So muß Heinrich Pestalozzi doch noch einmal ins Collegium, und es ist +nicht leichter für ihn geworden in dieser Zwischenzeit: im Alumnat hat +es eine böse Reinigung gegeben, und die davon betroffen sind, stehen +nun in tückischer Feindschaft gegen ihn; auch die Lehrer übertragen +zum Teil die Stimmung der peinlichen Enthüllung gegen ihn, und da +seine Erscheinung durch die ländlichen Sommerwochen nicht gewonnen +hat, finden sich Anlässe genug ihn zu verhöhnen. Das Schlimmste +bleibt trotzdem, daß er sich in den witzigen, aufklärerischen Geist +der Theologenschule nun gar nicht mehr<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> zu finden weiß. Er kann es +nicht begreifen, daß sich im Zeitalter Rousseaus der humanistische +Bildungsdünkel noch so breitmachen kann wie in diesem Unterricht. +Selbst die alten Schriftsteller scheinen ihm aufs gröblichste +mißverstanden, indem das Leben aus ihren Schriften weggelassen und nur +das Wort gelehrt und gedreht wird. Als Steinbrüchel, der schon mit +Übersetzungen der griechischen Tragiker aufgetreten ist, im Lindauer +Journal die erste olynthische Rede des Demosthenes abdrucken läßt als +Stichprobe seiner Übersetzung der sämtlichen Werke des athenischen +Redners, kann Heinrich Pestalozzi der Lust nicht widerstehen, dem +hochmütigen Mann an einem Gegenbeispiel zu zeigen, was in diesen Reden +mehr als humanistisch sei. Obwohl er im Griechischen ein mangelhafter +Schüler ist, legt er im Examen ein Bruchstück der dritten olynthischen +Rede vor, das er danach auch, gleichsam als Vorrede zu seinem Agis, +mit diesem im Lindauer Journal abdrucken läßt. Der Beifall, den seine +Übersetzung durch das Feuer und rednerische Talent der Sprache findet, +ist so allgemein, daß der gelehrte Professor Steinbrüchel seine +geplante Demosthenes-Ausgabe im Pult behält und als Übersetzer von nun +ab peinliche Enthaltung übt.</p> + +<p>Damit ist das Studentenschicksal Heinrich Pestalozzis entschieden; aber +ihm hat die Übersetzung unvermutet ein Tor aufgemacht, durch das er +doch noch mitten ins Leben zu kommen hofft: Landwirt kann und Pfarrer +mag er nicht mehr werden; aber gleich dem Demosthenes ein Fürsprech +der Bedrängten und Volksredner der öffentlichen Dinge zu sein, das +scheint ihm ein Beruf,<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> den er nun sich und andern mit glühender Liebe +ausmalt. Alles, was er von dem Leben des großen Griechen liest, wie der +gleich ihm den Vater früh verliert und erst durch mühevolle Gewöhnung +seine körperlichen Mängel überwindet, wie er die großen Dinge seines +Volkes in seine Reden einbegreift und aus einem Rechtsanwalt das +Sprachrohr der vaterländischen Gesinnung in Athen wird: in allem findet +er Hinweise für seine durch die Ähnlichkeit des Temperaments und der +Zeitumstände vorbestimmte Laufbahn. Auch Bluntschli billigt sie, und +die Mutter willigt schweigend ein. Da es im Collegium Carolinum keine +Klasse für die Rechtswissenschaft gibt, geht er nun endgültig von der +Anstalt ab, die ihm verhaßt geworden ist. Wie er zum letztenmal die +Steintreppe hinuntersteigt, drängt sich ein Trupp seiner Mitschüler +hinter ihm her, ihm einen höhnischen Abschiedsgruß zu pfeifen. Er +weiß, daß einige Lehrer gern mit dabei wären; obwohl noch nicht +zwanzigjährig, hat er nun schon erfahren, daß diese Erlebnisse zu +einem tätigen und ehrlichen Leben gehören; er schwenkt seinen Hut zu +den hochmütigen Zürchersöhnen zurück, als ob sie ihm den Wert und die +Rechtlichkeit seiner Entschließungen bestätigt hätten.</p> + +<p>Nach Hause geht er aber nicht, sondern er läuft, wie er da ist, nach +Höngg hinauf. Bei dem Spott der Jünglinge ist ihm der Ernst Luginbühl +eingefallen, und wie es die selben sind, die dem Weberknaben die Schule +verleidet haben. Sogleich hat ihn aber auch die Scham gepackt, daß er +sich selber nicht mehr um ihn kümmerte. Wohl hat er sich oft nach ihm +erkundigt, aber zu ihm gegangen<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> ist er nicht mehr, und nur einigemal +Sonntags hat er ihn gesehen, wenn er, langaufgeschossen und längst mit +blassen statt roten Backen von seiner Stubenarbeit, in die Kirche kam. +Er kann nicht anders, er muß es gleich gut machen; aber wie er nach +Höngg hinaufkommt, läuft er dem Großvater in den Weg, der sich noch +etwas in der Herbstsonne ergehen will. Von dem erfährt er, daß der +Ernst Luginbühl vor einigen Wochen nachts seinem Vater davongegangen +sei, niemand wisse wohin: aber er würde schon überall in der Welt einen +besseren Platz finden als an seinem Webstuhl! Glaubst du das wirklich? +sagt Heinrich Pestalozzi und sieht mit einem seltsamen Blick in die +wellige Hügelferne, als ob er zum erstenmal fühle, daß hinter diesen +Bergen auch noch eine Welt ist.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>30.</h3> +</div> + +<p>Die Nachricht von der Flucht Ernst Luginbühls hat Heinrich Pestalozzi +auf den Gedanken einer heimlichen Pilgerfahrt gebracht: Er weiß, daß +Rousseau seit dem Frühjahr auf der Petersinsel im Bielersee wohnt, und +er malt sich das Abenteuer aus, dort einmal mit dem großen Mann zu +sprechen; wenn er bis Baden eine Schiffgelegenheit nimmt, kann er den +Weg in zwei Tagen hinter sich bringen. Die Mutter wehrt mit der Hand +seine Worte ab, und er sieht, daß sie bis ins Herz erschrocken ist, als +er nur im Scherz davon spricht; den Bluntschli aber fragt er einmal in +der Gerwe auf den Kopf, was er davon hielte?</p> + +<p>Da müßtest du weit reisen, sagt der; denn Rousseau<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> ist auf der Flucht +nach England! Und so erfährt Heinrich Pestalozzi, was der andere +freilich auch erst seit zwei Tagen weiß, daß die bernische Regierung +dem Flüchtling sein Asyl auf der Petersinsel gekündigt habe. Warum ist +er nicht nach Zürich gekommen? fragt er in der ersten Enttäuschung; +aber nun wird Bluntschli, der eben noch gescherzt hat, bitter: Weil +die Zeiten Zwinglis vorüber sind und wir keinen Ulrich von Hutten +mehr brauchen können; besonders, wenn es nur ein Genfer Uhrmachersohn +ist! Wollte der große Voltaire kommen, sie möchten den Regenten der +Aufklärung mit vierundzwanzig Pferden einholen und er könnte bei dem +Antistes wohnen, aber den Rousseau mit seinen Menschenrechten würden +die Gestrengen Herren in den Wellenberg stecken!</p> + +<p>Sie haben im Eifer nicht gemerkt, daß unterdessen der mit dem braunen +Bart — wie Heinrich Pestalozzi nun längst weiß, der Pfleger Schultheß +zum Pflug, der Vater Annas und ihres gemeinsamen Freundes Kaspar — +hinter sie getreten ist: Der Wellenberg wäre das Mindeste für einen +Mann, sagt er ernst, der seine Kinder ins Findelhaus schickt und +ungetraut mit einem Weibsbild lebt!</p> + +<p>Der Bluntschli steht artig auf, und Heinrich Pestalozzi sieht, wie er +todblaß geworden ist; auch ihn selber hat es ins Herz getroffen, das +Vorbild so von ihrer strengen Tugend entblößt zu sehen. Darüber treten +andere hinzu, die auch schon die Nachricht von Bern haben, und weil +durch ein Mißgeschick der angesagte Vortrag ausfällt, wird Rousseau das +erregte Abendgespräch an allen Plätzen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span></p> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat über den Sommer zuviel in den Wolken gesegelt; +nun merkt er erstaunt, wie sehr das sogenannte Genfer Geschäft auch +schon die Züricher erhitzt. Es heißt, daß der Rat von Genf gegen seine +eigene Bürgerschaft — die das Verdammungsurteil über Rousseau und +seine Schriften nicht anerkennt und darum schon im vierten Jahr mit ihm +streitet — die Gesandtschaften von Zürich, Bern und Frankreich als +Friedensrichter in dieser Sache anrufen wolle. Damit würde, wie Bodmer +freimütig über die Tische weg sagt, sich auch Zürich zu entscheiden +haben, wieviel Macht der Wahrheit noch über Interesse, Herrschaft und +falsche Politik geblieben sei! Heinrich Pestalozzi vermag aber nicht, +diese Gespräche noch weiter anzuhören; das Wort des Pflegers Schultheß +hat ihn zu sehr getroffen. Als er den Bluntschli bald aufstehen sieht, +folgt er ihm rasch, um mit ihm in den gleichen Gedanken eingespannt +früher als sonst heimzugehen: Auch der Hutten soll an einer häßlichen +Krankheit gelitten haben, sagt der andere mit leiser Stimme, als sie +oben auf der Niederdorfgasse sind; dann sprechen sie nichts mehr, bis +sie sich ohne Gruß und Handdruck trennen.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>31.</h3> +</div> + +<p>Im Frühjahr sieht Heinrich Pestalozzi die Züricher Gesandtschaft +mit ihren kostbaren Staatsperücken in einem großen Aufwand von +Reisewagen die Fahrt nach Genf antreten: es ist gekommen, wie an +dem Abend gesprochen wurde, die Mächte sind angerufen, den Handel +um Rousseau zu schlichten. Er ist immer noch nicht<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> im reinen, wie +einer sittenlos leben und Tugend lehren könne, und dieser Zwiespalt +verbittert ihm die Politik. Unterdessen sind nach dem Agis im Lindauer +Journal auch im Erinnerer eine Reihe von Wünschen gedruckt, die er +im vergangenen Jahr geschrieben hat, aber selbst seine eigene Feder +ist ihm verdächtig geworden. Als Bluntschli seine Hauslehrerschaft +aufgibt und nach Hütten reist, um da eine Kur gegen seine kranke Brust +zu machen, bleibt er vereinsamt in Zürich zurück. Einmal begegnet er +dem Alumnaten, zu dem er damals am Zürichhorn ins Schiff gestiegen +ist; er will ihn ansprechen, aber der weicht ihm scheu aus, als ob +er eine Schuld von ihm einzufordern hätte. Wenn Heinrich Pestalozzi +nun an seine Anzeige denkt, fällt eine brennende Unruhe über ihn; es +ist das einundzwanzigste Jahr seines Lebens, als er gewahr wird, daß +in der menschlichen Natur schlimmere Feinde der guten Sitten und der +einfältigen Menschlichkeit liegen als in allen Gewalthabern.</p> + +<p>Die Berichte der Gesandtschaft laufen ein, und jeder macht einen +Sturm im Großen Rat, wo Bodmer unerschrocken gegen die Mehrheit der +Gestrengen Herren auftritt. Es kommt, wie er prophezeit hat: die +Entscheidung der Genfer zwischen Wahrheit und Interessen wird auch den +Zürichern auferlegt; aber immer deutlicher sieht Heinrich Pestalozzi, +daß die Bürgerschaft durchaus nicht so auf der Seite der Patrioten +steht, wie seine spartanische Begeisterung gedacht hat. Wo ihrer +einige zu vorwitzig auf der Gasse sind, kann es ihnen geschehen wie +ihm damals, als er in den Keller<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> fiel. Er ist verzagt genug, seinen +Traum nun selber zu belächeln, diese Bürger als ein neuer Demosthenes +zu reinen und hohen Dingen anzufeuern; es steht nicht einmal so, daß +er wie sein Agis das Leben wagen könnte, die Zünftler würden sich mit +einer Tracht Prügel genug tun.</p> + +<p>Unerquicklich geht ihm der Sommer und der Herbst hin, indessen er +noch immer hartnäckig an seiner Rechtswissenschaft mit dem Studium +alter und neuer Gesetzschriften festhält. Er sieht den Bluntschli +aus seiner Kur in Hütten mit einer Schwärmerei für die Schönheit der +Natur und die Einfalt des ländlichen Lebens heimgekehrt, die er nun +wehmütig belächeln muß. An seiner Gesundheit hat der Freund nichts +mehr zu klagen, und wenn Heinrich Pestalozzi nicht durch die Mienen +und Gespräche besorgt gemacht würde, er könnte glauben, daß ihm die +Kur völlige Heilung gebracht hätte, so heiter sieht er ihn. Als er +noch einmal über Rousseau mit ihm sprechen will, schüttelt Bluntschli +den Kopf; auch sonst scheint er den Eifer eines Patrioten verloren +zu haben, wo sich die andern erhitzen, lächelt er, und als aus Genf +die Nachricht kommt, daß die mit dem Rat vereinigten Gesandten den +Bürgern eine neue Verfassung auferlegt hätten, sagt er: da könnte das +Sechseläuten angehen! Auch in seinen Büchern liest er nicht mehr, das +Wissenswerte stände nicht darin, pflegt er zu scherzen; obwohl Heinrich +Pestalozzi die Unheimlichkeit hinter dem veränderten Wesen fühlt, +vermag er sich der Heiterkeit nicht zu entziehen, darin der Freund +Jüngling und Greis in einem geworden scheint, und so<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> erlebt er den +Zürcher Ausklang des Genfer Geschäftes viel weniger aufgeregt, als es +sonst gewesen wäre.</p> + +<p>Mitte Dezember kommt die Nachricht aus Genf, daß die Bürgerschaft +mit großer Mehrheit das Machwerk der Gesandten verworfen habe; +gleichzeitig geht das Gerücht, nun würden Frankreich, Zürich und Bern +Gewalt anwenden und die aufsässige Bürgerschaft mit Krieg überziehen: +Alles um eines gedruckten Buches willen, scherzt Bluntschli, als ob +es keine vernünftigen Anlässe mehr gäbe in der politischen Welt! Aber +die andern Patrioten sind eifriger, und der Privatlehrer Müller, des +Stadttrompeters Sohn, schreibt das angebliche Gespräch eines Bauern +mit einem Stadtherrn und einem Untervogt über den Genfer Handel, +liest es auf seiner Stube auch einigen Freunden vor und verschließt +es dann in sein Pult. Es ist mehr witzig als aufrührerisch, und +Heinrich Pestalozzi, der es mit angehört hat, hätte nie gedacht, +daß sich der Zorn der Obrigkeit daran entzünden könnte. Der Müller +aber ist unvorsichtig genug, einem seiner Schüler die Handschrift +zu überlassen. Der macht eine Abschrift davon und gibt sie weiter, +immer mehr Abschriften werden gemacht, und Mitte Januar flattert das +Bauerngespräch, wie man es heißt, heimlich durch die ganze Stadt, +überall die Erregung des Genfer Geschäfts in lustigen Spott über die +Perücken auslösend, bis eine Abschrift den Gestrengen Herren selber vor +Augen kommt, die sofort mit heftigen Verhören den unbekannten Verfasser +suchen.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi, der sich mit Lavater besprochen hat, sucht noch +spät abends den Müller auf, und rät<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> ihm, sich selber zu dem Scherz +zu bekennen, womit der Sache die Spitze abgebrochen sei; aber als er +am nächsten Morgen nachfragt, hat der Sohn des Stadttrompeters eine +richtigere Einsicht in seine Lage gehabt und ist über Nacht geflohen. +Aus seinem Scherzgespräch ist eine Schandschrift und aus der Lustigkeit +darüber ein Aufruhr geworden; ehe Heinrich Pestalozzi sich irgend einer +Gefahr versieht, sitzt er selber auf dem Rathaus in Arrest, weil er +dem Aufwiegler zur Flucht verholfen habe. Er wird auch drei Tage lang +wie ein Verschwörer in strenger Haft gehalten, bis von dem Flüchtigen +ein Brief eingelaufen ist, daß er das Bauerngespräch ohne böse Absicht +geschrieben hätte und an der Verbreitung unschuldig wäre. Darauf +lassen sie ihn zwar frei, aber die Untersuchung gegen den Aufruhr +verliert nicht an Hitzigkeit: in ganzen Kompanien ziehen die getreuen +Untertanen auf den Stadtplätzen auf, und bald wird von den Kanzeln des +Kantons ein Urteil verlesen: daß der Verfasser der aufwieglerischen +und höchst schandbaren Schrift aus dem geistlichen Stand removiert, +aus der gesamten Eidgenossenschaft verbannt sei und in den Wellenberg +geworfen werden solle, falls er betroffen würde. Die Schandschrift +solle zugleich mit dem Lästerbrief aus dem Hottinger Handel durch den +Henker öffentlich verbrannt werden, die Kosten für die drei Klafter +Brennholz seien durch die Patrioten zu bezahlen, ihre Wochenschrift +»Der Erinnerer« dürfe nicht mehr unter die Presse kommen, und sofern +die gefährliche Gesellschaft noch etwas gegen die Obrigkeit unternähme, +würden die schärfsten Strafen angewandt.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span></p> + +<p>Bluntschli hat recht gehabt: das Sechseläuten fängt an; und ob es +Heinrich Pestalozzi selber angeht, soviel obrigkeitliche Torheit vermag +auch er nicht mehr ernst zu nehmen; als die Schandschriften durch den +Henker verbrannt werden, spaziert er mit einem Freund auf dem Balkon +der Meise und macht auf einer Pfeife die Musik dazu.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>32.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat es gleich gefühlt, daß sein Gespött auch die +eigenen Träume trifft. Wie in der Heiterkeit des Bluntschli, den er +nun auch gleich den andern Freunden Menalk nennt, der bittere Ernst +immer deutlicher wird, so ist es auch mit ihm: er trägt im Übermut +dieser Tage das Gefühl unabweisbarer Entscheidungen in sich, die +mit all diesen flatternden Sehnsuchten und Lebensspielereien seiner +verzettelten Jugend aufräumen werden; daß der Demosthenes dabei sein +wird, ist ihm sicher.</p> + +<p>Das Frühjahr will diesmal nicht kommen; immer wieder schütten die +Wolken Schneeflocken in den Regen, und wo sich ein blaues Stück Himmel +zeigt, blasen die kalten Winde es wieder zu. Heinrich Pestalozzi geht +nun fast täglich nach der Zimmerleutenzunft hinunter, wo der Menalk +meist am Fenster sitzt und in die Limmat sieht. Er ist hager geworden, +mit tiefen, forschenden Augen und einer merkwürdigen Art, seine +Knochenhand auf die Dinge zu legen, die er braucht. Seine Heiterkeit +aber ist geblieben, und er spricht gern, als ob er jetzt erst den +richtigen Abstand von seiner Mitwelt<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> habe, die ihm sonst zu nahe und +daher bedrückend gewesen sei.</p> + +<p>Wenn Heinrich Pestalozzi nachmittags gegen die Dämmerung kommt, trifft +er leicht mit der Anna Schultheß zusammen, die für eine Stunde bei dem +Freund ist. Menalk hat es nicht gern, wenn er dann stört, und so meidet +er die Stunde. Um so lieber spricht der Kranke, der immer deutlicher +ein Sterbender wird, von ihr, die — um fünf Jahre älter als er — +doch wie eine jüngere Schwester zu ihm steht. Sie hat als Mädchen noch +die merkwürdige Zeit erlebt, wo der Dichter Klopstock ein halbes Jahr +lang in Zürich lebte, und entsinnt sich seiner wohl, wie er auch in +ihrem Elternhaus zum Pflug war. Da sie wohlhabend und vielgereist ist, +dabei schön von Gesicht und Gestalt, gilt sie den jüngeren Freunden +ihres Bruders Kaspar als eine Art Muse, und es war immer eine besondere +Feier, wenn sie an einer ihrer Veranstaltungen teilnahm. Dabei ist +sie seit langem Bluntschli so offensichtlich zugetan, daß sich kein +anderer um sie zu bemühen wagt; und seitdem sie mehrmals Bewerbungen +abwies, was bei ihrem Alter auffällig war, gilt es für ausgemacht, daß +sie einmal Menalks Frau würde, obwohl die Eingeweihten wissen, daß ihr +Verhältnis zu dem Kandidaten viel mehr geschwisterlich ist.</p> + +<p>Je sichtlicher die kranke Brust Menalks den letzten Kampf mit dem +unheimlichen Feind aufnimmt, um so mehr spricht er von der Freundin; +einmal so schwärmerisch, daß Heinrich Pestalozzi ihn erstaunt ansieht. +Er bricht dann mitten in der Schilderung ab und sieht<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> lange vor +sich hin, bevor er die Augen zu ihm hebt: Wir haben zu viel Eifer in +unsern Sitten gehabt und zu wenig Liebe! Und als ob auch das noch +nicht richtig sei, nach einer Weile: Ich habe nun so viele Tage vor +Gott gesessen; am Ende weiß er doch besser als wir, was vonnöten ist. +Es ist da eine leere Stelle in mir geblieben, aber ich kann sie nicht +mehr füllen! Er hat seine große Hand über das Herz gebreitet und +nimmt sie auch nicht mehr fort. Als Heinrich Pestalozzi aus seiner +Erschrockenheit aufblickt, sieht er die Spur einer Träne, die ihm über +die hageren Backenknochen in den Mundwinkel geronnen ist.</p> + +<p>An einem Abend im Mai wird er zu ihm gerufen. Der alte Steinmetz — +Menalk ist der zweitjüngste von neun Kindern, und die Mutter liegt seit +drei Jahren auf dem Kirchhof — hat ihn noch einmal aus dem Bett ans +Fenster tragen müssen, wo er im Kissen sitzt. Als ob er die Rechnung +mit der Bitterkeit seines frühen Todes nun fertig gemacht habe, sieht +er ihm befreit und heiter entgegen; spricht dann lange nichts, und +als Heinrich Pestalozzi zögernd fragt, wie er sich befinde, hört er +nicht darauf. Endlich scheint er die vorgefaßten Worte zu finden: Ich +gehe sterben, sagt er und sieht auf seine Hände, die nebeneinander vor +ihm liegen: du baust zuviel Pläne; die Menschen sind nicht so, wie du +sie glaubst. Bescheide dich in einer stillen Laufbahn, und laß dich +auf keine weitgehenden Unternehmungen ein ohne einen Ratgeber, der +die Menschen und die Sachen kaltblütiger nimmt als du. — Es ist mein +Testament, setzt er nach einigen Atemzügen hinzu, und der Schatten<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> +von einem wehmütigen Lächeln hängt an den Lippen, als ob er sich +entschuldigte, daß es nur Worte wären. Als Heinrich Pestalozzi nach +einer erschütternden Stille sprechen will, wehrt er ab: Geh jetzt, wir +sehen uns noch!</p> + +<p>Am andern Mittag will er nach ihm sehen, da kommt ihm aus der Tür +Anna Schultheß entgegen. Wie gehts? fragt er beklommen, weil sie die +Tränen achtlos rinnen läßt. Sie vermag nichts zu antworten, hebt nur +die Hände, als ob die allein noch sprechen könnten, und für einen +Augenblick scheint es, wie wenn sie in einer Ohnmacht hinsinkend sich +an ihm halten wolle; dann eilt sie fort. Ihre Augen, die vom Schrecken +übergroß geweitet und glanzlos vom Weinen sind, verlassen ihn nicht, +bis er in die Stube tritt. Da steht Lavater mit einigen Freunden; sie +sehen schweigend auf den Sterbenden, der nicht mehr spricht, nur hastig +atmet wie einer, der zu rasch gelaufen ist. Einmal macht er die Augen +groß auf, doch sieht er keinen mehr in der Stube; nach langem tut er +ein paar tiefe Atemzüge, als ob er endlich Luft genug in seine Lungen +bekäme, dann scheint er sich erlöst zum Schlaf hinzulegen; aber es ist +der Tod gewesen, und Lavater, der es am ersten sieht, drückt ihm mit +behutsamen Händen die Augenlider zu.</p> + +<p>Die andern gehen danach fort; Heinrich Pestalozzi vermag es nicht, er +fühlt, daß ihm mehr als ihnen gestorben ist. Aber als er stundenlang +vor der Unbegreiflichkeit gesessen hat und, einer Regung folgend, dem +Freund noch einmal die Hand geben will, ist sie schon kalt und nicht +mehr menschlich; da fühlt er mit Grauen,<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> daß etwas Fremdes an seiner +Stelle liegt. Darüber kommt Lavater, dessen Umsicht dem alten Vater die +nötigen Besorgungen abnimmt, mit zwei Frauen wieder, die den Leichnam +waschen und für den Sarg herrichten wollen; der führt ihn hinunter und +geht, ohne ein Wort zu sagen, mit ihm vielmals am Wasser hin und her, +wo die Maisonne ihre Wärme in das Wasser schüttet und die Schwäne den +Blust ihrer Federn spreizen. Als sie sich trennen, verspricht er ihm +eine Zeichnung von dem toten Freund.</p> + +<p>Ich habe so viele Tage vor Gott gesessen! Das Wort Menalks ist in ihm +wie ein Stein geblieben, der immer tiefer sinkt; und je mehr er den +Freund im Unbegreiflichen fühlt, weit fort von dem Leichnam, den fremde +Frauen wuschen, um so inniger bildet er an seiner Gestalt, wie er da +tagelang vor der letzten Entscheidung gesessen hat. Am andern Morgen +bringt ihm Lavater die Zeichnung; er legt sie erschrocken fort, daß ihm +das Bildnis des Toten die Erinnerung an den Lebendigen nicht störe, und +während das Blatt unter seinen Blättern versteckt liegt, fangen seine +Gedanken ein Denkmal an, das mehr als diese Zeichnung sein möchte.</p> + +<p>Er soll Träger sein, aber als die Glocken zum Begräbnis läuten, steht +er noch immer mit dem Babeli im Eifer über seiner Kleidung. Bis er +hinunter kommt, tragen sie den Sarg schon ohne ihn die Gasse hinauf. Er +will sich verzweifelt durchdrängen, aber die Jünglinge und Männer, die +da mit ernsten Gesichtern in der vorgeschriebenen Ordnung schreiten, +lassen ihn nicht hinein. Unfähig, sich den letzten anzuschließen, irrt +er<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span> fort — ein Überflüssiger auch hier — und findet sich aus seiner +Beschämung erst am Kirchhof wieder, als die ersten schon heimkehren. +Hinter Büschen versteckt, wartet er die letzten ab und sieht den +Totengräber beschäftigt, dem Hügel mit der Schaufel die vorgeschriebene +Form zu geben. Er wagt nicht eher, an das Grab zu gehen, bis auch der +Mann fort ist. Was er dann vor sich hat, ist nichts als ein Stück +Frühlingserde, vom Gärtner frisch zubereitet, das er bald wieder +verläßt.</p> + +<p>Obwohl er den Totengräber beobachtet hat, wie der das Tor hinter sich +zumachte, bedenkt er nicht, daß es geschlossen sein könnte; erst +als er hinaus will, sieht er sich gefangen. Es ist kein zu großer +Schrecken für ihn, und er hätte schon einen Schlupf gefunden; aber +als seine Hände noch in der ersten Überraschung die Torstäbe halten, +sieht er den Totengräber mit einer schwarzen Jungfrau zurückkommen, +die einen Strauß Frühlingsblumen trägt. Er weiß auf den ersten Blick, +daß es Anna Schultheß ist, die dem Grab des Freundes zunächst einen +Gruß bringen will. Gern möchte er sich noch verstecken, aber die +beiden haben ihn schon gesehen; so wartet er steif an dem Tor, bis +es geöffnet wird. Der Mann ist mißtrauisch und augenscheinlich nicht +gewillt, ihn durchzulassen, wenn er nicht vor seiner Begleiterin in der +lächerlichsten Verwirrung den Hut gezogen hätte; so läßt er ihn laufen, +der aus seiner Scham weder ein Wort noch eine Miene der Erklärung +findet und fassungslos nach der Stadt hinunterstürmt.</p> + +<p>Er fühlt die Zweideutigkeit seiner Lage sofort: die Freundin kann +nicht anders glauben, als daß ihn der<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> besondere Schmerz um den Menalk +zurückgehalten habe; und soviel er in seiner Bestürzung von ihrem +Gesicht wahrnahm, ist der Dank ihrer guten Meinung schon darin gewesen. +Indem er fortrennt, statt ihr gleich tapfer die Umstände zu gestehen, +hat er die Zweideutigkeit noch vermehrt; denn sie muß sich auch das +noch auf einen Schmerz deuten, was nichts als die erbärmlichste +Feigheit ist. So steht er am Grab des gemeinsamen Freundes in einer +Schauspielerei vor ihr, die unaufgeklärt eine böse Lüge und aufgeklärt +eine unerträgliche Beschämung bedeutet. Trotzdem er sich sogleich +tapfer für die Beschämung entscheidet, liegt bis dahin die Lüge auf +ihm; und das Gefühl davon saugt alles auf, was an selbstklägerischen +Gedanken seiner wirren und fahrlässigen Jugend schon vorher in ihm +gewesen ist, sodaß er an der alten Stadtmauer hin und gegen die +Bollwerke rennt, als ob ihn diese Flucht vor sich selber retten könne. +Als er sich ganz in das Mauerwerk verlaufen hat, wirft er sich hin, und +niemals hat er so die Erschütterung zu weinen gespürt wie unter der +blaßblauen Himmelsglocke dieses Frühlingstages.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>33.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi ist einundzwanzigjährig, als der Tod des +gemeinsamen Freundes ihn der Anna Schultheß nähert und dem +sehnsüchtigen Schwall seiner Jugend einen frühzeitigen Durchbruch +ins Leben bringt. Seit der Begegnung an der Kirchhofstür geht sie +schwarz gekleidet mit Frühlingsblumen durch seine Träume, und wo seine +wachen Gedanken den Gestorbenen wehmütig<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> bekränzen. Er hat ihr eine +offene Darstellung seiner Irrgänge am Begräbnistag gesandt und den +flackernden Leichtsinn seiner Jugend nicht geschont, um das Gegenbild +des toten Freundes hell vor die Dunkelheit zu stellen, wie der sein +Jünglingsleben streng vollendete und von der Selbstüberwindung mit +Heiterkeit gesegnet in den Tod einging.</p> + +<p>Die Kaufmannstochter im Pflug dankte ihm kühler, als er erwartete; er +spürt aus ihren Schriftzügen und Sätzen, um wieviel gehaltener sie +mit ihren neunundzwanzig Jahren zum Leben steht als er mit seinen +einundzwanzig: aber weil ihn die heftigen Winde seiner Meinungen den +Altersgenossen voraus in die Schwierigkeiten einer eigenen Berufswahl +getrieben haben, indessen sie noch den behüteten Gang ihrer Studien +gehen, lockt ihn das Ältliche an ihr erst recht. Er weiß es abzupassen, +daß er sie bald danach auf einem Spaziergang trifft, und ruht nicht, +als sie zu Besorgungen fort muß, bis sie ihm noch eine Stunde am selben +Abend verspricht.</p> + +<p>Noch liegt für ihn selber das Eingeständnis einer andern als +freundschaftlichen Neigung nicht zutage; obwohl lebhaft von den +wechselnden Begebenheiten der Vaterstadt hingenommen und in hundert +Anlässen geschäftig, die ihn eher vorlaut erscheinen lassen, ist er +schüchtern, und er hätte aus sich selber kaum die Entschlossenheit, sie +in der Dämmerung auf dem Lindenhof abzuwarten, wenn er nicht durch die +schmerzliche Gemeinschaft um den toten Freund in eine so seltsame Nähe +zu ihr gekommen wäre. Sie wiederum mag durch<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> Menalk viel Rühmliches +von ihm gehört haben, auch ist sie durch ihre Brüder an Kameradschaften +gewöhnt: aber als sie dann unter den Bäumen des Lindenhofs beieinander +stehen — es ist diesmal noch zu hell, als daß die Sterne schon funkeln +könnten — sind sie doch nur ein Menschenpaar, das, ungleich im Alter, +den Zwang der Natur zu fühlen bekommt. Heinrich Pestalozzi spricht +unablässig, von der Winternacht, wo er mit Bluntschli hier gestanden +hat, von dessen bitteren Worten und ihrer gemeinsamen Beklommenheit +nachher, auch von dem Vermächtnis des sterbenden Freundes am vorletzten +Abend, nicht anders, als ob erst jetzt das gedämmte Gefühl einen +Abfluß fände: aber er fühlt wohlig die innige Verbindung mit seiner +schweigsamen Hörerin, und wieviel er dabei von sich selber in ihre +Seele sprechen kann.</p> + +<p>Als sie sich trennen, erst leise dann dringend von ihr gemahnt, und sie +ihm die Hand gibt, eine weitere heimliche Zusammenkunft nicht unbewegt, +aber bestimmt ablehnend, vergißt er sich zu Tränen, sie darum zu +bitten, und läßt in seiner Inbrunst ihre Hand nicht wieder los, bis sie +sich selber freimacht und flüchtend von ihm fort eilt.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi beherrscht sich mühsam, ihr nicht zu folgen, aber +er fühlt jeden Schritt ihrer Entfernung wie einen körperlichen Schmerz, +und in der Frühe findet er sich, mit einem Seufzer aus sehnsüchtigen +Morgenträumen aufgewacht, aufrecht im Bett sitzen. So sehr er sich +selber zur Rede stellt und sich des schwärzesten Verrats an Menalk +beschuldigt, daß er das Gedächtnis<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> an ihn für seine eigenen Gelüste +mißbrauche: der Drang, sie zu sehen, ist so unbezwingbar, daß er +unablässig Möglichkeiten aussinnt. Als es ihm am ersten Tag mißlingt, +am zweiten und dritten auch, weil sie sich offenbar der gewohnten +Gänge enthält, vermag er es am vierten nicht mehr und geht ihr mit +einem Vorwand ins Haus. Er weiß, daß sie in der Handlung des Vaters an +der Ladentheke bedient, und tritt um die stille Zeit nach Mittag ein. +Von der Ladenschelle gerufen, findet sie ihn als Kundschaft, die sie +bedienen muß; bis sie den zornig und fast mit Tränen verlangten Zucker +für die Haushaltung der Mutter abgewogen und ihm hingelegt hat, ist sie +gesammelt genug, ihn ernst zu bitten, das nicht mehr zu tun!</p> + +<p>Er kann kein anderes Wort vorbringen; doch hat er sie nun +wiedergesehen, und als er dem Babeli den heimlich erworbenen +Zuckervorrat in die Küche geschmuggelt hat, verhehlt er sich nichts +mehr von seiner Leidenschaft und beginnt, seine Aussichten zu prüfen: +Sie ist wohlhabend, und er ist arm; sie trägt ihr schönes Antlitz auf +einer wohlgebildeten Gestalt, während er als der schwarze Pestaluz um +seiner pockennarbigen und unordentlichen Erscheinung willen in den +Gassen verhöhnt wird; sie ist auf zahlreichen Reisen in den Formen +des Welttons gebildet und mit Geschmack sorgfältig gekleidet, also +auch darin sein Gegenbild: aber sie steht auch mehr als jedes andere +Mädchen, das er kennt, mit herzlicher und kluger Kenntnis in der Welt +seiner Jugendideale und ist durch die gemeinsame Freundschaft mit +Menalk seinem Herzen so nah wie sonst kein<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> Menschenkind in Zürich. +Wenn — wie es heißt — Lebensgefährten einander ergänzen sollen, +vermag er sich nichts Vollkommeneres zu denken als sie; und auch er +hofft ihr — so sehr er in der Gegenwart seine Mängel fühlt — aus +seinen Zukunftsplänen einige haltbare Wechsel bieten zu können. Ihr +steht es frei, ihm nein zu sagen, nicht aber ihm, sie zu fragen.</p> + +<p>Um sich zu prüfen, schließt er sich vor der Schwester ein — die Mutter +ist in Höngg, den kranken Großvater zu pflegen — und sagt dem Babeli, +daß er krank wäre. Er wird auch wirklich krank in der Unruhe und Marter +seiner Sehnsüchte und Hoffnungslosigkeiten, bis er nach hitzigen +Fiebertagen einen Brief schreibt. Er sitzt den ganzen Tag daran, und es +wird mehr eine Abrechnung mit sich selber, darin er auf der einen Seite +die eigenen Mängel zu Bergen auftürmt, um auf der andern seine Neigung +und seine Vorsätze dagegen zu stellen. Aber als er nach einer dadurch +beruhigten Nacht den Brief noch einmal durchliest, erschrickt er selber +über seine Maßlosigkeit und zerreißt ihn. Er beginnt dann von neuem, +noch zweimal an dem Tag, auch diese Briefe wieder zerreißend; bis er, +aufs tiefste entmutigt über sein Mißgeschick, den ersten Brief noch +einmal in besonnener Form wiederholt und, um ein klares Ja oder Nein +bittend, ihn auch endlich absendet.</p> + +<p>Sie läßt ihn zwei lange Tage und längere Nächte auf Antwort warten; +und was sie ihm dann schreibt, ist nur eine Aufzählung der Gründe, die +gegen ein innigeres Verhältnis sprechen, und der unverhohlene Wunsch, +mit einem abgewiesenen Liebhaber nicht den<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> Freund zu verlieren. Aber +Heinrich Pestalozzi ist nun ein abgeschossener Pfeil, der sein Ziel +treffen oder verfehlen, nicht mehr zurück kann. Er schreibt ihr wieder, +alle Gründe, namentlich den ihres verschiedenen Alters, mit einem +Feuerwerk edler Worte widerlegend, und bittet sie aufs neue um eine +Unterredung — die sie ihm zögernd gewährt. Diesmal treffen sie sich +frühmorgens auf der Straße nach Höngg, wo die Morgenfrische ihr gegen +seine brandige Leidenschaft hilft; doch muß sie ihm zugestehen, daß er +ihr schreiben und sie manchmal auch sehen dürfe. Sie hält danach noch +wochenlang an ihrer Bedingung fest, daß alles zwischen ihnen im Rahmen +der Kameradschaft bleiben solle. Aber mit abendlichen Stelldicheins und +morgendlichen Spaziergängen, mit langen Briefen und innigen Gesprächen +nistet sich auch bei ihr die Liebe ein, und als der Sommer auf seiner +Höhe ist, vermag Anna Schultheß dem Ansturm seiner Gefühle nicht +mehr zu widerstehen. Es schreckt sie nicht mehr, daß ihre Mutter den +schwarzen Pestaluz als einen unnützen und prahlerischen Schwarmgeist +verabscheut und selbst ihr Bruder Kaspar ihn einen Knaben nennt, +während der Zunftpfleger ihr zuliebe mit seinen sichtbaren Bedenken +humoristisch zurückhält, es schreckt sie nicht einmal, daß sie selber +an seinen Äußerlichkeiten Anstoß nimmt: sie hat in dem Schwarmgeist die +Tiefe der Gesinnung und in dem Knaben die Weite der Seele gespürt, die +sich freilich an allzu vielen Projekten begeistert, deren grenzenlose +Kühnheit sie aber mit Stolz empfindet. Auch die rastlose Werbung tut +das ihre, sie von der Unbeirrbarkeit seines Willens<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> zu überzeugen: +als er wieder einmal vor ihr steht mit den dunklen Augen, aus denen +seine Seele in wahren Strahlenkränzen zu leuchten scheint, beugt sie +ihren Stolz der Kaufmannstochter, ihre weltklugen Erwägungen und die +Einsicht der älteren Jahre vor dem Ungestüm seiner Jugend und legt sich +— auf die mancher wohlhabende Geschäftsfreund ihres Vaters im stillen +noch hofft — mit dem Gelöbnis unverbrüchlicher Treue in die Arme des +einundzwanzigjährigen Jünglings Heinrich Pestalozzi.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span></p> +<p><span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span></p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span></p> +<h2 class="nobreak" id="Mittag">Mittag</h2> +</div> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>34.</h3> +</div> + +<p>Der Drang seines frühreifen Schicksals will, daß Heinrich Pestalozzi +das Glück heimlicher Liebesstunden nur kosten, nicht genießen darf. +Um die Kaufmannstochter aus dem Pflug heim zu führen, kann er keinen +Beruf gebrauchen, der ihn mit unbestimmten Hoffnungen hinhält; und +mit den Entwürfen seiner Volksreden verbrennt er die hochmütigen +Advokatenpläne. Irgendwo die Handgriffe der Landwirtschaft zu lernen +und dann auf einem Gut zu üben, scheint ihm von allen Möglichkeiten die +rascheste; nun, wo er mit der Braut auch den Berater gefunden hat, der +durch Sachen- und Menschenkenntnis — wie Bluntschli sagte — seinen +Traumsinn ergänzt, glaubt er den Schritt aus der Schulweisheit in +das Bauerndasein wohl tun zu können, zumal Anna Schultheß ihn tapfer +billigt. Daß es zunächst ein Bruch mit den Beglückungsplänen seiner +Jugend ist, übersieht er nicht; aber auch hier beruhigt ihn ein Wort +des Freundes, daß man von den schwachen und niederen Stauden keine +Körbe voll Früchte ernten könne, der Baum müsse stark und groß sein, um +Früchte zu tragen! Wenn er erst einmal frei und wohlhabend auf eigenem +Boden sitzt, will er die vaterländischen Dinge schon nicht vergessen +haben!</p> +<p><span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span></p> +<p>Unterdessen ist seine Mutter noch immer bei dem kranken Großvater in +Höngg gewesen, während er mit der Schwester und dem alt gewordenen +Babeli gewirtschaftet hat; nun kommt sie zurück, und er holt sie eines +Nachmittags ab, freudig, ihr sein Glück mitzuteilen. Der Dekan geht +kaum noch aus seiner Studierstube heraus; er hat Sterbegedanken und +ist verdrießlich, daß ihm der Antistes noch einen Vikar aufdrängen +will, statt seinen natürlichen Abgang abzuwarten. So kann Heinrich +Pestalozzi ihm nichts sagen, und auch bei der Mutter kommt er erst auf +dem Rückweg dazu, als hinter Wipkingen die Buben vom Tantli zurück +gesprungen sind. Sie gehen an der selben Stelle, wo sie mit dem Knaben +so bitterlich geweint hat, als er endlich Stimmung und Worte für seine +Freudenbotschaft findet. Zunächst ist sie erschrocken, daß er zu +den andern Torheiten seiner Jugend auch noch die einer überstürzten +Heirat über sie bringen will; wie sie den Namen Anna Schultheß hört, +steigt das Wetterglas auf schön, da sie die Vorzüge der Person und der +äußerlichen Vorteile in eins übersieht. Eine Schar Tauben flattert +aus dem Feld, und ihre Sorgen fliegen mit; es fehlt nicht viel, so +wanderten sie auch diesmal Hand in Hand zur Niederdorfporte hinein.</p> + +<p>Am nächsten Sonntag steht Heinrich Pestalozzi am Fenster und sieht +die Mutter aus der Predigt kommen, zögernden Schrittes, weil nicht +allzuweit hinter ihr auch die Anna Schultheß ihr Gesangbuch heimträgt; +er hätte der Mutter nicht soviel List zugetraut, wie sie dicht unter +seinem Fenster eine Nachbarin anspricht — was sie<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> sonst niemals tut +— nur damit die Jungfrau an ihr vorbei muß. Sie grüßen sich still +nickend, aber er von seiner Warte nimmt den Blick, mit dem sich die +beiden Frauen umfassen, wie einen priesterlichen Segen wahr.</p> + +<p>Weiter als bis zu solchen Blicken freilich kommt es zunächst nicht, da +die Mutter Annas sich hartnäckig der Verbindung mit dem unansehnlichen +und — wie sie sagt — kindsköpfigen Wundarztsohn widersetzt; bevor +Heinrich Pestalozzi nicht vor der Welt etwas anderes vorstellt, kann er +nicht auf ein öffentliches Verlöbnis hoffen. Er offenbart sich Lavater, +weil der den Berner Chorschreiber Tschiffeli kennt, der mit seiner +Musterwirtschaft in Kirchberg als der beste Landwirt der Schweiz gilt +und namentlich die Zucht der Krappwurzel für die Rotfärberei als ein +neues und einträgliches Bauerngewerbe treibt. Lavater schreibt um eine +Lehrstelle, und rascher, als Heinrich Pestalozzi es gedacht hat, tut +sich für ihn eine Schlupftür ins praktische Leben auf. So schmerzlich +ihm die Trennung von Anna ist, der Drang, aus der Ungewißheit seiner +gescheiterten Studien in eine rechtschaffene Stellung vor der Welt zu +kommen, läßt ihn keinen Tag zögern.</p> + +<p>Den letzten Abend ist er bei ihr draußen in Wollishofen, wo ihre Eltern +ein Gütchen besitzen; sie haben sich schon mehrmals da getroffen, aber +nun drängt die Wehmut des Abschieds zum Genuß der Stunde. Heinrich +Pestalozzi fühlt, daß er wie ein Baum im Frühling ist; obwohl sie beide +das Heiligtum ihrer Liebe zu hüten wissen, verblaßt die Nacht schon in +den frühen Tag, als er aus Tränen und ewigen Gelöbnissen losgerissen<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> +am See vorbei nach Zürich zurückwandert. Es sind noch die selben Wege, +es ist die Stadt mit dem Getürm ihrer Tore und Kirchen, und überall in +den verschlafenen Häusern erwacht die tägliche Arbeit; nur er selber +irrt nicht mehr mit ziellosen Sehnsüchten darin umher: Liebe und Beruf +führen ihn aus ihrem Wirrwarr in die Einfältigkeit eines natürlichen +Daseins hinaus, darin sein ländliches Besitztum, von der Anna +Schultheß als Stauffacherin verwaltet, durch Wohlstand und Wohltun den +Mittelpunkt einer Bauernschaft abgeben soll. Um in seinem Glück nichts +von den Vorsätzen seiner Jugend zu verlieren, sucht er noch einmal sein +Leben danach ab, sich feierlich für jeden einzelnen verbürgend, sodaß +er aus dieser in Liebe durchwachten Nacht mit Gelöbnissen beladen im +Roten Gatter ankommt.</p> + +<p>Da fängt der Abschied noch einmal an, und es gilt mehr als eine +Trennung auf Wiedersehen: hier packt er für immer ein. Trotzdem geht +alles viel leichter als in Wollishofen, und er schämt sich fast, mit +welchen Scherzen er das Nest seiner Jugend verläßt. Der Himmel seiner +Zukunft ist blausonnig wie der Septembermorgen, der seine Federwölkchen +nur zum Spiel aufsteigen läßt; und als er im Postwagen gegen Baden +und Aarau fährt, geht nicht ein trüber Gedanke mit. Lavater hat ihm +das Bild seiner Anna auf ein Papier gemalt, das hält er in Händen und +merkt nicht, wie die Mitreisenden sich über ihn lustig machen: sie ist +die Sonne, aus der alles Licht aufgeht, so sehr, daß ihm die Bäume +und Wiesen draußen in Schatten zu fallen scheinen, wenn er das Blatt +umdreht.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span></p> + +<h3>35.</h3> +</div> + +<p>Die Fahrt nach Kirchberg dauert zwei Tage; es ist die erste wirkliche +Reise, die Heinrich Pestalozzi macht. Sie geht das Limmattal hinunter +über Baden nach Brugg und dann im breiten Aaretal hinauf über Aarau +ins Berner Vorland hinein; die Landschaft wechselt aus der waldigen +Enge seiner Zürcher Heimat in die breite bernische Behaglichkeit, und +auch die Sprache macht diesen Wechsel mit: er nimmt davon so wenig +wahr wie von den Mitreisenden. Wenn ihn etwas so bewegt, wie jetzt +der Abschied und die kreisenden Gedanken um das Ziel, verlieren seine +Sinne den Zugang zum Bewußtsein; er kann stundenlang sitzen und ihren +Wahrnehmungen keine Aufmerksamkeit schenken, sodaß sie gleichsam an den +Zäunen Wächterdienste tun, indessen seine Seele im Garten ihrer selber +spazieren geht.</p> + +<p>Erst als sie am zweiten Nachmittag ins weite Emmental hinein fahren +und einer beim Anblick der ersten Krappfelder den Namen Tschiffeli +ausspricht, wacht er auf und möchte am liebsten gleich aus dem Wagen +springen, die berühmte Kultur der Färberröte zu sehen. Er weiß, daß es +nur die Wurzeln sind, die den Farbstoff enthalten, an mannshohe Stauden +mit stachligen Blättern und Blüten hat er nicht gedacht; als nun ein +leiser Wind hindurch rieselt, erschließt sich ihm die beglückende +Aussicht, daß dieser Anbau die Schönheit ländlicher Arbeit nicht +vermissen lasse: wie beim Korn, beim Flachs und in den Wiesen gibt sich +auch hier das Wachstum der Natur als ein Segen, der dem Menschen<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> mit +allen Wundern der Blüte und der schwellenden Frucht in die Hände wächst.</p> + +<p>Er findet Tschiffeli als einen gebräunten Mann anfangs der Fünfziger, +der diesen Überschwall wogender Felder aus einer verwahrlosten Öde +geschaffen hat und wie ihr leibhaftiger Gottvater darin umher geht. +Als blutarmer Leute Kind verdankt er alles der eigenen Kraft, die +seine neumodischen Einfälle gegen die guten Meinungen und Ratschläge +der Gewohnheit durchgesetzt hat, bis er als erfolgreicher Mann vor +seinem Vaterland dasteht. Das gibt seinem mannhaften Wesen eine +andere Geltung, als die Zürcher Herren sie aus ihrer Herkunft oder +Gelehrsamkeit besitzen; Heinrich Pestalozzi fühlt hier einen Teil von +sich selber zur Vollendung gekommen, und wenn er ihn Vater nennt, +wie es auf dem Gut Sitte ist, liegt für ihn ein besonderer Sinn +darin. Tschiffeli wiederum freut sich dieses Zöglings, der garnicht +das Stadtsöhnchen spielt, den ganzen Tag in Hemdärmeln arbeitet und +abends noch lustig ist zu Tabellen und Berechnungen. Wenn seine +Ungeschicklichkeit auch viel mit zerschnittenen Fingern und Beulen zu +tun hat, so ist doch noch niemand da gewesen, der seinen Spekulationen +so begeistert und mit Verständnis anhängt.</p> + +<p>Es wird ein reicher Herbst und Winter für Heinrich Pestalozzi, der mit +seinen eigenen Plänen hier nicht verlacht wird, wie bei den Freunden +in Zürich, sondern einen bereitwilligen Berater findet. Wenn er sieht, +wie Tschiffeli für die fünf Gemeinden seiner Güter ein Wohltäter +geworden ist, indem durch ihn Ordnung und Verdienst dahin kam, wo +vorher Unordentlichkeit<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> und Armut waren, erkennt er freilich auch, +daß es wirksamere Mittel zur Übung der Volkswohlfahrt gibt als die +öffentliche Anklägerei der jugendlichen Patrioten: das Beispiel und +der Antrieb zur Selbsthilfe. So wie Tschiffeli im bernischen Land will +er einmal im Zürcher Gebiet dastehen als der Mittelpunkt einer in +planvoller Gemeinsamkeit fröhlich schaffender Bauernsame. Er kann einen +wahren Spott mit sich selber treiben, wenn er an Winterabenden bei +den Berechnungen hilft — wieviel Jucharten für diese und jene Kultur +einzurichten wären, um mit der mutmaßlichen Ernte den Abschlüssen +gerecht zu werden — und dann an seine Jugendläuferei in Zürich denkt, +an den Schwall seiner Freunde, Pläne und Sehnsüchte, und wie hier +alles sich selber zufrieden macht; die Zürcher Stadtbürger haben den +schwarzen Pestaluz sicher kaum kritischer betrachtet, als er es nun +selber tut.</p> + +<p>Aber feierlich wie das große Himmelslicht jeden Morgen hinter den +Emmentaler Bergen wärmend und segnend über der Arbeit Tschiffelis +aufsteigt, so steht die Liebe über seinem Tageslauf: sie weckt ihn in +der Frühe und sie bläst ihm abends die Kerze aus, nichts gerät ihm, +ohne daß er die Stimme Annas zu hören glaubt, und nichts mißrät, ohne +daß er ihre Augen mit dem scherzhaften Tadel darin fühlt. Er hat sich +eine feste Ordnung gemacht, ihr seine Erlebnisse und Erfahrungen zu +schreiben, und da sie ebenso pünktlich antwortet, flechten die hin und +her reisenden Briefe aus ihren getrennten Lebensläufen einen Zopf, +darin die Hoffnung mit lustigen Schleifen eingebunden ist.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span></p> + +<h3>36.</h3> +</div> + +<p>Es sind fast neun Monate, die Heinrich Pestalozzi als Lehrling der +Landwirtschaft zubringt; aus dem Zürcher Theologiestudenten wird ein +bernischer Bauernknecht, der stolz auf seine vernarbten Hände ist und +Sonntags in Hemdärmeln zur Kirche geht. So findet ihn seine Braut, als +sie ein freundliches Geschick zu einem Besuch in Kirchberg ausnützen +kann. Ihr Bruder Kaspar hat eine Pfarrstelle im Württembergischen +bekommen, die nach alten Herkünften den Zürcher Herren untersteht; er +führt nun befriedigt seine Susanna Judith Motta aus dem Traverser Tal +heim, eine Herzensfreundin der Schwester und auch Heinrich Pestalozzi +aus ihrem Zürcher Aufenthalt wohlbekannt. Anna holt ihn zur Hochzeit +ab, da es über Kirchberg kein zu großer Umweg ist, und sieht mit +eigenen Augen das gelobte Land ihres Freundes.</p> + +<p>Es wird ein Jubeltag für Heinrich Pestalozzi, wie er noch keinen +erlebte, als er seinem Meister Tschiffeli und allen Leuten auf dem Gut +ein so stattliches und feines Frauenzimmer als seine Braut vorweisen +kann. Sie hingegen ist sichtlich bestürzt über die Verwahrlosung seiner +Hände und Kleider, doch findet sie sich rasch und folgt ihm in die +Gärten und Felder, die Schauplätze seiner Wochenberichte nun selber +zu sehen. Am Abend hat Tschiffeli dem Gast zu Ehren Wein und Blumen +auf den Tisch gestellt, und da er in ihrer Gegenwart den Eifer und das +Geschick seines Lehrlings mit anerkennenden Worten belegt, kommt der +Besuch zu einem fröhlichen Abschluß, sodaß Heinrich Pestalozzi der Tag<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> +nicht mehr fern scheint, wo er selber mit ihr als solch ein Gutsherr +dasitzen wird.</p> + +<p>Als sie andern Morgens miteinander in den Wagen steigen, gegen +Burgdorf und Aarberg aus dem ländlichen Bereich seiner Bekanntschaft +hinauszufahren, sitzen ein paar Stutzer aus Neuenburg darin, die ihn +belächeln. Heinrich Pestalozzi im Eifer, ihr noch im Abfahren jeden Weg +und Hügel seiner Welt zu zeigen, merkt nichts davon; sie aber zupft ihm +seine Kleidung zurecht und wird schweigsamer, je weiter sie ins welsche +Land hineinfahren. Zum ersten Male erlebt er, wie ihn mit der Sprache +auch die Heimat verläßt; je näher sie an den waldigen Jura heranfahren, +je seltener trifft ein deutsches Wort sein Ohr. Das letzte ist der +Abschiedsgruß einer alten Bäuerin aus Erlach, die von Aarberg bis Ins +mitreist; dann fährt er mit Anna allein in die welsche Welt, und obwohl +er im Schutzgebiet der Eidgenossenschaft bleibt und obwohl die Sprache +Rousseaus seiner Seele mit mancher Wendung vertraut ist: der fremde +Klang schlägt an seine Ohren, als ob er ins Wasser geworfen wäre.</p> + +<p>Das wird im Val Travers nicht besser, wo sie spät abends von ihrem +Bruder Kaspar und seiner Braut abgeholt werden; in Zürich hat die +Judith Motta nicht anders als deutsch gesprochen, hier in ihrer Heimat +ist sie welsch, und Heinrich Pestalozzi erleidet ein Gefühl, als ob ihm +Anna von einer Strömung fortgerissen würde, wie sie nun selber in der +fremden Flut untergeht. Als sie sich im Eifer vergißt und ihn selber +in den welschen Lauten etwas fragt, vermag er ihr nicht zu<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> antworten, +so schnürt ihm der Schrecken die Kehle zu. Er muß sich zwar am selben +Abend doch dazu bequemen, weil die Verwandten — die im übrigen +freundliche Leute sind — nur französisch sprechen; es macht ihm aber +Mühe, dem ungewohnten Schwall zu folgen, und er spürt grimmig, wie +seine Zunge über die fremden Silben stolpert.</p> + +<p>Er übersteht die Hochzeit indessen tapfer, und weil er neben einer +ältlichen Tante aus Môtier sitzt, die für Rousseau schwärmt und ihn +vielmals gesehen hat, als er noch selber mit seiner Therese da wohnte, +vermag er sogar seine Scheu vor den welschen Worten zu überwinden. +Sie bleiben aber ungeschickt auf seiner Zunge und geben Anlaß zu +manchem Gelächter; namentlich die beiden Stutzer aus Neuenburg, die +unvermutet auch Hochzeitsgäste sind und an seiner Kleidung wie an +seinem bäuerlichen Wesen Anstoß nehmen, fangen an, ihren Spott mit ihm +zu treiben, gegen den er sich um so weniger wehren kann, als er die +Andeutungen in der fremden Sprache meist garnicht versteht. Da überdies +die Verwandten der Anna ihr Mitleid nicht verhehlen, als ältliche +Jungfer noch an einen solchen Tölpel geraten zu sein, und da die +Geltung in der Welt des guten Tons ihre Empfindlichkeit ist, sieht er +sie danach mehrmals weinen und hitzig an ihm werden, bis ein Vorfall am +dritten Hochzeitstag seiner gequälten Stimmung Luft macht.</p> + +<p>Er hat das Haus sehen wollen, wo Rousseau wohnte; die Tante lud ihn +und die andern ein, und so schwärmt am Nachmittag die geputzte Schar +nach Môtier hinunter.<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> Anna hat Freundinnen gefunden und plätschert in +der welschen Lustigkeit, als ob es ihr angeborenes Element wäre; der +eine Neuenburger hat sich als ihr Galan an sie gehängt, während der +andere angeblich als krank zurückgeblieben ist. Wie sie dann gegen das +Haus kommen, das ihm die andern in aufdringlicher Freundschaft schon +von weitem zeigen, geht die Tür auf, und augenscheinlich nach einem +Kupferstich des berühmten Mannes zurechtgemacht, tritt eine Gestalt im +Kaftan mit ausgebreiteten Armen heraus: Ob sie ihm sein Früchtchen, +den Emil, wieder mitgebracht hätten? Bevor Heinrich Pestalozzi die +Hänselei begreift, hat die Gestalt ihn gerührt ans Herz gezogen und ihm +von hinten her eine Zipfelkappe aufgestülpt, worüber sich dann alle +totlachen wollen. Er hört ihr Gelächter, als ob rundum Hunde bellten +— auch Anna, so meint er, ist darunter — aber ehe sich der Komödiant +dessen versieht, hat er ihn an der Gurgel, und als er unter dem Turban +das fade Gesicht des andern Neuenburgers erkennt, schlägt er zu, daß +dem die blutende Nase den Kaftan bemalt. Die andern springen abwehrend +herzu, und der hämische Scherz ginge mit einer bösen Prügelei aus, +wenn nicht Anna ihrem Freund die Hand von der Gurgel löste und ihn aus +dem Rudel zöge. Vor ihrer Bestimmtheit weichen die andern zurück; ohne +ihrer weiter zu achten, führt sie ihn ins Haus der Tante, deren Tür sie +hinter sich verschließt.</p> + +<p>Das gute Wesen hat einen festlichen Kaffeetisch gedeckt und erlebt +nun erschrocken, wie sich die andern drohend auf der Straße sammeln +und mit Fäusten gegen<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> die Tür trommeln. Als ein Stein durchs Fenster +herein fliegt, nimmt Anna ihren Verlobten wieder bei der Hand, führt +ihn rasch durch den Garten gegen den Wald hinauf und auf einsamen Wegen +zu den Verwandten zurück. Heinrich Pestalozzi ist noch lange erregt und +will ihr nicht folgen auf dieser Flucht; aber mehr noch als der Zwang +der festen Hand hält ihn der Klang ihrer Stimme. Sie spricht wieder +die vertraute Sprache, und nach dem welschen Geschrei ist es ihm, wie +wenn die Heimat selber in ihren Worten mit ihm spräche. Es war nur ein +Scherz von ihnen, und ich hätte nicht aufbegehren sollen! sagt Heinrich +Pestalozzi zuletzt und bleibt vor ihr stehen, als ob er sie beruhigen +müsse; sie aber schüttelt den Kopf und wendet sich bittend von ihm +ab: Daß du aufbegehrtest, war recht und ich hab dich lieb darum; aber +wir hätten nicht herkommen sollen! Und dann nach einer Pause wieder +gewaltsam lächelnd in ihrer schelmischen Art: Du mußt denken, daß die +Traverser dem Rousseau auch die Fenster eingeworfen haben, bevor er auf +die Flucht ging nach der Petersinsel.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>37.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat auch die Frühjahrsbehandlung der Krappkultur +erlebt, und seine Lehrzeit geht zu Ende; aber noch immer fehlt ihm +das Jawort aus dem Pflug, sodaß er von dem zukünftigen Gut nicht mehr +als den Hausschlüssel der Liebe in den Händen hält. Um ihren Eltern +einen andern Begriff von dem schwarzen Pestaluz zu geben, schreibt +er der Anna eine<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> für fremde Augen geeignete Darlegung seiner Pläne +mit scharfsinnigen Berechnungen der Rentabilität, wie er gleich +seinem Lehrer Tschiffeli Ödland ankaufen und zur Krappkultur instand +setzen wolle; nur zwanzig Jucharte, davon fünfzehn dem Krapp und fünf +der Gärtnerei dienten. Artischoken, Spargel, Cardiviol und anderes +Feingemüse im großen zu gewinnen und teilweise erst im Frühjahr — nach +einer neuen Art der Überwinterung — mit doppeltem Abtrag zu verkaufen, +dagegen keine Wiese, keine Äcker, keine Reben und wenig Vieh zu haben: +das solle die nährende Grundlage seiner Landwirtschaft sein, daraus er +genügenden Unterhalt zu finden glaube!</p> + +<p>Es ist alles wie für eine Doktorarbeit durchgedacht; aber die +praktischen Eltern im Pflug sehen den Scharfsinn auf die Mitgift ihrer +Tochter gegründet und sind weniger als je geneigt, damit in ungewisse +Projekte einzutreten; sie halten in den Dingen des Erwerbs praktische +Hände für wichtiger als Ideen und finden in solchen Projekten nur +den Bessermacher aus dem Roten Gatter, dem sie die Mitgift mit einem +glatten Nein zudecken, in der Hoffnung, daß ihnen dann auch die Tochter +bliebe.</p> + +<p>So kommt Heinrich Pestalozzi im Frühsommer als ein von Sonne und Regen +gebräunter Landwirt ohne Land nach Zürich zurück; auch seine Hoffnungen +auf die wohlhabende Tante Weber in Leipzig erfüllen sich nicht; der +Doktor Hirzel verschafft ihm zwar die Aussicht, das Pachtgut der +Johanniter in Bubikon zu übernehmen, doch geht ein so weitschichtiger +Betrieb über<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> seine Kräfte. Verdrießlich an dieser Ungewißheit und weil +es regnet, steht er eines Tages unter den Lauben, als ihm jemand die +Hand auflegt; wie er umsieht, ist es der Pfarrer Rengger aus Gebistorf +bei Brugg, den er aus seiner Kollegienzeit kennt. Der fragt ihn aus +nach seiner Lehrzeit bei Tschiffeli, und als dabei der Grund seiner +Verdrießlichkeit zutage kommt, spricht er scherzend von dem Birrfeld +bei Brugg; dort habe man vor kurzem noch steinichte Äcker umsonst +ausgeboten: wenn er etwa bei dem Hexenmeister in Kirchberg die Kunst +gelernt habe, aus Steinen Brot zu machen, fände er dort Feld genug.</p> + +<p>Er hat nur einen spöttischen Scherz machen wollen; aber Heinrich +Pestalozzi nimmt den Vorschlag ernst und ist gleich eifrig dabei, +Näheres zu wissen. Da dem andern nicht mehr als der allgemeine +Verruf des Birrfeldes bekannt ist, führt er ihn von der Gasse weg +ins Weiße Rößli am See, wo er sich — um einer geistlichen Tagung +willen in Zürich anwesend — mit dem Pfarrer Fröhlich aus Birr und +andern Kollegen abgesprochen habe. Der weiß genauer zu berichten: +daß im ganzen fünf Gemeinden an dem Birrfeld teil hätten, daß es +vielleicht mehr als andere Gegenden an der Mißwirtschaft des Weidganges +leide, aber durchaus nicht nur ein wüstes Heideland sei, wie es +verschrien wäre. Er rät Heinrich Pestalozzi, als er seine Absichten +hört, ernsthaft zu einer Besichtigung, und da ihn nun auch Rengger +freundschaftlich einlädt, springt er mit beiden Füßen in den Plan ein; +um so mehr, als der Pfarrer Fröhlich von einem burgähnlichen Gebäude +in<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> Müligen an der Reuß spricht, seit altersher der Turm genannt, das +mit Scheune, Stall und Garten zu mieten wäre.</p> + +<p>Noch in derselben Woche ist er nach Gebistorf unterwegs; er findet das +Birrfeld als eine stundenweite Hochfläche, die zur Reuß mit steilen +Waldhängen abfällt und sich in steinichten Halden gegen das Kalkgebirge +des Kestenbergs hebt, auf dem das alte Schloß Brunegg steht. Von einem +mit Kiesgeröll gemischten Moder bedeckt und an vielen Stellen sumpfig +wie ein altes Seebecken, ist sie mit Wacholder und kleinen Tännchen +bestanden und bietet den Anblick einer Heide, obwohl sie da, wo sie +wirklich bebaut ist, garnicht so üble Felder zeigt. Namentlich aber +gefällt ihm die Wohnung in Müligen; mit Efeu dicht berankt und unter +Bäumen am Hügelabhang sonnig gelegen, scheint sie ihm wohl geeignet als +Nest für sein kommendes Glück. Sie gehört einer begüterten Familie in +Brugg, und er beeilt sich, sie für vierzig Gulden jährlich zu mieten. +Der heimlichen Liebsten kann er nur in Briefen blühende Schilderungen +davon machen; aber seine Mutter kommt bald auf einem Wagen, das Nest +mit einem Bett und dem nötigsten Hausrat einzurichten. Es wird anders +mit ihren Söhnen, als sie gehofft hat: der eine tut als Kaufmann nicht +gut, und der andere hat mehr als ein Dutzend Jahre die Schulbänke +gedrückt, um die Weltverlassenheit dieser Bauernschaft als sein Glück +zu preisen. Sie vermag bei seinen Freudensprüngen nicht mehr zu lächeln +und sieht über die Stundenweite des Birrfeldes mit einer trostlosen +Wehmut hin. Dies wird<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> einmal ein einziges Gartenfeld sein! sagt +Heinrich Pestalozzi und begreift die ärmlichen Dörfer des Landes in +einer großmächtigen Armbewegung. Sie zieht das schwarze Witwentuch um +ihre schmächtige Gestalt, als ob sie fröre; doch als er sie dann fast +knabentrotzig fragt, ob sie es nicht glaube? weht ihr ein Lächeln alles +Trübe fort aus dem blassen Gesicht: Wie soll eine Mutter anders als +gläubig zu ihren Kindern sein!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>38.</h3> +</div> + +<p>Jeden Morgen steigt Heinrich Pestalozzi den steinichten Hügelweg +hinauf, das Birrfeld wie ein Eroberer zu durchqueren; die Mutter hat +ihm einen Rest des väterlichen Vermögens mitgebracht, den sie zur Not +entbehren kann, und so kann er auf eigenen Landerwerb ausgehen. Er +findet die besten Plätze bald in den Hummeläckern, die ziemlich mitten +im Birrfeld liegen und zu der Gemeinde Lupfig gehören. Die Üppigkeit +einiger Kirschbäume gibt ihm Gewißheit, daß der verwahrloste Boden mit +guter Düngung bald ertragreich zu machen wäre, und rasch entschlossen +wendet er siebenundfünfzig Gulden an, sich vier bis fünf Jucharte davon +zu kaufen, die er mit allem Eifer seiner gelernten Künste aus einem +Mergellager am Kestenberg aufbessern will. Darüber aber kommt er bei +den Leuten der Gemeinde auch schon ins Gespräch als Herrenbauer, und +mehr als einer hört die ungewohnte Geldquelle gegen seine Äcker rinnen. +Als er darauf mit weiteren Ankäufen zögert, fangen die bäuerlichen +Listen an, sich mit Wegerechten, Weidgang und andern Vorwänden drückend +zu machen, sodaß<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> er wohl oder übel zu höheren Preisen kaufen muß.</p> + +<p>In diesen Schwierigkeiten, die ihn allein befallen, weil seine Mutter +wieder nach Höngg zum kranken Großvater gerufen ist, geht er eines +Nachmittags verdrießlich nach seinem Turm zurück, als ihn ein Mann +mit seinen Wägelchen einholt und aufsteigen heißt, da er gleichfalls +nach Müligen führe. Er hat den Mann auf seinen Gängen schon mehrmals +angetroffen, und weil ihn die Mißlichkeiten müde und unlustig zum Gehen +gemacht haben, nimmt er das Angebot gern an. Unterwegs holt ihn der +andere beiläufig aus, ob er auf seinem Hummelacker zu bauen gedächte, +und als er das bejaht: ob er denn Wasser habe? Warum er nicht weiter +aus dem Birrfeld hinaus, etwa da oben in den Letten baue? Da habe er +Quellen genug, brauche sich mit keinem Anlieger herumzuschlagen und sei +Herr auf seinem Boden. Billiger als da unten sei das Land sicher, wo +auch sonst die Lupfiger keine günstige Nachbarschaft wären.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi weiß, daß der Mann, den er von seinen Gängen her +als einen Metzger und Wirt aus Birr mit Namen Märki kennt, wohlhabend +und durch seine Geschäfte bewandert in allen Verhältnissen der Gegend +ist. Irgendwie fällt ihm das Wort Bluntschlis von dem Ratgeber ein, und +da ihn der Mann im Sprechen auffällig an seinen Lehrmeister Tschiffeli +erinnert, nur daß er genau so drastisch in seinen Ausdrücken wie +jener vorsichtig ist, sieht er ihn prüfend von der Seite an und nicht +unlustig, seine Dinge mit ihm zu besprechen. Der aber scheint von dem +Gespräch genug<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> zu haben, kutschiert gleichmütig darauf los, bald hier +bald dort mit dem Peitschenstiel auf eine Merkwürdigkeit deutend, sodaß +Heinrich Pestalozzi fast bedauert, als sie hart bremsend den letzten +gewundenen Abstieg nach Müligen hinunter fahren. Eine Einladung, bei +ihm für einen Augenblick abzusteigen, nimmt der Mann nicht an, da er es +wegen der Dunkelheit eilig habe. Bald sieht er ihn denn auch wieder den +Weg hinauf kutschieren, rüstig zu Fuß, das Pferd am Zügel führend.</p> + +<p>Schon am andern Tag macht er einen Weg in die Letten hinauf; er findet +den Boden mit vermodertem Kalkgestein durchsetzt, das vielfach auch +mit einem beinernen Glanz zutage liegt: Hier ist wirklich Ödland, aber +wo der Hang ins ebene Feld ausläuft, doch wieder guter Boden, vor +allem aber ist reichlich Wasser da, und die abseitige Lage lockt ihn +besonders. Als er bis an den Waldrand hinaufgegangen ist und von da +unter einem Nußbaum über das stundenweite Birrfeld hinsieht — stärker +als je in dem Traum, es von hier aus stückweise zu erobern und ein +Gartenmeer daraus zu machen, das Wohlstand in all die ärmlichen Dörfer +rundum verbreiten soll — hört er hinter sich seinen Namen rufen, und +als er umsieht, steht der Märki dort und winkt ihm. Augenscheinlich +will er nicht gesehen werden, und so steigt Heinrich Pestalozzi zu +ihm hinauf in den Wald. Der selbe Mann, der gestern gleichmütig war, +scheint heute wütend: falls er etwa die Absicht habe, hier zu kaufen, +so möge er sich selber das Geschäft nicht verderben, indem er hellen +Tags hier herumlaufe!<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> Bauern seien Bauern: wenn er, der Märki, etwa +hinginge und ihnen bares Geld für einen Acker brächte, wären sie +noch so froh; so aber der Herrenbauer käme, glaube jeder gleich das +große Los zu spielen. Er wolle sich mit diesem Beispiel nicht etwa +aufdrängen, er habe hier nur zufällig einer Klafter Kleinholz nachgehen +wollen, die überm Winter vergessen worden sei. Da er ihm aber nun +einmal den Rat gegeben habe, möge er natürlich nicht, daß er dabei zu +Schaden käme und ihm schließlich noch Vorwürfe mache!</p> + +<p>Nichts für ungut, sagt er dann wieder höflich, als er das alles mit +rotem Kopf mehr geschimpft als gesprochen hat, lüpft an seiner Kappe +und geht davon, gefolgt von einem Metzgerhund, der sich faul aus der +Sonne aufhebt. Heinrich Pestalozzi bleibt wie ein gescholtener Schüler +zurück, doch ist er dem Mann dankbar; wenn er an die Tagelöhner in +Lupfig denkt, daß nie einer ein richtiges Wort aus den Zähnen läßt und +jeder an seinem Mißtrauen würgt, irgend einen Vorteil zu verlieren, so +ist dies doch von der Leber gesprochen. Er folgt seiner Weisung, geht +nicht über Birr, sondern im Bogen durch den Wald gegen die Hummeläcker, +wo ihm nun nichts mehr gefällt, sodaß er seine Pläne umdenkend nach +Müligen heimkehrt. Noch am selben Abend schickt er dem Märki eine +Botschaft nach Birr hinauf, und nun wird es rasch ein anderes Geschäft +für ihn: in knapp acht Tagen hat er durch den gewandten Unterhändler +zehn weitere Jucharte dazu gekauft, nicht übles Land, noch in der +Ebene gegen den Letten gelegen, sodaß er einen guten Platz für sein +Haus, einen Brunnen<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> dazu und Land genug besitzt, um seine Plantage +zu beginnen. Daß die nun in zwei Stücken auseinander liegt, die +Hummeläcker mitten im Birrfeld und das andere eine gute halbe Stunde +weiter hinauf am Letten, beunruhigt ihn ebensowenig wie der doppelte +Preis: auch Tschiffeli hat so zerstreut Boden fassen müssen, und +schließlich ist doch alles ein großer Besitz geworden. Seitdem er den +Metzger Märki als Ratgeber hat, fehlt es ihm nicht mehr an Zutrauen, +daß auch sein Traum gelingt. Denn daß er selber in die Hände eines +Mannes geraten ist, der vieles zu sich heranbiegt, um daraus nichts als +seinen Nutzen zu haben — was unter Kaufleuten die einzige Moral ist — +während er sich selber einen Nutzen immer nur erträumt, um eine Quelle +des Wohlstandes für die andern zu sein: das soll er noch erst erfahren.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>39.</h3> +</div> + +<p>Über dem ist der Herbst gekommen und weht Heinrich Pestalozzi die +dürren Blätter vor die Haustür; die Singvögel ziehen der scheidenden +Sonne nach, und abends steigen die Nebel kalt aus der Waldschlucht, +darin die Reuß ihr spärlich gewordenes Wasser der Aare zuführt: nach +dem Sommer mit der sonnigen Fülle seiner langen Tage kommt der Winter, +der die Menschen in den Kreis der Lampe drängt. An der seinen war das +Messing blank, als Anna sie schenkte: aber ihre Hände sind nicht da, +es zu putzen. Nicht einmal ein Stück Vieh steht im Stall, und Heinrich +Pestalozzi, der doch ein Stadtkind und gewohnt ist, über seine Dinge zu +sprechen,<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> sitzt Abend für Abend allein in seinem Turm. Die Mutter kann +nicht mehr kommen, weil der Großvater sie wieder nach Höngg gefordert +hat; und dem Bärbel war es bald zu grauslich zwischen Wald und Wasser. +Seit seinem heimlichen Verlöbnis ist mehr als ein Jahr verstrichen, +Anna hat im Sommer schon ihren dreißigsten Geburtstag erlebt, und immer +noch steht die Weigerung der Eltern vor der gemeinsamen Zukunft. Die +Melancholie der Einsamkeit läßt ihren bitteren Saft in seine Stunden +fließen, und andere Briefe flattern nach Zürich, als sie aus Kirchberg +gingen. Einigemal reist er selber hin, auch nach Brugg kommt er +Samstags, die Schaffhäuser Zeitung zu lesen: aber es ist eine tote Zeit +für Heinrich Pestalozzi, da er zum erstenmal den einsamen Winter des +Landmanns wirklich zu spüren bekommt.</p> + +<p>Noch im Spätherbst haben auf einer Spazierreise zu Pferd einige Freunde +aus Zürich bei ihm angeklopft, um sich den Scherz eines Besuchs bei +dem Einsiedler von Müligen zu machen; sie waren überrascht, alles +so heimelig bei ihm zu finden — das Bärbel war gerade da — und +namentlich der Johannes Schultheß aus dem Gewundenen Schwert, dessen +Vater Bankgeschäfte macht, zeigte für seinen Plan viel Aufmerksamkeit. +Er hat ihm unterdessen mehrmals geschrieben und ist tatsächlich auch +bei seinem Vater nicht untätig geblieben; als endlich das letzte +Schneewasser mit hundert Bächen die Reuß braun färbt und die ersten +vorwitzigen Singvögel den Sonnenschein prüfen, geht Heinrich Pestalozzi +in der Entschlossenheit eines Verschwörers nach Zürich, mit dem +Bankherrn in eine Geschäftsverbindung zu<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> kommen. Es dauert zwar noch +ziemlich eine Woche, und er muß sich manche Laune des aufbrausenden +alten Herrn gefallen lassen; aber der Sohn läßt nicht locker, und +schließlich kommt eine Abmachung zustande, daß der Bankiers mit einem +Einsatz von fünfzehntausend Gulden allmählich in seine Pflanzung +eintreten will und ihm gleich ein Drittel dieser Summe als Kredit +eröffnet.</p> + +<p>Damit steht Heinrich Pestalozzi vor den Kaufmannsleuten im Pflug als +einer ihresgleichen da, und als er aus dem Gewundenen Schwert an die +Limmat hinaustritt, seinen Kreditbrief in der Hand, wagt er damit +auch den zweiten Gang. Er findet aber niemand zu Haus als den Bruder +Salomon, da die Eltern mit Anna nach Wollishofen hinaus gegangen +sind; das ist ein bequemer und weichlicher Mensch, der mit seinem +Doktorstudium nicht fertig wird und den Schwarmgeist aus dem Roten +Gatter wie eine Brummfliege haßt: er steht nicht einmal auf von der +Polsterbank, und als ihm Heinrich Pestalozzi seinen Kreditbrief zeigt, +spöttelt er, die Schwester sei ihnen kostbarer als solch ein Stück +Papier. Auch Anna, die er am Abend für eine Stunde sieht, vermag ihm +keine bessere Hoffnung zu geben, da die Mutter unversöhnlich sei und +der Vater nichts gegen sie vermöchte. So muß er andern Nachmittags doch +wieder ohne Braut in das Limmatschiff steigen.</p> + +<p>Vorher ist er noch einmal nach Höngg hinaufgegangen, wo sein Freund +Wüst als Vikar das Pfarramt versieht, dessen Würden der Großvater +nur noch in seiner Studierstube zu tragen vermag. Er ist mit seinen +sechsundsiebzig Jahren ganz wunderlich geworden, schüttelt zu<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> allem, +was er ihm sagt, nur den leeren Kopf, als ob er genug von den Dingen +der Erde gehört habe. Erst wie er Abschied nehmen will und die zittrige +Geisterhand in die seine nimmt, hebt er den anderen Zeigefinger, ihn zu +vermahnen, läßt aber gleich wieder ab und schüttelt von neuem den Kopf, +sodaß Heinrich Pestalozzi nichts vermag, als weinend seinen Mund auf +die kraftlosen Hände zu legen.</p> + +<p>Im Juli danach ist er tot; Heinrich Pestalozzi erhält die Nachricht +so spät, daß er das Leichenbegängnis nicht mehr erreicht; wie er +nach der langen Postfahrt den Berg hinauf hastet, kommt ihm auf der +Straße still weinend Anna Schultheß entgegen, die außer dem Willen +ihrer Eltern mit auf den Kirchhof gegangen ist und nun nach Hause +will. Ihr so unvermutet auf dem Berg seiner Jugend zu begegnen, das +reißt ihn hin; und auch sie ist durch das Ereignis so bewegt, daß die +beiden sich aller Augen zum Trotz weinend in die Arme fliegen. Nachher +gehen sie Hand in Hand nach Höngg zurück, wo unter den leidtragenden +Amtsgenossen des verstorbenen Dekans noch die Mutter mit dem Bärbel +ist. Heinrich Pestalozzi läßt auch da die Hand der Geliebten nicht +los, und sie sträubt sich nicht, sodaß sie wie zwei Kinder an den +frischen Grabhügel kommen. Beide entsinnen sich da des Grabes, das +ihre Freundschaft zusammen führte; aber während er sie nun losläßt und +weinend niederkniet, bleibt sie aufrecht und verharrend bei ihm stehen, +bis sein Blick sie wiederfindet. Dann gibt sie ihm die Hand zurück, +und weil er seiner Füße nicht geachtet hat, kommt es so, daß sie<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> zu +beiden Seiten des Grabes stehen, über dem ihre Hände sich für immer +geschlossen halten.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>40.</h3> +</div> + +<p>Seit dieser Begegnung in Höngg müssen die Kaufmannsleute im Pflug +einsehen, daß nichts mehr ihre Tochter vor dem schwarzen Pestaluz +bewahren kann. Als nacheinander seine Freunde Füeßli und Lavater — +der nun schon Diakonus ist — sich um die Liebenden bemühen, als der +wohlhabende und angesehene Doktor Hotz von Richterswil als Freiwerber +für seinen Neffen erscheint und mit dem Antistes Wirz selbst der +Bürgermeister Heidegger ein Wort für die Heirat findet, schickt sich +die Mutter grollend in die Gewalt und gibt die Tochter frei; jedoch nur +sie selber, ohne Aussteuer, allein die Kleider, ihren Sparhafen und +das Klavier darf sie mitnehmen. Heinrich Pestalozzi kommt mit einem +Wagen von Brugg, sie abzuholen; er hat sich den Tag anders gedacht, als +daß er sie gleich einer Verstoßenen wegführen müsse. Der Zunftpfleger +ist aus dem Hause gegangen, den Auftritt nicht zu erleben; die Mutter +empfängt ihn ohne Gruß wie einen Landfahrenden und gibt der Tochter den +zornigen Spruch mit, daß sie bei ihm noch einmal mit Brot und Wasser +zufrieden sein müsse! Aber Anna verhält sich tapfer und schön; sie +fühlt nun andere Mächte über sich als die elterliche Gewalt, und obwohl +sie ihr Gesicht blaß geweint hat, steht keine andere Sorge darin, als +der Mutter nicht hart zu begegnen.</p> + +<p>Es fällt ein leichter Frühregen, wie sie durch die Sihlporte<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> hinaus +auf der Straße nach Alstetten ihren Auszug beginnen; Heinrich +Pestalozzi hat die Geliebte eben noch in der Wohlhabenheit ihres +Hauses gesehen, die nun fröstelnd in der kühlen Nässe neben ihm auf +dem ärmlichen Fuhrwerk sitzt: so überkommt ihn die Wehmut, wie traurig +es für sie sein müsse, die Heimat so zu verlassen und mit ihm ins +Ungewisse zu fahren. Sie aber, die alles schon durchlebt hat, was +bitter daran ist, sieht nicht ein einziges Mal zurück; sie nimmt nur, +als sie seine Gedanken fühlt, mit einem tapferen Lächeln seine Hand +— die nun ihre Heimat sei — und in ihren Augen, die nicht dunkel +und voll Unruhe wie die seinen, sondern hell und ruhig sind, steht +der geklärte Entschluß aus harten Monaten, treu zu beharren bei ihrem +Herzen und dem Schicksal alles zu bezahlen, was es für die späte Liebe +fordert. So Hand in Hand beieinander auf ihren Siebensachen sitzend, +fahren sie durch den Herbsttag hin, der schon bei Alstetten zwischen +aufgeregtem Gewölk ein blaues Auge zeigt und gegen Baden die Sonne +zärtlich scheinen läßt.</p> + +<p>Bis zur Hochzeit bleibt Anna Schultheß bei dem Pfarrer Rengger in +Gebistorf, der auch der Freund ihres Bruders ist; dort in der alten +Dorfkirche werden sie am letzten September getraut. Nachher gehen +sie miteinander nach Müligen, wo ihnen das Babeli ein einfaches Mahl +bereitet hat und mit einem bäuerlichen Spruch für die junge Frau unter +der bekränzten Haustür wartet. Anna dankt dem treuen alten Wesen mit +einem Kuß auf die runzelige Stirn und heißt es mit in ihrer Reihe +sitzen, wie sie Heinrich Pestalozzi leise sagt, als Ehrengast.<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> Der +sieht die Braut allein von ihrer Sippe in der Mitte der Seinigen, als +wäre er noch immer zu Haus; aber es sind andere Räume, und unmerklich +ist in seinem Leben die Anna Schultheß an die Stelle der Mutter +gerückt. Sie sitzen nebeneinander, die ihn geboren hat und die ihm +Kinder bringen soll; es scheint ihm, als wären sie Schwestern, so +ähnlich sind sie. Das ist so stark, daß ihm die beiden auf einmal +entfremdet scheinen, weil er die eine nur als Mutter gekannt hat +und staunend fühlt, wie unbekannt ihm ihre Frauenwelt war; in diese +Frauenwelt aber ist die andere nun durch ihn eingefordert worden. +Da fühlt er tief, daß menschliches Glück nicht in der Erfüllung der +eigenen Wünsche bestehen könne, weil ein Mensch mit seinen Wünschen im +Gefängnis einsamer Dinge bliebe. Nur, wessen Seele in andere Seelen +einginge, könne aus der Enge seines zufälligen Daseins ins Leben kommen!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>41.</h3> +</div> + +<p>Als Heinrich Pestalozzi Anna Schultheß aus ihrem wohlhabenden +Stadtbürgertum in seine bäuerliche Einsamkeit holt, ist sein Besitz auf +neununddreißig Jucharte angewachsen, die meist im steinichten Letten +am Fuß und Abgang des Kestenbergs liegen. An die geplante Gärtnerei +kann er nicht denken, solange er selber noch so weit entfernt von +seinen zerstreuten Ländereien in Müligen wohnt; so beginnt er auf dem +Hummelacker wie auf den unteren Feldern im Letten seine Krappkultur und +sät die minderen Flächen vorerst mit Esparsette an, weil er weiß, daß +dieser Futterklee auch<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> auf steinichtem Boden gerät und das Land für +anderen Anbau fruchtbar macht: das eifrigste seiner Geschäfte aber ist +der Plan eines eigenen Wohnhauses, das den zerstreuten Besitz erst zu +einem Gut machen muß, und mancher glückliche Herbstgang mit der tapfer +erkämpften Lebensgefährtin gilt der Bestimmung des Platzes, wo sie als +Hausfrau seiner Besitzung walten soll.</p> + +<p>Auch was hierbei wehmütig ihre Schritte begleitet, daß ihr das eigene +Elternhaus feindlich versperrt sei, erfährt bald eine unvermutete +Wendung: ihrem Vater, dem Zunftpfleger zur Saffran, ist augenscheinlich +die Trennung von seiner einzigen Tochter das eigentliche Ärgernis an +ihren Heiratsplänen gewesen — um so mehr, als er mit den Söhnen nicht +aufs beste steht und oft Verdruß mit ihnen hat — und auch die Mutter +sieht nach der Trennung ein, daß es besser sei, eine Frau Pestalozzi +als gar keine Tochter mehr zu haben. Nicht länger als zwei Monate hält +ihr gekränkter Bürgerstolz der Sehnsucht stand, dann kommen Briefe nach +Müligen, die deutlich nach einer Aussöhnung verlangen; und eben will +der Winter das einsame Paar einschneien, als eine Einladung erscheint, +den vorenthaltenen elterlichen Segen zu holen, damit Weihnachten keinen +Unfrieden mehr in der Familie fände. Mitte Dezember schließen sie +frühmorgens in dunkler Kälte die Haustür in Müligen ab und sind abends +miteinander im Pflug, wo die Rührung des Wiedersehens die verlegene +Erinnerung an die lange Zwietracht im ersten Augenblick zudeckt und +danach rasch ein so erträgliches Verhältnis entsteht, daß sie statt +der gewollten drei Tage<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> bis über Weihnachten bleiben. Es kommt nun +doch noch zu den verwandtschaftlichen Besuchen; die Mutter Pestalozzi +erscheint im Pflug, und die Zunftpflegersleute bemühen sich zum Essen +ins Rote Gatter, wo die geborene Hotzin sie mit den Formen ihrer +Jugend empfängt. Auch sonst gehen die jungen Leute den Fäden ihrer +Freundschaften nach, und der heilige Abend kommt als der Schlußpunkt +fröhlicher Festwochen. Um den Übermut zu vollenden, erscheint der Oheim +Hotz von Richterswil mit aller Behaglichkeit seines Alters und nimmt +sie mit auf eine Schlittenfahrt nach Hegi und Winterthur. Als sie +endlich, diesmal im Schiff, aus dem winterlichen Zürich heimfahren, +sind sie beschüttet von Segenswünschen und Versicherungen herzlicher +Freundschaft; denn der Heinrich Pestalozzi, im Pflug als Tochtermann +angenommen, steht anders vor der Welt da als der Wundarztsohn, der mit +der Tochter im Unfrieden auf einem Bauernfuhrwerk davongefahren ist.</p> + +<p>So hätten sie Anlaß, fröhlich auf dem Wasser zu sein, das von der +winterlichen Mittagssonne dampft, und Anna sagt es auch, noch von dem +Übermut des Abschieds voll: daß dies erst ihre rechte Hochzeitsfahrt +sei. Aber ihre Fröhlichkeit schwimmt nur noch wie das Schiff auf dem +dunklen Wasser; und als ihr Heinrich Pestalozzi ins Auge sieht, traurig +fragend mit diesem Blick, wie sie das meine, kommt sie unvermutet ein +tiefes Weinen an, das er viel eher als den Übermut versteht. Ihm ist +aus dem Lärm dieses Mittags schon vorher die Wehmut aufgestiegen, +daß sie auf ihrem Wagen damals, den er selber durch den regnerischen +Herbsttag<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> lenkte, einander näher gewesen seien, und mehr als dies, +daß sie näher am Herzen Gottes gehangen hätten als jetzt auf dieser +schaukelnden Schiffahrt, wo sich ihre Hände aus der Zerstreuung so +vieler Tage nicht zu finden vermögen.</p> + +<p>Erst als sie von Turgi noch unter der mondhellen Sternennacht den +langen Weg nach Müligen wandern und kein Wort sprechen, verliert sich +Klang und Schaum der überfüllten Tage bis auf den letzten erdigen Rest, +der ihnen bitter schmeckt — bis sich noch vor der Haustür Hand und +Mund zum innigen Gelöbnis finden.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>42.</h3> +</div> + +<p>Andern Morgens im Frühdunkel verläßt Heinrich Pestalozzi das Haus, um +noch einmal nach den Feldern zu sehen, darüber er am selben Vormittag +in Königsfelden vor dem Landvogt den Kaufvertrag machen will. Auf dem +einen steht der breite Nußbaum, unter dem er oft mit seiner jungen +Frau gestanden und das zukünftige Besitztum überblickt hat; da soll +dann ein schattiger Sitzplatz sein. Es ist kaum hell, als er hinkommt; +um so mehr erstaunt er, als Anschläge klingen und gleich darauf ein +schwerer Baum krachend niederstürzt; wie er Böses ahnend zuläuft, +liegt der Nußbaum auf der Erde, und der ihn gefällt hat, ist der Mann, +von dem er den steinichten Acker um dieses Nußbaums willen nicht eben +billig kaufen will. Es ist, wie er weiß, ein Tanner — so nennen sie +die Tagelöhner im Birrfeld — dem es mit sieben Kindern übel geht und +dem er deshalb auf Zureden Märkis auch den geforderten Kaufpreis<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> ohne +Abrede zugestanden hat. Da er nur zufällig noch auf den Acker gekommen +ist und ihn andernfalls gekauft und bezahlt hätte, macht ihn die +Niedertracht des Mannes wütend, sodaß er schimpfend gegen ihn anläuft. +Der aber ist selber so im Zorn, daß er die Axt gegen ihn hebt; und +als er seinem Frevel dann mit Worten beikommen will — nun kaufe er +den Acker überhaupt nicht oder nur um die Hälfte des Kaufpreises — +schlägt der Mann die Axt in den Stamm, daß es zischt: das sei ihm beim +Leibhaftigen gleich, und nur der Märki habe den Schaden davon! Seine +Wirtsschulden würden ihm doch falsch angekreidet, und er bekäme keinen +Kreuzer von dem Kaufgeld. Den Baum habe er als Knabe selber gepflanzt +und er solle auch keinem andern gehören!</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat schon mehrmals solche Dinge von dem Märki +vernommen, und von dem Pfarrer weiß er, daß die Leute um seiner +Verbindung mit dem Metzger willen gehässig gegen ihn sind; aber daß der +ihn betrügt wie hier, wo er sich den höheren Kaufpreis in seine eigene +Tasche gehandelt hat, das ist ihm eine bittere Erfahrung. Er geht +traurig von dem Platz fort und läßt dem Märki durch einen Boten sagen: +er könne nicht mit ihm fahren, würde aber pünktlich in Königsfelden +sein. Als er dann nach einer verstimmten und nicht gradlinigen +Wanderung den großspurigen Mann sieht, der auch unter Menschen immer +dasteht, wie wenn er gleich zu metzgen anfangen möchte, hat er nicht +den Mut, ihm den Handel auf den Kopf zuzusagen, unterschreibt auch +den Kaufvertrag trotz dem gefällten Nußbaum<span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span> — da der Märki die +Vollmacht des Tanners vorweist — und ist erschrocken über soviel +Verschlagenheit. Nur auf seinen Wagen steigt er auch diesmal nicht, +und erst, als der andere ihn augenscheinlich um seiner Verstimmung +willen in allerlei Gesprächen aufhält, sagt er ihm sein Erlebnis aus +der Morgenfrühe ins Gesicht und läßt ihn stehen. Er hört ihn noch über +das Tannerpack schimpfen, als er mit langen Beinen aus seinem Bereich +eilt; und kaum ist er eine Viertelstunde unterwegs, da rollt der Wagen +schon hinter ihm her. Er denkt nicht anders, als daß der Metzger sein +Pferd zornig an ihm vorbeipeitschen würde; aber der läßt es in Schritt +fallen, immer neben ihm heran. Ob der Herr Pestalozzi dem versoffenen +Lumpenkerl vielleicht auch noch glaube? Dann möge er sich jemand anders +für seine Geschäfte suchen: er habe sich weder aufgedrängt noch sei er +versessen darauf, für ihn mit aller Welt in Händel zu geraten!</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi kann nicht antworten, so widerlich ist ihm nun Art +und Stimme des Mannes. Er tritt in den Graben und will ihn vorfahren +lassen; der Märki aber hält sein Pferd an, wie wenn er ihn anders +verstanden habe: er wolle also doch noch aufsteigen? Da merkt er, daß +ihn der Metzger nicht loslassen will, und läuft querfeld über den +gefrorenen Acker davon, wo ihm das Fuhrwerk nicht folgen kann. Noch von +weitem hört er das höhnische Gelächter, und es hallt ihm noch in den +Ohren, als er verbittert über sich und seine Händel zum Mittag durch +die Haustür in Müligen eingeht. Da will es sein Unglück, daß auch Anna +Ärger<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> mit ihrer aufsässigen Magd gehabt hat, sodaß sie beide gereizt +am Tisch sitzen. Er will ihr nichts sagen, aber sie fragt, bis seine +kargen Antworten ihr doch den Handel verraten. Da legt sie freilich den +Löffel hin: ob er den Kauf wirklich gemacht habe? Und als er, nun schon +trotzig, ja sagt, entfährt ihr ein hartes Wort. Sofort flammt auch sein +Jähzorn auf, und obwohl er innerlich verzweifelt vor ihr kniet, daß +sie ihm die Sätze nicht nachtragen möge, bleibt sein hitziges Blut im +bösen Streit mit ihr, bis er vom Tisch aufspringt und gegen die Reuß +hinunterläuft.</p> + +<p>Vor dem emsigen Zorn der Wellen findet er sich wieder, und schon zur +Vesper sind sie nach bitteren Tränen der Reue wieder ausgesöhnt: doch +bleibt das Weh seiner Scham, daß er sterben möchte und sich danach +auch wirklich bis zur Krankheit in die Selbstanklagen vergrübelt. +Sylvester feiern sie noch miteinander auf die vorbedachte Art, indem +sie an die Armen von Müligen einen Korb Brot verteilen — was als ein +Anfang seiner Wohltätigkeit gedacht war, scheint ihm nun ein kläglicher +Rest seiner Beglückungspläne — dann legt er sich hin und bleibt fast +eine Woche lang im Bett, unfähig vor Fieber und Mutlosigkeit. Es ist +längst nicht mehr der böse Tag allein, was ihn quält; es ist die erste +Abrechnung mit seinen Plänen und mit sich selber, dem hochmütigen +Plänemacher. Die Sehnsucht seiner Jugend hebt sich auf und steht ratlos +vor dem Schwall seiner Handlungen in diesem letzten Jahr. Er weiß +nicht, wo seine Füße anders hätten gehen sollen; nur daß sie falsch +gehen, das fühlt er genau. Gleich<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span> Trompeten schreit eine Stimme in +ihm, daß er die Forderungen seiner Natur betäubt habe: Was bin ich, +und was wird aus mir werden? schreibt er ins Tagebuch seiner Frau, das +immer offen vor dem Bett liegt, obwohl sie sich selber darin nicht +schont. Und alles, was er als Antwort findet, ist die Verzweiflung, in +Irrtum und Unrecht unwichtiger und falscher Dinge verstrickt zu sein; +nicht anders, als ob er selber mit der Peitsche im Metzgerwagen des +Märki säße und seine Seele über die hartgefrorenen Felder angstvoll +davonliefe.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>43.</h3> +</div> + +<p>Als Heinrich Pestalozzi wieder aufsteht von seiner Krankheit, ist kein +Entschluß aus seinen bitteren Gedanken gekommen; sie sind vergangen, +wie nach Unwetter tagelang die Wolken auf den Bergen lasten, als ob sie +sich nie wieder heben wollten, und eines Morgens scheint doch die Sonne +in eine blanke Welt. Er kann wieder mit Freude an seine Unternehmungen +denken, und alle verzweifelten Gedanken daran kommen ihm als bequeme +Mutlosigkeiten und als Rückfälle in die unstete Natur seiner +Knabenjahre vor; er weiß, daß er in diesem Jahr Vater werden soll, und +schämt sich der Unmännlichkeit, die nicht für das Kind und seine Mutter +die selbstgewählte Pflicht erfüllt.</p> + +<p>Der erste, an dem er sich erprobt, ist Märki; der kommt, das vorgelegte +Kaufgeld einzufordern, und ist wieder der schlau beherrschte Mann, der +Nachsicht mit den Launen seines Schützlings hat und ihn, wo er sich +auflehnen will, die Überlegenheit an Alter und Erfahrung<span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span> fühlen läßt. +Heinrich Pestalozzi begreift sich selber nicht mehr, wie er ihm damals +ausweichen konnte: er sagt ihm unverhohlen und ohne Zorn, daß er das +andere anweisen, jedoch die Kaufsumme für den Acker um den geschlagenen +Nußbaum kürzen müsse, da er ihn hierbei in einer Täuschung gehalten +habe. Der Märki will aufbrausen, aber er verweist ihm das gleich +so bestimmt, daß der den andern Wind merkt und sich nach mehreren +Seitensprüngen um der Freundschaft willen, wie er sagt, zu der Sache +bequemt.</p> + +<p>Nach einigen Tagen bringt der Baumeister den Plan des Wohnhauses, +wie es nach seinen eigenen Angaben sein soll: etwa dreißig Schritt +im Geviert mit einem Zeltdach und ganz aus Steinen gebaut; es soll +unten am Letten stehen, wo der angeschwemmte Boden als Gartenland +geeignet ist, und Neuhof heißen. Der Baumeister hat neben den Aufrissen +auch eine Ansicht des Hauses in Farben gemacht; es sieht mehr einer +italienischen Villa gleich als einem schweizerischen Bauernhaus, +aber gerade das gefällt ihm. Er scherzt, daß er selber ein Italiener +wäre, und so oft er das hübsche Bild ansieht, wird der Traum seiner +landwirtschaftlichen Existenz daran lebendig: wie er mit seiner +Stauffacherin da aus und ein gehen wird, wie unter den Bäumen — die +bis jetzt nur auf dem Papier grün sind — Kinder spielen und auf den +Feldern rundum fleißige Tanner lohnende Arbeit finden, wie die breit +gewölbten Keller sich mit Feldfrüchten füllen, und wie er als ein +neuer Tschiffeli der Mißwirtschaft des Birrfeldes aufhielt durch sein +Beispiel planvoller Arbeit!</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p> + +<p>Auch der Baumeister Daniel Vogel, den er sich als fachmännischen +Berater aus Zürich holt, billigt den Plan; der setzt im +freundschaftlichen Vertrauen die Berechnungen fest und macht die +Akkorde mit den Handwerkern unter genauen Abmachungen über das Material +und die Ausführung. Es ist ein sicherer Gang der Ordnung, wie ihn +Heinrich Pestalozzi bisher noch nicht in seinen Dingen gespürt hat; +als ob ihm neue Hände gewachsen wären, seitdem in den abwartenden +Verdruß des Winters ein wirkliches Geschäft gekommen ist, so gibt sich +eins ins andere und bringt die Fröhlichkeit zweckbewußter Arbeit mit. +Als erst der Boden ausgehoben, Steine gebrochen und die Fundamente +gelegt werden, ist er von früh bis spät dabei und scheut das nasse +Schneewasser nicht, selber jede Art von Arbeit mitzutun. Daß morgens +die Leute kommen, Tag für Tag, zum Teil stundenweit und sichtlich froh, +gute Beschäftigung zu haben, gibt ihm ein Vorbild, wie es einmal auf +Neuhof sein soll; und wenn er sie Sonntags entlöhnt, ist sein Traum +schon Wirklichkeit: daß er als der Mittelpunkt einer Unternehmung +dasteht, daraus die ersten Quellen aller Wohlhabenheit, der sichere +Verdienst einer regelmäßigen Arbeit, ins magere Birrfeld fließen.</p> + +<p>Nachdem Ende Januar unerwartet ein Wechsel aus dem Pflug nach Müligen +geflattert ist für das Laufende, kommen nacheinander die Brüder, +am längsten der Doktor Salomon, der die warmen Frühlingstage schon +zum Angeln — seiner Lieblingsbeschäftigung — geeignet glaubt. Sie +mögen Bericht nach Zürich gegeben haben;<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> denn an dem Mittag, da sie +abreisen wollen, steht unvermutet die alte Schultheßin mit dem jüngsten +Bruder gerade vor der Haustür, als sie hinaustreten. Nun bleiben +alle bis zum andern Tag, und weil die Aprilsonne scheint, wird noch +am Nachmittag ein fröhlicher Spaziergang durch die Felder und auf +den Bauplatz gemacht, wo die Fundamente schon kniehoch aus der Erde +sind und eingewölbt werden sollen. Auch auf den Hang kommen sie, wo +der Nußbaum niedergebrochen ist; sein Stamm reicht allen zum Sitz, +sodaß einer den Scherz macht, sie weiheten die Bank ein, bevor das +Holz dazu geschnitten wäre. Von unten klappert das Gewerk der Maurer, +und einer, der den Mörtel in der großen Pfanne rührt, singt das alte +Grenchenlied mit dem spöttischen Hohoho als Schlußreim, in den die +andern einfallen. Auch die Schultheßin, die mit unverhohlenem Mißtrauen +den ausgespreiteten Mergel auf den Kleefeldern für weißen Schutt +gehalten hat, vermag die fröhliche Luft nicht einzuatmen, ohne daß auch +ihr etwas davon ins gallige Blut geht. Die Scherze der Brüder sorgen +dafür, daß die Ausgelassenheit auch den Rückweg im sinkenden Nachmittag +besteht, durch den sie, nun selber das Grenchenlied singend, über die +Kante des Birrfeldes nach Müligen hinunter kommen.</p> + +<p>Andern Morgens nehmen sie Anna für ein paar Tage mit nach Zürich, wo +sie das Rote Gatter ebenso überraschen will, wie sie selber überrascht +worden sei. Heinrich Pestalozzi gibt ihnen das Geleit bis Baden; der +laute Abschied erinnert ihn an die wehmütige Winterschiffahrt, und daß +ihm die Brüder mit ihrer Ausgelassenheit<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> die Geliebte für ein paar +Tage entführen, ist ihm auch nicht recht; doch läßt sie ihm ein inniges +Wort zurück, das er feierlich durch den Morgen nach Hause trägt: Ich +will deiner Mutter meine Hoffnung sagen!</p> + +<p>Er ist noch keine Viertelstunde unterwegs, als er den übrigen Schwall +schon vergessen hat und nur noch an das Glück denkt, das sie bei der +Mutter mit ihrem Geständnis einbringen wird. Dabei lallt er die sieben +Worte immerzu; sie bilden eine Perlschnur, an der die beiden Frauen +als die letzten angereiht sind — bald werden sie eins weiter gerückt +und in die Kette eingereiht sein — ihm aber ist sie mit der Sorge in +die Hand gelegt, daß die Perlen bei dem Wechsel der Vergangenheit in +die Zukunft keinen Schaden nähmen. Was bin ich, und was wird aus mir +werden? hat er ins Tagebuch seiner Frau eingeschrieben; aber auf die +Anklage seines Leichtsinns hat das Gefühl der Vorsehung einen Segen +gelegt, den er glücklich in den Lerchenmorgen hinein trägt: Was er ist, +darauf haben die beiden Frauen in unübersehbaren Stunden Schätze der +Liebe gehäuft. Und wenn er ein sinnloser Verschwender damit würde, es +kann ihm nicht gelingen bis in den Tod, sie auszugeben! Als ihn kurz +vor Brugg ein Bettler um Geld anspricht, bietet er ihm alles, was er in +seiner Tasche findet, und geht glücklich weiter, ihm für eine Stunde um +keinen Kreuzer voraus zu sein.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>44.</h3> +</div> + +<p>Es ist auf lange Zeit der letzte reine Morgen für Heinrich Pestalozzi; +denn noch am Nachmittag erfährt<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> er, daß über seine Unternehmung die +absprechendsten Gerüchte in Umlauf sind, sodaß der unvermutete Besuch +der Schwiegermutter nachträglich eine unfreundliche Bedeutung erhält. +Nicht lange danach, daß Anna wieder von Zürich zurück ist, erscheint +auch der Bankier Schultheß im eigenen Reisewagen mit zwei Söhnen und +einem Bedienten, die Grundlage seines Darlehens zu prüfen. Er will +jedes Feld und die Art der Besserung sehen, das Haus mißt er selber mit +dem Maßstab in den Fundamenten aus: er hat dabei eine Art, zornig den +Kopf zu schütteln, aber das ist nur eine Angewohnheit des alten Herrn, +und am Ende geht es wie mit der Schultheßin: die Stimmung bessert sich, +und wie damals Anna fährt nun Heinrich Pestalozzi mit dem Besuch nach +Zürich zurück.</p> + +<p>Sie sind kaum fort, als Anna hört, daß der Bediente unterdessen seine +eigenen Wege im Birrfeld gegangen ist, überall die Meinung aushorchend; +auch bei dem Märki ist er gewesen: nach seinen boshaften Bemerkungen +mit dem kläglichsten Ergebnis. Sie nimmt sich vor, es zu verschweigen, +aber als Heinrich Pestalozzi nach einigen Tagen von Zürich zurückkommt, +weiß er schon alles und wie das Urteil dieses Bedienten die Stimmung im +Gewundenen Schwert macht. Noch am gleichen Tage gehen sie miteinander +in den Letten hinauf, sich selber zu vergewissern, ob der tüchtige +Stand der Felder doch nur eine Selbsttäuschung wäre. Sie finden die +Esparsette auf den steinichten Ackern gut angesetzt, und auch die +Krappflanzen lassen sich nicht übel an; aber die boshaften Worte +des Bedienten werden damit nicht ausgewischt,<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> und als Heinrich +Pestalozzi gegen die Baustelle seines stolzen Hauses kommt, faßt ihn +der Unwille so, daß er sich abwendet; gerade das ist von dem Bankherrn +zu kostspielig gefunden worden. Schlimmer aber als alles ist ihm das +Unkraut der Feindschaft, das der Bediente aus den Dörfern ans Licht +getragen hat. Er schreibt zwar noch eine lange Darlegung an den +Geldgeber, aber als Antwort kommt nach drei Tagen die unumwundene +Mitteilung, daß er die Unternehmung als ruiniert ansehe.</p> + +<p>Es ist Anfang Mai, als das geschieht, und für den Sommer trägt Anna +ein Kind unter dem Herzen; die frohe Hoffnung seiner Geburt vermehrt +nun die Sorgen dieser Tage. Es kommen zwar noch der Junker Meis und +der Pfarrer Schinz als Sachverständige zur Prüfung; sie finden, daß +mehr als eigentliches Mißgeschick die allgemeine Unkenntnis der bei +Tschiffeli erlernten Neuerungen den vorwitzigen Herrenbauer bei den +Leuten ins Gespött gebracht hat, und daß der Haß sich eher gegen s +einen Ratgeber Märki als ihn selber richtet. Auch treten sie ihm mit +Wärme bei in ihrem Gutachten; aber der Bankherr will wie alle Geldgeber +das Gold wachsen sehen, Mitte Mai kündigt er die Gemeinschaft, und +bevor Heinrich Pestalozzi seine Dinge ins Gehen bringen kann, sind +ihnen die Beine schon abgeschnitten.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>45.</h3> +</div> + +<p>Das Kind wird im August geboren; es ist ein Knabe, den sie Hans +Jakob nennen. Obwohl der Bankherr noch einmal begütigt worden ist, +weiß Heinrich Pestalozzi,<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> daß sein Mißtrauen nur auf den günstigen +Augenblick wartet, sich ganz zurückzuziehen. Die Sorgen und Kämpfe +um die Rettung seiner Existenz haben ihn so täglich beansprucht, +daß er mit Scham und Schrecken vor den Richterstuhl des Ereignisses +kommt. Seine Mutter ist zur Pflege da; sie legt ihm das kleine Wesen, +das aus dem Schoß der Geliebten ans Licht gebracht worden ist und +erschrocken von dieser Reise mit seinem dünnen Stimmchen schreit, mit +einem wissenden Lächeln in die Hände. Er vermag der Erschütterung +nicht standzuhalten, gibt ihr in einer abergläubischen Furcht das +Kissenbündel zurück und läuft in den sinkenden Sommertag hinaus. Seit +seinem Unglück mit dem Bankherrn ist ihm zumute, als ob alles mißraten +müsse, was seine Hände anfassen, und dies ist eine lebendige Seele.</p> + +<p>Doch irrt er noch im Schatten seiner Bäume, als ihm eine Stimme aus dem +Ungewissen Halt ruft: Ob er das Kind in seine Hände nimmt oder nicht, +es bleibt sein Sohn, mit dem er gegen Gott und die Welt in eine neue +Verantwortung getreten ist. Da gilt es andere Eigenschaften, als in +feigem Aberglauben davon zu laufen. Indem er sich beschämt nach dem +Haus zurück wendet, darin er sein Kind, seine Frau und seine Mutter +in der Heiligkeit einer Menschengeburt verlassen hat, und in einem +einzigen Aufblick die ewige Verantwortung seiner Vaterschaft fühlt, +erkennt er auch, wie kläglich seine Sorgen und Kämpfe in den Monaten +zuvor am Vergänglichen gehangen haben: Ein stolz gebautes Wohnhaus und +blühende Kleefelder, Darlehen und<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> Kaufbriefe sind keine Dinge, die vor +Gott wichtig stehen; er ist ein Narr der Täglichkeiten geworden wie +tausend andere und hat keine Zeit mehr für seine Seele gehabt, die sich +darum furchtsam verkriechen wollte, wo etwas anderes als Geschäfte an +sie kam.</p> + +<p>Die Frauen fürchten sich fast, als er wieder zu ihnen in die Kammer +tritt, so sehr ist sein Gesicht von Tränen überströmt; auch verstehen +sie seine Gebärde nicht, wie er das Kind aus der Wiege nimmt. Er macht +es nicht recht, und seine Mutter springt ihm bei, daß er kein Unheil +anrichte mit den kleinen Gliedern; dann aber muß sie lächeln, wie er +in seiner Ungeschicklichkeit dasteht, die beiden Arme vorgestreckt, +das Kissen zu halten, darauf das Neugeborene mit seinem struppigen +Kopf liegt. Er läßt sich ehrfürchtig nieder mit einem Knie, wie wenn +er es darbringen wollte, steht auch nicht auf, als ihm die Mutter das +Bündel vorsichtig wieder abnimmt und in die Wiege legt. Darin hast du +auch gelegen, sagt sie scherzend, um ihn nicht zu erzürnen, und bringt +die Wiege leise tuschelnd in Gang, weil das Knäbchen schon wieder +weinen will. Heinrich Pestalozzi, den die Scham fast tötet, als Kind, +Mann und Vater im Geheimnis der Zeugung entblößt zwischen den Frauen +dazustehen, hört es nicht; erst als Anna ihn ängstlich bei Namen ruft, +hebt er die Augen wieder in die Welt und sinkt weinend zu ihr hin, wie +wenn er ihr ein Unrecht angetan hätte, daß er sie aus ihrer einsamen +Jungfrauenschaft zu einer Mannesfrau und Mutter machte. Sie aber, die +nur das Glück der Erlösung darin empfindet, streichelt ihm vielmals +die<span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span> schwarzen Haare, als ob er ihr Neugeborener wäre: Heiri, sagt sie, +und ihre Stimme geht auf dem süßesten Grat der Liebe, nun muß unser +Haus bald fertig sein!</p> + + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>46.</h3> +</div> + + +<p>Die Größe und Kostspieligkeit des Wohnhauses ist von den Ratgebern +des Bankherrn am meisten getadelt worden; aber Heinrich Pestalozzi +hat nicht an ein notdürftiges Dasein gedacht, als er mit seinen +landwirtschaftlichen Zukunftsplänen aufs Birrfeld kam. Nun er auf +weitere Gelder nicht mehr rechnen kann, nimmt er dem Haus das obere +Stockwerk fort und läßt das flache Zeltdach gleich auf die Steinmauern +des Erdgeschosses stellen; es wird zwar etwas anderes als eine +italienische Villa daraus, aber es kann noch vor dem Winter gedeckt Und +zum Frühjahr eingerichtet werden.</p> + +<p>Das unsichere Verhältnis mit dem Gewundenen Schwert schleppt sich +indessen unter Mißtrauen und Vertröstungen über den Herbst hin, bis +seine Freunde in Zürich ein Abkommen zustande bringen, wobei der +Bankherr ein Ende mit Verlust dem Verlust ohne Ende vorzieht und +angesichts der Schädigung, die sein Teilhaber durch diesen Rücktritt +erleidet, unter Zurücklassung von fünftausend Gulden auf das Geschäft +verzichtet. Das ist für Heinrich Pestalozzi, der seinen Dingen noch +immer ihren Wert beimißt, zunächst kein übler Schluß der mißlichen +Angelegenheit; aber aus den berittenen Plänen seiner Musterwirtschaft +werden simple Fußgänger, er kann nicht mehr über Jahre zielen und muß +aus der Hand in den Mund leben wie die andern auch.<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> Für die Krappzucht +hat sich der Boden als zu rauh gezeigt, dagegen steht die Esparsette +ausnehmend gut und könnte Futter für manches Stück Vieh liefern; seine +Freunde raten zur Sennerei, und er müßte weniger Federkraft haben, um +nicht gleich mit beiden Füßen in das neue Arbeitsfeld hineinzuspringen. +Noch über den Winter werden neben der Scheune die Stallungen angebaut, +und als er zum Frühjahr auf Neuhof einzieht, brüllen schon die ersten +Kühe darin.</p> + +<p>Es ist ein verdrießliches Regenwetter, als sie den Umzug machen, +und einmal bleibt der Wagen mit dem Hausrat so in dem aufgeweichten +Landwege stecken, daß sie ihn mitten im Birrfeld bei schneeigem +Schlagregen abladen müssen, wobei ein jedes Stück seine Himmelswäsche +mitbekommt. Dafür ist es auch zum letztenmal, daß wir umziehen, sagt +er zu Anna, die unterdessen mit dem Kind im Pfarrhaus Obdach gehabt +hat, als er sie nachher abholt und ihr das Mißgeschick schildert. Sie +lächelt wehmütig dazu, als ob sie dieser Sicherheit nicht traue. Doch +geht sie tapfer mit, das Kind in Tüchern eingewickelt auf dem Arm, +den Einzug auf Neuhof zu halten. Er schreitet sorglich nebenher und +hält ihren Regenschirm, den sie in den Mädchentagen von einer Reise +mitgebracht hat, über sie und das Kind. Er ist für die Bauern in Birr, +die nur ihre Regentücher kennen, ein so absonderliches Gerät wie die +ganze Landwirtschaft dieses Züricher Stadtherrn: so stehen sie in den +Türen, wie die drei daherkommen; einige Buben laufen ihnen durch die +Nässe nach, und weil ein Witzbold unter den Alten das Wort aufgebracht<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> +haben mag, rufen sie es zum Schimpf hinter ihm her. Heinrich Pestalozzi +hört nicht darauf, weil ihn der Gang sehr bewegt; doch als sie schon +das Dach vom Neuhof im Regen glänzen sehen, hält ihn Anna am Arm zurück +und hat ein seliges Lächeln in den Augen: Achtest du denn gar nicht, +was sie sagen? Sie rufen: die heilige Familie mit dem Regenschirm!</p> + +<p>Er versteht ihre lächelnden Augen lange nicht und erschrickt, als +er den Sinn erkennt, wie über eine Lästerung, sodaß auch ihr das +Lächeln in den Augen untersinkt. Als sie das letzte Stück dann +schweigend gegangen sind und vor das Haus treten, das er für sie und +sich, auch für den Knaben auf ihrem Arm aus kühnen Hoffnungen in +Sorgen hineingebaut hat, vermag sie nicht freudig über die Schwelle +hineinzugehen und beugt sich mit dem Kind weinend an seine Brust, als +ob dort eine bessere Heimat sei als in der Ungewißheit dieser Steine. +Nun aber hat sich ihr Lächeln in ihm zur Glut entzündet; gleich einem +Wanderstab hält er den zusammengeklappten Regenschirm in der Hand und +ist noch einmal Jüngling seiner rauschhaften Stunden: Die Knaben haben +recht; es mag wohl sein, daß wir dies bald verlassen müssen wie Joseph +und Maria auf der Flucht. Drum laß uns, Liebe, nur zur Rast eintreten, +weil es doch regnet. Vielleicht, daß morgen schon wieder die Sonne auf +unsere Wanderung scheint!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>47.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi beginnt seine eigene Wirtschaft auf dem Neuhof +mit ungefähr hundert Jucharten; doch<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> liegen die einzeln gekauften +Acker nicht beieinander; er muß vielfach über fremde Felder fahren, +wenn er zu den eigenen will, und wiederum andere Bauern fahren ihm +über die seinen. Das macht Verdrießlichkeiten, weil er sich nicht an +ihre Dreifelderwirtschaft binden und die vorgeschriebenen Zeiten der +Zelgenwege einhalten kann. So muß er darauf sehen, sein zerstreutes +Gut durch Tausch und Kauf einheitlich abzurunden, Und ist bald in +hundert Händeln. Der Metzger Märki spielt darin immer noch die +Hauptfigur, er hat die nötigsten Stücke an sich gebracht, wie er sagt, +um der Preistreiberei der Bauern zuvorzukommen; aber darum sind seine +Forderungen nicht weniger gesalzen, und als es ihm gelingt, das gute +Land in den Hummeläckern gegen ein steinichtes Feld in den Letten zu +tauschen, das Heinrich Pestalozzi für sein Wegrecht nötig braucht, ohne +Nachzahlung, obwohl es nur halb so groß ist: wird dieser Handel zum +Wirtshausgespött im ganzen Birrfeld, um so mehr, als der Märki selber +mit dem Gelächter hausieren geht.</p> + +<p>Nachher wird dem schlauen Händler freilich die Haustür im Neuhof +zugemacht; aber weil er wirtet und das halbe Dorf in der Fron hält mit +Trinkschulden — wie den Tanner, der den Nußbaum fällte — hat Heinrich +Pestalozzi einen gefährlichen Feind an ihm. Gleich nach seinem Einzug +auf Neuhof ist er schon mit der Dorfgemeinde Birr in Streit gekommen um +einen Pfad nach Brunegg, den sie ihm mitten über seine Äcker laufen. Es +führt zwar auch ein Fahrweg gegen den Wald hinauf, aber in den Zeiten, +da die Felder meist unbebaut<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> gelegen haben, ist der schnurgerade +Pfad eine Gewohnheit geworden, deren Beseitigung sie dem Herrenbauer +verübeln. Er versucht es mit Dornruten und Verhauen: aber was für +Hindernisse er auch am Tag baut, in dunkler Nacht werden sie hartnäckig +wieder zerstört, bis er den Weg durch den Pfarrer ins Verbot legen +läßt. Damit bringt er endlich sein Recht zur Geltung, aber die Gemeinde +ist ihm seitdem übel gesinnt, und als er auch den Weidegang auf seinen +Feldern öffentlich und rechtlich untersagen läßt, beruft sich die +Bauernsame von Birr auf ihr besonderes Weidrecht und fordert auch die +von Lupfig auf, dem neumodischen Herrenbauer auf Neuhof den Prozeß +anzusagen. Obwohl die Lupfiger sich dessen weigern, gibt es einen +langen Rechtshandel, der ihn die bäuerliche Verbissenheit in täglichen +Molesten spüren läßt.</p> + +<p>Endlich wird zwar durch obrigkeitliche Entscheidung das Weidgangsrecht +auf seinen Feldern gegen einen jährlichen Bodenzins von einem Neutaler +aufgehoben: aber gerade das setzt in den Köpfen der armen Tanner, +die keine eigenen Matten haben und auf den Weidgang angewiesen sind, +das Gefühl eines Unrechts fest, das ihnen von dem neuerungssüchtigen +Herrenbauer angetan wird. Was durch seine anfängliche +Handelsgemeinschaft mit dem Märki begonnen wurde, das wird nun durch +dessen hinterhältige Feindschaft vollendet: die Armen, denen zu helfen +die heimliche Hoffnung seiner Bauernschaft gewesen ist, hassen ihn +als einen neuen Ausbeuter ihrer Not. Und da der Neuhof kein einsames +Bauernhaus ist, sondern oft städtischen Besuch erhält,<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> da namentlich +Anna einen freundschaftlichen Verkehr mit den Frauen der umwohnenden +Herrenleute unterhält, ist Heinrich Pestalozzi selber in die Rolle +eines der Stadtherren gekommen, wie er sie in seiner hitzigen Jugend +zu Höngg verabscheute; denn was für Sorgen und Nöte er unterdessen mit +seiner Besitzung hat, das sehen die Armen bei ihm so wenig, wie er es +damals sah.</p> + +<p>Eines Nachmittags muß er eine Bekannte seiner Frau zum Pfarrer nach +Birr zurück begleiten, wo sie auf Besuch ist. Sie kommt aus Zürich +und ist mit dem Aufwand der städtischen Mode derart geputzt, daß die +Kinder aus den Häusern kommen und einige ihr nachlaufen. Gleich hat sie +einige Batzen zur Hand, die sie zum Spaß hinwirft: nicht anders, als +ob Hühner nach hingestreutem Futter sprängen, sind sie augenblicklich +in einer Balgerei, die gleich einem Ball von Staub und Geschrei über +den Weg rollt. Andere laufen neugierig herzu, und da die Zürcherin +sich den Spaß noch ein paar Batzen kosten läßt, vergrößert sich der +balgende Knäuel, indessen die herzlose Person vor Lachen wie toll +auf ihren zierlichen Stiefelchen herum springt. Bisher hat Heinrich +Pestalozzi alles für unbedachten Übermut gehalten, aber als sie ihm +mit schadenfrohen Augen entgegen tritt — da haben Sie Ihr Volk, Herr +Pestalozzi — und lachend gegen das Pfarrhaus davonläuft, erkennt +er, daß der unwürdige Auftritt sein Gespräch mit ihr beantworten und +verhöhnen soll.</p> + +<p>Der Zorn über ihre Herzlosigkeit macht ihn wild:<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> Dann gehöre ich +auch dazu! schreit er ihr nach und fährt mitten in die Balgerei. Das +erste, was er ergreift, ist der Schopf eines stakigen Mädchens, das +gerade über einen Vierjährigen herfällt, ihm seinen Batzen aus der Hand +zu reißen. Ehe er noch selber weiß warum, hat er sie und ein halbes +Dutzend der andren verwalkt und ihnen, soviel sie kratzen und beißen, +die Batzen abgenommen. Einigen gelingt es, mit ihrer Beute davon zu +laufen; die nichts haben, bleiben stehen, und als er das eroberte +Geld überzählt, braucht er nur drei Batzen aus seiner Tasche hinzu zu +legen und er hat für jeden einen: Hier ging Gewalt vor Recht, sagte +er, nun aber steht Recht vor Gewalt! zählt jedem seinen Batzen aus, +vom Kleinsten angefangen, und heißt sie heimlaufen. Die nichts gerafft +hatten, denen ist es recht, die andern aber — die ihr erobertes +Eigentum aus seinen Händen verteilt sehen — rufen mit mörderlichem +Geschrei die Ihrigen zur Hilfe, sodaß Heinrich Pestalozzi froh ist, +als er den letzten Batzen verteilt hat und sich heim wenden kann. +Doch hängt sich das schreiende Gefolge an ihn, und einige Mütter, +von ihren Kindern aufgeklärt, fordern drohend den Raub zurück. Unter +Schimpfreden und Steinwürfen kommt er gegen den Neuhof, wo ihn Anna mit +dem Knaben an der Hand erschrocken empfängt; denn nun erst nimmt er +wahr, daß er im Gesicht und an den Händen von Kratzwunden blutet und +mit seinen Kleidern durch den Staub gewälzt ist. In der folgenden Nacht +geschieht es zum ersten Mal, daß ihm einige von seinen blitzblanken +Fensterscheiben eingeworfen werden.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span></p> + +<h3>48.</h3> +</div> + +<p>Das Ergebnis dieser mißglückten Ausgleichung erschüttert Heinrich +Pestalozzi ebenso tief wie der höhnische Anlaß, und tagelang vermag +er nicht mehr an seine Dinge zu gehen, so mutlos wird er. Es ist nun +schon das sechste Jahr, daß er sich müht mit der Landwirtschaft, und es +ist nichts dabei heraus gekommen, als daß er sich und andere in Sorgen +und Verluste gebracht hat; er sieht kein Ende, danach es anders werden +könnte. Indessen gibt es solche Stadtfräuleins und solche Bettelbuben, +als ob sie in der Welt sein müßten wie alles Gute auch, und aus allen +seinen Plänen geschieht nichts, was etwas daran ändern könnte; denn +selbst, wenn er zum Wohlstand seiner Träume käme: die Unfeinheit +der einen und die häßliche Habgier der andern wäre damit doch nicht +geändert. Wieder einmal erkennt er die Quellen allen Übels in der +Natur des Einzelnen; und furchtsam sieht er auf seinen Knaben, der nun +ins vierte Jahr geht und die ersten Anzeichen seiner Persönlichkeit +nicht mehr verbirgt. Es ist sein Sohn, und schon meint er die eigenen +Fehler an ihm zu sehen, seine Zerstreutheit, Unordnung und den unsteten +Eigensinn. Namentlich die listigen Versuche des kindlichen Eigensinns +besorgen ihn; es ist nicht anders, als ob der kleine Geist unausgesetzt +eine Machtprobe gegen die Erwachsenen mache.</p> + +<p>Unvermutet kommt Heinrich Pestalozzi in Eifer, an seinem Jaköbli +den Schlichen und Trotzproben dieser kindlichen Willenskraft mit +Experimenten nachzugehen, immer bemüht, die störenden Blätter beiseite +zu biegen,<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> damit der Kern aus sich selber wachsen könne. Er sieht +erstaunt und betroffen zugleich, wieviel Schleichwege der kindliche +Geist schon kennt, der Erziehung auszuweichen, und wievieler Strenge +es bedarf, ihn dieser Schleichwege zu entwöhnen. Die Erinnerung an +die eigene Jugendzeit macht seine Besorgnisse nicht geringer; denn +nun meint er zu sehen, warum er selber solch ein im Wind der Gefühle +schwankendes und von dem Rankenwerk wirrer Einfälle behangenes +Gewächs geworden ist. Anna versucht ihm zu wehren, wo er dem Kleinen +zu arg zusetzt; aber als der Winter gekommen ist, scheint es seinem +entzündeten Eifer schon, als gäbe es nichts Dringlicheres für ihn und +andere in der Welt, als diese Dinge in unausgesetzten Versuchen klar zu +stellen; denn alles, was mit einem Menschen später auch geschähe: seine +Kindheit bliebe die Wurzel seines Schicksals; wie die ins Erdreich +finde, so wüchse es.</p> + +<p>Als das Schwierigste erkennt er bald, die Wartung der kleinen Seele +so zu halten, daß sie den Mut und die Freude nicht verliert; und es +ist sein Knecht, der ihn auf diese Weisheit bringt. Denn als der das +Jaköbli einmal in seiner Gegenwart einige Weisheiten sagen läßt, die +er draußen am Bach mit ihm gelernt hat, und mit Vaterstolz fragt: ob +der Knabe nicht ein gutes Gedächtnis habe? schüttelt der Knecht, der +mit der kindlichen Munterkeit auf einem andern Fuß steht, traurig +den Kopf: Das wohl, jedoch Ihr übertreibt es mit ihm! Und als er ihm +betroffen sagt, das könne nicht wohl sein, weil das Jaköbli sonst +sicher die Freude verlöre und furchtsam würde; dann hieße es natürlich, +vorsichtig<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> seinem Geist nachzugehen — da richtet sich der Klaus von +seinem Holzscheit auf, daraus er einen Schwengel schnitzen will, und +die Freude steigt ihm ins ehrliche Gesicht: Ihr achtet also des Mutes +und der Freude! Eben das hatte ich gefürchtet, daß Ihrs vergessen +würdet!</p> + +<p>O, Klaus, sagt Heinrich Pestalozzi da zu seinem Knecht, und der +Schrecken mischt sich mit dem Glück über das Wort: alles Lernen wäre +nicht einen Heller wert, wenn Mut und Freude dabei verloren gingen!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>49.</h3> +</div> + +<p>Es ist zum erstenmal, daß Heinrich Pestalozzi sich selber als +Entdecker fühlt; was er bis dahin auch getrieben hat, von seiner +Jünglingsschriftstellerei bis zur Landwirtschaft, immer hat ein anderer +das Tor aufgeschlossen: hier aber hält er den Schlüssel selbst in der +Hand, und so scheint ihm auch die nebensächlichste Erfahrung seiner +Erziehungsversuche wichtig genug, sie in einem besonderen Tagebuch +wortwörtlich aufzuzeichnen.</p> + +<p>Mit diesen Aufzeichnungen tritt er aber auch den Gedanken seiner +Jugend wieder näher, und als im Frühjahr die Helvetische Gesellschaft +ihre vierzehnte Tagung in Schinznach abhält, pilgert er hinüber, zum +erstenmal im Kreis dieser Männer zu sein, die aus dem herrschsüchtigen +Kantonsgeist wieder einer Eidgenossenschaft im Sinn der Väter +zustreben. Da sieht er den greisen Ratschreiber Iselin aus Basel, +dessen Gestalt als ein neuer Stauffacher in der jungen Schweiz ein +sagenhaftes Vorbild ist, und all die andern Träger würdiger Namen. +Er meint fast, noch einmal in der Gerwe zu<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> sein, so werden die +spartanischen Vorbilder seiner Jünglingszeit in einem Vortrag wach, den +der Landvogt Tscharner von Wildenstein hält; aber während der Mann die +Abhärtung des Körpers und der Seele als Losung gegen den weichlichen +Luxus der Zeit ausgibt, fängt es in ihm selber anders an zu brennen: er +denkt an die Scharen der Bettelkinder, und daß keinem Tanner auf dem +Birrfeld mit einer solchen Losung gedient sei, die für die Herrenkinder +und Stadtbürgersöhne allein gedacht ist. Er sieht die gepflegten +Gesichter der Zuhörer, die aus der Sicherheit ihres Standes tapfer und +begeistert sind, gegen den Luxus zu kämpfen, und kommt sich plötzlich +als ein Fremdling der Armut unter ihnen vor: Es ist eine ältere +Generation! will er sich trösten; aber als er am andern Nachmittag +allein auf der Höhe bei Brunegg steht, wo der Blick zurück auf das +saubere Bad Schinznach trifft, aber vor ihm in die armselige Breite +des Birrfeldes geht, fühlt er die Scheidung der Menschlichkeit in arm +und reich wie zwei feindliche Heerlager, dazwischen er selber als +heimatloser Überläufer im Zwiespalt geblieben ist. Sein Jaköbli bekommt +zwar danach manches von den spartanischen Vorschlägen des Landvogts zu +spüren, aber ihn selber treibt sein Gefühl in andere Notwendigkeiten.</p> + +<p>Unterdessen machen ein böses Frühjahr und ein trockener Sommer auch +die Hoffnungen seiner Sennerei zunichte. Die ersten Viehkäufe hat ihm +der Märki noch besorgt, und es sind nicht einmal die schlechtesten +gewesen; als er sich selber in die Untiefen der Märkte wagt, stellt +er oft genug den Dummen dar, den die Händler suchen.<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> Auch hat die +kostspielige Einrichtung Schulden auf ihn gelegt, deren Zins ihn schon +in guten Zeiten drückte; nun selbst die Bauern mit fetteren Ländereien +in Futternot geraten, sitzt er auf seinem steinichten Neuhof bald in +der Dürre da. Ein Stück Vieh nach dem andern geht ihm fort, bis der +Rest den Aufwand seiner Sennerei nicht mehr ertragen kann. Da er mit +den Zinsen in Rückstand bleibt, werden die Gläubiger besorgt; als erst +einer sein Kapital gekündigt hat, folgen die andern dem Beispiel, und +so steht eines Tages Heinrich Pestalozzi zum zweitenmal vor der Not, +daß ihm seine Besitzung versteigert wird.</p> + +<p>Es liegen fünfzehntausend Gulden Schulden darauf, und diesmal ist kein +Bankherr als Teilhaber da, der sich mit einem Verlust herauszieht. So +bitter und demütigend es für Heinrich Pestalozzi ist, nun können nur +noch die Erbhoffnungen seiner Frau den Neuhof retten. Sie einigt sich +mit ihren Brüdern — und hat nicht einmal Tränen gegen ihren Spott — +daß sie die dringendsten Schulden für einen entsprechenden Verzicht +auf ihre Erbschaft übernehmen. Nur glauben die nicht mehr an seine +Landwirtschaft und richten ihm einen Baumwollenhandel ein, wo sie nach +Zürcher Art den Rohstoff liefern, den er im Birrfeld zum Spinnen und +Weben in die Häuser geben muß, sodaß er nichts als den karg bezahlten +Aufseher ihrer Geschäfte vorstellt. Als endlich stürzende Herbstfluten +den dürren Sommer auslöschen, ist von dem Traum seines Lebenskreises, +der Wohlstand und Segen in der ärmlichen Landschaft verbreiten soll, +nichts geblieben, als daß er im Dienst städtischer Fabrikherren<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> +die Not des Bauernvolks ausnützen hilft; und es bedürfte nicht der +Erinnerung an den Ernst Luginbühl im Webstuhl und an den Großvater mit +seiner Verachtung dieser ins bäuerliche Leben einfressenden Industrie, +um ihm sein zertretenes Dasein zur Qual zu machen.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>50.</h3> +</div> + +<p>Es sind nicht immer die eigenen Kinder der Bauern und Tanner, +die Heinrich Pestalozzi in den Baumwollstühlen das Elend ihrer +verwahrlosten Jugend weben sieht, sehr häufig sind es Waisen, von der +Gemeinde ausgedungen, die ihren Pflegern das harte Brot verdienen +müssen. So schneidend traurig es für ihn ist, daß er Anna und ihren +Knaben mit in den Zusammenbruch seiner Traumgebäude gerissen hat, +schlimmer greift es ihn an, Helfershelfer dieser Ausnützung zu sein. +Sein Herz zittert, wenn er in die Häuser muß, und das früh verblaßte +Gesicht Ernst Luginbühls kommt wieder in seine Träume. Immer deutlicher +fühlt er die Hand des Schicksals, die ihm alles zerbricht, was er +selbstgefällig in seine Hand nimmt; und tagelang kann er verscheucht +im Neuhof sitzen, über seine Schuld an diesem Schicksal zu grübeln. +Zuletzt empfindet es sein verscheuchter Geist fast als Milderung, daß +die Teuerung ihm noch schlimmeres Elend vor den Neuhof treibt.</p> + +<p>Denn die an den Webstühlen sitzen, haben immer noch Bett und +Brot, während ihrer viele von der Hungersnot in den Straßenbettel +getrieben werden, daß sie wie herrenlose Hunde die Häuser der Reichen +umlagern und<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> auf den Abfall der Haushaltung warten. Auch vor den +Neuhof kommen sie scharenweis, und Heinrich Pestalozzi, der ihre Hudeln +und die von der Krätze entstellten Hände, ihre Frechheit und die +Verkommenheit der jungen Gesichter sieht, kann Tränen der Bitterkeit +weinen, wenn er bei diesem Anblick an den Vortrag des Landvogts +Scharner denkt; solange es Luxus und dieses grausame Elend gleichzeitig +gibt, sind alle patriotischen Träume leichtsinnige Spielereien. Es +treibt ihn, sich ganz zu den Enterbten zu schlagen, und oftmals nimmt +er ihrer einige ins Haus, mehr als das Brot mit ihnen zu teilen; er +sieht, wie unmenschlich sie schon geworden sind, gierig und in aller +Heimtücke der Verstellung geschickt: aber er wendet unermüdlich die +Erzieherklugheiten an, die er an seinem Jaköbli erfahren und geübt +hat und immer sicherer wird es ihm, daß er damit an ein Zaubermittel +rührt, ihrer Verkommenheit statt von außen von innen zu begegnen. +Was sonst in Stadt und Land sich als Wohltätigkeit breitmacht, setzt +eine Weltordnung voraus, dazu die hilflose Verkommenheit der Armut +so unabänderlich gehört wie der Überfluß des Reichtums, während — +das wird ihm sicherer mit jedem Tag — in jedem dieser Bettelkinder +der natürliche Keim zu einem rechtschaffenen Menschen steckt, nur +daß keiner daran denkt, den zu bilden und also der Armut von innen +beizukommen.</p> + +<p>Was in andern Zeiten für Heinrich Pestalozzi nur eine hitzige Erfahrung +gewesen wäre, das ergreift seine gedemütigte Natur nun zur Rettung, und +eines Tages löst die Verzweiflung dieser Zeit die tiefe Erkenntnis<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> +seines Schicksals aus: Ich mußte arm werden aus meinem Hochmut der +Wohlhabenheit; denn wie soll einer dem Armen helfen können, der mit +den Sorgen seines Besitztums belastet ist? Wohlstand und Reichtum +sind Zwangsherren; was für Umstände und Vorsichten braucht es, sie zu +erhalten? Der Reiche kann nicht der Bruder des Armen sein; denn Geben +und Nehmen scheidet ihre Seelen. Darum steht im Evangelium geschrieben: +verkaufe, was du hast, und gibs den Armen!</p> + +<p>Seine Frau erschrickt, wie sie die Botschaft hört; sie fühlt sofort, +daß dies eine neue Prüfung wird; doch kennt sie ihre Sendung, das +Senkblei seiner Stürme zu sein, und obwohl sie um ihren Knaben zittert +— der durch all die neuen Worte des Vaters nicht gestört worden +ist, aus seinen Brettchen ein Haus zu bauen, und der sie ungestüm an +der Hand herbei holt — nickt sie dem Mann erst zu, bevor sie das +Wunderwerk des Knaben bestaunt. Es ist einer wie der andere, denkt sie +und sieht die Spalten zwischen den Brettern, die trotzdem ein Dach +bedeuten sollen: aber es sind Männer und sie wollen bauen, während wir +Frauen wohnen möchten.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat nichts von ihrer Bewegung gemerkt, er ist +hinausgegangen in den Abend, wo der verspätete Herbstregen schon wieder +in Strömen fließt, und läuft dem Sturz seiner Gedanken nach bis in die +Dunkelheit. Und während die Täglichkeit danach auf dem Birrfeld ihre +Herbstarbeiten macht und mancher Blick mit Mitleid das niedrige Dach +des Neuhofs streift, wo die Sorgen — wie jeder weiß — dem vorwitzigen +Herrenbauer aus Zürich ans Fundament seines<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> Daseins gegangen sind, +sitzt Heinrich Pestalozzi glücklich bei seinem Knaben und baut Häuser, +Brettchen auf Brettchen, ob sie zusammenstürzen, unermüdlich aufs +Neue, bis der Plan seiner Armenkinderanstalt fertig ist: Ich habe ein +zu großes Haus, sie haben keins; mir fehlen die Hände, die Felder zu +bestellen, und ihnen mangelt die Arbeit! Was gilts, wenn wir Armen +uns zusammentun, sind wir reich! Sie sollen mir spinnen für ihren +Unterhalt, und ich will sie lehren. Ich will sie säubern von ihrem +Schmutz und will selber rein werden von den Geschäften, für die ich +nicht geschaffen bin. Ich habe mein Haus Neuhof genannt, als ob es eine +Neuigkeit wäre, noch ein Haus wie tausend andere dahin zu stellen; nun +aber soll es ein Neuhof sein, wie keiner vordem war: ein Neuhof, wo die +Armut sich selber durch Arbeit und Lehre zur Menschlichkeit verhilft, +die sonst in Faulheit und Laster betteln geht. Jetzt weiß ich, warum +ich auf dieses steinichte Birrfeld mußte; und wenn weiter Sorgen und +Not kommen, will ich sie gern tragen, weil es die Sorgennot der armen +Menschheit, nicht mehr die meine ist!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>51.</h3> +</div> + +<p>Das Jahr ist noch nicht zu Ende, als Heinrich Pestalozzi schon die +ersten Bettelkinder im Hause hat. Er kalkuliert, daß der Abtrag ihrer +Arbeit die Kosten einer einfachen Erziehung bestreiten müsse, und gibt +sich zuversichtlich daran, die Sennerei in einen Raum zum Spinnen +umzuwandeln, den er seine Fabrik nennt. Die Schwäger in Zürich, die mit +seinen Baumwollgeschäften<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> schon unzufrieden waren, lamentieren über +den neuen Plan und beschwören Anna, daß sie ihn davon abhalten möge. +Ihnen, die seine Lage kennen, darf er sein Herz nicht öffnen, er muß +ihnen vorrechnen, daß es für ihn selber eine Rettung aus seinen Nöten +sei; es fällt ihrer Geschäftsgewandtheit nicht schwer, ihm die Irrtümer +seiner Kalkulation mit spöttischen Fragezeichen anzumalen; aber weil +Anna mit Standhaftigkeit die Mutterschaft seines Armenkinderhauses +antritt, schlägt er den Widerstand nicht an.</p> + +<p>Für Anna ist es ein Opfer, sie fängt schon an zu kränkeln, auch +stehen ihr als Stadtherrnkind die Hände nicht danach, verwahrlosten +Bettelkindern die Läuse abzulesen. So schlimm es ihr erging in den +Kämpfen dieser Jahre, in den Stuben ist die Ordnung und Reinlichkeit +ihrer Gewohnheit geblieben, Freunde sind auf Besuch gekommen, und +wenn Abends die Messinglampe brannte, senkte sich doch ein Stück +Gottesfrieden in ihren warmen Schein: nun geht das alles hin wie +ein schöner Traum; als ob sie selber mit ihrem Knaben ins Armenhaus +gekommen wäre, dringt der Geruch der Hudeln und das Geschrei der +Verwahrlosung durch ihre behüteten Räume. Aus sich selber hätte sie +dergleichen niemals vermocht, obwohl es ihrem Herzen nicht an Edelmut +fehlt; der gierigen Tatensucht ihres Gatten vermag sie um so weniger zu +widerstreben, als sie das Glück sieht, das nach der mutlosen Dumpfheit +so vieler Jahre über ihn gekommen ist. Sie hat ihn nun wieder, wie er +als Jüngling werbend vor ihr gestanden hat, trotzig bereit, sich die +Adern aufzuschneiden, wenn<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> sein Blut für etwas Edles fließen müßte; +und da es dieser rauschhafte Edelmut ist, um dessentwillen sie ihn +andern Männern von soliderer Daseinsfestigkeit vorgezogen hat, nimmt +sie — zum wenigsten im Anfang — auch dieses Los gern auf sich, das +ums Vielfache schwerer als das ihres Mannes ist: weil ihr Teil allein +die Aufopferung ist, wo er den Genuß seiner Idee und die Befriedigung +seiner Natur hat.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi weiß von Anfang an, daß es mehr gilt als seine +eigene Anstalt, und daß er wohl die Menschenfreunde des Landes anrufen +darf, ihm beizustehen; wenn erst sein Versuch gerät, ist allerorten +ein Beispiel gegeben, auf menschlichere und gründlichere Art mit der +Bettlerplage aufzuräumen als durch Landreiter: das Wort des Großvaters +in Höngg, daß er andere Mittel wüßte als die monatliche Betteljagd der +gestrengen Herren, liegt ihm dabei wie ein Vermächtnis im Sinn. So +scheut er sich nicht, selber die Betteltrommel für sein Werk zu rühren +und mit einem Flugblatt an den Türen der reichen Häuser in Basel, Bern +und Zürich anzuklopfen. Es ist zum erstenmal seit jener jugendlichen +Mitarbeit am Erinnerer, daß er die Feder in die Hand nimmt; er ist +unterdessen ein Jahrzehnt älter geworden und steht mitten in den Nöten +des Lebens, dem sein Jünglingseifer mit römischen und griechischen +Schulideen zu Leibe wollte. So wird es eine andere Rede, als er sie +damals aus Demosthenes übersetzte, ein Quell wirklicher Nothilfe fließt +darin und rührt an die Herzen, daß vielerorten Gutwillige, von der +Neuheit des Planes wie von seiner hinreißenden Darstellung<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> gewonnen, +dem Urheber auch das Vertrauen schenken, ihn auszuführen. Was er sich +in seiner Lernzeit als Lebensberuf gedacht hat, ein Fürsprech des +niederen Volks zu sein, das ist er damit unvermutet doch noch geworden, +und die Besten im Lande lohnen ihm seine erste Rede mit freudigem Opfer.</p> + +<p>Geschwellt von diesem Beifall wächst sich der Plan bald aus. Anna +Pestalozzi mit zwei Mägden leitet die Mädchen in allen Arbeiten der +Küche und des Haushalts an, sie lernen waschen, nähen, flicken, auch +die einfache Gartenarbeit, während die Knaben mit den Knechten auf die +Felder, in die Ställe und in die Scheune gehen: sie sollen für kein +anderes Leben aufgezogen werden als das der ländlichen Arbeit, wie +es ihrer wartet, und bei allem zugreifen lernen, was die gemeinsame +Haushaltung ihnen unter die Hände bringt. Daneben müssen sie spinnen +und weben, und hierfür hat Heinrich Pestalozzi das Glück, in der +Jungfer Madlon Spindler aus Straßburg eine vortreffliche Lehrmeisterin +zu finden, die bald als das Spinner-Anneli im ganzen Birrfeld bekannt +ist. Er selber gibt den Kindern Unterricht; denn wenn sie auch zu +keinem andern Leben als dem der Armut abgerichtet werden sollen, die +Wurzel seines Planes bleibt doch, Menschen aus ihnen zu machen, die +das Bewußtsein ihrer menschlichen Würde nicht mehr verlören und auch +dem schlimmsten Los die Unverlierbarkeit ihrer Seele entgegenzustellen +vermöchten. So lehrt er sie nicht nur das Abc, sondern versucht in +die zufälligen Wahrnehmungen ihrer Sinne die Ordnung einer bewußten +Anschauung zu bringen, indem<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> er sie anleitet, über das Gefühl des +Augenblicks das Urteil ihrer eigenen Erfahrung Meister werden zu +lassen. Was er selber in den Gesprächen mit dem Jaköbli erfahren hat, +wendet er nun an, und ob er oft einsehen muß, daß ihm viel zu einem +Schulmeister fehlt, weil er zu hitzig und zu blind in seinem eigenen +Eifer wird, sodaß er leicht mit einem Gedanken schon ans Ende gelaufen +ist, während sie noch begossen vom Schwall seiner Worte den Anfang +garnicht gefunden haben: so verliert er doch hierin den Mut nicht, +schließlich die rechten Kunstmittel zu finden, um auch im Blödesten +noch den Keim zu wecken.</p> + +<p>Über allem aber steht wie eine himmelhohe Rauchsäule das Glück, als +Dreißigjähriger endlich dem Leben zu dienen, statt sich im Erwerb der +Lebensmittel aufzureiben. Als der Ratsschreiber Iselin eine Zeitschrift +nur für die Fragen der Volkswohlfahrt gründet, die er die Ephemeriden +nennt, glaubt Heinrich Pestalozzi wirklich wieder in den Zeiten der +Gerwe zu leben; nur, was damals Überschwall jugendlicher Ideen gewesen +ist, das lebt nun als Tat und Wirklichkeit, und er steht mitten drin. +Kein Geringerer als der Landvogt Tscharner auf Wildenstein tut ihm die +Ehre an, in siebzehn Briefen über Armenanstalten auf dem Lande seine +Pläne zu erörtern; und wie er ihm darauf mit eigenen Briefen in den +Ephemeriden antworten, seine Ansichten und Bedenken, seine Hoffnungen, +Erfolge und Enttäuschungen vor den Gebildeten seines Landes darlegen +darf, in der Gewißheit, man achtet seiner und horcht auf ihn: da steht +Heinrich Pestalozzi endlich da, wohin<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> sein Traum in zwei Jahrzehnten +gegangen ist. Nicht zu genießen, sondern zu wirken ist der Trieb +seines Lebens; als er mit der Landwirtschaft sein Dasein auf die +eigene Wohlfahrt gründen wollte, hatte ihn das Schicksal gedemütigt, +bis er die Hand darin erkannte; nun liegt die Landwirtschaft und die +Collegienzeit hinter ihm als bittere Lebensschule, die Sehnsucht seiner +Jugend ist keine Täuschung gewesen, der Traum wurde doch Wahrheit; und +so mühsam, so aufreibend in hundert Hindernissen sein Dasein geworden +ist, ein gepeitschtes Wasser, darauf der Kahn seiner Häuslichkeit ohne +Segel und Ruder verlassen schwimmt: die Tage seines Glücks sind da, +weil nichts mehr zwischen seinem Gewissen und seinen Geschäften steht.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>52.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi merkt lange den Zwiespalt nicht, an dem sein Glück +scheitern muß. So überzeugend seine Zahlen auf dem Papier stehen, daß +die Anstalt sich aus sich selber zu halten vermöge: als die Armenkinder +wirklich da sind, kommt es zwingender als früher darauf an, die +vergrößerte Haushaltung wirtschaftlich zu halten; denn die Zuschüsse +der Menschenfreunde, so tapfer sie auf seine Bitte eingehen, decken +nicht einmal die erste Einrichtung. Um das Exempel aus dem Papier in +die Praxis zu bringen, bedarf es anderer Finanzkünste, als sie Heinrich +Pestalozzi geläufig sind; seine Geschäftsführung kommt schließlich +doch wieder auf die alte Torheit hinaus, die kleinen Löcher aus einem +großen Loch zu flicken, und wenn das zu bedenklich wird, mit<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> einem +phantastischen Lappen die Blöße zu decken. An Einfällen hierzu fehlt es +ihm nicht; nach Jahresfrist ist aus seiner Anstalt schon eine wirkliche +Fabrik geworden, indem er die Baumwolle nicht nur spinnen und weben, +sondern die gewebten Stoffe auch färben und bedrucken läßt, und eines +Tages erleben die Zurzacher den Spaß, daß der Armennarr vom Neuhof — +wie er nun schon im ganzen Aargau heißt — selber seinen Stand auf +ihrer Messe aufgeschlagen hat, gefärbte und bedruckte Baumwollentücher +zu verkaufen.</p> + +<p>Irgend ein Spaßvogel bringt die Absprache auf, daß er sich eine +reichliche Bestellung abmessen läßt; wie aber Heinrich Pestalozzi +glücklich seine Elle geschwungen hat und schwitzend hinter dem Berg +seiner entrollten Ware steht, entdeckt der angebliche Käufer soviel +Fehler, daß er ihm scheltend alles hinwirft und unter dem Gelächter der +andern verschwindet. Erst als ihm das zum drittenmal begegnet, merkt +seine Harmlosigkeit, daß es die Rache der Händler für die unerbetene +Konkurrenz ist. Er läßt sich von seinem Zorn hinreißen, mit seiner Elle +dem Mann nachzuspringen, weil aber der halbe Markt mit Hetzgeschrei +hinter ihm herläuft, bleibt er doch der Gefoppte. Als er am dritten Tag +entmutigt abführt, hängt hinten an seinem Wagen — ohne daß er es merkt +— ein freches Schild: Hier wird um Gotteswillen schlechte Ware für +gute verkauft!</p> + +<p>Der Spott trifft ihn tief, weil seine Ware wirklich nicht gut ist +und es auch gar nicht sein kann. Die Kinder, zum Teil mit Zwang in +seine Arbeit gebracht, sind viel zu sehr ans Bettelgeläuf gewöhnt, +um die strenge<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> Arbeitszucht zu ertragen; wenn sie den ersten Hunger +gesättigt haben und in sauberen Kleidern stecken, jammern sie nach +ihrem ungebundenen Elend. Immer wieder geht eins in der Sonntagnacht +mit den guten Kleidern davon, und es wiederzuholen ist schwierig, +weil die Bauern — denen er die billigen Arbeitskräfte der Kinder +fortgenommen hat — ihm feindlicher sind als je und auch die Behörden +der neumodischen Gesinnung im Neuhof argwöhnisch mißtrauen. Selbst die +Gutwilligen bleiben selten länger, als ihre Zwangszeit ist, und darum +hat sein klug ausgerechneter Plan, mit dem Verdienst der Zöglinge die +Anstalt zu erhalten, das böse Loch, daß er nur die fehlerhafte Ware von +Anfängern liefern kann.</p> + +<p>Zu alledem muß Heinrich Pestalozzi immer bitterer bemerken, daß +er selbst für die Schulmeisterei weder geeignet noch geübt ist; +unausgesetzt beschäftigt, die richtige Lehrart zu finden — sodaß +eigentlich nur er allein bei seinem Unterricht etwas lernt — ist er +ganz unfähig, drei Dutzend solcher Kinder in Disziplin zu halten. Im +Augenblick überfließende Liebe und im nächsten maßloser Zorn, steht er +machtlos inmitten ihrer Tücke, die sich vor seinen Schlägen fürchtet +und bei seiner Liebe heuchelt; um beides zu verhöhnen, wenn er den +Rücken gewandt hat.</p> + +<p>Niemand fühlt diese Mängel tiefer als seine Frau, die nun den Schmerz +erlebt, den Geliebten auch in den Dingen seiner Neigung unfähig wie +im praktischen Erwerb zu sehen; bald hat sie statt seiner die Leitung +der Anstalt in der Hand, während er unruhig von einem<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> zum andern +läuft, mehr verwirrend als fördernd. Durch einige Jahre erhält sie +mit unmenschlichem Kampf den äußeren Bestand der Dinge, dann wird +sie krank, und kaum hat sie einige Wochen gelegen, als auch schon +die Unbotmäßigkeit zur Überschwemmung anschwillt, darauf Heinrich +Pestalozzi mit seinem unsteten Willen wie ein Kork schwimmt. Ein +paarmal rafft sich die Tapfere noch auf, die Sache zu retten; aber mit +ihren vierzig Jahren ist sie für die stündlichen Aufregungen nicht mehr +stark genug. Auf einem verzweifelten Besuch bei ihrer Freundin, der +Frau von Hallwyl, kommt sie ernsthaft zu liegen und kehrt nicht mehr +auf ihren Posten zurück.</p> + +<p>Die Anstalt ist unterdessen mit den Bedienten auf fünfzig Mäuler +angewachsen, deren Ernährer Heinrich Pestalozzi sein soll, schon drohen +die Gläubiger mit der Vergantung, während er immer nach neuen Plänen +rudert, die alten zu retten: Seit zwei Jahren ist das Bärbel mit dem +Kaufmann Groß in Leipzig verheiratet, wo sie schon an Kindesstelle +bei der verwitweten Tante Weber gewohnt hat. Ihr Mann führt die +Geschäfte des Hauses Weber, sodaß die Schwester als die eigentliche +Erbin im Wohlstand lebt; Heinrich Pestalozzi hat sich in seiner Not +an sie um ein Darlehen gewandt, und wirklich erscheint eines Tages +im November sein Bruder Johann Baptista, der nach wechselnden Jahren +einer verunglückten Kaufmannschaft wieder in Zürich lebt, als ihr +Mittelsmann, den letzten Versuch einer Rettung zu machen. Es kommt ein +Vertrag zustande, worin die Scheune mit zwanzig Jucharten um den Preis +von<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> fünftausend und etlichen Gulden verkauft wird, um damit Deckung +für die dringendsten Schulden zu gewinnen.</p> + +<p>Eifrig wandert Heinrich Pestalozzi eines Morgens nach Hallwyl hinaus, +seiner kranken Frau die glückliche Wendung anzusagen, und schon malt +er sich den Traum einer Kolonie aus, wo Anna mit dem Knaben wieder auf +dem Neuhof ihr ruhiges Heim haben soll, während die Zöglinge rundum +mit einzelnen Hausvätern in besonderen Gebäuden wohnen; aber als er +heimkommt, ist Johann Baptista mit dem Geld unterwegs, sich in Amerika +eine Farm zu kaufen, wie er ihm in einem Abschiedsbrief hinterläßt. +So steht er mitten in seinem Unglück auch noch vor dem Zwang, für die +Mutter und vor der Welt seinen ehrlichen Namen zu retten. Er muß zum +andernmal nach Hallwyl, und nun wächst kein Traum einer Gartenkolonie +mehr in seiner verdüsterten Seele; er geht noch am selben Tag, und +weil es Abend geworden ist, den größten Teil des langen Weges in der +Dunkelheit. Hinter Lenzburg verirrt er sich und findet die Brücke nicht +über die Aa, bis er durch das kalte Wasser hindurch watet. Ein paarmal +ist der Gedanke in ihm, daß die Verirrung dauernd werden möchte, dann +hilft ihm der aufgehende Mond mit seinem ungewissen Licht auf die +Straße zurück, die ihn mit eisnassen Strümpfen nach Schloß Hallwyl +bringt. Da wartet er in der Dunkelheit des Morgens wie ein Bettler am +Tor, bevor er einen Knecht herausgeklopft hat.</p> + +<p>Nun muß Anna Schultheß noch einmal die Taschen ihrer wohlhabenden +Herkunft absuchen; ihr Vater, auch Freunde helfen schließlich, den +Schlund notdürftig zuzustopfen<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> — wie sie den Neuhof nennen — +nur wird ihm unbarmherzig die Bedingung auferlegt, die Anstalt zu +schließen. Und damit es keinen Ausweg gibt, wird ein neuer Verkauf +gemacht, worin Johann Heinrich Schultheß die Fabrik und den größten +Teil des Landes übernimmt, um einen Pächter einzusetzen.</p> + +<p>So kommt nach fünf Jahren der Tag, da Heinrich Pestalozzi seine +Dienstleute entlassen und die Kinder wieder in die Bettelarmut +zurückgeben muß, daraus er sie in seinen Neuhof geholt hat. Er findet +noch die Tapferkeit, ihnen allen mit einer Abschiedsansprache ans +Herz zu gehen, und es sind nun doch viele Hände, die sich nach ihrem +Vater strecken. Dann aber, als auch dieser Vorfrühlingstag im ewigen +Kreislauf der Gezeiten dunkel wird, bleibt er allein in den verlassenen +Stuben zurück. Die Messinglampe ist noch da, die ihm so manchen Abend +seiner einsamen Jungmannszeit in Müligen erleuchtet hat; er steckt +sie nicht an, obwohl unter dem bedeckten Himmel kein Stern aufkommen +will; es tut ihm wohl, daß seine Augen nichts mehr von allem zu sehen +brauchen, das nun sinnlos geworden ist. Die ganze Nacht hindurch sitzt +er wach in seinem Stuhl; erst als der Morgen kommen will, legt ihm der +Schlaf seine Hand auf die Augen, daß er das Gespenst des leeren Hauses +nicht in der Todestraurigkeit der ersten Morgenfrühe sähe.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>53.</h3> +</div> + +<p>Am Nachmittag des andern Tages schließt Heinrich Pestalozzi die Tür +am Neuhof zu, die dritte einsame<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> Wanderung dieser Tage anzutreten. +Bis Brugg weiß er noch nicht, wohin sie führen soll, dann ist es der +Ratsschreiber Iselin in Basel, an den sein inneres Gefühl sich wendet; +er sieht die klargütigen Augen des Mannes und hört seine Stimme, als +ob er schon vor ihm stände: von allen Freunden seiner Jugendheimat +weiß er keinen seiner Not so nah wie diesen ihm wesensfremden Basler, +zu dem er nun über den Jura wandert. Er kommt an dem Tag nur noch bis +Frick und als er da eine Herberge suchen will, merkt er, daß er ohne +Geld wegging. Es scheint ihm fast recht, denn mehr als ein Bettler +kommt er sich kaum vor; müde sitzt er am Wegrain und denkt schon, +sich um Gotteswillen ein Obdach zu erbitten, da treibt ein Ziegenhirt +seine Herde an ihm vorbei, lustig auf einer Holzpfeife blasend, die +er aus jungem Saftholz geschnitten hat. Er selber hätte ihn garnicht +erkannt, aber der Bursche hält gleich mit dem Stecken sein meckerndes +Volk zurück und ruft ihn an, höflich den alten Hut lüftend. Es ist ein +Zögling, der vor einigen Jahren als Waisenkind kurz bei ihm war und nun +in Frick die Ziegen hütet. Treuherzig von ihm eingeladen, geht Heinrich +Pestalozzi mit auf den Hof, wo er bei einem rechtschaffenen Bauer +— der durch den Burschen Gutes von ihm weiß — ein sauberes Lager +angeboten erhält, bevor er darum zu bitten braucht.</p> + +<p>Der freundliche Zufall gibt ihm eine bessere Stimmung in den andern +Morgen, da er nach dankbarem Abschied seine Wanderung fortsetzt; und +eben läuten die Basler Glocken den Mittag ein, als er gegen Sankt<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> +Albanstor kommt. Da hat sich ein Blinder an den Weg gesetzt, seinen +Hut vorzustrecken, so oft er Schritte hört. Heinrich Pestalozzi vermag +nicht, an ihm vorbeizugehen, und weil er nichts anderes schenken kann, +löst er die silbernen Schnallen von seinen Schuhen und wirft sie in +den Hut. Er fühlt, daß es unnütz ist, aber in seinem Zustand tut es +ihm zornig wohl, das Letzte freiwillig hinzuschenken, wo ihm soviel +gewaltsam genommen ist. Doch vermag er ohne die Schnallen nicht zu +gehen, und so flicht er aus Binsengras ein paar dünne Riemchen, mit +denen er die Schuhe zur Not bindet.</p> + +<p>Mehr als einer in den geläufigen Gassen sieht verwundert nach seinen +Füßen, und auch der Ratsschreiber, als er den unvermuteten Gast selber +an der Tür abnimmt, vermag seine Blicke nicht zu behüten. Da Heinrich +Pestalozzi nicht mit der Unwahrheit vor ihm stehen will, als fehle es +ihm schon derart am nötigsten, erzählt er ihm den Vorfall, worauf ihn +Iselin, der im Alter sein Vater sein könnte, kopfschüttelnd und nassen +Auges über soviel Einfalt in die Arme schließt. Nach diesem Empfang +ist es ihm nicht mehr schwer, die letzten Stationen des Leidensweges +seinem Patron bekannt zu geben, der sich mehr als ein andrer in den +Ephemeriden und sonst für ihn eingesetzt hat. Er ist bis ins einzelne +vorbereitet und hat auch schon eine Antwort zurecht, die mehr als ein +leerer Trost ist: die Anstalt sei ein Experiment gewesen, und wer in +der Wissenschaft gearbeitet habe, wisse wohl, daß es auf die Resultate +ankomme. Freilich bliebe es für ihn ein Schicksalsschlag, daß er das +Vermögen seiner Frau dabei verloren habe;<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> aber er sei jung und besäße +in seinem Neuhof immer noch ein gutes Dach über dem Kopf. Am Ende +wäre alles für ihn nur die Grundlage einer anregenden und fruchtbaren +Schriftstellerei gewesen. Ob an dem Emil etwas schlechter würde, wenn +Rousseau selber etwa mit einem solchen Erziehungsversuch gescheitert +wäre? Man könne freilich mit derartigen Dingen keine goldenen Berge +erwerben, aber eine bescheidene Ernährung solle sich eine so starke +Feder wie die seine schon erzwingen können. Da wäre zum Beispiel das +Preisausschreiben der Basler Aufmunterungsgesellschaft: Wieweit es +schicklich sei, dem Aufwand der Bürger Schranken zu setzen? Ob er es +nicht einmal um die zwanzig Dukaten versuchen wolle?</p> + +<p>Iselin spricht das alles noch vor seinem Stuhl stehend, und reicht +ihm die Nummer der Ephemeriden hin, als ob es nur noch an ihm läge, +die zwanzig Dukaten einzuheimsen; dann geht er hinaus, den Gast zum +Essen einzumelden. Der sitzt mit dem Blatt in den Händen und vermag +keinen Buchstaben zu lesen; die Stimme des Ratsschreibers ist wie ein +Frühlingsregen auf seine verstaubte Stimmung gerieselt; auch hat er +die Worte nicht alle verstanden, nur wohlig den herrlichen Ton der +Gesinnung und den unbeugsamen Willen gespürt. Warum bin ich nicht mit +meinem Werk in der Nähe dieses Mannes gewesen statt in der Daseinsluft +des Metzgers Märki? denkt er immerfort, und die Tränen rinnen ihm auf +den Rock. Er ißt mit ihm, und als der Ratsschreiber — der gerade +Strohwitwer ist — mit einem Scherz das Glas gegen das seine hebt, +vermag er schon wehmütig<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> wieder zu lächeln. Er läßt sich danach drei +Tage lang von ihm betreuen, auch seine Schnallen bekommt er wieder, +weil der Ratsschreiber sie heimlich bei dem blinden Stammgast vor St. +Alban eingelöst hat, und als er in der vierten Frühe die Rückwanderung +antreten will, hat ihm der väterliche Iselin einen Platz bei der Post +bezahlt. So kann er dem Ziegenhirt hinter Frick nur von fern zuwinken, +nicht einmal sicher, ob der auf ihn rät. Ihm ist er auf dieser traurig +begonnenen Wanderfahrt fast so wert gewesen wie der Ratsschreiber, und +noch während die Post in den breiten Talkessel von Brugg einrollt, +denkt er, daß sein Traum einer menschlichen Gemeinschaft trotz aller +Verschiedenheit der Stände, geeinigt durch ein sittliches Bewußtsein, +doch nicht von den Sternen wäre.</p> + +<p>Trotzdem wird es ihm schwer, von Brugg aus den Weg in das Trümmerfeld +seiner Wirksamkeit zu gehen, wo viele ihm ohne Gruß begegnen und einige +Buben ihm höhnisch nachrufen. Aber als er gegen den Neuhof kommt, sieht +er einen Knaben emsig am Brunnen spielen, der, als er ihn erkennt, +jubelnd in seine Arme läuft. Es ist das Jaköbli, und die Mutter — der +er Nachricht von Basel gegeben hat — ist auch da; sie sitzt, noch +schwach von ihrer Krankheit, auf einem Baumstamm in der Sonne und hält +tapfer lächelnd den Regenschirm in der Hand: Wir dachten, es möchte +regnen; aber, Lieber, die Sonne scheint! Und erst als sie beide, den +Kleinen an den Händen zwischen sich, hinein gegangen sind und die +verlassene Stube mit ihrer Gemeinschaft füllen, daß die Leere durchs +Fenster entweicht, tritt auch<span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span> die Frau von Hallwyl zu ihnen, die +unterdessen beiseit gegangen war.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>54.</h3> +</div> + +<p>So unsicher die Aussicht auf die zwanzig Dukaten der +Aufmunterungsgesellschaft und die anderen Schriftstellereinnahmen für +Heinrich Pestalozzi vorläufig ist, so bestimmt stehen die Schildwachen +der Bedrängnis rund um den Neuhof. Es fehlt am Nötigsten, und für +Anna ist die Zeit gekommen, die ihre Mutter prophezeite, ja selbst +das Brot ist nicht immer da. So sieht sich Heinrich Pestalozzi als +Schriftsteller in der lächerlichen Bedrängnis, nicht einmal das +notwendige Papier zu haben. In dieser Not fällt ihm ein alter Erbkoffer +ein, der mit anderem Haushalt von der Mutter bei der Einrichtung in +Müligen herübergekommen ist und seit Jahren vergessen auf dem Speicher +steht. Irgendein Vorfahr hat sein Leben lang in der Lotterie gespielt, +und zwar in der Meinung, daß sich das Glück in Tabellen nachrechnen und +erlisten ließe. Für diese Tabellen hat er sich dann Bogen mit roten +Linien herstellen lassen, die Berechnungszahlen einzutragen. Damit ist +der ganze eisenschwere Koffer gefüllt, durch den nun der gewinnsüchtige +Vorfahr seinem Erben einen späten Liebesdienst leistet; denn selbst +da, wo schon Zahlen eingeschrieben sind, lassen sich die Bogen noch +benutzen, und Hunderte sind ganz frei.</p> + +<p>In diese rote Linienwelt schreibt Heinrich Pestalozzi das erste +Resultat seiner Erfahrungen nieder, und es scheint fast, als ob die +Tabellenfächer die äußere Form<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> bestimmten: es werden lauter einzelne +Sprüche daraus, deren Weisheit in den roten Linien wie der Honig +in Bienenzellen voneinander abgetrennt ist; aber ihr Geschmack ist +bitterer Wermut. Er nennt sein Schriftstück die »Abendstunde eines +Einsiedlers« und schickt es Iselin nach Basel, der es auch sogleich in +die Ephemeriden gibt. Dadurch ermutigt, macht Heinrich Pestalozzi sich +auch an die Preisaufgabe der Aufmunterungsgesellschaft.</p> + +<p>Es liegt nicht an der roten Liniatur, daß sein Eifer bei der zweiten +Schrift erlahmt; so reich die Gedanken drängen, so schwer fließen ihm +die Sätze dazu, auch mit den Forderungen der Schriftsprache kommt er +nur seufzend zurecht. Er muß Bogen vollschreiben, um einige brauchbare +Zeilen zu gewinnen, und die scheinen ihm wie gepreßte Pflanzen. Sich +und die Seinigen zu ernähren — das sieht er bald — ist es kein +Geschäft. Um andere Wege zu versuchen, nimmt er zum zweitenmal den +Stecken, diesmal nach Zürich, wo die meisten seiner Freunde wohnen. +Wieder geht er zu Fuß; es ist nur ein kleiner Tagesmarsch, und schon am +Nachmittag kommt er zur Sihlporte herein. Eben will er über den Rennweg +gegen das Fraumünster hin, als ihm einer der Schulgenossen begegnet, +mit denen er damals nach Wollishofen hinaus gerudert ist, er hat ihn +seither oft gesehen, zuletzt bei der lustigen Gesellschaft, die ihn +nach seinem ersten Weihnachtsbesuch im Pflug ans Schiff brachte. Er +freut sich, gleich einem Bekannten zu begegnen, aber ehe er noch bei +ihm ist, entweicht der andre in eine Nebengasse.</p> + +<p>Als er nachher das Erlebnis dem Buchhändler Füeßli<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> erzählt, der +von allen Zürchern am treuesten zu ihm steht, obwohl er nicht zart +mit Worten ist, läuft der nach seiner Gewohnheit einigemal in der +Schreibstube hin und her, wirft zornig ein Bündel Papier aufs andre, +bis die Schriften in einem rechten Durcheinander sein müssen, und +sagt ihm dann mitten ins flehende Gesicht: soviel sollte er doch die +Zürcher kennen, daß sie ihn nur noch fürs Armenhaus oder das Spital +kalkulierten; in einem Jahrdutzend eine vermögende Frau arm zu machen +und wer weiß wen geschäftlich zu schädigen, das ginge ihnen über das +bürgerliche Maß. Wenn er ehrlich sein wolle, müsse er ihm schon sagen, +daß ihn seine Mitbürger für einen bösartigen Narren hielten! Dabei +wirft er sein Kontobuch, das er gerade ergriffen hat, mit einem solchen +Zorn in die Papiere, daß sein Tintenfaß erschrocken aufspringt und die +Umgebung mit mehreren Klexen bespritzt. Er schüttelt ihm dann zwar +freundlich die Hand, aber immer noch hat sein Zorn einen Hinterhalt: +Was er denn meine, daß ihm Lavater gesagt habe? Er solle ihm einen +einzigen Satz von Heinrich Pestalozzi beibringen, der sauber und ohne +Fehler geschrieben wäre, dann wolle er ihn auch sonst noch für eine +Sache im Leben brauchbar halten! Aber das unterschreibe er, der Hans +Heinrich Füeßli, nicht; wenn er nur erst von seiner Narrheit abkäme, +andern helfen zu wollen, bevor er sich selber geholfen habe, so würde +sich schon etwas für ihn finden!</p> + +<p>Das hat der Gekreuzigte auch hören müssen, sagt Heinrich Pestalozzi, +den der Zorn des andern angesteckt hat, und fegt nun auch hin und her, +sodaß es für einen<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> Dritten, der in die Stube gekommen wäre, ausgesehen +hätte, als machten die beiden ihre schlimmsten Händel aus. Dann +überkommt ihn die Verzweiflung: Und wenn ich Perücken strählen müßte, +ich würde es um der Meinigen willen tun! sagt er schmerzlich und läuft +aus der Stube, weil ihm die Tränen fließen.</p> + +<p>Im Roten Gatter findet er auch keinen Trost; die Mutter, nun schon +sechzigjährig, sieht ihn augenscheinlich in den Fußspuren seines +Bruders, und das Babeli, eisgrau und wunderlich geworden in der +Einsamkeit mit der verhärmten Frau, redet mit ihm, als ob sie ihn am +liebsten noch einmal verwalke. Er muß von seinen Dingen günstiger +sprechen, als sie sind, und vermag nicht über Nacht zu bleiben. Noch +vor dem Abend geht er unter dem Vorwand dringender Geschäfte fort und +auf Umwegen aus der Stadt; er ist in den letzten Monaten in eine wahre +Gier gekommen, nachts zu wandern. An der Sihlporte fallen ihn die +Wächter mit scharfen Fragen an; wo ehemals ausgediente Stadtknechte ihr +Altersbrot hatten, stehen jetzt in aufgeputzten Uniformen stattliche +Burschen, als ob sie für die Fremden zur Zier dahingestellt wären. +In seiner Stimmung ärgert ihn die Neuerung, und während er in die +sinkende Dunkelheit hinein läuft, verbeißt er sich in einen Zorn, +daß solcherweise die Fortschritte wären, für die das Geld blindlings +geopfert würde. Er fühlt wohl, daß der Anlaß seinem Zorn nicht +entspricht, und um sich selber zu begegnen, übertreibt er den Vorfall, +bis eine Schnurre daraus geworden ist, über die er selber mitten in die +Nacht hinein lachen muß.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span></p> + +<p>Er kommt damit bis Baden; und wenn ihn dann seine Müdigkeit und die +Nähe des Neuhofs wieder in seine Melancholie bringen, sodaß er sich die +letzten Stunden nur noch in einer tonlosen Traurigkeit hinschleppt: +am andern Morgen ist doch noch so viel von der höhnischen Lustigkeit +dieser Nacht in seinem Bett, daß er bis in den Mittag darin liegen +bleibt und von neuem an der Schnurre formt. Nachher nimmt er sich +einige von den stockfleckigen Lotteriebogen vor und hängt seine +Einfälle in die roten Linien hinein; ohne Sorgen, wie die Sätze werden, +nur daß er seinen Zorn noch einmal so närrisch losbekäme. Um dem treuen +Füeßli den Beweis seiner vollkommenen Narretei zu geben, wie er in +einem Begleitbrief schreibt, schickt er ihm die Bogen zu; dann begibt +er sich ingrimmig wieder an seine Preisaufgabe.</p> + +<p>Er ist noch dabei, aus dem Wust mit Ändern und Streichen die endgültige +Fassung zu gewinnen, als er eines Nachmittags eine saubere Weibsperson +mit einem Bündel kommen sieht, die bestimmten Schrittes auf den +Neuhof zugeht und die er danach im Hausflur mit seiner Frau sprechen +hört. Es scheint ihm, daß er sie kennt, und als er, von dem Jaköbli +gerufen, hinzukommt, ist es die Lisabeth Näf aus Kappel, die vordem bei +seinem verstorbenen Onkel, dem Doktor Hotze, als Dienstmagd gewesen +und, soviel er weiß, von dessen Sohn — seinem Vetter — übernommen +worden ist. Sie wolle bei ihnen in Dienst treten, erklärt ihm Anna, +die augenscheinlich mit der resoluten Jungfer nicht fertig wird. Das +würde schwer gehen, sagt er, sie seien arm<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> und könnten keine Dienste +bezahlen! — Eben deshalb käme sie; sie wolle keinen Lohn; solange +Frau Pestalozzi noch nicht gesund sei, müsse ihr jemand an die Hand +gehen. Auch habe sie von dem Undank seiner Zöglinge gehört, daß sie +ihm alle davon gelaufen wären, und da sie sich in Richterswyl nach dem +Tod des alten Herrn entbehrlich oder gar überflüssig fühle, wolle sie +versuchen, ihre Nahrung, mehr nicht, bei ihnen zu verdienen.</p> + +<p>Während Heinrich Pestalozzi noch zweifelnd erst seine Frau, dann +wieder das Wunder ansieht, das aufrecht gewachsen und geraden Blickes +da vor ihm steht, bittet sie schon wieder die Hausfrau, ihr ein Lager +zu weisen, da sie heute jedenfalls nicht mehr zurück könne. In kaum +einer Viertelstunde ist sie schon emsig im Hause, und andern Morgens +denkt keiner daran, sie wieder fortzuschicken; nach einer Woche ist +es so, als ob sie immer dagewesen wäre, so unbemerkt weiß sie sich in +den gedrückten Haushalt zu schicken. Es sei fast zu spät, den Garten +zu bestellen, sagte sie, ist aber schon dabei, ihn umzugraben; und +bald merkt Heinrich Pestalozzi, daß in seinem verworrenen Hauswesen +wieder der sichere Tageslauf der Sonne ist: Schritt für Schritt wird +die Unordnung des Untergangs beseitigt und aus dem weiten Bereich des +verwüsteten Gutes der saubere Umkreis des Hauses abgetrennt. Und als +ob die eine tätige Hand ihren Takt auch in die andern brächte, fängt +das gestörte Uhrwerk des Hauslebens wieder an, zu gehen. Selbst bis in +seine roten Tabellen dringt ihre Sicherheit, sodaß er seine Preisarbeit +bald zu Ende bringen<span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span> und die Reinschrift der Aufmunterungsgesellschaft +in Basel nicht ohne Vertrauen auf ihren Wert zusenden kann. Daß man +dem Aufwand der Bürger äußere Schranken setzen müsse, ist freilich +nicht seine Meinung: Hier wie überall käme es nicht auf die Landreiter, +sondern auf die Menschenbildung an.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>55.</h3> +</div> + +<p>Unterdessen hat seine Schnurre über die Umwandlung der ungekämmten und +krummen Stadtwächter in gerade und gekämmte in Zürich eine Art Glück +gemacht. Auf der Durchreise von Italien nach London ist der ehemalige +Freund Lavaters, der Maler Füeßli einen Tag lang bei seinem Vetter +gewesen; er hat die Schnurre zufällig gelesen, und zwar mit so viel +Spaß, daß er nicht begreifen will, wie es einem Mann mit einer solchen +Begabung schlecht gehen könne: sein Talent als Schriftsteller sei +derart, daß ihm der Erfolg nachlaufen müsse!</p> + +<p>So kann ich meine Perücke wieder mitnehmen, scherzt Füeßli, als sie +in Baden eine rasche Zusammenkunft haben, das Ereignis zu besprechen: +ich hatte sie schon zum Strählen mitgebracht! Aber Heinrich Pestalozzi +ist es nicht zum Lachen, umsoweniger, als der andre augenscheinlich +kaum etwas andres als einen Sack voll solcher Schnurren im Sinn hat. +Er dämpft die Begeisterung des Buchhändlers sauersüß, ist noch ein +paar Stunden gern in der Luft einer Freundschaft, denkt aber nicht +daran, ihm zu folgen; bis er heimkommt und die moralischen Erzählungen +des Franzosen Marmontel noch<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> aufgeschlagen auf dem Tisch seiner +Frau findet. Er liest darin, und unversehens überlegt er doch schon, +dergleichen besser zu machen; um statt weichlicher Rührung gute +Gedanken ins Volk zu bringen.</p> + +<p>Gleich andern Tags versucht er nun das Dichterhandwerk, angebliche +Menschen als Gestalten seiner Absichten in eine Handlung zu stellen. +Es gelingt ihm leichter, als er erwartete, und am Abend ist das +erste Ding schon rund gebracht; aber als er es dann überliest und +mit dem Vorbild vergleicht, findet er wohl, daß seine Gestalten sich +ernsthafter unterhalten als bei Marmontel, doch ist die Unterhaltung +so sehr die Hauptsache, daß es wenig Zweck hat, sie mit den Armen und +Beinen der Personen zu umgeben; auch haben sie für gemeine Bürgersleute +eine Art zu predigen, die ihnen nicht ansteht. Aber nun ist einmal +sein Eifer geweckt, und schon am nächsten Tage läßt er ein neues Paar +anmarschieren. Diesmal sind es zwei Bauern, ein alter und ein junger, +die sich über die neumodische Landwirtschaft erhitzen; haben die Bürger +gepredigt, so verkniffeln sich die Bauern wie zwei Advokaten, und da +auch hier wieder die Reden des Verfassers die Hauptsache sind, hätten +die Personen ebensowohl daheim bleiben können. Noch drei- oder viermal +versucht er es, um immer bedenklicher einzusehen, daß er kein richtiges +Bauernmundwerk aufs Papier bringt. Soviel er auch an den Tannern im +Birrfeld erlebt hat, nun merkt er, daß er sie garnicht kennt; und wie +er das Abc erst an seinem Knaben studiert hat, beginnt er nun, mit +ihnen seine heimlichen Experimente anzustellen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span></p> + +<p>Die Leute von Lupfig und Birr machen sich verdächtige Zeichen, als der +Herrenbauer vom Neuhof anfängt, in ihren Wirtschaften herumzusitzen; +sie wissen aus Erfahrung, wie dies das Ende solcher Existenzen ist, +und weil er kaum etwas trinkt, deuten sie hämisch auf seine leere +Tasche. Er dagegen merkt bald, daß sie mit ihm anders als unter sich +sprechen, so hält er sich abseits, in einem Wettergespräch oder sonst +mit dem Wirt, während sie bei ihren Karten oder um irgend einen Handel +untereinander sind. Wenn ihm dabei eins seiner eigenen Bauerngespräche +beifällt, kommt ihm alles darin so papieren vor, daß er manchmal im +Eifer mitanfängt zu fuchteln, als ob er damit die richtigen Worte +festhalten könnte.</p> + +<p>Darüber fangen sie an, ihn vollends für übergeschnappt zu halten, und +legen sich aufs Hänseln; aber nun reitet ihn schon der Teufel seiner +Leidenschaft, auch um andrer Dinge als seiner Schriftstellerei willen +tiefer in ihre Wirtshauswelt hinein zu kommen. Er sieht, wieviele +Dinge hier ihren Anlaß und ihre Stärkung haben, wieviel aus der Bahn +geworfene Existenzen am Wirtshaustisch ihr Schicksal absitzen, und +wie nicht der Schnaps und der Wein allein sie dahin ziehen, sondern +der Trieb unnützer Buben, mit Hänseleien und großmäuligen Prahlereien +beieinander zu hocken. Hier müßte zu Hause sein, sagt er sich oft, +wer eine Armenanstalt aufmachen will; hier ist der Lebensboden aller +Laster, die in einem Menschen allein garnicht wachsen können, weil +immer nur mehrere zusammen das Ungetüm ausmachen, das den einzelnen +mit Haut und Haaren frißt;<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> was nachher dann aus dem Wirtshaus nach +Hause geht, ist nur noch ein Stück von diesem Ungetüm, dem es natürlich +nirgend mehr wohl sein kann als bei sich zu Hause, nämlich auf der +Wirtshausbank, wo es zu fressen und zu saufen bekommt.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat schließlich ein System von Listen, das Ungetüm +lebendig zu sehen, indem er sich selber anscheinend mit auffressen +läßt oder unter einem Vorwand nebenan in der Küche lauscht. Als er +eines Nachmittags in Mellingen eintritt, weil er schätzt, daß ihrer da +mehrere vom Viehmarkt sitzen würden, findet er das Zimmer noch leer, +und da der Wirt augenscheinlich auch noch unterwegs ist, juckt ihn +der Vorwitz so, daß er in eine große Futterkiste klettert, die in der +dunklen Ecke neben dem Ofen als Truhe dient und deren offener Deckel +ihn wie eine Wand verbirgt. Er hört auch bald ihrer zwei hereinkommen +und über den Metzger Märki in Birr schimpfen, der ihnen beim Handel +die Flöhe abgesucht hat, wie sie sagen. Weil das Gespräch einmal den +Lauf genommen hat, bleibt es auch dabei, als andere eintreten, und +so bekommt Heinrich Pestalozzi unvermutet eine Predigt über seinen +ehemaligen Ratgeber zu hören, wie sie nicht in seine Tabellen gegangen +wäre. Aber als sich das Ungetüm so recht wieder aneinander gewachsen +hat und groß tut mit Fäusten und Flüchen, wird es still von einem +Schritt, der durch die Tür hereinkommt und nach einem brummigen Gruß +mitten im Zimmer stehen bleibt. Heinrich Pestalozzi hinter seiner +Wand hört das Ungetüm schnaufen, bis einer den Märki — denn niemand +anders ist es — nach den Hummeläckern<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> fragt und gleich das Gelächter +über die Anspielung losbrüllt. Aber so ist der Metzger nicht, daß +er sich abtrumpfen läßt: im Nu ist er mit ihnen aneinander in einem +Maulgefecht; und wollten sie ihn um den ausgezogenen Herrenbauer im +Neuhof hänseln, so gibt er ihnen sein Kunststück mit frecher Prahlerei +preis: warum sie es nicht selber gemacht hätten, wenn es so leicht +gewesen wäre? Jedenfalls habe er das Kalb abgestochen; sie könntens ja +mit ihm auch einmal versuchen: er würde ihnen schon dartun, wer der +Meister wäre, wie er es diesem Herrn Pestalozzi auch dargetan habe!</p> + +<p>Die Abfertigung scheint dem Ungetüm plausibel, denn es schweigt; aber +als der Märki sich abseits von ihnen auf seinen Trumpf setzen will, +findet er keinen besseren Platz als die Futterkiste; er klappt den +Deckel zu, merkt garnicht, daß ein Widerstand da ist, und will sich +gerade noch einmal auslachen, als es unter ihm mit Faustschlägen +rumort. Wenn der Teufel selber aus dem Kasten gestiegen wäre, hätte +die Wirkung nicht anders sein können als nun, da das abgestochene Kalb +seiner Prahlerei heraus springt. Auch das verdutzte Ungetüm muß sich +einen Augenblick am Wirtstisch festhalten, und es ist noch nicht zu +sich gekommen, als Heinrich Pestalozzi durch die Tür dem gemeinsamen +Gelächter entgeht.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>56.</h3> +</div> + +<p>Die Bauern auf dem Birrfeld sagen, daß dem Märki die schwarze Pestilenz +als Teufel aus der Futterkiste erschienen wäre; aber so sehr sie dem +Metzger den<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> Schrecken gönnen, die Narrheit bleibt doch an Heinrich +Pestalozzi hängen; und wie sie ihn danach bei Sonnenschein und Regen +draußen herumlaufen sehen, bestätigt ihnen nur, daß ihm sein Unglück +mit dem Neuhof und der Armenanstalt auf den Verstand geschlagen sei.</p> + +<p>Er ist aber nur in eine Auseinandersetzung mit dem Ungetüm geraten, das +nicht — wie es scheint — vom Überfluß, sondern von Mühsal und Armut +lebt; denn die ihm zu fressen geben, sind die Schwachen, Leichtfertigen +und Verzweifelten, die, irgendwie von der Bank unverdrossener Arbeit +abgerutscht, ihr Letztes in Trunk und Geschwätz vertun, während der +Wirt die ärmlichen Groschen einsammelt und also von dem Ungetüm lebt +wie ein Savoyardenknabe von seinem Murmeltier. Er will es zum Helden +einer Geschichte machen; und ob er somit den Kampf mit dem Ungetüm +nur auf dem Tabellenpapier seines Erbahnen aufnehmen kann: mit einer +Handlung, einfach und drastisch genug in alle Köpfe einzugehen, wird +seine Feder, so hofft er, ihm doch eine gefährliche Waffe werden.</p> + +<p>Diese Handlung aber vermag er lange nicht zu finden, weil er immer noch +nicht von sich selber loskommt und sich stets wieder als vorwitziger +Advokat allein auf der Bühne redend findet. Da hilft ihm unvermutet +die tapfere Lisabeth aus der Not; als er sie eines Tages wieder bei +ihrer Unverdrossenheit beobachtet hat, wie sie den Kreis der Ordnung +Tag für Tag um ihren Mittelpunkt vergrößert, als er sich ausmalt, wie +sie einem Mann anders als die meisten Bauernweiber an die Hand zu +gehen vermöchte, von dem Ungetüm los<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> zu kommen: da hat er endlich +den Gegenspieler seiner Handlung gefunden, um dem hundertköpfigen +Tier nicht mit den Mitteln fremder Hilfe, sondern mit den Waffen der +Armut selber beizukommen. Er braucht der tapferen Person nur einen +leichtfertigen Mann und Kinder anzudichten, wofür sie kämpft, und +schon ist der Aufbau einer Handlung gegeben, die sich anders als die +moralischen Erzählungen Marmontels in die Wirklichkeit einstellen soll.</p> + +<p>Als ihm dann noch der Märki als Vogt und Wirt in seine Handlung kommt +und er ihm um der Hummeläcker willen den Namen Hummel gibt, macht er +eine Gertrud aus ihr, die als die Frau eines Maurers namens Lienhard +den Kampf mit dem Vogt beginnt und schließlich das ganze Dorf von ihm +und dem Ungetüm befreit. Er hat sich dessen nie für fähig gehalten: +wie die Gestalten seiner Handlung von allen Seiten zulaufen, wie sich +Gespräch und Tat verflechten, und wie aus der geplanten Belehrung +eine Darstellung des Schicksals wird, die ihn selber oft genug zum +Weinen erschüttert. In wenigen Wochen stehen die hundert Kapitel +seines Buches da, als wären sie nicht erfunden, sondern ein Bericht +aus dem Leben, wie es sich wirklich abgespielt hätte. Da weiß er, daß +die Schriftstellerei mehr vermöge, als müßigen Leuten die Langeweile +zu vertreiben, daß sie eine geheimnisvolle Gabe sein könne, die +Erfahrungen des Lebens zu verdichten und Hunderten von Lesern die Wege +des Schicksals aufzuzeigen, wo sie selber nur heitere oder traurige +Vorfälle sehen.</p> + +<p>Ehe er es gedacht hat, ist er nach Zürich unterwegs<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> mit seinem Schatz, +der diesmal ein handgreifliches Päckchen statt einem geträumten +Luftschloß ist, obwohl Anna, an den Zusammenbruch so mancher mit +Worten aufgebauten Hoffnung bitter gewöhnt, nur wehmütig über seine +Begeisterung gelächelt hat. Füeßli ist nicht der Mann dazu, in Rauch +und Feuer aufzugehen, auch sieht dies anders aus als die Schnurre +von den ungekämmten Nachtwächtern; er weist ihn an den gemeinsamen +Freund Pfenniger, der in den Dingen des literarischen Geschmacks +sachverständig wäre. An die Literatur hat Heinrich Pestalozzi freilich +nicht gedacht, als er schrieb, und erst garnicht an den gebildeten +Geschmack, der, statt den geistigen Dingen zu dienen, mit anmaßenden +Forderungen vor ihnen steht. Pfenniger findet die drei oder vier ersten +Bogen, die er ihm vorliest, nicht übel, aber so voll unerträglicher +Verstöße gegen den literarischen Geschmack, daß er ihm dringend die +Umarbeitung des Buches durch einen Menschen von schriftstellerischer +Übung empfiehlt und auch gleich einen theologischen Studenten nennt, +der das literarische Handwerk ebenso beherrsche, wie es ihm fehle. Das +Wort Lavaters von seiner Unfähigkeit, einen einzigen Satz richtig zu +schreiben, hat er noch nicht vergessen, und kleinlaut überläßt er sein +Buch den Ordentlichen, daß sie es für ihren Gebrauch zurecht machen: +Ich will nur abwarten, sagt er bitter, ob es mir Unordentlichem einmal +gelingt, ohne Euch richtig zu sterben!</p> + +<p>Doch vermag er nicht, sich ganz von seinem Buch zu trennen; er +läßt ihnen nur die ersten drei Bogen, damit er die Bearbeitung +erst sähe, und geht für ein paar<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> Tage nach Richterswyl hinaus, wo +sein Vetter, der Doktor Johannes Hotze, die Praxis des Vaters mit +Klugheit verwaltet, während der jüngere Bruder mit dem Federhut +richtig unter die Soldaten gegangen und bei den Österreichern schon +General geworden ist. Er weilt gern dort, weil der Doktor Hotze ein +Philanthrop von Einsicht und Willenskraft ist; aber als er ihm mit +Andeutungen seines Buches begegnet, hält der es anscheinend für einen +neuen Seitensprung und wehrt warnend ab. So kommt er demütig zu +Pfenniger, seine Handschrift wie einen vom Lehrer verbesserten Aufsatz +zurück zu erhalten; aber als er sein Naturgemälde des bäuerlichen +Schicksals unter dem frömmelnden Firnis dieses Theologen wiedersieht +und angesichts der steifen Schulmeistersprache, die seine Bauern darin +reden, an seine Entdeckungsfahrten denkt, fällt die Demut erschrocken +ab: Dann wolle er doch lieber mit Beulen und steifen Gelenken ein +ungekämmter Stadtwächter sein, als ein derart gekämmter, sagt er zu +Füeßli, der zugegen ist, läßt dem Pfenniger die gesäuberte Umarbeitung +und macht sich auf den Heimweg mit seiner ungesäuberten Handschrift, +die anscheinend ebensowenig in die ordentliche Welt paßt wie er selber!</p> + +<p>Er ist schon in Baden, als er es nicht vermag, mit diesem Ergebnis +heimzukehren, und entschlossen seine Reise nach Basel fortsetzt, um +auch bei Iselin sein Glück zu versuchen, bevor er selber an seinem +Buch zweifelt. Er darf ihm und seiner Gattin noch am Abend seiner +Ankunft einige Kapitel daraus vorlesen; so inbrünstig seine Hoffnung +insgeheim um ein günstiges Urteil gefleht<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> hat, auf einen solchen +Erfolg rechnete sie nicht. Die Frau Ratsschreiber weint vor Rührung, +und der Ratsschreiber selber geht mit erregten Schritten im Zimmer auf +und ab, bis er ihm die Handschrift aus den Händen nimmt, als ob er sich +vergewissern müßte, daß dies alles auch wirklich dastände. Er lachte +herzhaft auf, als er die Schrift in den roten Tabellen hängen sieht; +und auch als er dann liest, schüttelt er immer wieder den Kopf: es sei +nicht zu glauben, wie einer so etwas Herrliches ausdenken und zugleich +solche Sprach- und Schreibfehler machen könne! So wie es dastände, +wäre es allerdings ein ungekämmter Stadtwächter, aber den zu strählen, +brauche es keinen Theologen, sondern einen Setzer, der deutsch könne. +Er müsse freilich das Buch erst ganz lesen, aber nach dem, was er bis +jetzt gehört habe, wüßte er nicht seinesgleichen.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi bleibt drei Tage lang in Basel, und es ist eine +Zeit für ihn, als ob Schlaf und Wachen ein einziger Traum geworden +wären; so erlöst ihn der Beifall dieser klugen und herzlichen Menschen +aus dem Gefühl seiner Unbrauchbarkeit. Die Schreibfehler in der +Handschrift verspricht Iselin selber zu beseitigen; auch schickt er +gleich einen Brief an den Verleger Decker in Berlin, ob er das Buch +herausbringen wolle? Um ihm aber zu den vielen Tauben auf dem Dache +doch einen Spatz in die Hand zu geben, offenbart er ihm zum Abschied, +als er bis Liestal mit ihm gegangen ist und da auf die Post wartend im +Ochsen noch ein Glas Wein trinkt, daß die Aufmunterungsgesellschaft +zwar nicht ihm allein, aber doch ihm zu gleichen Teilen mit dem<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> +Professor Meister in Zürich den Preis von zwanzig Dukaten zuerkannt +habe.</p> + +<p>Es geht mir wie dem Mann, sagt Heinrich Pestalozzi, der am Sonntag zehn +Louisdor verloren hatte und sich am Montag freute, weil er drei Kreuzer +fand.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>57.</h3> +</div> + +<p>Schon Anfang September erhält Heinrich Pestalozzi Nachricht, daß der +Verleger Decker aus Berlin in Basel gewesen sei und ihm für jeden +Druckbogen einen Louisdor als Honorar bewilligt habe. Das wäre vormals +nicht viel gewesen, jetzt aber bedeutet es für den ausgeplünderten +Neuhof eine Quelle, die bei sparsamer Verwendung seine Insassen auf +eine gute Zeit vor Nahrungssorgen schützt und Heinrich Pestalozzi mutig +macht, auch noch den Rest seines Tabellenpapiers vollzuschreiben. An +eine neue Erzählung vermag er nicht zu denken, so voll sind ihm noch +Kopf und Herz von dieser. So beginnt er noch im Herbst, bevor das Buch +gedruckt ist, eine Erläuterung dazu zu schreiben, die er »Christoph +und Else« nennt! In einer angeblichen Bauernhaushaltung läßt er abends +seine Geschichte von Lienhard und Gertrud lesen und besprechen, wobei +er dann wieder selber auf der Bühne erscheinen und den Vorgängen der +Handlung seine Nutzanwendung mitgeben kann: So sind die Leiden und +Schäden des Landvolks, so sind die Wurzeln seiner Kraft und Urkraft, +und so kann der Verwilderung geholfen werden! Aus der Abendstunde eines +Einsiedlers werden Abendstunden einer gutwilligen Gemeinschaft.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span></p> + +<p>Er ist noch mitten in dieser Arbeit, als der Tod in der Familie seiner +Frau vorspricht und sich die kränkelnde Mutter, gebotene Holzlaub, +heimholt. Dem alten Zunftpfleger, dem der braune Bart längst weiß +geworden ist, wird es danach unheimlich im Pflug, wo seine Söhne +eigenwillig schalten; er zieht der einzigen Tochter nach, an der immer +sein Herz gehangen hat. So wird der Haushalt um einen Greis vermehrt, +dem das Leben die Augen zur Freundlichkeit und Milde geöffnet hat, +obwohl er von Haus aus zornig war. Von seinem Vermögen ist nur noch ein +bescheidener Altersteil in seinen Händen; aber auch damit bringt er +eine Sicherung in den Neuhof, die wohlig empfunden wird und das Gefühl +einer vorsichtigen Wiederherstellung verstärkt. Als dann zur Ostermesse +endlich »Lienhard und Gertrud« erscheint und seine Wirkung macht, +sodaß vieler Augen sich auf den Neuhof richten, finden sie nicht mehr +die Trümmerstätte selbstverschuldeter Armut, als die er den Bauern im +Birrfeld und dem selbstgerechten Bürgersinn der Zürcher gegolten hat.</p> + +<p>Der erste, der ihm Gutes berichtet, ist Iselin, der zwar bescheiden die +dankbare Widmung aus dem Buch beseitigt hat, aber stolz und beglückt +durch den Erfolg zu seinem Schützling steht. Er gibt Nachricht von +dem Beifall der Zeitungen in Deutschland und wie man dort nach dem +ungenannten Verfasser des Dorfromans riete; auch sammelt er, was +Rühmens in den Schweizerblättern steht, und hat einen fröhlichen Eifer +damit, ihm nach den ersten spärlichen Posten ganze Stöße von gedruckter +Anerkennung in den Neuhof zu schicken.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span></p> + +<p>Heinrich Pestalozzi, dem die Mißachtung einen bösen Bannkreis um seine +Einsamkeit gezogen hatte, sieht sich in die Beleuchtung eines rasch +wachsenden Ruhmes gestellt, in den nun mancher wieder hineinlärmt, +der sich vorher still beiseite getan hat; denn ob sein Name nicht auf +dem Deckel des Buches steht, dafür sorgen die fleißigen Gerüchte, daß +überall, wo die Gestalten von Lienhard und Gertrud in ein Schweizerhaus +eintreten, auch der Armennarr von Neuhof als ihr Pate gilt. So ist es +kaum noch nötig, daß Iselin den Namen des Verfassers in den Ephemeriden +bekannt gibt; wohl aber scheint es ein Signal zu sein für die Kutscher +und Postillone, die nun fast täglich Besucher nach dem Neuhof bringen. +Sie finden da einen freundlichen Greis, der sich über den Ruhm seines +Schwiegersohnes um seiner verhärmten Tochter willen freut und gern +ein Wort spricht; einen elfjährigen Knaben, der als das Jaköbli mit +den Bauern auf einem vertraulichen Spielfuß steht und augenscheinlich +beliebter bei ihnen ist als sein Vater; eine Frau von dreiundvierzig +Jahren, die sich dem Schwall nach Möglichkeit entzieht; endlich ihn +selber, dem das braune Gesicht mit Rünzelchen verkritzelt ist, als +ob er sechzig statt erst fünfunddreißig wäre, der aber alle fröhlich +willkommen heißt, nicht eitel, doch sichtbar glücklich, daß er nun +endlich Macht über die Menschen gewonnen hat, wie er sie für seine +Dinge jahrelang vergeblich erflehte. Als eines Morgens der Wagen des +Herrn von Effinger mit zwei galonierten Dienern vor dem Neuhof hält, +ihn nach Schloß Wildegg als Ehrengast zum Essen abzuholen, und als +noch am<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> selben Tag von der Ökonomischen Gesellschaft in Bern fünfzig +Dukaten mit einer goldenen Denkmünze ankommen, da scheint es zu Ende +mit seiner angeblichen Unbrauchbarkeit, da ist Heinrich Pestalozzi, der +gescheiterte Landwirt und Armennarr auf Neuhof, ein Schweizerbürger +geworden, auf den die Augen seines Volks mit Stolz sehen. Und nun +endlich kann auch die Stunde nicht mehr fern sein, wo aus Reichen +und Armen, Klugen und Törichten, Herrschaften und Beherrschten die +Volksgemeinschaft wird, darin die Menschenbruderschaft des Evangeliums +aus der Sonntagspredigt in die wirklichen Wohnungen und Geschäfte +der Menschen kommt. Er ist auf der Höhe seines Lebens, als er diesen +Glückstraum erlebt; die Gier und Sehnsucht seiner Jugend, die Radbrüche +seiner ersten Fahrten und der grausame Unfall gelten ihm nun nichts +mehr, da er sich durch die Hand des Schicksals, die er in einem +tieferen Sinn als die Sonntagsgläubigen und Kirchenbeter Gott nennt, in +Schuld und Sorgen zu solcher Erfüllung geführt sieht.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>58.</h3> +</div> + +<p>Könnte Heinrich Pestalozzi die siebzehn einsamen Wartejahre danach +voraussehen, darin er die Kräfte seiner Mannesjahre aufreiben soll, +bis ihn das Schicksal an die Dinge selber statt an die Worte läßt, so +würden ihm die Knospen kaum so schwellen, wie nun, wo er im Rausch des +Erfolges noch einmal die stürmischen Säfte seiner Jugend fühlt. Er +hat im Vorwort seines Buches angekündigt, daß die Erzählung aus dem +angeblichen Dorf Bonnal nur die Grundlage eines Versuchs<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> wäre, dem +Volk mit einigen Wahrheiten in den Kopf und ans Herz zu gehen. Auf +alles, was als Tugend oder Laster an seinen Gestalten sichtbar wird, +Heuchelei und Tapferkeit, Hoffart und Sparsamkeit, Freiheitsliebe +und Tyrannei, auf alles läßt er nun Christoph und Else in ihren +Abendstunden mit dem Zeigestock hinweisen, und er selber gibt die +feurige Lehre seiner in tausend Nöten durchglühten Erfahrung dazu, um +die Quellen der Bosheit und des Elends in den Zuständen und in der +Gesetzgebung Europas darzustellen.</p> + +<p>Ein Drittel seines Buches hat er so erklärt, als ihn der Eifer drängt, +näher mit dem Volk zu sprechen; Iselin redet ihm zu, und so gründet er +sich selber eine Wochenschrift, die er »Ein Schweizerblatt« nennt. So +hitzig ist er in seinem Eifer, daß er fast alles selber darin schreibt; +er wird wieder der Marktschreier der Zurzacher Messe, aber diesmal sind +es nicht Baumwollentücher, sondern Einsichten und Weisheiten, die er +unablässig, mit Witz und hinreißender Gläubigkeit gemischt, anpreist: +»Himmel und Erde sind schön, aber die Menschenseele, die sich über den +Staub erhebt, ist schöner als Himmel und Erde!«</p> + +<p>Mitten in seinem Glück hört er schon wieder den Tod an die Tür klopfen, +und an einem Julitag fährt er im Innersten bewegt nach Basel, Iselin, +der ihm fast ein Vater war, zu begraben. Durch ein Gewitter erreicht +er die Post nicht mehr, und er ist gerade dabei, sich in Brugg auf +eigene Hand einen Wagen zu heuern, als Füeßli mit dem Doktor Hirzel +durchfährt. Die nehmen ihn mit, und so wird es eine Freundesfahrt der +Lebendigen<span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span> zu dem Toten; denn auch die andern haben Iselin geliebt, +wenn sie auch nicht soviel Freundschaft von ihm erfahren konnten wie +er. Während sie so durch die grünen Täler hinfahren, manchmal im +Schritt, weil es scharf bergan geht, dann wieder trabend, will Füeßli +wissen, was er jetzt schreibe. Und weil Heinrich Pestalozzi durch den +Tod Iselins erst recht in seinem Eifer entzündet ist, jeder Stunde zu +achten, damit von seinem Leben ein Nutzen für das arme Volk bleibe, +spricht er von seinen Abendstunden und merkt lange nicht, daß die +beiden schweigen und ihn fast traurig ansehen.</p> + +<p>Ich dachte, sagte Füeßli endlich und kollert vor Zorn, daß du jetzt +dein Metier gefunden habest und wenigstens im Schwabenalter vernünftig +würdest, aber dich reitet die Bessermacherei, bis sie dich ganz vom +Neuhof ins Spital verschupfen! Über die bösen Worte ist Heinrich +Pestalozzi so erschrocken, daß er ihn fragt, wie er das meine. Er sehe +doch, wie die Menschen durch sein Buch gerührt würden, warum er die +dargebrachte Rührung nicht für die Menschlichkeit ausnützen solle! — +Als ob die Leser dem Verfasser jemals ihre Rührung gäben, antwortet +Füeßli und ist nun selber bitter geworden. Sie erwarten und nehmen sie +als Genuß von ihm für ihr ausgelegtes Geld, gleich einem Kirschwasser +oder einem Schweinebraten auch!</p> + +<p>Sie begraben danach den Ratsschreiber in Basel; es ist ein Sarg, wie +Füeßli grausam vor Trauer sagt, darin der Hummelvogt den selben Platz +gehabt hätte. Für Heinrich Pestalozzi wird alles zum Verhängnis seit +dem bösen Wort im Wagen. Er hat es längst gespürt, daß<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> er mit seinem +Buch nichts als ein Menschenmaler geworden ist, von dem man nun weitere +Bilder verlangt. Wenn die Bauern im Birrfeld sich hämisch freuen, +daß er es seinem Widersacher Märki gut gegeben habe, oder wenn die +literarischen Blätter die Vortrefflichkeit seiner Charakterschilderung +rühmen: es ist das Gleiche, daß sie ihn als ihren Spaß- oder Rührmacher +halten, nicht aber ihm redlich ins Menschliche folgen wollen. Er +vermag nicht, mit den beiden wieder heimzufahren, tut sich vor der +zudringlichen Begrüßung des berühmten Verfassers scheu zur Seite und +wandert frühmorgens heimlich aus Basel fort. Unterwegs gelüstet es ihn, +das bäuerliche Paar in Frick aufzusuchen, das ihn damals so freundlich +genächtigt hat, in der Sehnsucht, von ihm andere Botschaft des Volkes +zu hören als von den Gebildeten.</p> + +<p>Er trifft sie auch und bleibt zum zweitenmal bei ihnen zur Nacht, nicht +anders aufgenommen als beim erstenmal, obwohl der Ziegenhirt nicht mehr +da ist. Aber als er enttäuscht, daß sie nicht selber davon sprechen, +zuletzt nach ihrer Meinung über sein Buch fragt, haben beide zwar +einiges davon gehört, jedoch nichts daraus gelesen. Wir sind Bauern, +Herr Pestalozzi, sagt der Mann treuherzig, und seine Frau nickt ihm +zu: wir haben unser Tagwerk; was soll in einem Buch von unserm eigenen +Leben stehen, daß wir nicht selber wüßten? Und unsere Nachbarn? Wir +reden selber nicht schlecht von ihnen, warum sollen wir lesen, wie das +ein anderer tut!</p> + +<p>Es sind zwei Grabschriften, die Heinrich Pestalozzi von dem Begräbnis +seines väterlichen Freundes mitbringt<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> und die nun in den Gärten +seiner Hoffnungen stehen. Er schreibt zwar danach noch tapfer sein +Schweizerblatt, Woche für Woche; aber daß es eigentlich keine Leser +hat, das nimmt er nun erst wahr. Als die ersten dreißig Abendstunden +von Christoph und Else erscheinen, die wie ein Katechismus des +bäuerlichen Lebens in alle Strohhütten gehen sollen, ist die Wirkung +so schwach, daß der Verleger das Buch nicht weiter drucken will. +Unterdessen singen die Blätter das Lob von Lienhard und Gertrud +unablässig weiter, bis der kleinste Kalender davon voll ist. Ich habe +das Pferd vorn und hinten eingespannt, denkt Heinrich Pestalozzi; und +da auch der Verleger um eine Fortsetzung seines Romans drängt, gibt er +sich tapfer daran, seine Pläne an dem Dorf Bonnal seiner Dichtung zu +versuchen und statt Ermahnungen und Vorschlägen die Darstellung einer +angeblichen Besserung zu geben. Ehe er es hofft, ist ein zweiter Band +von Lienhard und Gertrud fertig, aus dem nun der Ratsschreiber Iselin +die dankbare Widmung an seinen Schatten nicht mehr ausstreichen kann. +Die Neugier hilft, daß er diesmal noch gelesen wird; aber die den +ersten Band gepriesen haben, sind an dem zweiten enttäuscht und finden, +daß der Verfasser sich wiederhole und in der langen Jugendgeschichte +des Hummelvogtes nur eine überflüssige Nachrede brächte. Es ist mit +dem Ruhm und der Wirkung seiner Schriftstellerei wie mit einem der +Bäche im Kalkgebirge, die irgendwo stark aus dem Boden brechen, eine +Zeitlang trügerisch in der Sonne fließen und dann wieder im Gestein +verschwinden.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span></p> + +<h3>59.</h3> +</div> + +<p>Daß Heinrich Pestalozzi durch den Pfarrer seines Buches die +Jugendgeschichte des Hummelvogtes so ausführlich erzählen läßt, kommt +nicht von ungefähr. Das Jaköbli ist nicht nach seinen Hoffnungen +geraten; in den sechs Jahren der Armenanstalt ist es als Sohn der +Hausmutter vor dem Gesinde und den Zöglingen von selber der Prinz +geworden, an dem die einzelnen sich ein Wohlwollen verdienen wollen; +im wechselnden Drang der häuslichen Umstände danach zwischen die +überlieferten Erziehungsansichten der Mutter und die neumodischen +Absichten seines Vaters gestellt, hat seine Natur nicht die Ruhe an +den Wurzeln gehabt, die Kindern das Nötigste von aller Wartung ist. +So ist er mit zwölf Jahren wohl ein großer Knabe geworden, aber ohne +Festigkeit und geplagt von dem Eigensinn seiner reizbaren Art, die +zwischen der Heftigkeit des Vaters und der zärtlichen Liebe der Mutter +ihre Hinterhalte hat.</p> + +<p>Was an Abhärtung getan werden konnte, um der Weichlichkeit seiner Natur +zu begegnen, das hat Heinrich Pestalozzi spartanisch an ihm geübt, auch +ist er mit List und Stärke dabei gewesen, seinen kindlichen Eigensinn +zu brechen — bis der gefährliche Untergrund dieser Eigenschaften +im Ausbruch seiner Krankheit herzschneidend zutage kommt. Es ist in +der Zeit, da die Stimme anfängt zu wechseln; er hat einen Korb mit +Pflanzkartoffeln aus dem Keller holen sollen und kommt nicht wieder. +Als Heinrich Pestalozzi heftig hinunterläuft, sitzt er verträumt vor +einem Spinnennetz; die<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> Überraschung mag zu jäh gekommen sein: ehe +Heinrich Pestalozzi bei ihm ist, tut der Knabe einen Schrei und fällt +hin wie ein Toter. Doch hat er ihn kaum an der Schulter gefaßt, als +das Leben mit unheimlichen Zuckungen wieder anfängt. Das fallende Weh +rast in ihm und Heinrich Pestalozzi, der als eifernder Vater zu hadern +gekommen ist, sieht sein armes Kind in dem fahlen Kellerlicht Mächten +überliefert, die seiner Strenge wie seiner Liebe spotten. Erst als +alles vorüber ist und der Knabe aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht, +wagt er die Lisabeth zu rufen.</p> + +<p>Seine Hoffnung, daß es ein einzelner Anfall gewesen sein möge, wird +nicht erfüllt; die Krankheit kommt zurück und steht seitdem warnend +hinter jedem ärgerlichen Wort, das er dem Knaben sagen will. Das Grauen +nimmt ihm für lange den Mut; denn deutlicher als jemals sieht er, wie +das Schicksal des Menschen als einer Kreatur nicht an eigene oder +fremde Verschuldung allein gebunden ist, wie Glück und Unglück aus den +Naturgründen des Lebens kommen und alle sittliche Sorgfalt zu verhöhnen +scheinen. Lange versucht er, das Unheil Anna zu verheimlichen, die +bei dem ersten Anfall in Hallwyl war; als sie es eines Tages doch +erlebt — sie sind in den Letten hinaus spaziert und müssen ihn da in +den rotblühenden Klee legen — meint er in dem entsetzten Blick der +Mutter einen Vorwurf zu spüren, der ihm lange nachgeht und bald darauf +eine peinliche Ergänzung findet. Er hört, daß die Leute in Birr der +unvernünftigen Abhärtung — den Knaben von kleinauf, auch im Winter, +im eiskalten Brunnenwasser zu waschen —<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> die Erkrankung zuschreiben. +Die Gewohnheit behält immer recht! sagt er bitter, aber ein grausamer +Rest ihrer Schadenfreude bleibt zurück und quält ihn mit Zweifeln, ob +er dem Knaben ein rechter Vater gewesen sei. Er sieht nun erst, daß der +Jakob kaum lesen und schreiben kann und auch sonst gegen die Kinder +seines Alters zurück ist. Am Ende kommt er mit Anna überein, ihn für +ein Jahr oder zwei nach Mülhausen in eine Erziehungsanstalt zu geben, +die ihm durch seinen Vetter, den Doktor Hotze in Richterswyl, empfohlen +ist; die zage Hoffnung auf seine Heilung muß ihnen über den schweren +Abschied forthelfen.</p> + +<p>Auf der Rückreise sucht er einen Herrn Battier in Basel auf, der +ihm noch durch Iselin bekannt geworden ist; ein Kaufmann, der +fest im Sattel seiner zahlreichen Geschäfte sitzt, aber allen +menschenfreundlichen Dingen mit der Kraft seiner unabhängigen und +kühnen Natur zugewandt blieb; der will den Jakob nachher in die Lehre +nehmen. Vorläufig aber hat er von all den kläglichen Nöten gehört, +in denen der berühmte Verfasser von Lienhard und Gertrud immer noch +lebt, und setzt ihm hartnäckig zu, eine Liste seiner Schulden und +Verpflichtungen aufzustellen. Es wird eine quälende Stunde für Heinrich +Pestalozzi, in dem blitzsauberen Kontor und vor dem schneeweißen +Halstuch dieses Kaufmanns seine verzwickte Lage zu offenbaren; auch +vermag er aus der Erinnerung unmöglich durch den Urwald seiner +Bedrängnisse hindurch zu kommen. Er weicht ihm schließlich aus mit dem +Verspruch, ein genaues Verzeichnis seiner Güter und ihrer Belastung +aufzuschreiben;<span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span> aber der Kaufmann ist nicht für Ausflüchte: dann wolle +er sich, wenn es ihm recht sei, den Neuhof einmal selber ansehen, und +zwar gleich andern Tags, da er doch in Geschäften nach Zürich müsse!</p> + +<p>So kommt Heinrich Pestalozzi am nächsten Morgen nicht bescheiden +mit der Post aus Basel fort, wie er gedacht hat, sondern in dem +blitzblanken Reisewagen des Kaufmanns Battier mit zwei Apfelschimmeln, +die den Postwagen schellenklingelnd überholen und auch weiterhin nicht +wie die Postgäule bei jeder Steigung aus dem Trab fallen. Mein Leben +hat zwei Straßen, sagt er seinem unternehmenden Begleiter, als er +Stück für Stück der wohlbekannten Landschaft flinker als sonst nahen +sieht: auf einer bin ich von Zürich gekommen und die andre bringt +mich zeitweils nach Basel; es will mir scheinen, daß die Basler mir +allmählich geläufiger wird! Das ließe sich ändern, sagt Battier und +legt ihm von hinten — als ob er ihn umarmen wolle — die Hand auf die +Schulter: Wenn Sie selber nach Basel zögen, wäre es wieder nur die eine +Straße, auf der Sie gekommen sind, und zu Ihrem Sohn hätten Sie es +näher!</p> + +<p>Es zeigt sich bald, daß dies nicht nur eine Augenblicksrede war; denn +als der Kaufherr noch am selben Nachmittag stundenlang unermüdlich +gewesen ist, jeden Acker in Augenschein zu nehmen, mit vielen Scherzen, +als ob das alles nur ein Spaß dem schönen Wetter zuliebe wäre, und +als sie danach bei einem Glas Landwein in der Stube sitzen, holt er +aus seiner Tasche ein Bündel Papiere heraus, die längst schon in +der saubersten Ordnung enthalten, was er soeben gesehen hat: jeden<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> +Acker nach seinem Tageswert abgeschätzt, und daneben das Verzeichnis +aller noch ungelöschten Schulden und Verbindlichkeiten in einer +Vollständigkeit, daß Heinrich Pestalozzi erstaunt und erschrocken +zugleich ist; denn wenn es vor den Augen eines nicht einmal übel +gesinnten Geschäftsmannes so mit ihm steht, brauchte nur das Soll mit +dem Haben vertauscht zu werden und die Rechnung ginge so auf, daß +er in der Mitte mit nichts übrig bliebe. Er muß an den Bankier aus +dem Geschwundenen Schwert in Zürich denken, der damals auch so im +Handumdrehen seinen Besitz beaugenscheinigte; nur daß der Basler sich +den Bericht des Bedienten anscheinend schon vorher verschafft hat. Aber +dann kommt statt der Enttäuschung von damals die Überraschung: das sei +der Vermögensstand von heute; aber wie die Felder ständen und wie sie +durch resolute Behandlung werden könnten, in dieser Differenz läge ein +möglicher Zukunftsgewinn für einen praktischen Mann, der den Neuhof +heute zu dem gültigen Satz übernähme. Dieser Käufer wolle er selber +sein und ihm also schon jetzt die Zinsen des zukünftigen Wertes als +eine Rente zahlen, die ihn und die Seinen mit einem Schlag sorgenlos +mache und ihm erlaube, ungehindert seiner Schriftstellerei zu leben!</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi spürt die herzliche Absicht in dem Vorschlag; er +sieht, wie der Mann glüht, ihm wohlzutun: aber er ist den schmerzlichen +Blick noch nicht los, mit dem er seinen Knaben in der Franzosenstadt +im Elsaß gelassen hat. Es ist ein blauer Himmel, der sich da nach +Gewitter und Nebelschwaden auftut; nur<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> würde er seinem Sohn das +Erbe ableben, wenn er den Vorschlag annähme! Auch wäre es für ihn +selber ein Verrat an seinen Plänen, die er heimlich viel ernsthafter +trägt, als der Basler ahnen kann, der schließlich wie die andern auch +nur den Schriftsteller in ihm sieht. Er nimmt die angebotene Frist +bis zur Rückkehr aus Zürich an, lässt den Kaufmann mit fröhlichem +Peitschenknall gegen Abend nach Baden fahren und steht winkend an der +Straße. Aber als Battier nach drei Tagen wiederkommt, ist er mit Anna +tapfer entschlossen, nicht die verlockende Fahnenflucht zu machen, +sondern nach soviel überstandenen Bedrängnissen auszuharren und, sei es +selbst durch bittere Nöte, dem Sohn das Hoferbe zu erhalten.</p> + +<p>Battier nimmt die Absage seines edel gesinnten Vorschlags zunächst als +Eigensinn, und er sagt das auch in der ersten Verstimmung, sodaß es +diesmal einen unbewinkten Abschied gibt. Aber schon nach drei Tagen ist +ein fröhlicher Brief von ihm da, als ob nichts anderes im Vorschlag +gewesen wäre: er wolle die drängenden Schulden auf sich nehmen ohne +Kauf und Verzinsung, nur gegen eine bestimmte Anerkennungsgebühr. Jetzt +braucht es also nur, sagt die Lisabeth, der er den Brief zeigt, daß ich +fleißig bin und daß der Herr Pestalozzi nicht über jeden Bettler mit +einem Gulden herfällt!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>60.</h3> +</div> + +<p>Unterdessen geht Heinrich Pestalozzi schon gegen die Vierzig; es +kann ihm geschehen, daß er wie ein uralter Rabe dasitzt und über die +Trümmerfelder seiner Mannesjahre<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span> wehmütig in die ferne Jugend denkt. +Die erste Neugier um den Einsiedler auf Neuhof hat sich längst gelegt, +und es ist selten, daß ein Wanderer oder gar ein Wagen den Weg zu ihm +aufs Birrfeld findet. Solange der Knabe noch dagewesen ist mit seinen +Spielen und Gesprächen, hat die Einsamkeit nur zum Besuch kommen +dürfen; nun wohnt sie in seiner verlassenen Kammer und macht sich +täglich breiter im Haus. Die einzige Verbindung mit den Vorfällen der +Welt besorgt die Schaffhauser Zeitung, die Heinrich Pestalozzi Samstags +im Gasthof zum Sternen in Brugg liest. Da ihm der Weg dahin allmählich +zu mühsam wird, namentlich bei schlechtem Wetter, hat er sich angewöhnt +zu reiten. Sein struppiges Pferdchen ist, wie die Bauern sagen, genau +solch eine Vogelscheuche wie die Pestilenz selber, und da er immer +noch die Gewohnheit seiner Jugend hat, das Tier mit dem Zügel im Trab +zu halten, gibt er einen merkwürdigen Reiter ab, dem die vornehmen +Kurgäste aus Baden oder Schinznach mit spöttischem Vergnügen begegnen.</p> + +<p>Als er so eines Samstags sein Pferd am Sternen angebunden hat und +drinnen bei einem Kirschwasser die Schaffhauser Zeitung liest, ist ein +Fremder da, der ihn ungeduldig abwartet, ihn dann aber klug in ein +Gespräch verwickelt, daß Heinrich Pestalozzi bald merkt, einen Mann +von Kenntnissen vor sich zu haben, der auch seine Schriften und Taten +genau kennt, obwohl er sonst wie ein Handelsmann aussieht. Ehe er noch +eine Absicht des Mannes merkt, hat der ihm beigebracht, daß seine wie +alle ähnlichen Mißerfolge nur von der<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Vereinsamung der einzelnen +Menschenfreunde kämen, die wie die Prediger in der Wüste lebten und auf +die zufälligen Bekanntschaften angewiesen wären. Wenn die sich etwa an +den Jesuiten ein Beispiel nehmen und sich zu einer Gemeinschaft der +Heiligen zusammen tun wollten, würde der Einzelne mit einem Schlag eine +Macht bedeuten. Nur dürfe es keine öffentliche Gesellschaft mit dem +Ehrgeiz der Führer und der Scheu der einzelnen Mitglieder sein: Wie +zum Beispiel der Geheimorden der Illuminaten Hunderte von Mitgliedern +hätte, deren keins das andere persönlich kenne, weil jedes nur mit +einem selbstgewählten Namen geführt würde, aber unter diesem Decknamen +mit jedem einzelnen korrespondieren könne, und zwar mit vermögenden und +hochstehenden Persönlichkeiten.</p> + +<p>Das Gespräch dauert bis in die Dunkelheit, und Heinrich Pestalozzi +hätte es gern noch fortgesetzt, so beglückt ihn diese geheimnisvolle +Möglichkeit, seine Ideen bei Ministern und Fürsten anbringen zu können. +Aber der Fremde, der seinen Stand und Namen nicht einmal andeutet, muß +mit der Post nach Baden zurück, von wo er gekommen ist. Er sagt ihm +noch, daß eine Nachricht von Augsburg kommen würde, die er an die selbe +Stelle beantworten möge, und läßt ihn in einem Schwall von Hoffnungen +zurück, mit denen er nachher in einem gespenstischen Galopp durchs +nächtliche Birrfeld reitet.</p> + +<p>Durch diese Begegnung ist der Docht seiner Pläne wieder ins Glimmen +gebracht; tiefer als jeder andere glaubt er die Not des Volkes zu +kennen; während die Wohltätigkeit vergeblich an den bösesten Löchern +flickt<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> und, wie er sagt, die Gerechtigkeit in der Mistgrube der Gnade +verscharrt, hält er die Menschenbildung als Heilmittel in der Hand. +Er hat von dem Herzog von Württemberg gehört, der mit den Seinen als +einfacher Landmann lebt; nun spürte er in der Rede des seltsamen +Fremden einen Hauch dieses Geistes aus Deutschland herüber wehen, +und als die angekündigte Schrift aus Augsburg kommt, tritt er mit +weitgreifenden Hoffnungen in den Bund der Illuminaten ein, obwohl ihm +die Geheimniskrämerei daran von Anfang an mißbehagt.</p> + +<p>Er legt sich nach dem sagenhaften König der Angelsachsen den Namen +Alfred zu und ist mit fiebrigem Eifer dabei, ein Memorial nach dem +andern in den namenlosen Bereich des Ordens hineinzusenden, wie ein +geschäftiger Apotheker sein Heilmittel anpreisend. Es gelingt ihm auch +bald, über seine Vorschläge zur Menschenbildung mit einflußreichen +Persönlichkeiten in einen direkten Briefwechsel zu kommen, unter denen +der Herzog von Toskana und Graf Zinzendorf, der Minister Josefs II. in +Wien, die wichtigsten sind. Von allen Zeiten seines Lebens ist diese +nun die seltsamste, wo er sich in der bäuerlichen Verborgenheit des +Neuhofs allmählich seinen Landsleuten aus dem Augenkreis verschwinden +und den Ruhm seiner Schriftstellerei nach jedem neuen Buch mehr +versiegen sieht, während er mit Ungestüm an das Gewissen von Ministern +und Fürsten klopft. Den ersten Teil von Lienhard und Gertrud hat er +noch im Angesicht des Birrfeldes geschrieben, und die Abendstunden +von Christoph und Else haben als Katechismus in die Strohhütten +gesollt: nun wachsen<span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span> sich die beiden letzten Bände von Lienhard und +Gertrud immer mehr in Gesetzesvorschläge hinein; aus dem Ungetüm der +Wirtshäuser wird das Ungetüm der Verwahrlosung überhaupt, und an die +Regierenden in Europa geht sein Aufruf, es mit dem Heilmittel der +allgemeinen Menschenbildung zu bekämpfen.</p> + +<p>Er ist acht Jahre älter geworden seit dem ersten Band, als er den +vierten hinaussendet, und er stapft schon mit einem Fuß auf die +Fünfziger zu; die Straßen nach Basel und Zürich geht er nun gleich +wenig, wohl aber studiert er auf der Karte die Reise nach Wien, wo +Zinzendorf sich immer mehr für seine Dinge erwärmt und wo der Glanz +des Kaisers seine Hoffnungen anlockt. Für die Bauern im Birrfeld +bleibt er die Pestilenz, die sie nun schon wie etwas Zugehöriges über +die Straßen reiten oder Sonntags in der Kirche nach seiner Gewohnheit +am Halstuchzipfel lutschen sehen; für die weitere Heimat ist er die +Vogelscheuche seines Ruhms geworden, die immer noch den unnützen +Phantastereien seiner Jugend nachhängt und sich den letzten Ausweg zum +Wohlstand als Schriftsteller mit dem angeborenen Ungeschick verbastelt +hat.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>61.</h3> +</div> + +<p>Lisabeth, die Magd, ist in den Jahren fleißig und sparsam gewesen, wie +sie Heinrich Pestalozzi versprochen hat; sie hält die verkleinerte +Wirtschaft über Wasser, bis der Jakob sie übernehmen kann. Der ist +aus Mülhausen durch den tapfer sorgenden Battier in seine Handlung +in Basel übernommen worden, um einmal<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> besser als sein Vater für die +geschäftliche Führung gerüstet zu sein. Doch läßt ihn seine Krankheit +nicht mehr los; als er wieder auf den Neuhof kommt, ist es auf den +ersten Blick ein großer und starker Jüngling, aber für Heinrich +Pestalozzi stehen ihm die Spuren seines Zustandes zu grausam im +Gesicht, als daß er seiner froh werden könnte.</p> + +<p>Er ist ein Vierteljahr da, als der Vater Annas in seinem fröhlichen +Greisentum kränkelt; der Tod nimmt ihn weg, bevor ein längeres Siechtum +ihn mißmutig machen könnte. Sie begraben ihn an einem harten Wintertag +hinter dem kleinen Schulhaus in Birr; auch die Brüder Annas sind da, +und einer entäußert sich des gemeinsamen Verdrusses, daß sie nun ihren +Vater, der doch ein Zürcher Bürger und Zunftpfleger gewesen sei, auf +dem bäuerlichen Kirchhof im fremden Aargau begraben müßten, alles +um der Projekte seines Schwiegersohnes willen! Heinrich Pestalozzi +weiß, daß ihn viel mehr die Unstimmigkeiten mit den Söhnen auf den +landfremden Altenteil getrieben haben — wodurch ihm die eigene Mutter +scheu in der Einsamkeit des Roten Gatters geblieben ist — er hört aus +den Worten des Schwagers schon die Entscheidungen heraus, die nachher +kommen sollen, als es gilt, den Rest der Erbschaft aus dem Pflug zu +teilen; denn so fern die Geschwister Schultheß allem stehen, was nach +einem Erbstreit aussehen könnte, so wenig verhehlen sie ihre Besorgnis, +daß auch der letzte Teil Annas in neuen Plänen verschwinden möge. Es +findet sich auch eine Klausel im Testament, und ehe sich Heinrich +Pestalozzi dessen versieht,<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span> ist er in endlose und manchmal hitzige +Verhandlungen verwickelt, in denen sein eigener Sohn den Prozeßgegner +vorstellt. Es wird schließlich ein Pakt gemacht, laut welchem er seinem +minderjährigen Sohn Jakob den Neuhof für sechszehntausend Bernergulden +verkauft; doch erhält er dieses Geld nicht, sondern es werden damit die +Brüder Annas und andere Gläubiger abgelöst.</p> + +<p>Es ist eine klare Regelung, und Heinrich Pestalozzi kann mit dem +Ergebnis zufrieden sein, da es den Neuhof für seinen Sohn sichert, wie +er es selber gewollt hat; auch werden die Beratungen mit dem Respekt +geführt, den man dem berühmten Verfasser von Lienhard und Gertrud +schuldig zu sein glaubt: aber das mildert nur wenig an der Grausamkeit, +mit fünfundvierzig Jahren schon ausgezogen und auf die freiwillige +Unterhaltung durch seinen Sohn gesetzt zu sein! Und bitterer noch +als dieses Ergebnis sind die Bedenken, die dahin führten und die ihn +— so sehr es auch verklausuliert wird — gleich einem Verschwender +entmündigten.</p> + +<p>So bin ich denn lebendig begraben! spottet Heinrich Pestalozzi grausam, +als er seinen Namen unter den Vertrag gesetzt hat und unter dem +Vorwand, in Bern mit dem Herrn von Fellenberg unterhandeln zu müssen, +nicht mit Anna auf den Neuhof zurückgeht. Er kommt an dem Tag nur bis +Kirchberg; denn als er da gegen Abend mit der Post durchfahren will, +erschüttert ihn der Anblick der bekannten Fluren so, daß er aussteigt +und sich in wehmütige Erinnerungen verliert. Es sind mehr als zwei +Jahrzehnte vergangen, seitdem er hier<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> gelernt hat, und da der Vater +Tschiffeli seit zehn Jahren in der Erde liegt, stehen die Felder längst +nicht mehr von ihm bereitet da. Die Krappkultur ist auch hier bis auf +spärliche Reste eingegangen, und wo damals junge Alleen führten, hängen +jetzt vereinzelte Bäume verwildert im roten Laub: Ich bin Landwirt +geworden, sagte er, wie ein Brot in den Backofen sollte; da haben sie +mich vergessen, und ich bin in den Krusten vertrocknet!</p> + +<p>Es fällt ihm ein, wie er hier mit Anna umher gegangen ist, mehr sie den +Leuten, als ihr die Dinge zeigend; und weil sie damals einen Ausflug +nach Burgdorf und seinem ragenden Schloß gemacht haben, läuft er noch +am selben Abend durch den Mondschein dahin. Er kommt erst in der Nacht +an und sieht nur noch im Unterdorf Licht in einer kleinen Wirtschaft, +weil eine Kuh kalbt. Da findet er zwar ein Lager, aber er schläft +nicht bis in die Frühe, und als dann endlich die bleierne Ermüdung auf +seine rastlosen Gedanken gefallen ist, wird er bald wieder aus dem +Morgenschlaf geweckt. Er träumt, daß er noch eine Armenanstalt habe +und sich eifrig mit den Kindern plage; aber wie er wach wird, ist es +die Hintersassenschule nebenan mit ihrem Lärm. Es lockt ihn nachher, +als er mit der Morgensuppe fortgeht, die Schultür zu öffnen und in +den Raum hinein zu sehen, wo immer noch wie damals in der Hausschule +zu Zürich der Lehrer mit einem Stock schreiend in der Klasse herum +wandert. Der Mann bemerkt ihn gleich und läuft unwirsch auf ihn zu: was +er wünsche? Heinrich Pestalozzi sieht an seiner Schürze, daß es ein +Schuhmacher ist, und die Bitterkeit schießt ihm auf, daß in der Schule<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span> +das gleiche Elend geblieben ist durch vier Jahrzehnte: Ich wünsche, daß +dies anders werden möchte! sagt er und geht fort, während der verdutzte +Schulmeister in der Tür steht und dem Landstreicher nachsieht.</p> + +<p>Von Burgdorf nach Bern sind es fünf Stunden; er braucht den ganzen Tag +dazu. Ich komme doch überall Zu früh, sagt er doppelsinnig zu sich +selber, indem er bald hier, bald dort seinen Einfällen nachgeht und +so schließlich erst gegen Abend vor dem Stadttor steht, bestaubt von +der Straße und auch sonst unansehnlich genug. Zufällig sieht ihn da +der Offizier der Wache, dem er verdächtig scheint; er fragt ihn nach +seinem Namen, den er nicht weiter kennt, und da der Wanderer an seinem +Halstuch lutschend ihm blöd vorkommt, läßt er ihn ohne weiteres als +einen Landstreicher abführen. So kommt Heinrich Pestalozzi statt zu dem +Ratsherrn von Fellenberg ins Fremdenarmenhaus, und seine Stimmung ist +so, daß er sich nicht einmal ungern dahin abführen läßt; es ist ihm +oft genug von den Züricher Freunden als sein sicheres Ziel prophezeit +worden. Meines Besitzes ledig, ohne Amt oder Beruf, auf nichts als auf +die Einfälle meiner Feder gestellt und auch damit längst nicht mehr +willkommen: was bin ich vor ihrer bürgerlichen Ordnung anders als ein +Bettler!</p> + +<p>Als er seine Suppe und nachher ein Bett erhält, die eine wohlschmeckend +und das andere sauber, vergeht sogar seine düstere Stimmung: er findet +sich besser aufgehoben als zur vergangenen Nacht in Burgdorf, und +die Freude, daß für die anwandernden Armen in Bern so gut gesorgt +ist, macht ihn fast fröhlich. Er schläft gut,<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> ißt andern Morgens +in der Frühe wieder seine Suppe und macht sich Freund mit seinen +Leidensgenossen. Ich habe eine Frau, ein Gut und einen Sohn gehabt, es +ist ein Strudel von Sorgen und Aufregungen um mich gewesen, ich bin +berühmt geworden mit einem Buch und wieder vergessen mit einem andern: +aber alles das war mein Leben nicht! Ich hätte arm sein und bleiben +sollen wie einer von diesen; das andere hat mich vom Notwendigen +abgebracht und in tausend Alltäglichkeiten verstrickt, die nicht die +Atemzüge wert waren, die ich dran wandte!</p> + +<p>Er bleibt noch bis gegen Mittag da; erst, als er nachher eine Weile +spazieren will, merkt er, daß sie ihn gefangen halten, und schickt dem +Herrn von Fellenberg einen Zettel. Es dauert nicht eine halbe Stunde, +so kommt der Ratsherr selber angeritten, und der Aufseher kann sich +nicht genug verwundern, wie er vom Pferd springt und dem angeblichen +Landstreicher um den Hals fällt. Hernach scheint er gereizt genug, +sie alle um das Versehen anzufahren; aber Heinrich Pestalozzi legt +ihm sogleich die Hand auf den Arm und lächelt ihn listig an mit allen +Runzeln seines Gesichtes: Ich wollte doch nur sehen, wie ihr mit Betten +und Suppen für die Landarmen sorgt!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>62.</h3> +</div> + +<p>Erst als er mit dem Ratsherrn, der sein Pferd am Zügel führt, durch +die Straßen von Bern geht, gesteht sich Heinrich Pestalozzi den Zweck +seiner Reise ein: Fellenberg hat ihn dem Grafen Zinzendorf empfohlen; +nun<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> will er seinen Rat und andere Weisungen für Wien holen, denn +nichts anderes als eine Wanderung dahin hat er im Sinn. In den Neuhof +zurückzukehren, scheint seinem Trotz unmöglich, und sonst gibt es in +der Schweiz nichts mehr für ihn zu tun; in Zürich, Basel und Bern, +überall ist er der lästige Projektemacher. Zinzendorf war ziemlich +der einzige, der ihm über den vierten Teil von Lienhard und Gertrud +begeistert geschrieben hat; wenn er ihm unter die Augen träte — er +hat sich den Augenblick hundertmal ausgemalt — könnte es garnicht +fehlen, daß der Minister auch eine Stelle fände, sein Heilmittel der +allgemeinen Menschenbildung zu versuchen!</p> + +<p>Fellenberg scheint diesen Reiseeinfall zunächst für einen Witz zu +halten; er fitzt ein paarmal mit der Reitgerte durch die Luft und lacht +dazu, als sie nachher miteinander auf einer Fensterbank sitzen: Das +wäre allerdings keine üble Szene, wenn er in Wien als Wunderdoktor +aufträte! Aber als Heinrich Pestalozzi mit einem Freudenruf aufspringt +und redend ins Zimmer läuft, wie wenn er schon vor dem Grafen stände, +wobei er sich freilich in einen Teppich verfängt und stolpert, fällt +der Ratsherr ihm in den Arm, setzt sich aber gleich hin, ingrimmig +lachend und den Kopf abermals schüttelnd wie einer, der mit seinem +Verstande zu Ende ist. Je mehr sich Heinrich Pestalozzi in die +Einzelheiten seines phantastischen Plans hinein redet — wie er als +dramatischer Dichter versuchen will, dem ganzen Hof ins Gewissen zu +reden — je schweigsamer wird der andere; bis beide schweigen und +Fellenberg sich mit aller Gewandtheit seiner Diplomatie daran gibt, +das Schaukelbrett wegzuziehen,<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span> darauf die Pläne seines Gastes gebaut +sind: Der Wiener Hof und der Graf Zinzendorf hätten zur Zeit andere +Dinge zu bedenken; der Kaiser Josef, durch dessen Eifer alle Mühlen +in Österreich so eifrig am Mahlen gewesen wären, läge sterbenskrank +darnieder, verbittert am Widerstand seiner Zeit. Er würde ihn wohl kaum +noch lebend finden, wenn er in Wien ankäme; und so große Hoffnungen +auch auf seinen Bruder Leopold, den Herzog von Toskana, als seinen +Nachfolger zu setzen wären — Heinrich Pestalozzi habe ihm ja immediat +schreiben dürfen und besitze sicher einen Gönner in ihm — er würde den +Staat in einer Verfassung finden, die fürs erste auf andere Dinge als +noch mehr Reformen ginge! Und was er sich sonst unter Wien und seinem +Hof vorstelle? Es könne ihm passieren, daß er, einmal versehentlich +ins Armenhaus gebracht, nicht so leicht wieder herauskäme wie hier. +Jedenfalls würde ihn der Graf Zinzendorf kaum selber herausholen!</p> + +<p>Es hilft nichts, daß Heinrich Pestalozzi seine Gegengründe mit den +Armen heran bringt, diese Dinge kennt der Ratsherr besser als er; und +da der ihm weder in Bern noch sonst in der Schweiz einen Platz für +seine Experimente weiß, tritt er nach drei Tagen, gedemütigter als +er gekommen ist — trotz aller ehrenden Sorge des Ratsherrn — seine +Rückreise nach dem Neuhof an. Da es sein muß, vermag er den Weg nicht +durch eine neuerliche Wanderung in die Länge zu ziehen; er fährt mit +der Post und langt nach einer durchrumpelten Tagesfahrt nachmittags in +Lenzburg an, von da über den Berg zu laufen. Er will sich im »Löwen« +noch stärken für<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> den Marsch, als ihm sein Sohn aus der Tür mit einem +Mädchen entgegentritt, das er nach der ersten Überraschung als eine +Brugger Tochter namens Fröhlich erkennt, die auch schon einigemal +im Neuhof gewesen ist. Die beiden haben sich, wie sie abwechselnd +errötend sagen, zufällig hier in Lenzburg auf dem Markt getroffen und +wollen mit ihren Eltern im Wagen nach Brugg heimkehren. Da er ablehnt, +mitzufahren, und der Wagen schon wartet, treten sie garnicht mehr mit +ihm ein; so kommt er trotz der Begegnung allein mit dem Abend ins +Birrfeld hinunter, nun völlig sicher, daß kein Platz mehr für ihn und +seine Pläne auf dem Neuhof ist.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>63.</h3> +</div> + +<p>Es geschieht so, wie Fellenberg prophezeit hat; nach einigen Monaten +liest Heinrich Pestalozzi in der Schaffhauser Zeitung, daß der +edle Kaiser Josef im neunundfünfzigsten Jahr seines Lebens und im +fünfundzwanzigsten Jahr seiner Regierung gebrochenen Herzens gestorben +sei. Damit ist der Rest seiner heimlichen Hoffnungen allein auf seinen +Nachfolger Leopold gestellt, und im Herbst wagt er es, ihm mit einer +Schrift durch den Grafen Zinzendorf seine Dienste anzubieten. Aber +auch damit hat Fellenberg recht gehabt, der Brief bringt ihm nie eine +Antwort ein, und während er nach Trostgründen sucht, stirbt der neue +Kaiser seinem Bruder rasch hinterher.</p> + +<p>Unterdessen ihm die Weltgeschichte diese Striche durch seine +phantastische Rechnung macht, beeilt sich sein Sohn Jakob mit der +Anna Magdalena Fröhlich von Brugg;<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> im einundzwanzigsten Jahr macht +er Hochzeit, und seitdem sitzt Heinrich Pestalozzi wirklich auf dem +Altenteil im Neuhof. Seine Frau ist nun fast immer bei ihrer Freundin +auf Schloß Hallwyl, und ihn treibt seine einsame Ruhelosigkeit nach +Zürich, wo er den Rest seiner Freunde gelegentlich um neue vermehrt. +Noch immer ist es die gelobte Stadt schwärmerischer Jünglinge, +denen die Lage am See, der Ausblick ins Gebirge, dazu die gastliche +Geselligkeit ihrer reichgewordenen Bürger und nicht zuletzt das durch +Bodmer — den auch nun längst gestorbenen — begründete literarische +Leben einen Zauber von freier Schönheit vortäuschen. Obwohl seine +Schriften weder im Einklang mit dem Wesen der Stadt noch mit ihrem Ruf +stehen, ist der Verfasser von Lienhard und Gertrud doch für manchen der +fremden Jünglinge eine Bekanntschaft, die ihnen zugehörig scheint; und +das Angenehmste, was Heinrich Pestalozzi von seinem Ruhm erlebt, wird +ihm von ihnen gelegentlich in Zürich zuteil.</p> + +<p>So trifft er einmal einen jungen Holsteiner namens Nicolovius, der +mit dem Grafen Stolberg nach Zürich gekommen ist und sich — wie er +Heinrich Pestalozzi sagt — seit Beginn der Reise darauf gefreut hat, +ihn zu sehen. Die norddeutsche Kühle des jungen Mannes entspricht +wenig dieser warmen Versicherung, und er erwartet eigentlich nicht +viel, als er ihn einlädt, ihn einmal auf dem Neuhof zu besuchen. Wie +er dann aber kommt, ist er ohne seinen Grafen viel weniger steif, und +als sie erst einen Spaziergang miteinander machen übers Birrfeld und +Müligen nach der Reuß hinunter, erschließt<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> er ihm bald sein Herz. Der +Jüngling hat all seine Schriften mit glühendem Eifer gelesen und den +Plan seines eigenen Lebens darauf gebaut. So erlebt Heinrich Pestalozzi +ganz unvermutet an ihm das Glück einer wirklichen Jüngerschaft; in der +Gedrücktheit seiner Lage wird das ein berauschendes Erlebnis für ihn, +und wie er trotz Iselin und Battier niemals zu einem der Schweizer +Freunde hat sprechen dürfen, so öffnet er diesem Jüngling sein Herz. +Er kommt fröhlicher als seit langem heim, und darum fällt ihm die +Traurigkeit so schneidend ins Herz, als um einer Besorgung willen sein +Sohn ins Zimmer tritt und die beiden nebeneinander stehen, ziemlich +gleich groß im Bau, aber der eine stumpf und von der Verbitterung +seiner Krankheit mißmutig, trotzdem er das fröhlichste Frauenzimmer +der Welt sein eigen nennt, der andere hell, klug und voll Schwung, +ein junger Bach, in den er alle Trübheit seines Alters gießen könnte, +ohne die gläserne Helligkeit zu trüben. Ach wäre es mein Sohn! schreit +eine Stimme in ihm auf, wieviel leichter stände ich in der Welt, einen +solchen Erben meiner Wünsche für die Menschheit zu haben! Und um nicht +weinend über diesen Zwiespalt dazustehen, läuft er hinaus gegen den +Wald, mit stürzenden Tränen wie in seiner Jugend.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>64.</h3> +</div> + +<p>Nicht lange danach macht Heinrich Pestalozzi die erste größere Reise +seines Lebens; die Tante Weber in Leipzig ist gestorben, und weil er +am ehesten abkömmlich ist — wie ihm der Vetter Hotze in Richterswyl +nicht<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> ohne Spott beibringt — reist er als Erbbevollmächtigter seiner +mütterlichen Familie hin. Er reist gern, weil er sich freut, das Bärbel +wiederzusehen, das ihm in den fünfzehn Jahren als Frau Groß nicht +untreu geworden ist und aus seinen Briefen von allem Schicksal weiß. +Dahinter aber lockt die Hoffnung, daß er nun selber in dieses große +Deutschland fährt, aus dem ihm immer noch das stärkste Echo gekommen +ist. Vielleicht, daß er doch einen Reichsfürsten für seine Pläne findet!</p> + +<p>Die Fahrt geht noch im nassen März über Schaffhausen, Ulm, Nürnberg, +Bamberg; aber diese Städte sind nur die größeren Nachtpausen in der +endlosen Fahrt, die durch ein Gewirr von waldigen Hügeln, Wiesentälern +und Ackerfeldern unaufhörlich über neue Grenzen in immer fremdere +Gebiete führt. Wie es heißt, sind deutsche Heere nach Frankreich +gezogen, den gefangenen König zu befreien, und überall begegnet +er den Spuren dieses Feldzugs, sodaß er froh ist, nach einer fast +vierzehntägigen Reise endlich in Leipzig zu sein. Er findet seine +Schwester, die als Mädchen fortging, als eine stattliche Matrone +wieder an der Seite eines Mannes, der vom ersten bis zum letzten +Augenblick des Tages keinen andern Gedanken hat als sein Geschäft. Die +Förmlichkeiten der Erbschaft denkt er bald zu erledigen und danach +den eigenen Sachen nachzugehen; aber eine Eingabe zieht die andere +nach sich und ein Anwalt den andern; schon nach acht Tagen sitzt er +vor einem Berg von Akten, und jedes Papier hat die Sache schwieriger +gemacht. Dabei ist er ein Schweizer unter lauter Sachsen, und so +komisch er ihre Sprache findet,<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> sie können das Lachen nicht verhalten +vor der seinen. Selbst wenn er jemand für seine Sache eifrig gemacht +hat, zerstört ein Gespräch mehr, als drei Briefe Nutzen brachten. Ist +er in der Schweiz mit seinen Taten der Narr der Leute gewesen, so wird +er es hier mit seiner Erscheinung; er vermag schließlich nur noch +ängstlich über die Straßen zu gehen, weil immer wieder die Buben mit +Gelächter hinter ihm drein laufen.</p> + +<p>Sein geheimer Plan, nach Weimar oder sonst an einen Fürstenhof zu +fahren, verdrückt sich dadurch; verschüchtert und ingrimmig über die +langwierigen Termine und die Ergebnislosigkeit seiner Reise fängt +er bald an, Heimweh nach seiner Schweiz zu kriegen, und eher, als +er gedacht hat, ist er auf der Rückfahrt. Nicht einem Menschen hat +er ernstlich von seinen Dingen sprechen können, aber mit seinen +Luftschlössern im Ausland ist er trotzdem fertig. Er hat gesehen, +daß Zürich und Leipzig für ihn dasselbe ist; hier wie dort gibt es +Stadtbürger, deren Namen einem gefüllten Geldsack den Klang verdankt; +hier wie dort sind diejenigen weiße Raben, die mehr als ihren Vorteil +wollen, nur daß er die weißen Raben daheim allmählich kennt und zu +beurteilen weiß, während er dort nicht einmal zu einer oberflächlichen +Kenntnis kommt! Auch auf der Heimreise sieht er nichts von den Ländern, +durch die sein Postwagen fährt. Überall Postmeister, Stadtsoldaten +und Zöllner, Schlagbäume und mürrisch geöffnete Stadttore. Ohne ein +eigentliches Erlebnis kommt er gedemütigt wieder an und nicht geneigt, +mehr als seinen geschäftlichen Bericht von der Reise zu geben. Daß er<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> +zweimal dicht am Rheinfall vorüber gefahren ist, erfährt er erst, als +man ihn danach fragt.</p> + +<p>Das einzige, was er mitbringt, sind die ungeheuren Vorgänge in Paris, +von denen täglich neue Blutberichte nach Leipzig kamen. Noch lebt der +König, aber schon weiß man, daß er kaum mehr als ein Gefangener der +Empörer ist. Auch sonst scheint die Weltordnung einzustürzen; das Elend +und die Verzweiflung der Armut stehen auf, wie Heinrich Pestalozzi +es längst befürchtete, und da er das Heilmittel angepriesen hat, die +Regierungen mit ihren Völkern übereins zu bringen, kommt er sich wie +ein Prophet vor, auf den niemand hören wollte. Aber als bis in den +Hochsommer hinein sich die Schreckensnachrichten häufen, sodaß es +scheint, als ob Paris den Untergang Jerusalems noch einmal erleben +solle, bekommt er die Nachricht, daß ihm die Nationalversammlung +der Empörer in Paris das Ehrenbürgerrecht des französischen Volkes +verliehen habe. Achtzehn Ausländern ist es zugesprochen worden, und +neben den weltberühmten Namen Washington, Klopstock und Schiller sieht +er den seinigen geehrt, wie er es niemals geträumt hätte.</p> + +<p>Er ist wieder einmal mit Hans Heinrich Füeßli zusammen — den sie +unterdessen in Zürich auf den Lehrstuhl für vaterländische Geschichte +am Collegium Carolinum berufen haben — als die Nachricht eintrifft: +Das ist was Rechtes, spottet der, um seine Freude zu verbergen, +Ehrenbürger einer Räuber- und Mörderbande zu sein! Aber in seinem +Kopf haben alle Gedanken schon eine neue Windrichtung angenommen:<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> +Wo Heinrich Pestalozzi Ehrenbürger wird, sagt er fest, und bleibt in +seiner Gläubigkeit allem Hochmut fern, ist etwas Gutes im Wege! Für +eine Räuberbande könnten sie landauf, landab schon andere Leute finden, +auch in Zürich.</p> + +<p>Trotzdem, ein Ehrenbürger des Aufruhrs bleibst du, sagt Füeßli nun +gleichfalls ernst und setzt seinen Hut auf, weil er doch gehen will! +Da gibt ihm Heinrich Pestalozzi die Hand, und jedes Rünzelchen seines +braunen Gesichts scheint einzeln zu lächeln: Du meinst, weil ich selber +ein Aufrührer sei? Ich hätte freilich gern euren Brei gerührt, er war +zu zäh für meine Holzlöffel, die mir nacheinander zerbrochen sind. Was +gilts, die haben eiserne Löffel, und ihr werdet daraus essen müssen!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>65.</h3> +</div> + +<p>Seit diesem Tag ist ein Schein in der Welt, der Heinrich Pestalozzi +das Blut unruhig macht; er fühlt, daß es die Sache der Menschheit +ist, die in Paris verhandelt wird, und soviel Greuel da mit Greueln +totgeschlagen werden: er wartet aus der wilden Mordnacht getrost auf +ein Morgenlicht, das auch seinen Dingen scheinen soll. Für ihn bedeutet +die Verkündigung der Menschenrechte auch die der Menschenpflichten; +während die Franzosen ihrem König den Kopf abschlagen, schreibt er in +einer glühenden Schrift sein klares »Ja oder Nein« zu dem Aufruhr der +verwahrlosten Menschennatur; und weil er sieht, wie nun das Christentum +von denen zur Hilfe gerufen wird, die es bisher nicht brauchten, +scheut er sich nicht, die Übereinstimmung<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span> der christlichen Lehre mit +den sozialen Forderungen der Revolution in einer zweiten Flugschrift +darzulegen. Aber er findet keinen Drucker in der Schweiz für diese +Kühnheiten, und seine Freunde sind erlöst, daß er sie ins Schubfach +legt.</p> + +<p>Indessen Heinrich Pestalozzi so die flackernden Brände der +Zeitgeschichte in den Spiegel seiner Ideen nimmt, sitzt er selber noch +überflüssig auf dem Neuhof im Altenteil; so kommt ihm eine Anfrage +seines Vetters, des Doktors Hotze, recht: Der will eine längere Reise +nach Deutschland machen, wo seine Tochter einen Herrn von Neufville +in Frankfurt heiratet, und er soll ihm über den Winter das Haus in +Richterswyl hüten. Er sieht sich als stellvertretender Hausherr in die +Sorglosigkeit eines wohlhabenden Hauses am See verpflanzt, den Freunden +in Zürich mit einer nicht zu umständlichen Schiffahrt erreichbar und +mitten in einer Landschaft, die ihn mit den letzten Gesängen der +Weinernte umfängt und gegen das rauhe Birrfeld ein einziger Garten ist. +Zum erstenmal in seinem unrastigen Mannesleben weicht die Täglichkeit +der Sorgen von ihm zurück, und während er in den ersten Tagen sein +zeitweises Besitztum abschreitet, gegen den See hinunter und bis an den +Wald hinauf, kommt es ihm vor, als habe er in seinem Leben noch keinen +Spaziergang gemacht.</p> + +<p>Wie er nun eines Tages unten am See sitzt und sich von der letzten +Wärme der Herbstsonne durchschauern läßt — es ist dieselbe Stelle, wo +ihn die Mutter damals auf den Armen ins Haus holte — muß er an den +Knaben im Federhut denken, der es unterdessen bei<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> den Kaiserlichen +zum General gebracht hat. Wo sind meine Taten? fragt er da in die +blausonnige Seewelt hinaus, und alles, was er an großen Dingen +versuchte, erst mit seinen mißlungenen Gründungen, danach mit seiner +Feder, scheint ihm ärmlich und zerstreut. Wohl hat er mit Lienhard +und Gertrud einen Plan aufgebaut, wie der verwahrlosten Menschheit +zu helfen wäre, aber der Plan ist auf das Herrenrecht gegründet +gewesen, das er nun überall wanken sieht. Er ist nicht auf den Grund +der Menschennatur gegangen, er hat seine Vorschläge an Verhältnisse +geklebt, die sich vor der großen Abrechnung, die nun kommt, nicht +halten können, und so bröckeln sie mit ihnen hin. Nichts scheint ihm +fest in dieser Zeit, als der Gedanke der menschlichen Verpflichtung, +der sich im Schicksal der Tage aufringt und aus dem allein die Ordnung +der Zukunft kommen kann.</p> + +<p>Er sitzt noch mitten in dieser Rechnung, als er drei Männer vom Haus +herunter an den See kommen sieht, von einer Magd zu ihm gewiesen: +Landfremde, die er aus Zürich kennt, zwei Deutsche und der dänische +Dichter Baggesen; der eine Deutsche aber, namens Fichte, hat die +Tochter einer Freundin in Zürich geheiratet und ist ihm dadurch wie +durch den Steilflug seiner Gedanken vertrauter geworden. Wie die +drei gerade in dieser Stunde daher kommen, wird ihm alttestamentlich +zumut, so wohl tut ihm ihre Gegenwart. Noch sind sie keine Stunde +da, als er schon tief im Gespräch ist, wie nichts nötiger sei als +eine Nachforschung über den Gang der Natur in der Entwicklung des +Menschengeschlechts. Die Abrechnung mit der alten Zeit ist da, und +allein aus der<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> Natur kann die Formel für die neue gefunden werden. Er +hat ein Gefühl, als ob ihm in der Tiefe ein Strom aufgebrochen wäre, +daraus seine Rede zur Sprache des Lebens selber würde. Und da es Männer +sind, die wie er diese Zeit im Innersten erleben, die nicht wie die +Regierenden und Besitzenden händeringend um die bedrohte Macht und +ihren Reichtum dastehen, sondern in sich die Seele und das Schicksal +ihres Volkes und der Menschheit fühlen, spricht er nicht rauben Ohren. +Der Tag geht hin und die halbe Nacht; und obwohl sie kaum Wein dazu +trinken, ist ein Rausch in ihnen, daß sie sich aller Dinge kraft ihres +Geistes mächtig fühlen.</p> + +<p>Als gegen Mitternacht der Mond aufgeht, treten sie noch einmal hinaus, +wo eine alte Linde ihre Äste über den Hof senkt. Das ist unser +Freiheitsbaum, sagt Heinrich Pestalozzi und faßt die Hände seiner +Nachbarn: seine Wurzeln im Saft der Erde halten die Krone im Wind; +kein dürrer Steckling, sondern eine gewachsene Kreatur! Ehe sie es +selber merken, hat sich auch Fichte als der vierte eingefaßt, sodaß +sie in einem Ring um den Lindenbaum dastehen. Aber der Stamm ist so +dick in den Wurzeln, daß sie sich alle vier ihm dicht zuneigen müssen +und mehr in einer Umarmung als zum Reigen dastehen: Es ist nichts +mit dem Tanzen, sagt Heinrich Pestalozzi, jetzt weiß ich, warum die +Freiheitsbäume der Franzosen so dünn sind!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>66.</h3> +</div> + +<p>Danach fühlt Heinrich Pestalozzi, wie alles in seinem Leben der +Auflösung entgegengeht. Nach dem Winter<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> in Richterswyl findet er +sich nicht mehr in den Neuhof zurück; wohl hält er sich auch danach +noch wochenlang dort auf, aber seitdem seinem Sohn eine Tochter +Marianne geboren ist, die ihn zum Großvater macht, sitzt et nur noch +wie ein Zuschauer dabei, wenn sie sich abends im Lichtkreis um den +Tisch sammeln — es ist immer noch die Messinglampe, die ihm schon in +Müligen geleuchtet hat und bis auf den Tag das Staatsstück des Hauses +vorstellt. Er ist nun wieder viel und gern bei seiner Mutter, die noch +einmal nach der kleinen Stadt hinübergezogen ist, wo sie mit einer +Aufwärterin in zwei Stuben ihr einsames Wesen hat; denn auch das Babeli +liegt bei St. Leonhard begraben nach seinem tapferen Leben. Sie ist +nun in der Mitte der Siebziger, schlohweiß und eingeschrumpft; doch +weiß sie noch immer, daß sie eine geborene Hotzin ist, und Heinrich +Pestalozzi erfährt manchen Tadel, weil er nicht acht gibt auf ihre +Ordnung und Reputation. Am liebsten hat sie, wenn er vom Bärbel und +seinem Besuch in Leipzig erzählt und wie da alles in den Glanz des +bürgerlichen Lebens gekommen ist, den sie entbehren mußte; es gibt +Fragen, die sie schon hundertmal gestellt hat und deren Antwort sie +doch immer mit der gleichen glücklichen Neugier abwartet. Auch ein paar +dunkle Stellen sind da um den andern Sohn, wo sie den Kopf schüttelt +und am Boden wie auf einer Landkarte den Verschollenen sucht; doch +kennt Heinrich Pestalozzi die Brücken, um sie rasch hinüberzubringen in +die sicheren Umstände ihrer Täglichkeit.</p> + +<p>Eines Tages im März wacht sie nicht mehr auf aus ihrem +Mittagsschläfchen; aber als er sie findet, liegt<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> abgegriffen und +weich, kaum noch wie ein Papier, der letzte Brief ihres Johann Baptista +unter der Schürze, als ob sie ihn auch noch vor dem Tod ängstlich +verstecken wolle.</p> + +<p>Nun stehen wir vorn, sagt Heinrich Pestalozzi zu seiner Frau, als +sie von dem Kirchhof bei St. Anna zurückkommen und abgesondert von +den Leidtragenden in die leere Wohnung der Mutter gehen: wir beide +sollten nun hier wohnen und auf den Herold mit der Sense warten! Aber +Anna Schultheß, die auch schon achtundfünfzigjährig und eine rechte +Großmutter ist, hat in den dreißig Jahren gelernt, daß nichts weniger +als abwarten seine Sache ist: Wer weiß, sagt sie und lächelt ihn mit +der Güte an, die über alles Schicksal ihr edles Teil für ihn geblieben +ist: wer weiß, auf welchen Wegen wir noch gehen und den Herold abholen +müssen!</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span></p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span></p> +<h2 class="nobreak" id="Abend">Abend</h2> +</div> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>67.</h3> +</div> + +<p>Als Heinrich Pestalozzi und seine Frau Anna ein paar Stunden lang still +miteinander in den Stuben geblieben sind, daraus sie morgens seine +Mutter als die letzte von den vier Eltern ihrer Ehe auf den Kirchhof +getragen haben, trennen sich ihre Wege für lange Zeit. Nicht, daß sie +unfriedlich auseinander gingen; ihre Seelen sind selten so im Rätsel +der Vertrautheit gewesen wie an diesem Nachmittag, wo sie im Vorhof +des Todes und also im Allerheiligsten des Lebens ihre Hände und Augen +ineinander legen und das Naheste ihres Lebenskreises, ihr Fleisch +und Blut im Neuhof und dahinter die Herzensfreunde nur noch wie eine +fremde Ferne fühlen. Aber Abmachungen vom Morgen rufen Anna zu ihren +Brüdern im Pflug, wo noch am Abend ein Wagen sie zu einer Freundschaft +abholen soll. Er mag weder zum einen noch zum andern: Es sind deine +Sachen, sagt er, wie meine Mutter allein die meine ist; ich will noch +ein paar Tage ihr Sohn gewesen sein, weil nun der Faden meiner Kindheit +abgeschnitten wurde.</p> + +<p>Es schlägt fünf Uhr, und der Märztag geht rötlich dem Ende zu, als er +sie auf die Straße bringt. Wir sind im Nachmittag, sagt er, und weil +am Morgen und Mittag alles kam, wie es geschehen mußte, wird auch<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span> der +Abend unseres Lebenstages nicht anders sein! Danach geht er hinauf und +sitzt zum Abend schon tief in den Gedanken, die seit Wochen und Monaten +das Selbstgericht seines Daseins sind: »Ich will wissen, was der Gang +meines Lebens, wie es war, aus mir gemacht hat; ich will wissen, was +der Gang des Lebens, wie es ist, aus dem Menschengeschlecht macht!« Das +sind seine Nachforschungen aus Richterswyl, und er verläßt die Stuben +seiner Mutter nicht eher, als bis er die Schrift vollendet hat, an der +er nun schon im dritten Jahr seine Denkkraft versucht. Er schreibt +sie nicht für sich und nicht um seinetwillen, er sieht sich in der +Menschheit und die Menschheit in sich, er will der wirren Zeit einen +sicheren Maßstab und Weiser ihrer Taten geben. Dies aber ist ihm im +Einzelnen wie in Allen der gleiche Gang der Natur: aus dem tierischen +Paradies der Jugend in die gesellschaftliche Verpflichtung als Bürger, +als Teil der Familie, der Gemeinde, des Staates, als Erfüller eines +Berufes; doch kann für ihn dieses Dasein des brauchbaren Bürgers nicht +Sinn und Ziel des Lebens sein: das Ziel ist allein der Mensch als +sittlicher Zustand, der sich jenseits von allem bürgerlichen Zweck in +das Weltwesen einordnet, wie es der Weisheit des Alters vorbehalten +scheint. Die selige Unschuld der Jugend kann er mit dem Bewußtsein +des Alters nicht wieder erreichen, aber doch die Unfreiheit des +gesellschaftlichen Menschen überwinden und als letzte Einsicht die +Einheit der Kreatur mit dem Schöpfer wieder gewinnen, die das Tier in +seiner paradiesischen Unschuld nicht verliert.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p> + +<p>Es ist der Abschied von seinen Mannesjahren, den Heinrich Pestalozzi +einsam feiert, als er über dieser Schrift wochenlang mit dem hitzigen +Eifer seiner Jünglingsjahre sitzt. Daß er sie in der Stube seiner +Mutter niederschreibt, bringt ihm auch sonst die Stimmung der Zeiten +zurück, da er den spartanischen König Agis in die Zürcher Verhältnisse +beschwor. Wie damals hätte er gern einen Kreis Gleichgesinnter gehabt, +ihnen die gelungensten Stücke aus seiner Schrift vorzulesen; aber es +gibt keine Gerwe mehr, Bodmer liegt seit dreizehn Jahren in der Erde, +und statt seiner heiteren Menschlichkeit herrschen die Humanisten über +die Zürcher Jugend. Gleichwohl, als er zu Ende ist mit seiner Schrift +und im Gefühl tiefer Dankbarkeit aufatmet nach der fiebrigen Anspannung +dieser Wochen, treibt es ihn, einen Kreis alter Freunde zu suchen, +denen er die Hauptstücke seiner Nachforschungen vorlesen darf. Die +meisten sind unterdessen Großvater geworden gleich ihm, und der Beruf +hat nicht allen Zeit gelassen, den Lebensfragen so nahe zu bleiben wie +er; aber die Feuersbrunst von Westen hat so viele Brandflocken in die +Schweiz herüber geworfen, daß auch die Zurückhaltenden die Unruhe der +Zeit fühlen; und schließlich ist Heinrich Pestalozzi nicht mehr allein +der Armennarr von Neuhof, sondern auch der berühmte Verfasser von +Lienhard und Gertrud und schweizerischer Ehrenbürger der französischen +Republik.</p> + +<p>So kommt es zu einem Frühsommerabend, wo er wieder wie als Jüngling mit +dem Agis nun mit seinen Nachforschungen über den Gang der Natur dasitzt +und<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> seine zitternde Stimme Wege in ihre Herzen suchen läßt. Er weiß, +dies ist für ihn mehr als eine Schrift, es ist die Grundlage alles +dessen, was er in Taten und Worten versucht hat, die Rechtfertigung +seines im bürgerlichen Sinn gescheiterten Daseins und zugleich ein +Religionsbuch der Zeit, wie er keines kennt. Aber die Freunde haben +etwas anderes von dem Ehrenbürger der Franzosen erwartet, etwas, darin +der Brand der Zeit ist; sie sehen sich wieder einmal enttäuscht durch +ihn, und obwohl sie betreten schweigen und vor seinen zitternden Worten +stumm bleiben, mag in allen das gleiche Gefühl sein: daß in diesem +Menschen eine krankhafte Sprunghaftigkeit sei; nun er als Figur für die +Öffentlichkeit feststeht und sein Weg durch die Erfolge vorgezeichnet +ist, verfällt er auf philosophische Spekulationen, zu denen es ihm — +so scheint es ihnen — durchaus an der Bildung fehlt. Der Abend geht +peinlich in eine betretene Stimmung aus; nur ein alter Landpfarrer +vom See, der ihn schon mehrmals im Neuhof besucht hat, ein ehrlich +gesinnter Menschenfreund, ist erregt von dem Abend. Er begleitet ihn +nach der kleinen Stadt hinüber, und Heinrich Pestalozzi scheint es, als +ob er auf der mondlichten Brücke und nachher in dem Schattengewinkel +der Gassen ein paarmal tief vom Herzen seufze. Erst vor seiner Tür +findet der Mann die Worte zu seiner Bewegung, indem er die Kappe +abnimmt und ein paarmal über sein weißes Haar streicht: er müsse +Abschied von ihm nehmen; er könne sich nun einmal sein Christentum +nicht als einen Kirschbaum denken, den sich die Menschen selber in +ihren Garten gepflanzt hätten!</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span></p> + +<p>In seine Milde ist ihm unvermutet der pfarrerliche Zorn gefahren; ehe +Heinrich Pestalozzi — der mehr den Zorn als die Worte versteht — +aus seiner Bestürzung antworten könnte, ist der alte Mann schon im +Schlagschatten der nächsten Quergasse verschwunden. Sie wollen alle +das Beste, sagt er bitter, als er im Dunkeln die enge Stiege allein +hinauf tappt, aber sie fürchten das Gute. Noch in derselben Nacht aber +schreibt er sich selber eine bittere Grabrede als Nachwort zu seiner +Schrift: »Und die Welt zerschlug ihn mit ihrem eisernen Hammer, wie +die Maurer einen unbrauchbaren Stein zum Lückenfüller zwischen den +schlechtesten Brocken!«</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>68.</h3> +</div> + +<p>Es geht Heinrich Pestalozzi mit seinen Nachforschungen in der großen +Welt nicht anders als in der Enge seiner Zürcher Freunde; trotz seinem +flehentlichen Schlußwort kommt kein Echo, und wenn alles ein blasser +Unsinn gewesen wäre, könnte die Stille nicht peinlicher sein. Aber +nun ist es zu Ende mit der Einsiedlerschaft und der Wartezeit seiner +einsamen Mannesjahre: die Stube der Mutter hat ihn wieder in seine +Vaterstadt gebracht, und von den Signalen seiner Jünglingszeit erfüllt, +nimmt er teil an dem Handel mit dem aufrührerischen Stäfa, der auch den +Gestrengen Herren in Zürich die Schicksalsstunde läutet.</p> + +<p>Er hat den Anfang schon in dem Winter erlebt, als er seinem Vetter +Hotze das Haus in Richterswyl hütete. Auch durch die Dörfer am See ist +der Sturmwind der Menschenrechte geweht und hat in dem unterdrückten<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> +Landvolk die Erinnerung an alte Gerechtigkeiten geweckt, an den +Kappeler Brief und den Waldmannischen Spruch. Als die Urkunden sich in +der Gemeindelade zu Küsnacht wirklich fanden, haben die Seebauern zu +Küsnacht, Horgen und Stäfa, ein Memorial an die Gestrengen Herren in +Zürich gesandt, ob diese Briefe noch zu Recht beständen? Das allein +aber hat den Rädelsführern schon den Kopf kosten sollen, und nur der +hinreißenden Beredtsamkeit Lavaters ist es gelungen, Bluturteile zu +verhindern. Seitdem sitzen ihrer zwei aus den drei Orten gefangen im +Wellenberg, und über dem Haupt des Ältesten, eines siebzigjährigen +Greises aus Stäfa, namens Bodmer, ist auf offenem Markt das Schwert des +Henkers geschwungen worden, zum Zeichen, daß sein Leben den Zürcher +Herren verfallen sei.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat damals selber im Verdacht gestanden, das +Memorial verfaßt zu haben; als nun der Handel in einen Bürgerkrieg +auszugehen scheint, indem das erbitterte Landvolk — von den +Sturmnachrichten aus Frankreich mutig gemacht — die Aufhebung des +ungerechten Urteils und die Freigabe der Eingekerkerten unter Androhung +offener Gewalt verlangt, sodaß die Revolution in der Schweiz hier +ihren Ausgang nehmen will: ist er der einzige Zürcher, der es wagen +darf, in das empörte Stäfa zu gehen, um mit der Geltung seines Namens +den blutigen Ereignissen entgegenzuarbeiten. Er hat es unterdessen +auf sonderbare Weise noch einmal zum Fabrikanten gebracht: eine +Seidenfirma Notz richtet auf der Platte in Zürich eine Fabrik ein +und braucht einen Zürcher Bürger als Inhaber, um die Erlaubnis<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> der +Niederlassung zu erhalten; weil, wie er selber spottet, sein Name in +den zweiundfünfzig Jahren das einzig Brauchbare an ihm geblieben ist, +läßt Heinrich Pestalozzi sich den abkaufen. So führt er bürgerlich +nur noch ein Schattendasein; aber mit Sendschriften und Flugblättern +flackert sein landfahrender Menschengeist durch den wilden Handel. Zum +erstenmal seit seiner Jünglingszeit kommt er dabei wieder mit Lavater +überein, der — wie er in den Seegemeinden — in Zürich die Regierung +von gewaltsamen Schritten abhält. Überall liegen die Waffen zur offenen +Empörung bereit, Blut soll die verweigerte Gerechtigkeit auslösen, und +die Verhandlungen zwischen den feindlichen Mächten sind abgebrochen: +da überbringt Heinrich Pestalozzi einen offenen Brief Lavaters an +den redlichsten Mann in Stäfa, in dem eine friedliche Freilassung +der Verurteilten aufs bestimmteste in Aussicht gestellt wird. Und so +ehrlich ist das Vertrauen der Landbürger auf die beiden Männer, daß die +Waffen noch einmal ruhen.</p> + +<p>Umso aufrührerischer aber tut das zugelaufene Volk, das sich eine +Gelegenheit entschwinden sieht. Seitdem es sich herumgesprochen hat, +daß in Stäfa der Handel des unterdrückten Landvolks mit den hochmütigen +Stadtherren zum Austrag kommen soll, ist dort alles zusammengeströmt, +was in der Zürcher Herrschaft und in den Kantonen rundum auf den Tag +der Abrechnung wartet, sodaß die Wirtschaften und Scheunen in Stäfa +voll sind von einer braunen wilden Menge: ehrlich Verbitterte, die +auf Vergeltung lauern, und gewalttätiges Bettelvolk, das schon von +einer Plünderung der reichen Zürichstadt<span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span> träumt, alte Kriegläufer, +die in der neuen Ordnung keinen Platz mehr gefunden haben. Sie haben +ihr Hauptlager in einer leeren Scheune, wo sie die Zürcher Herren mit +wilden Flüchen nach dem Pariser Vorbild an die Laternen hängen, obwohl +sie vorläufig weder Laternen noch Zürcher dahaben. Im Vertrauen auf +seine Geltung wagt sich Heinrich Pestalozzi mit dem Brief Lavaters +auch dahinein; aber da wissen sie nichts von Lienhard und Gertrud und +seinem Ehrenbürgertum, ihnen ist er nichts als ein Zürcher Spion, und +so empfängt ihn in der halbhellen Scheune eine Schweigsamkeit, die nur +höhnisch lachen, nicht mehr sprechen kann. Zu arglos in seinem Eifer +fängt er an, gutmütig scheltend auf sie einzureden; aber als er schon +denkt, sie zu rühren — so still ist es um ihn — tut einer einen Ruf, +und gleich ist es, als ob sich rundum ihre Hörner senkten. Er hat noch +ein Stück seiner Rede im Mund, da heben sie ihn wie eine Strohpuppe an +den Beinen hoch und tragen ihn, die Marseillaise heulend, durch den +Raum. Noch immer täuscht sich Heinrich Pestalozzi über die Gefahr und +versucht, auf sie einzureden; aber je mehr er dabei in ihren Fäusten +zappelt, umso höhnischer wird das Hetzgeschrei — bis ein Schuß fällt. +Einer hat den Zürcher abschießen wollen wie einen Schützenvogel, aber +gefehlt, und die Kugel zischt ins Gebälk. In der Verwirrung kommt er +wieder auf den Boden; aber es wäre keine Rettung für ihn gewesen, wenn +sich nicht ein stakiger Kerl mit einem alten Soldatenhut vorgedrängt +hätte, der ihm gleich beim Eintritt durch das von feurigen Narben +entstellte Gesicht und um einer Ähnlichkeit willen aufgefallen<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> wäre: +Heißt der Mann nicht Pestalozzi? Und als einige verblüffte die barsche +Frage bejahen: Dann Brand und Pest, wer ihn anrührt! Er gehört mir, wir +haben noch etwas miteinander auszumachen! Dabei hat er schon seinen +alten Reitersäbel blank, und Heinrich Pestalozzi meint, sein Arm müsse +unter dem Griff zerbrechen, wie er ihn durch das Gedränge schiebt und +mit dem Fuß das klappernde Tor aufstößt: So, Heiri, sagt er, als er ihn +draußen hat — und Heinrich Pestalozzi aus dem verwüsteten Gesicht den +Ernst Luginbühl erkennt — jetzt schau, daß du weiterkommst!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>69.</h3> +</div> + +<p>Mit diesem Vorspiel in der Scheune ist das Kriegstheater in Stäfa schon +wieder aus; bereits am dritten Tag danach kommt der Bürgermeister +Wyß, durch einen dringenden Brief Lavaters aus der Tagsatzung in +Aarau gerufen, zu einer Sitzung der Rate und Bürger, die den Wünschen +des Landvolks nachgibt. Heinrich Pestalozzi ist dabei, wie sie unter +Glockengeläut und Freudenschüssen die Befreiten in geschmückten Wagen +heimholen, und an der Grenze von Zollikon spricht er dem ehrwürdigen +Bodmer einen Zuruf, dem diesmal die Freude lauter nachschreit, als die +Wut in der Scheune. Den Luginbühl findet er nicht mehr, der gehört zu +denen, die sich der neuen Lage mißtrauend davon gemacht haben, an einem +andern Ort die Abrechnung zu erwarten; denn daß die alte Zeit stürmisch +zu Ende geht, fühlt jeder in der Schweiz, seitdem der General Bonaparte +von seinem siegreichen Feldzug in Italien nach Rastatt selbstherrlich<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span> +durchs Land gereist ist, Gunst und Ungunst wie ein Herrscher verteilend.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi vermag die Stunde nun doch nicht in Zürich zu +erwarten; in der Seidenfabrik auf der Platte ist nur sein Name nötig, +er selber geht noch einmal auf das Birrfeld zurück. Vorher läßt er die +Stuben seiner Mutter ausräumen und fährt so nach dreißig Jahren zum +andernmal auf einem Wagen mit Hausrat aus der Sihlporte hinaus. Es ist +ein graulicher Wintertag, und er kommt im Dunkeln auf dem Neuhof an, wo +ihm seine Schwiegertochter unterdessen ein zweites Enkelkind geboren +hat, sein Sohn Jakob aber schon viele Monate gelähmt daliegt. Es war +noch zu früh, sagte er der Lisabeth, die noch im Mondlicht mit einem +schweren Korb aus der Scheune kommt und ihn vor Erstaunen hinsetzt: ich +muß ein kleines warten, bis sie mich brauchen; meinen Namen hab ich +dahinten gelassen; er ist in Zürich Fabrikant!</p> + +<p>Es ist wirklich nur noch ein kleines; fünfmal kommt er noch +Sonntags auf seinem Pferdchen nach Brugg, im Gasthof zum Sternen +die Schaffhauser Zeitung zu lesen, und jedesmal sind es der +Sturmnachrichten mehr: Im Waadtland fängt es an mit der lemanischen +Republik; wohl rufen die Berner den Landsturm auf gegen die +eindringenden Franzosen, und Tausende folgen den Sturmglocken, aber +die Kräfte sind verzettelt; als es dem tapferen Oberst von Grafenried +gelingt, die Welschen im Sensetal blutig zu schlagen, ist der Sieg +umsonst, weil unterdessen der General Schauenburg nach dem Gefecht +bei Fraubrunnen an einem Märzmittag<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> in Bern eingezogen ist und der +unbesiegten Stadtherrlichkeit eines Jahrtausends ein unrühmliches Ende +gemacht bat.</p> + +<p>Wie Heinrich Pestalozzi zum sechstenmal geritten kommt, steht +von eilfertigen Patrioten aufgerichtet auch schon in Brugg der +Freiheitsbaum: es ist vorüber mit der alten Eidgenossenschaft der +Landstände; die Tagsatzung in Aarau muß im Zwang der französischen +Waffen die Helvetische Republik proklamieren. Obwohl der Baum ihm immer +noch zu dünn und ohne Wurzeln ist, steigt er ab von seinem Tier und +tauscht den Bruderkuß. Im Sternen will man ihn deshalb hänseln, er aber +fährt sie zornig an: Die alte Welt konnte von Heinrich Pestalozzi nur +noch den Namen gebrauchen, vielleicht, ihr Herren, daß in der neuen +Platz für mich selber ist!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>70.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi weiß wie wenige im Land, daß die Freiheit eines +Volkes andere Dinge verlangt, als daß ihm die Ketten einer ungerechten +Verfassung abgenommen werden: der Baum, den sie im Wald abschneiden und +ohne Wurzeln in die Straße pflanzen, scheint ihm ein passendes Sinnbild +solcher Freiheit. Er aber ist auf seinem Neuhof der Armennarr geworden, +weil er einen Freiheitsbaum mit Wurzeln wollte: Ein Volk, das sind +tausend und viele tausend Einzelne; jeder Einzelne aber bringt eine +lebendige Menschenseele mit auf die Erde, und wer diesen Seelen ein +Gärtner ist, daß sie in der Jugend Wurzeln schlagen können zu einer<span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span> +wirklichen Anschauung der Weltzusammenhänge, tut mehr für die Freiheit, +als wer einen neuen Zaun mit prahlenden Fähnchen an den Toren um den +Garten zieht. Von allen Figuren um Lienhard und Gertrud steht ihm der +Leutnant Glüphi am nächsten, der sich kein besseres Los auf der Welt +findet, als den Dorfkindern in Bonnal ein Schulmeister zu sein; und +seit dem Tag, da die Helvetische Republik Raum für solche Dinge gibt, +brennt Heinrich Pestalozzi vor Begierde, es seinem Leutnant gleich zu +tun.</p> + +<p>Gleich in den Frühlingstagen der jungen Republik geht er hinüber nach +Aarau, sich dem Vaterland anzubieten. Er findet es ungünstig, indem der +zuständige Minister, an den er durch Lavater dringend empfohlen ist, +noch in Paris weilt. Trotzdem spürt er gleich, daß die Lebensluft der +neuen Verhältnisse ihm günstiger weht; sein Name schließt Türen auf, an +die er bisher vergeblich klopfte, und als er einen Brief hinterläßt, +weiß er sicher, daß in den Aktenfächern kein Stockfisch daraus wird.</p> + +<p>Der neugebackene Minister der Künste und Wissenschaften Albert Stapfer +ist vordem Professor der Philosophie in Bern gewesen; er kann Heinrich +Pestalozzi nicht freundlicher gesinnt sein, als es Iselin und Battier +vor ihm gewesen sind, aber seine Ministerhände greifen breiter als die +ihrigen; auch kehrt die neue Regierung noch scharf als neuer Besen, und +unter den Männern in der Schweiz ist keiner, der aufrichtiger dabei +helfen will, als der Einsiedler und Armennarr vom Neuhof. Stapfer +ist kaum aus Paris zurück, als ihn die Bürger<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> von Aarau schon fast +täglich mit Heinrich Pestalozzi unterwegs sehen. Er lutscht noch immer +an seinem Halstuchzipfel und stellt auch sonst neben dem feinen und +gewandten Stapfer einen altmodischen Großvater vom Land vor; aber +hier kennen und ehren ihn viele, die ihm nun die lange Schicksalszeit +auf Neuhof als ein Martyrium der neuen Herrlichkeit anrechnen; denn +in Aarau als Vorort ist man mit der Helvetischen Republik nicht übel +zufrieden.</p> + +<p>Stapfer, der voll eigener Ideen ist, will zuerst der allgemeinen +Schulnot des Landes durch ein Lehrerseminar abhelfen, durch das +endlich andere Männer als Schneider und Schuster in die Dorfschulen +kämen; er tritt eines Tages auf der Straße mit dem Einfall auf ihn +zu, daß er die Leitung übernehme. Aber Heinrich Pestalozzi hat gerade +Kindern zugehört, die in einem schattigen Winkel Schule spielen und +sich mit dem Prügelstock und Geschrei den Katechismus abhören; die +ganze Sinnlosigkeit dieses Betriebes ist ihm aufgegangen als ein +Handwerk, das weder Werkzeug noch Fertigkeiten hat, und wehmütig +lächelnd entgegnet er dem Minister: Wie soll man etwas lehren können, +was noch keiner kann? Es hilft nichts, Bürger Minister, ich muß erst +Schulmeister werden!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>71.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat dem Minister den Plan einer Armenschule +eingereicht; der ist genehmigt worden, und er wartet auf die Anweisung, +wo er beginnen könne, als der neue Besen der Regierung schon im +Stiel zu<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> wackeln beginnt. Im Juni soll der Helvetischen Republik +der Huldigungseid geleistet werden; aber die Urkantone, die unter +dem tapferen Reding den unerbetenen Geburtshelfern aus Frankreich +bis zuletzt blutigen Widerstand geleistet und bei Morgarten dem +Schlachtenruhm der Väter ein neues Blatt beigefügt haben, bleiben +halsstarrig. Sie werden von den französischen Heerhaufen überwältigt, +aber sie geben ihr Herz nicht aus der Hand. Ehe Heinrich Pestalozzi +es merkt, sieht er sich dem Uhrwerk in Aarau eingefügt, das solchem +Widerstand zum Trotz die neue Schweizerzeit einlaufen soll: es gilt, +Aufrufe zu schreiben, redlich und einleuchtend genug, zum wenigsten +die Gutwilligen für die neue Ordnung zu gewinnen. Es sind keine +Nachforschungen mehr, was er schreibt, es sind die quellenden Worte +eines Fürsprech, der das Schicksal des Angeklagten in die Macht seiner +Rede gelegt sieht. Für ihn ist die Sache Frankreichs die Entscheidung +der Menschheit; wenn sich die Schweiz ihr abwendet, ist sie für lange +verloren: »Ihr tretet jetzt hin, die Sache der Telle und Winkelriede +gegen alle Geßler, die Sache der Völker gegen alle Unterdrücker — die +Sache der Kirchen und Schulen, der Vernunft und des Fleißes gegen die +Barbarei Dummheit, Bettelei und das Elend zu verteidigen!« Wieder wie +in Stäfa steht er mit der Macht seiner Rede im Kampf, aber diesmal geht +sie ans ganze Schweizervolk; ihm zuliebe hat er Fürsprech werden wollen +aus den Griechenträumen seiner Jünglingszeit, nun ist es zum zweitenmal +Wahrheit geworden.</p> + +<p>Als auch die Gewalt zu Aarau es mit einem Regierungsblatt<span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span> versucht, +den guten Willen und die Einsicht ihrer Machthaber in alle Köpfe zu +predigen, ist Heinrich Pestalozzi der Mann des Schicksals, es zu +leiten: statt in eine Armenschule sieht er sich in die Redaktion des +Helvetischen Volksblattes gesetzt, das vom Herbst ab wöchentlich +erscheinen soll. Es wiederholt sich alles, denkt er, der es vordem mit +seinem Schweizerblatt schon auf eigene Hand versucht hat. Aber die +eigene Hand ist besser daran gewesen, sie hat schreiben können, was sie +wollte; hier kommen andere mit ihren Schriftstücken: er ist schließlich +nichts als ein Sekretär, der sich mit dem guten Willen und der Torheit +seiner Vorgesetzten herumschlägt. Auch was er selber schreibt, wird ihm +diktiert, und da er nichts ohne sein Herz vermag, steigert er sich in +einen blinden Glauben hinein, aus dem er redet und schreibt, als ob das +alles sein Herzblut wäre.</p> + +<p>Am 8. September endlich erscheint die erste Nummer, tags darauf aber +tut das Schicksal einen Schlag auf seinen Redaktionstisch, daß ihm die +Spreu seiner politischen Leitartikel für immer durcheinanderfliegt. +Er ist unterdessen mit der Regierung als ihr unlösbares Anhängsel +nach Luzern gezogen, der neuen Hauptstadt der Helvetischen Republik, +wo ihm die Berge der Telle und Winkelriede, von denen er geschrieben +hat, täglich vor Augen stehen. Auch fährt er eines Tages mit Legrand +von Basel und anderen Räten aus dem Direktorium über den grünblauen +See in die enge Bucht von Stansstad, wo sie unter freiem Himmel eine +Besprechung mit den aufständischen Nidwaldern haben, die der Republik +den verlangten Eid verweigern. Er ist den Bollwerken<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> der heimatlichen +Unabhängigkeit noch nicht so nahe gewesen, und als er aus dem Kahn ans +Ufer tritt, möchte er sich vor Ehrfurcht hinwerfen, den heiligen Boden +zu küssen. Er sieht aber auch den Husarenkapuziner, wie sie ihn nennen, +den Pater Paul Styger, den roten Zünder der fanatischen Volksbewegung; +in Todesfeindschaft stehen sie auf dem geheiligten Boden gegeneinander, +die in beiden Lagern doch Schweizer und um der selben Heimat willen +voller Feindschaft sind. Wie leicht ist der Haß der Menschen aufzurufen +und wie schwer die Güte! denkt er und fühlt mit einem schaudernden +Blick in sein Leben, daß er nun selber Partei ist: mit anderen, aber +nicht besseren Gründen als diese Männer aus Nidwalden auch, die alle +ihre Hände wie zum Schwur übereinandergelegt halten und gleich den +Stieren ihres Landes dastehen, die vermeintliche Freiheit der Väter zu +verteidigen.</p> + +<p>Da die Nidwaldener es nicht bei ihrer Weigerung belassen, sondern +sich zu zweitausend waffenfähigen Männern um den Husarenkapuziner +scharen, die von Uri und Schwyz Zuzug erhalten und so dicht vor +den Toren der Hauptstadt Luzern eine böse Gefahr für die junge +Republik bedeuten, zumal die katholischen Luzerner selbst mehr zu den +Nidwaldenern als zu der ketzerischen Regierung halten: ruft die den +General Schauenburg zu Hilfe. Der rückt mit sechzehntausend Franzosen +an, das Ländchen zum Gehorsam zu zwingen; drei Tage brauchen sie nach +den ersten Schüssen, bis sie vor Stans aneinander kommen, aber dann +ist es kein Soldatenkrieg mehr: Frauen und Kinder, alles, was einen +alten<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> Morgenstern, ein Beil oder eine Sense tragen kann, ist dabei, +und als die Franzosen am Sonntag mittag mit dem Glockenschlag zwölf +in Stans einrücken, gilt es nicht den Sieg, sondern den Anfang einer +grausamen Metzelei. Es ist den Nidwaldern eingeredet worden, daß +es um den Glauben gehe, drum wollen sie lieber sterben, als in die +Hände der Ketzer fallen. Jedes Haus wird eine Opferstätte verrückter +Menschlichkeit, tief in die Nacht geht der wahnsinnige Kampf, und am +Morgen ist das blühende Stans ein rauchendes Ruinenfeld, darin die +Leichen wie geerntete Feldfrüchte liegen. Nur der Husarenkapuziner, der +ihnen unverwundbare Leiber und Engelscharen versprochen hat, ist über +die Berge davon.</p> + +<p>Hunderte von Luzernern sind — weil es Sonntag ist — auf die +unteren Abhänge des Pilatus und auf den Bürgenstock gestiegen, um +dem schrecklichen Schauspiel wie einem Manöver zuzusehen. Heinrich +Pestalozzi war nicht unter ihnen, aber er hat in Luzern die fernen +Kanonenschläge gehört und noch in der Nacht Nachricht von dem Greuel +des Tages erhalten. Drei Tage später fährt er hinüber und sieht den +rauchenden Kirchhof, wo die Luft nach den verbrannten Leichen riecht +und die schwälenden Rauchsäulen der erstickten Brände den Gefallenen +die Totenwacht halten. Lebendiges scheint außer den französischen +Soldaten, die mit verbitterten Gesichtern noch immer Totengräberarbeit +tun, niemand mehr in Stans zu sein; was die Franzosen nicht +niedergemacht haben, ist in die Berge geflohen; nur ein Trüppchen +Kinder sieht er, das sich in seiner Verzweiflung unter der Kirchmauer +geschart hat und, von einigen<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> Soldaten bewacht, kaum anders aussieht +als ein Haufe jungen Schlachtviehs. Er hat im Ranzen Nahrung für sich +selber mitgebracht, die teilt er ihnen aus, und was er an Geld bei sich +hat, gibt er eilig den Soldaten, daß sie ihm Brot holen unten am See, +wo schon Kähne mit Nahrungsmitteln angekommen sind. Auch spricht er mit +den Kindern und läßt sichs nicht angehen, daß kaum eines eine Antwort +gibt; er vergißt Zeit und Ort um ihrer Not willen und ruht nicht, bis +er sie alle in der Klosterscheune gebettet hat, weil im Kloster selber +die verwundeten Soldaten bis in den Gängen liegen; erst, als er sie +endlich schlafend weiß, sucht er sich selber ein Lager.</p> + +<p>So bleibt er drei Tage lang mit ihnen und ist glücklich bewegt, als +sich das Trüppchen mehrt; am vierten Mittag findet ihn ein dringender +Bote aus Luzern um der fälligen Nummer des Helvetischen Volksblattes +willen. Er braucht lange, bis er sich in die Papierwelt seines letzten +Daseins zurückbesonnen hat; er schüttelt den Mann, der ihm folgt, +jähzornig ab und wäre so ein Armer unter den Ärmsten geblieben, wenn er +nicht dem Minister Rengger in die Arme gelaufen wäre, der auch diese +Ernte der neuen Regierung besichtigen und einen Bericht machen will: +Sollen wir nicht ein paar Tausend Volksblätter kommen lassen, sagt er +ingrimmig zu ihm, und die Tränen quellen ihm aus allen Rinnen seines +Gesichtes, das Elend einzuwickeln?</p> + +<p>Ein Waisenhaus wäre nötiger, sagt Rengger und stellt sich hart wider +ihn. Da ist Heinrich Pestalozzi schon am Nachmittag wieder in Luzern, +um keine Stunde zu versäumen, das zu erreichen.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span></p> + +<h3>72.</h3> +</div> + +<p>Es dauert drei lange Monate, bis die Regierungsherren in Luzern sich +einigen, Heinrich Pestalozzi nach Stans zu lassen. Es ist die letzte +Wartezeit, doch wird das Vierteljahr ihm länger als Jahre vorher, so +drängt die Ungeduld, endlich aus dem Stauwasser seiner Schriften in +Fluß zu kommen. Er würde in den höchsten Alpen, ohne Feuer und Wasser, +anfangen, wenn man ihn nur einmal anfangen ließe.</p> + +<p>Endlich im Dezember beschließt das Direktorium der Helvetischen +Republik, dem Bürger Pestalozzi die Einrichtung und Leitung eines +Waisenhauses in Stans zu übertragen; er wartet die Ausfertigung nicht +ab und fährt schon am zweiten Tag danach über den nebeligen See, um +bei der Baueinrichtung dabei zu sein. Die Anstalt soll in einem Flügel +des Frauenklosters eingerichtet werden, und der Baumeister Schmidt +aus Luzern geht mit hinüber, die notwendigen Veränderungen zu machen. +Da schon im Herbst eine scharfe Kälte eingefallen ist, sodaß den +Bauern die Erdäpfel in den Feldern erfroren sind, hat der Hunger die +Bettelwaisen aus ihren Schlupflöchern in die Häuser gejagt, wo ohnehin +schon zuviel hungrige Mäuler warten. Längst schon, bevor er Betten +und die sonstige Einrichtung hat, fängt Heinrich Pestalozzi an, Brot +zu verteilen und dabei seine Zöglinge zu suchen; als er Mitte Januar +die ersten Waisen bei sich hat, kann er zunächst an keinen Unterricht +denken, so verelendet sind sie.</p> + +<p>Es ist nur eine Stube fertig, sie aufzunehmen, und überall in +den Gängen werkeln die Bauleute noch mit<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> Staub und Lärm. Tiere +könnten nicht so verwahrlost sein wie diese Menschenkinder, die mit +eingewurzelter Krätze und aufgebrochenen Köpfen, viele wie ausgezehrte +Gerippe, gelb, grinsend, mit Augen voll Angst und Mißtrauen von den +Verwandten oder auch vom Landjäger in den Kreis seiner Liebe gebracht +werden. Es ist anfangs kein Platz da, außer einer Haushälterin in der +Küche irgendwen zur Hilfe unterzubringen; auch wenn es ginge, Heinrich +Pestalozzi möchte es nicht. Damals in den rauchenden Trümmern hat das +Mitleid sein Herz hineingerissen; jetzt aber gilt es das Experiment +seiner Lehre: daß auch in dem niedrigsten Opfer der menschlichen +Verwahrlosung noch ein Keim läge, der zum Dasein einer sittlichen und +freien Menschlichkeit gepflegt werden könne. Er weiß, daß der Zwang +einer äußeren Ordnung, Ermahnungen oder gar Strafen die Herzen nur +verhärten würden, aus denen er dem Keim die erste Nahrung geben will; +nur die Liebe vermag ihn zu wecken, und was diese Liebe von ihm zu tun +verlangt, das vermöchte ihm kein anderer: er schält sie selber aus +ihren Lumpen heraus, er wäscht ihnen die Geschwüre und die Krusten der +Verwahrlosung ab, als ob er eine Tiermutter wäre in dem Winterlager, +wohin sie die Not und Kälte aus der verschneiten Bergwelt getrieben +hätten. Er ißt und schläft mit ihnen, er weint mit ihren Leiden und +lächelt zu ihren kleinen Freuden, sie sind außer der Welt und außer +Stans, sie sind bei ihm, als ob sie wieder in den Ausgang ihres +Lebens zurückgekehrt wären, um hier den Mut zu finden, nach so vieler +Bitterkeit das Dasein noch einmal zu versuchen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span></p> + +<p>In kaum einem Monat sind es siebzig Waisen, und obwohl allmählich mehr +Stuben fertig werden und auch schon fünfzig Betten dastehen, sodaß +er ihrer nur zwanzig am Abend heimschicken muß, die tagsüber kommen, +ist er immer noch allein unter ihnen. Der Pfarrer Businger, den die +Regierung an Stelle des entwichenen nach Stans gesandt hat, und der +Bezirksvorsteher Truttmann — beides wohlgesinnte Männer, die tapfer zu +ihm stehen — drängen darauf, daß er sich Hilfe nähme. Er fände keinen, +der ohne Schaden zwischen ihn und die verscheuchten Seelen seiner +Zöglinge treten könnte.</p> + +<p>Als die Frühlingssonne den Schnee wegschmilzt, daß sich die grünen +Matten immer höher hinauf in die weißen Berge heben, ist in der +verwahrlosten Schar die Menschlichkeit schon äußerlich zu Hause; die +älteren Kinder helfen ihm, daß sich die kleineren sauber halten, die +ordentliche Nahrung hat vielen die Backen gerötet, und nun wartet er, +daß die Frühlingssonne sie bräune. Einige lockt ihr Straßenblut, und +manchmal geschieht es, daß eins in der Dämmerung entwischt, andere +kommen dafür wieder: es ist ein wenig wie ein Bienenstock, wenn die +Wärme drängt. Er läßt es sich nicht verdrießen, so sehr ihn der Undank +und die Untreue schmerzen; denn nun ist er längst in den Dingen mit +ihnen, die ihm mehr gelten als ordentliches Essen und saubere Kleidung. +Der Seelenfänger hat ihnen die Schlingen gelegt, und ob ihn das +Mitgefühl hinreißt, wo ein Schmerz oder eine Freude an sie kommt, ob +er mit seinen Großvaterbeinen treppauf und -ab rennen<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> muß und zwanzig +Hände zu wenig wären, alles das zu tun, was auf ihn wartet: es sind nur +die Spinnfäden seiner Absicht, die er unermüdlich um ihre Seelen legt; +er selber sitzt still mitten im Nest und wartet auf die Stunden, wo er +seine Lehre an ihnen versuchen darf.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>73.</h3> +</div> + +<p>Längst hat Heinrich Pestalozzi angefangen zu unterrichten; anfangs ist +er sich vorgekommen wie der alte Lehrer, zu dem ihn das Babeli brachte; +auch so mit der Ungeduld seines Alters im Gedränge ihrer Wünsche +und Fragen: wo es schwer wäre, mit einem Frager fertig zu werden, +sind es Dutzende, und dabei sitzen die Trägen noch immer abseits in +ihrer Untätigkeit. Doch merken sie bald, wenn er sich laut sprechend +hinstellt, daß sie alle nur sein einziger Zuhörer sind. Er lehrt sie, +seine Sätze im Chor zu wiederholen, und lockt Antworten heraus, die sie +gemeinsam sagen können; täglich gewitzter in dieser Kunst, die auch die +Unaufmerksamen in seinen Sprachkreis zieht, entdeckt er das Geheimnis +der Klasse, die aus dem Vielerlei von Schülern ein Wesen macht, sodaß +es gleich ist, ob ihrer drei oder dreißig dasitzen. Dabei nimmt er sich +ängstlich in acht, etwas Fremdes in sie hineinzusprechen; immer lauert +er, wo ihre Sinne und Gedanken sind, um sie für sich einzufangen. +Irgendwo ist ein Riß in der Wand, der wie ein seltsames Tier aussieht, +einen langen Schnabel wie eine Ente, aber Füße wie ein Maikäfer hat; ob +sie wollen oder nicht, wenn ihre Blicke durch den Raum gehen, hängen +sie daran fest: er fängt ihnen das Ungeheuer<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> ein in Sätze, die sie +willig nachsprechen, weil sie von ihnen selber gefunden sind.</p> + +<p>Einige haben Bücher, und ein paar können sogar ein weniges lesen; er +zeigt den andern, wo diese Hexenmeisterkunst ihre Herkunft hat. Er +läßt sie in den Worten die tönenden und zischenden Laute finden und +macht ein lustiges Spiel daraus, ihrer zwei miteinander zu verbinden, +jeden einzelnen durchs Abc hindurch; dabei schont er sich nicht, +unermüdlich das ba, be, bi, bo mitzusprechen, bis ihm die Stimme in +der Brust schartig wird; manchmal kommt er sich vor wie ein Hahn, wenn +er schwitzend dasteht und mit ihnen kräht. Bis eine Stunde mit Minuten +und ein Tag mit Stunden abgelaufen ist, läßt sich viel hineinfüllen, +und Tag für Tag geht es verzwickter zu, vom bal, bel, bil, bol, bul zum +balk, belk, bilk: immer anders marschieren die Soldaten aus ihrem Mund +auf, bis ihnen alle Übungen, rechts- und linksum, kehrt und vorwärts +marsch gleich geläufig sind. Und eines Tages läßt er für die Augen +sichtbar werden, was solange nur durch Mund und Ohren ging.</p> + +<p>Er hat ihnen keine Fibeln mitgebracht, nur einen Korb mit Täfelchen, +darauf die Buchstaben einzeln mit ihren Häkchen und Schnörkeln wie +Vögel mit ihren Schwanzfedern prahlen, und rastet nicht, bis jeder +seinen Laut als Namen hat, sodaß er ihn nur zu zeigen braucht, und +schon gibt ihm die ganze Klasse Antwort. Sie wissen nun längst, +daß keiner die siebzig Einzelnen verstehen kann, wenn jeder nach +seinem Einfall losschreit, und warten das Zeichen ab, das ihnen sein +Finger gibt. Sie sind dann wirklich eine Klasse, ein<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> Wesen, das +hundertvierzig Ohren und Augen, aber nur einen Takt und darum nur +einen Mund hat. Und manche Nacht, während sie schlafen und er allein +in der Schlaflosigkeit des Alters wach unter ihnen liegt, bildet +sich traumdünn die Ahnung einer Lehrmethode: daß es wie mit den +Buchstaben mit allen andern Kenntnissen des Menschen sei, daß sie sich +bauen ließen, Steinchen um Steinchen, bis eine Wand, ein Zimmer und +schließlich das Haus einer Wissenschaft dastände.</p> + +<p>Kühner aber, als jemals sein Kopf ein Gespinst machte, scheint ihm +dies: daß auch alles andere, was einen Menschengeist mitsamt der +Seele ausmache, seine Denkkraft, seine Fertigkeiten, sein Wille, +seine Wünsche, seine Absichten, sein Glauben wie seine Taten, in +einem solchen Takt einzufangen sei, und daß, wenn einer erst den +Taktstock dazu finde, ihn hundert andere gebrauchen könnten, um +überall die wildaufwachsenden Menschenseelen in den Wohlklang der +Ordnung einzuführen. Er kann sich dann ein Zukunftsbild austräumen, +daß es zwar reich und arm, jedoch nicht mehr die häßliche Anwendung +davon gäbe, wo die Habsucht und Willkür des Reichen den Armen +unterdrücke und ausnütze; denn das einzige Mittel dieser Geldherrschaft +sei die Unwissenheit des Armen: erst einmal im Besitz seiner +entwickelten Seelen- und Geisteskräfte, könne er nicht mehr das Opfer +herrschsüchtiger Ausbeutung sein! Was jetzt allerorten geschähe, daß +Reiche den Armen helfen wollten durch Wohltätigkeit, sei Täuschung +und Selbstbetrug: der Reiche könne dem Armen garnicht helfen, er habe +nichts als sein Geld, das auch im Wohltun das<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> Zwangmittel ungerechter +Herrschaft bliebe; erst wo Gerechtigkeit regiere, könne eine +brüderliche Hilfe von Herzen wohltätig sein!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>74.</h3> +</div> + +<p>Während Heinrich Pestalozzi so mit seinen Waisen auf der Wanderung +nach einer neuen Menschlichkeit ist, wächst das Dickicht der alten ihm +rundum die Wege mit Unkraut und Brennesseln zu. Noch immer zieht der +Haß seine Schwaden durch die Täler des Nidwaldener Landes; der Aufruhr +wurde in Blut und Brand erstickt, aber was ihn heraustrieb, blieb mit +tausend Wurzeln lebendig. Für die Stanser ist Heinrich Pestalozzi +ein Ketzer, von der Revolutionsregierung gesandt, ihre Waisen und +Armenkinder im Unglauben der neuen Zeit abzurichten, sie den Sitten +der Väter und dem Glauben der Heimat mit Teufelslisten zu entfremden. +Sie sehen seine verwahrloste Kleidung und achten ihn für einen +Landstreicher, der bei der neuen Herrschaft der Lumpen und Schelme +untergeschlupft ist.</p> + +<p>Aber auch die Freunde fangen an zu zweifeln; sie verstehen nicht, +warum er sich allein mit siebzig Kindern abplagt, eigensinnig ihr +Lehrmeister, Aufseher, Hausknecht und Dienstmagd in einem und dabei +selber zum Erbarmen verwahrlost ist. Sie raten und drängen, doch +Gehilfen zu nehmen, damit er endlich aus seiner Anstalt ein richtiges +Waisenhaus mache, und sind verstimmt, weil er sich unter Ausflüchten +weigert. Er scheint ihnen vom Eigensinn des Alters wie von einem +Fieber befallen, und vertrauliche Briefe gehen an die Minister,<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> daß +man dem alten Mann mit Gewalt aus diesem Zustand helfen möge. Stapfer +aber hält treu und weitsichtig zu ihm, weil er das Experiment fühlt +und daß Heinrich Pestalozzi erst zu Resultaten gekommen sein muß, +bevor er Hilfe brauchen kann. Er ermuntert ihn auch im Mai, als warme +Sonnenbläue die Täler füllt und der See rund an den Ufern in einem +Blust von Blumen zu schäumen scheint, mit seinen Zöglingen einen +Ausflug nach Luzern zu machen.</p> + +<p>Es ist Sonntag, und sie gehen die drei Stunden zu Fuß, bei Stansstad in +Kähnen hinüber nach Hergiswyl und dann zwischen Pilatus und dem See bis +Horw, wo sie den weiten Talboden der Allmend von Luzern erreichen. In +Horw rasten sie, und da sie früh aufbrachen, sehen sie da erst, wie die +Sonne überm Rigi hochschießt; ein jedes hat Brot im Sack, und Wasser +fließt überall aus den Brunnenrohren. Die älteren haben gesorgt, daß +sie alle sauber sind; nur auf ihren Schuhen liegt der Staub wie Mehl, +als sie singend über die alte Kapellbrücke in Luzern gehen und die +vielgetürmte trutzige Stadt bestaunen. Es ist Sonntag, und viele Leute +spazieren auf den Straßen, die den seltsamen Zug und den seltsameren +Mann davor belächeln. Einige kennen ihn von seinem Luzerner Aufenthalt +und lüpfen den Hut, um ihm kopfschüttelnd nachzusehen. Aber Stapfer, +der Minister, hat gesorgt, daß die Stanser Waisen nicht unbegrüßt in +der Landeshauptstadt sind: auf dem alten Kornmarkt vor dem Rathaus +steht einer in blanker Uniform mit einem Leinenbeutel, darin rasseln +lauter nagelneue Zehnbatzenstücke der Helvetischen<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> Republik, und +jedes Kind bekommt eins zum Andenken in seinen Sack. Sie singen ein +Schweizerlied zum Dank, und Heinrich Pestalozzi, dem nichts so fern +liegt wie Musik, kräht mit vor Rührung; garnicht merkend, wie falsch er +die Töne nimmt, bis alles hinter ihm lacht.</p> + +<p>Auch sonst geschieht den Kindern der Nidwaldener Gutes in dem +katholischen Luzern, und wie ein siegreicher Heerhaufe ziehen sie +am Nachmittag wieder hinaus. Aber nun hat die Sonne ihre strahlende +Bahn durch den Himmel gezogen und aus dem Weltall Glut auf die Erde +geschüttet. Die Kinder werden müde, und er muß nun hinter ihnen gehen, +die letzten anzutreiben. Dabei ist ihm selber schwül und nicht froh +zumut; er hat in Luzern von dem Lauf der Dinge gehört, die für Monate +außer ihm gewesen sind: der Krieg ist wieder im Land, überall bläst +der Wind hitziger Zeitläufte den Zunder an, und es gilt schon als +ausgemacht, daß die Regierung der Helvetischen Republik nach Bern +übersiedeln wird, wo ihr der Boden sicherer scheint als hier in der +Aufsässigkeit der Urkantone. Am Gotthard schlagen sich die Franzosen +mit den Österreichern herum, und viel wird gesprochen von den Taten +seines Vetters Hotze, der als kaiserlicher General über den Bodensee +bis Zürich ins Land gedrungen ist; es kann in einigen Wochen wieder aus +sein mit der republikanischen Herrlichkeit. Zu diesen Sorgen tut ihm +die Brust weh, und er merkt, wie ihm die Monate zugesetzt haben. Der +Pilatus zieht verdächtige Wolken an, und als ob über eine ferne Brücke +Lastwagen rollten, grollt ein Gewitter in der Luft: er kann sonst über +Ahnungen lachen, aber<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> nun ist ein Gefühl da, daß es ihn treffen wird. +Gerade gehen sie von Steinrüti gegen Hergiswyl am See hin, der dick und +still daliegt, da wird ihm süßlich im Mund, und das Licht tanzt ihm wie +Mücken vor den Augen; er will einem Buben, der vor Müdigkeit weint, die +Hand geben, da fühlt er sich tiefer zu ihm hinsinken, als es nötig ist, +und sieht noch für einen Augenblick die erschrockenen Augen über sich.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi meint, er sei gleich wieder aufgewacht, aber es +muß wohl länger gewesen sein; nebenan steht ein Wagen, der vorher +nicht da war, und im Kreis der Kinder bemühen sich Leute in Hemdärmeln +um ihn. Tiefer als im Schlaf war er aus allem fort, nun er die Augen +aufschlägt, nimmt sein Bewußtsein mit einem Blick den Kreis seines +Daseins auf, darin er Kind, Mann und Greis zugleich ist. Rund um +diesen Kreis sieht er die Berge spukhaft in den gewitterlichen Dunst +des Himmels ragen und fühlt, daß so die Schwierigkeiten um ihn stehen, +denen er nichts als die Willenskraft seiner zu Boden geworfenen Natur +entgegenstellen kann. Im gleichen Augenblick setzt er sich auf, von dem +ungebeugten Willen kommandiert; da merkt er, daß Blut in seinem Mund +ist.</p> + +<p>Darüber erschrickt er tief und läßt sich nun willig in den Wagen heben. +Die von den Kleinen am müdesten sind, müssen zu ihm, und so im Schritt +vor seiner Schar her geht es heim. Einer hat sich neben den Knecht +gesetzt, und der läßt ihm die Zügel, weil er den Gaul kennt. Heinrich +Pestalozzi muß wehmütig an den Tag denken, wo er mit dem Großvater +nach Höngg fuhr und auch<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> so unablässig an den Zügeln rupfte, wie nun +der Knabe vor ihm: Ich habe mirs nicht abgewöhnt bis heute, lächelt +er bitter, wo ich selber ein Großvater bin, und alles, was ich in die +Hand nehme, ist so geblieben! Wenn mir jedes so in Ordnung ginge, wie +hier dem Gaul und dem Knecht, ich würde auch die Zügel gleichmütig +hängen lassen; aber nun bin ich dreiundfünfzig und über meine Jahre +gealtert, gar noch krank, und habe erst den Anfang vom Weg gefunden. +Ich müßte wohl den Gaul für ein paar Wochen in den Stall tun; doch ist +er unabkömmlich, weil ich noch weit mit dem Abend muß!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>75.</h3> +</div> + +<p>Die zweite Woche seit seiner Wallfahrt nach Luzern ist noch nicht +ins Land gegangen, als Heinrich Pestalozzi eines Mittags durch +Trommelwirbel aufgeschreckt wird. Wie er ans Fenster läuft, rücken die +schweizerischen Soldaten, die gegen Engelberg und Seelisberg hinauf als +Rückendeckung der Franzosen ausgestellt sind, eilig in Stans ein: die +Österreicher kommen, heißt es und die im Uri geschlagenen Franzosen +seien über den See zurück. Die Panik des Krieges ist wieder in Stans, +bevor ein Schuß in den Nidwaldener Bergen fiel; wer noch bewegliche +Habe hat, flüchtet sie in die Sennhütten hinauf, händeringende +Weiber und trotzige Männer kommen, ihre Kinder zu fordern, und +Heinrich Pestalozzi vermag nicht, sie zu halten. Als ob eine Mure +vom Stanserhorn niederginge, läßt er die andern ihre Bündel raffen, +zur Flucht bereit zu sein. Gerade hat er sie<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span> um sich versammelt im +Arbeitssaal, da fällt ein Schuß; die Kinder schreien, einige laufen ihm +zu, viele aber auch hinaus auf die Gasse, sich noch in die Berge zu +retten.</p> + +<p>Als danach alles still bleibt — die Alarmnachrichten waren falsch, +und auch der Schuß ist nur einem hitzigen Sennbuben losgegangen — +sitzt kaum noch die Hälfte seiner Kinder da. Zwar kommen im Nachmittag +noch einige wieder, auch finden sie andere weinend irren, als sie +gegen Abend den Ort absuchen: aber die Besorgnis bleibt über ihnen +wie die schwarze Wolkendecke, die sich mit dem Abend vom Entlebuch +herüberdrängt. Die Kinder schlafen sich schließlich in angstvolle +Träume ein; Heinrich Pestalozzi bleibt wach: seit seiner Ohnmacht +fühlt er, daß es in Stans zu Ende geht. Mit einer Kerze in der Hand +wandert er um Mitternacht von Bett zu Bett; einigen, die sich stöhnend +wälzen, legt er seine Hand auf die Stirn, daß sie, erwachend, ins Licht +blinzeln und vor seinem Gesicht mit einem erlösten Lächeln um die +Lippen einschlafen. Nachher sitzt er noch, bis das Licht niedergebrannt +ist, streicht in seiner Liste die Schäflein an, die ihm fehlen, und +denkt den einzelnen nach, wo sie wohl seien. Bald aber wandern die +bekümmerten Gedanken auf einsamen Höhen, wo er mit seinem Werk allein +ist. Was auch mit den Kindern geschieht, für keins — das fühlt er +sicher — ist die Zeit vergebens gewesen: aber sein Werk, wenn er +es jetzt abbrechen muß, ist verloren. Es ist ihm zumut wie einem +Kundschafter im weglosen Dickicht; er hat sich durchgearbeitet, bis er +eine getretene Fußspur fand, die ihn zum Weg<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> führen muß: da reißt ein +Bergbach die Schlucht vor ihm auf, und ob er drüben die Spur deutlich +weiter gehen sieht, er kann nicht hinüber.</p> + +<p>Andern Tags ist alles vorbei, als ob es nur böse Träume gewesen wären; +die Bauern sind wieder bei ihrer Arbeit, und die Soldaten in den +Quartieren singen Schweizerlieder. Die Sonne geht ihren strahlenden +Lauf, als wolle sie es diesmal zwingen, über die Ermattung des Mittags +fort in den unendlichen Himmel hinein zu steigen. Noch ein paar Kinder +wagen sich unsicher wieder herzu, und als nach diesem Tag noch ein +zweiter und dritter die weißen Sommervögel durch sein dickes Blau +schwimmen läßt, fängt auch Heinrich Pestalozzi an, den Nacken zu heben. +Am dritten Abend sitzt er scherzend und fragend mit ihnen bei der +Hafersuppe, da ruft ihn ein Bote eilig zu dem Regierungsstatthalter +Zschocke.</p> + +<p>Der empfängt ihn mit einem Blatt in der Hand. Er habe Stafette +bekommen, daß am frühen Morgen der General Lecourbe einrücken würde; +er müsse Platz besorgen für einige tausend Mann und ein Hospital für +die Verwundeten und Kranken herrichten, dazu habe er keinen andern +Platz als das Waisenhaus. Obwohl Heinrich Pestalozzi beim ersten +Wort weiß, daß ihm nun das Brett unter den Füßen fortgezogen wird, +damit er noch über den Bergbach zu kommen hoffte, kämpft er wie ein +aufgescheuchtes Tier für sein Nest und seine Brut. Aber nun ist er mit +allem Ruhm seiner Bücher und mit der ewigen Absicht seines Werkes nur +der Bürger Pestalozzi, der andere aber steht als Regierungsgewalt da +und löst das Waisenhaus auf. Weil er nicht<span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span> wie die Nidwaldener kämpfen +und sterben kann, sondern dem Federstrich gehorchen muß, erfüllt er +bitteren Herzens den Rest seiner Pflicht. Er teilt jedem Kind doppelte +Kleidung, Wäsche und einiges Geld aus für das Notwendigste, rechnet mit +dem Statthalter ab und übergibt ihm von den sechstausend Franken, die +ihm das Direktorium bewilligt hat, den Rest mit dreitausend Franken — +mehr hat er nicht gebraucht in den fünf Monaten mit all den Kindern. +Noch eine Nacht geht er in seiner schlafenden Herde ruhelos umher, +nimmt in der Frühe weinenden Abschied von ihnen allen, deren Vater +er durch seine Liebesgewalt geworden ist, und am Nachmittag, als die +ersten Franzosen einrücken, fährt er nach Stansstad hinunter mit dem, +was er für bessere Zeiten retten will. Wieder einmal sitzt er auf +einem bepackten Wagen, diesmal auf Säcken neben einem Knecht, der ihn +gleichmütig in sein ungewisses Schicksal hinaus kutschiert; es ist ein +Appenzeller, der den Pferden mit der Peitsche die Fliegen vertreibt und +dazu mit halber Kehle seine heimatlichen Jodler singt, als ob es eine +Lustfahrt wäre. Er fühlt die Schmerzen in seiner Brust heftiger und die +brennende Angst fährt mit ihm, daß er nun sterben muß: dann ist alles +umsonst gewesen, was er Unmenschliches in diesen Monaten ertrug; denn +er allein weiß, daß er in Stans den Weg zur Befreiung der Menschheit +entdeckt hat, kein anderer kann fortsetzen, was für ihn selber ein +tastend beschrittener Anfang, aber darum doch das Ergebnis vieler +Tausend fiebernd benützter Stunden ist.</p> + +<p>Immer noch läuft eine letzte Hoffnung hinter dem<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> Wagen her, daß die +Luzerner Freunde mächtiger sein könnten als der Regierungsstatthalter; +als er ankommt in der vieltürmigen Stadt, muß er erfahren, daß die +Regierung der in tausend Nöten gefährdeten Helvetischen Regierung nach +Bern ausgeflogen ist.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>76.</h3> +</div> + +<p>Es ist ein heißer Julitag, als Heinrich Pestalozzi durch das breite +Entlebuch ins waldige Emmental hinüber und durch seine reichen Dörfer +nach Bern hinunter fährt. Die Fahrt über die holprigen Bergstraßen +bekommt ihm schlecht, und als er spät abends anlangt, fühlt er sich +sterbenselend. Bis zum Schluß sind immer noch die Bauleute im Kloster +zu Stans gewesen, und wenn er hustet, meint er noch den scharfen +Kalkstaub in der Lunge zu spüren. Trotzdem ist er am andern Morgen +schon früh bei dem Minister Stapfer. Der erschrickt, wie er ihn sieht, +und rät ihm, den ungewollten Urlaub vor allem zu einer Kur zu benutzen, +damit er wieder zur Arbeit fähig sei, wenn nach dem Krieg die Anstalt +neu eingerichtet würde. Da er selber zu einer Sitzung muß, übergibt er +ihn seinem Kanzleivorsteher Fischer, einem ehemaligen Theologen, der +auch schon in Stans war.</p> + +<p>Der bietet ihm willfährig seine Begleitung an, wohin er auch wolle, +und ehe Heinrich Pestalozzi sich beiseite tun kann, hat er ihn auch +schon eingefangen mit klugen und ehrlichen Fragen. Es findet sich, daß +sie Leidensgenossen sind, indem auch er den Traum seines Lebens an die +Schule gehängt hat. Er ist Schüler bei<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> dem Philanthropen Salzmann in +Schnepfental gewesen und will nun in Burgdorf eine Musterschule, wenn +es erreichbar ist, ein Lehrerseminar einrichten. Es ist immer noch +das Lehrerseminar, das Stapfer ihm selber in Aarau angeboten hat, und +obwohl sich Heinrich Pestalozzi im stillen wundert, wie unbekümmert +sein Nachfolger die Schwierigkeiten übersieht, die ihm fast das Leben +kosten, ist er ihm doch dankbar, weil er die Lauterkeit in seinem +Wesen spürt. Er bleibt ziemlich den ganzen Tag mit ihm zusammen und +erwirbt durch ihn eine Bekanntschaft, die in seine gehetzten Tage eine +breite Pause bringt: Noch am selben Abend sitzen sie zu einem Mann +aus Bad Gurnigel, namens Zehender, der seine Schriften liebt und sein +Märtyrertum in Stans glühend bewundert; der lädt ihn ein, einige Wochen +bei ihm da oben in der reinen Gebirgsluft zu wohnen und von der Quelle +zu trinken. Stapfer und Fischer reden ihm dringend zu, und da der Mann +mit seinem Wagen andern Tags zurück muß, kommt Heinrich Pestalozzi +schon am Abend mit ihm auf dem Gurnigelberg an.</p> + +<p>Ein verrauschtes Gewitter hat ihnen einen Regen nachgeschickt, der die +Talweite unter ihnen mit Nebelschwaden bedeckt; auch wirft ihn sein +Elend nun ganz hin, sodaß sie ihn fast aus dem Wagen ins Haus tragen +müssen. Den andern Tag läßt ihn sein Gastfreund nicht aus dem Bett, +auch den zweiten nicht: da es draußen doch noch regne! Am dritten +Morgen liegt er schon lange wach und wartet mit Sehnsucht auf den Tag; +als die Fensterscheiben in der Morgenröte warm werden, springt er mit +beiden Füßen aus dem Bett und<span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span> reißt ein Fenster auf, seine Faulheit +zu lüften. Er tritt erschrocken zurück vor der unendlichen Weite; in +einer überirdischen Bläue sieht er das Tal zu seinen Füßen liegen, +unermeßlich und schön; er hat noch nie eine so weite Aussicht gesehen, +und das Glück davon überwältigt ihn so, daß er die Hände wie ein Kind +danach ausbreitet. Fast ängstigt ihn die Höhe, aber als er nach rechts +und links äugt, sieht er die hohen Baumgruppen; er fühlt den Wald und +den Berg hinter sich als sicheres Ufer, von dem aus er über das Meer +der morgendlichen Erde tief unter sich hinschaut. Und ehe sich noch +die Worte dazu bilden, ist ein Gefühl in ihm, wie wenn da unten sein +eigenes Leben läge: aus den blauen Seeweiten der Kindheit durch die +ruhelose Brandung seiner Mannesjahre bis auf die Bergkanzel dieser +Stunde hinauf.</p> + +<p>Aber wie er sich umwendet, ist sein niedriges Menschenzimmer wie ein +Kästchen ganz getäfelt und auf dem runden Birnenholztisch liegt ein +Buch, das ihm bekannt scheint: »Nachforschungen über den Gang der Natur +in der Entwicklung des Menschengeschlechts« steht auf dem Titel. Er +weiß nicht, warum ihn die Erschütterung hindert, es in die Hand zu +nehmen; er sieht sich wieder in dem Sterbezimmer seiner Mutter daran +schreiben — als ob es gestern oder vor hundert Jahren gewesen wäre, so +nah und so fern — fast meint er, es wäre dasselbe Zimmer, aber seine +Augen suchen vergebens in den fremden Sachen. Er ist wieder mitten +drin im hochmütigen Elend jener Tage; die Brandung spritzt, und er +fühlt sich versinken in die Tatenlosigkeit der endlosen Mannesjahre: da +weiß er, es ist kein Ufer, an dem er<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> gesichert steht, es ist nur eine +Insel, ein Stein im Meer, darauf ihn die Brandung geworfen hat.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>77.</h3> +</div> + +<p>Sechs Wochen lang ist Heinrich Pestalozzi auf dem Gurnigel, von lieben +Menschen treu gepflegt. Die reine Höhenluft heilt in seiner Lunge aus, +was Kalkstaub und Abc-Geschrei darin verwüstet haben. Es sind noch +andere Kranke oben, auch Gesunde, die vor der herrlichen Natur in +Schwärmerei vergehen. Seit seinem ersten Morgen vermag er nicht mehr in +die blaue Talweite hinunter zu blicken, ohne an sein verlassenes Werk +zu denken. Er sieht unter allen Dächern die Wohnungen der Menschen und +weiß, von wieviel Verwahrlosung jede Wohlhabenheit da unten umgeben +ist. »Meine Natur ist der Mensch,« sagt er den Schwärmern, und eines +Morgens ist er mit seinem Stock und Ranzen nach Bern unterwegs. Er hat +keinen Wagen gewollt; es tut ihm wohl, so bergab schreitend den Takt +seines fröhlichen Marsches zu fühlen: alle lebendigen Dinge gehen im +Zweischritt, hat er dem besorgten Zehender zum Abschied gesagt, nur das +Leblose und Kranke rollt auf Rädern.</p> + +<p>Zum Mittag hat er die sechs Stunden bis Bern hinter sich, und als +Rengger und Stapfer, die beiden Minister, aus einer gemeinsamen Sitzung +noch etwas zu besprechen haben, das sich auf dem Heimweg besser als +im Betrieb der kommenden und gehenden Posten erledigen läßt, läuft er +ihnen buchstäblich in die Arme und lacht mit seinem Runzelgesicht wie +ein Knabe, der aus den Ferien<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> wiederkommt. Er will Kinder haben, es +ist ihm gleich wo, an denen er seine Versuche fortsetzen kann, bis +sein Waisenhaus in Stans wieder kriegsfrei ist; und noch in derselben +Viertelstunde schlägt ihm Stapfer vor, nach Burgdorf zu gehen, wo auch +Fischer seit einem Monat sei und an dem Statthalter Schnell wie an +dem Doktor Grimm einsichtige Helfer habe. Als Heinrich Pestalozzi das +Wort hört, fährt ihm eine halbvergessene Erinnerung auf, wie ihn der +Vorwitz eines Morgens dort in die Hintersassenschule brachte; er nimmt +es als eine Fügung, auch scheint es ihm eine Erleichterung, in Burgdorf +nicht wieder einsam zu sein. In seiner Fröhlichkeit sagt er gleich zu, +so kann Stapfer die Eingabe ans Direktorium vorbereiten, er selber +macht sich am andern Morgen gleich unterwegs, sein neues Arbeitsfeld +abzuschreiten.</p> + +<p>Über Nacht gibt es Regen, und er muß die Post nehmen; ein guter Zufall +setzt ihm den Statthalter Schnell aus Burgdorf in denselben Wagen. Der +kennt ihn, hat am Abend vorher schon durch Stapfer von seinen Absichten +gehört und ist begeistert, dem berühmten Verfasser von Lienhard und +Gertrud gefällig sein zu können. Die Fahrt wird in Gesprächen kurz, und +in Burgdorf muß Heinrich Pestalozzi sein Gast sein; auch der Doktor +Grimm wird Hals über Kopf zu Tisch geladen, und es ist eine wahre +Verschwörung, wie sie ihm alles einrichten wollen. Sie wundern sich, +daß er gerade an der Hintersassenschule lehren will, und wollen ihm +das ärmliche Lokal erst zeigen. Er erzählt ihnen von dem Morgen, wo er +vorwitzig hinein sah, und ist fast<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span> ausgelassen vor Erwartung. Gegen +den Abend, als der Regen endlich nachläßt, macht er noch einen Gang zum +Schloß hinauf, das eine kleine Festung vorstellt, aber augenscheinlich +seit langem verwahrlost ist. Das äußere Tor hängt offen in den Angeln, +und an dem innern läutet er so lange vergebens, bis er merkt, daß +die Schlupftür geöffnet ist. Die Kiesel im Schloßhof sind vom Gras +überwachsen, hinten steht eine Linde, und als er bis an die Mauer geht, +fällt der Berg da fast senkrecht in die schäumende Emme, die ihn im +Bogen umfließt. Es nisselt immer noch, und sein Rock ist längst feucht; +er merkt es nicht, er hat zuviel gesprochen bei den Männern da unten, +und nun sind die Gedanken wie eine Krähenschar, die nicht zur Ruhe +kommt:</p> + +<p>Er hat es Mord genannt, wie die Kinder bis ins fünfte Jahr im +sinnlichen Genuß der Natur bleiben, wie sie sehen, sprechen und ihre +andern Sinne gebrauchen lernen, und sich von selber eine natürliche +Anschauung der Welt in ihrer Seele aufbauen: wie sie dann aber gleich +Schafen zusammengedrängt in eine stinkende Stube geworfen würden, um +der fremden, sinnlosen Buchstabenwelt ausgeliefert zu sein! Nun denkt +er, wie auch die Moral und das Gesetz, selbst die Religion und ihre +Tugenden von hier aus der jungen Menschenseele aufgenötigt würden +und dadurch leicht das bittere Beigefühl lebensfeindlicher Mächte +behielten; sodaß, was dem Leben des Menschen einen höheren Sinn geben +solle, im Gefühl der Armen als Mittel der Unterdrückung bliebe. Seine +Gedanken können es noch nicht greifen, aber er fühlt sie dicht daran: +daß er alles, was<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> nur aus dem Buchstaben gelernt würde, als fremd und +gleichgültig in seinem Unterricht ausscheiden, daß er den Naturgang +der ersten fünf Lebensjahre weiterführen möchte; nicht, um es den +Kindern bequemer zu machen, sondern um die Unnatur aus dem Wachstum des +Menschen zu nehmen.</p> + +<p>Er ist so versessen in diese Gedanken, daß er garnicht hört, wie jemand +von hinten zu ihm kommt und die Hand auf die Schulter legt. Als er sich +umkehrt, ist es Fischer, der ihn zufällig aus seinem Fenster gesehen +hat: Wir sind die einzigen Menschenseelen in dem ganzen Gebäude, sagt +er erklärend zu ihm; aber Heinrich Pestalozzi ist noch viel zu sehr +bei den Reitversuchen seiner stolzen Gedanken, um ihn wörtlich zu +verstehen: Dann müssen wir jeden Tag den Berg hinunter traben, sagt +er und muß hellauf wie ein Knabe lachen, so rasch springt ihm aus +der abendlichen Grübelei ein Scherz auf: Zwei Narren in einem leeren +Schloß mit einem Steckenpferd, das wird ein schönes Rittertum, wenn wir +ausreiten.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>78.</h3> +</div> + +<p>Nach acht Tagen kommt Heinrich zum zweitenmal aus Bern; diesmal in +einem heiteren Wolkenwetter zu Fuß; die Verwaltungskammer hat ihm im +Schloß ein Zimmer als Wohnung eingeräumt und für die Hintersassenschule +die Lehrerlaubnis erteilt. Der Schulmeister Samuel Dysli muß ihm +einen Teil von seinen dreiundsiebzig Schülern überlassen; weil aber +nur eine Stube da ist, vereinbaren sie einen Strich, der die Klassen<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span> +trennt: auf der einen Seite stellt sich Heinrich Pestalozzi auf und +fängt wieder tapfer an, aus der Sprache die Buchstabenlaute abzulösen; +auf der andern wandert der Schuhmacher von Bank zu Bank und behört +den Heidelberger Katechismus. Er kann es nicht verwinden, daß man +ihm den alten Landstreicher in die Schulstube schickt, die doch mit +dem Haus sein angeerbtes Eigentum ist, und wenn er in der Folge das +unaufhörliche Geschrei hört, wie der andere die Kinder abrichtet, im +Chor zu sprechen, wobei er selber mitkräht, wenn er sieht, wie sie +keine Bücher und Schreibhefte, nur eine Schiefertafel haben — nie hat +er solch ein Schreibzeug gekannt — darauf sie mit dem Griffel allerlei +Winkel und Figuren kritzeln: glaubt er einem Tollhäusler zuzusehen. +Er versucht, ihm zur Beschämung, mit seiner Schar die gewohnten Dinge +zu treiben, aber auch die ist von dem seltsamen Wesen angesteckt, hat +Augen und Ohren auf der andern Seite; und weil er sich scheut, vor den +Augen dieses Narren wie sonst mit dem Stock drein zu fahren, frißt ihm +der Ingrimm über die Vergewaltigung Stunden und Tage auf. Er sieht +bald, daß einer von ihnen beiden hier unmöglich wird, und da es seine +eigene Werkstatt ist, aus der er sich hinterlistig verdrängt sieht, +richtet er sich auf den Krieg ein.</p> + +<p>Wenn Heinrich Pestalozzi, der ihn im Eifer meist ganz vergißt, ihn +kollegialisch ansprechen will, stellt er den gekränkten Stolz seiner +Bildung zwischen sich und ihn; denn er hat bald gemerkt, daß der +andere den Firlefanz nur treibt, weil er weder den Katechismus noch +sonst etwas nach der Vorschrift kann. Der Wurm<span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span> der Kränkung will ihm +unterdessen das Herz abfressen, und schließlich geht er zum Pfarrer. +Dem ist es verdächtig, sich in diesen Handel zu mischen, weil er die +Hintermänner kennt; doch gibt er ihm Lienhard und Gertrud mit, damit +er sehe, was für ein Wundertier dieser Mann vorstelle. Samuel Dysli +hat schon gehört, daß es ein Romanschreiber sei, doch macht es ihm zu +viel Mühe, so dicke Bücher zu lesen; er blättert nur höhnisch darin +herum, und so findet er die Stelle, wie es dem alten Schulmeister in +Bonnal übel geht und wie sich der stelzbeinige Leutnant mit allerlei +Schleicherkünsten an seiner Stelle einnistet. Nun weiß er Bescheid, +und während Heinrich Pestalozzi schon wieder besessen von seiner +Absicht ist und gleich einem Specht an der Anschauungskraft der Kinder +herumklopft, bearbeitet Samuel Dysli die Väter, und eines Sonntags +halten die Burgdorfer Hintersassen eine Art Landesgemeinde in seiner +Werkstube ab: Wenn die Bürger und Herren schon ihre Narrheit mit der +neumodischen Lehrart hätten, möchten sie die Probe auch an den eigenen +Kindern machen!</p> + +<p>So aufgereizt sind sie, daß sie es nicht bei dem Beschluß belassen; als +Heinrich Pestalozzi am Montag danach um sieben Uhr in die Schulstube +kommt, sitzen auf seiner Hälfte nur noch drei Kinder und heulen. In +der ersten Bestürzung ist er töricht genug, den Dysli zu fragen; der +läßt den Katechismus herunter schnurren, als ob er ihn extra für ihn +aufgezogen hätte. Da merkt er, daß ihm einer das Uhrwerk abgestellt +hat; doch kann er seinen Jähzorn noch meistern und geht hinaus. Und<span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span> +nun meint er, daß der Schulmeister ihn wiederkennen müsse; denn wie +damals an dem Morgen kommt er ihm nach bis in die offene Tür. Auch +sonst stehen die Leute an den Fenstern und auf der Gasse; er sieht im +Vorbeigehen, daß sie die Kinder hinter sich halten, als ob sie ihre +Brut vor dem Wolf schützen müßten. Einige vermögen ihre Schadenfreude +nicht zu meistern und rufen ihm nach; ein Flickschneider, der ein +Schwager des Dysli ist, verfällt auf die Rache, laut zu buchstabieren: +b u bu, b e be, b a ba! Die ganze Gasse ist begeistert davon, und so +muß Heinrich Pestalozzi Spießruten laufen durch sein höhnisches Echo, +das ihm noch nachkräht, als er schon im Oberdorf ist.</p> + +<p>Er will zu seinen Freunden, aber weder den Statthalter Schnell noch +den Doktor Grimm trifft er zu Hause, und Fischer ist für ein paar +Tage nach Bern gereist. So geht er kopfschüttelnd und trotz seiner +Großvaterschaft dem Weinen nahe wie ein Knabe den steilen Schloßweg +hinauf. Der Hof ist leer wie immer, und die Sonne malt die verzogenen +Schatten der Dächer hinein, als ob auch die ihm Fratzen schneiden +wollten. Es ist ihm für den Augenblick gleichgültig, wohin er geht, +weil jeder Schritt zwecklos ist; so tritt er unter die Linde und starrt +über die Mauer in die glitzernde Emme hinunter. Auch da unten sind noch +Hütten der Hintersassen, denen er aus der hilflosen Armut helfen will, +aber die bellen ihn an wie Hunde. Der Abend fällt ihm ein, wo er zum +erstenmal hier stand und das von dem Steckenpferd sagte. Nun haben sie +mir auch das fortgenommen, denkt er, und jetzt laufen ihm richtig die +trotzigen Tränen<span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span> übers Gesicht, daß er ihre Schärfe in den Mundwinkeln +schmeckt.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>79.</h3> +</div> + +<p>Das Erlebnis geht Heinrich Pestalozzi so nah ans Herz, daß er an diesem +und auch am folgenden Tag das Schloß nicht verläßt, obwohl er Hunger +leidet. Dann kommt Fischer aus Bern zurück, hört schon im Stadthaus, +wo er aus der Post steigt, von dem Aufruhr der Hintersassen, und +nun erlebt der Geschlagene, was treue Freundschaft für ihn vermag: +Grimm und Schnell helfen, und noch in derselben Woche steht Heinrich +Pestalozzi in der Buchstabier- und Leseschule der Margarete Stähli, wo +er seine Versuche ohne Widerstände fortsetzen kann. Da sind nur zwei +Dutzend Kinder in einer hellen Stube, und die Jungfrau bescheidet sich, +ihm eine Gehilfin zu sein. Er ist zwar im Anfang noch verscheucht, man +möchte ihn noch einmal aus der Schulstube fortschicken, und hält sich +ängstlich an die äußeren Vorschriften — täglich von acht bis sieben +Uhr, die Mittagspause abgerechnet, steht er in seiner Klasse — aber +indem er nun nicht mehr wie in Stans durch die wirtschaftlichen Sorgen +als Hausvater belästigt und bedrückt wird, auch keine verwahrlosten +Bettelkinder, sondern gepflegte Bürgertöchter vor sich hat, kann +er sich ungehindert dem Abc der Anschauung widmen, das ihm als die +Grundlage aller Kenntnisse und Fertigkeiten täglich geläufiger wird. +Noch immer geht er von keinem vorgefaßten System aus; er verläßt sich +auf seinen Instinkt, daß er für jeden Unterricht den natürlichen +Anfang<span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span> finden wird. Namentlich im Rechnen versucht er nun, von den +kindlichen Zählspielen ausgehend, zu den Schwierigkeiten der vier +Spezies zu gelangen. Er ist wie ein Chemiker im Laboratorium, immer +neue Mischungen versuchend, bis er die rechte Verbindung gefunden hat; +und die Jungfrau Stähli geht ihm mit gemischter Verwunderung zur Hand.</p> + +<p>Unterdessen spielt das Kriegstheater auf Schweizerboden seine +europäischen Stücke, und es sieht nicht aus, als ob er sobald wieder +nach Stans käme: über den Gotthard drängen die Russen unter Suworow, +und über Zürich ins Glarner- und Einsiedlerland die Österreicher +unter seinem Vetter Hotze, der ein berühmter Kriegsheld geworden +ist. Aber Hotze fällt bei Schänis, Masséna nimmt Zürich ein — wobei +Lavater durch einen betrunkenen Grenadier schwer verwundet wird — +und als Suworow die Franzosen nach dem mörderlichen Kampf um die +Teufelsbrücke zurückgedrängt hat bis Flüelen, sind die Kaiserlichen +überall geschlagen, und er muß sich seitwärts in böser Jahreszeit über +den Kinzig-, den Pragel- und den wüsten Panixerpaß ins Vorderrheintal +retten, wo er ohne Pferde und Geschütze ankommt und mit dem Rest +seiner Scharen die Schweiz bald verläßt. Als Bonaparte, aus Ägypten +heimkehrend, sich zum ersten Konsul der Franzosen macht, hat er die +Eidgenossenschaft ganz in der Hand, und den Urkantonen vergeht die +Hoffnung, daß ihnen fremde Hilfe aus der Helvetischen Republik in die +alte Kantonsherrlichkeit zurück helfen könnte.</p> + +<p>Im Bernischen sind die Kriegsschläge nur von fern<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> hörbar gewesen, aber +viele Heerhaufen rückten durch, und jeden Abend sank die Sonne in eine +Nacht voll ungewisser Furcht. Heinrich Pestalozzi hat in Stans erlebt, +was die ruhmvollen Taten der Kriegshelden in der Nähe bedeuten, wie +aus einer blühenden Landschaft ein Schlachtfeld wird, darin die Dörfer +brennen und die Verwundeten mit ihren Blutlachen zwischen Leichen auf +den Straßen und in den Feldern liegen, während in den Bergställen und +in Felsschlüften Frauen und Kinder schreckensbleich die Schießerei +abwarten, bis der Hunger sie doch in das Unheil hineintreibt. Er kann +nur auf den Tag warten, an dem dieser Kriegsbrand endlich gelöscht sein +wird; es wird auch für ihn der Tag sein, wo er für sein Werk gerüstet +dastehen muß.</p> + +<p>Darüber fallen auch die Blätter dieses Jahres und eines Tages im +November, als der Regen schon eiselt, erfährt er, daß die Regierung ihn +nicht nach Stans zurücklassen will. Er hat gewußt, daß sich Stapfer +seit dem September vergebens darum bemühte, und ist gefaßt, daß ihm +die Tür nicht wieder geöffnet werde, die der Krieg zuschlug; aber die +Hoffnung hat doch jeden Abend auf seinem Bettrand gesessen, wenn er mit +den Kleidern auch die Mühsale des Tages auf den Stuhl legte. Im äußeren +Schloßhof steht noch ein Tretrad über dem tiefen Brunnen, der bis in +den Talgrund reicht; er ist einmal vorwitzig hineingestiegen, das +sonderbare Hand- und Beinwerk probieren; nun träumt er in der Nacht, +der Strick mit dem Eimer sei abgerissen, während er in den Sprossen +stände, sodaß er die Radtrommel, des Gegengewichtes beraubt, nur immer +um sich<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> selber drehen müsse. Er tröstet sich zwar in der Folge, daß +er für seine Versuche in der hellen Stube der Jungfrau Stähli besser +aufgehoben sei als in dem Kalkstaub des Stanser Waisenhauses, aber der +Lebensstrang seiner Arbeit ist ihm doch schmerzlich abgerissen, und +unruhig fängt er an zu suchen, wo er ihn nach dieser Probierzeit wieder +einhaken könne. So kommt es, daß er mit dem Ende des Jahres von neuem +an seinen Neuhof denkt.</p> + +<p>Dieses Ende marschiert mit den Schritten der allgemeinen Not, wie +keines vorher, als ob es die Leidensreste des vergehenden Jahrhunderts +noch über der Schweiz ausgösse, die durch die Kriegszüge verwüstet und +von den Franzosen mit Millionen von Kriegskosten ausgesogen ist. Als +er für die Weihnachtstage nach dem Neuhof fährt, wandern Scharen von +Bettlern über die winterlichen Straßen, sodaß er wehmütig an seine +Flugblätter und das Helvetische Volksblatt denkt, darin er sich und +dem Schweizervolk so herrlich viel von der neuen Ordnung der Dinge +versprach.</p> + +<p>Er findet Anna, die er in Hallwyl abholt, mit eisengrauem Haar; sie hat +die Sechzig hinter sich, und sie sind nun die Großvatersleute, die zum +Besuch aufs Birrfeld kommen. Da schaltet die gebotene Fröhlich, und +Lisabeth hilft ihr, auch die schlimmen Dinge tapfer zu überstehen; sie +müssen den Hof allein halten; denn Jakob ist trotz seiner dreißig Jahre +ein übellauniges Gebreste. Es wird trotzdem ein inniges Weihnachtsfest, +die Großmutter hat aus Hallwyl den Enkelkindern viel Liebes +mitgebracht, und die fünfjährige Marianne<span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span> vermag schon Christlieder +zu singen, in die der dreijährige Gottlieb selbstbewußt einstimmt. Als +danach die heiligen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr mit Rauhreif +kommen, der in der Sonne mit Millionen Kristallen funkelt, ist es +für Heinrich Pestalozzi mehr als die Insel auf dem Gurnigel, es ist +die Küste, von der er ausfuhr, und fast scheint es ihm, dies sei die +Heimkehr.</p> + +<p>Silvester, als sich die Kälte in einen näßlichen Nebel gewandelt +hat, wandert er zufällig durch das Gehölz bis nach Brunegg auf den +Waldkamm hinauf. Er weiß, das kleine Schloß steht seit der neuen +Ordnung mit leeren Fenstern da, aber wie er hinzukommt, ist an der +verschlossenen Tür ein vergilbter Zettel angeheftet, daß die Regierung +den verlassenen Besitz mit sechzig Jucharten Wald und Weide zum Verkauf +ausbietet. Er braucht garnicht zu überlegen, der Plan steht gleich wie +eine Eingebung da: Schloß Brunegg zu erwerben und mit dem Neuhof zu +vereinigen in einem Besitztum, auf dem sich ein helvetisches Waisenhaus +wohl einrichten und halten ließe. Die Seinigen wissen nicht, warum er +allein an dem Abend fröhlich ist, während ihre Wehmut dem scheidenden +Jahrhundert die Totenwacht hält; nur Anna, die das Wetterglas seiner +Stimmungen besser kennt als sie, merkt bald, daß er irgend etwas im +Schilde führt. Wie dann die Standuhr auf dem Gang ihre zwölf Schläge +mit dem gleichen schnarrenden Klang wie sonst getan hat, und sie alle, +die im Schein der Lampe darauf warteten, sich den Menschenkuß geben, +nimmt er sie wie in den jungen<span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span> Zeiten bei der Hand und führt sie aus +dem Kreis der andern hinaus in die Nacht, die durch die Erschütterung +der Glocken aus ihrer Stille aufgeschreckt und von Menschenlichtern +nah und fern durchleuchtet mit ihren Geheimnissen in die Wälder +zu flüchten scheint: So war die Nacht, wo ich mit Menalk auf dem +Lindenhof stand, sagt er draußen zu ihr, als sie unsicher schreitend +den Landweg nach Brunegg gehen: nur daß wir damals die Glocken in uns +selber hatten, und draußen war es still. Das ist das Schicksal dieser +Zeit gewesen, daß jeder in seinem Gehäuse saß; das einzige, was die +Menschen miteinander verband, hießen sie ihre Bildung: ich heiße es +ihre Ungläubigkeit. Das neunzehnte Jahrhundert der Christenheit wird +wieder einen Glauben wie zu Zwinglis Zeiten haben, aber es wird das +Jahrhundert der Menschlichkeit sein, wo die guten Werke nicht mehr für +einen guten Platz im Himmel getan werden. Wer die ewige Seligkeit erst +im Himmel anfangen will, hat sie schon versäumt. In Indien, heißt es, +werden die Heiligen ihrer auf Erden teilhaftig, indem sie ihre Wünsche +und Begierden Gott zum Opfer darbringen. Das heißen sie Nirwana oder in +Gott ruhen; aber Gott hat auch unsere Wünsche und Begierden gemacht, +nicht daß wir sie töten, sondern seinen Willen damit erfüllen. Wenn wir +Gott selber in unsern Wünschen und Begierden haben, können sie kein +Hindernis mehr sein. Ihre Seligkeit heißt, in Gott zu ruhen; unsere +wird sein, Gott zu tun.</p> + +<p>Sie sind unter Brunegg stehen geblieben, weil es ihn angestrengt hat, +im Steigen soviel zu sprechen; nun sagt<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> er ihr seinen Plan eines neuen +Waisenhauses. So bist du der Alte geblieben? fragt sie, und er sieht in +der ungewissen Helligkeit der Winternacht, wie sie selber die Antwort +dazu lächelt. Ihm aber ist es auf einmal zumut, als ob er wieder in +der Schule das Vaterunser sprechen müsse; er kann die Worte fast nicht +herausbringen, so unbändig kichert seine Fröhlichkeit: Ja, Liebe, und +darum wollte ich dich fragen, ob wir nicht Schloß Brunegg kaufen sollen!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>80.</h3> +</div> + +<p>Seit dieser Nacht fühlt Heinrich Pestalozzi einen fremden Flügelschlag +über seinen Dingen, sodaß er sich eilen muß, den Ereignissen zu folgen, +statt sie mühsam anzuzetteln. Er macht zwar noch das Höchstgebot auf +Brunegg und findet bei der aargauischen Regierung eine unerwartete +Willfährigkeit, ihm bei der Einrichtung eines helvetischen Waisenhauses +behilflich zu sein; aber das Schicksal verlegt ihm mit gütigen +Wendungen den Rückweg aufs Birrfeld: Schon im November hat der Doktor +Grimm sich erboten, einige Waisen aus dem Kriegsgebiet in sein Haus +zu nehmen, andre Bürger sind ihm willig gefolgt, und da Fischer den +Plan mit Feuer betreibt, kommen Ende Januar sechsundzwanzig Kinder in +Burgdorf an, die der Pfarrer Steinmüller zu Gais im Appenzeller Land +gesammelt hat. Heinrich Pestalozzi will gerade zum Schloß hinauf, als +die Bürger ihnen entgegenleuchten; überall sind Betten und warme Suppen +für die Zitternden bereit, es könnten ihrer hundert sein, soviel Hände +strecken sich hilfreich<span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span> aus. Auch sein Herz wallt ihnen entgegen, +und gleich ist er mitten in der Schar, mit scherzenden Fragen seinen +Willkomm zu sagen; aber eins nach dem andern wird ihm eingefordert, und +ehe er sichs versieht, steht er allein auf der Straße da. Meine Zeit +ist noch nicht gekommen, sagt er kopfschüttelnd vor sich hin, als er in +einer bestürzten Wehmut durch die Dunkelheit zum Schloß hinaufgeht.</p> + +<p>Aber unversehens fällt das, was andre begonnen haben, ihm in den Schoß, +der die Seele solcher Taten ist: die Kinder sind durch einen jungen +Dorfschulmeister namens Hermann Krüsi aus Gais gebracht worden, der +als dritter ein Zimmer im Schloß erhält. Er ist ein lernbegieriger +Mensch von vierundzwanzig Jahren, dem die Nähe des berühmten Verfassers +von Lienhard und Gertrud eine Erhöhung seines Lebens bedeutet; +für seine Appenzeller Kinder wird ihm eine besondere Schule im +Ort eingerichtet, sodaß sie morgens miteinander in den Burgdorfer +Schuldienst hinuntergehen. Obwohl Heinrich Pestalozzi sich mit seinen +Menschheitsplänen in der Buchstabierschule der Jungfrau Stähli — wie +er dem Krüsi sagt — allmählich gleich einem Seefahrer vorkommt, der +seine Harpune verloren hat und mit der Angel probiert, Walfische zu +fangen, bleibt er unverdrossen dabei, bis er im Frühjahr die Burgdorfer +zu einer öffentlichen Prüfung einladen kann. Schon die Neugierde, in +die seltsamen Karten des wunderlichen Fremdlings zu blicken, treibt sie +zahlreich herzu; aber nun steht nicht mehr das Mitleid kopfschüttelnd +da wie in Stans, es gibt eine wahre<span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span> Verblüffung über die Fertigkeiten +so junger Schüler, und die Schulkommission stellt ihm ein öffentliches +Zeugnis aus, dankbar, daß er gerade Burgdorf für seine Lehrversuche +gewählt habe. Diese Anerkennung macht ihn zittrig vor Freude, weil +er nun endlich die Weite für seine Dinge geöffnet sieht, sodaß er +in seinem fünfundfünfzigsten Jahr trotz dem Ehrenbürgertum der +französischen Republik wie ein belobter Schüler in die Ferien kommt und +seiner Frau Anna das Zeugnis in den Schoß legt. Eigentlich bist du zu +alt dazu, lächelt sie wehmütig mit dem Papier in der Hand: oder sollte +die Zeit gekommen sein, wo die Großväter wieder zur Schule gehen? Aber +er läßt sich sein Glück nicht erschüttern: »Man hat mir schon in meinen +Knabenschuhen gepredigt, es sei eine heilige Sache um das von unten +auf Dienen; ich achte es für die Krone meines Lebens, daß man mich mit +grauen Haaren in der Schule von unten anfangen läßt!«</p> + +<p>Er hätte nötig, daß diese Ostertage Ferien für ihn würden, aber sein +Sohn Jakob will sterben, und während draußen der Frühling schäumt, +zerreißen die Schmerzen den hilflosen Mann, dem er den Neuhof als +Erbschaft mühsam aufgespart hat. Zerstört von Nachtwachen kommt er +wieder in Burgdorf an, wo Krüsi allein auf ihn wartet, weil Fischer +enttäuscht und todkrank nach Bern zurückgegangen ist. Als Heinrich +Pestalozzi spät abends den Steilweg aus dem Ort hinauf tastet, findet +er den Appenzeller, der seitdem einsam und landfremd in den leeren +Gebäuden haust, sehnsüchtig harrend am Tor. Mein Sohn stirbt, sagt er, +als<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> sich der Jüngling ihm weinend in die Arme wirft: kommst du mir an +Sohnes Statt?</p> + +<p>Danach gibt es einen Erntesommer für ihn, wie er noch keinen erlebte: +die Bürger haben ihn dankbar zum Lehrer an der zweiten Knabenschule +gemacht, darin er an die sechzig Knaben und Mädchen zu lehren hat; +und kaum, daß er mit Krüsi überlegt, wie ihre Schulen sich vereinigen +und, in Klassen eingeteilt, besser im Lehrplan einrichten ließen — +nur an Raum fehlt es im Schulhaus, während im Schloß die schönsten +Räumlichkeiten leer stehen — sind die Herren in Burgdorf und Bern +gleich so diensteifrig, daß die Kinder schon zum Sommer auf dem Berg +einrücken können. Als der Schloßhof von dem emsigen Gewirr ihrer +Stimmen widerhallt, müssen die Knaben und Mädchen von der Linde ein +Schweizerlied ins waldige Emmental hinunter singen, und diesmal stehen +keine Luzerner da zum Lachen, weil er selber mit seiner alten Stimme +fröhlich den Takt hineinkräht: Nun ist es kein leeres Schloß mehr, +denkt er, und ich brauche morgens nicht auf einem Steckenpferd den +Berg hinab zu reiten! Wie ein Feldherr einen Engpaß bezwungen hat, +das bedrängte Land von den Feinden zu räumen, fühlt er sich längst +über die ersten Buchstabier- und Rechenkünste hinaus und mächtig, in +die entlegenen Gebiete der herkömmlichen Schulmeisterei den Gang der +Natur zu tragen. Er hat zum Wort und zu der Zahl die Form der Dinge als +drittes Element für seinen Unterricht gefunden und hält nun endlich +das Geheimnis in der Hand: das Abc der Anschauung, daraus sich alle +Fertigkeiten und Kenntnisse gewinnen lassen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span></p> + +<p>Mit dem Sommer fängt die Nachricht von der Wunderschule im Schloß +zu Burgdorf an durchs Land zu gehen, und wie ehemals auf dem +Neuhof, kommen Gläubige und Zweifelnde an, sich mit eigenen Augen +zu überzeugen, was Wahres an dieser neuen Zeitung sei. Sie finden +keinen Einsiedler mehr: Krüsi hat aus Basel seinen Freund Tobler +geholt, der dort als Theologiestudent den Hauslehrer spielte; der +wiederum bringt einen jungen Buchbinder namens Buß aus Tübingen mit, +weil er sich trefflich aufs Zeichnen und die Musik versteht, welche +Künste Heinrich Pestalozzi auch in den Anfängen versagt sind. Sie +hausen zu vieren in dem Schloß und müssen manchmal selber lachen, +was für einen seltsamen Verein sie bilden: ein Romanschreiber, ein +Theologiestudent, ein Buchbinder und ein Dorfschulmeister. Ich bin +nun wirklich ein Wundertier, scherzt Heinrich Pestalozzi oft, ich +habe vier Köpfe und acht Hände. Er wird auch nicht müde, die Fremden +durch die Klassen zu führen, wo im ersten Stock die Körbe mit den +Buchstabentäfelchen stehen, daraus sich vor den Augen der Kinder die +Silben und Wörter auswachsen; in der zweiten fangen die Schreibkünste +auf den Schiefertafeln an — die meist als die größte Neuheit bestaunt +und befühlt werden — und durchsichtige Hornblättchen mit eingeritzten +Buchstaben sind die stummen Schulmeister in den Händen der Kinder, +ihre Schriftzüge zu kontrollieren; der dritte Raum ist groß genug zu +Marschübungen, und wenn den Besuchern schon aus den andern Stuben +der Takt im Chorsprechen als das Erstaunlichste im Ohr geblieben +ist, weil er die Vielheit der<span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span> Schüler mit einem Mund sprechen läßt, +so sehen sie nun den selben Takt als Erscheinung lebendig werden, +wenn die Kinder fröhlich singend oder deklamierend gleichen Schritt +halten. Heinrich Pestalozzi weiß wohl, daß dies alles nur die +Augenfälligkeiten seiner Lehrübungen sind, und es ficht ihn nicht an, +wenn ein gelehrter Herr kopfschüttelnd über die Einfalt solcher Methode +den Berg hinuntergeht. Sie suchen den Stein der Weisen, spöttelt er, +aber es darf kein Stein sein, weil sie sonst nur an den Bach zu gehen +brauchten! Auch meinen sie, ich plagte mich in meinen Großvaterjahren +um neue Schulmeisterkünste, wo ich doch nur der Armut eine Treppe bauen +will. Und als der sinnende Tübinger, dem es am schwersten fällt, sich +einzuleben, ihn einmal am Abend fragt, wie er das meine? sagt er sein +Beispiel von dem Haus des Unrechts.</p> + +<p>Sie sitzen auf der Mauer unterm Lindenbaum und sehen, wie die +Sonnenröte die Alpen herrlich überschüttet, und auch die beiden anderen +kommen horchend herzu, als er beginnt: Was meint ihr, daß einer im +Keller unseres Schlosses von diesem Abend sähe! Die Luken im Gewölbe, +zu hoch für die Augen, werden ihm nur einen bläßlichen Schein der Röte +geben! Besser wird es in den Stuben des unteren Stockwerks sein; obwohl +es nach außen kein Fenster hat, sieht man den Widerschein im Hof und +ahnt die Herrlichkeit! Nur oben, wo die Fenster aus den Sälen nach +allen Seiten den freien Ausblick gestatten, kann der Bewohner sich +gemächlich in eine Nische setzen, den Anblick zu genießen! Nun denkt +euch, Freunde, es gäbe keine Treppe in diesem<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span> Haus, sodaß die Herren +in den Sälen die einzigen Genießer wären, die Bürger in den Stuben +darunter könnten nicht hinauf, obwohl ihnen der Widerschein im Hof das +Blut unruhig machte; das arme Volk aber in den Gewölben säße gefangen +im fensterlosen Dunkel und hätte von Gottes Sonne nur die trübe Röte an +der Luke!</p> + +<p>So, Freunde, ist das Haus des Unrechts um die Klassen der Gesellschaft +gebaut. Drum hab ich mich gemüht mein Leben lang und bin ein Narr +geworden vor ihren Augen, daß ich in dieses Haus des Unrechts die +Treppe der Menschenbildung baute.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>81.</h3> +</div> + +<p>Wenn die Morgenstunden seiner Schule zu Ende sind, geht Heinrich +Pestalozzi bei gutem Wetter an die Emme hinunter, Steine zu suchen. Er +kennt nur wenige Arten und wählt sie mehr wie ein Kind nach der schönen +Farbe aus, doch schleppt er gern ein Taschentuch voll davon, wenn +er zum Stadthauswirt Schläfli an den Mittagstisch kommt. Meist geht +auch eins oder das andere der Appenzeller Kinder mit, und namentlich +ein Knabe namens Ramsauer begleitet ihn gern. Wie er eines Tages mit +dem im sonnigen Gestein sitzt — trotzdem ihm die Gehilfen tapfer +beistehen, schmerzt ihn die Brust vom Sprechen — denkt er mit einer so +traurigen Sehnsucht an sein verlassenes Waisenhaus in Stans, daß ihm +die Tränen rinnen. Er weiß schon lange, daß ihn die Regierung nicht +dahin zurücklassen will, aber er hat es nicht angeschlagen um seiner +neuen Arbeit willen; nun läuft ihm die Bitterkeit der unbefriedigten<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span> +Gedanken von allen Seiten zu. Es gerät ihm wie niemals vorher mit +seiner Treppe der Menschenbildung, er hat den Schlüssel, alle +Stockwerke zu öffnen, aber es sind doch nur die Bürgerkinder dieser +wohlhabenden Kleinstadt, die davon Nutzen haben: Schlimmer als jemals +ist die Not im Land, und ich habe in eitler Selbstgefälligkeit die +Fremden durch meine Methode spazieren geführt. Als sie mich für einen +Narren hielten, schrieb ich meine Schriften; jetzt, wo mir die Bürger +gute Zeugnisse geben und ein Gehalt zahlen, bin ich Großvater wirklich +ihr Narr geworden!</p> + +<p>Als er bedrückt von solchen Gedanken, diesmal ohne Steine im Sacktuch, +in die Stadthauswirtschaft kommt, sieht er Tobler schon wieder mit zwei +Fremden dasitzen, einem rotköpfigen Pfarrer und einem Tirolerknaben, +die erfreut aufstehen, ihn zu begrüßen. Er kann seinen Groll zu +keinem freundlichen Wort zwingen, macht augenblicklich kehrt und +läßt sein Mittagsmahl im Stich, obwohl Tobler gleich hinter ihm her +ruft. Unterwegs tut ihm die Torheit leid, aber wie er dann an seinem +Sorgenplatz unter der Linde steht, kommen ihm die drei hartnäckig +in den Schloßhof nach, und nun muß er selber lachen, weil der junge +Pfarrer niemand anders als der Freund Toblers, Johannes Niederer aus +Sennwald ist, mit dem er seit Monaten im herzlichsten Briefwechsel +steht. Den Tirolerknaben, der auf eigene Faust sein Schüler werden +will, hat er zufällig unterwegs getroffen. So geht mirs, klagt er und +schließt sie beide in die Arme: vor Gleichgültigen mache ich meine +Kapriolen, und wenn Freunde kommen, rennt der Hase fort!</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span></p> + +<p>Er kehrt danach mit ihnen in das Stadtwirtshaus zurück, und es wird +ein fröhlicheres Mittagsmahl, als er es seit Wochen hatte; denn seit +dem Holsteiner Nicolovius ist ihm nicht mehr solche Liebe widerfahren, +wie in den Feuerbriefen dieses kaum zwanzigjährigen Pfarrers aus +Sennwald, der nun wie der Husarenkapuziner aus Stans neben ihm sitzt, +so rotköpfig und so verbissen in seine Gedanken. Er ist zwar vorläufig +nur zum Besuch gekommen, aber Heinrich Pestalozzi reißt wieder einmal +gierig die Zukunft aus der Gegenwart los: Ihr seid die Jugend, die zu +mir aufsteht, sagt er und halt ihnen sein Glas hin, als ob er alle Tage +so schöppelte; nun will ich den Fischzug meines Lebens machen! Und weiß +auf einmal garnicht, warum er sich bis zu diesem Tag geweigert hat, +die Erbschaft Fischers ganz anzutreten: ein Schullehrerseminar, eine +Musterschule und eine Pensionsanstalt hat der in Burgdorf gewollt, den +nun in Bern der Rasen deckt, indessen er noch immer eigensinnig auf +sein Waisenhaus in Stans wartet, als ob es diese oder jene Waisen und +nicht die Treppe seiner Lehre gelte.</p> + +<p>Noch in den Tagen, da Niederer wie ein Spürhund durch die Klassen geht +und jeden Fund verbellt, verhandelt er mit der Regierung in Bern. Er +fühlt, daß sich die Summe seines Lebens einsetzen will: was er als +Landwirt, Armennarr und Schriftsteller auf dem Neuhof, als Waisenvater +in Stans und als Winkelschulmeister in Burgdorf an Erfahrungen +einbrachte, soll nun Erscheinung werden. Zwar haben die politischen +Hagelwetter seinen Freund Stapfer als Minister verdrängt,<span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span> aber +noch in den letzten Wochen hat er ihm eine helvetische Gesellschaft +von Freunden des Erziehungswesens gegründet, die ihm nun mit einem +Aufruf an die Bürger aller Kantone beisteht. Zum andernmal nach einem +Vierteljahrhundert rasselt seine Werbetrommel durch das Land, aber nun +treten ihrer viele zu dem Bürger, dessen Ruhm im Ausland geklungen +hat. Schon im November sind an die fünfzig Zöglinge im Schloß, nicht +Bettelkinder wie im Neuhof, die ihren Unterhalt durch eigene Arbeit +verdienen sollen, sondern Bürgersöhne und Töchter, deren Eltern den +Aufenthalt mit gutem Geld bezahlen. Er löst die Burgdorfer Schule ab, +und nur die von den Appenzeller Kindern bei ihm bleiben wollen, behält +er um Gotteswillen; der Tiroler Schmidt ist auch darunter.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi staunt, wie rasch ihm dies alles ins Kraut +geschossen ist, aber der Erfolg macht ihn fröhlich, sodaß er dem Herbst +und Frühwinter die Tage wie die Blätter eines Märchenbuches abliest. +Darüber kommt Weihnachten, und er kann diesmal nicht in Neuhof sein, +weil einige Kinder mit den Gehilfen bleiben, denen er als Vater das +Fest bereiten muß. Zum Neujahr deckt ein dicker Schnee alles mit runden +Kappen zu, und der Weg vom Schloß hinunter bis in die Häuser ist +eine steile Schlittenbahn. Selbst seine Burgdorfer Freunde schütteln +mißbilligend den Kopf, als sie ihn da mit den Kindern schlitteln +sehen, und der Doktor Grimm sagt ihm, daß dies kein Geschäft für einen +Großvater sei; er aber, der nichts Schöneres auf der Welt kennt, als +wenn verschüchterten Kindern die Augen fröhlich aufgehen,<span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span> nimmt +einen Schneeball und wirft ihn, sodaß es — als die Knaben seinem +Beispiel folgen — ein lustiges Gefecht um die Fröhlichkeit gibt, bei +dem der Griesgram in die Flucht geschlagen wird: Das ist keine so +einträgliche Schlacht für euch Doktoren, als wenn mit Bleikugeln auf +Menschen geschossen wird, sagt er ihm einige Tage später, als er ihn +bei Tauwetter wiedertrifft, aber sie macht rote Backen! Der Doktor +schüttelt unwillig den Kopf: er habe ihm nur die Post mitgebracht, weil +er doch zu dem Knaben müsse, der sich bei dem Spaß bös erkältet habe.</p> + +<p>Es ist nur ein zierlicher Brief, von Frauenhand mit dünnen Buchstaben +adressiert; er öffnet ihn gleich und liest, daß ihm die Tochter +Lavaters den Tod ihres Vaters meldet, der am zweiten Januar seiner +Verwundung nach langem Siechtum erlegen sei. Von ihm selber aber liegt +ein Zettel dabei, den er als Abschiedsgruß noch auf dem Sterbebett an +ihn geschrieben hat:</p> + +<p> +<span style="margin-left: 1em;">»Einziger, oft Mißkannter, doch hochbewundert von vielen,</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">Schneller Versucher des, was vor dir niemand versuchte,</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">Schenke Gelingen dir Gott! und kröne dein Alter mit Ruhe!«</span><br> +</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi ist so erschüttert, daß er den erstaunten Doktor +ohne Wort auf der Straße stehen läßt und quer über die nassen +Schneefelder zur schwarzen Rinne der Emme hinunterläuft. Dies ist genau +so unvermutet wie in den Jünglingstagen, als Lavater ihm den »Emil« ins +Rote Gatter brachte: Er war nicht mein Freund, überschlägt sein Gefühl, +er hat mich nie recht gemocht, und nur ein paarmal hat uns das Leben +nebeneinandergestellt; nun hat er wie Bluntschli vor<span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span> Gott gesessen +mehr als ein Jahr, kaum, daß ich einmal an ihn dachte im Strudel meiner +Dinge, und er schickt mir dieses Wort!</p> + +<p>Nur die treue Erinnerung hat er aus dem Zettel gelesen, kaum die +Sätze; doch wagt er nicht, ihn noch einmal vor die Augen zu bringen, +so ehrfürchtig ist ihm zumute, weil er von einem Toten kommt: Wie +dieser Bach im Schnee übereilen wir unsern Weg, sagt er und läßt seine +Augen mit den Glattwellen laufen, bis sie hinter den schwarzen Büschen +verschwinden. Nur an unsern Ufern sehen wir die Dinge, alles nur einmal +im Gedränge, und kein Augenblick kann gegen den Wellenschlag zurück. +Wenn wir unten sind, ist dies unser Leben gewesen; aber unser Wasser +war es nicht. Das Wasser gehört der Welt, der kein Tropfen an irgend +wen verloren geht; unser Teil ist, daß wir fließen. Durch ein paar +Mühlräder können wir laufen unterwegs, aber nicht mehr sehen, wieviel +von Gottes Korn damit gemahlen wird.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>82.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat sich in dem nassen Schnee eine Erkältung +geholt, die über Nacht fiebrig wird, sodaß ihn der Doktor Grimm für +ein paar Tage zur Vergeltung ins Zimmer sperrt. Kröne dein Alter mit +Ruhe! steht auf dem Zettel Lavaters, den er nun auswendig weiß; aber +selten hat ihm ein Wort so viel Unruhe bereitet. Er weiß, wie dünn ihm +die Kräfte geworden sind und daß ihn täglich die Gefährlichkeit seiner +Jahre ankommen kann; aber keine drohende Krankheit vermöchte<span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span> ihn so zu +schrecken wie die Sorge, lässig zu werden: Die Ruhe des Alters kommt +denen zu Recht, die Glück mit ihrem Leben hatten; ich aber, dem alles +unter den Händen zerbrach und der ich noch als Großvater in die Schule +mußte, ich wäre damit einem Bauer gleich, der seine Felder und Gärten +in Dürre und Kriegsnot bestellt hat und danach die Ernte versäumte.</p> + +<p>Diese Ernte aber wächst weder in Burgdorf noch in einer andern +Anstalt allein, sie ist ihm auf den unübersehbaren Feldern seines +Lebens gereift, und nur, wenn er eine alles umgreifende Darstellung +seiner Lehre der Menschenbildung hinterläßt, hat er nicht umsonst +gelebt. Unter den Gehilfen, die er nun wieder mit den Zöglingen +Schneeballen werfen sieht — weil der Winter neuen Schnee auf den +glatt gefrorenen Guß des Tauwetters gelegt hat — ist keiner, der +von der Last seiner Erfahrungen und dem Gang der Methode mehr als +die Anfänge wüßte; und was sie davon ausbrächten, wenn er stürbe, +wäre nichts als eine notdürftig gebesserte Schulmeisterei. Schneller +Versucher des, was vor dir niemand versuchte, schreibt er mit den +Worten Lavaters auf das oberste der Blätter, die er gleich am ersten +Tag seiner Stubenhaft herauskramt, um sein Lehrbuch der Menschenbildung +zu beginnen. In seinen Nachforschungen über den Gang der Natur in +der Entwicklung des Menschengeschlechts hat er versucht, seine Sache +auf eine Weltanschauung zu gründen; nun will er den gleichen Gang +der Natur in der Erziehung aufweisen. Aber als er gleich in diesen +Januartagen anfängt zu schreiben, wird es zugleich ein Bekenntnisbuch +seines fünfundfünfzigjährigen<span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span> Lebens: alle Einsichten, die er sich +in mühseligen und schmerzenden Erfahrungen für die Volksbildung +erkämpft hat, fließen ihm hin in zwölf angeblichen Briefen, von denen +jeder eine Schrift für sich sein könnte. Es ist nun wirklich, als ob +er die Früchte abnähme vom Baum seines Lebens, obwohl draußen erst +das Frühjahr den Winter ablöst und sich von einem Strauch zum andern +durchblüht in den grünen Sommer. Immer wieder füllen die Zöglinge den +Hof mit ihrem fröhlichen Lärm, von den Gehilfen zum Spiel geführt, Tag +für Tag steht er selber unter ihnen mit Zuspruch und Lehre, Eltern +kommen, ihre Kinder zu bringen, und Freunde weither in Reisewagen, +seine Schule zu sehen: was sonst der Sinn seines Tages war, ist nun +eine bunte Füllung geworden, und erst abends, wenn Heinrich Pestalozzi +wieder an seinen Blättern sitzt, blüht ihm die Seele im eigenen +Herzschlag auf. Wer ganz bei sich ist, ist bei den andern! schreibt er +einmal auf einen Zettel, als er sich selber zu eigensüchtig vorkommt +inmitten der durch ihn bewegten Dinge.</p> + +<p>Das zwölfte Stück ist fertig, als ein Brief vom Neuhof anlangt, daß +sein Sohn Jakob im einunddreißigsten Jahr seines schmerzvollen Lebens +gestorben ist; seine Frau schreibt ihm die Nachricht und daß sie ihr +Kind selber, von Zürich hingerufen, nur noch auf dem Totenbett gefunden +habe. Es tut ihm einen Stich ins Herz, aber er vermag die Feder nicht +hinzulegen, so sehr scheint ihm die Nachricht aus der Verwirrung seiner +Gedanken aufzuquellen. Er ist mit seiner Arbeit in eine böse Stockung +geraten: wie er die Uhrfeder der Sittlichkeit<span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span> in seine Methode +einsetzen will, erkennt er, daß die sinnliche Befriedigung bei jedem +Kind auf den Genuß geht und dem sittlichen Zwang feind ist. Soviel +er denkt und deutelt, er vermag die Sittlichkeit auf kein Bedürfnis +der Kindnatur zu gründen, und so muß er seiner Lehre selber die +Natürlichkeit fortnehmen, als er sie damit krönen will: »Es ist hier, +wo du das erste Mal der Natur nicht vertrauen, sondern alles tun mußt, +die Leitung ihrer Blindheit aus der Hand zu reißen und in die Hand von +Maßregeln und Kräften zu legen, die die Erfahrung von Jahrtausenden +angegeben hat.« In diese Verwirrung fällt die Todesnachricht, die +dadurch nicht gemildert wird, daß er sie für den Sohn als eine Erlösung +empfindet. Er hat den Blick Annas nicht vergessen, als sie ihn damals +ins Kleefeld legen mußten; irgendwie stürzt ihm das Gebäude seiner +Lehre ein und er hört die Säulen krachend zerbrechen: Wenn jetzt seine +Gläubigkeit nachläßt, wird ihm alles da entwertet, wo er es geheiligt +sehen wollte.</p> + +<p>Die Schriftzüge seiner Frau retten ihn; er weiß, ihr ist es als Mutter +schwerer geworden, die Nachricht mit einer Feder zu schreiben, als ihm, +sie zu lesen; aber kein Wort steht anders als in der Ergebung da, die +ihr heiliges Erbteil ist. So beugt er sich aus seinen Wirrsalen über +das tiefe Geheimnis der Mutter, darin die sinnliche Befriedigung alles +Daseins im Anfang beschlossen ist. Die Sitte der Appenzeller Frauen +fällt ihm ein, dem Neugeborenen einen papierenen Vogel über die Wiege +zu hängen, bunt bemalt, um so die ersten Sinneseindrücke des Säuglings +in den menschlichen Bannkreis<span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span> zu zwingen. Die Mutter ist der Brunnen, +darin Gott und Natur noch eins sind, aus ihr wächst die erste Nahrung +des Kindes, wie es selber gewachsen ist, und alles, was sie ihm danach +gibt, wird natürlich durch ihre Gabe, sie kann aus Gott das Brot des +Lebens machen. Nachdem rastet Heinrich Pestalozzi nicht mehr, schreibt +durch diese Nacht und noch tief in den Morgen, bis er die letzten +Briefe seines Buches fertig hat, die nun ein Lobgesang auf die Mutter +werden und auch den Titel des Buches bestimmen: »Wie Gertrud ihre +Kinder lehrt«. Eine gehetzte Angst hat seinen Überschwall getragen, bis +er am andern Mittag vor den Blättern — leergeflossen an ihrem Inhalt +— auf dem Stuhl in einen bleiernen Schlaf sinkt.</p> + +<p>Am andern Morgen in der Frühe holt er den Stecken und den Ranzen vor, +noch einmal aufs Birrfeld zu wandern, wo seine Frau das frische Grab +des Sohnes hütet. Es wird ihm leichter zu gehen, als er gedacht hat; +und als er schon tief im Aargau drin zwei Kinder bei einer Scheune +trifft, die eine Leiter quer über einen Brunnentrog zu einer Schaukel +gelegt haben, auf der sie abwechselnd mit glücklichen Augen in den +Himmel fahren, ruht er sich rätselvoll bewegt bei ihnen aus. Gleich +wird die Magd mit dem Eimer kommen, Wasser zu schöpfen, und der +Knecht wird die Leiter brauchen; das Glück ihres Spiels bleibt ihnen +trotzdem unangetastet: eine paar Steine auf dem Feld, eine Kuhherde +auf der Weide werden ihnen vielleicht in einer Stunde noch höhere Lust +bereiten, weil die nicht aus den Dingen — und also aus den Sinnen — +sondern aus ihren<span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span> Seelen kommt. Es gibt keine bösen Lockungen der +Sinne zum Genuß, es gibt nur eine Lust der Seele, die sich in ihrem +Körper fühlt; sie ist das Leben selber und kann kein Hindernis der +Bildung sein: gerade sie muß der Mutter das Leitseil werden, ihr Kind +ins Gute zu führen. Die Hölle und das Paradies liegen gleichviel darin, +oder fast nicht, weil Lust und Pein Feuer und Wasser sind, während jede +Lust in ewige Seligkeit ausfließen will!</p> + +<p>Er trifft Anna, wie sie mit Gottlieb, dem Enkel, am Brunnen steht, als +ob es noch ihr Knabe wäre. Die Rührung überströmt ihn, sodaß er ihr +ins Ungewisse hinein die Hand hin hält, so hindern die Tränen ihn, +ihr Gesicht zu sehen: Nun ist das Band fort, das von meinem zu deinem +Leben ging! Aber als ob ein Schwamm ihm dreißig Jahre von seinem Leben +auslöschte, wird er vom Klang ihrer Stimme berührt: Nein, Pestalozzi, +es ist nur in die Ewigkeit gelegt!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>83.</h3> +</div> + +<p>Im Oktober läßt Heinrich Pestalozzi das Buch erscheinen, und noch vor +Weihnachten sieht er die Saat seiner Worte in den deutschen Blättern +aufgehen; es können zunächst freilich auch nur Worte sein, aber die +Namen der Schreiber sagen der aufhorchenden Schweiz, daß aus dem +Armennarr im Neuhof eine geistige Macht geworden ist. Auch könnte +ihm Füeßli nicht noch einmal mit seiner Rede von der Rührung und dem +Kirschwasser kommen; denn alles an dem Buch ist Rede und Überredung, +und jeder Beifall bedeutet eine Entscheidung<span class="pagenum" id="Seite_304">[S. 304]</span> für ihn, die irgendwie +in Taten endigen muß. Indem sich danach die Zöglinge für seine Anstalt +reichlicher melden, hilft das Buch auch seiner äußeren Lage, sodaß er +diesmal zuversichtlicher als sonst das Frühjahr abwartet.</p> + +<p>Die geborene Fröhlich ist zu ihm gezogen mit der kleinen Marianne, +die ein überzartes Kind von sechs Jahren ist und schon am Unterricht +teilnehmen kann. Zum Fest kommt auch die Großmutter mit dem Gottlieb, +sodaß sie bis auf Lisabeth, die den Neuhof hüten muß, in Burgdorf +beisammen sind. Es befriedigt ihn, endlich einmal Anna seine Dinge +in der neuen Gestalt zeigen zu können, wo er nicht selber mehr der +Lehrling, sondern der Meister ist; und selbst damals, wo er sie auf dem +Gut Tschiffelis umher führte, ist er nicht stolzer auf sie gewesen als +nun, wo sie lächelnd über seinen Eifer mit ihm durch die Schulstuben +und Schlafsäle der Anstalt geht. Die zweiunddreißig Jahre der Ehe +haben ihm nichts von ihrer Schönheit ausgelöscht, und während sie den +Gehilfen eine ehrfürchtig begrüßte Matrone vorstellt, ist ihm bräutlich +zumut. Der Tod ihres einzigen Kindes geht noch mit ihr, und obwohl sie +willig zu seinen Erklärungen nickt, bleibt der Schmerz in ihren Augen +wie Glas, darin sich die Eindrücke dieser Dinge mit der Spiegelung +schmerzhafter Erinnerungen mischen. Es wird ein stilles Fest, aber +heilig für ihn; und als sich gleich nach Neujahr Tobler im Schloß +trauen läßt, und Niederer zum zweitenmal nach Burgdorf kommt, seinem +Freund die Traurede zu halten, sitzt er wirklich — wie Niederer sagt +— als Erzvater dabei.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_305">[S. 305]</span></p> + +<p>Aber die Zeiten sind nicht testamentarisch; unversehens zieht noch +einmal ein Kriegsjahr seine Unruhen und Bedrängnisse um die Anstalt. +Schon im vergangenen Oktober haben die Föderalisten, wie sich die +Anhänger der alten Kantonswirtschaft nennen, die helvetische Regierung +in Bern gestürzt und eine andere gewählt, die dem Schwyzer Aloys +Reding als Landammann untersteht. Da es der neuen Herrschaft aber wie +der alten an Geld fehlt, um aus der Schuldenwirtschaft zu kommen, +steigen im Frühjahr schon wieder die sogenannten Unitarier auf der +Schaukel hoch. Dagegen erheben sich die Urkantone, die auch sonst +überall die Mißvergnügten an der neumodischen Franzosenwirtschaft +finden, und während für Europa endlich ein Friedensjahr gekommen +ist, fangen die Schweizer unter sich Kriegshändel an. Obwohl sie es +selber um der altmodischen Bewaffnung willen den Stecklikrieg nennen, +muß die helvetische Regierung vor den Aufständischen aus Bern nach +Lausanne flüchten, und gerade soll der Tanz im Waadtland losgehen, +als zwischen den feindlichen Scharen der General Rapp sechsspännig +vorfährt, den Einspruch Bonapartes zu bringen, dem ein nachrückendes +Heer von vierzigtausend Franzosen ein unwiderstehliches Gewicht gibt: +die einzelnen Kantone sollen ihm, statt diesen Bruderkrieg zu führen, +Abgeordnete nach Paris schicken, um dort unter seiner Aufsicht eine +neue Verfassung zu beraten. Es bleibt den hitzigen Schweizern nichts +übrig, als ihr Waffenzeug heimzutragen und die Tagsatzung statt in +Schwyz in Paris vorzubereiten, weil sie — wie ein Witzbold sagt +— ihrem vielbeschäftigten Ehrenpräsidenten<span class="pagenum" id="Seite_306">[S. 306]</span> Bonaparte jetzt keine +Schweizerreise zumuten dürften!</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat diese Händel als einen Streit von Bauleuten +angesehen, die sich über den Plan ihres neuen Hauses nicht einigen +können und dem alten nachjammern, obwohl sie es selber eingerissen +haben; er ist zu der bitteren Einsicht gekommen, daß es bei solchen +Parteikämpfen mehr um die Macht, zu regieren, als um das Volkswohl +geht. Bevor noch das sechsspännige Fuhrwerk des Generals Rapp in +die Schweiz eingefahren ist, hat er in einer Flugschrift die vier +Eckpfeiler aufgestellt, mit denen das Haus einer helvetischen +Verfassung besser als mit Flinten und Kanonen unter Dach zu bringen +wäre: wirkliche Volksbildung, unbestechliches Gericht, allgemeine +Militärpflicht und gerechte Finanzen. Der Grundstein aber müsse unter +dem Pfeiler der Volksbildung eingesetzt werden; weil an die anderen +Pfeiler ohne diesen ersten nicht zu denken wäre, sei er dem heutigen +Geschlecht das einzig Erreichbare. Er hat die Schrift in wenigen Tagen +hingeschrieben; sie stellt ihn auf den schmalen Grat, wo der Haß von +beiden Seiten aufbrandet, aber als die Wahlen für die Tagung in Paris +vorüber sind, ergibt sich, daß er an zwei Stellen, von den Bauern des +Emmentals wie von dem Landvolk in Zürich, als Abgeordneter gewählt ist.</p> + +<p>Ich werde nicht sechsspännig fahren, scherzt er, mein Wagen geht auf +zwei Beinen! Obwohl er dann um der unruhigen Zeiten und der Mühsale +willen — auch geht es in den Winter — die Reise doch im Wagen machen +muß, fährt er fröhlich und mit besonderen<span class="pagenum" id="Seite_307">[S. 307]</span> Hoffnungen für seine Sache +ab. Seitdem er seine Anstalt in Burgdorf hält, haben drei französische +Gesandte in Bern gewechselt, doch jedem sind seine Dinge mehr als +einen flüchtigen Besuch wert gewesen; auch weilt Stapfer in Paris, +der ihm die rechten Türklopfer in der Stadt zeigen kann, darin die +Zukunft Europas zurechtgehämmert wird. Und seine Anstalt läßt er gut +besorgt zurück, weil Anna sich tapfer entschließt, während seiner +Abwesenheit das Hausregiment zu führen. Es ist seine zweite Reise und +in der Strecke fast der Fahrt nach Leipzig gleich, die er vor zehn +Jahren machte; auch werden die Tage wieder in die selbe Kette von +Zollhäusern, Posthaltereien und Gasthöfen eingespannt, nur daß die +Uniformen französisch sind. Doch als er am zwölften Nachmittag die +Unermeßlichkeit der Stadt um den blinkenden Lauf der Seine daliegen +sieht, ist es ein anderes Wesen als das Landstädtchen an der Elster. So +hat sich auch sonst alles um mich geweitet, denkt er: damals kam ich um +eine Familienerbschaft, heute schickt mich mein Volk für seine Zukunft; +in Leipzig lief ich als Unbekannter die Türen kleinstädtischer Behörden +ab, hier werde ich als Ehrenbürger der Franzosen vor ihren Konsul +treten!</p> + +<p>Aber er bekommt den Machthaber nur einmal zu sehen, als Bonaparte +unvermutet in ihren Saal tritt, anscheinend zufällig, als ob er nur +den Durchgang benützte, aber eindrucksvoll mit seinem goldflirrenden +Gefolge. Das letzte Wort der unterbrochenen Rede findet noch Zeit, +in das Stuckwerk der Decke zu flattern, dann ist die starre Ruhe +der Augen da, die alle auf den<span class="pagenum" id="Seite_308">[S. 308]</span> kleinen Mann blicken, der, im Alter +der jüngste unter ihnen, Europa mit dem Ruhm seines Namens erfüllt +hat. Er läßt sich kurz rapportieren, wobei er mehr durch die Augen +als die Ohren zu hören scheint, schneidet mit der Handbewegung eines +ungeduldigen Knaben die Rede ab und wendet sich mitten durch die +Reihen, sie gleichsam überrumpelnd, einigen Köpfen zu, die ihm ins +Auge fallen. Auch Heinrich Pestalozzi fährt unvermutet eine Frage ins +Gesicht; er ist geistesgegenwärtig genug, eine Antwort zu finden, die +den Machthaber festhält, sodaß der sich schon halb im Weitergehen noch +einmal zu ihm wendet. Heinrich Pestalozzi merkt sofort, daß er mehr als +ein Name für ihn ist, er umklammert ihn gleichsam mit Worten und sieht +mit einer glücklichen Hoffnung, daß in dem kalt forschenden Blick etwas +von ihm selber zu leben beginnt. Kein Zweifel, daß er den Konsul der +Franzosen mehr als einer der Männer vor ihm interessiert; während die +andern im Kreis zurückgetreten sind, weiß er auf die Zwischenfragen +des blassen und verarbeiteten Gesichtes ebenso rasch zu antworten: +Jetzt oder nie, denkt er, ist meine Stunde da! Auch noch, wie er in +hastig abgerissenen Sätzen von der Volksbildung spricht — daß sie das +Fundament jeder wirklichen Verfassung und ohne sie alles nur der Schein +einer Gesetzgebung sei — hört der Konsul noch sichtbar nachdenklich +zu, als ob er versuche, den Gedanken bei sich einzustellen. Irgendwie +scheint ihm das nicht zu geraten; er klopft ein paarmal unwillig mit +der Fußspitze, und während Heinrich Pestalozzi noch von Worten der +Zukunft überströmt,<span class="pagenum" id="Seite_309">[S. 309]</span> ist er für den Mann der Gegenwart nur noch ein +unangenehmer Greis, der ihm mit seinen haspelnden Armen an die Brust +will: Ich kann mich nicht in euer Abc mischen, sagt er spöttisch und +verläßt unverzüglich den Saal, als ob er versehentlich in eine Schule +geraten wäre.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi bleibt in dem Kreis der schadenfrohen und +bestürzten Gesichter, die wieder an ihre Plätze gerufen werden, und +braucht lange, bis er seinen Stuhl findet; aber während die Verhandlung +weiterstolpern will, kommt ihm alles wie eine leer laufende Mühle vor. +Noch immer ist er mit dem blassen Mann allein in dem Saal: Wir beiden, +denkt er — und tritt über Scham wie Hochmut hinweg in den Bereich des +Menschengeistes, wo die Persönlichkeit aufgibt, sich selber zu gehören +— wir beiden sind verschieden an dem Gefährt der Menschheit beteiligt: +er will sein Lenker sein, und ich möchte haltbare Räder machen; er aber +kanns nicht abwarten, weil er nur seine Stunde hat, drum knallt mir +seine Peitsche um die Ohren.</p> + +<p>Herab mit dem Schild, wenn die Sache weg muß! sagt er zu seiner +eigenen Erstaunung laut in die Verhandlung hinein und geht durch die +Hinterpforte hinaus, wie der andere durch die Flügeltüren gegangen ist.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>84.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi merkt bald, daß der Pariser Wind der helvetischen +Republik ungünstig weht. Die Franzosen haben genug Menschenrechte +proklamiert, und Bonaparte hält wieder Hof in den Tuilerien; er +braucht<span class="pagenum" id="Seite_310">[S. 310]</span> Glanz und Aufwand um sich, und die Aristokraten von Bern +passen besser in seine Pläne als die hartnäckigen Unitarier. Bevor +die Verhandlungen beginnen, ist die Schweiz durch sein Dekret schon +wieder in neunzehn Kantone eingeteilt; was den Abgeordneten noch zu tun +bleibt, sind nur die einzelnen Kantone, und es ist vorgesorgt, daß die +Herren von Herkunft und Vermögen darin das Heft in Händen behalten. +Heinrich Pestalozzi versucht es noch einmal mit einer schriftlichen +Darlegung seiner Ansichten, aber er weiß nun schon, daß er Wasser in +den Bach trägt. Selbst sein Ehrenbürgertum scheint bei den Franzosen +des Konsulats schäbig geworden zu sein; er braucht nur zu sehen, wie +die geputzten Herren und Damen seine Erscheinung belächeln, um sich +aller Illusionen zu schämen: Sie müssen mich für ein großes Wundertier +gehalten haben, wie ihren Cagliostro, spottet sein Grimm, nun bin +ich bloß ein Mensch! Und wie es ihm mit seiner Kleidung und der Art, +ihre Sprache zu sprechen, geht, so bleibt auch seine Methode mit all +dem Umstand ihrer tiefen Begründung den Parisern eine belächelte +Geheimniskrämerei; es brauchte nicht das unaufhörliche Geknatter ihrer +Sprache in seinen Ohren zu sein, und die Nötigung, seine Herzensdinge +dahinein zu sperren, um ihm seine Wesensfremdheit unter den Welschen +bald unerträglich zu machen.</p> + +<p>So hält er es für zwecklos, das Ende der Händel abzuwarten; als Ende +Januar die Hauptverhandlung ist, fährt er durch ein mildes Frostwetter, +das die Wege trocken gemacht hat, im Sundgau schon auf Basel zu, und +fünf Tage später holt ihn Anna am Stadthaus in<span class="pagenum" id="Seite_311">[S. 311]</span> Burgdorf aus der +Post. Da hast du deinen Odysseus wieder! versucht er zu scherzen, um +seiner Tränen Herr zu werden. Sie schafft ihm seinen Ranzen nach, +den er vor Rührung vergessen hätte, und er meint das Lächeln um ihre +schmerzensreichen Lippen zu sehen, als er ihre Stimme auf seinen Scherz +eingehen hört: So bin ich mit fünfundsechzig Jahren gar deine Penelope? +In Wahrheit, Pestalozzi, es war mir schwer, die Freier zu füttern; nun +magst du wieder deinen Bogen spannen!</p> + +<p>Er findet aber alles aufs beste besorgt, und daß sie als Hausmutter in +der Anstalt waltete, hat einen Segen hinein gegeben, der bisher fehlte; +von den Kindern wie von den Gehilfen ehrfürchtig begrüßt, bringt sie +eine ruhige Gangart in das Tagwerk. Der Bienenschwarm hat seine Königin +erhalten! sagt Krüsi in seiner biederen Art, als Heinrich Pestalozzi +sich verwundert, um wie weniger lärmend es bei den Mahlzeiten zugeht, +nur weil sie still an ihrem Platz sitzt. Auch sonst hat sie der Anstalt +wohlgetan: Briefe und Bücher sind in eine schöne Ordnung gebracht, und +wenn er nun aus dem Trubel in seine Stube tritt, wohnt die Häuslichkeit +darin. Daß es so bleiben könnte, denkt er jeden Tag; denn seitdem sie +damals aus Hallwyl nicht wiederkam, ist seine Seite leer geblieben; +und ob es bitter oder fröhlich mit seinen Plänen ging, daß ihre +Abwesenheit ihm alles entkrönte, war immer die leise Trauer darin. +Auch diesmal ist sie nur gekommen, an seiner Stelle das Hauswesen zu +leiten, und mit heimlicher Sorge wacht er über ihre Schritte, ob sie +nicht wieder zur Abreise rüsten werde. Doch läßt sie Wochen gleichmütig +verstreichen, und er<span class="pagenum" id="Seite_312">[S. 312]</span> hofft schon, daß sie dauernd bliebe, als ihr mit +den ersten Frühlingsblumen das Heimweh in die Säfte steigt. Sie ist +im Winter schwer krank gewesen, nun kommt die Schwäche wieder über +sie mit Todesahnungen: Ich möchte unsern See noch einmal sehen, klagt +sie; aber als sie dann endlich nach Zürich zu ihren Brüdern reisen +will, hat sie wohl seine erschrockenen Augen gesehen; denn andern Tags +möchte sie wieder bleiben. Doch sieht er, daß die Unruhe in ihr nicht +mehr rastet; ihr Ehrenplatz im Saal bleibt immer häufiger leer, da sie +die Mahlzeiten allein nimmt: der Taubenschlag ist ihr zu laut, aber in +ihrer Stube plagt sie die Einsamkeit.</p> + +<p>So steht sein Barometer mit ihr schon wieder auf veränderlich, als +eines Tages ein Jüngling das Quecksilber rasch auf schön Wetter steigen +läßt. Heinrich Pestalozzi bringt ihn aus Bern mit, aber er hat ihn +nicht dort erst gefunden: Ich mußte nach Paris reisen, um meinen Jünger +Johannes zu finden, scherzt er oft, so froh ist er selber, daß ihm +der Thurgauer von Muralt dort in die Hände kam. Es fehlt ihm nicht +mehr an Gehilfen, seitdem die dänische Regierung zwei junge Lehrer aus +Kopenhagen sandte und die gebildete Welt Deutschlands von Burgdorf +als einem Wallfahrtsort der Erziehung spricht; auch sind junge Leute +von Geist darunter, aber alles Schwarmseelen und wie ihr Meister +mehr auf stürmische Absichten als auf Sorgfalt gestellt, allmählich +Burgdorf mit ihrer buntgewürfelten Absonderlichkeit erfüllend. Johannes +von Muralt bringt nicht nur den Klang eines in der ganzen Schweiz +bekannten Namens, sondern auch die Vorzüge einer guten Erziehung<span class="pagenum" id="Seite_313">[S. 313]</span> und +gründlichen Bildung mit; als er zum erstenmal mit zu Tisch sitzt, +sorgfältig gekleidet und frei von der hastigen Schüchternheit, die +mit Empfindlichkeit gepaart das Erbteil einer durchgekämpften Jugend +ist, schweigt Heinrich Pestalozzi und Anna spricht. Es sind freilich +diesmal nicht die gewohnten Schuldinge; Johannes von Muralt ist durch +drei Semester in Halle der Lieblingsschüler des Philosophen Friedrich +August Wolf gewesen und hat in Paris mit dem Dichter Schlegel und +seiner Gattin Dorothea freundschaftlich verkehrt: der Geist schöner +Bildung lebt in seinen Gesprächen auf, der für Anna Schultheß seit der +Erscheinung Klopstocks in ihrer Jugend die heimliche Liebe geblieben +ist.</p> + +<p>So schließt sie den Jüngling mit einem Eifer ins Herz, der Heinrich +Pestalozzi fast eifersüchtig macht, bis der Schalk in ihm den Vorteil +erkennt. So schmerzlich er den Zwiespalt zum Vorschein kommen sieht, +der seit Anfang zwischen seinen Absichten und ihren Neigungen bestand +und schließlich zur Trennung ihrer äußeren Lebenswege führte — obwohl +sie durch alle Schicksalsschläge treu zu ihm stand — das Leben hat ihn +nicht so verwöhnt, daß er sich die Äpfel wie andere frank und frei von +den Bäumen pflücken kann. Fast listig läßt er sie gewähren, da sie nun +den See und ihre Abreise zu vergessen scheint: Wir Alten wollen die +Kinder unseres Geistes haben, überlegt er, und da es uns beiden mit +einem Sohn mißraten mußte, weil die Natur aus diesem Zwiespalt nichts +machen konnte, müssen wir Ersatz für unsere ungesättigte Elternschaft<span class="pagenum" id="Seite_314">[S. 314]</span> +suchen. Ich will ihr gern diesen Sohn gönnen, wenn sie mir damit die +Mutter meines Hauses bleibt!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>85.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi lächelt fast hinterhaltig, als er Anna nicht +lange danach den Johannes Niederer anbringt, der sein Pfarramt in +Sennwald aufgegeben hat, um — wie er sagt — mit bei der Wiege der +Menschenbildung zu sein: Nun habe auch ich wieder einen Sohn, und es +ist seltsam, daß sie beide Johannes heißen, denkt er, als er neben +dem schwarzen Muralt den roten Schopf Niederers sieht. Der hat auf +seinem Dorf keine Zeit gehabt, sich an der Welt zu schleifen: mit +neunzehn Jahren voreilig in den Pfarrdienst gekommen, hat er seit fünf +Jahren in der Feldschlacht menschenfreundlicher Bemühungen gestanden +und um Gottes willen seine wohlhabende Gemeinde im Appenzell mit dem +armseligen Rheindorf Sennwald vertauscht; da haben andere Dinge als +Bildungsformen gegolten, so sitzt er wie ein Glaubensstreiter aus +dem Heerhaufen Zwinglis da. Heinrich Pestalozzi sieht, wie Anna fast +erschrickt vor ihm, der mit seinen vierundzwanzig Jahren noch ein +Jüngling wie Muralt, aber in Mannesgeschäften kantig geworden ist; +Jakob und Esau, vergleicht er, in diesem fließt das stillere Blut von +Anna, aber in jenem arbeitet mein Ungestüm!</p> + +<p>Als im selben Juli auch noch Tobler — mit einer eigenen +Erziehungsanstalt am hochmütigen Widerstand der Basler gescheitert — +zu ihm zurückkommt, ist Heinrich Pestalozzi mit diesen dreien, mit +Krüsi, Buß und<span class="pagenum" id="Seite_315">[S. 315]</span> dem Zustrom von Gehilfen aus aller Welt, die nur kurz +bei ihm lernen wollen, auch für die Burgdorfer kein Steckenpferdritter +mehr, der morgens aus dem Schloß zu ihnen herunter reitet: Der Weg geht +zu steil, sonst würde es von Wagen nicht leer werden im Schloßhof, die +täglich neue Fremde nach Burgdorf bringen, das aus einem bäuerlichen +Städtchen durch ihn ein Hauptort der Schweiz geworden scheint. Schon +was die Zöglinge — längst über hundert — an Besuch von Eltern und +Verwandten nachziehen, würde für die Gasthäuser und Fuhrleute etwas +bedeuten, dazu die Pädagogen und Pfarrer aus aller Welt: das Schloß +ist wirklich ein Taubenschlag geworden, und die Bürger bestaunen die +fremden Vögel, die seiner Berühmtheit zufliegen.</p> + +<p>Längst schon denkt Anna nicht mehr daran, daß sie nur für die Zeit +seiner Pariser Reise nach Burgdorf gekommen ist; sie sieht endlich die +Erntewagen in die Scheune fahren, die weder seine Landwirtschaft noch +alle Bemühung seines hingehetzten Lebens jemals zu ernten vermochte. +Daß kein Gold daraus in seine Taschen fließt, weiß sie wohl; trotzdem +die meisten Zöglinge zahlen — wenn auch nicht alle den vollen Preis +— sind es doch viele Mäuler, die täglich auf Nahrung warten, und wenn +die Haushaltungskünste der geborenen Fröhlich, ihrer schaffnerischen +Schwiegertochter, nicht wären, würden die Sorgen sich manchmal dichter +auf ihrem Schreibtisch sammeln; aber daß der angeblich unbrauchbare und +vor der Zeit entmündigte Mann nun vor sich selber und vor dem Spott der +Tüchtigen im Glanz eines Ruhmes dasteht, der alles für sie Erreichbare +in<span class="pagenum" id="Seite_316">[S. 316]</span> den Schatten enger Bürgerlichkeit stellt: das ist für sie wie eine +Abendsonne, die in der letzten Stunde doch noch über einen trübseligen +Regentag gesiegt hat.</p> + +<p>So wird es ein bewegter Geburtstag für sie, als ihr die fünfundsechzig +Jahre vollgezählt werden, und es ist unwirklich schön, daß er auf +einen Sonntag fällt. Muralt und Niederer haben ihn als ein Sommerfest +vorbereitet, das bei kühlsonnigem Augustwetter im Schloßhof gefeiert +wird. Da sind Bänke und Tische aufgestellt, auch ist ein Boden +aufgeschlagen, einen Tanz oder ein Spiel zu machen, und solange die +Sonne in den Hof geschienen hat, mag sie nicht ein so buntes Getümmel +darin gesehen haben wie an diesem Tag. Das Gemäuer rundum ist mit +Laubgewinden und Schweizerfahnen aller Kantone geschmückt, und eine +Musikkapelle — von den Zöglingen unter Bußens Leitung gestellt — +sorgt, daß die Schweizerlieder auch Begleitung haben.</p> + +<p>Als dann die Röte sich aus dem Licht der Sonne ablöst und umso wärmer +zu leuchten scheint, jemehr die Wärme versiegt, treten ihrer viele an +die Mauer, nach den Bergen zu schauen, die langsam von der Glut voll zu +laufen scheinen. Auch Heinrich Pestalozzi ist mit Muralt vorgegangen, +und Mutter Pestalozzi, wie sie an diesem Tag mehr als hundertmal +begrüßt worden ist, wird von Niederer in einem galanten Anfall am Arm +herzu geleitet. Wie sie dastehen, mag über Tobler, der seit seinem +Mißerfolg in Basel leicht wehmütig wird, der Schatten einer Eifersucht +fallen, daß er nun sichtlich an die dritte Stelle geraten ist; als +ob er den Meister<span class="pagenum" id="Seite_317">[S. 317]</span> in die gemeinsame Frühzeit zurück führen müsse, +erinnert er ihn an den Abend, wo sie zu vieren hier standen und er +sein Beispiel vom Haus des Unrechts sagte. Daß die andern davon nichts +wissen, tut ihm sichtlich wohl, und als sie darum drängen, versucht +er es mit eigenen Worten zu sagen, wie der Anteil an den Lebensgütern +in drei Stockwerke geteilt wäre, darin die Wenigen, wenn sie wollten, +Gottes Herrlichkeit aus allen Fenstern sähen, die Mehreren nur den +Glanz an den Hofwänden, während die Vielen im Keller nicht einmal den +trüben Schein in ihren Löchern zu deuten vermöchten.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi, der die Schwermut im Grund seiner Heiterkeit schon +den ganzen Tag gefühlt hat, spürt den Schrecken bei der ersten Frage +ans Herz klopfen; während der ahnungslose Erzähler vor den andern seine +Erinnerung ausbreitet, quillt das schwarze Wasser der Trübnis in ihm +auf, so überkommt ihn der Zwiespalt zwischen dem lauten Freudentag und +der verschütteten Heimlichkeit seiner Absichten. Er wagt nicht, Annas +Blick zu suchen, so wehmenschlich ist ihm zumut, legt Muralts Hand +von seinem Arm weg auf den Mauerrand, und ehe die andern wissen, was +ihn ankommt, läuft er durch ihre Reihen hinaus und über den unteren +Hof vors Tor. Da breitet sich die abendliche Landschaft in ihrer +Sommerfülle aus, und die Dächer der Bürgerhäuser stehen behäbig darin, +sodaß ihm der Schritt auch hier gehemmt wird: Warum hab ich es nicht +im Birrfeld vermocht? Ein Armenkinderhaus habe ich gewollt und die +Pensionsanstalt sollte mir nur die Mittel dazu geben: nun sind die +Mittel längst selber Zweck. Ich sitze<span class="pagenum" id="Seite_318">[S. 318]</span> als Glücksvogel hier auf dem +Schloß und spreize das Rad meiner Federn; im Birrfeld, oder wo sonst +die Not der Zeit ist, geht alles wie vor dreißig Jahren, nur diesem +Bürgerort hab ich neues Fett gemästet!</p> + +<p>Er weiß nicht, daß er weint, aber als sich das Gesicht Annas zu ihm +beugt, die ihm allein nachgegangen ist, vermag er ihre Augen vor Tränen +nicht zu erkennen; auch quillt der Zorn noch so in ihm, daß er fast +nach ihr schlägt. Du hast gesiegt! schreit er und schlägt den Kopf in +beide Fäuste: der Armennarr ist tot! Ich hab verloren. Sie streichelt +und tröstet ihn nicht, wie er fürchtet, sie setzt sich still gegenüber, +wo ihr der andere Torstein einen Platz anbietet, und wartet ab, bis aus +der Mure seiner Verzweiflung die gröbsten Blöcke ins Tal gefahren sind +und endlich der zähe Schlamm seiner Verbitterung zum Stehen kommt. Sie +hat ihn klug verstanden, daß es zwei Welten wären: ihre Stille, den +Wohlstand herzugeben, und seine Unrast, ihn zu vertun; auch hat sie das +böse Wort nicht überhört, warum Kampf sein müsse zwischen ihm und ihr, +zwischen Mann und Frau durchs Leben? Aber als es dann still wird, weil +nichts mehr fließt, und nur ein Wind vom Tal sie beide mild bestreicht, +die in der sinkenden Dunkelheit am Tor dasitzen, als ob sie all das +junge Leben dahinter bewachen müßten gegen die unheimlichen Gestalten +der Nacht, fängt ihre Stimme an zu sprechen, daß nach dem Getöse seines +Bergsturzes nun wieder ein Bach hörbar wird: Pestalozzi, sagt sie und +wägt die Worte: ich dachte, daß wir vor Gott gleich wären, arm und +reich! Warum willst du das Unrecht nach unten in der Menschenordnung<span class="pagenum" id="Seite_319">[S. 319]</span> +mit Unrecht nach oben vergelten? Oder sollten Kinderseelen schon darum +unwert sein, weil die Eltern Geld im Beutel haben? Was nötig ist, sind +nicht die Waisenhäuser im Birrfeld oder hier, sondern daß du dein +Vorbild und deine Lehre hinterläßt. Am Ende kommt es darauf an, was +wir gewesen sind, hat dir der Menalk gesagt, als wir jung waren und +er schon sterben mußte. Nun, wo wir vierzig Jahre älter geworden sind +und alt an dem Tor dasitzen, will ich das Wort noch einmal sagen; doch +hat es sich verändert: Am Ende, Pestalozzi, fragt Gott nicht, was wir +gewesen sind, er rechnet, was aus uns werden möchte!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>86.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat seine Unternehmung im Namen der helvetischen +Republik begonnen; seit der Tagsatzung in Paris gibt es aber nur +noch einen Schweizer Bund mit neunzehn selbstherrlichen Kantonen: +sein Landesherr ist nun die bernische Regierung, ihr gehört das +Schloß Burgdorf, und er muß zuwarten, ob sie ihn darin wohnen läßt. +Im vierspännigen Wagen, wie ein Landesfürst, kommt eines Tages der +Regierungspräsident von Wattenwyl an, seine Anstalt zu besichtigen; +obwohl es schwierig und steil geht, muß ihn der Kutscher bis in den +Schloßhof fahren, und als ihn Heinrich Pestalozzi dann begrüßen +darf, ist es kaum anders, als wenn ein Schloßherr sich von seinem +Kastellan Aufwartung machen läßt. Er schnurrt durch alles hindurch +mit einem deutlichen Mißbehagen an dem landfremden Zürcher, der sich +hier eingenistet hat<span class="pagenum" id="Seite_320">[S. 320]</span> und der Regierung mit seiner Berühmtheit und +dem intoleranten Heer der deutschen Geister lästig wird, dem sogar +französische Gelehrte, Generale und Minister beistehen, sodaß selbst +eine allmächtige Kantonsgewalt zuwarten muß. In einigen Stunden hat +er nach der Art solcher Regierungsherren das Ergebnis einer Arbeit +besichtigt, die Heinrich Pestalozzi ein Lebensalter mühsamer Kämpfe +gekostet hat, und ist im Dampf seiner eigenen Bedeutung wieder +abgefahren.</p> + +<p>Seine Haltung in den Verfassungshändeln hat ihn den Aristokraten, die +nun wieder auf ihren alten Plätzen sitzen, mißliebig gemacht, und den +Kirchlichen ist er immer mit seiner Religion ein Aufwiegler geblieben: +nun, wo er sichtbar zu Paris in Ungnade und nicht mehr durch ein +helvetisches Direktorium geschützt ist, fängt die Hetze an, und noch +in dem Sommer muß sich Heinrich Pestalozzi durch eine Eingabe an den +Kirchenrat wehren, als fehle es in seiner Anstalt — wie die Anklage +lautet — an einem richtigen Religionsunterricht. Er überläßt die +Verteidigung Niederer, dem Religionslehrer und ehemaligen Pfarrer, +und zum erstenmal erhebt dieser Herold seine dröhnende Stimme für den +Meister.</p> + +<p>Unterdessen ist aus dem Lehrerseminar wie aus der Waisenanstalt nichts +geworden, und die Zuwendungen der Regierung sind ihm gestrichen; das +einzige, was er von ihr noch hat, ist das Gebäude, und auch darin wird +es unsicher: Mit der neuen Ordnung ist ein Oberamtmann nach Burgdorf +gekommen, der zu seinem Ärger in einem Privathaus wohnen muß, während +oben im<span class="pagenum" id="Seite_321">[S. 321]</span> Schloß sich das fahrende Volk der Abc-Schützen breit macht. Er +fängt an, bei der Regierung in Bern um eine Änderung dieses krankenden +Zustandes zu mahnen, und weist alle anderen Vorschläge als unpassend +zurück; als es gegen Weihnachten geht, kann Heinrich Pestalozzi nicht +mehr zweifeln, daß ihm zum Frühjahr die Räumlichkeiten gekündigt +werden: »Es war das Haus der Herren und soll wieder das Haus der Herren +werden,« schreibt er an einen Freund, »ich hoffe, mein Ei sei bald +ausgebrütet, und dann achtet es auch der schlechteste Vogel nicht mehr, +wenn ihm die Buben sein Nest vom Baum herabwerfen.«</p> + +<p>Doch kann die bernische Regierung angesichts der Schwärmerei, mit +welcher die gelehrte Armee Deutschlands die Vorteile dieser Anstalt +ausposaunt — wie der Herr von Wattenwyl in einem Gutachten schreibt — +die Gefahr nicht herausfordern, mit diesem intoleranten Heer öffentlich +in eine Fehde zu geraten: so bietet man ihm das leere Kloster +Münchenbuchsee an, und im Januar fährt Heinrich Pestalozzi mit einer +Abordnung hin, es zu besichtigen. Er findet ein niedriges Gebäude, +das eine Zeitlang als Spital krätzischer und venerischer Soldaten +gedient hat, seitdem verwahrlost in einer melancholischen Ebene dasteht +und weder die grünen Hügel Burgdorfs noch sonst etwas von seinem +malerischen Reichtum um sich sieht. Am liebsten möchte er, all dieser +Dinge müde, seinen Stecken nehmen und in den Aargau zurückwandern; +aber es ist unmöglich, jetzt aus dem Kreis der Zöglinge und Gehilfen +fortzugehen; in den Möbeln, Betten und Lehrgegenständen stecken ihm +schon<span class="pagenum" id="Seite_322">[S. 322]</span> wieder zwanzigtausend Schweizerfranken, die er nicht lassen +kann, auch brennt der Abend an dem Tor immer noch in seiner Seele. +Um Anna zu halten, nimmt er das Obdach an, das ihm schäbiger Weise +zunächst bloß für ein Jahr instandgesetzt werden soll. Nur nicht wieder +als ein Unbrauchbarer vor ihr dastehen, denkt er, als er die vorläufige +Abmachung unterzeichnet, und ahnt nicht, daß diese Kränkung schon auf +ihn wartet.</p> + +<p>So zieht dieses Frühjahr hin — es ist das fünfte seiner Burgdorfer +Zeit — wie wenn das Jahr mit ihm erschrocken seinen Lauf einstellen +wolle; denn ob das Emmental den Blumenteppich seiner Wiesengründe +ausbreitet, und ob die Wälder täglich grüner werden: im Schloß fängt +heimlich das Aufräumen an, die Möbel warten, daß sie von kräftigen +Händen hinausgetragen werden — sie sind sich selber ihre Särge, sagt +Heinrich Pestalozzi — und wie auch ein Änderungsgedanke auftaucht, +gleich tritt ihm das Bedenken in den Weg, daß mit den Ferien der Auszug +beginnen soll. Als der Tag da ist, werden die meisten Zöglinge in +Trupps mit je einem Lehrer auf die Reise geschickt, meist ins sonnige +Waadtland hinüber, und nur Freiwillige bleiben, den Umzug mitzumachen. +Auch Anna geht nun auf ihre Reise an den Zürcher See: Ich bin das +erste Möbel, das ihr fortschafft, scherzt sie, als er mit ihr in der +Morgenfrühe zur Post hinuntergeht; denn sie selber hat tapfer dableiben +und helfen wollen. Er hört ihre Worte garnicht, weil seine Gedanken in +Sorgen sind, daß sie nicht wiederkommen möchte: Ich war ein halbes Jahr +lang im Traum, sagt er, und stellt ihre Reisetasche hin,<span class="pagenum" id="Seite_323">[S. 323]</span> dem Gottlieb +einen Klatschmohn abzunehmen, den der für die Großmutter anbringt: +Jetzt habt ihr mich wach gemacht, und du gehst fort! Er will ihr die +Blume geben, aber der fallen die roten Blätter ab, daß nur die grüne +Fruchtkapsel mit dem Deckel bleibt. Das kann die Großmutter nicht mehr +brauchen! klagt er zu dem Kleinen und will das Ding wegwerfen; sie aber +nimmt ihm die Kapsel rasch aus der Hand und lächelt ihn fast listig an +mit einem Schulmädchengesicht: Bis ich nach Münchenbuchsee komme, ist +der Same reif, dann streuen der Gottlieb und ich ihn aus, damit wir +doch ein Andenken vom Schloßberg haben!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>87.</h3> +</div> + +<p>Am selben Tag, da Heinrich Pestalozzi von diesem Abschied fröhlich +wird und den ernsthaften Niederer durch die Mitteilung in Verwirrung +bringt, daß er in Münchenbuchsee wieder Landwirtschaft treiben und +lauter Felder mit Klatschmohn anbauen wolle, erscheinen mittags zwei +ländliche Männer im Schloß, die garnicht aussehen, wie die sonstigen +Wallfahrer. Sie kommen aus Peterlingen im Waadtland und bringen einen +Antrag der Stadt, mit seiner Anstalt dorthin zu kommen; sie wollen +ihm ihr Schloß mit allen Gärten lebenslänglich zur Verfügung halten, +ihm das Ehrenbürgerrecht mit einer Pension geben und jährlich ein +bestimmtes Maß von Korn, Weizen, Wein und Holz. So bin ich immer noch +im Traum, sagt er, und reicht den Männern gern die Hand; auch müssen +sie zum Mittag bleiben, und es wird fast ein Fest, das er mit Niederer +und<span class="pagenum" id="Seite_324">[S. 324]</span> Krüsi — den einzigen Gehilfen, die noch bei ihm sind, weil der +Auszug schon begonnen hat — und den Bürgern von Peterlingen feiert. +Wir werden einen Orden der neuen Menschlichkeit gründen und all die +verlassenen Schlösser der Gewaltherren in der Schweiz mit neuem Leben +bevölkern, schwärmt Niederer, der gern bei einem Glas ins Weite +schweift. Aber Heinrich Pestalozzi, der die enttäuschten Gesichter +der Männer sieht, lenkt schalkhaft ein: Zuerst müssen wir einmal nach +Münchenbuchsee auswandern und sehen, ob es von da einen Fahrweg für +unsere Möbelwagen nach Peterlingen gibt!</p> + +<p>Der Abschied hat danach seinen Stachel verloren; als andern Tages noch +ein Herr von Türck aus Mecklenburg anreist, ein Päckchen neuer Liebe zu +bringen, machen sie mit dem und den Burgdorfer Freunden, die wehmütig +dabei sind, einen schwärmerischen Gang nach Kirchberg hinüber, bevor +sie die letzte Nacht in Burgdorf schlafen — nun schon nicht mehr im +leergeräumten Schloß, sondern beim Stadthauswirt — und andern Morgens +mit der ersten Sonne nach Münchenbuchsee wandern, wo die Zöglinge mit +Tobler sehnsüchtig ihren Vater erwarten.</p> + +<p>Es sind drei Stunden Wegs, und sie müssen an Hofwyl vorbei, +wo Fellenberg, der Sohn des Ratsherrn, seit fünf Jahren eine +landwirtschaftliche Musterwirtschaft als Grundlage seiner +Erziehungsanstalt für alle Stände eingerichtet hat. Wir suchen die +Goldkörner der Methode im Land, und er prägt die Goldstücke daraus, +sagt Niederer sarkastisch, als sie in einiger Entfernung<span class="pagenum" id="Seite_325">[S. 325]</span> an der +sauberen Erscheinung seiner Gebäude vorüberwandern und überall in +den Feldern und Gärten die Zeichen der wohlhabenden Ordnung sehen. +Aber Heinrich Pestalozzi verweist ihm den Spott; er weiß zwar, daß +Fellenberg gleich mit einer Viertelmillion Franken das Gelände ankaufen +und aus dem Vollen wirtschaften konnte — wo er sich notdürftig +durchhalf und gerade noch in diesem Augenblick erstaunt ist, daß er +mit Ehren aus den Burgdorfer Schulden kam — aber er weiß auch, daß +der Sohn seines alten Freundes, des Ratsherrn in Verehrung zu ihm groß +geworden ist, und daß diese Anstalten nur eine Frucht aus Lienhard und +Gertrud sind: »Er deckt wenigstens das Elend nicht mit dem Mist der +Gnade zu, wie es die andern machen!«</p> + +<p>Als sie dann aber gegen Münchenbuchsee kommen und die wenigen Zöglinge, +die nicht in Ferien sind, unter Toblers Leitung mit einem Schweizerlied +anmarschieren, hält seitwärts ein Reiter, als ob die kleine Truppe +ein Vorposten seines Regiments wäre; es ist Fellenberg, der nach +der jubelnden Begrüßung respektvoll herzu reitet: auch er habe den +Nachbarn nicht unbegrüßt einziehen lassen wollen! Er bleibt nicht auf +seinem stolzen Gaul sitzen, als er das sagt; aber gerade, wie er vom +Pferd springt und seine hohe Gestalt beugt, ihn zu umarmen, wird der +Unterschied zwischen dem gepflegten Aristokraten und dem ärmlichen +Greis so deutlich, daß Niederer für seinen Meister gekränkt beiseite +geht. Auch Heinrich Pestalozzi ist durch die Umstände dieser Begrüßung +verstimmt: Wir sind zu nahe an den Schloßherrn<span class="pagenum" id="Seite_326">[S. 326]</span> von Hofwyl geraten, +sagt er nachher zu Tobler, nun reitet er schon auf seinem Vorwerk herum!</p> + +<p>Er bemerkt nicht, daß Tobler betreten schweigt, so sehr bewegt ihn +die Sorgfalt, mit der die geborene Fröhlich schon Ordnung in die +neue Wirtschaft gebracht hat: Du bist die Schwalbenmutter, scherzt +er zu ihr, wir sperren die hungrigen Schnäbel auf, und du hast immer +etwas hineinzutun. Tobler schweigt zum zweitenmal; er weiß, daß ihre +Haushaltungskünste allein es nicht vermocht hätten, der Anstalt einen +so guten Abgang aus Burgdorf zu sichern, und daß die Sorge vor den +Gläubigern manche Woche auf Pestalozzi gelegen hat, bevor sich alles +unerwartet löste; er weiß auch, wie diese Lösung zustande kam, und er +ist mit Muralt, seinem Mitverschworenen, fest entschlossen, den Meister +endlich aus allen wirtschaftlichen Sorgen zu befreien. Noch muß er die +Rückkehr des andern abwarten, aber als die kurzen Ferien vorüber sind +und von allen Seiten die Vögel wieder zufliegen, der melancholischen +Gegend zum Trotz in Münchenbuchsee ihr Geschwärm wieder zu beginnen, +gehen die beiden entschlossen ans Werk: Wenn die Anstalt in Burgdorf +zuletzt nur noch mit Mühe zu halten war, steht sie hier, wo sie sich +ohne Zuschüsse der Regierung ganz aus sich selber erhalten muß, nur an +der Schwelle neuer Schwierigkeiten. Sie haben die Ordnung in Hofwyl +gesehen, und da sie die Verehrung Fellenbergs für den Verfasser von +Lienhard und Gertrud kennen, ist es ihr Plan, die wirtschaftliche +Leitung der Anstalt in die festen Hände dieses Mannes zu legen, um +Heinrich Pestalozzi für seine wertvolleren<span class="pagenum" id="Seite_327">[S. 327]</span> Dinge unabhängig zu machen. +Nichts als treue Liebe führt sie auf diesen Weg, an dem die Sorge, ihn +nicht zu verletzen, die Meilensteine setzt.</p> + +<p>Mit vorsichtigen Andeutungen und Besuchen in Hofwyl, mit Besorgnissen +über die ungewisse Zukunft, mit Mahnungen an sein Alter und was er +der Methode noch schuldig sei, bringen sie ihn endlich zu einer +Zusammenkunft mit Fellenberg. Sie findet, damit der Boden neutral sei, +unter einer Linde statt, die ziemlich in der Mitte zwischen Hofwyl +und Buchsee mit einer alten Steinbank steht. Fellenberg kommt diesmal +nicht geritten, doch trägt er die Reitgerte in der Hand, und zwei Hunde +kläffen ihm vorauf. Heinrich Pestalozzi hat um so weniger eigensinnig +scheinen wollen, als Muralt und Tobler die Vertrauten Annas unter den +Gehilfen sind; er sieht dem Mann mit der Reitgerte und den Hunden nicht +einmal mißmutig entgegen, da er sich seiner Sache sicherer fühlt, +als seine Harmlosigkeit merken läßt. Aber wie sie dann anfangen zu +sprechen, sind es drei gegen ihn, und jedes Wort wird so sorgsam auf +die Goldwage seiner Empfindlichkeit gelegt, daß er unmöglich hart und +abweisend gegen soviel treue Vorsorglichkeit werden kann: Es ist ein +Dachsfang, wo ich alter Kerl in die Sonne gelockt werden soll, denkt +er und läßt sie sprechen, bis dem blassen Tobler die Schweißperlen +auf der Stirn stehen und Muralt verzweifelt die Hände reibt. Nur der +selbstsichere Fellenberg verliert die Zuversicht nicht und entfaltet +ein Papier aus der Brusttasche: ob er ihm einmal den Entwurf einer +Übereinkunft vorlesen dürfe? Heinrich Pestalozzi<span class="pagenum" id="Seite_328">[S. 328]</span> hat nie recht zuhören +können, wenn einer etwas aus einer Schrift vorlas; er läßt die Worte +fließen und fühlt fast, wie sie an seinem Rock heruntertropfen. Zum +Schluß nimmt er die Handschrift, in keiner andern Absicht, als den +dreien die Enttäuschung nicht zu fühlbar zu machen. Wie dann aber seine +Augen, fast so taub wie vorher seine Ohren, über die Buchstaben laufen, +tut es ihm unvermutet einen Stich zwischen die Rippen: Haben wir nicht +heute den fünfzehnten Juli? fragt er und bringt den Zeigefinger nicht +von dem Datum fort, das am Schluß steht. Beschlossen auf den ersten +Juli 1804. Sie wollen ihm erklären, daß dies nur um des Semesters +willen so zurückgeschrieben sei; aber seine Gedanken sind schon Milch +auf dem Feuer: er reißt den Schriftsatz in zwei Fahnen und wirft sie +den Hunden hin, die ihn sofort anbellen und ihm, als er die bestürzten +Mienen und beruhigenden Worte abwehrend davon läuft, in die Hacken +fahren, sodaß ihr Herr sie mit der Pfeife zurückholen muß.</p> + +<p>Sie haben mich verhandelt wie eine Kuh! schreit ihm sein Grimm in +die Ohren, während er seitwärts in das Wäldchen läuft, sich da einen +Schlupfwinkel zu suchen; aber erst, als er sich gegen das Gewässer +verlaufen hat, das seine Binsenfelder vor ihm auftut und — wo seine +Fläche durchblinkt — den langen Tierrücken des Jura spiegelt, merkt +er, daß ihm der Stich ein Gift beibrachte: warum Muralt und Tobler +und nicht die andern? Weil Anna dahinter steht? Er sieht sie wieder +abfahren mit der Mohnkapsel, davon ihm die roten Blätter abgefallen +sind, er hört ihr Wort und sieht ihr<span class="pagenum" id="Seite_329">[S. 329]</span> Lächeln: Ich dachte, klagt er +laut in den Sommertag, ich wäre endlich etwas vor ihr gewesen! Nun war +ich doch im Traum und bin erwacht in meine Unbrauchbarkeit!</p> + +<p>Weit in der Ferne tut es einen Schuß von einem verlorenen Donnerschlag, +und über den Jura bläht sich ein Wölkchen grellweiß in den blauen +Himmel. Daß es ein Gewitter würde und mich kalt machte, damit es +endlich einmal ein Ende hätte mit diesem Strom von Irrtum und Unrecht, +darin mein Leben geflossen ist! Es bleibt aber schön, und er geht +stundenlang auf dem weichen Moosboden hin, bis die Frösche aus dem +Röhricht quaken. Sie werdens auch schon wissen! zürnt er noch einmal, +dann überläßt er sich willig der dämmrigen Traurigkeit, bis die leise +Nacht kommt und ihn doch noch den Heimweg finden läßt: Bist du es, will +er flüstern, als ihm ihre Gestalt zur Seite schreitet; sie nickt nur +und sieht ihn kaum an; da merkt er, daß es die Jungfrau Anna Schultheß +ist, die mit einem Strauß Frühlingsblumen an das Grab Menalks will. +Sie haben mir das Tor zugemacht, weil ich zu spät gekommen bin! klagt +er und staunt, wie weit sich der Weg über den Kirchhof zieht. Auch +weiß er nicht, warum ein Licht auf dem Grab brennt. Bis Niederer ihm +aus dem Schein entgegentritt und der Spuk verschwindet, weil er den +Klostergiebel in Münchenbuchsee erkennt.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>88.</h3> +</div> + +<p>Nach diesem Abend fühlt Heinrich Pestalozzi sein Dasein in +Münchenbuchsee nur noch wie einen Krug,<span class="pagenum" id="Seite_330">[S. 330]</span> der an einem Sprung leer +läuft; er widerstrebt den Freunden nicht mehr und unterzeichnet den +Dienstvertrag, wie Niederer das Schriftstück nennt. Wenn Fellenberg +angeritten kommt und mit Sporen durch den Hof klirrt, schließt er +sich in sein Zimmer ein, das er auch sonst wenig verläßt. Er hat +Wandergedanken, aber er findet kein Ziel, bis eine Mahnung aus Ifferten +kommt. Dort hat ihm der Stadtrat schon vor den Männern von Peterlingen +das Schloß des Herzogs von Zähringen angeboten; er ist auch einmal im +Frühjahr dort gewesen und hat das viertürmige Gebäude angesehen, aber +er fürchtet sich vor dem welschen Land. Nun, wo die Stadt ihm schreibt, +daß sie das Schloß von der Regierung angekauft habe und seine Wünsche +vernehmen möchte, wie es einzurichten sei, kommt die Aufforderung +seiner Sehnsucht recht, ganz aus dem Bereich seiner Enttäuschung +fortzugehen. Abschied vermag er keinen zu nehmen; die Seinen denken, +es gelte nur eine Fahrt, als sein Wagen in der Frühe gegen Aarberg +davonrollt. Er wäre lieber gewandert, aber die Kräfte haben ihn +verlassen, als ob nun das Alter mit einem Male käme.</p> + +<p>Die Stadtherren in dem verschlafenen Ifferten haben schon vernommen, +daß der berühmte Volksfreund nur ein unscheinbarer Greis ist; sie +finden seine Wünsche bescheiden und laden ihn zu einem Mahl ein, die +Bekanntschaft festlich zu besiegeln. So kommt Heinrich Pestalozzi am +dritten Abend, den er aus Münchenbuchsee fort ist, an eine Tafel mit +ehrenfesten Bürgern, die beglückt sind, einen solchen Fang zu tun. Der +schöne<span class="pagenum" id="Seite_331">[S. 331]</span> Wein mundet ihm, der sonst nur selten mehr als ein Kirschwasser +nimmt, und die lebhaften Gespräche dieser weinfröhlichen Waadtländer +helfen, ihm die Zunge zu lösen; gerade, daß sie französisch sprechen, +läßt ihn auf ihre Worte hören, und daß er selber welschen muß, macht +ihn unversehens lustig, sodaß die Stadthäupter zu ihrem Erstaunen den +Greis mit dem Sorgengesicht lebhaften Geistes und schlagfertig finden. +Ihn selber freilich stimmt der Abend, als er andern Tages erwacht, +noch trauriger als zuvor; seit ihm die Verwirrung seiner Sinne an dem +abendlichen Gewässer die Erscheinung Annas vorgetäuscht hat, fürchtet +er, kindisch zu werden, und so nimmt er auch seine Fröhlichkeit +nachträglich als einen Beweis dafür. Er bleibt aber fürs erste in +Ifferten, weil ihm die Landschaft um das kleine Städtchen gefällt; +namentlich in die Wiesen gegen den See geht er gern, wo in den hohen +Bäumen auch bei der Hitze noch der Jurawind rieselt: Sie stehen wie +müßige Greise da, und ich bin der müßigste unter ihnen!</p> + +<p>Unterdessen erreichen ihn Briefe Niederers, der als ein angeschossener +Wolf in Münchenbuchsee geblieben ist; sie schildern ihm den Zustand der +Anstalt nach seinem Weggang so wenig günstig, daß er in einigen Wochen +noch einmal zurückgeht, seinen Abschied nachzuholen. Er bringt keine +Ermutigung daraus mit; Fellenberg ist gereizt, daß er sich beiseite tun +will, und droht, von der Übereinkunft zurückzutreten; als sie sich noch +einmal an dem Wäldchen treffen — diesmal ist Niederer dabei — sieht +sich Heinrich Pestalozzi von einer Flut böser Vorwürfe überschüttet, +die er nur mit großen<span class="pagenum" id="Seite_332">[S. 332]</span> Augen anhören kann. Es kommt danach zwar noch +eine Versöhnung zustande, die ihn seiner persönlichen Verpflichtungen +entläßt, aber die Trennung ist nun sicher. Mit Buß und Krüsi und +mit neun Zöglingen geht er zum andernmal nach Ifferten; er selber +aber vermag es nun auch dort nicht mehr auszuhalten. Auf einer Fahrt +nach Lausanne, um bei der waadtländischen Regierung den Gesetzen der +Niederlassung zu genügen, verläßt ihn in Cossonay der Mut zur Rückkehr. +Er hat dort nur übernachten wollen, aber am andern Morgen läßt er die +Post fahren und bleibt in dem kleinen Ort, der zwischen Weinbergen +auf einem Hügel liegt und ihn mit seinem Ausblick über die Talweite +wehmütig an seinen verlorenen Schloßberg in Burgdorf erinnert. Da hockt +er einsam und in den Gedanken seiner Schwermut verhangen, bis der +biedere Krüsi ihn findet und wie ein Sohn um ihn sorgt. Nach Ifferten +aber, wo Buß unterdessen die neue Anstalt einrichtet, folgt er ihm +vorläufig nicht.</p> + +<p>Das Weinland der Waadt, in dem er lebt, ist die Heimat von Laharpe, +dem ehemaligen Direktor der helvetischen Republik, der seiner Sache +mit hoher Achtung zugetan ist. Als Erzieher des Kaisers Alexander +von Rußland vermag er noch viel in Petersburg, und so kommt eines +Tages in das kleine Cossonay eine kaiserlich russische Berufung an +Heinrich Pestalozzi, das livländische Schulwesen von Dorpat aus nach +seinen Vorschlägen einzurichten. So verdonnert ihn Krüsi ansieht, +und so abenteuerlich der Plan ist, in seinem Alter noch nach Rußland +auszuwandern, seine Stimmung hängt<span class="pagenum" id="Seite_333">[S. 333]</span> sich mit Leidenschaft daran. Er +hat schon seine Bedingungen mitgeteilt und macht allen Abratungen zum +Trotz Vorbereitungen für die Auswanderung, von der er nicht mehr zurück +zu kommen hofft, als ihm ein zufälliges Erlebnis ein Loch in seine +Schwermut reißt:</p> + +<p>Als er eines Tages nach Ifferten gefahren ist und am Abend mit Krüsi +neben dem Wagen her gegen Cossonay hinauf geht, begegnen ihnen in +der frühwinterlichen Dunkelheit einige leere Weinfuhren, die sie im +Geräusch des eigenen Wagens nicht hören, bis Heinrich Pestalozzi dicht +vor sich zwei Pferde spürt. Er glaubt, es seien Tiere von der Weide, +und will zwischen ihnen durch; da wird er von der Deichsel getroffen, +die ihn unter die Hufe der Pferde wirft: So jäh es ihn gefaßt hat, +so schnell arbeitet sein Instinkt, daß er noch vor den Rädern gleich +einer Katze unter den Pferden her auf allen Vieren seitwärts in den +Graben springt und die beiden Wagen an sich vorüber rasseln läßt. Als +Krüsi ihn findet, der seitlich gegangen war, ist er schon dabei, sich +aufzurichten; die Kleider sind ihm bis auf den bloßen Leib zerrissen, +aber ihm selber ist nichts geschehen, sodaß er — durch Gefahr und +Rettung in einem Augenblick des Wunders hindurch gegangen — gegen den +Berg schreitend wie vorher das Gasthaus erreichen kann.</p> + +<p>Er hat in diesem Herbst, wo er sich kindisch glaubte, oftmals zu +sterben gewünscht, bevor er ganz dem Siechtum des Alters verfiele; +nun ist er durch den Tod in einer Jünglingskraft hindurch gesprungen, +die er sich längst verloren glaubte. Was er schon als Knabe erfuhr,<span class="pagenum" id="Seite_334">[S. 334]</span> +als er bei Wollishofen aus dem Weidling in den See fiel, daß die +heimliche Lust des Lebens durch nichts so sehr als durch das Grauen +des Todes angeregt würde, das bewirkt nun eine Wiedergeburt in ihm, +die ihn fast übermütig macht: Er glaubte schon sterben zu müssen wie +Moses, ehe er einen Fußbreit von seinem Kanaan sah; nun fühlt er sich +im ungeminderten Besitz von Kräften, die alle Nervenschwäche und die +Müdigkeit seines vermeintlichen Siechtums als trübe Einbildungen von +sich abfallen lassen. Die Kränkung durch Muralt und Tobler, der Streit +mit Fellenberg und die Böswilligkeit der bernischen Regierung, die — +wie er längst weiß — seine Anstalt in Münchenbuchsee als eine staats- +und kirchengefährliche Unternehmung überwachen läßt: alles, was ihm den +ängstlichen Geist in diesen Monaten ans Kreuz geschlagen hat, scheint +ihm vor dem Gefühl, zu leben und seiner Kräfte noch mächtig zu sein, so +nebensächlich, daß er seine Schwermut wie eine Torheit belächelt: Wo +ich Kränkungen ohne Maßen sah, sehe ich nun die treue Liebe, sagt er +glücklich, und niemals ist ihm das Bild seiner Lebensgefährtin klarer +dagestanden als in diesen Tagen.</p> + +<p>Als bald danach der König von Dänemark ihm hundert Louisdor übersenden +läßt als Anerkennung für die gastliche Aufnahme der dänischen Lehrer, +ist er übermütig vor Glück: Schau, zweitausend Schweizerfranken, sagt +er zu Krüsi, mit nichts als einer Idee und etwas Güte verdient! So +bleibt es Monate lang, während er noch einmal an die Lehrbücher seiner +Methode geht; und so voll fühlt er den Segen strömen,<span class="pagenum" id="Seite_335">[S. 335]</span> daß ihm das +Wort Lavaters nun sein liebster Spruch wird: Ich war mürrisch, als +ich die Ruhe des Alters für Müdigkeit hielt; sie ist die Sammlung auf +der Lebensstraße, wo das Glück auf der Straße lag, indessen ich den +Seifenblasen meiner Wünsche nachlief. Nun der Höchste mir mein Alter +mit Ruhe gekrönt hat, sehe ich, daß es der Jungbrunnen ist, von dem die +Väter sagten.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>89.</h3> +</div> + +<p>Indessen Heinrich Pestalozzi sich so die Trennung zum Besten dienen +läßt, sind die Nachrichten aus Münchenbuchsee immer mehr mit +Enttäuschung beschwert. Muralt und Tobler haben nicht bedacht, daß +sich Fellenberg mehr als Pädagoge denn als Landwirt fühlt und als +solcher — wie Niederer sagt — die Drei- und Vierfelderwirtschaft auch +auf die Zöglinge anwenden will; die Buchführung ist besser geworden, +und die Ordnung wird streng gewahrt, aber die Luft steht stiller und +kälter in den Räumen, die sonst auch an Nebeltagen immer noch von +einem Sonnenstrahl väterlicher Liebe und menschlicher Laune belebt +und erwärmt war. Daraus wächst Mißmut und — weil es Fellenberg auch +nicht leicht hat mit Zöglingen und Gehilfen, die einen andern Meister +schwärmerisch verehren — endlich der böse Streit.</p> + +<p>Niederer ist der erste, den es nach Ifferten zieht; er hat im Herbst +ein schweres Nervenfieber durchgemacht und ist noch hohlwangig davon. +Seit dem Sommer hat er gemeinsam mit Fellenberg und den andern<span class="pagenum" id="Seite_336">[S. 336]</span> +Lehrern über dem Wortlaut einer Einladung an die Eltern Europas +gesessen, ihre Kinder als Zöglinge nach Münchenbuchsee zu geben; Satz +für Satz ist darin durchberaten worden, auch Heinrich Pestalozzi hat +mitgeholfen, bis eine umfängliche Flugschrift seiner Methode fertig +war. Als aber der Druck Weihnachten ankommt, hat Fellenberg ihn +nachträglich mit eigenen Ankündigungen zum Teil großsprecherischer +Art für seine besonderen Zwecke zurecht gemacht, was nun auch Muralt +und Tobler gegen den eigenmächtigen Mann aufreizt. Das Frühjahr geht +in einem unaufhörlichen Wechsel von Streit und Versöhnung hin, der +seine Wellenschläge nach Ifferten hinüber tut. Heinrich Pestalozzi +sucht aus dem Knäuel der Verstimmungen die Fäden der Liebe und der +gemeinsamen Ideale herauszuziehen; am liebsten aber möchte er den +Knäuel in den Bach werfen: er läßt sich nun nicht mehr beirren, daß die +Anstalt im Umkreis seiner Absichten nur einen Versuch bedeutet, und +ist weder für Münchenbuchsee noch für Ifferten aus dem Dachsbau seiner +Schriftstellerarbeit herauszubringen, die der Welt andere Resultate als +die zufälligen einer solchen Anstalt sichern soll.</p> + +<p>Doch wird er hier wie dort die Geister, die er rief, nicht los: er hat +das Klostergebäude in Münchenbuchsee von der bernischen Regierung nur +für ein Jahr erhalten und müßte zum Juli einen neuen Antrag um gnädige +Überlassung für ein weiteres Jahr stellen; weil aber Fellenberg in +einer Zuschrift an die Regierung die Leitung niedergelegt hat, sind +die Hunde der Verdächtigung auf seine Sache losgelassen. Um nicht +abzuwarten,<span class="pagenum" id="Seite_337">[S. 337]</span> daß er böswillig ausgeräumt wird, reicht er selber die +Kündigung ein. Damit hat er nach einem halben Jahr der Trennung alles +wieder, was ihm nun nicht mehr wie beim Abschied Glück und Unglück +seines Lebens bedeutet; aber daß die Herde ihm sehnsüchtig nachfolgt +und ihn durch diese Nachfolge anerkennt, tut ihm doch wohl, und um +dieses Wohlgefühls willen tritt er tätiger in die Leitung ein, als er +es nach seiner Rettung bei Cossonay für möglich gehalten hätte; auch +reißen ihn die glücklich veränderten Umstände hin, und eine heimliche +Hoffnung überredet den Widerstand:</p> + +<p>In Ifferten ist er nicht mehr wie in Burgdorf der zugewanderte Greis, +der froh sein muß, eine Schulstube für seine Versuche zu finden; der +Ruhm seiner Sache ist europäisch geworden und die Bürgerschaft setzt +viel daran, davon zu profitieren. Sie hat ihm — um die Lockung nach +Peterlingen zu schlagen — die weiten Räume des Zähringer Schlosses +und die Gärten dazu unkündbar überlassen und richtet alles nach seinen +Wünschen ein. Auch steht die Regierung im Kanton Waadt, aus dem +dreihundertjährigen Zwang der bernischen Landvögte befreit, anders zu +ihm, als die Aristokratenherrschaft in Bern; ihr ist er keiner staats- +und kirchenfeindlichen Gesinnung verdächtig. Die Zöglinge, die von +Anfang aus dem liberalen Waadtland am reichlichsten kamen, mehren +sich rasch; als auch die geborene Fröhlich — die aus Münchenbuchsee +bald fortgegangen war, einen wohlbegüterten Landwirt namens Kuster +zu heiraten — den Haushalt von neuem in ihre unverdrossenen Hände +nimmt, ist unvermutet der ganze<span class="pagenum" id="Seite_338">[S. 338]</span> Bienenstaat wieder um ihn versammelt, +eifriger als je, den Honig einer neuen Menschenbildung einzutragen; +nur noch die verscheuchte Königin fehlt, weil Heinrich Pestalozzi noch +immer eine abergläubische Furcht hat, sie schon zu rufen.</p> + +<p>Als aber der Winter den Reichtum nicht vermindert und das Frühjahr +den Ruhm der Anstalt in einen Erntesommer trägt, der ihm — wie er +einem Freund bestürzt durch diese Wendung schreibt — das Geld zum +Dach hinein regnet, bittet er sie frohen Mutes, wieder wie in Burgdorf +seine Hausmutter zu sein! Sie kommt ihm mit einem Schiff über den See +gefahren, und er wartet manche Stunde unruhig unter den alten Bäumen, +die immer noch den Jurawind durch ihre Blätter rieseln lassen, bis +gegen Abend das Boot anschwimmt.</p> + +<p>Schon von weitem sieht er ihre Gestalt still darin sitzen und meint +fast, ihre Augen auf sich zu spüren, wie er unruhig am Ufer hin und +her läuft. Sie ist alt geworden, und ihr kranker Fuß, an dem sie +lange in Zürich gelegen hat, hindert sie noch immer beim Gehen, sodaß +der Schiffsmann ihr über den Steg ans Land helfen muß: Das sind +meine vier dicken Türme, sagt er mit glücklichen Augen und zeigt +auf das Schloß, das zwischen dem Grün weißlich durchschimmert. Sie +gibt keine Antwort und ist auch schweigsam, während sie das kurze +Stück über die weichen Wiesen gehen, nur bringt sie die Lippen +nicht so fest wie sonst aufeinander, weil die strengen Falten einem +hinterhaltigen Lächeln nicht Meister werden. Erst als sie sich durch +die stürmische und ehrfürchtige Begrüßung der Zöglinge und Lehrer<span class="pagenum" id="Seite_339">[S. 339]</span> +— die haben sich im bekränzten Schloßhof aufgestellt und singen ihr +ein Lied — hindurchgelächelt hat und endlich in ihrer Turmstube im +Lehnstuhl sitzt, fragt sie: Hast du auch einen Garten? Er hört die +Frage garnicht, weil er nun erst mit seinem vergessenen Blumenstrauß +ankommt, den er ihr ans Ufer bringen wollte; sie aber fängt in ihrer +perlenbestickten Reisetasche an zu kramen und holt ein Schächtelchen +heraus, darin die Mohnkapsel winzig zusammengeschrumpft zwischen den +schwarzen Samenkügelchen liegt. Das legt sie ihm behutsam mitten auf +seine Blumen und lächelt sich die Tränen der Rührung fort: Wenn die +Samen nur nicht überjährig geworden sind!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>90.</h3> +</div> + +<p>Heinrich Pestalozzi ist über sechzig und Anna Schultheß fast siebzig +Jahre alt, als sie ihr gemeinsames Leben im Zähringer Schloß zu +Ifferten beginnen; in Burgdorf war der Unterschied ihrer Jahre +ausgelöscht, nun aber fängt sie an, ihr Leben abzurüsten, während er +noch neue Segel einsetzt. Wenn sie miteinander in dem weitläufigen +Gebäude, im Garten oder weiter hinaus gegen Clindy gehen, ist er im +Eifer, ihr alles günstig zu zeigen, immer voraus, während sie oft +still steht und am Stock nachkommend mehr ihm zuliebe als für sich +ihre Augen auf seine Dinge richtet. Habe ich dirs nicht gleich gesagt, +Pestalozzi, ich sei zu alt für dich! scherzt sie einmal, als er wie +ein ungeduldiger Knabe am Bach nach ihr ruft, weil eine Ringelnatter +fortschwimmt, bevor sie zur Stelle ist. Aber es gefällt ihr<span class="pagenum" id="Seite_340">[S. 340]</span> alles +sichtbar wohl, und wenn sie mit ihrem Enkel Gottlieb durch die Straßen +der ländlichen Kleinstadt geht, gern gegrüßt von den Leuten, sehen +sie eine wirkliche Schloßherrin. Sie hat noch einmal geerbt von ihrem +Bruder Jakob in Zürich und braucht in ihrer bescheidenen Wohlhabenheit +nicht gleich zu sorgen, wenn es irgendwo eine Spalte in dem großen +Hauswesen gibt.</p> + +<p>So treibt das unruhige Wasser seines Lebens mit dem letzten Stauwehr +doch noch eine reiche Mühle, und er ist sicher, daß im Land kein +besseres Korn gemahlen wird. Aber er denkt noch immer nicht daran, +hier für lange den Müller zu spielen; sein Brot soll für die Armen +gebacken werden. Nun es ihm mit dem andern herrlich geraten ist, nun +er die Methode eines auf die Natur des Kindes gegründeten Unterrichts +in Händen hat, nun ihm Hilfskräfte jeder Art verfügbar sind und er +des Beistandes vieler für eine solche Unternehmung sicher sein kann: +fängt die Armenkinderanstalt wieder an, das Ziel zu werden, mit dem er +sein Leben krönen will. Der Schauplatz seiner letzten Tat aber soll +nicht das welsche Waadtland, sondern der Kanton Aargau sein: wo er +den Kampf um die allgemeine Menschenbildung begonnen hat, will er ihn +auch enden. Das Schloß Brunegg hat unterdessen einen andern Besitzer +gefunden, aber Wildenstein bei Schinznach steht noch leer, und mitten +aus dem fröhlichen Gesumm seines wohlbestellten Hauses reicht er den +Antrag um den Wildenstein bei der Regierung in Aarau ein. Die kommt +ihm willig entgegen, und so steht er vor dem geöffneten Tor seiner +letzten Ausfahrt, als die Zustände in Ifferten<span class="pagenum" id="Seite_341">[S. 341]</span> ihn nötigen, den Wagen +vorläufig wieder abzuspannen.</p> + +<p>Als ob sie die Ansteckung aus Münchenbuchsee mitgebracht hätten, ist +der Lehrerstreit da und reißt ihm einen Spalt mitten durch die Anstalt, +den weder Anna mit ihrer Erbschaft noch er aus dem Faß seiner Liebe +verstopfen kann. Den ersten Riß bringt eine Erholungsreise Niederers +mit, die ihn nach einem Rückfall seines Nervenfiebers fast zwei +Monate lang von Ifferten fernhält und gleichzeitig eine Studienreise +sein soll für die Lebensgeschichte des Meisters, die er schreiben +will. Von Anfang an hat er sich als Herold der Methode gefühlt, und +Heinrich Pestalozzi, der wohl weiß, wie eigenwillig ihm selber in der +Rede und Schreibe die Gedanken zulaufen, kann erstaunt zuhören, um +wieviel gelehrter und selbstbewußter sie in dem Mund Niederers klingen. +Selbst, wo ihm Zweifel überkommen, ob nicht im Strom dieser Worte +fremdes mitfließt, steht er willig dafür ein, weil er der Einsicht und +selbstlosen Begeisterung des Eiferers sicher ist. Er hat ihn immer als +seine rechte Hand gehalten und ihm die Führung in Ifferten zugedacht, +wenn er selber als Armenhausvater fortgehen wird: nun aber sieht er +während seiner Abwesenheit gründlicher in die Mädchenanstalt hinein, +die unter Niederers Leitung in einem besonderen Gebäude neben dem +Schloß eingemietet ist, und nimmt eine Lässigkeit wahr, die sich mit +keiner Liebe mehr zudecken läßt.</p> + +<p>Als Niederer danach heimkommt, geladen mit Eindrücken und +schwärmerisch beglückt über sein gesammeltes Material zu der geplanten +Lebensgeschichte, vermag<span class="pagenum" id="Seite_342">[S. 342]</span> Heinrich Pestalozzi keine Freude mehr an +diesen Dingen zu gewinnen. Ihm ist in der Abwesenheit der rechten +Hand die linke wichtiger geworden, und mit Eifersucht sieht der +Ideenmensch Niederer an der andern Seite des Meisters den Realmenschen +Schmid stehen, der in allem seinen Gegenspieler vorstellt. Es ist der +Tirolerknabe, mit dem er damals nach Burgdorf kam, und der sich im Lauf +der wenigen Jahre aus einem unwissenden, aber begabten Schüler zum +glänzenden Lehrer der Anstalt durchgearbeitet hat: Wie er in seinem +Fach der Zahl- und Raumlehre die Methode als Schulmeisterkunst ausübt, +das wird von den andern Gehilfen immer williger anerkannt und von +den Besuchern bestaunt; vor den glänzenden Leistungen seiner Klasse +vollzieht sich meist die Bekehrung der Ungläubigen. Er ist zu einseitig +gebildet, um die Niedererschen Gedankenflüge mitzumachen, auch liegt +die Schwärmerei seiner Natur nicht: sonnengebräunt und fest wie das +Gesicht ist sein Wesen und in Tüchtigkeit verbissen, die auf alle +Unordnung und Faulheit in der Anstalt wie ein Raubvogel Jagd macht; für +das geplante Armenkinderhaus ist er begeistert, er mag die wohlhabenden +Zöglinge nicht und verachtet die Eltern, die ihre Kinder — wie er sagt +— nur aus Bequemlichkeit in Erziehungsanstalten schicken.</p> + +<p>Ehe Heinrich Pestalozzi Augen für ihre Eifersucht hat, ist sie schon +zur Feindschaft geschwollen, und er steht mitten darin: Ich bin wie +eine Jungfer zwischen zwei Liebhabern, scherzt er zu Krüsi und glaubt +noch lange, er könne den bösen Zustand mit launigen Zurechtweisungen<span class="pagenum" id="Seite_343">[S. 343]</span> +lösen; aber weil beide ihren besonderen Anhang haben, sieht er zu +seinem Schrecken die Anstalt in zwei feindliche Lager geteilt und wird +mit seiner hülflos suchenden Liebe ein Fangball, den sie einander +zuwerfen: der alte Vorwurf seiner Unbrauchbarkeit ist über Nacht aus +dem Boden gewachsen, grausamer als sonst, weil er ihn diesmal aus allen +Himmeln reißt. Um kein Trümmerfeld in Ifferten zu hinterlassen und Anna +für immer zu verscheuchen, die sich jetzt schon verstimmt durch die +Händel in ihrem Zimmer hält, muß er den Plan der Armenkinderanstalt in +Wildenstein vertagen. So gießt ihm der Herbst des mit Siegesgedanken +begonnenen Jahres Galle in seinen Jungbrunnen, und obwohl schließlich +durch den vermittelnden Muralt eine Aussöhnung zustande kommt, sodaß +sie Weihnachten in Frieden feiern, bleibt eine bittere Stimmung in ihm, +die seiner gewohnten Neujahrsrede nicht günstig ist.</p> + +<p>Am letzten Nachmittag des Jahres kommt er zufällig mit einer Besorgung +in die Werkstatt des Schreiners, der seit der Einrichtung die Arbeiten +im Schloß hat. Sie nennen ihn in Ifferten den Heiden, und Heinrich +Pestalozzi kennt unter andern Seltsamkeiten des alten Sonderlings +auch diese, daß er sich für jedes Neujahr einen Sarg herrichtet, die +erste Nacht des Jahres darin zu schlafen. Wie er nun bei ihm eintritt, +stehen die fünf Bretter schon fertig genagelt da, und er ist gerade +dabei, dem Deckel eine Hohlkante anzuhobeln. Den brauch ich vorläufig +nicht, spöttelt er und bietet ihm eine Prise an, es ist nur wegen der +Vollständigkeit! Und als Heinrich Pestalozzi, den der selbstgefällig +lächelnde Greis neben<span class="pagenum" id="Seite_344">[S. 344]</span> dem Sarg verwirrt, ihn fragt, warum er sich +jedes Jahr solch ein neues Bett mache, streicht der mit der Hand die +Hobelkante ab und paßt den Deckel ein, wie einer, der das Schicksal +pfiffig überlistet: Weil es mir noch keinmal geraten ist, ihn zu +verwahren; schon im Frühjahr ist meist ein anderer Liebhaber da!</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi vermag keinen Geschmack an dieser +Lebensversicherung zu finden, aber der gehobelte Sarg hat ihm das +Herz bewegt, und als er draußen den Schmid trifft, wie er mit einigen +Zöglingen einen Handwagen voll Tannenreisig aus dem Wald anbringt, die +Schloßkapelle zu schmücken, übermannt es ihn so, daß er ihn gerührt +in die Arme schließt. Ein hämischer Zufall will, daß Niederer seither +dazu kommt, todblaß, weil er die Herzlichkeit gesehen hat. Sie gehen +zu dreien miteinander vor dem Handwagen der Zöglinge her in einem +verlegenen Gespräch, und Heinrich Pestalozzi in der Mitte will sich +schon der Begegnung freuen, als die Worte zerbrechen und die Scherben +im Streit umher fliegen. Er rafft die Zöglinge an den Händen fort, daß +sie nicht Zeugen der Häßlichkeit würden; aber noch, als er drinnen auf +dem oberen Treppenumgang steht, hört er die bellenden Stimmen durch die +Mauern dringen.</p> + +<p>Er sieht an dem Abend niemand mehr und erlebt die Mitternacht allein +und verdüstert in seiner Kammer: Ich Narr der Eitelkeit, jammert er, +was soll die Welt mit meiner Lebensgeschichte, die ein Buch voller +Grabreden ist! Als er in den Kleidern auf dem Bett liegend endlich +einschläft, bleibt seine letzte Empfindung die mutlose Müdigkeit, daß +es der Sarg des Schreiners<span class="pagenum" id="Seite_345">[S. 345]</span> sein möchte! Und noch, als die ersten +Glocken den Morgen ansagen, quält er sich im Halbschlummer mit den +engen Brettern. So trifft Heinrich Pestalozzi die Stunde, wo er als +Hausvater vor den Seinen mit dem Bekenntnis des alten und dem Gelöbnis +des neuen Jahres stehen soll.</p> + +<p>Er läßt durch zwei Zöglinge den Sarg des Schreiners holen und vor den +Altar stellen; und ob er Anna bei dem Anblick die Kapelle verlassen +sieht und aus all den fragenden Augen der andern das Entsetzen vor +seinem Frevel spürt: nichts vermag ihn aus der Nötigung zu reißen, den +Sarg als den seinen zu betrachten und statt einer Neujahrsansprache +sich selber eine Grabrede zu halten. Niemand vermöchte seine +Unbrauchbarkeit grausamer anzuschlagen, als er es nun selber tut, und +fast ist es mit Gott gehadert, wie er ihm die Unfähigkeit seiner Natur +vorhält und alle Schuld an dem Zerwürfnis auf sich selber legt. Aber so +erschütternd seine Klagen durch die Kapelle irren und in manchem Herzen +den Schrecken um seinen Verstand aufjagen: ihm selber ist es, als ob +sein Körper damit ausfließe wie ein verunreinigtes Gefäß; bis er, von +aller Verbitterung leer, die Brunnen der Demut in sich aufquellen +fühlt. Da weiß er, daß seine Anklagen nur die Torheit eines Kindes +sind, das sich durchtrotzen möchte und hundert Wohltaten vergißt, weil +ihm eine verwehrt wird: Wie undankbar und eigensinnig ist es, gegen +mein Schicksal zu hadern, das mich vor allen Menschen mit meinem Werk +gesegnet hat! Sodaß Heinrich Pestalozzi die Kapelle in einem Gefühl der +Begnadung<span class="pagenum" id="Seite_346">[S. 346]</span> verläßt, darin selbst die Beschämung über sein zorniges Tun +ins Ferne verfliegt.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>91.</h3> +</div> + +<p>Nach dem Gewitter dieser Neujahrsrede fängt die Sonne wieder an zu +scheinen, und Heinrich Pestalozzi, der die schlimmen Dinge leichter +als die guten vergißt, fühlt ihre Wärme über Ifferten, als ob erst +Mittag wäre. Auch Anna, die lange gekränkelt hat, lebt wieder auf und +braucht nicht mehr am Stock zu gehen: Ich mußte die alternde Frau in +mir los werden, sagt sie einmal zu ihm, als sie dem bunten Getriebe der +Zöglinge auf der Eisbahn zusehen: jetzt sind die Reste fort, und ich +bin ganz eine Greisin; ich konnte nicht alt werden, nun ich es bin, ist +alles wieder frei; ich möchte fast ein paar Eisschuhe antun, so leicht +ist mir!</p> + +<p>So bin ich doch der Ältere von uns beiden, antwortet er und nimmt +zärtlich ihre Hand; denn auch das habe ich dir vorgelebt: Nur das +Gesicht und die Hände waren jung und werden alt, die Seele lebt als +eine schwingende Schnur, die in der Mitte heftig schwirrt und am Ende +— wie am Anfang — nur noch zittert, bis der andere Knoten kommt, wo +sie an den Bogen ihres Erdendaseins gespannt ist!</p> + +<p>Er spricht auch sonst wieder viel mit ihr, fast wie damals auf ihren +ersten Spaziergängen, und lächelt hinterhaltig, wenn er sich bei den +Listen seiner Liebe ertappt. Als ob er noch einmal seine Mutter hätte, +geht er behutsam mit ihren Wünschen um und verschweigt ihr die Unrast +um sein Werk, die noch immer weit vom<span class="pagenum" id="Seite_347">[S. 347]</span> Knoten schwingt: Es ist nur mein +Sterbeteil, denkt er oft, der bei ihr die heimlichen Schlupfwinkel +seines Lebens hat; der Menschengeist in mir, dem die schwingende Seele +die zitternde Spindel war, ist nicht an ihre Schnur gebunden; der +trägt den Takt ihrer Bewegung fort ins Breite, wenn die Schnur längst +still steht! Und deutlich fühlt Heinrich Pestalozzi die Unheimlichkeit +dieser Trennung, wie die Seele sich zur Ruhe rüstet, indessen sein +Menschengeist immer ferner auf Abenteuer reitet.</p> + +<p>Das Wort verläßt ihn nicht; der Zwiespalt seines Lebens wird +ihm sinnbildlich darin, daß seine Seele für die Abenteuer des +Menschengeistes einstehen mußte, der nicht den Seinigen, sondern dem +Volk gehörte und von dem Gewissen der Menschheit in Pflicht genommen +war. So hat die Seele daheim im Streit gelegen bis auf diese Stunden, +wo er zurseite Annas gemächlich am See spaziert — unter den überhohen +Bäumen, die ihre Blätter nur deshalb im Jurawind rieseln lassen können, +weil ihre Wurzeln ihnen unablässig den Saft aus dem schwarzen Grund +zubringen — indessen sein unruhiger Geist mehr als je in das Abenteuer +der Menschenbildung verwickelt ist: nur daß er, anstatt auf eigene +Faust zu kämpfen, längst ein Häuptling wurde mit einem Kriegslager, +dahinein von fernher die Krieger reiten, sich Weisung zu holen.</p> + +<p>Denn Heinrich Pestalozzi — der Greis, wie ihn die Burgdorfer schon +nannten — ist unversehens in Europa eine Macht geworden; nicht, +weil er überall in den Regierungen Anhänger hat, die ihm Lehrlinge +der Methode<span class="pagenum" id="Seite_348">[S. 348]</span> nach Ifferten schicken, das dadurch eine Hochschule +der Erziehung wird, sondern weil nun die Weltgeschichte auch sonst +seinen mißachteten Ideen nachkommt: Seitdem ihm der Konsul Bonaparte +spöttisch den Rücken zukehrte, sodaß er mit dem verschmähten Sauerteig +der allgemeinen Volksbildung von Paris heimkehren mußte, hat sich +der korsische Advokatensohn zum Gewalthaber Europas gemacht, der +Fürstentitel und Königskronen wie Kinderspielzeug verschenkt, den +Papst nach Paris kommen läßt, ihn als Kaiser zu krönen, und der sich +die habsburgische Kaisertochter als seine Frau einfordert. Nichts in +der Welt scheint seiner Selbstherrlichkeit zu widerstehen; so ist +ihm auch der Preußenstaat des großen Friedrich nur ein Hindernis auf +seiner neuen Landkarte, das er mit einer kriegerischen Handbewegung bei +Jena beseitigt, wobei er noch Zeit findet, dem Dichter der Deutschen +das Kreuz der Ehrenlegion an die Weltbürgerbrust zu heften. Aber +diese Handbewegung macht dem Totengräber seiner Schwertmacht, dem +Menschengeist in Preußen, die Hände frei.</p> + +<p>Wie immer kehrt auch hier der eiserne Besen der Not die unfähigen +Gewalthaber auf den Mist, und Männer treten in ihre Stellen ein, +nach den Menschenrechten die Menschenpflichten zu proklamieren, +in denen allein die Blutsaat der Revolution zu einer Volks- und +Menschengemeinschaft aufgehen kann. Einer der ersten ist sein Freund +aus den Tagen in Richterswyl Johann Gottlieb Sichte, der Schwiegersohn +des Wagenmeisters Kahn in Zürich; in seinen Reden an die deutsche +Nation, in denen er die sittlichen Mächte im deutschen Geist aufruft,<span class="pagenum" id="Seite_349">[S. 349]</span> +setzt er Heinrich Pestalozzi und seine Idee der Menschenbildung in eine +Beleuchtung, die keine Gegnerschaft mehr auslöschen kann. Als auch +der Holsteiner Nicolovius in die Leitung des preußischen Schulwesens +berufen wird, will der Traum in einem Land Europas Wirklichkeit werden; +die besten Geister haben die Regierung des preußischen Staates in +der Hand, und ihr Ziel ist das seine: Befreiung und Erneuerung des +Volkes als einer sittlichen Gemeinschaft, und als Grundlage dieser +Gemeinschaft die Erziehung aller mit den Mitteln, wie er sie in dem +Naturgang seiner Methode gefunden hat. So ist Heinrich Pestalozzi +aus einem einsamen Abenteurer des Menschengeistes doch ein anderer +Heerführer geworden als sein Vetter Hotze mit dem Soldatenhut, von dem +nur noch der verblaßte Ruhm übrig geblieben ist.</p> + +<p>So gut geht alles, daß auch die feindlichen Lager in Ifferten +Gottesfrieden halten. Muralt hat vermocht, daß eine genaue Teilung +der Pflichten Niederer und Schmid auseinander hält, und namentlich, +seitdem Rosette Kasthofer aus Grandson das Töchterhaus in ihren +jüngferlich festen Händen hält, während Niederer — der auch nicht +mehr im Schloß wohnt — nur noch seine Pflichtstunden gibt und die +schriftstellerischen Tagesbedürfnisse der Anstalt besorgt, ist die +tägliche Verärgerung beseitigt. So kommt der letzte September des +Jahres 1809, an dem es vierzig Jahre her ist, daß Heinrich Pestalozzi +sich mit Anna Schultheß aus dem Pflug in der Dorfkirche zu Gebistorf +trauen ließ, recht in die Zeit für ein Freudenfest: Nun haben wir es +doch einmal beide nach unserem Herzen, sagt er neckend zu<span class="pagenum" id="Seite_350">[S. 350]</span> ihr, die +fast bräutlich geschmückt im Lehnstuhl auf ihn wartet, wird aber gleich +wieder ernst vor ihrem würdigen Gesicht: Unser Haus ist wohlbestellt +unter einem großen Dach, wie ich dir den Neuhof bauen wollte, und mir +ist sein Glanz keine Unruhe mehr, weil ich der Lebensströme sicher bin, +die daraus fließen!</p> + +<p>Als sie dann miteinander in den geschmückten Saal treten und in das +fröhliche Bienengesumm die Stille ihrer Gegenwart bringen, als Niederer +seine Festrede aus der Brunnentiefe seiner gewaltigen Begeisterung +holt und ihnen Kränze von innigen Worten auf die weißen Häupter legt, +indessen sie Hand in Hand wie zwei Kinder im Augenblick hundertfacher +Liebe dasitzen: sind alle Wechsel, die der Lehrling Tschiffelis an +die Kaufmannstochter im Pflug sandte, so über alle damalige Geltung +eingelöst wie im Märchen, wo auch die gehäuften Nöte auf einmal von dem +vorbestimmten Glück abfallen. Nur ganz den feierlichen Ernst der Stunde +zu ertragen vermag Heinrich Pestalozzi noch immer nicht; es ist auch +hier ein wenig bei den hohen Worten, als ob er wieder nach dem Examen +vor den andern Schülern das Vaterunser sprechen solle: so lächert es +ihn durch seine Glückstränen. Kaum sind die Ströme der Feier über +ihn hingeflossen, und die Frühlingsblumen dieser Herbstfröhlichkeit +wollen in einem Tanz der Kinder aufblühen, da muß er ihnen zeigen, +wie es damals zuging, als er noch der schwarze Pestaluz aus dem Roten +Gatter und Anna Schultheß die scheu verehrte Muse der jungen Patrioten +aus der Gerwe war: und übermütig, wie er es damals nicht vermocht<span class="pagenum" id="Seite_351">[S. 351]</span> +hätte, schreitet Heinrich Pestalozzi, der Armennarr auf Neuhof, die +Pestilenz des Birrfeldes, der Waisenvater in Stans und der Prophet +der Menschenbildung in Burgdorf und Ifferten, mit seiner schlohweißen +Gattin zu einer alten Weise den ersten Tanz.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>92.</h3> +</div> + +<p>Wenn die Deutschen nach Ifferten kommen, meist über Basel und Bern +oder auch über Zürich, geschieht es ihnen leicht, daß sie mit ihrer +Begeisterung für Heinrich Pestalozzi an diesen Orten als närrische +Wallfahrer aufgenommen werden, weil man da eine andere Ansicht +von dem unruhigen Projektenmacher hat, sodaß sie kleinlauter in +das viertürmige Schloß eintreten und dann nicht selten durch die +unordentliche Erscheinung ihres Propheten abgeschreckt werden, als ob +die achselzuckende Mißachtung des Mannes in seiner Heimat am Ende doch +das Klügere sei. Sie haben erwartet — weil sie als Deutsche blindlings +ans Gute glauben — daß sein Vaterland wie eine stolze Familie zu ihm +stände, und finden ihn eher als verlorenen Sohn darin, zu dem sich +nur die Tapferen ohne Vorbehalt bekennen. Je höher der Lichtschein +seines Ruhmes draußen steigt, umso ängstlicher wird die Vorsicht, +als Schweizer für seinesgleichen gehalten zu werden, als ob etwa die +gesicherte Kultur Helvetiens noch seiner seltsamen Bildungsversuche +bedürfe.</p> + +<p>In Basel und Zürich sind es die Humanisten, die seine Abc-Künste +bespötteln, und in Bern die Aristokraten, die seine Anstalt als staats- +und kirchengefährlich hassen,<span class="pagenum" id="Seite_352">[S. 352]</span> besonders seitdem er in dem abtrünnigen +Waadtland haust. Und gerade während der Zeit, da in Preußen Humboldt, +Stein und Fichte seine Grundmittel der Menschenbildung mit heiliger +Überzeugung ergreifen, muß Heinrich Pestalozzi sich in der Heimat gegen +böswillige Angriffe wehren. Um ihrer mit einem Mal Herr zu werden, +stellt er der schweizerischen Tagsatzung in Freiburg das Ansinnen, +seine Anstalt von Landeswegen zu prüfen, ob die Methode nicht auch +in der Schweiz, wie in Preußen zum Vorteil des Vaterlandes allgemein +eingeführt werden könne! Auch hat der Eifer Niederers vermocht, daß +eine schweizerische Gesellschaft der Erziehung gegründet wird, die +wie vormals die helvetische Gesellschaft in Schinznach so jährlich +zum Sommer in Lenzburg tagen soll, und bevor noch die Dreimänner der +Tagsatzung zur Prüfung der Methode nach Ifferten kommen, hält Heinrich +Pestalozzi als Präsident der Gesellschaft eine Rede über seine Idee +der Menschenbildung, mit der er noch einmal als ein Demosthenes +seines Landes auf den Markt tritt: aber die ihn anhören, sind einige +vierzig für seine Sache schon vorher bemühte Leute, nicht die neunzehn +Kantonsregierungen des Schweizervolks, das in seinen Blättern manchen +Spott lesen kann, ob eine solche Sache wohl berechtigt sei, ernsthafte +und gelehrte Leute zu bemühen? Und als die nächste Tagsatzung den +Bericht der Dreimänner bekannt gibt, ist es eine hämische Aufzeichnung +der Mängel, die sie in der Anstalt gefunden haben, sodaß nun Niederer +wieder mit einer Flugschrift auf dem Wall erscheint und den Gegnern der +Anstalt mit Heroldsworten den Fehdehandschuh hinwirft.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_353">[S. 353]</span></p> + +<p>Bevor darauf die Angreifer aus allen Kantonen mit den entrollten +Bannern der überkommenen Weltordnung anrücken, das Nest des Aufruhrs +in Ifferten auszuheben, bricht es innen auseinander. Einem Dämon +der Zwietracht gelingt es, die verhaltene Feindschaft Schmids und +Niederers in das innerste Glas ihrer Männlichkeit zu gießen, wo sie +zischend auseinander fahren muß. Seit einiger Zeit ist eine Lehrerin, +namens Luise Segesser, in der Anstalt, ein schönes und herzlich +verankertes Mädchen aus Luzern, um das sich beide mit der Leidenschaft +ihrer fanatischen Seelen bemühen. Schmid, der gegen den rotköpfigen +und schwächlichen Niederer ein starkes Mannsbild von unverkennbarem +Tirolertum ist, glaubt sich schon als Katholik im Vorteil gegen +den pfarrerlichen Protestanten, da die Segesser selber aus einem +katholischen Hause kommt. Sie würde es bei ihrer Familie mit ihm ebenso +leicht haben wie mit Niederer schwer, aber nach dem Instinkt solcher +Frauen wählt sie das Schwere. Schmid ist immer noch erst ein Jüngling +von dreiundzwanzig Jahren, ihm werden durch ihre Wahl stolze Bäume +aus der Wurzel gerissen; er war bis auf diese Zeit der Liebling des +Meisters und die sichtbare Stütze der Anstalt, selbst der hämische +Bericht der Dreimänner hat seine Leistungen ausnehmen müssen: jetzt ist +ihm alles unwert, weil ein Mädchen sich gegen ihn entschieden hat. Es +fängt an, in seiner Galle zu wühlen, und nun ist es nicht mehr seine +Feindschaft mit Niederer allein, nun hat ihn der Geist der Anstalt +verraten, wo jeder — so scheint es ihm — vom kleinsten Zögling bis +zum ältesten Lehrer das tut, was<span class="pagenum" id="Seite_354">[S. 354]</span> seiner Neigung bequem ist, und wo +Heinrich Pestalozzi nur als Strohpuppe gehalten wird, mit der sie +abwechselnd ihr Ränkespiel treiben: Er vermag nicht mehr, in der +Gemeinschaft zu bleiben, deren fester Stundenschlag er mehr als jeder +andere gewesen ist; eines Tages steht er tief vergrollt vor dem Meister +und sagt ihm, daß er für immer fortgehen müsse!</p> + +<p>Es ist ein Frühlingsabend, und Heinrich Pestalozzi, dem das Alter +den Rücken müde gemacht hat, liegt nach seiner Gewohnheit in den +Kleidern auf dem Bett und diktiert, als er zu ihm tritt. Er kennt den +Herzenslauf des Jünglings seit langem, und die Schadenfreude hat ihm +zugetragen, an welches Ende es nun damit gekommen ist: Du nimmst meinem +Dach den Firstbalken weg, sagt er zu ihm, als sie allein sind: und es +ist kein anderer da, der ihn mir wieder aufrichtet; aber wenn dir alles +im Blut verleidet ist, will ich dich nicht mit dem Wasser meiner Worte +halten! Er greift ihm nach den Händen, und einen Augenblick ist es, +als ob der andere ihm seinen Kopf an die Brust werfen und in Tränen +aufgehen möchte; aber der Trotz hält ihn erschlossen gegen solche +Weichheit, daß er die Hände zurücknimmt und bald mit hohen Schultern +das Gemach verläßt.</p> + +<p>Der Wind hat die Tür hinter ihm wieder aufgedrückt, daß sie leidmütig +in den Angeln knarrt. Heinrich Pestalozzi ruft nach Anna; sie scheint +nach ihrer Gewohnheit hinuntergegangen zu sein in den Garten, wo die +Vögel das junge Laub anschreien, daß ihm ein einziges Geschrill<span class="pagenum" id="Seite_355">[S. 355]</span> +davon durchs offene Fenster kommt. Um nicht allein zu sein mit der +Entscheidung, die unsichtbar in der Kammer auf ihn wartet, tappt er +hinunter, sie zu suchen. Es ist die Stunde, da die Knaben unten am See +unter den Bäumen spielen, und darum eine Stille auf den Gängen und +Treppen, die ihn fast ängstlich macht. Bin ich auf einmal allein in der +Welt, denkt er; als er aufatmend unten Schritte hört und, rasch über +die Galerie gebeugt, Muralt mit einem Brief in der Hand quer durch den +Hof zur Treppe gehen sieht. Den schickt mir der Himmel, hofft er und +wartet still, während der andere auf seine schlanke Art heraufkommt; +aber als er ihm seine Sache klagen und ihm sagen will, daß er der +einzige sei, Schmid umzustimmen, wehrt Muralt gleich schmerzlich ab +und reicht ihm seinen Brief. Es ist seine Berufung nach Petersburg, +die schon seit Monaten schwebt: So wollt ihr mich alle verlassen, wie +die Ratten das sinkende Schiff, schreit er im Zorn und will ihm das +Papier an die Brust werfen. Aber es fliegt übers Geländer und tanzt im +Zickzack in den Hof nieder, wo es wie eine Anklage seiner Heftigkeit +liegen bleibt, bis Muralt nach einer Pause hinuntergeht und es aufhebt. +Er kommt nicht zurück, schreitet mit gesenktem Gesicht aus dem Hof +hinaus, sodaß Heinrich Pestalozzi wieder allein in dem leeren Gemäuer +bleibt: ein Bettler im eigenen Haus, wie er bitter vor sich hindenkt, +bevor er zurück in seine Kammer geht, wo die Vögel noch immer das junge +Laub anschreien. Aber die Sonne ist fort, und aus den Ecken wachsen die +grauen Gespinste, den letzten Tag zu verzehren.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_356">[S. 356]</span></p> + +<h3>93.</h3> +</div> + +<p>Meine Anstalt ist ein Uhrwerk, klagt Heinrich Pestalozzi, als Schmid +und Muralt nicht mehr in Ifferten sind, davon mir irgendwer den +Stundenzeiger und das Schlagwerk fortgenommen hat: nun schnurren die +Räder weiter, und der Minutenzeiger läuft unaufhörlich im Kreis herum, +aber niemand weiß die Stunde! Umso eifriger ist Niederer; er hat nun +endlich freie Hand, die Gewichte nach seiner Neigung aufzuziehen, und +macht aus der Stunde siebzig Minuten, die Anstalt und die Methode vor +den Angreifern zu retten.</p> + +<p>Bisher haben die Gegner ihren Zorn nur in den Kantonsblättern auslassen +können; der Aristokratenprofessor von Haller in Bern macht ihnen +endlich im Ausland auf eine Weise Luft, die auch die Anspruchsvolleren +befriedigt. Unter dem schützenden Mantel der Gelehrsamkeit — darin +seit je die Bosheit ihren geliebten Schlupf hat — tritt er in den +Göttinger Gelehrten Anzeigen auf, um dem harmlosen Deutschland die +Augen über die gefährliche Revolutionsschule in Ifferten zu öffnen. +Da kann der Haß gegen den Unruhestifter einmal dick ausfließen, und +fleißige Schaufelräder bemühen sich allerorten, ihn ins Land zu +leiten. Niederer, für den nun endlich die Methode aus dem Staub der +Schulklassen in das Feuer der geistigen Prüfung kommt, schlägt mit dem +Schwert seines Eifergeistes in den Brei, bis er selber in einem Berg +von Schaum dasteht. Aber schon meldet sich von Zürich der Humanismus, +der seit Agis Zeiten noch eine Abrechnung mit dem vorlauten Patrioten +aus der Gerwe hat: in der viel gelesenen<span class="pagenum" id="Seite_357">[S. 357]</span> Zürcher Freitagszeitung +stellt der Chorherr Bremi drei Dutzend Zeitungsfragen, die sich mit +gewandter Bosheit gegen den rasselnden Niederer richten, aber Heinrich +Pestalozzi dem gebildeten Geschmack preisgeben. Er will nun selber +antworten, aber weder die Zeitung in Zürich noch die in Bern nimmt +seine Einsendungen auf, sodaß doch wieder Niederer das Wort nimmt, +diesmal in einem zweibändigen Werk, das den Streit in den Untiefen der +Dialektik entscheidet.</p> + +<p>Die Aufregungen dieser papierenen Kämpfe machen aus dem Zähringer +Schloß in Ifferten mehr eine belagerte Festung als eine Schule. +Manchmal genug muß Heinrich Pestalozzi an seine Kattunfabrik und +die Zurzacher Messe denken, wenn er zusieht, wie sich bei Niederer +die Pläne jagen, wie im Handumdrehen ein Verlagsgeschäft, eine +Buchdruckerei und eine Buchhandlung im Schloß eingerichtet werden, um +besser für diese Händel gerüstet zu sein; doch liegt er nun fast immer +an seinem Rückgrat in Schmerzen auf dem Bett und läßt es geschehen, daß +ihm der Zielpunkt seines Lebens täglich mehr auf die Seite geschoben +wird, als ob er um solcher Klopffechterkünste willen gelebt hätte.</p> + +<p>Darüber kommt er durch einen törichten Unfall auch noch fast ans +Sterben: als er eines Tages mit einer Stricknadel im Ohr bohrt, +aber nicht recht aus dem Gehänge seiner Gedanken aufwacht, läuft er +unversehens damit gegen den Kachelofen, so unglücklich, daß ihm die +Nadel durch das innere Ohr in den Kopf hinein sticht. Trotzdem es ihm +wehtut, scherzt er selber noch über sein täppisches Ungeschick, bis +die Schmerzen nach einigen<span class="pagenum" id="Seite_358">[S. 358]</span> Tagen heftiger werden, Fieber dazu kommt +und ihm wie den andern die Gefährlichkeit ankündigt. Krüsi begleitet +ihn nach Lausanne, aber da lassen ihn die Ärzte nicht mehr fort, weil +nun schon das Fieber mit den Schmerzen um sein Bewußtsein kämpft und +der Tod an seine Bettstelle treten will. Vier Monate seines Lebens +kostet ihn die falsche Anwendung dieser Stricknadel, und manche Woche +irrt sein Geist in Delirien hin, darin die Kämpfe der letzten Zeit in +den Spuk früher Kinderträume tauchen, wo die Feinde mit greulichen +Gesichtern und langen Messern heran schleichen. Namentlich ein plumpes +Tier peinigt ihn lange, das dicht über seinen Augen schwebt und ihn +erdrücken wird, wenn es sich niederläßt. Als seine Sinne heller werden, +weil die Sonne durchs Fenster scheint und mütterliche Hände um seine +Wiege sind, ist es der bunte Papiervogel, von dem er geschrieben hat, +daß ihn die Appenzeller Mütter ihren Kindern übers Bett hängten, +damit der suchende Blick daran den ersten Anhalt aus dem Unbewußten +in die Menschenwelt fände. Endlich an einem Nachmittag erwacht er +wieder in seine Greisenwelt, Anna Schultheß lächelt ihn an mit ihrem +Faltengesicht, und der Vogel ist fort: aber die Erinnerung an seine +Farben bleibt in ihm, wie wenn er aus dem Paradies gewesen wäre. Und +noch einmal wird Heinrich Pestalozzi überwältigt von dem tiefen Sinn +dieses Volksgebrauches: Mir löscht das Bewußtsein meiner alten Tage den +Traum bald wieder aus, denkt er und liegt noch immer wie ein Kind in +der Wiege lächelnd mit gefalteten Händen da; aber das Kind, das sich +die<span class="pagenum" id="Seite_359">[S. 359]</span> Welt mit seinen Sinnen erst aufbauen soll, sieht am Eingang den +paradiesischen Vogel, und es wird immer diesen Kern von Wohllaut in dem +Weltgebäude seiner Anschauung fühlen.</p> + +<p>Mitten in diese Gedanken hinein muß er so herzhaft lachen, daß +sich Anna erschrocken — das Fieber möchte wiederkommen — zu ihm +hinunterbeugt. Es dauert lange, bis er mit den schwerfälligen Worten +dem blitzschnellen Lauf seiner Gedanken nachkommen kann: Er hat von dem +Papiervogel aus an das Bergwerk gedacht, darin die Seele im Verlauf +einer Jugend von den Erfahrungen der Sinne begraben wird, und an die +unendliche Geduld seiner Methode, sie mit der Ordnung einer wirklichen +Weltanschauung wieder ans Licht zu bringen, auf einmal ist aber noch +Niederer dagewesen mit dem Papierberg seiner Wissenschaft: Weißt du +noch, kichert er und malt ihr mit dem Finger einen Vogel auf die Hand, +wie mich der Henning aus Preußen neulich nach der Stelle in meiner +Lenzburger Rede fragte, aus der Niederer ein gedrucktes Buch gemacht +hat? Es wäre mir auch zu tiefsinnig, was ich da gedacht hätte, sagte +ich: er müsse Niederer fragen!</p> + +<p>Als aber Anna schon wieder in Ifferten ist und er noch immer geschwächt +von seiner Krankheit daliegt, bleibt der mühsame Weg von dem +Appenzeller Vogel bis zur Wortposaune der Lenzburger Rede der Strich, +an dem er den Gang seiner Absichten auf der Bettdecke abtasten kann: +Es geht schon arg über den Rand damit, sagt er kopfschüttelnd, und +macht sich fast ein Spiel daraus, wie alles andre danach, der Professor +Haller in<span class="pagenum" id="Seite_360">[S. 360]</span> den Gelehrten Anzeigen und der Chorherr Bremi mit den drei +Dutzend Zeitungsfragen samt den Niedererschen Antwortschriften auf den +Boden purzelt, wo sie das Turnier in ihrer eigenen Welt, nicht in der +seinen abmachen.</p> + +<p>Endlich nach fast vier Monaten kann ihn Anna im Wagen wieder holen; er +möchte — wie er wehmütig scherzt — den Umweg über Ifferten garnicht +mehr machen, da es über Burgdorf näher nach dem Birrfeld wäre. Und bei +Cossonay muß ihn der Kutscher ein Stück gegen den Berg hinauf fahren, +damit er ihr die Stelle seiner Rettung unter den Pferden zeigen kann. +Es ist seit Januar Anfang Mai geworden, und die sonnige Luft hat ihn +heiter gemacht; aber wie sie nachher durch das Sumpftal der Orbe +hinunter fahren, fängt er bitterlich an zu weinen. Er hat an das Glück +der Ruhe damals gedacht, und wie anders dies jetzt ist, in das er +hinein fährt: Wo ist mein Jungbrunnen geblieben? klagt er unaufhörlich, +sodaß Anna, die nicht an den Boden seiner Trauer gelangen kann, schon +bitter zweifelt, ob die Nadel seinem Kopf nicht doch geschadet habe.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>94.</h3> +</div> + +<p>In den selben Maitagen, da Heinrich Pestalozzi so weichen Herzens +von der überstandenen Krankheit nach Ifferten zurück fährt, reist +Bonaparte seinem Heer nach, den Feldzug gegen Rußland zu wagen. Noch +einmal versammelt er in Dresden die deutschen Könige und Fürsten als +seine Vasallen um sich, bevor er dem Winter in den russischen Steppen +entgegen zieht. Das Gepränge<span class="pagenum" id="Seite_361">[S. 361]</span> seines Ausmarsches, den auch Tausende +von Schweizersöhnen mitmarschieren, ist kaum in die Einöde verklungen, +und eben legt der erste Winterschnee dem Jurarücken seine Schutzdecke +auf, als der Brand von Moskau sein blutiges Nordlicht leuchten läßt. +Noch sind es Wenige, die den Schein zu deuten wagen; aber bald fliegen +die Gerüchte an den Landstraßen hin, daß der Weltherrscher in einem +Schlitten allein durch Deutschland zurück geflohen sei, indessen die +Leichensaat der großen Armee in Rußland geblieben wäre. Während sich +eine dumpfe Erwartung über die Menschen legt, fängt bei den preußischen +Lehrern, die noch in Ifferten sind, die Unruhe an zu brennen; +kaum fallen die ersten Eiszapfen von den Dachrändern, als sie dem +Befreiungskrieg ihres Vaterlands zufliegen.</p> + +<p>Wenn der Krieg auch fürs erste der Schweiz fern bleibt, bekommt ihn die +Anstalt doch zu spüren; schon mit den preußischen Lehrern sind Zöglinge +heimgereist, und auch sonst holen besorgte Eltern ihre Kinder. Mit dem +Frühjahr schmelzen die Einnahmen bedenklich hin, während die Ausgaben, +von den Niedererschen Ideen gedüngt, üppig ins Kraut schießen. Es geht +schon wieder wie mit der Fabrik im Neuhof, Heinrich Pestalozzi in +seiner Bedrängnis stopft die kleinen Löcher aus einem großen Loch, und +noch einmal muß Anna Schultheß aus ihrem Ererbten sechstausend Franken +hergeben, den Bankrott abzuwehren. Sie ist fünfundsiebzigjährig, als +sie den Pakt unterzeichnet, und ihr Enkel steht schon als Jüngling +dabei; ihm den Rest des Vermögens zu sichern, wird ein Vertrag gemacht, +der sie nun selber auch auf<span class="pagenum" id="Seite_362">[S. 362]</span> den Altenteil setzt, sodaß sie beide +nichts mehr besitzen, als daß sie — wie die Lehrer auch — ihre +Unterkunft in der Anstalt haben: Jetzt kann ich nicht mehr das Senkblei +deiner Stürme sein, sagt sie zu ihm, jetzt bin ich leicht wie du!</p> + +<p>Während er so das Schneckenhaus seiner Gründung mühsam weiterschleppt, +ist die Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen, und wie Bonaparte +früher die Völkerscharen Europas gegen seine Feinde geführt hat, so +drängen sie nun gegen ihn. Ehe die Schweiz sich dessen versieht, steht +die Hauptarmee der Verbündeten in Basel, bereit, nach Frankreich +einzudringen; die Tagsatzung beschließt eine vorsichtige Neutralität, +aber nun gibt es zwischen Für und Wider keine Möglichkeit mehr, und +hundertdreißigtausend Österreicher rücken ungefragt ins Schweizerland, +den Heerweg zwischen Jura und den Alpen nach Genf zu nehmen. Ifferten +liegt mitten in der Bahn, und als schon Tausende durchgerückt sind, +reitet eines Tages ein Offizier mit dem Befehl in die Stadt, das Schloß +für ein Lazarett zu räumen! Kommt mir alles wieder? denkt Heinrich +Pestalozzi; aber nun ist er nicht mehr der hilflose Waisenvater in +Stans, und als die Stadt zwei Abgeordnete nach Basel ins Hauptquartier +schickt, das Übel noch abzuwenden, schließt er sich trotz seiner +neunundsechzig Jahre den beiden an.</p> + +<p>Die modischen Stadtherren sind nicht erfreut, als ihnen der ungekämmte +Sonderling auch noch in den Wagen gepackt wird, und wo sie Rast machen +unterwegs, verleugnen sie ihn vorsichtig, um nicht für seinesgleichen +zu gelten. Aber als sie nach Basel kommen, wo<span class="pagenum" id="Seite_363">[S. 363]</span> es von Federbüschen +und goldbestickten Uniformen wimmelt und auf den Straßen die Karossen +der Fürstlichkeiten drängen, sind die Türen der Heeresämter nicht +so offen wie unterwegs die Gasthöfe; der Weltkrieg hat keine Zeit +für die Wünsche kleiner Landstädte, und selbst die Abgeordneten der +Tagsatzung zucken mit den Achseln; die Stadtherren von Ifferten müßten +ungehört abfahren, wenn ihnen nicht der mißachtete Greis die Türen und +Ohren aufmachte. Wie sie sich wieder nach ihm umsehen, ist er eine +vielbegehrte Berühmtheit, und schon am dritten Tag dürfen sie ihm zur +Audienz beim russischen Kaiser folgen.</p> + +<p>Der empfängt den runzeligen Alten inmitten seiner Würdenträger wie +einen Zauberer, und schon sein erstes Wort entledigt die Stadtherren +von Ifferten aller Sorgen. Nur wurmt es sie, daß Heinrich Pestalozzi +sich nicht sogleich — wie es schicklich wäre — mit ehrfürchtigem +Dank zurückzieht, sondern den Herrscher aller Russen wie ihresgleichen +ins Gespräch nimmt; obwohl sie nicht hören, was er ihm alles sagt, +weil der Kaiser schrittweise vor seiner Lebhaftigkeit zurückweicht, +zittern sie um seiner Zudringlichkeit willen, und als er ihn nach +einer Viertelstunde bis an die gegenseitige Tür gedrängt hat und +immer noch nicht nachgibt, sogar die Hand hebt, um den Kaiser nach +seiner Gewohnheit am Knopf zu fassen, möchten sie ihn an den Beinen +hinausziehen. Doch scheint der Kaiser anderer Ansicht zu sein; sie +wollen es nicht glauben, aber sie sehen es mit ihren Augen, wie er den +alten Mann, dem im Eifer sein Strumpf gerutscht ist, gerührt in die +Arme schließt,<span class="pagenum" id="Seite_364">[S. 364]</span> bevor er sich wieder zu den Staatsgeschäften seines +Gefolges wendet.</p> + +<p>Bei der Rückfahrt möchten die beiden seinem Alter diensteifrig zu Hilfe +sein; aber nun scheint dem Greis die letzte Vernunft zu entfahren: er +fragt sie selber aus seinem Traum, ob alles in Ordnung sei? Heinrich +Pestalozzi sind in diesen Basler Tagen andere Dinge wichtig geworden +als Ifferten und seine Anstalt. Wohl hat er dem Kaiser der Russen +vieles gesagt, wie der Mensch durch einen naturgemäßen Bildungsgang +in die Menschheit eingeführt werden müsse; aber er fühlt, es müßten +Monate, nicht Stunden der Predigt sein, um seiner Botschaft wirklich +solch ein Herz zu wecken: Es sind nicht die Menschendinge, die den +Mächtigen ans Herz gehen, sagt er zu den Stadtherren, die garnicht +merken, daß er mit sich selber spricht, es gilt nicht die Menschheit +und nicht einmal ihr Volk, es ist nur ihre Macht. Aber diese Macht +allein kann nichts als Heere unterhalten und Länder mit Krieg +überziehen; wenn danach der Friede kommt, ist sie wie eine Schelle +ohne Klöppel. Ich wüßte Einem, der mir folgte, eine Macht in Europa zu +gründen, die mächtiger als Bonaparte wäre; und ich sage euch, wer es am +ersten mit mir hält, dem wird die Herrschaft in Europa zufallen!</p> + +<p>Er hat die beiden Stadtherren aus Ifferten nun wirklich an den +Rockknöpfen gepackt, und obwohl sein Menschengeist kühner als jemals +auf Abenteuer in die Zukunft reitet, murmelt er nur Worte, die sie +nicht verstehen. Darum sind sie froh, als er endlich schweigt und sie +losläßt; denn ob sie noch immer über die Geltung<span class="pagenum" id="Seite_365">[S. 365]</span> dieses unscheinbaren +Greises betroffen sind, ihn in die Arme zu schließen vermöchten sie +nicht, trotzdem es ihnen ein Kaiser vormachte.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>95.</h3> +</div> + +<p>So zufällig der Anlaß dieser Reise nach Basel für Heinrich Pestalozzi +gewesen ist, so bedeutend wird ihre Folge. Er fährt den Stadtherren +zuliebe über Bern zurück, wo sie einen Tag lang bleiben wollen, noch +ohne Ahnung, daß dies gefährlich sein könnte. Schon zwei Tage vor +Weihnachten haben die Berner die napoleonische Verfassung abgeschafft +und sich wieder nach der ehrwürdigen Ordnung der Väter eingerichtet, +die ihnen von neuem die Zwingherrschaft über den Aargau und das +Waadtland geben soll. Sie wissen, daß sie beim Fürsten Metternich für +solche Gelüste Rückhalt finden und haben schon den österreichischen +Oberst Bubna beauftragt, im Durchrücken die verhaßte liberale Regierung +in Lausanne einzustecken. So ist jeder Waadtländer in Bern wieder ein +Empörer wie zu Davels Zeiten, und als Heinrich Pestalozzi sich in der +Frühe nach seinen Ratsherren umsieht, sind sie noch am Abend eilig +wieder abgefahren.</p> + +<p>Es wird zwar noch nicht mit Musketen geschossen, und er kommt +ungefährdet aus den finsteren Trutzgassen der alten Bärenstadt wieder +hinaus; aber seine Schweizer Gedanken haben eine böse Erschütterung +erfahren. Nun erst sieht er, was dieser Siegesmarsch der Verbündeten +bedeutet: er soll der europäischen Welt die letzten zwanzig Jahre wie +ein Geschwür ausschneiden, und<span class="pagenum" id="Seite_366">[S. 366]</span> dies begreift er sofort, daß seine +Menschenbildung mit zu dem Geschwür gehört. Zwar wird er auf den Schutz +des russischen Kaisers und der preußischen Regierung rechnen können, +aber sein Werk wird in einer so kurierten Welt keine Lebensluft mehr +haben. Er ist nun selber die Schelle ohne Klöppel, und so lustig er +über die vorsichtigen Ratsherren gespottet hat: nun kommt er wie sie +mit einem Gefühl der Gefahr in Ifferten an. Die ersten Zöglinge, denen +er vor dem Ort begegnet — es sind die goldäugigen Zwillinge eines +Pfarrers aus dem Traverser Tal — holt er zu sich in den Wagen und hält +sie fest, als ob schon die Landreiter kämen.</p> + +<p>Er findet Anna und die geborene Fröhlich in einer Aufregung, die der +seinen gewachsen ist: Niederer, den jedermann noch im Verhältnis +mit der Segesser glaubte, hat sich mit Rosette Kasthofer verlobt, +der Heinrich Pestalozzi im vergangenen November das Töchterhaus als +Eigentum abgetreten hat, was den Frauen schon damals nicht recht +gewesen ist. Auch ihm kommt die Nachricht unerwartet, aber länger als +eine Minute vermag er nichts Ärgerliches daran zu finden: Wir müssen +nun alle zusammen halten, sagt er aus seiner andern Welt, und erst als +Anna, die schon Wunderdinge aus Basel gehört hat, ihn verdutzt fragt, +ob es vielleicht doch anders gewesen sei, als das Freudengespräch durch +Ifferten gehe: berichtet er von seiner Audienz, darüber sie für diesen +Abend doch noch fröhlich miteinander sind.</p> + +<p>Am andern Morgen aber ist der Spuk wieder da und böser, als er ihn von +Bern mitbrachte. So muß Noah zumute gewesen sein, denkt er, als er die +Arche baute: und<span class="pagenum" id="Seite_367">[S. 367]</span> meine vier dicken Türme können nicht schwimmen, auch +ist es gar die Zwingburg des Zähringers selber, darin ich sitze! Ich +muß mein Testament schreiben, sagt er zu Anna, aber sie merkt bald, +daß es nicht ihrem Enkel Gottlieb gilt: »An die Unschuld, den Ernst +und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes« steht oben +darüber, und wenn er jemals Worte für seine innere Beredtsamkeit fand, +so gelingt es ihm diesmal. Er hat in Bern und schon in Basel sagen +hören, daß es die alte Kultur herzustellen gelte: aber nun leuchtet +er die gerühmte Zeit der Väter mit dem Lichtschein der Menschlichkeit +ab und zeigt, daß ihre hitzigen Preiser nur den äußeren Glanz des +gesellschaftlichen Lebens meinen. Kultur aber ist nur da — dies +setzt er scharf ins Licht — wo das Gewissen des einzelnen sich zur +sittlichen Persönlichkeit durchfindet und wo die Gesellschaft zur +Gemeinschaft solcher Persönlichkeiten wird. Darum kann Kultur nicht +durch eine Veränderung der äußeren Zustände herbeigeführt werden, +ihr Boden ist allein der Mensch: Laßt uns Menschen werden, damit wir +Bürger, damit wir Staaten werden können!</p> + +<p>Es schwinden ihm Wochen und Monate über dieser Schrift, und die +Täglichkeit, so peinlich und verworren sie ihn bedrängt, wird eine +ferne Unwirklichkeit. Mancherlei Freunde wollen der bankrotten Anstalt +mit Neuerungen in der Verwaltung aufhelfen, und Anna kommt von einer +Reise nach Zürich nicht zurück, weil sie der Besserung nicht im Wege +stehen will; Niederer heiratet die Kasthofer und geht für Monate +mit ihr auf die Hochzeitsreise: es wird abgerüstet, das ist das +einzige,<span class="pagenum" id="Seite_368">[S. 368]</span> was er davon wahrnimmt, und das treibt ihn wieder in die +Gedanken seiner Schrift zurück. Es geht an den Grund seiner ganzen +Lebensarbeit, es geht an die Wurzeln der europäischen Menschheit, +da ist das zufällige Schicksal seiner Anstalt nichts mehr als die +verspritzte Welle eines rauschenden Stromes. Als die siegreichen +Mächte auf dem Wiener Kongreß das Schicksal Europas bestimmen wollen, +ist der Freiherr von Stein der erste, dem er die Schrift übersendet; +ganz ahnungslos, daß der als Triebfeder der deutschen Befreiung schon +wieder ausgeschaltet ist, weil es nur noch die gierige Verteilung der +Länderbeute gilt.</p> + +<p>Es ist zum letzten Mal, daß der Menschengeist in Heinrich Pestalozzi +auf ein europäisches Abenteuer reitet; seine Seele sitzt unterdessen +in den Nöten seiner Anstalt zu Ifferten und wartet, wer ihr daraus zum +Frieden helfe. Die Reise nach Basel hat nicht das benachbarte Grandson +von den Lazaretten freihalten können; von dort aus verbreitet sich das +Nervenfieber der österreichischen Soldaten doch nach Ifferten, und +als der Herbstwind die gelben Blätter auf den Weg zu treiben beginnt, +trifft es die geborene Fröhlich. Im siebenundvierzigsten Jahr ihres +schaffnerischen Lebens legt ihr der Tod die Hände ineinander, die seit +dreizehn Jahren das Hauswesen der Anstalt gehalten haben. Als sie den +Sarg hinaus bringen, trägt Heinrich Pestalozzi keine Hoffnung mehr +hinterher: Anna ist von Zürich auf den Neuhof gegangen; er möchte vom +Kirchhof zu ihr laufen, statt in das verwahrloste Schloß zurück zu +gehen, wo fremde Hände sein Geld und seine Worte ausgeben.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_369">[S. 369]</span></p> + +<p>In dieser Zeit nimmt Niederer sein Herz in die Hand; er hat schon +auf der Hochzeitsreise seinen Gegner Schmid in Bregenz besucht, +den alten Groll auszulöschen; nun setzt er viele Briefe daran, dem +Trotzigen die Rückkehr abzubitten, weil er allein mit dem Ruf seiner +Lehr- und Regierfähigkeit die Anstalt retten könne. Und während +die eifersüchtig streitenden Mächte auf dem Wiener Kongreß wie +eine gestörte Spatzenschar auffliegen, weil Bonaparte noch einmal +das Glück der Weltgeschichte versucht, kommen kurz nacheinander +zwei Wagen nach Ifferten gefahren, die Heinrich Pestalozzi seine +siebenundsiebzigjährige Frau Anna mit der hart und grau gewordenen +Lisabeth und den Tiroler Schmid wiederbringen. Beide werden auch von +den andern jubelnd begrüßt, und Pfingsten ist noch nicht im Land, da +zeigen Stundenzeiger und Uhrwerk wieder den festen Gang des Uhrwerks +an. Das Geld regnet nicht noch einmal zum Dach herein, aber es fliegt +auch nicht mehr hinaus, weil eiserne Sorgfalt es behütet.</p> + +<p>Heinrich Pestalozzi hat schon nicht mehr gedacht, noch einmal sorgenlos +unter den hoben Seebäumen spazieren zu können; aber so sehr er die +Erlösung aus den täglichen Nöten fühlt, die Landschaft ist taub für +ihn geworden, und es kann ihm begegnen, wenn er Anna zuliebe vor dem +Gelärm der Zöglinge beiseite geht, daß er sich selber erleichtert +fühlt, das Gewühl ihrer Stimmen nicht mehr zu hören: er hat Sehnsucht +nach der harten Stille des Birrfeldes, die Anstalt ist ihm verleidet, +und er möchte sein Waisenhaus haben. Mit all seinem Ruhm — sogar den +Wladimirorden hat ihm<span class="pagenum" id="Seite_370">[S. 370]</span> der russische Kaiser gesandt — mit dem fremden +Zulauf in seine Anstalt kommt er sich vor wie ein Wagen, der mit den +Achsen nach oben auf der Wiese steht und seine schnurrenden Räder +nur noch als Spielzeug der Kinder hat: Solange ich nicht mit einem +Armenkinderhaus gezeigt habe, wie der Armut aus sich selber geholfen +werden kann, hat die Methode nur der Schule, nicht dem Leben gedient, +und mein Werk ist nur halb getan! sagt er zu Schmid. Aber der schüttelt +eisern den Kopf: Ehe er nicht ohne Verschuldung auf den Neuhof zurück +könne, ließe er ihn nicht fort! Er brauche vielleicht nicht länger als +ein Jahr, aber das müsse er aushalten!</p> + +<p>Wenn Heinrich Pestalozzi über solche Worte bei Anna klagt, obwohl +er sich der Liebe darin freut, legt sie wohl seufzend ihr Buch aus +der Hand und sieht ihn über die Brille wie ein Meerwunder an, daß er +noch mit grauen Haaren solch ein Kind seiner Unrast sei. Sie liest +nun ziemlich den ganzen Tag und spricht von den Dingen und Gestalten +ihrer Bücher, als ob sie die Wirklichkeit wären. Von ihrer letzten +Anwesenheit im Neuhof hat sie das Nibelungenlied mitgebracht, wie es +der Stadttrompeterssohn und Patriot Müller aus der Gerwe zum ersten Mal +in Druck gab; daraus ist es gekommen, daß sie Schmid den ingrimmigen +aber treuen Hagen von Tronje nennt.</p> + +<p>Er mag das grausam heidnische Buch nicht, wie er es nennt, und +er schmollt oft in einen Greisenzank, wenn sie schon wieder über +Kriemhildens Klage weint; aber es tut ihm wohl wie alter Wein, daß sie +so geruhsam am Fenster sitzt und zum wenigsten sein Werk in<span class="pagenum" id="Seite_371">[S. 371]</span> Ifferten +nun als gesichert ansieht. Wenn ihn selber die Unruhe quält, schlüpft +er gern für einige Minuten in das Behagen ihres beruhigten Alters ein; +er weiß, daß sie einen gepreßten Klatschmohn im Buch liegen hat, den +sie im Sommer aus dem Schloßgarten anbrachte, und das verblaßte Rot +davon braucht nur aus den Blättern zu leuchten, so möchte er schnurren +wie ein Kater in der Ofenwärme.</p> + +<p>So glüht ihnen das Jahr still zu Ende, das unerwartet das letzte ihres +Lebens ist. Anfangs Dezember wird sie von heftigen Brustschmerzen +überfallen, die sich nach einer fiebrigen Nacht in Schlafsucht lösen. +Am dritten Nachmittag wacht sie auf und streicht ihr dünnes Haar +zurecht wie ein Mädchen, das sich verschlafen hat: Siegfried hat +wie Christus keinen Sohn gehabt, sagt sie aus ihrem Traum und muß +noch lächelnd weinen, weil sie an ihren Jakob denkt. Als sie dann +kopfschüttelnd über ihre Verwirrung aufgestanden ist und auf dem Sofa +sitzt, hebt sie die beiden Hände vor die Brust und sieht ihn aus einer +tiefen Verwunderung an: Wie seltsam ist dies, Pestalozzi, in Schlaf +zu fallen und wieder zu erwachen! Er hört nicht recht darauf, weil er +ihr die Schuhe holen will; auch fällt ihm ein, daß nun bald wieder +Weihnachten und Neujahr ist, wo er in der Kapelle sein Haus ansprechen +muß, und wie er diesmal eher ein Brot, aus Gottes Korn gebacken, +mitbringen könne als einen Sarg! Weil solche Einfälle in ihm ihr +eigenwilliges Leben haben, ist er gleich eifrig dabei, Gedanken daran +zu schnüren, indessen sie — nicht anders glaubt er — die Hände sinken +läßt, noch einmal in<span class="pagenum" id="Seite_372">[S. 372]</span> ihren Schlaf zu fallen. Aber wie es darüber +dunkel in der Stube wird und er die Messinglampe holt, die auch den Weg +vom Neuhof hierher gefunden hat, sieht er, daß sie zu dreien im Zimmer +gewesen sind, von denen zwei ihm unbemerkt weggingen.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>96.</h3> +</div> + +<p>Als Anna Schultheß begraben wird, die für Heinrich Pestalozzi durch +achtundvierzig Jahre das Senkblei seiner Stürme gewesen ist, gibt +es eine Trauerfeier für Ifferten, als ob wirklich die Schloßherrin +gestorben wäre. Eilfertige Liebe hat bei der Regierung in Lausanne +bewirkt, daß ihr Sarg im Schloßgarten beigesetzt werden darf, unter +zwei alten Nußbäumen, die sie gern hatte; und für Heinrich Pestalozzi +ist schon der Platz daneben bereit. Irgendwer heftet ihm den +Wladimirorden an den Rock, und auch sonst ist soviel Sorgfalt um die +feierliche Stimmung des Tages bemüht, daß er sich als die willenlose +Hauptfigur dieser Handlung umher geschoben fühlt und erlöst ist, +endlich aus dem Schwall von Glockengeläut und feierlichen Mienen in +seine Stube zu können. Er hat noch immer für das Frühjahr heimliche +Pläne mit dem Neuhof gehabt, und es sollte eine gemeinsame Heimkehr +aus der welschen Fremde sein. Nun hat er keine Heimat mehr; denn Anna +liegt hier in der fremden Erde und wartet auf ihn. Ob seine ruhelosen +Gedanken auf den Wegen der Vergangenheit mit Vorwürfen und Klagen +seiner Unbeständigkeit nach ihr suchen, diese Qual steht unbeweglich in +ihm: Nun bin ich schiffbrüchig, klagt<span class="pagenum" id="Seite_373">[S. 373]</span> er, und niemand kann mir wieder +ans Land zurück helfen!</p> + +<p>So erlebt er seinen siebzigsten Geburtstag einsam und düster, und auch +die Zustände in der Anstalt sind nicht mehr so, daß sie ihn aufheitern +könnten. Als ob er nur den Tod der Hausmutter abgewartet hätte, ist +der Lehrerstreit heftiger als je ausgebrochen; die Kränze liegen noch +auf ihrem Grabhügel, da sind die Hände, die sie banden, schon wieder +in Feindschaft geballt. Sie haben den Tiroler gerufen, daß er Ordnung +in die Verwahrlosung brächte, nun er Unmenschliches leistet, die +Anstalt zu retten, nehmen sie Anstoß an seinen Mitteln: Obwohl nur noch +achtundsiebzig Zöglinge da waren, als er kam, lebten zweiundzwanzig +Lehrer von den Einnahmen; er kündigte den Entbehrlichen und kürzte das +Gehalt der andern, er sorgte für einen Stundenplan, der die Lehrkräfte +ausnützte, und sah unbeugsam darauf, daß er eingehalten wurde; er +richtete eine Buchführung ein, darin kein Rappen seitwärts ging, und +räumte mit den Niedererschen Verlagsgeschäften, der Buchhandlung und +Druckerei auf. Auch kann ihm niemand nachsagen, daß er den eigenen +Vorteil suche, weil er am ersten Tag seine mühsamen Ersparnisse ohne +Schein und Zins in das Loch der Verschuldung hineingeworfen hat. So ist +er in Wahrheit der unabänderliche Stundenschlag, der alles bedrängt, +was faul und sorglos ist.</p> + +<p>Der, den es am ärgsten trifft, ist Niederer; er war die rechte Hand +und soll nun gehorchen, wo die linke kommandiert. Mehr als je hält +er sich für den Herold der Methode und verachtet den unwissenden +Rechenmeister:<span class="pagenum" id="Seite_374">[S. 374]</span> so wird er die Brandstelle für die Verstimmung der +andern. Verbittert durch den Undank, und daß sie ihm mit ihrem Streit +diese Zeit entweihen, stellt sich Heinrich Pestalozzi selber vor ihren +Groll, Schmid zu schützen; um zu erfahren, daß sich seit den Tagen +Steinbrüchels nichts für ihn geändert hat: kein Lehrer damals hat ihm +seine Mängel grausamer vorgehalten, als es nun die eigenen Gehilfen +tun, und namentlich Niederer führt eine Sprache, als ob er nur das +verunreinigte Gefäß von Ideen wäre, die in seinem Feuer viel reiner und +mächtiger brennten. Ach, daß ich einmal gerade und einfach meine Straße +gehen könnte, klagt Heinrich Pestalozzi, statt immer auf die Folter +meiner Unfähigkeit gespannt zu sein!</p> + +<p>Darüber wird es Pfingsten, und die Konfirmanden der Anstalt sollen +durch Niederer in die Christengemeinschaft aufgenommen werden; um +der besonderen Feierlichkeit willen sind auch viele Einwohner in der +Schloßkapelle, als er die Kanzel besteigt. Vorher haben die Zöglinge +eine Kantate aufgeführt, und wie draußen im jungen Grün ist in den +Herzen drinnen die Stimmung des Festes, das so seltsam dem Geist in der +Menschheit gewidmet ist, dem Heiligen Geist, der nach dem apostolischen +Glaubensbekenntnis sogar gleich dem Vater und Sohn als göttlich verehrt +wird. Das merkwürdige Mädchenwort seiner sterbenden Frau von Siegfried +und Christus ist Heinrich Pestalozzi noch nicht so aufgeblüht wie an +diesem Pfingstmorgen, wo es ihm wunderlich an die Schläfen klopft, +um wieviel heller und siegfriedhafter die Gestalt Christi in dieser +Erscheinung geworden<span class="pagenum" id="Seite_375">[S. 375]</span> ist als in seinem ganzen Leben von Bethlehem +bis Golgatha. Der Geist macht lebendig, sagt er glückselig vor sich +hin, indessen der Brustton Niederers mit wahren Wortschauern über +die Versammlung regnet. Und merkt erst, daß etwas geschieht, als die +Worte, die eben noch so rauschend flossen, gehackt und heiser in die +Stille fallen, die sich ihnen erschrocken entgegenstellt. Und auch +dann muß er seine verstörte Seele lange an der Schulter rütteln, daß +es Wirklichkeit sei, wie Niederer sich auf der Kanzel mit hadernden +Worten von ihm lossagt und ihm am Pfingstfest vor der Gemeinde sein Amt +hinwirft.</p> + +<p>Der Zorn faßt ihn augenblicklich, und er hört seine Löwenstimme +durch den Raum schallen, ihm den Frevel zu verweisen, bevor er die +Worte bedenken kann. Der rote Niederer bringt danach seine Rede +zu Ende und spricht auch das Gebet zum Schluß wie sonst; es ist +Heinrich Pestalozzi, als müsse ein Wasser einbrechen und sie alle +hinausschwemmen, die statt einer Pfingsterbauung nur die Häßlichkeit +dieser Zänkerei in der Seele haben. Er spricht mit keinem, als sie +hinausgehen, senkt seine Augen vor den Zöglingen und flüchtet in sein +Zimmer wie ein Gerichteter: Es ist mein Haus, in dem das geschah, und +es ist mein Werk, das zu diesem Ende zielte!</p> + +<p>Andern Tags erhält er von Niederer einen Brief; er zittert, daß eine +Abbitte des Frevels darin sein möchte; als er ihn öffnet, ist es eine +Aufrechnung seines Stundengeldes. Unter allen Mißlichkeiten seiner +Lebenserfahrung ist ihm keine so verhaßt wie die, immer<span class="pagenum" id="Seite_376">[S. 376]</span> wieder an +den Punkt zu kommen, wo die menschlichen Verhältnisse mit Franken +und Rappen bezahlt werden. Er fürchtet, daß der Streit hierin noch +häßlicher auslaufen möchte, schickt ihm am selben Tag das Geld und +zugleich für die geborene Kasthofer eine Generalquittung, daß er auf +alle Ansprüche aus dem Mädchenheim verzichte, sich aber bereit erkläre, +was sie noch etwa zu fordern habe, als gültig anzunehmen und zu +bezahlen. Nur endlich fort in eine reinliche Welt, fleht er, als er die +Quittung fortschickt; und die Gewißheit, zum wenigsten in Geldsachen +durch das Ordnungswerk Schmids nicht mehr unfähig zu sein, gibt dem +Abschied eine grimmige Tröstung bei.</p> + +<p>Unterdessen hat der Austritt Niederers dessen Freundschaft mitgerissen; +in den nächsten Tagen kündigen ihm andere Lehrer den Dienst, sodaß er +zum guten Teil mit Schmid allein in der Anstalt bleibt, die dadurch in +der Wurzel angeschnitten wird. Und als er sich durch diese Kündigung +doch wieder in das Elend des Streites zurückgeworfen sieht, den er mit +der Quittung aus dem Haus senden wollte; kommt ihm das Papier selber +höhnisch zurück. Niederer und seine Gattin erkennen die Quittung nicht +an; sie glauben, selber viel höhere Forderungen an ihn zu haben, deren +er sich dadurch mit einer böswilligen Unterstellung entledigen wolle, +und melden den Streit beim Friedensrichter an.</p> + +<p>Es ist schon dämmerig, als er diese Nachricht erhält in Worten, +die ihn als einen Satan von Bosheit und hinterlistiger Berechnung +hinstellen. Und nun erst erlebt er, wie die äußere Ruhe dieser Tage +eine Selbsttäuschung<span class="pagenum" id="Seite_377">[S. 377]</span> gewesen ist, wie das Erlebnis in der Kirche noch +garnicht auf den Grund seiner Seele gekommen war: jetzt schlägt es den +Bodensatz seiner Verbitterung auf; daß er meint, in Verzweiflung und +Galle ausfließen zu müssen. Warum lebe ich noch! jammert er und irrt +hinaus in den Abend, um aus der Welt seiner Unfähigkeit fort zu laufen. +Die Sonne des Frühsommertages hat nicht alle Helligkeit mitnehmen +können hinter die Juraberge; nur unter den hohen Bäumen hat der Abend +seine Schatten eingesetzt, über dem See und auf den Wiesen an seinem +Ufer liegt das vergessene Licht bis hinauf in den unwirklich hellen +Himmel: Es ist der Dämmerungsspuk meines übriggebliebenen Daseins, +fühlt er, indem er schwer gegen das aufrauschende Wasser vor seinen +Füßen angeht, es will nicht Nacht werden und ist doch kein Tag mehr!</p> + +<p>Als es Mitternacht schlägt, findet er sich in nassen Kleidern unter den +Nußbäumen im Schloßgarten wieder. Sie haben ihr einen gemeißelten Stein +aufs Grab gesetzt und auch da schon Raum gelassen für seinen Namen. +Ach, daß ich darunter läge, weint seine verzweifelte Seele; gleich +aber jagt sein Zorn auf, daß es der Boden seiner Feinde sei, darin er +liegen soll. Sie haben mir schon lebendig den Grabstein aufgesetzt, +schreit etwas in ihm, und als ob alle Feindschaft dieser Tage gegen +ihn stände in diesem Stein, springt er ihn an und rüttelt an seiner +Unbeweglichkeit und rast mit Wahnsinnskräften, bis er ihn wanken fühlt. +Und obgleich Orgelstimmen in ihm aufquellen, ihn zu warnen: er vermag +die Raserei nicht aus den Händen zu bringen,<span class="pagenum" id="Seite_378">[S. 378]</span> bis der Steinklotz sich +hintenüberneigt und dumpf ins Erdreich schlägt. Da erst sieht er, daß +seine Füße auf dem Grab und den zerstampften Blumen stehen; der Bann +weicht von ihm, und mit einem wehen Aufschrei wirft er sich hin.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>97.</h3> +</div> + +<p>Noch lange danach, wenn Heinrich Pestalozzi an diese Nacht denkt, +fürchtet er, den Verstand von neuem zu verlieren, so fürchterlich +ist seiner Seele der Einbruch sinnloser Wut noch in der Erinnerung. +Schmid hat ihn andern Tages nach Bulet auf den Jura gebracht, wo ihn +der Bergwind und die Stille in eine starke Kur nehmen. Soviel er kann, +kommt Schmid abends die drei Wegstunden noch zu ihm herauf; aber er mag +nichts mehr von Ifferten hören, fast abergläubisch ist seine Furcht, +noch einmal in die Hölle der Feindschaft hinunter zu müssen. Ich bin +wieder auf dem Gurnigelstein, sagt er bitter, diesmal endgültig, weil +mich die Welt nicht brauchen kann!</p> + +<p>Aber Schmid hat ein Heilmittel bereit, das ihn aus der Wüste wieder zu +den fließenden Brunnen seines Lebens bringt. Schon vor dem schlimmen +Pfingstfest ist er nach Stuttgart zu dem Verleger Cotta gefahren, um +einer Gesamtausgabe der Schriften willen; er hat auch einen Vertrag +zustande gebracht, aber wie günstig dessen Bedingungen sind, zeigt sich +nun erst, als die Vorausbestellungen anfangen, einzulaufen. Der Kaiser +von Rußland steht mit fünftausend Rubel an der Spitze, und gegen den +Herbst kann Heinrich Pestalozzi aus<span class="pagenum" id="Seite_379">[S. 379]</span> seinem Anteil mit einer Einnahme +von fünfzigtausend Franken rechnen. Das ist ein Erfolg, den er auch +in hoffnungsvollen Stunden nicht erträumte; nun kommt der Segen in +die Entmutigung. Also bin ich den Leuten doch nur ein Buchschreiber +geblieben, sagt er zuerst noch grollend und will auch nichts mehr von +seinen Schriften wissen. Als er sie endlich zur Hand nimmt, in seiner +Bergstille zu prüfen, was die bittere Erfahrung dieser Jahre daran +geändert habe, packt ihn allmählich doch der Eifer, das Veraltete darin +neu zu sagen. Damit wird er, sich selber unbemerkt, auf die Heerstraße +seines Lebens zurück geführt; er sieht wieder, in wieviel Abenteuer +er für die Befreiung der Menschheit gezogen ist, und wird Blatt für +Blatt aufs neue begeistert für den Sinn seiner Sendung: die Treppe der +Bildung in das Haus des Unrechts zu bauen.</p> + +<p>Selbst, was die Geißel seines Lebens gewesen ist, die eigene +Unbrauchbarkeit, die er — in seiner Krankheit nichtswürdig vollendet +— aus dem Seeboden herauf brachte in die Juraluft, hört auf, ihn zu +lähmen: Ich sollte nicht anders sein, als ich da bin; Gott hat meine +Seele gemacht, nicht ich; er wird wissen, warum sie solch ein unreines, +undichtes und verbeultes Gefäß sein mußte! Vielleicht, oder gewiß, daß +ich anders dem Menschengeist untauglich gewesen wäre, weil es doch +soviel saubere und glatte Kannen gibt, darin nur Selbstgefälligkeit +ist. Und darf ich wohl klagen, daß es mir übel ging, wo es meine +Begnadung war, um der Menschheit willen aus Schuld Und Irrtum zu lernen?</p> + +<p>Wenn er in solchen Gedanken von der sonnigen<span class="pagenum" id="Seite_380">[S. 380]</span> Bergweide hinunter +sieht über den See, der von hier oben betrachtet mit seinem Becken +tief in die Berge gezwängt ist wie das Tal unterm Gurnigel, kann es +ihm geschehen, daß ihn schon wieder ein Lächeln anfliegt, weil er das +großmächtige Dach des Zähringer Schlosses klein wie ein Spielzeug +sieht: Es waren nicht seine vier dicken Türme, die mich ängstigten — +sie sind garnicht dick, ein Finger vor meinen Augen hält sie alle vier +zu — es war der babylonische Turm meiner Erziehungsanstalten. Was +mir nur ein Mittel sein sollte, meine Methode klar zu machen und mir +das Geld für mein Armenkinderhaus zu bringen, das ist mir in Wahrheit +über den Kopf gewachsen, so hoch, daß ich vom Himmel nur noch das +Viereck über meinem Gemäuer sah. Hätte ich Waisenvater in Stans bleiben +können, wäre meine Welt klar und einfach und übersichtlich für meinen +Verstand geblieben. Ich hätte es schwerer gehabt, gleichviel, ich wäre +glücklicher gewesen! Und Heinrich Pestalozzi freut sich wie ein Knabe, +als er auf der Kuhweide in Bulet ein Wort findet, das ihm alle Qual der +letzten Monate in einen bittersüßen Scherz umkehrt: Weil ich es leicht +hatte, weil ich es mir zu leicht machte, nur darum bin ich unglücklich +geworden! Und jedesmal — wie ein Sennbub wettend die Hand hinhält — +steht hinter dem Wort und dem Gedanken sein Mut schon wieder auf beiden +Beinen da: Topp, was gilts? Mein Leben hat noch Raum, glücklich zu +werden!</p> + +<p>Als er im Herbst von seinem Berg herunter kommt, nußbraun von der +Sonne, daß seine Augen wie zwei Porzellanschilder darin stehen — hat +ihm Schmid in<span class="pagenum" id="Seite_381">[S. 381]</span> die Hand versprochen, daß er den Traum seiner Seele, +sein Armenkinderhaus, sogleich versuchen darf.</p> + +<p>Er findet ein Gebäude dafür in dem benachbarten Clindy; denn nun hat er +keine Fluchtgedanken mehr: meine Welt ist überall! sagt er, der sich +mit den Einnahmen aus seinen Schriften fürstlich genug vorkommt, die +Heimat des Werkes selbst zu wählen. Auch Gottlieb, der Enkel, der von +den Frauen einem Gerber in die Lehre gegeben war — damit er einmal +fester als sein Großvater im Leben stände — und der ihm zu Neujahr +fröhlich wiederkommt, will gern hier bleiben, wo seine Mutter und die +Großmutter begraben liegen. Ich habe meinen Jungbrunnen wieder! sagt +Heinrich Pestalozzi, und als er in sein dreiundsiebzigstes Jahr tritt, +liest er den Seinen zum Geburtstag eine Rede vor, die ihnen und der +Welt ein Testament seiner befreiten Stimmung sein soll; sie schreitet +Schritt für Schritt noch einmal die Absichten seines Lebens ab, um mit +dem letzten in Clindy am Ziel zu sein. Gleich für den Neuhof hat er die +Betteltrommel rühren müssen, und bis ins Alter sind ihm die Geldsorgen +auf den Fersen geblieben: jetzt endlich einmal steht er selber als +Stifter da, und keine Stunde in seinem Dasein ist er so stolz im Glück +gewesen wie nun, da er die fünfzigtausend Franken als ewiges Kapital +für seine Anstalt in Clindy stiftet.</p> + +<p>Es ist die Höhe seines Lebens, die er nun in der dünnen Luft seines +Alters doch noch erreicht. Als ich auszog, war ich Einer; jetzt sind +es Tausende in der Welt, die meinem Gedanken diese Hülfe bringen! Aus<span class="pagenum" id="Seite_382">[S. 382]</span> +dem Einsiedler im Neuhof ist eine Gemeinde in Europa geworden; mein +letztes Werk in Clindy soll dem Menschengeist in Europa eine andere +Stunde der Befreiung einläuten als das Jakobinertum der Revolution! +In Stans, wo ich meine Schulmeisterschaft begann, ist auch die Heimat +von Winkelried, der in der Schlacht bei Sempach dem Vaterland mit +seiner Brust eine Gasse durch die Lanzen machte: mir hat es die Brust +zerstochen gleich ihm, aber nun ich sterben gehe, schallt Sieg um mich, +weil ich die Gasse der Menschenbildung gebrochen habe!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>98.</h3> +</div> + +<p>Es sind die Sturmtage mit jagenden Regen- und Hagelschauern, die +das schönste Abendrot auftun und die Berge mit den Wolken in eine +Herrlichkeit verklären. Aber leicht ist dann noch hinter den Bergen +ein Hinterhalt der kalten Winde, die den Nachthimmel doch wieder mit +schwarzem Sturmgewölk bedecken, als ob der Aufruhr nun in die hohen +Lüfte gekommen wäre, indessen die Nacht sich ruhig in die Täler der +Erde legt. So brennt die Abendröte Heinrich Pestalozzis in die letzte +Täuschung hinein: er hat die fünfzigtausend Franken aus den Händen +gegeben, ehe sie darin waren; erst nach drei Jahren kommt eine Rate +von zehntausend Franken an; so kann er die Anstalt auftun, aber nicht +halten. Niederer hat den Streit um Mein und Dein zu einem Prozeß +gemacht. Demütigung und Trotz, Zorn und Verzweiflung, Liebe und Verrat: +alles jagen die kalten Winde aus dem Hinterhalt der Berge in den +Sturmhimmel der sinkenden Nacht.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_383">[S. 383]</span></p> + +<p>Noch sechs lange Jahre bleibt Heinrich Pestalozzi in Ifferten, und +immer mehr entsinken die Zügel seiner zitternden Hand; wohl hält +Schmid die Peitsche, die Pferde doch noch in den Stall zu bringen, +aber längst schon ist es kein fröhlicher Trab mehr, den sie laufen; +sie sind vom Weg gekommen, und ihre Beine stapfen im Moor, das die +Räder versinken läßt, bis keine Hoffnung bleibt, den Wagen zu retten: +sie müssen abspannen vor der Nacht und mit den Pferden den Heimweg +nach dem einsamen Licht suchen, das aus der Ferne leuchtet. Es kommt +vom Birrfeld, wohin sein Enkel Gottlieb mit der Schwester Schmids, als +seiner jungen Frau, ihnen voraus gegangen ist, den dritten Hausstand im +Neuhof zu versuchen. Am letzten Februar seines achtzigsten Jahres nimmt +Heinrich Pestalozzi Abschied von dem Grabstein unter den Nußbäumen; +seine Hände sind nicht mehr stark genug, daran zu rütteln, und in +seiner Seele rast kein Zorn mehr: Ich muß heim, Anna, klagt er, du +bleibst unter deinem gemeißelten Stein; ich armer Müdling gehe bei den +Enkelkindern im Birrfeld eine Zuflucht suchen. Aus Reichtum und Armut +kamen unsere Wege zusammen, nun scheidet sich der meine in die Armut +zurück; dich lasse ich im Schloß, als dessen Herrin sie dich begruben!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>99.</h3> +</div> + +<p>Der Schnee vergeht im Tauwind, und die Wasserrinnen ziehen schwarze +Striche hindurch, als Heinrich Pestalozzi nach siebenundfünfzig Jahren +zum zweitenmal auf das Birrfeld kommt: Es gibt keinen Punkt<span class="pagenum" id="Seite_384">[S. 384]</span> auf +diesem meilengroßen Kirchhof, sagt er zu Schmid, darauf ich nicht eine +Erinnerung als Grabstein stellen könnte! Aber wie sie gegen den Neuhof +fahren, steht Lisabeth da, die fast ein halbes Jahrhundert lang seine +Schaffnerin gewesen ist, und hängt Kinderwäsche in den Wind. So bin ich +auch noch Urgroßvater geworden! will er sagen, aber der Boden seines +Lebens bricht durch, daß Anna und Jakob, sein Enkel Gottlieb mit seiner +Frau nichts mehr als die Erinnerung eines fremden Romans in seiner +Seele sind. Ich habe mich verspätet, Babeli, ruft er und will aus dem +Wagen zu ihr hinspringen; doch sind ihm die Beine steif von der langen +Fahrt, und ehe er an die Gartentür kommt, steht Lisabeth statt ihrer +vor ihm und nimmt ihn an der Hand: Wir haben erst für morgen auf Euch +gerechnet, Herr Pestalozzi, aber die Suppe wird bald gerichtet sein! Er +sieht ihr hartes, treues Gesicht und findet das Babeli nicht; als ob er +sich verirrt hätte, tritt er in das Haus. Auch als sie ihm den Urenkel +darbringen, betrachtet er das eigene Geschlecht kopfschüttelnd wie +ein fremdes und beugt sein braunes Runzelgesicht über das Kissen, als +ob er sich vor ihm entschuldigen müsse: Ich will hier nur den andern +Wagen abwarten, sagt er und merkt nicht, daß seine Tränen dem Säugling +ins Gesicht tropfen, bis der ein Geschrei anhebt und in die Kammer +zurückgebracht wird.</p> + +<p>Als danach die letzten Leintücher des Winters aus dem Birrfeld +verschwinden und die Quellen wieder klar fließen, geht er viel um den +Neuhof herum, die Obstbäume zu suchen, die noch aus seiner Zeit stehen +geblieben<span class="pagenum" id="Seite_385">[S. 385]</span> sind — es ist mancher ein Krüppel geworden, den er noch als +schwankes Stämmchen kannte — da drängen sich die Grabsteine seiner +Erinnerung am dichtesten, und je nachdem sie lustig oder ärgerlich +sind, kann er zornig brummen oder lachen. Wenn ihn die Birrer so sehen, +wie er mit dem Halstuchzipfel im Mund seine ewige Unterhaltung hat, +sagen sie, er sei kindisch geworden; aber die Alten, die ihn noch +kennen, wehren ab: so sei er immer gewesen, im Streit mit den eigenen +Gedanken. Daß sie ihn die schwarze Pestilenz nannten, will keiner so +recht mehr wissen; alle aber wundern sich, wie er mit seinen achtzig +Jahren noch rüstig zu Fuß ist und weder einen Gang nach Brugg oder +hinauf nach Brunegg anschlägt, wo die Frau Hünerwadl — ehemals seine +Schülerin zu Ifferten — ihm noch immer wie eine Tochter anhängt. +Wenn ihm der Berg zuviel geworden ist in der Maisonne, fordert er +sich von ihr ein Ruhebett, ein Stündchen friedlich zu schlafen. So +lebt er den ersten Frühling, als ob er nur auf den Tod warte und von +der Rastlosigkeit seines langen Lebens allein noch seine schrulligen +Gewohnheiten hätte.</p> + +<p>Wie dann aber die Maienblust auch im Birrfeld ihre weißen Fahnen weht +mit Wolken und Blühebäumen und in Schinznach wieder die Helvetische +Gesellschaft tagt, in der er vor einundfünfzig Jahren den Vortrag des +Landvogts Tscharrner hörte, läßt er sich hinüber fahren und erscheint +unter den Jungleuten, die da im Geist ihrer Väter und Großväter raten. +Es lebt keiner mehr aus jenen Tagen, und so steht er erschüttert am<span class="pagenum" id="Seite_386">[S. 386]</span> +selben Ort und in der selben Stube unter den fremden Gesichtern einer +neuen Zeit; aber es sind wenige da, die ihn nicht kennen, und auch +diese Wenigen schätzen es als ein Glück, den Greis zu sehen, der wie +eine ehrwürdige Gestalt der Vorzeit in ihre Gegenwart eintritt. Und +so erlebt Heinrich Pestalozzi noch einmal, daß es außer den Zürcher +Humanisten und den Berner Aristokraten doch andere Schweizer gibt, +die ihm innig anhängen; und daß es die besten seines Volkes sind, die +sich hier treffen, weiß er aus seinen Tagen. Es wird ein Jubel ohne +gleichen, als sie ihn zu ihrem Präsidenten wählen; und wenn er sich wie +ein dürres Eichblatt vorkam, als er eintrat, vom Wind in ihr junges +Grün geweht: so geht er andern Tags fort in dem Gewühl eines Baumes, +der seine Blätter rauschen hört.</p> + +<p>Seit diesem Maitag drängen die Säfte noch einmal hoch, die ihm selber +in der Vereinsamung und Enttäuschung der letzten Jahre eingetrocknet +schienen. Seine Wurzeln haben die Heimat wiedergefunden; aber es ist +nicht das Birrfeld, es ist das ganze Schweizerland, darin er sich +gewachsen fühlt, indessen zu Ifferten nur das Gezänk von Lehrern und +Zöglingen war. Nun braucht ihn niemand mehr an die noch ausstehenden +Bände seiner Gesammelten Werke zu mahnen; eher müssen die Seinen +aufpassen, daß er sich nicht zuviel zumute. Sie haben ihm einen +Mann gefunden, der sein Diener und Schreiber in einem ist, einen +ordentlichen Glarner, namens Steinmann; der hat nun manchmal bis +tief in die Nacht zu schreiben, während Heinrich Pestalozzi nach +der Gewohnheit seines müden Rückens<span class="pagenum" id="Seite_387">[S. 387]</span> in den Kleidern auf dem Bett +liegt und unermüdlich das Band seiner Gedanken abwickelt. Ehe er es +selber gedacht hat, ist er mitten darin, noch einmal die Lehre seiner +Menschenbildung darzustellen. Er nennt es seinen Schwanengesang, +und der treue Steinmann muß oft genug anhören, wieviel Wehmut und +Schelmerei sich in dem Titel mischen; denn als er noch einmal mit dem +Eifer seines Alters das Ziel und die Mittel seiner Lehre durchgegangen +ist, als ob er behend eine Leiter hinauf liefe, die er sich Sprosse +für Sprosse selber mit dem Schnitzmesser machen mußte: kommt er wieder +an das Fragezeichen, das ihm seine Lebenserfahrung als Fähnchen oben +hingesteckt hat: Warum, wenn dies alles so klar und notwendig ist, +warum bin ich selber mit meinen Versuchen immer wieder gescheitert und +als ein Unbrauchbarer auf den Neuhof zurückgekehrt?</p> + +<p>Noch einmal zieht er die Lehre aus seinem Leben, die ihm die harte +Juraluft in Bulet gab, daß er ein unreines und verbeultes Gefäß für +seine Lehre gewesen sei; und der selbe Bekennerdrang, der ihm den +Sarg in die Kapelle stellte, läßt ihn nun nach den Mängeln seiner +Natur und ihrer Erziehung suchen. Sich selber unerwartet schreibt +er mit achtzig Jahren seine Lebensgeschichte; aber es ist weder +Altersgeschwätzigkeit noch Eitelkeit oder Jugendwehmut darin, es wird +die Schicksalsgeschichte seiner Fehler und Schwächen. Und er ist tapfer +genug, vor Ifferten nicht Halt zu machen; obwohl ihm doch wieder +Bitterkeit und Zorn einfließen, daß er oft genug an den Bodensatz +seiner Verzweiflung kommt, läßt er nicht nach, bis er<span class="pagenum" id="Seite_388">[S. 388]</span> auch da seine +Lehre und ihre Gültigkeit von seiner eigenen Unbrauchbarkeit gereinigt +hat.</p> + +<p>Der Sommer weht ihm darüber hin wie kaum einer in seinem Leben; es wird +Herbst und Winter, ehe er es weiß, und erst, als wieder Frühjahr um +ihn ist — es sind nur einundachtzig Lenze, denkt er, man könnte sie +in einer Minute zählen, wenn sie neben- statt hintereinander ständen; +und nur, weil man immer eins durchs andere sieht, scheint es wie eine +Unendlichkeit — kann er die Druckbogen absenden. Es ist unterdessen +noch einmal bunt um ihn geworden; seitdem er sich so unvermutet in +Schinznach zeigte, wissen viele, daß er wieder im Land ist; und mancher +erinnert sich seiner als eines Ideals der eigenen Jugend, das er über +den toten Jahren zu Ifferten fast vergessen hat, als ob Heinrich +Pestalozzi längst gestorben wäre: nun ist er für den Aargau von den +Toten auferstanden, und es vergeht selten ein Tag, der ihm nicht einen +Dank zubrächte, ein Stück seines Menschengeistes, das irgendwo zum +eigenen Leben kam und sich seines Schöpfers erinnert. Er hat sich noch +einmal durch den Groll schreiben müssen: es waren die Reste des alten +Mannes in mir, denkt er nun oft mit den Worten Annas; seitdem ich den +los bin, ist mir frei und leicht.</p> + +<p>So geht er zum andernmal in die Helvetische Gesellschaft, diesmal +nach Langental als ihr Präsident; und was im vergangenen Jahr eine +Überraschung gewesen ist, fällt nun als Springbrunnen des Segens auf +ihn zurück. Er fühlt es und sagt es auch: dies ist der Dank meines +Landes! und alle bitteren Jahrzehnte wiegen<span class="pagenum" id="Seite_389">[S. 389]</span> nun die eine Stunde +nicht auf, da er sich im Kreis dieser Männer und Jungmänner als eine +Lebensquelle fühlt, die immer noch über den Rand zu fließen vermag. Er +kommt beschüttet vom Glück und mit der seligen Wehmut heim, daß es sein +letzter Tag in ihrem Kreis gewesen sei, weil er ein Nocheinmal nicht +ertrüge.</p> + +<p>Im Spätsommer ist er immer noch rüstig genug, mit Schmid — der seit +Ifferten ein Unsteter geworden ist und nun nach Paris will, um dort +eine französische Ausgabe der gesammelten Werke einzurichten — bis +Basel zu reisen; in die Stadt, die ihn, das weiß er, bis auf den Tag +verachtet in dem Hochmut ihrer gesicherten Kultur, und die ihm doch +zweimal durch einen ihrer Bürger zur Rettung geworden ist. Ich hätte +nicht her kommen sollen, klagt er; es stimmt ihn wehmütig, die Gassen +und Häuser wieder zu sehen, die einmal lebendig um sein Leben standen +und jetzt für ihn gestorben sind. Doch läßt er sich durch Schmid +verleiten, im Wagen nach Beuggen hinaus zu fahren, wo Zeller ein +Waisenhaus in seinem Sinn führt. Da hat sich die Anstalt seit Tagen +gerüstet, den Vater der Waisen zu empfangen, und die Kinder treten ihm +mit Gesang entgegen. Er weiß beim ersten Ton: das hätte ich mir nicht +antun dürfen, meinem versagten Herzenswunsch das Bild eines fremden +Gelingens zu zeigen. Sie wollen ihm einen Kranz überreichen, aber er +wehrt ihn ab und wankt vor ihnen in den Saal, wo ein Ehrenpult steht, +daß er zu den Kindern spräche. Vorher singen sie noch einmal:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_390">[S. 390]</span></p> + +<p> +<span style="margin-left: 1em;">»Der du von dem Himmel bist,</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">alles Leid und Schmerzen stillest,</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">den der doppelt elend ist,</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">doppelt mit Erquickung füllest,</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">ach! ich bin des Treibens müde!</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">Was soll all der Schmerz und Lust!</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">Süßer Friede,</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">komm, ach komm in meine Brust!«</span><br> +</p> + +<p>Hat ihm schon draußen der Gesang an sein tiefstes Leid gerührt, +so reißt er ihn nun zu Tränen hin, daß er meint zu ersticken. Die +Goetheschen Verse, die ihm schon in Lienhard und Gertrud klangen, wie +wenn irgendwo in der Welt eine Quelle der Liebe unerschöpflich quölle, +ergreifen ihn nun in ihrer überirdischen Schönheit; er vermag vor den +Augen dieser Waisen, die alle mit fragender Neugier an seinem Schmerz +hängen, nichts als aus der Tiefe seines Herzens zu schluchzen, wie +vielleicht in seiner ersten Jugend, aber nie mehr in seinem bitter +gesegneten Leben.</p> + +<p>Der Tag hat ihm in seine Heiterkeit einen Schnitt gemacht, der nicht +wieder heilt. Obwohl sein Verstand kopfschüttelnd dabei steht, er +vermag seiner Seele nicht Halt zu gebieten, die nun ihre Sehnsucht +immer nach der gleichen Seite fließen läßt, bis sein Enkel Gottlieb ihm +nachgiebt und neben dem Neuhof noch den Bau eines Armenkinderhauses +beginnt. Er weiß es genau und sagt es sich immer wieder, daß er nicht +mehr hineinkommt, daß es aus seinem Leben in die Nachwelt gebaut wird; +aber er kann seine Hände nicht davon lassen, und wieder wie damals am +Neuhof steht er unter den Bauleuten, ihnen übereifrig Handreichung<span class="pagenum" id="Seite_391">[S. 391]</span> zu +tun, obwohl es nasser Schnee ist, darin seine Füße kalt werden.</p> + +<p>Unterdessen ist sein Schwanengesang erschienen; aus seiner +Lebensgeschichte hat ihm der Verleger die Jahre in Ifferten +herausgenommen, er hat sich aber nicht abhalten lassen, daraus eine +besondere Schrift zu machen, die er »Meine Lebensschicksale« nannte. +Lobendes und Tadelndes kommt ihm darüber zu, es ist ihm nicht mehr +wichtig, seitdem er in Beuggen war: Ich bin auf dem Altenteil der +Seele, sagt er dem Steinmann, der Menschengeist muß sehen, wie er +allein in der Welt zurecht kommt! Aber im Spätwinter fällt ihm die +Antwort aus Ifferten wie ein Stein auf den Tisch; Niederer hat ihn +geworfen, jedoch nicht die Tapferkeit gehabt, dafür einzustehen, sodaß +nun ein junger Lehrer an der Mädchenschule mit dem Namen Biber die +Schrift decken muß. Als Heinrich Pestalozzi die Anklage liest, die ein +ziemliches Buch ist, hat er ein Gefühl, als ob er noch immer lebe, aber +die Welt um ihn hätte ihren Lauf eingestellt. Vor einem halben Jahr +würde er es verwunden haben, sich aus dem eigenen Haus als Lügenvater +und als Wahnsinniger beschimpft zu sehen; jetzt nach dem Tag in Beuggen +trifft ihn der Dolchstich, daß er hinstürzt.</p> + +<p>Mitten aus seiner hartnäckigen Gesundheit haben sie nun im Neuhof einen +Kranken zu pflegen, dem das Fieber aus der Seele in den Körper zu +rasen scheint. Schon liegt er von Schmerzen zerrissen auf dem Bett, da +will er noch die Antwort schreiben, und er fleht den Arzt an, ihm ein +paar ärmliche Wochen zu schenken,<span class="pagenum" id="Seite_392">[S. 392]</span> da er vorher doch so sinnlos lange +gelebt habe! Nicht mehr wie sonst vermag er zu diktieren, er muß die +Feder selber führen, und es ist grausig für den getreuen Steinmann, daß +er ihn vielmals ohne Tinte schreiben sieht: Tupfen, Herr Pestalozzi, +tupfen! sagt er ihm immer wieder; aber die gequälte Seele sieht nicht +mehr, was sie tut.</p> + +<p>Die Schmerzen werden bald so stark — es sind Harnbeschwerden — daß +der Arzt ihn nach Brugg haben möchte, um besser nach ihm zu sehen. +Noch liegt dicker Schnee, als sie ihn mit Kissen und Decken in einen +Schlitten packen. Das ist mein Wagen, diesmal der letzte, sagt er zu +seinem Urenkel, den sie ihm aus der Wiege anbringen müssen, daß er den +fiebrigen Kopf über ihn neige; auch den andern gibt er mit tapferen +Worten die Hand, nur als sie an den halbfertigen Mauern des Armenhauses +vorbeifahren, hält er sich die weinenden Augen zu.</p> + +<p>Im Gasthaus zum Roten Haus in Brugg wartet die Sorgfalt auf ihn und +Steinmann ist da, ihn zu pflegen. Noch eine Woche lang strömt ihm +die besorgte Liebe seiner Freunde aus dem Aargau zu, und er ist wach +genug, sie zu empfinden; nur der Glarner, der ihn nun besser kennt +als irgend einer, sieht durch Tränen, wie er die Hände nicht mehr zu +halten vermag, die Hände und die Lippen, als ob er unablässig aus einem +niederstürzenden Schutt die Worte ausscharren müsse.</p> + +<p>Als es stiller damit wird, weiß der treue Diener zuerst, wer die Ruhe +bringt; und während die andern an seiner Heiterkeit wieder auf Genesung +zu hoffen wagen<span class="pagenum" id="Seite_393">[S. 393]</span> und mit ihm sprechen, als ob dies nur ein unpäßlicher +Aufenthalt auf einer Poststation sei, geht Steinmann in blinder Trauer +um seinen erwürgten Herrn beiseite. Bis mit dem Abend die Heiterkeit +aus den Augen Heinrich Pestalozzis auch in die Sprache kommt, daß +sie hell und frei wird wie bei einem Knaben, und endlich sich ein +überirdisches Lächeln um die Greisenlippen legt, dem nur die Augen +nicht standhalten, weil sie im Anblick der jenseitigen Welt erstarren +und für diese leblos aufgerissen sind: da schließt seine Dienerhand die +beiden Fensterläden, die zwischen dieses und jenes Leben von Anbeginn +der Menschheit gelegt sind.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_395">[S. 395]</span></p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_397">[S. 397]</span></p> +<h2 class="nobreak" id="Nacht">Nacht</h2> +</div> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h3>100.</h3> +</div> + +<p>Selten sind über das Birrfeld solche Schneemassen niedergegangen wie +in der Februarnacht, da der Glarner im Roten Haus zu Brugg Heinrich +Pestalozzi die erste Totenwacht hält; und erst am andern Nachmittag +ist soviel Bahn gemacht, daß sie ihn mühselig genug im Schlitten nach +dem Neuhof holen können. Da wird er bei Kerzenlicht in der Kammer +aufgebahrt, wo die stummen Dinge seiner Gewohnheit eine Woche lang +auf ihn gewartet haben; als ob er aus tiefem Schlaf erwachen wolle, +liegt er im Sarg, und das Lächeln glücklicher Träume scheint sich in +den Runzelfalten seines verwelkten Gesichtes zu verstecken. So ist er +über Nacht geworden, erklärt Steinmann dem Pfarrer und gibt auch seine +Dienerweisheit dazu: Der Körper freut sich, endlich die unruhige Seele +los zu sein!</p> + +<p>Am andern Vormittag begraben sie ihn auf dem verschneiten Dorfkirchhof; +der Wind fegt eisig über das Birrfeld, und die Wege zwischen den +Dörfern sind wie Maulwurfsgänge durch den meterhohen Schnee gegraben: +aber die Schulkinder aus der ganzen Kirchgemeinde kommen, ihm ein Lied +ins Grab zu singen, und die Schulmeister tragen den Sarg. Damit sie auf +dem Kirchhof stehen können, haben die Bauern dem<span class="pagenum" id="Seite_398">[S. 398]</span> Küster helfen müssen, +einen Hof aus dem Schnee zu schaufeln, und die gefrorenen Erdschollen +poltern gleich Steinen auf die Bretter: es ist ein anderes Begräbnis +als vor elf Jahren, da sie Anna Schultheß im Schloßgarten zu Ifferten +begraben. Das bäuerliche Dasein, aus dem er mit seiner Bitte an +Menschenfreunde hervortrat, hat seinen Leib zurück gefordert, und bevor +die Freunde im Land Und draußen seinen Tod erfahren, verweht der eisige +Wind den einsamen Grabhügel schon mit neuem Schnee. Als ihrer dann +einige mit dem Frühjahr kommen, staunen sie, wie das Mißgeschick ihm +bis auf den Kirchhof folgte: er ist mit seinem Sarg unter die Traufe +des Schulhauses geraten; der Regen, den das Dach von den Dorfkindern +abhält, gießt auf seinen Hügel. Statt des Rosenstockes, der darauf +steht, möchten sie ihm einen Stein setzen; aber der Enkel im Neuhof +zeigt ihnen ein vergilbtes Blatt, darauf er sich selber den Grabschmuck +wünschte.</p> + +<p>Der Stock trägt weiße Rosen und wird mit den Jahren ein Busch, der +im Frühsommer als ein schäumender Ball vor dem kleinen Schulhaus +steht. Selten kommt dann ein Fremder, der sich nicht eine Blüte davon +mitnähme; und an diesen Wallfahrten zu seinem Rosenstock merken die +Birrfelder, daß etwas von Heinrich Pestalozzi lebendig geblieben sein +muß.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Sein Sterbeteil ist längst vermodert, und die Seele Heinrich +Pestalozzis ruht im Zeughaus des Lebens aus von der Ruhelosigkeit +ihrer Tage; nur der Menschengeist,<span class="pagenum" id="Seite_399">[S. 399]</span> dem sie die schwingende Unruhe +war, reitet sein Abenteuer in die Unsterblichkeit. Die Zeiten sind +nicht danach, seinen Wahlspruch, Freiheit durch Bildung, beliebt +zu machen, und das prophezeite Jahrhundert der Menschlichkeit will +nicht anbrechen. Nach dem Traum der Befreiungskriege ist Europa +wieder eingeschlafen, und die deutsche Jugend der schwarzrotgoldenen +Burschenschaften wird hinter Gitterstäben von dem Traum kuriert. +Überall hat sich der Geist der Väter auf die vergoldeten Stühle der +alten Herrlichkeit gesetzt, und die Landreiter spähen, daß seine Hüte +an den Stangen in der schuldigen Ehrfurcht gegrüßt werden. Darüber +flackern die Menschenrechte, denen zuliebe soviel Köpfe abgeschlagen +wurden, zum andernmal auf in einer Revolution, aber diesmal schlägt ein +nasser Sack die Strohfeuer aus: Das Reich fällt noch einmal in einen +bleiernen Morgenschlaf, und über den Ozean her leuchtet ein Morgenrot, +dem die halbwachen Schläfer in Millionen zutaumeln.</p> + +<p>Indessen so von den Luftschlössern der Freiheit nichts übrig bleibt +als die Schwärmerei für Ruinen — selbst der neue Napoleon begnügt +sich, von Gottes Gnaden auf dem angestammten Kaiserthron zu sitzen — +ist aus den Zeiten Steins in Preußen der Eckpfeiler der Volksschule +durch alle Schwierigkeiten pietistischer Bedrängung stehen geblieben, +und im preußischen Lehrerstand reitet der Menschengeist von Heinrich +Pestalozzi sein Abenteuer in die kleinsten Dörfer. Längst ist die +deutsche Frage ein Rattenkönig geworden, da tut es bei Königgrätz einen +scharfen Schlag, der die Schwänze blutig<span class="pagenum" id="Seite_400">[S. 400]</span> auseinander reißt: Preußen +marschiert und ein geflügeltes Wort kommt auf, daß der preußische +Schulmeister die Schlacht an der Bistritz gewonnen habe. Dann +schmiedet Bismarck das neue Reich aus Blut und Eisen, wie es in den +Ruhmesblättern heißt; aber er selber schreibt aus Versailles an seine +Frau, daß Deutschland dem gemeinen Soldaten mehr als den Generälen den +Erfolg in Frankreich verdanke.</p> + +<p>Ich wüßte Einem, der mir folgte, eine Macht in Europa zu gründen, die +mächtiger als Bonaparte wäre; und ich sage euch, wer es am ersten mit +mir hält, dem wird die Herrschaft in Europa zufallen! hat Heinrich +Pestalozzi zu den Stadtherren von Ifferten gesagt, als sie von der +Audienz in Basel zurück fuhren: nun steht das Deutsche Reich mächtig in +Europa da aus seiner Lehre.</p> + +<p>Aber wenn der Armennarr vom Neuhof, der den Rockknopf des russischen +Kaisers nicht zu fassen kriegte, danach seine dritte Reise machte, +diesmal fröhlicher nach Berlin als damals nach Paris: er würde das +goldblinkende Dach des Reichstags staunend von außen betrachten und +in die zweite Volksschule nur aus dem Zweifel gehen, ob die erste mit +ihren sauberen Klassen und dem peinlich umzirkelten Lehrplan nicht ein +Blendwerk der Schulbehörde gewesen sei; er würde nach den Wohnungen der +Armen fragen und aus dem Prunk der Linden hinaus wandern in die trüben +Straßen, wo die Kinder in engen Höfen spielen; und unverdrossen mit den +ärmsten bis in die letzte Dachwohnung steigen: Ich<span class="pagenum" id="Seite_401">[S. 401]</span> will sehen, was die +Treppe der Menschenbildung aus dem Haus des Unrechts gemacht hat!</p> + +<p>Wohl würde er schaudern vor dem Haß des Klassenkampfes, aber er würde +sich tapfer zu seinem Anteil bekennen: daß der Arbeiterstand die +Gerechtigkeit nicht im Mist der Gnade verscharrt haben wolle, sondern +— durch Bildung frei gemacht — Macht gegen Macht einsetze, sie zu +ertrotzen. Er würde vor den Gewerkschaftshäusern und Konsumanstalten +beklommen vor Glück dastehen, daß aus der Masse von einzelnen Schwachen +soviel Stärke im Ganzen möglich wäre, und er ließe sich nicht mit +der Verdächtigung schrecken, daß da die vaterlandslosen Gesellen +ihre Kriegslager des Umsturzes hätten: Er hat es zu sehr am eigenen +Leib gespürt, wie rasch die herrschenden Mächte mit der bedrohten +Moral bei der Hand sind, wenn ihnen einer um der Gerechtigkeit willen +widerstrebt! Wie er dem Pfarrer Lavater einmal schrieb, daß er leicht +nach oben milder und nach unten strenger sei, als es sein Herr Jesus +Christus gehalten habe!</p> + +<p>Freilich, wenn Heinrich Pestalozzi, der es im Leben zu keinem Wohlstand +brachte, der in schlechten Kleidern ging und auch so aß und wohnte, von +seinen einsamen Gängen wieder in die Hauptstraßen zurück käme und den +Aufwand der Schaufenster, die geputzten Menschen und die Marmorsäle +sähe, die jeden Mittag und Abend gefüllt sind, als ob es ewig Feste +zu feiern gäbe: er würde in einem tiefen Schrecken von neuem seitab +irren in die dunkleren Straßen der unermeßlichen Steinwüste und den +Plakaten folgend in eine der Versammlungen geraten, wo die Männer der +Lohnarbeit einem jüdischen<span class="pagenum" id="Seite_402">[S. 402]</span> Redner zuhörten, der die Schlupfwinkel +einer wirtschaftlichen Frage mit juristischer Dialektik ableuchtete. +Sie würden erstaunt sein, wenn sich nachher der Greis mit dem +blatternarbigen Runzelgesicht zum Wort meldete, und mißtrauisch seine +seltsame Erscheinung betrachten, ob er ihnen nicht mit lächerlichen +Einfällen Unfrieden stiften wolle? Auch bliebe Heinrich Pestalozzi +selber im Anfang noch verschüchtert, wie wenn ihn der Schulmeister +Dysli mit seinem Anhang unter den Hintersassen noch einmal aus der +Stube schicken könnte; bald aber fände er in den feindlich abwartenden +Augen eine Menschenseele, zu der er also spräche:</p> + +<p>Lieber Bruder und Genosse — wie ihr euch nennt — meiner Seele ist es +gegangen wie deiner, sie fand sich in eine Ordnung gestellt, die aus +dem Unrecht der Gesellschaft gewachsen war, und seit den Jünglingstagen +wallte mein Herz wie ein Strom, die Quellen des Elends zu verstopfen, +darin ich das niedere Volk um mich versunken sah: aber wie mir die +Methode nur das Mittel und nicht das Ziel war, so auch die äußere +Wohlfahrt. Darum habe ich zwei Dinge nicht gekannt, die mir in diesen +Tagen mehr, als es gut ist, begegneten: den Neid und den Haß. Warum, +Bruder und Genosse, willst du den Reichen hassen, und um was willst du +ihn beneiden? Er hat ja selber nichts als sein Geld und was er sich für +sein Geld kaufen kann? Ist es aber dies, warum wir zwischen Geburt und +Tod unser rasches Leben haben, und kann es unser Glück sein, daß unsere +Frauen sich putzen können mit kostbaren Kleidern, und daß wir die edlen +Weine trinken und Kapaune essen?</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_403">[S. 403]</span></p> + +<p>Ich weiß wohl und habe es bitter gefühlt wie du, daß ein Mindestes +für jeden Menschen nötig ist: daß er im Winter nicht friere und im +Sommer nicht hungrig sei, daß er Stunden haben möchte, wo er aus der +harten Arbeit zu sich selber käme, und daß er um seines Lohnes willen +niemandes Knecht zu sein braucht! Auch weiß ich wie du, daß dies +abscheulich an unserer gesellschaftlichen Ordnung ist, wie sie am +Geldsack hängt: aber geht nicht vieles, wie ihr es ändern wollt, geht +es nicht auch nur im Gelüst auf jene Genüsse, die aus dem Geldsack +kommen? Ist nicht in eurem Haß auf die besitzenden Klassen auch der +Neid? Der Neid auf Güter, deren Genuß euch nicht weniger als der Mangel +im Elend eines nichtigen Lebens ließe!</p> + +<p>Eine gute Verfassung ist zwar von einer schlechten wie ein guter Acker +von einem schlechten verschieden; aber du weißt, es wächst dir weder +auf dem guten noch auf dem schlechten Acker etwas aus dem Acker allein, +sondern aus der Arbeit und dem Samen, die du darauf verwendest! Wie +aber kann deine Arbeit wertvoll für dich und die andern sein, wenn du +doch wieder das alte Unkraut säst? Wie anders haben wir es damals von +den Welschen gelernt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! nur laß es +mich verdeutschen:</p> + +<p>Es gibt vielerlei <em class="gesperrt">Freiheit</em> auf der Welt: aber die Freiheit der +Sau im Wald, die ihren Suhl hat, und die Freiheit des Reichen, der +sich mit seinem Gold das Tischlein-deck-dich herzaubern kann, ist +Knechtschaft der Begierden. Frei sein heißt nicht, tun dürfen, was du +möchtest, sondern tun wollen, was du mußt; darum<span class="pagenum" id="Seite_404">[S. 404]</span> achte, daß du draußen +wie drinnen keinen Herrn über dein Gewissen habest! Jesus Christus, +der sich für die Mühseligen und Beladenen ans Kreuz schlagen ließ, war +freier als Pontius Pilatus, der den Befehl dazu gab.</p> + +<p>Es gibt vielerlei <em class="gesperrt">Gleichheit</em>, aber willst du dem Schlechten +und Geringen gleich sein oder dem Besten? Soviel dir einer voraus +hat in Gütern, Wissen und Fertigkeiten, im Selbstgefühl kannst du +dem Reichsten und Klügsten gewachsen sein trotz all seinem Geld, +seinen Künsten und seiner Wissenschaft. Vor Gott gleich sein, wie die +Frommen wissen, heißt etwas anderes, als nichts vor seiner Allmacht zu +bedeuten; denn frage deine Seele, ob du dich als Sandkorn von Meer und +Wind verweht fühlen oder selber Meer und Wind sein willst? Vor Gott +gleich sein, heißt aus dem Ungewissen ins Gewissen der Welt, heißt in +die Allmacht berufen sein.</p> + +<p>Es gibt vielerlei <em class="gesperrt">Brüderlichkeit</em>; aber daß der Reiche im Wagen +dich mitnimmt hinter seine Pferde, in sein Haus und an seinen Tisch: +dadurch wirst du nicht sein Bruder, sondern sein Knecht, der Wohltaten +empfängt. Und wenn er all das Seine mit dir teilte, gutwillig und +gerecht: er würde vielleicht dein Bruder sein, du aber nicht der seine; +denn Brüderlichkeit ist ein Geschenk, das nur gegeben, nicht empfangen +werden kann; du aber willst empfangen! Es gibt nur eine Brüderlichkeit, +die ist vor Gott — und ich meine nicht die Stündlisbruderschaft — ihr +sind die Güter der Erde wenig vor dem Gefühl der Seele, aus dem Rätsel +in das Menschenschicksal geboren zu sein und wieder in das Rätsel +der<span class="pagenum" id="Seite_405">[S. 405]</span> Welt hinein sterben zu müssen. Allein vermöchten wir das Grauen, +aus dem ewigen Weltall durch unser menschliches Bewußtsein für eine +flackernde Sekunde abgesondert zu sein, nicht auszuhalten, wir würden +vor Schreck daran verdorren: nur weil wir gleich den Halmen im Feld +dastehen, können wir miteinander auf den Schnitter warten und uns doch +wiegen im Wind und wärmen in der Sonne und den Saft der Erde trinken +für unsere Frucht!</p> + +<p>Wenn Heinrich Pestalozzi das gesagt hätte, würde er noch einmal in +dem Saal dastehen, als ob er nach bestandenem Examen vor den andern +Schülern das Vaterunser sprechen müsse, so zum Lachen würde ihn schon +wieder eine Einsicht und ein Irrtum überraschen; und wie immer ginge +auch diesmal seine Rede in einem Selbstgespräch zu Ende, das keiner +der Männer in dem bleichen Gaslicht dieses Saales verstehen würde: +Ich dachte, es wäre der Menschengeist von mir, der immer noch auf +Abenteuer reitet, indessen sie meinen Körper unter die Dachtraufe und +den Rosenstock legten! Nun muß ich sehen, daß er nur der Diener unserer +Menschenbruderschaft und nicht das Leben selber ist, daß er die Worte +setzt, damit eine Botschaft von meiner Seele in deine, Bruder und +Genosse, käme; da beide sonst einsam im gemeinsamen Schicksal bleiben. +Denn allein die Seelenkraft ist das Leben, darin wir alle eins und von +Gott und also unverletzlich sind. Botschaft der Weltseele in unser +irdisches Dasein zu bringen, ist das Abenteuer des Menschengeistes, +dessen Tapferkeit sonst<span class="pagenum" id="Seite_406">[S. 406]</span> nur Ehrgeiz und Rauflust und vor der Ewigkeit +ein windiger Spaß wäre, ein grausames Puppenspiel der Menschen für ihre +Götter, wie es die Hoffnungslosigkeit der Alten dachte.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_407">[S. 407]</span></p> + +<h3>Berichtigung.</h3> +</div> + +<p>Der letzte Band meiner Erzählenden Schriften mußte durch widrige +Umstände ohne Korrektur gedruckt werden. Dadurch sind Druckfehler +stehen geblieben, die nach meinem Willen schon in früheren Ausgaben +beseitigt wären. Hierzu gehört auch, daß statt Tauner (Tagelöhner) +durchgehend Tanner gedruckt wurde, was natürlich falsch ist.</p> + +<p class="r5">S.</p><br> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="nobreak" id="Die_Erzaehlenden_Schriften_von_Wilhelm_Schaefer">Die Erzählenden Schriften von Wilhelm Schäfer</h2> +</div> + +<div class="hang2"> + +<div class="blockquot"> + +<p><em class="gesperrt">Mannsleut</em>, Westerwälder Bauerngeschichten. Verlag Samuel Lukas, +Elberfeld 1894 (vergriffen).</p> + +<p><em class="gesperrt">Die Zehn Gebote</em>, Erzählungen des Kanzelfriedrich. Verlag +Schuster & Loeffler, Berlin 1897.</p> + +<p><em class="gesperrt">Gottlieb Mangold</em>, Der Mann in der Käseglocke. Verlag Schuster & +Loeffler, Berlin 1900.</p> + +<p><em class="gesperrt">Die Béarnaise</em>, eine Anekdote. Sonderdruck der Rheinlande +Düsseldorf, 1901 (vergriffen).</p> + +<p><em class="gesperrt">Rheinsagen</em>, mit Zeichnungen von Bernhard Wenig. Verlag Fischer +& Franke, Düsseldorf 1908 (vergriffen).</p> + +<p>— Neue Ausgabe für die Mitglieder des »Frauenbundes zur Ehrung +rheinländischer Dichter«, umgearbeitet und ergänzt. 1913.</p> + +<p>— Dieselbe Ausgabe zweite Auflage, Verlag Georg Müller, München 1913.</p> + +<p><em class="gesperrt">Anekdoten</em> (erste bis dritte Auflage), Verlag der Rheinlande, +Düsseldorf 1908.</p> + +<p>— seit der vierten Auflage Verlag Georg Müller, München 1911. Fünfte +Auflage 1913.</p> + +<p><em class="gesperrt">Der verlorene Sarg</em> und andere Anekdoten, Verlag Georg Müller, +München 1911.</p> + +<p><em class="gesperrt">Dreiunddreißig Anekdoten.</em> Verlag Georg Müller, München 1914. +Vierte Auflage.</p> + +<p><em class="gesperrt">Die Mißgeschickten.</em> (Zuerst in der »Neuen Rundschau«, Januar +1909.) Verlag Georg Müller, München 1909.</p> + +<p><em class="gesperrt">Die Halsbandgeschichte.</em> Verlag Georg Müller, München 1909, +Zweite Auflage. (Zuerst in den »Rheinlanden« 1908.)</p> + +<p><em class="gesperrt">Karl Stauffers Lebensgang</em>, eine Chronik der Leidenschaft. +Verlag Georg Müller, München 1911. Sechste Auflage.</p> + +<p><em class="gesperrt">Die unterbrochene Rheinfahrt.</em> Verlag Georg Müller, München +1912. (Zuerst in der Frankfurter Zeitung.)</p> + +<p><em class="gesperrt">Lebenstag eines Menschenfreundes.</em> Verlag Georg Müller, München +1915. Zehnte Auflage. (Zuerst in der »Deutschen Rundschau«. Okt. 1914 +bis April 1915.)</p> + +<p><em class="gesperrt">Die begrabene Hand</em>, Sonderausgabe der neuen Anekdoten und +Novellen, Verlag Georg Müller, München 1918.</p> + +<p><em class="gesperrt">Die Erzählenden Schriften.</em> Gesamtausgabe in vier Bänden. Verlag +Georg Müller, München 1918.</p> + +<p><em class="gesperrt">Lebensabriß.</em> Verlag Georg Müller, München 1918.</p><br> +</div> +</div> +<p class="center">Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt</p> + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75169 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/75169-h/images/cover.jpg b/75169-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..62dfce3 --- /dev/null +++ b/75169-h/images/cover.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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