summaryrefslogtreecommitdiff
diff options
context:
space:
mode:
authornfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-01-21 12:21:03 -0800
committernfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-01-21 12:21:03 -0800
commitddd927e828a06bd7128723c391d2db632f0ab483 (patch)
tree110e8048c92ca3a4af4928b0f2e1d7f600dcaac5
Initial commitHEADmain
-rw-r--r--.gitattributes4
-rw-r--r--75169-0.txt10024
-rw-r--r--75169-h/75169-h.htm10538
-rw-r--r--75169-h/images/cover.jpgbin0 -> 711614 bytes
-rw-r--r--LICENSE.txt11
-rw-r--r--README.md2
6 files changed, 20579 insertions, 0 deletions
diff --git a/.gitattributes b/.gitattributes
new file mode 100644
index 0000000..d7b82bc
--- /dev/null
+++ b/.gitattributes
@@ -0,0 +1,4 @@
+*.txt text eol=lf
+*.htm text eol=lf
+*.html text eol=lf
+*.md text eol=lf
diff --git a/75169-0.txt b/75169-0.txt
new file mode 100644
index 0000000..de476da
--- /dev/null
+++ b/75169-0.txt
@@ -0,0 +1,10024 @@
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75169 ***
+
+
+
+=======================================================================
+
+ Anmerkungen zur Transkription:
+
+Das Original ist in Fraktur gesetzt, Schreibweise und Interpunktion des
+Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
+sind stillschweigend korrigiert worden.
+
+Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter erstellt; der Schmutztitel
+entfernt.
+
+Folgende Zeichen sind für die verschiedenen Schriftformen benutzt
+worden:
+
+ ~gesperrt gedruckter Text~ +antiqua gedruckter Text+
+
+=======================================================================
+
+
+ Schäfer, Lebenstag eines Menschenfreundes
+
+
+
+
+ Wilhelm Schäfer
+
+ Lebenstag eines
+ Menschenfreundes
+
+ Roman
+
+
+ Georg Müller Verlag München 1920
+
+
+
+
+ 12. Tausend
+
+ Copyright 1920 by Georg Müller Verlag A.-G. München
+
+
+
+
+ Inhalt
+
+
+ Morgen 3
+ Mittag 113
+ Abend 239
+ Nacht 397
+ Berichtigung 407
+
+
+
+
+ Morgen
+
+
+ 1.
+
+Als die Menschenseele in Heinrich Pestalozzi erwacht, liegt sie in
+einer Stube am Hirschengraben, wo sich jenseits der alten Stadtmauer
+bis zu den neuen Bastionen am Zürichberg hinauf die Landhäuser der
+Reichen sonnen. Sie selber spürt nicht viel von dieser Sonne, sie
+haust mit Kleinbürgersleuten im Gedränge hoher Steingebäude, die nur
+finstere Gäßchen zwischen sich lassen und mit dunklen Treppen in
+beengte Wohnungen führen. Außer der Mutter und einer Magd, die Babeli
+gerufen wird, sind noch drei Geschwister in der Stube, ein Knabe
+Johann Baptista und zwei Mädchen, von denen das kleinste in der Wiege
+liegt. Das wird eines Tages von schwarzen Männern fort getragen, über
+die dunkle Treppe hinunter in die Stadt, die draußen mit beschneiten
+Dächern wartet. Im Sommer aber ist es wieder da, schläft in der Wiege
+und heißt Bärbel, wie es vorher auch geheißen hat. Doch weint die
+Mutter immer noch, und der Vater, der sonst mit großen Schritten durch
+die Stube gegangen ist, liegt in der Kammer nebenan, nicht anders als
+das Bärbel in der Wiege; seine haarigen Hände ruhen auf dem Leintuch,
+und die Augen forschen an der Zimmerdecke.
+
+Eines Tages muß das Babeli hinein zu ihm -- allein und lange, während
+die Dachtraufe vor dem Fenster einen langen Strahl zerstäuben läßt;
+als es wieder herauskommt, fällt es der Mutter um den Hals und weint.
+Die hat, das Bärbel säugend, auf der Ofenbank gesessen; nun tut sie
+das Kind schnell von der Brust und läuft in die Kammer. Nachher muß
+Heinrich Pestalozzi mit den Geschwistern auch hinein; der Vater bemerkt
+sie schon nicht mehr, seine Augen aber forschen noch immer an der
+Zimmerdecke, nur die eine Hand ist von der Bettdecke abgerutscht, und
+die Mutter hängt daran, als ob sie ihn festhalten wolle.
+
+Am andern Tag ist er in einen Sarg getan, die Hände sind auf der Brust
+gefaltet, und die Lider haben wie zwei Deckel aus Wachs die forschenden
+Augen zugemacht. Heinrich Pestalozzi und sein Bruder bekommen die
+Sonntagskleider an und müssen -- als fremde Männer in schwarzen Röcken
+und Hüten kommen, den Vater zu holen -- mit hinunter über die dunkle
+Treppe und hinter ihnen her durch die Gassen nach dem Großmünster
+gehen, wo gesungen und gebetet wird, bevor sie den Sarg auf den
+Kirchhof bringen und bei Wind und Regen in ein frisch gegrabenes Loch
+versenken. Seitdem Heinrich Pestalozzi die hohen Münsterhallen mit dem
+Donnerschall der Orgel gesehen hat, weiß er, wo die Schwester Bärbel so
+lange gewesen ist; der Vater aber kommt nicht wieder, bis er ihn fast
+vergißt und nur noch manchmal gleich ihm mit langen Schritten die Stube
+messen will.
+
+Als wieder Winter wird, nimmt ihn das Babeli eines Abends schnell
+bei der Hand, einen Arzt zu suchen; sie finden den ersten nicht und
+müssen den zweiten erst aus einem Wirtshaus holen, wo viele Männer
+bei der Lampe in einer qualmigen Stube sitzen. Der läuft gleich
+mit, doch geht er bald wieder kopfschüttelnd fort von dem Bettchen
+der Schwester Dorothea, und andern Morgens sagt die Mutter, es sei
+gestorben an der Bräune. Die schwarzen Männer kommen zum drittenmal,
+aber diesmal tragen sie das Dorli fort, mit dem er jeden Tag gespielt
+hat. Seitdem ist ihm das Großmünster ein furchtbares Geheimnis, und
+so oft er die Glocken läuten hört, läuft er zur Stubentür, den Riegel
+vorzuschieben. Manchmal aber kommen doch Menschen über die Treppe
+herein, die mit der weinenden Mutter sprechen und denen er die Hand
+geben muß; er tut es gehorsam, doch immer in der Furcht, daß sie ihn
+mitnehmen könnten in das Großmünster. Auch wenn die Mutter oder das
+Babeli ihn selber an der Hand hinunter führen, ist er nicht froh,
+bis er endlich durch die Haustür hinein schlüpfen kann und oben die
+Heimeligkeit der Stube wiederfindet. Und nur dadurch, daß seine
+seltenen Ausgänge meist den gleichen Verlauf nehmen, durch die steilen
+Gassen und über Treppen zum Markt hinunter, wo die Limmat unter den
+Holzbrücken hindurch ihr reißendes Wasser drängt, oder Sonntags bis an
+den gleißenden See hinaus, wo die Schiffe und Schwäne schwimmen und die
+Wolken auf den fernen Bergen Rast machen, die den blauen Himmel mit
+ihrem weißen Zackenrand begrenzen: bahnt sich seine furchtsame Seele
+allmählich Straßen in die fremde Unermeßlichkeit, darin die Türme des
+Großmünsters drohend stehen. Sonst aber bleibt die Stube die einzige
+Sicherheit seiner Welt.
+
+
+ 2.
+
+Einmal macht Heinrich Pestalozzi auch eine Reise an den See mit
+seiner Mutter; mittags nach dem Markt fahren sie hinaus, unaufhörlich
+am Seeufer hin durch Dörfer mit weißen Kirchen, durch Weinberge und
+Matten, wo die Bauern lustige Haufen Heu zusammen bringen, bis nach
+Richterswil, wo der Onkel Johannes wohnt. Es ist dort ein großes Haus
+mit einem prächtigen Garten und vielen fremden Menschen, die seiner
+schwarzen Mutter um den Hals fallen und denen er die Hand geben muß.
+Auch einen Knaben gibt es, älter als er und wie ein Soldat mit einem
+stolzen Federbusch gekleidet; der führt ihn auf den großen Speicher,
+wo Korn in Haufen liegt, durch die Ställe mit unheimlich behörnten
+Kühen und stampfenden Pferden in die Weinberge hinauf zu einer Bank,
+die unter einer Linde einen Ausblick auf den See gibt bis tief in die
+blauen Bergschlüfte hinein, und danach an das weiche Ufer hinunter, wo
+das Ried mit hohen Halmen aus dem Wasser wächst und seine Büschel im
+Wind verneigt. Da haben Jünglinge gerade ein Schiff los gemacht, und
+weil der eine ein Bruder des Knaben mit dem Federhut ist, sollen sie
+mit einsteigen. Die Mutter aber kommt gelaufen, todblaß, und trägt ihn
+auf den Armen, obwohl er sich dessen schämt und schreiend wehrt, durch
+den Garten zurück ins Haus.
+
+Sie bleiben zwei Tage dort, bis sie am dritten Morgen noch in der
+Dunkelheit abfahren auf dem selben Bauernwagen und in der Morgenfrühe
+zurück kommen in die Stadt und in die Stube, wo der dicke Kachelofen
+mit der kühlen Steinbank auf sie wartet und das Babeli mit den
+Geschwistern ist. Er denkt später nicht gern an diese Reise; es ist ihm
+alles fremd geblieben, als ob er nur geträumt hätte.
+
+
+ 3.
+
+Lieber hat Heinrich Pestalozzi die Ausflüge nach Höngg, wo der
+Großvater als Pfarrer amtet. Sie brauchen keinen Bauernwagen dahinaus,
+sie gehen durch die Niederdorfporte auf die Schaffhauser Straße und
+dann am Käferberg sacht hinauf durch Weinberge bis an den Hügelrand,
+wo nach einer Stunde das Dörfchen mit der sauberen Kirche und dem
+Pfarrhaus erscheint. Unten zieht die Limmat ihren Silberstreifen
+durch das breite Tal, und hinten zeigt der Albisrücken die steile
+Schmalseite; wo seine Kante gegen den See verläuft, steht vor der
+Heiligkeit der Berge und gegen das blanke Wasser die Stadt Zürich mit
+ihren Mauern und Türmen dunkel wie ein Haufe reisigen Kriegsvolks da.
+
+Jedesmal, wenn er mit seinem Bruder Johann Baptista angekommen ist und
+sie sich in dem unteren mit spitzen Feldsteinen gepflasterten Flur von
+dem Staub des Marsches gereinigt haben, dürfen sie zu dem alten Herrn
+in die Studierstube hinauf. Sie liegt ganz oben und ist in der Ecke
+des Pfarrhauses so eingebaut, daß durch die breiten Fenster von Süden
+und Osten die Helligkeit der weiten Landschaft hinein sieht und den
+würdigen Greis mit Heiterkeit umspielt. Er steht nicht auf, wenn die
+Buben zu ihm herein kommen, auch dürfen sie nicht anders als einzeln
+gerufen zu ihm an den Tisch treten. Jedes muß sein Sprüchlein sagen,
+wie sie die Mutter verlassen haben und wie lange sie unterwegs gewesen
+sind; und niemals fällt es ihnen bei, hier oben die Ehrwürdigkeit
+durch eine Zärtlichkeit zu verletzen. Erst unten, wenn er mit am Tisch
+sitzt, wo die Großmutter mit den gütigen Zwickelfalten ihres alten
+Gesichtes das Gespräch führt, wird er der Großvater, der sie aus den
+Schoß nimmt und Scherze mit ihnen treibt. Aber wenn sich allmählich aus
+dem Donnergott des Großmünsters das Bild Gottes als eines himmlischen
+Vaters in Heinrich Pestalozzi umbildet, sind es die Züge des Großvaters
+in der Studierstube, die dem Bild ihr Wesen geben.
+
+Stärker wird dieser Eindruck, als er am Gottesdienst teilnehmen darf.
+Das Pfarrhaus ist an die Kirche so angebaut, daß es mit dem Totenacker
+seitlich vom Dorf und am äußersten Rand des Hügels eine Art Gutshof
+vorstellt, der wie ein solcher auch durch einen Torweg zugänglich ist.
+Durch den sieht Heinrich Pestalozzi Sonntags die Kirchgänger kommen,
+sauber gekleidet in ihrer bäuerlichen Tracht. Die Glocken klingen
+heller, und auch die Orgel hat nicht den brausenden Schall wie im
+Großmünster. Wenn sie anfängt zu spielen, ist es nicht anders, als ob
+sich die dunkleren Stimmen der Männer mit denen der stauen und Kinder
+mischten, und wenn das Lied dann wirklich einsetzt, wird alles zum
+Gesang der Gemeinde.
+
+Weil er die Stimme und das Wesen des Großvaters kennt, bleiben ihm auch
+die Worte seiner Predigt nicht gar so fremd, so wenig er im einzelnen
+davon versteht. Es ist fast der himmlische Vater selber, der zu seinen
+Kindern in dem feierlichen Ton der Studierstube spricht, aber der
+gütige Klang in seiner Stimme bleibt; und weil er niemals poltert,
+niemals aus den Rand der Kanzel schlägt wie die Prediger in der Stadt,
+bekommt die Predigt nichts von ihrem gottfremden Haß. So trägt Heinrich
+Pestalozzi jedesmal einen warmen Glanz von der Empore mit hinunter;
+und weil er die Kirchgänger nachher nicht gleich den Zürchern in die
+dunklen Schlüfte der Gassen verschwinden sondern langsamen Schrittes
+sich rund herum in die Gehöfte zerstreuen sieht, zweifelt er nicht
+daran, daß sie überall etwas von dem Glanz hinbringen. Um so stolzer
+ist ihm zumut, daß er selber danach im Pfarrhaus bleiben und mit dem
+Träger dieser feierlichen Macht zu Tisch sitzen darf -- wo der Pfarrer
+freilich am Sonntag außer dem Gebet niemals ein Wort spricht, wie er
+auch an diesem Vormittag das Frühbrot in seiner Studierstube nimmt
+und sich vor dem Gottesdienst niemandem zeigt. Erst wenn er seine
+Mittagsruhe gehalten hat, sehen ihn seine Enkel als Großvater wieder,
+der gern fröhlich ist und sie manchmal noch bis vor das Tor der Stadt
+zurück begleitet; hinein geht er seit dem Tode seines einzigen Sohnes
+nicht mehr gern.
+
+So bewirkt der Großvater in Höngg durch die weise Trennung amtlicher
+Würde von seiner gütigen Menschlichkeit, daß sich für die Kindheit
+Heinrich Pestalozzis das Grauen von den kirchlichen Dingen hebt.
+
+
+ 4.
+
+Auch außerhalb des Pfarrhauses findet Heinrich Pestalozzi im ländlichen
+Leben zu Höngg vertrautere Wege aus der engen Stube als in der
+finsteren Stadt. Wo jeder den andern kennt und die Großmutter wohl
+weiß, mit welchen Kindern sie den Enkel spielen läßt, ergibt sich
+leichter ein Kamerad. Der angenehmste heißt Ernst Luginbühl und wird
+ihm bald ein sehnsüchtig erwarteter Führer in die hügeligen Gebiete
+bis an den Wald am Käferberg hinauf oder gar in die steinichten
+Limmatwiesen hinunter, wo Samstags die Schiffe der geputzten Zürcher
+eilfertig mit der Strömung nach Baden treiben und Sonntags von dem
+Landvolk an Stricken mühsam stromauf gezogen werden. Er trägt keinen
+stolzen Federhut wie der Vetter in Richterswil, er läuft barhaupt und
+barfuß wie die andern Landbuben auch und hat prallrote Backen mit
+wasserhellen Augen; aber er weiß, wo man am sichersten einen Specht bei
+seiner Klopfarbeit belauscht oder wo ein Ameisenberg ist. Sein Vater
+arbeitet als Baumwollenweber, der erste und einzige in Höngg; einmal
+geht Heinrich Pestalozzi mit hinein und sieht den bärtigen Mann gebückt
+in dem Gestänge sitzen. Er hat nichts Ähnliches von menschlicher Arbeit
+gesehen; Küfer, Schmiede, Bäcker und Schreiner und erst recht die
+Bauern: alle schaffen mit den Händen und bleiben für sich selber frei;
+dieser Weber aber sitzt im Gestänge seiner Arbeit als ein Teil von
+ihr, wie die Spinne ans Netz gebunden. Er bleibt eine Stunde lang mit
+den Knaben dasitzen und hört dem unablässigen Geklapper zu, das aus
+dünnen Fäden Stoff macht. Als er nachher beim Abendessen ausgefragt
+wird, wo er gewesen ist, und anfängt, von dem Baumwollenweber zu
+erzählen, will der Großvater stirnrunzelnd nichts mehr hören von dem
+Unglück dieser städtischen Neuerung -- es ist das einzige, was Heinrich
+Pestalozzi von seinem Unwillen versteht.
+
+Einmal ist er eine ganze Woche lang in Höngg geblieben und kommt
+sich selber schon wie ein Landkind vor, als ihn die Mutter wieder
+holt. Auch diesmal geht der Großvater mit, aber nur bis Wipkingen,
+von wo er sich geärgert gegen den Berg zurückwendet. Er ist böse
+auf das geputzte Stadtvolk in den Schiffen, das sich am Sonntag von
+den Dorfleuten heimziehen läßt, ihre schwere Arbeit mit übermütigem
+Geschrei begleitend, und Heinrich Pestalozzi hört wieder, wie er von
+dem städtischen Unglück zu der Mutter spricht. Es geht schon gegen die
+Dämmerung, und so wendet sich der alte Mann von ihnen fort in einen
+dunkelroten Abendhimmel hinein, der den Häusern glühende Augen macht.
+Heinrich Pestalozzi weiß nicht warum, aber die Traurigkeit überkommt
+ihn so, daß er herzbrechend hinter dem Großvater her weint; es dauert
+lange, bis die erschrockene Mutter heraus bekommt, daß es die dunkle
+Stadt ist, vor der er sich fürchtet, und daß er alle Tage mit ihr
+und den Geschwistern und dem Babeli auf dem Land wohnen möchte. Da
+gesteht sie ihm, daß die Verwandten in Richterswil ihr das schon
+damals bei dem Besuch vorgeschlagen hätten, daß sie es aber nicht
+möchte der Stadtschulen wegen. In Richterswil möchte ich auch nicht,
+sagt er fast trotzig, lieber in Höngg! und weiß nicht, warum nun seine
+Mutter herzbrechender weint als er vorher; sodaß sie beide mit einer
+verlorenen Traurigkeit durch die Niederdorfporte in Zürich eingehen.
+
+
+ 5.
+
+Nach diesem Abend verlangt Heinrich Pestalozzi sehnsüchtig in die
+Schule. Seitdem die Schwester Dorothea gestorben ist und der Johann
+Baptista, um ein Jahr älter als er, täglich sechs Stunden zu den
+Schulmeistern am Neumarkt geht und nachher bei den Schularbeiten sitzt,
+ist er tagsüber allein mit dem Bärbel, das immer noch in der Wiege
+liegt und ihm kein Gespiele sein kann. Für die deutsche Schule scheint
+es der Mutter noch zu früh, so bringt ihn das Babeli eines Morgens in
+die Hausschule.
+
+Es wird aber kein schönes Erlebnis für ihn: als sie in den schmalen
+Raum eintreten, der eigentlich nur einen breiteren Gang vorstellt, ist
+der alte Lehrer gerade dabei, einen Buben zu walken; es sieht aus, als
+ob er ihm die Haare in Büscheln ausreißen wolle; zugleich vollführen
+die beiden ein weinerliches Geschrei, über das die andern Kinder, Buben
+und Mädchen durcheinander, schadenfroh lachen. Erst als das Babeli den
+Zornigen anruft, hört er auf. Hinten ist noch eine Bank frei, dahinein
+wird Heinrich Pestalozzi mit seinen Sachen gesetzt; das Babeli droht
+ihm noch einmal mit dem Finger und überläßt ihn den Kindern, von denen
+er nicht eines kennt, und dem weißköpfigen Schulmeister, der -- als er
+den Namenszettel gelesen hat -- die Magd für die Frau Pestalozzi selber
+hält und ihr mit vielen Komplimenten an die Tür nachläuft. Der Lärm,
+der durch die Neugier gestockt hat, hebt wieder an: die Kinder haben
+neben den Büchern ihre Eßwaren, und was sie sonst mit sich führen,
+auf den Pulten ausgebreitet; ein jedes liest laut oder schreibt für
+sich wie zuhause: der Lehrer ist nur eine Art Unhold, der eines nach
+dem andern vornimmt und die andern schwatzen und balgen läßt. So hört
+das Geklatsch seiner Prügel und sein Geschrei ebensowenig auf wie der
+Lärm der Kinder, die meist garnicht hinsehen, wenn sich sein Zorn
+beim nächsten Opfer neu entzündet. Auch Heinrich Pestalozzi kommt
+endlich an die Reihe, als er eine Stunde lang verängstigt dagesessen
+hat; er wundert sich fast, als es diesmal ohne Prügel abgeht, malt
+danach Buchstaben, wie er es von seinem Bruder gelernt hat, und ist
+noch fleißig dabei, als die andern mit eiligem Geklapper ihre Sachen
+zusammen raffen.
+
+Auf der Gasse wartet das Babeli; und wenn ihm das schon diesmal Spott
+einträgt, so wird ein paar Tage später ein wahres Schicksal daraus: es
+macht sich gerade so, daß ein Platzregen losgeht, das handfeste Babeli
+will ihn unter die Schürze nehmen; und rafft ihn kurzerhand -- da er
+sich vor den andern schämt -- als Bündel unter den Arm, um mit ihm heim
+zu rennen, so sehr er schreit und strampelt; sogleich verfolgt von
+einem Rudel der Kinder, die sich nun alle aus dem Regen nichts mehr
+machen und die Tropfen in ihre Gesichter klatschen lassen.
+
+Seitdem haben sie ihren Schabernack mit ihm, wo sie nur können. Seine
+Vorfahren vom Vater her sind Italiener gewesen, davon hat er die
+schwarzen Haare und die dunklen Augen behalten, und von den Blattern
+ein Gesicht voll Narben: so sieht er eher einem Savoyardenknaben
+ähnlich als einem Stadtzürcher und ist für sie ein fremder Vogel.
+Obwohl er nichts lieber gemocht hätte als mit ihnen spielen, macht ihn
+die Erfahrung scheu, sodaß er nun erst recht ein einsames Stubenkind
+wird.
+
+
+ 6.
+
+Später in der deutschen Schule tritt Heinrich Pestalozzi statt mit
+dem Babeli mit seinem Bruder Johann Baptista auf; der ist beweglicher
+als er und hat auch schon Bekanntschaften; dadurch kommt er mit den
+Knaben anfangs besser zurecht, um so leidvoller wird die Schule
+selber für ihn. Obwohl die Lehrer nicht solche Zornickel sind wie
+in der Hausschule, bleibt auch ihr Unterricht eine fortgesetzte
+Streitigkeit mit dem einzelnen Schüler, wobei sie die Schwächen eines
+jeden mit geübter Schulmeistergrausamkeit zu finden wissen. Heinrich
+Pestalozzi, dem es niemals völlig gerät, sich selber und seine Bücher
+in Ordnung zu halten, der bald ungekämmt in die Schule kommt, bald
+seine Schreibsachen oder Hefte vergessen hat, der aus den Spaziergängen
+seiner Gedanken aufgeschreckt die törichtsten Dinge zu sagen vermag und
+dem die richtigen Antworten meist erst auf dem Nachhauseweg einfallen,
+ist ihnen bald nur eine Gelegenheit, die herkömmlichen Schulwitze
+anzubringen. Daß er im ganzen eifriger als die meisten ist und sich
+leicht geschickter anstellt als es zu ihren Späßen paßt, stört sie
+nicht in ihren Hänseleien.
+
+Und weil die Lehrer es so halten, widerstehen auch die Mitschüler der
+Verlockung nicht, ihren Witz an diesem Neuling zu üben, der nichts von
+ihren Spielen kennt und sich gutgläubig zum Narren halten läßt. Ihm
+steht diese Gutgläubigkeit gleichsam schon im Gesicht geschrieben,
+und seine linkischen Hände scheinen nur geschaffen, für ihr Gelächter
+fehl zu greifen. So weiß ihn eines Tages einer mit Äpfeln begehrlich
+zu machen, die er im Sack hat: er würde ihm den schönsten schenken,
+wenn er ihm damit auf sechs Schritte in den Rücken werfen dürfe. Mehr
+um der Tapferkeit als um des Apfels willen geht Heinrich Pestalozzi
+auf den Handel ein; der Knabe aber trifft ihn so hart zwischen den
+Schultern, daß er wie von einem Büchsenschuß hingestreckt wird, und --
+als er sich mit einer Übelkeit kämpfend an dem nassen Steintrog unter
+dem steinernen Brunnenmann aufrichtet -- nur noch sehen kann, wie ein
+Flinker unter dem Hallo der andern den Apfel aufhebt und davon rennt.
+
+Heinrich Pestalozzi fühlt damals schon, daß es die Absperrung seiner
+häuslichen Erziehung ist, die ihn so fremd und linkisch unter den
+andern Knaben macht; er ginge trotz solcher Späße gern nach der Schule
+zu ihren Spielen auf die Gasse, aber das Babeli, das immer mehr wie ein
+handfester Weibel die Stubenwelt der Witwe Pestalozzi regiert, duldet
+dergleichen schon aus Sparsamkeit nicht: Warum wollt ihr unnützerweise
+Kleider und Schuhe verderben? Seht eure Mutter, wie sie wochen- und
+monatelang an keinen Ort hingeht und jeden Kreuzer spart, euch zu
+erziehen! Und um dem Grund praktische Kraft zu geben, nimmt sie den
+Buben nach der Schule sogleich die Schuhe weg.
+
+Heinrich Pestalozzi vermag nicht wie sein Bruder Johann Baptista den
+gutgemeinten Zwang mit allerlei Listen zu umgehen; er hat unterdessen
+durch die Mutter erfahren, was damals am Sterbebett des Vaters
+geschehen ist: da hat die Magd dem todkranken Wundarzt um ihrer
+Christenheit willen versprochen, die Frau nicht zu verlassen, weil
+seine Kinder sonst womöglich in fremde und harte Hände kämen! Das
+Babeli in seiner Einfalt, damals dreißigjährig, hat es dem Sterbenden
+in die Hand gesagt, an ihrem Platz zu bleiben, bis sie stürbe; auch
+hat sie tapfer Wort gehalten, als sie den Antrag eines ehrlichen
+Stadtbürgers ausschlagen mußte, und ist dem bedrängten Haushalt ohne
+Lohn durch alle Schwierigkeiten treu geblieben. Seitdem Heinrich
+Pestalozzi das weiß, kann er das faltige Sorgengesicht der guten
+Magd nicht anders als ehrfürchtig ansehen; und wenn der Großvater in
+Höngg dem Bild des himmlischen Vaters für seine Vorstellung die Züge
+herleiten muß, so vermag er die biblische Erzählung von Christus und
+den Schwestern in Bethanien nicht zu hören, ohne daß ihm seine Mutter
+zur still vertrauenden Maria und das Babeli zur schaffenden Martha
+wird. Soviel innige Gläubigkeit er aber damit auf die zarte Gestalt
+der Mutter legt, die -- als Susanna Hotze in Richterswil bei den
+wohlhabenden Brüdern aufgewachsen -- ihre bescheidene Lage niemals als
+Armut fühlt und auch den Kindern das Gefühl ihres guten Standes erhält;
+so wenig vermag er aus dem Evangelium eine Verachtung für die treue
+Magd zu ziehen, deren Stunden nichts als schaffende Sorgen kennen; ja,
+so oft er die abweisenden Worte Jesu liest, drängt ihn sein Gefühl, für
+die schaffende Martha aufzustehen.
+
+
+ 7.
+
+Heinrich Pestalozzi ist acht Jahre alt, als ihm eine Veränderung der
+äußeren Lebensumstände die Gedanken der Armut dennoch aufdrängen
+will. Seine Mutter, die immer noch die alte Wohnung gehalten hat,
+sieht sich genötigt durch die wachsenden Ausgaben für die Kinder,
+den Haushalt in der kleinen Stadt jenseits der Limmat bescheidener
+einzumieten. So lustig die Knaben mit dem Bärbel, das nun schon aus
+der Kammer in die Stube laufen kann, den äußeren Aufwand des Umzugs
+finden: so schmerzlich ist der Augenblick, als sie hinter dem Wagen mit
+ihrem Hausrat her -- das Babeli trägt die Schwester auf dem Rücken,
+und die Mutter führt die Brüder an der Hand -- am steinernen Rathaus
+hinübergehen auf die breite Bretterbrücke und in die kleine Stadt.
+Die ist freilich um den hohen Lindenhof herum gebaut, von dem die
+Schriften sagen, daß er schon in römischen Zeiten befestigt und der
+eigentliche Ursprung der Stadt gewesen wäre; aber darum lassen sie
+doch das Großmünster mit dem Haus Zwinglis drüben, von wo der Zürcher
+Glaubensheld für seinen Gott in den Krieg und Tod gezogen ist. Überdies
+will ein Mißgeschick, daß am Hotel zum Schwert gerade ein fremder Herr
+mit drei Rossen vorfahren will und bei der Wendung in die Deichsel
+ihres Gefährtes gerät. Der Ruck ist heftig und bricht dem Tisch, der
+hinten mit abgesperrten Beinen aufgebunden ist, eins davon ab, das
+schief herunterhängt. Gleich gibt es zwischen den Fuhrleuten ein
+Geschimpfe, und weil der ihrige zu Fuß geht, der andere aber in einer
+stolzen Uniform auf dem Bock sitzt, auch der Wirt zum Schwert gleich
+seinem vornehmen Gast zu Hilfe kommt, bleibt der mit den drei Rossen
+Sieger, indessen sie mit ihrer Habe, verbellt von Hunden, demütig um
+die Ecke ziehen.
+
+Es ist kein großer Schaden; sie müssen den Tisch nachher in eine
+Wandecke stellen, damit er ihnen beim Abendbrot nicht umfällt; doch
+liegt die Stimmung des verschimpften Auszuges aus der großen Stadt so
+jämmerlich auf ihnen, daß sie miteinander in eine Heulerei geraten. Die
+neue Wohnung ist sichtlich beengter als die alte; außer der Küche mit
+einem Alkoven für das Babeli und der gemeinsamen Kammer für die andern
+hat sie nur einen Raum, der fortab Besuch- und Wohnstube in einem sein
+muß: es ist die Lebensluft verschämter Armut, in die sie nun eingezogen
+sind. Mehr als die Mutter hat das praktische Babeli auf den Umzug
+gedrängt.
+
+Die Mutter will auch da noch die geborene Hotzin bleiben; und wenn in
+der Folge eine Bekanntschaft aus den besseren Zeiten, da der Wundarzt
+Pestalozzi noch auf die Jagd oder fischen ging, oder gar einer aus
+der vornehmen Verwandtschaft vom See den Weg in die kleine Stadt
+findet, wird die Stube jedesmal mit allem Staat aufgemacht, den sie
+aus ihrer Mitgift gerettet hat. Auch hält die einsam verhärmte Frau
+ängstlich darauf, was sie als Stadtbürgerin an Ehrengaben zu leisten
+ihrem Stande schuldig ist; und ob sie manchmal dem letzten Gulden mit
+Ehrenfestigkeit zu Leibe geht, und ob das Babeli danach die Kreuzer
+zusammenkratzen und auf dem Markt das Billigste erfeilschen muß: nach
+außen soll alles den Anschein eines unabhängigen Bürgerhaushalts
+behaupten.
+
+
+ 8.
+
+Für Heinrich Pestalozzi wird der Abstieg in die Armut dadurch
+gemildert, daß er gleich am andern Tag nach Höngg hinauskommt. Er ist
+mit der deutschen Schule zu Ende, und bevor er in die Lateinschule
+am Fraumünster eintritt, will der Großvater seinen Kenntnissen noch
+etwas nachhelfen. Er holt ihn diesmal selber ab; die Übersiedelung hat
+ihn besorgt gemacht, doch findet er alles recht und gegen Abend ist
+eine Kalesche da, sie miteinander hinauszufahren. Vor der Stadt darf
+Heinrich Pestalozzi auch einmal kutschieren; er zupft aber unablässig
+an den Zügeln, als ob es an ihm läge, daß die vier Beine sich bewegten,
+sodaß der Gaul am Ende wild wird und sie in einem unfreiwilligen Galopp
+nach Wipkingen bringt. Der Großvater liebt solche Vorfälle nicht; als
+er ihm kurzerhand die Zügel abgenommen und das Pferd zur Ruhe gebracht
+hat, sagt er strafend, das würde einem Knaben vom Land nicht begegnen;
+es wäre ein rechtes Stadtbubenstück. Er bleibt aber nicht unfreund mit
+ihm, und als er vor der Wegsteile gegen Höngg aussteigt und das Pferd
+am Zügel führt, nimmt er ihn gütig an der Hand, als ob trotzdem noch
+etwas Rechtes aus ihm werden könne.
+
+Der Großvater hat den armen Kindern der Gemeinde erlaubt, hinter der
+Kirche zu spielen, wo neben dem Kirchhof ein sonniger Rasenplatz auf
+neue Gräber wartet. Obwohl manche von den Kindern nur mit Hudeln
+bekleidet sind, tadelt er es nicht, wenn seine Enkel an ihren Spielen
+teilnehmen. So ist Heinrich Pestalozzi eines Tages mit ihnen dabei,
+das Wasser aus einer Pfütze neben der Kirche in einer Rinne bergab zu
+leiten, wo es gerade den schönsten Wasserfall macht, als auf einmal
+einige der Kinder, dann alle auseinander laufen und sich unter der
+alten Steinbank, hinter Gräbern oder wo sie sonst einen Schlupfwinkel
+finden, verstecken: ohne ihr sonstiges Geschrei und sichtbar in Angst,
+nicht anders, als ob Hühner einen Habicht in der Luft gespürt hätten.
+Er hält alles zunächst für eins von ihren Spielen, aber so still es aus
+dem Kirchhof ist, so laut wird es auf der Landstraße: die Gestrengen
+Herren in Zürich haben allmonatlich eine Betteljagd verordnet, und
+nun kommen die Landreiter von ihrer Pirsch mit einer verlumpten
+Schar, Alten und Kindern, in einem langen Strick wie eine Schafherde
+eingehürdet.
+
+Heinrich Pestalozzi besinnt sich nicht, er läuft nach vorn um die
+Kirche an den Torweg, und obwohl die Holzflügel schwer mit Eisen
+beschlagen sind, bringt er sie mit allen Kräften doch in die Riegel.
+Die Landreiter sind unterdessen schon durch das Dorf geritten, sie
+hätten sich auch schwerlich durch das Tor abhalten lassen; doch als
+er eben dabei ist, den Verschüchterten anzusagen, das Tor wäre zu und
+kein Landreiter könne herein, kommt der Großvater um die Kirche herum
+neugierig nach. Er hat das eilige Geschäft seines Enkels bemerkt, tut
+aber nicht weiter dergleichen, nur wie er ihn nachher an der Hand mit
+ins Pfarrhaus genommen hat und der Knabe in dem dämmrigen Hausflur
+schon denkt, er werde ihn strafen: hebt er ihn auf den Arm, als ob er
+ihm sagen wolle, bist ein tapferer Bub! Und als sie miteinander oben
+in dem Studierzimmer sind, wo er nun lernen soll, wendet er sich zu
+ihm hin, wie wenn er ein Großer wäre: Ich wüßte den Herren in Zürich
+andere Mittel als Landreiter und Betteljagden, der Armut auf dem Lande
+abzuhelfen!
+
+
+ 9.
+
+Als Heinrich Pestalozzi diesmal von Höngg zurück kommt, trägt er einen
+Schatz bei sich, mit dem er sich stolz und vieler Dinge mächtig fühlt.
+Um ihm den ungewissen Weg in die lateinische Wissenschaft vertrauter zu
+machen, hat ihn der Großvater das Vaterunser lateinisch gelehrt. Auf
+dem ganzen Weg nach Zürich hinunter, den er diesmal tapfer allein geht,
+sagt er die fremden Worte vor sich hin, ängstlich, daß ihm eins davon
+entfallen könnte. Es ist aber nicht die Schule, der zuliebe er sorgsam
+mit ihnen ist; dahinter steht das Bild des Großvaters als Lebensziel
+auf: auch einmal so in einem Dorf Seelsorger zu werden -- womöglich in
+Höngg selber -- den Armenkindern ein väterlicher Freund; das scheint
+ihm alle kommenden Mühsale der Schule wert zu sein.
+
+Er wird auch im Fraumünster kein Schüler, wie ihn die Schulmeister
+brauchen können. Zu sehr gewöhnt in seiner behüteten Stubenwelt, die
+Dinge von sich aus zu erleben und eigene Wege in das Geheimnis der
+Augenwelt zu suchen, sieht er sich bei ihnen vor ein unaufhörliches
+Vielerlei von leeren Worten gestellt. Bloß auswendig Gelerntes
+herzuplappern, wie es die meisten tun, vermag er nicht; und selbst,
+wenn er etwas verstanden hat, wird es ihm schwer, Worte daraus zu
+machen, weil er sich damit leicht wie ein Komödiant vorkommt. Damit er
+etwas sagen kann, darf es nicht schon ausgedacht sein, es muß ihm aus
+den Gedanken selber, nicht aus dem Gedächtnis kommen: weil aber die
+Fragen der Lehrer selten in seine Gedanken treffen, findet er trotz
+bestem Willen und innerer Lebendigkeit wenig Gelegenheit, sich als
+guten Schüler zu zeigen; ja, weil er gerade dann, wenn ihn eine Sache
+des Unterrichts wirklich beschäftigt, leicht für Minuten und länger
+von dem unwiderstehlichen Fluß seiner Gedanken fortgetragen werden
+kann, stellt er nur selten den gelehrigen Schüler dar -- der er doch
+ist --, sondern er wird gerade dann gescholten, wenn er vielleicht
+mehr als ein anderer bei der Sache ist. Am selben Tag kann er in einem
+Fach der beste und gleich darauf doch wieder der schlechteste sein;
+so kommt er bei allem Eifer auch in der Lateinschule bald wieder in
+ein feindseliges Verhältnis zu den Lehrern, das mit zornigen Strafen
+über seine Zerstreutheit anfängt und mit der Verspottung seiner
+absonderlichen Art ausgeht, ihn nach wie vor dem Gelächter der Klasse
+bloßstellend.
+
+Obwohl das Babeli ihn stets ordentlich herausputzt, steht er doch in
+der Kleidung gegen die gepflegten Herrenbuben zurück, und was er von
+der mühsamen Ordnung heimbringt, ist manchmal übel genug. Auch hält
+das Babeli immer noch strenge Hauszucht, sodaß er auch jetzt nicht zu
+den Spielen der andern auf die Gasse darf und für die lateinischen
+Mitschüler der gleiche fremde Vogel bleibt, der er auf der deutschen
+Schule war. Als der erste Sommer zu Ende geht, hat er bei ihnen schon
+den Spottnamen, der ihm von da ab durch die ganze Schule bleibt: Heiri
+Wunderli von Torliken.
+
+
+ 10.
+
+Trotzdem hört Heinrich Pestalozzi allmählich auf, der unfreiwillige
+Spaßvogel seiner Mitschüler zu sein; er lernt sich zu wehren, und kommt
+durch einen Vorfall sogar in den Ruf einer besonderen Tollkühnheit:
+
+Er ist ein Jahr lang Lateinschüler gewesen, als sein zeitweiliger
+Spielfreund Ernst Luginbühl aus Höngg in die untere Klasse eintritt.
+Dessen Vater ist herkömmlich ein verarmter Stadtbürger, der sich in
+sein dörfliches Anwesen hinein geheiratet hat, aber bis in seine
+Baumwollenweberei ein unruhiger Kopf bleibt, weshalb ihn auch der
+Großvater nicht gern in seiner Dorfgemeinde sieht. Ihm selber ist es
+mit allen möglichen Anschlägen fehl gegangen, darum will er seinem
+Buben eine bessere Bildung mitgeben und bringt ihn -- der einen klaren
+Kopf hat und gern lernt -- in die Lateinschule, wo er, älter als die
+andern, in die untere Klasse aufgenommen wird. Er hat noch immer
+seine roten Backen und die wasserhellen Augen, aber er trägt Schuhe
+an den Füßen und ist auch sonst für die städtische Schule zurecht
+gemacht, in einer ländlichen Art, die den Stadtkindern von selber zum
+Gespött wird. Heinrich Pestalozzi weiß längst, wie die Bürgersöhne
+den Knaben vom Land die Schule verleiden, als ob sie Eindringlinge in
+ihre Vorrechte wären; ihn selber lassen sie deutlich genug merken,
+daß seine Mutter nur eine Landbürgerin ist; nun aber trifft es seinen
+Freund, der in dieser fremden, feindseligen Welt mit den Bauernaugen
+um Mitleid zu flehen scheint. Jeden Morgen kommt er den mühsamen Weg
+von Höngg herunter, manchmal, wenn es geregnet hat, naß bis auf die
+Haut; und mittags, wenn die andern heimgehen, fertigt er seinen Hunger
+im Klassenraum mit einem Stück Brot ab. Er gerät in ein hartes und
+verstocktes Dasein, und wenn ihn Heinrich Pestalozzi anspricht, ist
+es fast, als ob er etwas von seinem Haß gegen die hochmütigen und
+grausamen Bürgersöhne auf ihn übertrüge, sodaß es hier in der Stadt
+keine rechte Fortsetzung der ländlichen Freundschaft geben will.
+
+Eines Mittags kommt Heinrich Pestalozzi zufällig als der Letzte aus der
+Klasse und hört unter dem Gang im Hof ein Hetzgeschrei. Einige größere
+Knaben haben den mißliebigen Weberssohn in eine Ecke gedrängt und hauen
+auf ihm, der sich kratzend und beißend wehrt, mit Linealen herum;
+einer muß ihn am Kopf getroffen haben, denn aus dem weißblonden Haar
+laufen ein paar Zickzacklinien von Blut herunter. Heinrich Pestalozzi
+weiß nichts von dem Anlaß des Streites, er sieht nur das Blut, und
+wie sie ihren Übermut und Hohn an dem Knaben auslassen; darüber faßt
+ihn augenblicklich der zornige Eifer so, daß er blindlings aus der
+offenen Halle über die Steinbrüstung hinunter klettert. Es ist eine
+kleine Stockwerkshöhe, und er könnte sich leicht zu Tode stürzen, als
+er für einen Augenblick selber erschrocken an der Steinbrüstung hängt.
+Er purzelt aber einem, der sich gerade bückt, auf die Schultern, daß
+der bäuchlings hinfällt und ihn wie einen Igel abkugeln läßt, ist
+gleich von Zorn besessen wieder auf und springt auf die andern ein,
+die im ersten Schrecken auseinander rennen. Auch der von seinem Sprung
+Betroffene will fort, kann aber nicht auf und kriecht auf Händen und
+Füßen eilig davon. Darüber erheben die andern, die schadenfroh der
+Prügelei zugesehen haben, ein solches Hohngeschrei, daß ein Lehrer
+dazukommt, ehe die Überfallenen ihrem kuriosen Angreifer heimzahlen
+können. Es gibt nun zwar ein strenges Verhör, bei dem Heinrich
+Pestalozzi, weil er trotzig schweigt, als der allein Schuldige
+übrigbleibt und auch in Strafe genommen wird: aber mit seinem
+tollkühnen Sprung ist er doch Sieger geblieben, und die Schande einer
+feigen Flucht vor dem schmächtigen Heiri Wunderli von Torliken bleibt
+auf den andern sitzen. Das Babeli, als es durch den Johann Baptista
+davon hört, will ihn strafen, weil die Hosen zerrissen sind; aber die
+Mutter wehrt ihr und streichelt ihn.
+
+
+ 11.
+
+Im Dezember des gleichen Jahres sind die Schüler in der Klasse von
+Heinrich Pestalozzi gerade aufgestanden, ein Weihnachtslied zu üben,
+als es einen Erdstoß gibt, wie wenn Pferde einen Wagen anzögen, auf dem
+sie ständen. Sie hören in derselben Sekunde auf zu singen und halten
+sich an den Bänken fest; dann ist der Lehrer der erste, bei dem sich
+die Erstarrung auf die Gefahr besinnt. Mit langen Beinen springt er
+zur Tür, die Geige und den Bogen noch in den Händen; aber ehe er dort
+ist, drängen sich ihm schon die nächsten Knaben vor. Draußen quillt
+die Schreckensflucht aus den andern Räumen ebenso zur Treppe; und ist
+es zuerst totenstill gewesen, so erhebt sich nun das Geschrei; erst
+derer, die hinfallen und getreten werden, dann der andern, die davon
+angesteckt die letzte Besinnung verlieren. Es gibt keinen Einzelnen
+mehr, nur noch eine Herde, dahinein die Todesfurcht gefahren ist; und
+die am ehesten Kaltblütigkeit bewahren sollten, die schulmeisterlichen
+Hirten gehen mit langen Beinen über die Köpfe und abwehrenden Hände der
+Knaben hinweg.
+
+Auch Heinrich Pestalozzi ist wie die andern von der Besessenheit
+gepackt worden und hat Arme und Beine gebraucht, sich in dem Strudel
+oben zu halten; aber darum haben seine Augen doch das unwürdige
+Beispiel der Lehrer aufgefaßt; und als er unten auf dem Hofe steht,
+wo rundherum die Stücke von Dachziegeln in dem schwärzlichen Schnee
+liegen und die Nachzügler kommen, die von den andern überrannt wurden
+und teilweise bluten -- einer liegt leichenblaß seitwärts allein,
+weil er aus dem Fenster gesprungen ist und den Fuß gebrochen hat --
+muß er weinen vor Zorn. Die meisten drängen auf die Gasse hinaus,
+wo die Bürger unterdessen aus den Werkstätten gelaufen sind und in
+den Himmel starren, der unbewegt über dem Erdbeben steht. Die zurück
+bleiben, möchten zum Teil gern ihre Bücher und Hüte herunterholen,
+aber keiner wagt sich hinein; obwohl nach der ersten Erschütterung,
+die gleich einem langen Gerolle von unterirdischen Wagen gewesen ist,
+nichts mehr geschieht und die leeren Gebäude gleichsam verwundert auf
+die ängstliche Menschheit herunter sehen. Der Widerspruch zwischen
+dieser lächerlichen Flucht und dem alten Heldentum, davon sie täglich
+durch die selben Lehrer hörten, macht, daß ihm sein Knabenherz trotzig
+aufspringt, sich selber und den andern ein Beispiel von Tapferkeit zu
+geben. Während einige Bürger in den Schulhof gekommen sind und den
+Jungen mit dem zerbrochenen Fuß aufheben, geht er in das verlassene
+Schulhaus zurück: obwohl es unheimlich ist auf der leeren Treppe und
+oben im Gang, wo alle Türen offen stehen, kommt er bis an die Klasse
+und holt seine Sachen heraus; auch einigen andern bringt er mit, was
+er rasch greifen kann; und nachher zwingt er seine Furcht, daß er die
+Treppe nicht hinunter springt, Schritt für Schritt die Stufen nimmt und
+triumphierend zu den Wenigen hinaus tritt, die da noch warten.
+
+Als er danach heim kommt in die Stube, ist der Johann Baptista schon
+längst dabei, dem Bärbel das Abenteuer zu erzählen, indessen das Babeli
+verzweifelt durchs Fenster sieht und ihn scheltend empfängt, daß er
+so spät käme; nun wäre die Mutter aus Angst um ihn schon auf die
+Gasse gelaufen! Er könnte ihr anders antworten; doch wirft er nur die
+Sachen verächtlich auf einen Stuhl und springt hinunter, den Schrecken
+der Mutter abzukürzen. Er findet sie auch gleich, wie sie mit blassem
+Gesicht zurück kommt und ihn erblickend nichts anderes vermag, als ihn
+hastig am Arm zu nehmen, wie wenn sie ihn jetzt noch retten müßte.
+
+Bei den Genossen aber gilt der Heiri Wunderli seit diesem Erdbebentag
+als einer, der sich aus Großmannssucht für etwas Besseres hält, und
+ihrem Spott ist fortab deutlich der Haß beigemischt, der für das
+Ungewöhnliche das sicherste Erbteil unter den Menschen ist.
+
+
+ 12.
+
+Mit zwölf Jahren kommt Heinrich Pestalozzi wieder hinüber in die große
+Stadt, wo seine Mutter im Haus zum Roten Gatter an der Münstergasse
+eine billige Wohnung gefunden hat. Er tritt nun in die Lateinschule
+am Großmünster über und verliert dadurch seinen ländlichen Freund
+aus Höngg ganz aus den Augen. Um so betroffener wird er, als er beim
+Großvater in die Ferien einrückt und dort erfährt, dem Baumwollenweber
+sei es zu teuer geworden mit der Schule, auch habe der Ernst Luginbühl
+selber die Plage mit den Stadtsöhnen nicht mehr gemocht. Er benutzt
+den ersten Ausgang, ihn zu besuchen; schon draußen vor dem kleinen,
+windschiefen Haus hört er den Webstuhl klappern, aber als er zögernd
+hinein kommt, sitzt statt des bärtigen Baumwollenwebers der Sohn im
+Gestänge. Es ist so laut in der Stube, daß der ihn nicht gleich
+bemerkt; als er sich nachher umsieht, dauert der Streifblick nicht
+länger als eine Sekunde, dann starrt er wieder in seinen Webstuhl.
+
+Heinrich Pestalozzi denkt, daß es die Arbeit so erfordere, und wartet
+geduldig eine Pause ab; als sich nach einer Viertelstunde immer noch
+nichts ändert an dem gleichförmigen Takt, ruft er ihn an, erst leise,
+dann mehrmals lauter: der andere aber zieht nur trotzig die Schultern
+ein. Da merkt er, daß ihn der Ernst Luginbühl nicht mehr ansehen
+will, und in einer tief rinnenden Traurigkeit verläßt er die Stube.
+Draußen sieht er gerade noch, wie die mattrote Sonnenscheibe in dem
+Wolkengerinnsel am Horizont versinkt; was ein warmer Glanz mit lustig
+langen Schatten war, als er herauf kam, ist nun eine rote Glut, die
+sich brandig in den Himmel einfrißt. Nur am Ütliberg läuft noch eine
+feurige Kante hinauf, und unten starrt das Kriegslager von Zürich vor
+dem See, als ob es dunkel auf eine bläßliche Glasscheibe gemalt wäre.
+Er fühlt mit seinen zwölf Jahren, daß alles, was bisher in seinem
+Herzen gewesen ist, Zorn und Empörung, Mitleid und Freude: mit den
+Stunden kam und verrann, wie dort das Sonnenlicht verrinnt und morgen
+wiederkommt; aber, was da am Webstuhl angeschlossen ist, kam nicht mehr
+los aus seiner Unabwendbarkeit.
+
+Heinrich Pestalozzi vermag nicht ins Pfarrhaus zurückzugehen; bis
+zur Dunkelheit sitzt er am Rain und versucht, aus dem Knäuel dieser
+Gedanken heraus zu kommen. Das einzige, was er gewinnt, ist ein
+Gefühl, dass bis zur Stunde alles eitel und selbstsüchtig in ihm war:
+nur, weil er die reichen Verwandten am See und hier den Großvater im
+wohlbestallten Pfarrhaus hat, durch kein anderes Vorrecht, ist er vor
+dem gleichen Schicksal behütet. Je tiefer er sich da hinein denkt,
+um so mehr schämt er sich vor dem Knaben und um so glühender wird
+sein Wunsch, ihm wenigstens ein Pfand der Liebe aus seinem Herzen
+hinzulegen, da er ihm sonst nicht helfen kann. Und als er das Pfand
+gefunden hat -- es darf nur das Liebste sein, was er besitzt -- hindert
+Heinrich Pestalozzi nichts mehr, sein Herz zu erfüllen:
+
+Vor der Tür des Pfarrhauses, aus dem ein Licht der Wohlhabenheit in den
+Abend leuchtet, zieht er die Schuhe aus und schleicht auf Strümpfen
+in die Kammer. Der Ranzen ist noch nicht ausgepackt, und seine Hände
+wühlen im Dunkeln nach dem silberbeschlagenen Testament, das seine
+Mutter von ihrem Vater zur Konfirmation erhalten und ihm kürzlich am
+Grab des eigenen Vaters in die Hand gegeben hat. Er fühlt das Unrecht,
+das er damit tut: es gehört ihm selber garnicht, es ist ein Vorrecht
+vor den Geschwistern, es zu haben. Aber gerade das bestimmt ihn, es
+herzugeben; denn nur darum ist er wie alle übermütigen Stadtbürgersöhne
+in Zürich gegen den Weberknaben im Vorteil, weil sie in den Reichtum
+solcher Familienstücke hineingewachsen sind! Und daß es ein Liebespfand
+von seiner Mutter ist, darauf hat Christus selber zu Maria gesagt:
+Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?
+
+Als er zitternd und mit einem schmerzenden Knie, weil er im Eifer
+gefallen ist -- auch die Schuhe wieder anzuziehen, hat er vergessen --
+zu dem Knaben in die Stube kommt, ist von dem Lichtspan an der Wand
+ein trübes Licht darin, das die Schatten des Webstuhls wie Ratten in
+dem halbhellen Raum hin und her laufen läßt. Diesmal hört der Ernst
+Luginbühl gleich auf zu weben, so sehr scheint er erschrocken, wie
+einer aus der Dunkelheit mit bittend hingestreckten Armen in sein
+Licht kommt. Vor den heißen Augen weiß Heinrich Pestalozzi keins von
+den Worten zu sagen, mit denen er her gelaufen ist; weil die Hände
+des Knaben am Webstuhl hängen bleiben, legt er ihm das Testament mit
+dem blinkenden Silber darauf. Wohl eine Minute lang ist es still
+um die Atemzüge der beiden Knaben, wie wenn dieses Liebespfand sie
+wirklich vereinen könnte; dann reißt der Webersohn die Hände fort, als
+ob ihn mit dem kalten Metall des Buches ein widerliches Tier berührt
+hätte. Klappernd fliegt es gegen das Holz und fällt seitwärts auf den
+Lehmboden; doch darf es auch da nicht liegen, der Dämon in dem Knaben
+fährt auf und spuckt danach; und als Heinrich Pestalozzi schützend
+seine Hände über sein Heiligtum breiten will, tritt er mit beiden
+Füßen darauf, bis es in den Lehm eingestampft ist. Erst dann bricht er
+schluchzend aus und läuft durch die offene Tür in die Nacht.
+
+Heinrich Pestalozzi meint, die Mutter laut mit sich weinen zu hören,
+als seine zitternden Finger das Buch aus dem Boden graben; mit einem
+Grauen, darin das Großmünster aus seiner ersten Jugend über ihm
+einstürzt, geht er aus der Stube. Am Zürichberg wird unheimlich das
+Signal der Mondscheibe aufgezogen; so rot ist sie, als hätte sie dem
+Abendrot das Blut ausgetrunken. Und wenn Heinrich Pestalozzi auch erst
+nach Jahren die Verzweiflung verstehen soll, die ihm sein Liebespfand
+bespien und zertreten hat, eine Ahnung trägt er schon an diesem
+Abend ins Pfarrhaus hinunter: alles andere, nur nicht das gedruckte
+Evangelium hätte er dem Knaben auf die Hände legen dürfen, der sich von
+einer auf dieses Evangelium gegründeten Welteinrichtung verraten fühlt.
+
+
+ 13.
+
+Seitdem geschieht es Heinrich Pestalozzi häufig, daß er unversehens
+an den Webstuhl in Höngg denken muß; er meint dann, das unaufhörliche
+Geklapper zu hören, und kann, wenn er sich auf die Schulgegenwart
+besinnt, staunend in eine neue Anschauung der Wirklichkeit versinken:
+die sonst nur als der Kreis seiner Sinne um ihn gewesen ist oder in
+seiner Erinnerung ein Bilderbuchdasein geführt hat, je nachdem er
+zufällig an etwas dachte, wächst sich zur Weite ihrer unabhängigen
+und ungeheuren Existenz aus. Es wird ein leidenschaftliches Spiel
+seiner Einbildung, sich vorzustellen, was alles in der gleichen Stunde
+geschieht, da er mit seinen Büchern dasitzt: wie der Großvater in Höngg
+den Pfarrhut in seiner Studierstube aufsetzt und hüstelnd -- er geht
+nun schon an die siebzig -- die Treppe hinuntersteigt, die Kranken
+der Gemeinde zu besuchen; wie die Großmutter unterdessen mit ihren
+runzeligen Händen im Garten schafft, manchmal ein Viertelstündchen
+mit einer Nachbarin plaudernd; wie rund herum in den Weinbergen
+und Feldern die Bauern sich nach ihrer Arbeit bücken; wie auf der
+Straße die Kaufmannswagen, mit runden Tüchern überspannt, ihren Trott
+dahingehen, oft überholt von den Staubwolken eiliger Reisenden; wie
+bald ein Sonnenstrahl, bald ein Wolkenschatten hinläuft über das breite
+Limmattal, über die reisige Stadt Zürich und die Großmünstertürme --
+daneben er selber im Schulhaus sitzt und dies alles denkt -- über den
+langen See hin bis Richterswil und weiter hinauf gegen den blaudunklen
+Wall der Berge, die sich nicht so leicht überrennen lassen, über
+ungezählte fleißige Menschen hin, welche, die fröhlich singen, und
+andere, die um einer Not willen verzweifelt sind. In der Weite und
+unausdenkbaren Vielgestaltigkeit dieses Lebens fühlt er sich und seine
+Pfarrpläne kaum anders als den Vetter am See, der mit seinem Federhut
+den Soldaten spielt. Die Welt ist nicht mehr so, daß einer mit seiner
+Knabeneinfalt hineingehen und ihre Dinge umgestalten kann, die Dinge
+selber sind es, die mit ihrem unübersehbaren Zustand den Einzelnen
+festhalten und nötigen. Wie die Unheimlichkeit des Großmünsters
+drohend gegen die Stubenwelt seiner frühen Knabenjahre aufgestanden
+ist, so kommt jetzt der Lebenskreis der Dinge; nur, daß er diesmal
+die wirklichen Zusammenhänge fühlt und demütig die Überhebung seiner
+Knabenpläne einsieht.
+
+Dazu kommt etwas Zufälliges, das freilich mit dieser Art, die Dinge
+zu empfinden, zusammenhängt, ihn völlig verzagt zu machen: Weil er im
+Examen der Erste gewesen ist, trifft es ihn, daß er das Gebet vor der
+Klasse sprechen muß. So feierlich für ihn die Worte des Vaterunsers
+sind, da er sie selber zum erstenmal öffentlich sagen soll, überfällt
+der komische Zwiespalt zwischen seiner in tausend Täglichkeiten
+verbrauchten Knabenstimme und dem feierlichen Aufwand, den er damit
+treiben soll, sein verscheuchtes Selbstgefühl derartig, daß er einem
+unwillkürlichen Zwang zu lachen nicht widerstehen kann und dadurch zu
+einer ernstlichen Vermahnung kommt. Auch in der Folge verliert sich
+dieses Hindernis nicht; so oft er in der Schule oder gar in der Kirche
+etwas öffentlich aufzusagen hat, ist das stete Gefühl dabei, vor den
+anderen Knaben lächerlich dazustehen, und er braucht dann nur seinen
+Blick mit einem andern zu kreuzen, um auch schon auszuplatzen. Es ist
+ihm sicher, daß er niemals als Pfarrer seine Stimme in der Kirche wird
+erheben können, ohne diesen Zwang zum Lachen. Die erste Erkenntnis der
+Weltzusammenhänge hat ihm die Unschuld seines Knabendaseins unsicher
+gemacht, und ängstlich fragt er, ob sie ihm jemals wiederkommt?
+
+
+ 14.
+
+Als Heinrich Pestalozzi mit dem fünfzehnten Jahr aus der Lateinschule
+übertritt in das sogenannte Collegium Humanitatis, das auch beim
+Chorherrngebäude des Großmünsters liegt, ist von seinen Knabenplänen
+nichts geblieben als die Verzagtheit, überhaupt einen Platz mit seinem
+Dasein in der Wirklichkeit zu finden. Da hilft ihm zum erstenmal
+seine Vaterstadt; indem er anfängt, die Dinge zu beobachten, wie sie
+außer dem Kreis seiner Sinne ihre eigenen wechselvollen Zustände
+haben, sieht er sich unerwartet vor ihre Vergangenheit gestellt. Diese
+Bastionen und Stadttürme, Kirchen und Brücken: das alles ist nicht
+immer so gewesen, wie es nun für seine Augen dasteht. Es ist die
+Erbschaft der Jahrhunderte -- wie die öffentlichen Einrichtungen der
+Zünfte, der Lehrschulen und Gottesdienste auch -- von Menschenhänden
+in den ewigen Kreislauf der Natur gestellt und von Menschen in der
+unaufhörlich ablaufenden Frist ihrer irdischen Gegenwart verändert.
+Noch bevor er Schüler vom alten Bodmer wird, der seit Jahrzehnten in
+Zürich helvetische Geschichte lehrt, verfällt er mit Eifer auf die
+Geschichte der stolzen Heimatstadt. Gerade weil sie ihm mit ihren
+finsteren Gassen nie so heimelig geworden ist wie das Land, und weil
+sein Gefühl sich so schwer zurechtfindet mit den Einrichtungen, die
+überall Ehrfurcht fordern und ihn bedrücken: sucht er hitzig nach der
+Herkunft aller dieser Dinge und Sitten, als ob es ihm so gelingen
+müßte, sein eigenes Gefühl aus der drohenden Ungewißheit in eine
+sichere Übereinstimmung mit der Heimat zu bringen.
+
+So liest Heinrich Pestalozzi, der zwischen den Bürgersöhnen immer noch
+ein schmächtiges Gewächs und der Heiri Wunderli von Torliken ist,
+die mehr als tausendjährige Geschichte seiner Stadt: wie schon zu
+römischen Zeiten der Lindenhof ein befestigtes Kastell war und in den
+Märtyrern der thebäischen Legion, Felix und Regula, seine christlichen
+Schutzheiligen gewann; wie Karl der Große ihm seine geistlichen
+Stifte, das Großmünster und das Fraumünster, gab und eine Reichsvogtei
+das römische Kastell auf dem Lindenhof ablöste; wie es lange vor
+dem Eintritt in die Eidgenossenschaft reichsfrei und ein mächtiges
+Stadtwesen war, bis es durch Zwingli der Vorort der reformierten
+Christenheit wurde. Er liest von den berühmten Bürgermeistern der
+Stadt: von Bruns, dem ränkevollen Aufrührer der Innungen, der die
+Regierungen der Zünfte gegen die Geschlechter begründete und in der
+Züricher Mordnacht die von Rapperswil eingebrochenen Adeligen grausam
+unterwarf; von dem riesenhaften Stüssi, der um das Toggenburger Erbe
+den Krieg mit den Eidgenossen aufnahm und vor dem Stadttor an der
+Sihlbrücke fiel; von Hans Waldmann, dem Helden zu Murten, unter dessen
+Hand Zürich zum Vorort der ganzen Eidgenossenschaft wurde, bis er,
+von seinem eigenen Glanz verblendet, seinen Gegner, den Volkshelden
+Frischhans Theiling, hinrichten ließ und bei der Empörung der Seebauern
+selber den stolzen Hals aufs Schafott legen mußte. Er liest, wie sich
+die Bürgermeister um Geld an mächtige Fürsten verkauften, wie Zürich um
+seines Vorteiles willen mehrmals die Eidgenossen an die Österreicher
+verriet, und wie durch den Bundesvertrag mit Frankreich das Reislaufen
+der Eidgenossen ein bezahltes Handwerk wurde. Aber dann kommt
+Zwingli, der gegen diese wie andere Unsitten in Zürich ein Regiment
+schweizerischer Mannhaftigkeit aufrichtet und, obwohl er selber bei
+Kappel kläglich umkommt, Zürich zur evangelischen Glaubensburg macht.
+Aus dem ränkevollen Spiel der Jahrhunderte wächst ihm die Gestalt
+dieses Glaubenshelden zu einer Größe heraus, daneben die Figuren der
+Bürgermeister in den schwankenden Schatten böser Leidenschaften
+versinken.
+
+Alle diese Dinge liest Heinrich Pestalozzi, wie ein anderer Zürcher
+Knabe die Geschichte seiner Vaterstadt auch gelesen hätte; aber
+unvermutet kommt eine Begebenheit, die seine eigene Herkunft angeht und
+danach lange den heimlichen Schlüssel seiner vaterländischen Gefühle
+abgibt: Zwingli ist seit vierundzwanzig Jahren tot, und überall haben
+die Evangelischen mit der katholischen Gegenreformation zu kämpfen; da
+ziehen an einem Mittag des Jahres 1555 einhundertsiebzehn Flüchtlinge
+in Zürich ein, ziemlich die ganze reformierte Gemeinde aus Locarno,
+die mit ihrem Pfarrer Beccaria über den schneebedeckten Bernardino und
+den Splügen, durch Lawinengefahr und die Frühjahrsschrecknisse der Via
+mala gewandert ist und in dem Nachfolger Zwinglis, dem Münsterpfarrer
+und eigentlichen Regenten von Zürich, Heinrich Bullinger, einen
+mannhaften Beschützer findet. Heinrich Pestalozzi weiß vom Großvater,
+daß seine Familie ursprünglich italienisch und um des Glaubens willen
+eingewandert ist: nun erkennt er die Umstände und wie tief er --
+mütterlicherseits sogar ein direkter Abkömmling jener Flüchtlinge --
+der Stadt Zürich verpflichtet ist. Zum andernmal wächst das Großmünster
+mächtig auf vor einem Gefühl, aber es ist kein Grauen mehr; er sieht
+die beiden Türme als reisige Wächter seines Glaubens die Stadt behüten,
+und wenn nun Sonntags die mächtigen Glocken darin läuten, ist es der
+Schlachtgesang Zwinglis und seiner Getreuen, die für das Evangelium
+hinaus reiten in den Tod.
+
+
+ 15.
+
+Seitdem sich Heinrich Pestalozzi selber als einen Schützling dieser
+mächtigen Stadt erkannte, mag er einsam durch ihre Straßen gehen
+und sich allein von solchem Gang beglückt fühlen: Es braucht nur
+ein Hufschmied zu hämmern, und schon hört er Schwertschlag auf
+stählerne Panzer, und wenn er Sonntags mit der Gemeinde in den hohen
+Münsterhallen singt, beim Donnerschall der Orgel, wenn er den Prediger
+das Buch vom Altar nehmen sieht, wie es Zwingli an derselben Stelle
+genommen hat, mischt sich mit dem ehrfürchtigen Grauen der Stolz und
+Dank seiner von unbändigen Erinnerungen erfüllten Seele. Er weiß nun,
+was es bedeutet, daß der steinerne Karl außen hoch am Münsterturm das
+Schwert flach auf den Knien hält und warum auf den Brunnen die reisigen
+Männer stehen. Als er einmal mit in die Zwölfbotenkapelle unter dem
+Großmünster hinunter darf, läuft er nachher wohl eine Stunde lang
+weinend vor Glück an der Limmat hin.
+
+Es ist, als ob er nun die Stadt erst sehe, in der er aufgewachsen
+ist; und wenn er durch eine der alten Porten hinaus geht, die noch
+immer wehrhaft dastehen, obwohl draußen die wohlgerüsteten neuen
+Bastionen sind, kann es ihm ängstlich werden, die schützende Grenze zu
+überschreiten. Der schwarze Pfahlwall im See am Grendel, der mit der
+Dunkelheit die Schifffahrt absperrt, der Wellenbergturm mitten in der
+Strömung, das mit mächtigen Quadern ins Wasser vorgebaute Rathaus, die
+stattlichen Zunfthäuser und der breitbedachte Rüden am Stücklimärt,
+wo immer noch die Constafel, die Geschlechter, tagen, das Haus zum
+Königstuhl mit seinem derb vorgebauten Erker, darin der Bürgermeister
+Stüssi gewohnt hat, oder das Haus zum Loch, mit seltsamen Sagen dem
+großen Kaiser Karl verknüpft: jeder Stein der Stadt wird mit dem
+Bewußtsein der Geschichte lebendig, die daran gebaut hat.
+
+Auch empfindet er nun, daß es etwas anderes ist, ob der Antistes
+von Zürich durch die Straßen geht, oder ob sein Großvater von Höngg
+zu einer Besorgung herein kommt; und als er erst einmal in der
+Wasserkirche gewesen ist, wo die alte Bibliothek der Stadt in zwei
+Galerien eingebaut steht und mit den alten Ölbildern an den Wänden
+gleichsam das Uhrwerk ihrer geistigen Geschichte darstellt, wird der
+stille Saal für ihn ein Raum mancher heimlichen Feier. Von hier aus
+beginnt er mit Stolz nach den Männern zu sehen, die zum Ruhm und
+Vorbild der Bürgerschaft leben, und wenn er nun den greisen Bodmer
+daherkommen sieht, fühlt er: es ist mehr als ein Professor der
+helvetischen Geschichte, es ist der Geist dieser tapferen Geschichte
+selber, der unter seinen buschigen Augenbrauen in die Gegenwart blitzt.
+
+
+ 16.
+
+In dieser Zeit fängt Heinrich Pestalozzi auch an, Kameraden zu
+bekommen; er ist den Wunderlichkeiten des alten Babeli entwachsen,
+und so sehr die Gute schilt, wenn seine Kleider bei einer unnützen
+Kletterei an der Stadtmauer oder sonst Schaden genommen haben: er ist
+zu lange in ihrer Stubenhaft gewesen, um nicht mit Ausgelassenheit
+die Freiheit solcher Streifereien zu genießen. Sogar reiten lernt er,
+als wieder einmal der Vetter Weber aus Leipzig für einige Zeit in
+Zürich auf Geschäften ist und ihm eins von seinen Rossen leiht. Es
+geht ihm immer noch wie damals bei dem Großvater in der Kalesche, er
+kann nicht mit dem Gaul übereinkommen, hält sich an den Zügeln fest,
+als ob es Rettungsseile wären, und macht das arme Tier einmal am
+Hottinger Pörtchen so wild, daß es auf der Holzbrücke anfängt, Männchen
+zu machen, und ihn beinahe über das Geländer in den Stadtgraben
+hinunter wirft. Schon läuft der Torwächter erschrocken hinzu, und die
+Spaziergänger flüchten sich; irgendwie aber bleibt er doch noch im
+Sattel hängen, das Pferd zieht es vor, den Stall zu suchen, und er
+widerstrebt ihm nicht, obwohl er dabei seine Mütze verliert und nicht
+gerade eine Reiterfigur macht.
+
+Schlimmer geht es ihm jenes Mal, als er an einem Sonntagnachmittag mit
+einigen Kameraden in einem Weidling nach Wollishofen hinausgerudert
+ist und nachher wieder heim will. Sie sind nach Knabenart laut
+gewesen, haben Schweizerlieder gesungen und in dem schwanken Schiff
+ihre Katzbalgereien gehabt, als ob ihnen garnichts Schlimmes begegnen
+könnte. Beim Einsteigen aber, als sie noch mitten im Gelächter sind,
+kommt er mit dem einen Fuß nicht vom Landungssteg los, während er den
+anderen schon auf den Rand gesetzt hat. Durch den Ruck weicht das
+Schiff unter ihm fort, bis seine Beine zu kurz für die Spannung sind
+und er kopfüber in den See kippt. Er kann nicht schwimmen; das Wasser
+ist ihm immer unvertraut gewesen, und nur dadurch, daß die andern ihm
+schnell das Ruder hinhalten, als er mit zappelnden Armen hoch kommt,
+ertrinkt er nicht. Sie schleppen ihn daran wie einen gefangenen Fisch
+gegen das Ufer zurück, wo sie ihn diesmal mit größerer Vorsicht ins
+Boot holen wollen. Er mag aber nicht mehr, verschlägt sich unter
+den Scherzen der andern seitwärts an eine durch Büsche geschützte
+Uferstelle und trocknet da seine Kleider in der Sonne. Das dauert
+einige Stunden, während die andern wieder ihre Tollheiten in dem
+Kahn machen und ihn schließlich, seine Feigheit verhöhnend, im Stich
+lassen. Daß seine Kleider naß geworden sind, macht ihm nichts aus bei
+der Sonne; auch ist er so rasch wieder oben gewesen, daß er gleich mit
+den andern dazu gelacht hat: nun er aber allein so am Wasser sitzt,
+das auf eine gierige Art ans Ufer schwappt, fängt das Erlebnis an, ihn
+schwermütig zu machen. Er hat, als er untersank, für einen Augenblick
+die Augen der Mutter dicht vor den seinen gesehen, und den Großvater
+dahinter, wie er ihm die Hand auf die Schultern legte: nun hört er das
+übermütige Geschrei der Knaben vom See und kann nicht begreifen, daß
+er selber dabei war. Es wäre nichts als ein unnützer Knabe gewesen,
+den das Wasser an ihm verschluckt hätte; weil aber nichts so heftig in
+seiner Seele aufbegehrt als der Ehrgeiz, sich selber wert zu halten
+und es den großen Männern seiner Stadt einmal gleich zu tun, werden
+für Heinrich Pestalozzi die beiden Nachmittagsstunden, während er am
+See bei Wollishofen in der Sonne sitzt, zu einem Selbstgericht, wo ein
+beschämter Jüngling die Kleider halbtrocken wieder anzieht, die sich
+der Knabe naß vom Leib gerissen hat.
+
+Stärker als damals in Höngg vor der Tür des Ernst Luginbühl ist das
+Gefühl eines eitlen und selbstgefälligen Daseins in ihm. Mit all seinem
+Selbstbewußtsein, mit seinen Vergangenheitsträumen und spintisierten
+Taten ist er doch nur ein Schüler, nach dem niemand fragt, als die,
+denen er mit seinen Großsprechereien zuleide ist. Seine Auflehnung
+gegen die Ungerechtigkeit der Lehrer, wenn der Kantor betrunken in
+die Singstunde kommt oder der Provisor Weber -- der selbe, der sich
+einmal eine Laus vom Kopfe nahm und ihm auf dem Papier zerknickte
+-- dem Ludwig Hirzel vom Schneeberg ein paar Fehler übersieht, weil
+dessen Eltern ihm eine Metzgeten ins Haus geschickt haben; sein ganzes
+Weltverbesserertum setzt er nun gegen die Unfähigkeit, mit sechzehn
+Jahren sich selber und seine Kleider in Ordnung zu halten oder einen
+Heller zu haben, den er seiner Mutter nicht abgebettelt hat, als ob die
+ganze Schöpfung nur da wäre, einem Schulknaben nach seinen Einfällen
+und Sinnen gefällig zu sein.
+
+Freilich, als er dann sucht, wie er seine unnützen Beine unter
+dem Tisch der Mutter fortbringen könne, findet er nichts als die
+Kaufmannschaft, dahinein sie schon im Frühjahr nicht ohne Tränen den
+Johann Baptista getan hat. Ihr zuliebe muß er die Schule durchhalten;
+so ist es unvermutet doch wieder der Zirkel solcher unnützen
+Schülerschaft, darin er seine Jugend gebunden sieht. Trotzdem, als er
+im späten Nachmittag allein gegen Zürich geht, fröstelnd von den nicht
+völlig trockenen Kleidern, ist es ihm, als ginge er nun wirklich in den
+großen Schritten des Vaters, die er als kleiner Knabe so gern versucht
+hat. Er mochte sich kein Gelöbnis geben, und auch diesmal sind die
+Kreise seiner Gedanken gleich dem Ringelspiel um die Steine verlaufen,
+die er draußen in den See warf: doch geht eine Sicherheit mit ihm, als
+läge sein unnützes Knabentum noch mit den Kleidern auf einem Häufchen
+im warmen Uferschilf. Weil aber doch für einen Augenblick der Tod an
+seine Natur gerührt hat, ist die heimliche Lust des Lebens in ihm, die
+-- wie er danach noch tiefer erfahren soll -- durch nichts so sehr als
+durch das Grauen des Todes angeregt wird.
+
+
+ 17.
+
+Heinrich Pestalozzi ist im Januar siebzehnjährig geworden, als er zum
+Frühjahr ins Collegium Carolinum eintritt. Er weiß, daß er für keinen
+schlechten Kopf gilt, wenngleich er bis zuletzt als ein unordentlicher
+und zerstreuter Schüler gescholten worden ist: nun liegt die Zeit der
+Abrichtung hinter ihm, und er steht als Student zu Hause wie vor den
+Mitbürgern mit dem Stolz da, endlich auf die Wissenschaften selber zu
+zielen. Wo Bodmer helvetische Geschichte lehrt und Breitinger außer den
+alten Sprachen Philosophie, da hat die Schulmeisterei ihr Ende; das
+sind Männer, um die er Zürich von halb Europa beneidet weiß, und zu
+denen weither die Berühmtheiten angereist kommen. Namentlich Bodmer
+mit seiner vaterländischen Begeisterung, der auch als Mitglied des
+großen Rates in Zürich selber in die Regierung eingreift, ist das Ziel
+seiner Verehrung. Der ist damals noch nicht der schrullenhafte Greis,
+trotz seiner fünfundsechzig Jahre behend und rasch mit der trefflichen
+Rede. Unter seinen Zuhörern zu sitzen, bedeutet für Heinrich
+Pestalozzi, in die geistige Gemeinschaft seiner Stadt eingetreten zu
+sein; und als es ihm zum erstenmal gelingt, einige Worte mit ihm zu
+sprechen, erzählt er nachher der Mutter und dem Bärbel glückselig von
+der Begegnung. Die Mutter, wie immer, hört mit leiser Trauer zu; das
+Bärbel aber, das nun schon vierzehnjährig mit seinen Italieneraugen ein
+zärtliches Kind vorstellt, ist stolz auf den großen Bruder.
+
+Heinrich Pestalozzi spürt seit dem ersten Tage, daß ihm die
+Zeitumstände einen günstigen Wind in sein Studium bringen; tagtäglich
+kann er neue Segel aufziehen, und wenn er sein Lebensschiff in dieser
+ersten Studentenzeit aufmalen könnte, wäre es von der Mastspitze bis
+zum Steuer bewimpelt.
+
+Aus Frankreich ist die Nachricht von einem Buch gekommen, das einen
+Schweizer, den Genfer Uhrmacherssohn Jean Jacques Rousseau, zum
+Verfasser hat und im Auftrag des Parlaments in Paris vom Henker
+zerrissen und verbrannt worden ist; auch der Magistrat in Genf hat
+das Buch verdammt, und so gibt es wenige, die seinen Inhalt wirklich
+kennen. Aber als ob aus den Flammen des Henkers Funken fortgeweht
+wären, nistet sich der Brand allerorten ein, sodaß die Wirkung des
+»Emil« -- wie das Buch heißt -- ihm in hitzigen Gesprächen vorausläuft,
+besonders da, wo die übrigen Schriften des welschen Schweizers seine
+Naturreligion schon verbreitet haben. Heinrich Pestalozzi kann nicht
+daran denken, so bald ein Exemplar dieses Buches zu erhalten, wohl aber
+bekommt er seine Wirkung zu spüren. Er war eben aus der Lateinschule
+gekommen, da haben die neun Schweizer, durch Iselin in Basel gerufen,
+ihre Freundschaftsfahrt nach Schinznach gemacht, die helvetische
+Gesellschaft zu gründen. Auch ein Zürcher, Hans Kaspar Hirzel, ist
+dabei gewesen, und obwohl die Gestrengen Herren im nächsten Jahr die
+Teilnahme an den Verhandlungen in Schinznach als staatsgefährlich
+verboten haben, weiß er wohl, daß ihrer sieben heimlich dort gewesen
+sind; und er entsinnt sich noch, mit welchen Augen selbst die Knaben in
+der Schule davon sprachen, als ob Schinznach ein neues Rütli für die
+Eidgenossenschaft wäre gegen den gewalttätigen Herrschaftsgeist der
+einzelnen Kantone. Und nun kommt der Tag, wo der alte Bodmer das Licht
+öffentlich aufsteckt, das bis dahin nur mit Tüchern verhüllt heimlich
+von Haus zu Haus getragen worden ist; wo er als der einzige in Zürich,
+der die Geltung und den Freimut zugleich besitzt, dergleichen zu wagen,
+die helvetische Gesellschaft zur Gerwe einrichtet.
+
+Als Heinrich Pestalozzi sich mit andern Studenten vor den Anschlag
+drängt, der den Arbeitsplan der Gesellschaft kundgibt, kommt zufällig
+Bodmer mit zwei jungen Männern daher, die schon die Kleidung
+der zukünftigen Geistlichkeit tragen und aus Respekt vor dem
+Professor, obwohl er freundschaftlich mit ihnen spricht, die Hüte
+in der Hand halten. Die beiden sind ziemlich allen bekannt als die
+Predigtamtskandidaten Bluntschli und Lavater, die dem alten Herrn
+eifrig zu Diensten und auch bei der Gründung der neuen Gesellschaft
+seine Handlanger sind. Sie verziehen keine Miene ihrer feierlichen
+Gesichter, als sie vorübergehen; Bodmer aber bleibt seiner scherzhaften
+Laune folgend stehen, und weil er zufällig an Heinrich Pestalozzi
+gerät, tippt er ihm mit dem Zeigefinger leicht auf die Brust: ob er
+Lust zur Mitarbeit habe? Die Frage scheint nicht weiter gemeint, der
+alte Herr wartet auch gar keine Antwort ab und geht mit den schwarzen
+Pagen zur Münstertreppe hinunter: aber darum hat er ihm doch mit dem
+Finger ans Herz gerührt. Er wäre auch sonst glücklich gewesen, mit
+bei dieser Sache zu sein, die aus seinen glühenden Wünschen gemacht
+scheint; nun aber sind seinem Ehrgeiz Hoffnungen geweckt, die er sich
+selber wie eine Fahne aufrollt.
+
+Der schwarze Pestaluz wird Tambour! höhnt ein Bürgersohn, den die
+Bevorzugung ärgert, und die andern lachen dazu, als ob sie ihn schon
+trommeln hören; er aber ist viel zu erregt, darauf zu achten, und noch
+als er zu Hause die Treppe hinaufgeht, spürt er die Stelle, wo ihm der
+Bodmer genau auf das Herz getippt hat.
+
+
+ 18.
+
+Die Gesellschaft heißt zur Gerwe, weil ihre Versammlungen im Zunfthaus
+der Gerber abgehalten werden, das unterhalb des Rathauses über die
+Limmat hinaus gebaut ist. Als Heinrich Pestalozzi zum erstenmal
+hinkommt, ist noch niemand da, weil seine Ungeduld sich verfrüht
+hat; so wird er von einigen Männern, die nach ihm eintreten, um eine
+Auskunft angesprochen und gerät dadurch gleich anfangs in die Stellung
+eines Vertrauten, der mehr von dieser Sache weiß, um so mehr als Bodmer
+nachher der Versammlung scherzhaft ankündigt, daß sie es einmal mit
+der umgedrehten Welt versuchen und der Jugend das Wort lassen wollten,
+indessen sie, die Alten, diesmal nur das Parterre im Theater wären.
+Es mögen an die hundert Personen in dem getäfelten Saal sein, wie
+Heinrich Pestalozzi an der Begrüßung merkt, zumeist Schüler Bodmers,
+der seit vierzig Jahren vaterländische Geschichte in Zürich liest und
+schon der Lehrer einiger Graubärte gewesen ist, die nun als begeisterte
+Eidgenossen in seine Studiengesellschaft eintreten. Den ersten Vortrag
+hält der Kandidat Bluntschli; er liest ihn mit einer Stimme, die
+beinern vor Erregung ist, und das Papier zittert ihm so in den Händen,
+daß ein Blatt mitten durch reißt. Auch seine Worte sind so, sie handeln
+von den Grundsätzen der politischen Glückseligkeit, und wie Heinrich
+Pestalozzi den blassen, schon durch die Schwindsucht gezeichneten
+Menschen von den politischen Einrichtungen Zwinglis sprechen hört,
+glaubt er den Reformator fast selber zu sehen, so erfüllt ist dieser
+Kandidat von der unbeugsamen Sittlichkeit seiner Gedanken.
+
+Nachher gibt es eine Aussprache, und nun spürt Heinrich Pestalozzi,
+daß dies mehr sein soll und ist, als eine Studiengesellschaft der
+vaterländischen Geschichte. Einer der Männer, die ihn zu Anfang
+angesprochen haben, nimmt auch das Wort, und es ist schon ein Zeichen
+selbständiger Gesinnung, wie er mit seinem braunen Vollbart gegen die
+rasierten Gesichter der modischen Herren steht. Er bringt die Rede auf
+den Landvogt Grebel in Grüningen, der in seiner sechsjährigen Amtszeit
+mehr ein Räuber als eine Obrigkeit im Sinne Zwinglis gewesen sei und
+nur deshalb seinen Raub trotz aller Klagen des Landvolks behalten
+könne, weil er der Eidam des Bürgermeisters wäre. Obwohl der alte
+Bodmer sichtlich erschrocken die harten Worte mit erhobenen Händen
+abwehrt, muß er sie wieder sinken lassen; denn aus der Versammlung
+bricht die Empörung über die allbekannten Greuel des leichtfertigen und
+bösen Mannes in solchen Zurufen aus, als ob sie sich alle nur deshalb
+in der Gerwe vereinigt hätten. Bodmer weiß zwar die Erregung mit klugem
+Bedacht wieder auf eine Aussprache zurückzulenken, aber die Worte, die
+nun kommen, sind anders, als die vorher waren: als ob sie auf einem
+Wasser hingerissen würden, so vergeht der einzelne Schall, aber die
+stark strömende Flut der Erregung bleibt.
+
+Heinrich Pestalozzi fühlt sich aus seinem jünglinghaften Träumerdasein
+mitten ins Leben versetzt; er könnte die Worte des bärtigen Mannes aus
+dem Gedächtnis sagen, so sind es Hammerschläge auf sein Herz gewesen,
+und als es zum Schluß noch ein erregtes Zwiegespräch mit dem Bluntschli
+gibt, steht er im Rausch dabei: Der Kandidat ist mit der Anwendung
+seiner Grundsätze nicht einverstanden; weil er aber nur abzulesen,
+nicht frei zu sprechen vermag, hat er dem braunen Mann vor der
+Versammlung nicht entgegnen können; nun, wo die meisten, auch Bodmer,
+schon gegangen sind, gerät sein zu lange verhaltener Widerspruch in
+Zorn, sodaß es fast einen Streit gibt. Der andere aber, der vorher so
+scharf gewesen ist, weiß nun den Humor des Älteren herauszukehren,
+sodaß sie zuletzt noch friedlich mit einander auf die Gasse kommen.
+Heinrich Pestalozzi hätte längst heim gemußt, er kann sich aber nicht
+von den andern lösen, solange derartige Dinge in den Worten sind; so
+geht er treulich noch am nächtlichen Limmatufer mit den andern hinauf
+und befindet sich, als es unvermutet eine Abschiedsecke gibt, zu seiner
+eigenen Verwunderung mit dem Kandidaten allein.
+
+Der in seiner gereizten Stimmung ist augenscheinlich froh, noch einen
+Zuhörer für seine zornigen Gedanken zu haben. Vielemal läuft er mit ihm
+disputierend am Wasser auf und ab, auf dem der Mond sein Silberlicht in
+einen ruhelosen Abgrund schüttet: Er habe die Grundlage der sittlichen
+Bürgerordnung, nicht den Aufruhr stipulieren wollen, sagt der Kandidat,
+und obwohl Heinrich Pestalozzi seine Freude an dem braunbärtigen Manne
+gehabt hat, folgt er dem Aufgeregten in seine Welt. Es tut ihm wohl,
+von dem Älteren so gewürdigt zu werden, und als er endlich allein --
+vom Nachtwächter verscheucht -- zum Roten Gatter hinaufgeht, geben
+die einstürmenden Erinnerungen aus der Stadtgeschichte nur noch die
+Begleitung zu seiner fast trunkenen Melodie, daß er nun mit beiden
+Füßen in das Gemeinleben der Stadt eingetreten sei und daß er an dem
+Kandidaten einen Bekannten gewonnen habe, von dessen entschiedenen
+Meinungen er sich manches für seine eigene Zukunft erhoffen dürfe.
+
+
+ 19.
+
+In der Folge sorgt Heinrich Pestalozzi, daß ihn der Bluntschli nicht
+wieder aus den Augen verliert. Er weiß, wie der unbemittelte Sohn
+eines Steinmetzen es gleich ihm nicht leicht hat zwischen den reichen
+Bürgersöhnen, aber um seines Fleißes und der jungmännlichen Strenge
+willen mit besonderen Hoffnungen betrachtet wird. Wen der Bluntschli
+von den Studenten seines Umgangs würdigt, der ist damit schon etwas
+Besonderes; obwohl er den unfröhlichen Menschen bisher nicht günstig
+angesehen hat, überläßt sich Heinrich Pestalozzi nun willig seiner
+Führung, weil sein Ehrgeiz in dieser Gefolgschaft schneller einen Weg
+in die Lebensdinge zu finden hofft, als auf dem Umweg der Schule.
+
+Es dauert auch nicht lange, so darf er ihn besuchen im Zunfthaus zu
+den Zimmerleuten, wo sein Vater Stubenverwalter ist. Er spürt wohl,
+daß der Bluntschli einen herrschsüchtigen Hang hat und seinen Freunden
+strengere Pflichten auferlegt, als es einem Lehrer gestattet würde;
+aber weil er selber in einen fanatischen Lerneifer geraten ist, sodaß
+er nicht essen kann, ohne daß noch ein Buch neben dem Teller liegt, ist
+ihm die Strenge recht.
+
+Eines Tages kommt es zu einem Spaziergang, durch Sihlport hinaus
+gegen den Uto. Er muß sich einen Tadel gefallen lassen, weil er dem
+Bluntschli zu hastig mit den Armen schlenkernd dahinläuft; als sie
+dann gegen den Waldrand hinauf wollen, merkt er freilich, daß es
+nicht nur die Sorge um seine Würde ist, die den andern so gemessen
+schreiten läßt: der Atem wird ihm bald zu kurz, sodaß sie den steilen
+Weg verlassen und einem Pfad links unter der Manegg her folgen. Wo
+die Büsche den Blick frei lassen, geht er über die schattige Rinne
+des Sihltals und den dunklen Waldrücken bei Wollishofen in das
+blaue Himmelsbecken des Zürichsees, darin Wolken und Bergfernen ihr
+schimmerndes Licht mischen: so erstaunt Heinrich Pestalozzi nicht,
+als sie in einer grünen Wiesenbucht einen Maler emsig dabei finden,
+die Linien und Farben dieser Ansicht auf ein Papier zu bringen. Ein
+Genosse von ihm hat sich augenscheinlich als Staffage auf eine Kuppe
+davor gesetzt, und ein weißer Hund liegt artig ihm zu Füßen, als ob er
+seine Wichtigkeit im Bild fühle. So emsig der eine mit den Wasserfarben
+hantiert, so eifrig liest der andere in einem Buch; und erst als der
+Hund sich erhebt, die beiden Ankömmlinge knurrend zu stellen, schauen
+beide auf, erst der Maler, und als der gleich einen Juchzer ausstößt,
+auch der Leser.
+
+Der mit dem Buch ist Lavater, und Heinrich Pestalozzi begreift nicht,
+daß er ihn nicht beim ersten Blick erkannt hat; von dem andern weiß
+er, daß er ein Sohn des Malers Füeßli ist, gleichfalls Theologie
+studierend, aber gern mit dem Handwerkszeug seines Vaters über Land,
+und den Lehrern mit seiner freimütigen Art vielmals ein Ärgernis. Er
+hat wie meist sein Waldhorn mit, und ehe sie noch ihren Gruß sagen
+können, bläst er ihnen schon einen ländlichen Hopser ins Gesicht.
+Dem Bluntschli scheint die Begrüßung zu mißfallen; er geht an dem
+übermütigen Bläser vorbei gleich auf Lavater zu, und es sieht aus, als
+ob er ihn zur Rede stelle. Dabei hat er den Hund des Malers nicht mit
+berechnet; denn als er mit einer beschwörenden Gebärde auf den Freund
+losgeht, stellt das große Tier seinen Mann und legt ihm die Pfoten auf
+die Schultern, sodaß er statt dem Gesicht des Ungetreuen das bleckende
+Maul vor sich hat. Der Füeßli kann vor Gelächter nicht mehr blasen; er
+ruft den Hund erst zurück, als er sieht, daß der Bluntschli sich mit
+seinem blassen Zorn in Gefahr bringt.
+
+Heinrich Pestalozzi hat den Auftritt, weil der Füeßli nicht zu seiner
+Bekanntschaft gehört, wie ein überflüssiger Zuschauer erlebt; sein
+Pflichtgefühl ist bereit, sich zu dem Zornigen zu schlagen; als aber
+der Maler ihm lachend die Hand hinhält, vermag er den lustigen Augen
+nicht standzuhalten. Die andern scheinen sich unterdessen auch geeinigt
+zu haben; obwohl verstimmt, kommen sie hinzu, setzen sich auch zögernd,
+wie der mit dem Waldhorn vorschlägt, miteinander auf den trockenen
+Grasboden und betrachten sein Bild. Es zeigt erst die porzellanene
+Bergferne und vorn das waldige Sihltal wie eine dicke grüne Raupe, aber
+es ist sauber gemalt, und Heinrich Pestalozzi muß den leichtherzigen
+Menschen bewundern, der gleichwohl solches vermag. Dem Bluntschli
+scheint das Bild keiner Beachtung wert; er will wissen, was für ein
+Buch Lavater gelesen hat, und als der ihm den Titel zeigt, weist er
+es kopfschüttelnd zurück. Als ob er sich vor Pestalozzi rechtfertigen
+müsse, gibt Lavater ihm das Buch in die Hand: es ist eine Schrift von
+Winckelmann über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei
+und Bildhauerkunst. Er weiß nicht weshalb, aber er hat im Augenblick,
+da er es nahm, gehofft, es möchte der Emil von Rousseau sein; so gibt
+er das Buch enttäuscht aus der Hand.
+
+Der Maler will die Stimmung retten und schlägt vor, daß sie zusammen
+durch das Sihltal hinüber nach Wollishofen wandern und von da am Abend
+in einem Schiff zurückfahren sollten. Heinrich Pestalozzi würde das
+trotz seinem Erlebnis an dem Weidling mitgemacht haben; aber Bluntschli
+steht geärgert auf und geht ohne Gruß den gleichen Pfad zurück, es ihm
+überlassend, ob er folgen oder sich den andern anschließen will. Er
+wäre auch bei besserer Stimmung eines solchen Verrats nicht fähig, gibt
+also beiden mit einem flehenden Blick für seinen zornigen Genossen die
+Hand und springt ihm nach.
+
+Bis zur Sihlbrücke kommen sie schweigend, Bluntschli immer vorauf und
+er wie sein Pudel hinterher; dann scheint das rauschende Wildwasser
+den Groll zu lösen, und obwohl Heinrich Pestalozzi deutlich fühlt, daß
+nur die Eifersucht um Lavater den Verärgerten so sprechen läßt, horcht
+er doch seinen Worten. Die ersten hört er kaum im Lärm der Sihl, erst
+nachher versteht er, daß der Bluntschli streng und erbittert von dem
+Geist der Aufklärung spricht, von dem Heidentum, das mit der gerühmten
+modernen Bildung in die Stadt Zwinglis gekommen sei und sich da mit
+dem Tand seidener Kleider, mit komischen Erzählungen lüsterner Art,
+mit radierten Idyllen und dem armseligen Götterwerk der heidnischen
+Welt breitmache. Solange man seine Urteilskraft an wahrhaft nützlichen
+Gegenständen üben könne, sei es ein Abfall, dürre und unfruchtbare zu
+wählen: Die nötigen Kenntnisse sind allen Menschen gemein, die nicht
+allgemeinen sind unnötig!
+
+Es ist zuviel von seiner eigenen Gesinnung darin, als daß Heinrich
+Pestalozzi ihm nicht zustimmen sollte, und für eine Weile stehen die
+beiden da oben im Wald vor ihnen wie rechte Taugenichtse da; aber als
+sie von der Meisezunft her gegen die Wasserkirche über die Brücke
+gehen, lehnt bei dem Mühlrad ihr Lehrer, der weise Bodmer, und sieht in
+das glatt strömende Wasser, als ob er etwas in seinem Grund suche. Sie
+wollen ehrfürchtig grüßend an ihm vorbei; er erkennt sie aber und hält
+sie an: ob sie schon wüßten? Als sie beide den Kopf schütteln, nimmt er
+sie mit hinunter in die Gerwe und zeigt ihnen da eine Anklageschrift
+gegen den Landvogt Grebel, die in der ganzen Stadt verbreitet wäre und,
+wie er bestimmt vermute, Lavater und Füeßli zu Verfassern hätte: Wenn
+sie sich dazu bekennen müssen, sagt er und faltet das Papier wieder in
+seine Brusttasche, ist den beiden der Wellenberg sicher!
+
+
+ 20.
+
+Einige Tage später muß Heinrich Pestalozzi hinauf nach Höngg, wo seine
+Mutter mit dem Bärbel die kränkelnde Großmutter pflegt. Sie ist nun
+einundsiebzig und längst zu schwach für ihren Garten, doch hat sie
+es gern, wenn sie bei gutem Wetter hinuntergelassen und auf Stühlen
+zwischen den Beeten gebettet wird. Da liegt sie auch diesmal, als er
+um einer Laune willen unten an der Limmat hin und dann den steilen Pfad
+heraufgekommen ist. Es macht die alte Frau besorgt, daß er von dem
+raschen Anstieg seine brandigen Hitzflecken im Gesicht hat, und sie
+ruht nicht, bis er sich mit ihrer Schürze den Schweiß abtrocknen läßt.
+Nachher muß er sich auf die Steinbank setzen und ihr erzählen; da ihn
+die Vorfälle um den Vogt Grebel, die geheimnisvolle Anklageschrift und
+die zornigen Untersuchungen der Gestrengen Herren bis in den heißen
+Kopf erfüllen, spricht er ihr davon. Dann scheint es ihm freilich,
+als ob ihr einfältiger Sinn den Dingen nicht zu folgen vermöchte; sie
+streichelt nur immer eine Lilie, die sich in der linden Luft zu ihr
+neigt, und lächelt auf eine kindliche Art dazu. Als er aufsteht, die
+andern aufzusuchen, hält sie ihn fest mit ihrer welken Hand, und für
+einen Augenblick scheint ihr Greisensinn völlig verwirrt. Du mußt im
+Traum sein, Heiri, den Landvogt hat der Tell geschossen!
+
+Er findet die Mutter und das Bärbel, die er abholen soll, schon
+reisefertig im Flur. Seitdem der Tochtermann des Pfarrers, der Vikar
+Wolf, gestorben ist, führt ihm die Witwe den Haushalt; das Tantli,
+wie sie bei ihnen heißt, ist noch eine junge Person und kann es trotz
+ihrer beiden Kinder wieder allein machen, seitdem es mit der Großmutter
+bessert. Er mag aber nicht sobald wieder fort; es drängt ihn, auch
+mit dem Großvater zu sprechen; so läßt er die beiden allein gehen und
+bleibt zur Nacht. Der Großvater hat mit der zunehmenden Gebrechlichkeit
+des Alters eine Vorliebe für gelehrte Studien gefaßt und sitzt über
+seinem Liebling, dem Kirchenvater Lactantius, den er den christlichen
+Cicero nennt; er läßt sich aber diesmal gleich stören: Es geht mir
+bald wie mit meinem Schwiegervater selig, dem Chorherrn Ott und seinem
+Flavius Josephus, sagt er wehmütig lächelnd, indem er die alten Bände
+zur Seite legt. Heinrich Pestalozzi weiß, wie merkwürdig die Weisheit
+dieses Juden aus der Zeit Christi an dem Zürcher Baum der Erkenntnis
+seines Urgroßvaters gehangen hat, und wie der alte Chorherr daran zum
+Narren geworden ist; aber angefüllt von den Dingen der Gegenwart vermag
+er nicht mit dem Großvater zu lächeln und sagt ihm das seltsame Wort
+aus dem Garten, das einen Dammbruch in seine Gefühle gerissen hat. Der
+alte Herr wird im Augenblick ernst und nimmt ihn hastig an der Schulter
+hinaus, als ob dergleichen in seiner Amtsstube nicht gesprochen werden
+dürfe.
+
+Sie machen danach miteinander einen Gang ins Dorf, wo der Pfarrer dem
+Schulmeister eine Weisung zu geben hat. Heinrich Pestalozzi sieht von
+weitem das Haus, darin er den Ernst Luginbühl an den Webstuhl genötigt
+weiß, und das schmerzhafte Erlebnis mit dem Testament der Mutter, das
+er seitdem tiefunterst im Schrank verwahrt, gibt seinen strömenden
+Worten einen bitteren Beiklang. Der Großvater läßt ihn schweigend sein
+übervolles Herz ausschütten und tadelt ihn nur, als er sich allzu
+heftig zum Richter aufwirft. In seiner Kammer aber findet er an diesem
+Abend -- vom Großvater heimlich hingelegt -- die Verordnungen für das
+gemeine Landvolk, die den Pfarrern von den Gestrengen Herren übergeben
+sind. Er liest darin, bis sein Kerzenlicht zu Ende ist; nachher vermag
+er nicht zu schlafen, sitzt in den Kleidern am offenen Fenster bis
+in den Morgen und sieht in die unruhige Mondnacht hinaus, darin die
+jagenden Wolken ihre schwarzen Schatten vor die silberne Scheibe
+drängen; so oft sie auch siegend daraus hervorkommt, unaufhörlich
+steigen die schwarzen Sturmvögel vom Zürichberg herauf, ihr Licht zu
+decken; nicht anders, als die Verordnungen der Züricher Stadtherren
+über den mühsamen Lebensstand des gemeinen Landvolkes kommen:
+
+Alle Ämter in Staat und Kirche, alle ehrsamen Handwerke sind dem
+Landvolk verschlossen, das mit Zehnten und Grundzinsen, mit dem Erb-
+und Leibfall, der dem Landvogt bei jedem Todesfall das beste Stück der
+Hinterlassenschaft sichert, mit Fronden und Kleidervorschriften, mit
+Handelsverboten und strengen Strafen für jedes Gelüst der Freizügigkeit
+von den Stadtbürgern wie leibeigen gehalten wird. Heinrich Pestalozzi
+hat all diese Dinge einzeln auch schon vorher gewußt, wie der Bauer
+nichts auf dem Dorf verkaufen, sondern alles auf den Zürcher Markt
+bringen muß, wo die Bürger für jede Ware den Preis festsetzen, wie
+ihm verboten ist, Geld auszuleihen, damit die Stadtherren den hohen
+Zins behalten, wie er nicht einmal sein selbstgesponnenes Tuch und
+Leinen selber färben darf: aber daß diese grausame Willkür mit allen
+Folgen des Elends ein Verrat an den alten Sagen und Briefen der
+Eidgenossenschaft ist, das hat er nicht durchgefühlt bis zu dieser
+Nacht, wo ihn das einfältige Wort der Großmutter vom Landvogt und dem
+Tell in einen Aufruhr aller Gedanken gebracht hat.
+
+
+ 21.
+
+Heinrich Pestalozzi kommt am nächsten Morgen aus Höngg zurück, als ob
+der Geist Tells in der Stadt Zürich auf ihn warte. Er findet den Kram
+der Straßen in der gleichmütigsten Geschäftigkeit, und nur am Rathaus
+drängen sich die Leute vor einem Anschlag der Gestrengen Herren: Man
+habe mißfällig vernommen, daß gewisse für die Ordnung des Staates
+zwar wichtige Nachrichten auf eine illegale Weise angezeigt worden
+wären, und wolle hiermit jedermann erinnert haben zu berichten, was
+er von der Sache wisse! Der Vorwitz der Stunde treibt ihn, sich eines
+Wortes von Bodmer zu erinnern, daß es der Charakter der Regierungen
+sei, sich selber allen Patriotismus zuzuschreiben und bei andern
+Leuten nichts als Unverstand, unreine Absichten, Wildheit und Aufruhr
+zu bemerken. Aber einige grämliche Handwerker, die dabei stehen,
+nehmen ihm den jugendlichen Vorwitz übel und hätten ihm die vorlauten
+Worte mit Schlägen heimgezahlt, wenn er nicht eilig in die Marktgasse
+hinauf entwichen wäre. Als er sich da nach den schimpfenden Verfolgern
+umsieht, aber hastig weiterläuft, hat er das Unglück, in eine offene
+Kellertreppe hinein zu fallen, wodurch er zwar ihrem Zorn entgeht, sich
+aber schmerzhaft den Knöchel vertritt. Er ist noch nicht aufgestanden,
+als schon mit einem Licht aus der Tiefe des Kellers ein Mann im
+Lederschurz herzuläuft, den er gleich als den braunbärtigen Ankläger
+aus der Gerwe erkennt. Der hilft ihm mit lustigem Spott auf, leuchtet
+ihn ab und bringt einen Napf mit Wasser, die Schramme an, der Stirn
+zu waschen, aus der ihm Blut in die Augen läuft. Es scheint nichts
+Schlimmes damit, und da er bei seiner hastigen Art Beulen und Schrammen
+gewöhnt ist, hält ihn das Gespräch mit dem handfesten Mann länger auf
+als seine Wunde. Er erfährt, daß sich Lavater und Füeßli gleich tapfer
+zu der Schrift bekannt haben und sofort ins schärfste Verhör genommen
+sind: weil sie geblasen hätten, was sie nicht brannte.
+
+Um seine Mutter nicht unnötig zu erschrecken, humpelt er zunächst
+ins Carolinum, wo ihm die allgemeine Aufregung die Mitteilung des
+Mannes bestätigt. Er kommt in der kampflustigsten Stimmung, aber
+mit schmerzendem Fuß zu Hause an, und über Nacht schwillt dieser so
+auf, daß der Doktor kommen muß. Es ist nur eine Zerrung der Sehnen,
+aber der Fuß wird eingepackt, und er liegt nun als das erste Opfer
+der Begebenheit zu Hause. Das Babeli läßt ihn ihren Grimm über den
+unnützen Fall spüren, und wenn ihm das Bärbel nicht mit schwesterlichem
+Eifer zu Diensten wäre, hätte er es hart. Sie bringt ihm ans Lager,
+was er braucht, und holt Erkundigungen über den Stand der Dinge ein:
+Es gibt zwar eine zornige Partei, die den beiden Angebern nach altem
+Brauch kurzerhand den Wellenberg verordnen möchte, aber der Kreis
+der Patrioten aus der Gerwe sammelt Unterschriften aus der ganzen
+Stadt, daß die beiden nur nach ihrem Bürgereid gehandelt hätten.
+Da der Bürgermeister Leu sich in der Sache neutral verhält, obwohl
+der beschuldigte Landvogt Grebel sein Eidam ist, auch Lavater wie
+Füeßli aus angesehener Familie sind, gelingt es Bodmer, sie vorläufig
+freizuhalten, indessen die Untersuchung nach anderen Aufrührern ihre
+verbissenen Gänge weiter wühlt.
+
+Heinrich Pestalozzi kann schon wieder vom Fenster an die Ofenbank
+humpeln, als es eines Abends gegen die Dämmerung zaghaft an die
+Stubentür klopft. Das Babeli hebt noch schnell ein Stuhlkissen auf,
+das er dem Bärbel im Scherz nachgeworfen hat, bevor es den Riegel
+aufklinkt. Herein kommt aber nur die unsichere Gestalt Lavaters, der
+den Hut schon draußen abgenommen hat und damit ein Päckchen in seiner
+Hand bedeckt. Heinrich Pestalozzi kennt ihn bisher eigentlich nur aus
+der Gerwe, wo er freilich einmal lange mit ihm gesprochen hat, und ist
+ebenso überrascht von dem Besuch, wie der andere verlegen scheint. Er
+habe erst jetzt von seinem Mißgeschick gehört, sagt er schließlich,
+als ihm Hut und Päckchen abgenötigt sind, und fängt an, vor Heinrich
+Pestalozzi auf und ab zu schreiten: seine eigene Sache stände nicht
+günstig, er wolle zwar nicht vorher fliehen, aber nach dem Urteil außer
+Landes gehen; zu Hause und vor der übrigen Verwandtschaft als einer
+dazustehen, der aus Leichtsinn seine Zukunft verspielt habe -- hier
+läuft das Babeli weinend aus der Stube -- wäre ihm unerträglich; er
+wolle sehen, ob die Welt keinen andern Platz für ihn habe! Er spricht
+noch manches, bis es völlig dunkel wird, und verhehlt auch nicht, daß
+Füeßli der treibende Wille und er nur die Feder dieser Anklageschrift
+gewesen sei, die ihn nun selber zum Angeklagten gemacht habe. Als
+das Bärbel ein Licht bringt, nimmt er seinen Hut, bevor Heinrich
+Pestalozzi weiß, was er eigentlich gewollt bat, das Päckchen läßt er
+liegen; die Schwester will es ihm nachbringen, aber er wehrt mit einer
+komischen Verdrießlichkeit ab und geht auf seine lautlose Art rasch die
+Treppe hinunter, von dem Bärbel beleuchtet.
+
+Als sie wieder zurückkommt mit dem Licht und Heinrich Pestalozzi das
+sauber verschnürte Päckchen ansieht, trägt es seinen Namen. Ungeduldig,
+nun endlich zu wissen, was der seltsame Besuch des Kandidaten für ihn
+bedeutet, reißt er den Umschlag ab, und dann steht für einen Augenblick
+sein Leben still wie eine Kerzenflamme: was er in den Händen halt, ist
+Rousseaus »Emil«.
+
+Was hast du? fragt die Schwester, als sie ihn mit dem Buch in den
+Händen so dasitzen sieht; er hält ihr den Titel hin und weiß kaum
+selber, was sein Mund spricht: Ich habe den Propheten!
+
+
+ 22.
+
+Heinrich Pestalozzi vermag nicht so fließend französisch zu lesen,
+daß er das Buch verschlingen könnte; er muß es wie einen alten
+Schriftsteller studieren, und oft genug stockt er bei einem Wort,
+dessen Sinn ihm vieldeutig oder unklar ist. Aber darum ist es doch für
+ihn, als ob er eine Feuersbrunst erlebte, wie erst nur die Flämmchen
+nach dem First hinlaufen, auf einmal Pfannen niederprasseln und endlich
+das feurige Gerippe brennender Balken in der Lohe steht, wo vorher ein
+Dach jahrhundertelang die Menschlichkeit vor den Elementen beschützt
+hat. Zeit und Raum verliert er vor dem Buch; und wenn er aus den
+Seiten aufblickt in die Stube, kann er staunend seine Mutter oder das
+Bärbel dasitzen sehen, als ob sie im Augenblick aus himmlischen Weiten
+hergeweht wären. Vieles kennt er schon, aber gerade darum ist es ihm,
+als ob in den Gesprächen Bluntschlis, in den Reden Bodmers und allen
+Verhandlungen der Gerwe nur Irrlichter gewesen wären von dem Feuer, das
+hier durch Tag und Nacht seinen Brand brennt. Mehr als dies alles aber
+ist die heimlich wachsende Erstaunung, daß die Seele seiner Jugend in
+dem Buch ihre Heimat findet; immer bis zu diesem Tag ist es gewesen,
+daß es von ihr zur Welt keinen Zugang gab: So irrend er gesucht hat,
+so lieb ihm die Mutter und das Bärbel, das Babeli und der Baptist, die
+Großeltern in Höngg und das heimelige Pfarrhaus gewesen sind, er ist
+doch in der Einsamkeit geblieben, als ob nicht schon seine Ahne vor
+mehr als zweihundert Jahren, sondern er selber erst fremd über die
+Alpen nach Zürich gekommen wäre. Auch alle Schriften, die er bis dahin
+gelesen hat, sind für ihn von dieser fremden Welt gewesen; nun aber ist
+es, als ob in diesem Buch seine Seele selber aufgebrochen wäre, sodaß
+es in der Welt ringsum nichts mehr gäbe als sie. Alles bis zu diesen
+Tagen, was er gefühlt, gewollt und getan hat, ist mit dem schmerzlichen
+Gefühl des Unrechts geschehen; zum erstenmal steht seine Natur auf und
+sieht, daß sie recht hat.
+
+Die Tage füllen sich zu Wochen, und die Wochen laufen schon in den
+zweiten Monat, daß Heinrich Pestalozzi noch immer mit dem Buch dasitzt
+und sich mit achtzehn Jahren erst eigentlich zur Welt bringen läßt.
+Unterdessen läuft draußen alles seinen Gang ab: der Landvogt Grebel
+wird schuldig gesprochen, aber Lavater und Füeßli müssen öffentlich
+Abbitte tun; sie verlassen bald miteinander Zürich, wo die Patrioten
+in der Gerwe vom Argwohn und Haß der Gestrengen Herren beaufsichtigt
+bleiben und von den Kanzeln gegen den aufrührerischen Geist der Jugend
+gepredigt wird. Im Carolinum werden die alten Schriften und die
+Kirchenväter gelesen, und in den Zünften wird mißtrauisch über die
+städtischen Rechte der Gewerke Buch geführt, das Bauernvolk bringt
+zu Wagen und zu Schiff die Erträgnisse seiner Arbeit auf den Zürcher
+Markt, und Sonntags strömen die geputzten Bürgersöhne und Mamsells
+hinaus in seine ländliche Welt, in den Gasthöfen steigen Kaufleute
+und empfindsame Reisende aus allen Ländern Europas ab, und die
+Baumwollenweberei stellt zum Nutzen Zürcher Fabrikherren einen Stuhl
+nach dem andern in den Dörfern auf, angeblichen Wohlstand verbreitend,
+die Landreiter gehen auf die Betteljagd, und an zierlichen Tischen
+werden die Idyllen Geßners gelesen: alles um ihn läuft seinen Gang
+wie zuvor, nur steht das sehnsüchtige Gefühl seiner Jugend nicht mehr
+als ein unbrauchbarer Fremdling darin. Es hat die Natur als Boden der
+Menschlichkeit gefunden, wo alles Verirrung und Falschheit ist, was dem
+inneren Gefühl um äußerlicher Vorteile willen widerstrebt, und er ist
+sicher: dies ist der einzige Schlüssel für den Menschen in die Welt.
+
+
+ 23.
+
+Heinrich Pestalozzi hat den Emil zum drittenmal gelesen und ist noch
+immer im Traum dieser Dinge, als Ende November in Höngg die Großmutter
+sanft hinwegstirbt. Sie haben sie am Mittag bei milder Sonne noch
+einmal in den Garten hinuntertragen müssen; da sind ihr mit den letzten
+verirrten Blüten die Augen zugefallen, als ob sie schliefe. Er muß
+mit dem Bärbel allein zum Begräbnis gehen, weil die Mutter selber zu
+Bett liegt. Der matte Glast der Novembersonne steht in der unbewegten
+Luft, als sie den Sarg um die Kirche auf den Acker tragen, wo die alten
+Holzkreuze auf ein neues zu warten scheinen. Das ganze Dorf ist da,
+auch die, denen es zu keinem sonntäglichen Kleid mehr reicht in ihrer
+Armut; bis an die untere Mauer stehen sie als der letzte Kriegshaufe
+lebendiger Liebe gegen den Tod. Bevor sie ihm seine Beute in das enge
+Erdloch hinunterlassen, tritt der Schulmeister vor, mit den Kindern das
+Abschiedslied ihres Lebens zu singen: Heinrich Pestalozzi ist oft mit
+dem Großvater in der Dorfschule gewesen und hat ihnen zugehört, nun
+will ihm der Gesang der Mädchen- und Knabenstimmen einstimmig vereint
+herrlicher klingen, als er jemals Menschen singen gehört hat, und die
+Erschütterung davon ist tiefer als die Trauer.
+
+Weinend kommt er in die Kirche; da vermag die kleine Halle nicht alle
+zu fassen, daß ihrer viele noch draußen horchen, wie der alte Pfarrer
+und Dekan seiner eigenen Frau die Leichenrede hält. Auch er ist welk,
+und der Kopf kämpft mit dem gebeugten Nacken, das Angesicht von der
+Erde zu heben, aber die Stimme trägt noch klar durch den Raum, als
+er der Gemeinde den Lebenslauf der Dorothea Ott vorträgt, die seit
+achtundvierzig Jahren seine Frau und seit sechsunddreißig Jahren ihre
+Pfarrerin gewesen ist. Heinrich Pestalozzi weiß nun, es ist nicht
+der liebe Gott seiner Knabenjahre, der da spricht, es ist ein Greis,
+den sie selber bald um die Kirchecke tragen; umsomehr fühlt er, wie
+ergreifend dies ist, daß ein Mensch mit seinem Leid dasteht und aus
+der Ewigkeit den Lebenslauf seiner Gefährtin ablöst, deren irdisches
+Dasein vor dem seinen vollendet ist. Aber was ihn tief erschüttert, ist
+die Erfahrung, wie alles, was er hier sieht und hört, nur ein Stück
+aus dem Buch des Genfers scheint. Wenn er von hier aus an die Stadt
+denkt, an ihre Gassen, ihren Aufwand, ihr Gezänk: glaubt er niemals
+wieder hineingehen zu können. Auf dem Dorf allein ist das menschliche
+Wesen noch auf die Einfalt der Natur gestellt; von hier aus allein kann
+deshalb der Geist natürlicher Sittlichkeit wieder gesellschaftliche
+Rechte in der Menschheit erhalten. Es ist ihm nicht anders, als ob sie
+drei: die ländliche Gemeinschaft, seine Seele und der Traum des Buches
+in dieser Stunde einen Bund schlössen gegen den verkünstelten Aufwand
+der städtischen Welt.
+
+
+ 24.
+
+Seitdem denkt Heinrich Pestalozzi wieder ernstlich daran, Pfarrer
+zu werden; das Bild des Großvaters ist von neuem sein Lebensziel
+geworden, aber nicht um den Armen ein väterlicher Freund, sondern
+dem menschlichen Wesen ein Fürsprech und Märtyrer gegen Unnatur
+und elende Versunkenheit zu sein. Er tritt mit seinen Studien, die
+ihn immer leidenschaftlicher abgesondert haben, bis das Erlebnis
+Rousseaus ihm alles andere überflüssig machte, wieder in den Kreis des
+vorgeschriebenen Unterrichts ein. Selbst das Patriotentum in der Gerwe
+scheint ihm für eine Zeit nicht mehr so wichtig, und als es im Januar
+wieder zu einer Anklage diesmal gegen den Zunftmeister Brunner kommt,
+der sich schwerer Veruntreuungen schuldig gemacht hat, bleibt er der
+Sache fremd.
+
+Er geht schon in sein neunzehntes Jahr und sieht wohl die Sorge, mit
+der die Mutter seine Unstetigkeit aufnimmt. Er wollte ihr auch den Emil
+zu lesen geben, aber sie ist nur traurig dabei geworden und hat ihm das
+Buch ungelesen wieder hingelegt. Seitdem er mehr von seinem Vater weiß,
+wie der zwar ein geschickter Wundarzt, aber ein sorgloser Haushalter
+gewesen ist, spürt er leicht eine Besorgnis in ihren stillen Augen, daß
+er von seiner Art zuviel geerbt haben möchte -- zumal von seinem Bruder
+Johann Baptista bedenkliche Nachrichten kommen -- und immer tapferer
+wird sein Entschluß, auch ihr zuliebe etwas Tüchtiges zu werden. Er
+weiß, wie schwer ihm alles in den Kopf geht, was nicht irgendwie
+sein Gefühl ergreift; doch weil er gerade das, was eine kaltblütige
+Beobachtung erfordert, als das Wichtigere geschätzt sieht, übt er sich
+täglich im Zwang zur Aufmerksamkeit. Unvermutet aber wird er durch
+einen Lehrer wieder aus der Zucht seiner strengen Entschlüsse geworfen:
+
+Im selben Frühjahr ist ein Schüler Breitingers mit Namen Steinbrüchel
+als Lehrer der Eloquenz ins Collegium gekommen, ein noch jugendlicher
+Mann, der die größte Belesenheit mit einem glänzenden Vortrag verbindet
+und bald zum Abgott der Studenten wird, dabei von schneidender
+Schärfe, wo er unklaren oder halben Dingen zu Leibe geht. Auch
+Heinrich Pestalozzi tritt bei ihm ein, und er erwartet sich für seine
+gegenwärtigen Absichten eine heilsame Kur davon. Es geht auch anfangs
+vortrefflich, solange er nichts als seinen Schüler vorstellt; aber als
+nach einem Vierteljahr die erste Bekanntschaft gesichert ist, sodaß
+auch in diesem Verhältnis das Menschliche zum Vorschein kommen kann,
+sieht er als Grundlage aller glänzenden Fähigkeiten dieses Mannes den
+Geist der Aufklärung, den er immer gehaßt hat und der ihm seit dem
+Emil als die Quelle aller Unnatur verächtlich wurde. Es ist eine Art,
+die Welt in das Einmaleins der Vernunft aufzulösen, die seiner Natur
+unmöglich ist und ihm als Vorbereitung für das Pfarramt verbrecherisch
+scheint. Das Bild eines Seelsorgers, wie es ihm vorschwebt, ist der
+Diener eines gütigen und demütigen Menschentums; dies aber dünkt ihm
+eine Sklavenherrschaft der Bildung zu sein, die auch die jungen Pfarrer
+noch von dem Volk absondert zu dem geistigen Hochmut, in dem er alles
+städtische Wesen eingezirkelt sieht: In dem Zwiespalt dieser geistigen
+Dressur zu seinem Lebensgrund zerreißen sich die tapferen Absichten
+der Selbstzucht; denn gerade die freimütige Art des Professors, seine
+Schüler zur tätigen Mitarbeit herauszufordern, bringt seine Natur
+zu Äußerungen des Widerspruchs, die dem selbstsicheren und auch
+selbstgefälligen Mann als mädchenhaft verächtlich sein müssen.
+
+So kommt es eines Tages, als Steinbrüchel über das vernünftige Denken
+in der Religion mit allem Aufwand seiner gewetzten Vernunft und
+seines spöttischen Witzes gesprochen hat und gerade dabei ist, seinen
+Triumph aus den Äußerungen der Schüler zu ernten, zu einem Frage-
+und Antwortspiel, darin der Streit von Anschauungen zu persönlicher
+Feindschaft ausartet. Heinrich Pestalozzi, der das Rüstzeug Rousseaus
+gegen Voltairesche Dialektik in Händen hat und an seine sterbende
+Großmutter denkt, wie sie die Lilie im Garten streichelt, vergißt die
+Eitelkeit des berühmten Lehrers und sagt: Wie alles Wahrnehmbare könne
+auch die Religion Gegenstand der vernünftigen Denkarbeit sein, nur
+dürfe man nie den Unterschied vergessen, der zwischen ihr selber und
+den Gedanken über sie bestände, und um Gottes willen diese Gedanken
+nicht schon für Religion halten; wie in allen Arten der Liebe, in der
+Treue, im Haß und in der Trauer habe man in ihr eine direkte Äußerung
+des Lebens -- und zwar die tiefste, da sie auf den Zusammenhang mit dem
+Geheimnis der Welt ginge -- während alles Denken nur indirekt, eine
+Hilfe des Lebens, aber nicht wie jene Dinge, das Leben selber sei!
+
+Er bringt das nicht so rasch heraus, verhaspelt sich vielmals und
+sucht mit den Armen nach dem fehlenden Wort, sodaß die andern schon
+zum Spott gestimmt sind, bevor der Professor ihn mit dem scharfen Witz
+abfertigt, daß sie ja auch hier zum Denken und nicht zum Leben seien,
+auch wenn ihm das eine schwerer zu fallen scheint als das andere! Mit
+solcher Waffe hat er es natürlich leicht, die Spottlust der Klasse über
+seinen ungeschickten Gegner herauszufordern, sodaß die Antwort Heinrich
+Pestalozzis vom Gelächter verschüttet wird. Seit diesem Tag behandelt
+Steinbrüchel ihn mit einer spöttischen Nachsicht, als ob er einen
+komischen Störenfried in seiner Klasse hätte; und da der Geist der
+Aufklärung, aus dem er sich mit den meisten seiner Schüler verständigt,
+der Stolz von Zürich ist, kommt Heinrich Pestalozzi unvermutet wieder
+in die Rolle des Heiri Wunderli von Torliken, und gerade die Klasse,
+in die er mit so tapferem Willen eingetreten ist, wird ihm zu einem
+Martyrium, darin er nun die Freude am Collegium überhaupt verliert.
+
+
+ 25.
+
+Mitten in den Entmutigungen dieser Zeit trifft Heinrich Pestalozzi ein
+merkwürdiges Ereignis: Lavater ist nach fast einjähriger Abwesenheit
+in der Stille zurückgekehrt, hat sich auch den Freunden einige Wochen
+lang nicht gezeigt und überrascht sie eines Tages mit einem Bändchen
+Schweizerlieder. Der nach seiner demütigen Abbitte aus der Vaterstadt
+entwichene Kandidat kehrt damit als ein Dichter in die Heimat zurück,
+den nun auch die Mißgünstigen nicht mehr wie einen jugendlichen
+Störenfried abtun können. Als er danach zum erstenmal wieder in die
+Gerwe kommt, von Bodmer an der Hand geführt, wird der Tag von den
+Patrioten wie ein Sieg der vaterländischen Sache gefeiert. Auch
+Heinrich Pestalozzi schüttelt dem Glücklichen die Hand, geht aber
+bald wehmütig fort; nicht, daß er dem Lavater den Triumph weniger als
+ein anderer gönnte, aber es wird ihm mitten im Kreis der Freunde, die
+sich um ihn drängen, deutlich, daß er nicht zu ihnen gehört, daß er
+nur einen jüngeren Nachzügler ihrer Generation vorstellt. Fast alle
+sind älter als er und haben ihr Studium schon beendigt, während er sich
+selber immer mehr als ein Gescheiterter vorkommt. Darin hilft ihm auch
+sein Rousseau nur zu einem trotzigen Selbstbewußtsein, das letzten
+Grundes seine Unfähigkeit zu einer bei jenen geachteten Existenz
+bestätigt.
+
+In dieser Laune begegnet er Bluntschli, der unterdessen Hauslehrer
+in Zürich geworden ist und, durch seine Verpflichtungen verspätet,
+noch zur Gerwe will. Um mit seinem frühen Weggang nicht sonderbar
+zu erscheinen, geht er einige Straßen mit ihm zurück und klagt ihm
+offenherzig seine Not. Der hört ihn schweigend an, aber als sie vor der
+Gerwe stehen, kehrt er kurzerhand um: Wenn es ihm recht wäre, könnten
+sie miteinander noch auf den Lindenhof gehen!
+
+Es ist eine unermeßliche Sternennacht da oben; obwohl der Mond noch
+nicht aufgegangen ist, scheinen die Dächer der Stadt vom Licht
+begossen, und der See leuchtet den Himmel in einer zarten Verklärung
+wider. Sie schweigen lange, bis Bluntschli spricht: Du hast mir von
+einem Menschen gesagt, der sein Leben nicht wie einen sauberen Parkweg
+vor sich sieht und darum verzweifelt ist; ich könnte dir von einem
+andern erzählen, der seine Stunden sorgfältig vorbereitet hat, nur daß
+er sie selber nicht mehr wird schlagen hören, weil ihm das Uhrwerk vom
+Rost zerfressen ist! Er hat die Hand auf seine vom Anstieg angestrengte
+Brust gelegt, als er das sagt, und danach schweigt er, sodaß Heinrich
+Pestalozzi -- der kein Wort findet, das ehrlich und zart zugleich ist,
+um eine Antwort auf dieses Bekenntnis eines Todgeweihten zu sein -- in
+einer Spannung dasteht, als müsse ihm der Kopf zerspringen. Auch der
+andere kommt nicht mehr zurecht, bis sie schweigend aus dem Schauer
+dieser Sternennacht hinunter gehen, in die dunklen Gassen und auf der
+Brücke mit dem Mühlrad nach der großen Stadt hinüber. Erst auf der
+Münsterterrasse, wo die beiden Türme sich riesenhaft in die Sterne
+einzubauen scheinen, findet die Erregung noch einmal ein Wort: Wozu
+meinst du, sagt der Bluntschli und zeigt an den Steinmauern hinauf,
+wozu meinst du, daß die dastehen? Für dich nicht und für mich nicht,
+für jeden einzelnen wären sie zu groß, und für alle sind sie auch nicht
+da; denn ich weiß hundert, denen sie gleichgültig bleiben! Aber daß
+die Menschlichkeit im Namen des Höchsten, das wir kennen, täglich in
+die Geschäfte und die Arbeit eingeläutet wird, dafür sind sie so dick
+und dauerhaft gebaut. Und daß sie uns sagen: was einer für sich selber
+Irdisches zuwege bringt, das hört mit seinem Leben auf; aber was er an
+der Menschlichkeit tut, das ist unsterblich. Du sorgst, was aus dir
+werden soll, und mir ist die Sorge bald abgenommen -- am Ende aber ist
+es wichtiger, was wir gewesen sind!
+
+Er läßt ihn danach stehen, gibt ihm nicht einmal die Hand und geht auf
+seine vorgebeugte Art davon. Heinrich Pestalozzi kommt nach Haus, als
+ob er aus dem Jenseits wiederkehre.
+
+
+ 26.
+
+Seit diesem Frühwinterabend verliert Heinrich Pestalozzi die enge
+Fühlung mit den Freunden in der Gerwe nicht mehr; es ist, als habe er
+eine Verkündigung erlebt, was zwischen ihnen Gemeinsames sei. Als sie
+zum Januar ein Wochenblatt gründen, das der Erinnerer heißt und von
+der klugen Hand Lavaters in Gemeinschaft mit Heinrich Füeßli -- einem
+Vetter des Malers, der unterdessen in London seine Künstlerlaufbahn
+begonnen hat -- geleitet wird, ist er eifrig dabei. Sie haben nun alle
+Rousseau gelesen; und wenn Bodmer sie von Anfang an lehrte, daß der
+sicherste Weg zur persönlichen Freiheit der sei, sich aller unnötigen
+Bedürfnisse zu entwöhnen, da man nur durch diese den Machthabern
+ausgeliefert, ohne Bedürfnisse aber frei wäre: so wird nun ein
+asketischer Wetteifer daraus, der über die persönliche Unabhängigkeit
+hinaus eine spartanische Vereinfachung der Sitten erzwingen will.
+Mit jugendlicher Behendigkeit wird dadurch das Ideal des sittlichen
+Lebens aus der Zeit Zwinglis und der Eidgenossen in das Kriegslager
+der Spartaner zurückverlegt; und auch Heinrich Pestalozzi überrascht
+das Babeli damit, daß er sich auf den Stubenboden bettet, nur mit
+einem Rock zugedeckt, und dies auch monatelang zu ihrer Verzweiflung
+durchhält.
+
+Unvermutet gibt die Züricher Regierung den patriotischen Jünglingen
+Gelegenheit, die spartanische Tugend zu erproben: Schon in der
+deutschen Schule ist in der Klasse von Heinrich Pestalozzi ein Sohn
+des Amtmanns Schinz zu Embrach gewesen, der -- ein Jahr älter als er
+-- jetzt mit ihm Theologie studiert und auch einer aus der Gerwe ist.
+Dessen Eltern besitzen einen Pachthof in Dättlikon, wo der Pfarrer
+Hottinger von seiner Gemeinde eher für einen Wolf im Schafspelz als
+für einen guten Hirten gehalten wird. Da ihn die Züricher Regierung
+trotz der bösesten Gerüchte weiter amtieren läßt, weil er anscheinend
+beim Antistes einen verläßlichen Fürsprecher hat, setzt der Student
+Rudolf Schinz eine Anklageschrift auf, die von dem Gerichtsvogt und dem
+Schulmeister in Dättlikon, den Gebrüdern Ernst, unterschrieben und mit
+sorgfältiger Beachtung aller Vorschriften in Zürich eingereicht wird.
+Als darauf zwei Monate lang nichts geschieht, als ob die Gestrengen
+Herren auch diese Anklage noch verschweigen wollten, findet der
+Antistes Heß an einem Maitag in seinem Kirchenstuhl einen mit Bleistift
+geschriebenen Zettel, auf dem der Oberpfarrer an seine Pflicht erinnert
+wird: Weil sonst die Steine anfangen möchten zu schreien!
+
+Dieser Lästerbrief, wie er danach in den Akten heißt, bringt die
+Gestrengen Herren mehr in Zorn als alle Amtsvergessenheit eines
+lasterhaften Pfarrers. Wer von den Patrioten fähig scheint, ihn verfaßt
+zu haben, wird peinlich ins Verhör genommen; auch Heinrich Pestalozzi
+trifft es diesmal. Seine Mutter verschließt sich traurig in die Kammer,
+als er den Weg aufs Rathaus antreten muß, und das Babeli putzt ihn
+grimmig zurecht, daß er zum wenigsten noch in der Kleidung als ein
+ordentlicher Mensch vor die Herren käme; er selber ist voll überlegener
+Verachtung. In einem öffentlichen Anschlag des Kleinen Rates sind
+dem, der den Briefschreiber verriete, zweihundert Dukaten versprochen
+worden unter Verschweigung seines Namens: Daß eine Regierung, die in
+ihren Schulen die Tugenden der Römer und Spartaner lehren läßt, sich
+so weit vergißt, hat -- wie der Bluntschli sagt -- aus dem Schwert der
+Gerechtigkeit ein Dolchmesser gemacht. So hört Heinrich Pestalozzi die
+umständlichen Vermahnungen der Herren mit verächtlichem Trotz an und
+verweigert wie die andern den verlangten Eid -- nichts von der Sache zu
+wissen -- mit der vereinbarten Begründung, daß er bereit sei, einen Eid
+für alles zu schwören, was er nach seinem Bürgergewissen zu sagen sich
+für verpflichtet halte.
+
+Gegen so viel Festigkeit der Jünglinge, die sich in die Hand gelobt
+haben, ein Beispiel spartanischer Tugend zu geben, wagen die Gestrengen
+Herren diesmal noch nicht vorzugehen: der Pfarrer Hottinger wird seines
+Amtes enthoben, die Brüder Ernst in Dättlikon als Landbürger müssen
+»übertriebener Anklägten« halber zweimal vierundzwanzig Stunden aufs
+Rathaus in Arrest, Rudolf Schinz kommt als Stadtzürcher mit einer
+Verwarnung davon.
+
+In Heinrich Pestalozzi löst das Ergebnis einen Plan aus, den er
+schon lange mit sich herumgetragen hat: Seitdem Klopstock und andere
+deutsche Dichter Zürich hoch gerühmt haben, ist es eine beliebte
+Äußerung des Heimatstolzes geworden, die Stadt an der Limmat mit Athen
+zu vergleichen. Ihm scheint der Vergleich in dem besonderen Sinn
+zu passen, daß athenischer Luxus und athenische Verweichlichung in
+der Stadt Zwinglis überhand genommen haben, und daß es not täte, sie
+auf das Beispiel Spartas zurückzuführen. Nun hat Heinrich Pestalozzi
+in der ganzen Geschichte des lakonischen Staates nichts so gerührt
+wie das Schicksal des jungen Königs Agis, der die von athenischen
+Sitten angesteckte Stadt wieder zu den Gesetzen des großen Lykurgus
+zurückführen wollte und darüber von seinen eigenen Landsleuten
+hingerichtet wurde. Lykurgus und Zwingli sind für sein Gefühl eins;
+weil aus dem spartanischen Zürich der Reformationszeit das Limmatathen
+des Dättlikoner Handels geworden ist, liegt es für ihn nahe, auch
+für Zürich einen Agis zu erwarten, und tatsächlich vermag er nicht
+an seinen Freund Bluntschli zu denken, ohne daß dieser ihm das Bild
+jenes edlen und unglücklichen Agis vorstellt. Nun sie in dem Handel
+Sieger geblieben sind, gewinnt er Mut zur Beschwörung des alten
+Heldenjünglings; aber seine Darstellung soll so deutlich auf Zürcher
+Verhältnisse zielen, als ob der spartanische Reformator noch einmal in
+die Welt gekommen wäre.
+
+So schreibt Heinrich Pestalozzi, der sein zwanzigstes Lebensjahr
+noch nicht vollendet hat und unter den Patrioten immer noch das
+Nesthäkchen ist, als Antwort auf den Dättlikonhandel seinen »Agis«
+nieder, den er dem greisen Bodmer in Handschrift überreicht, und
+den er nachher auch in der Gerwe vorlesen darf. Endlich kommt sein
+Ehrentag, und er hätte am liebsten seine Mutter, das Bärbel und das
+Babeli dabei -- den Großvater hat er gefragt, aber der hat sich
+nicht entschließen können mit seinen dreiundsiebzig Jahren -- wie
+er den jungen und alten Patrioten seiner Heimatstadt ein Bild ihrer
+schlimmen Zustände im Spiegel Spartas zeigen darf. Nicht allen sind
+seine starken Ausdrücke recht, wie er das Reislaufen für fremdes Gold,
+die Raubsucht der Reichen, die aufgeblasene Weisheit, das kriechende
+Wesen der Untertänigen und den Redner, der um Beifall spricht, mit
+dem Zeigefinger aus dem Bild herausholt; als er die Verleumdung gegen
+Agis auch die Sprache der Niedrigkeit unserer Tage nennt, stürmen die
+Jünglinge so laut mit ihrem Beifall, daß einige Ältere aufstehen und
+sich entfernen; und als er den Agis sagen läßt: Ich rede die vergessene
+Sprache der Freiheit in ein Jahrhundert hinein, das gewohnt ist, die
+ewigen Gesetze der Freiheit verletzen, Mitbürger in Sklaverei stürzen
+und das Heil des Staates vertilgen zu sehen! sind auch manche von
+den Jüngeren erschrocken, und viele Augen richten sich fragend auf
+den sonst so klugen Bodmer. Der aber, der den Schluß kennt, sieht
+unbewegt und fast spöttisch unter seinen weißen Augenbüscheln gegen das
+vertäfelte Gebälk der alten Zunftdecke. Als sich dann das Schicksal
+des spartanischen Jünglings unter hohen Worten erfüllt, kommt alles
+so, wie es der alte Herr vorausgesehen hat: mit ihrer Rührung um den
+Helden gehen sie doch wieder in das griechische Altertum ein; soweit
+sie ängstlich gewesen sind, sichtlich froh, alle harten und bösen Worte
+mit dahinein packen zu können.
+
+Aber in den Erinnerer wagt Lavater die Arbeit doch nicht zu nehmen,
+und selbst Bluntschli, der sich die Handschrift noch an dem Abend
+mitnimmt, bringt sie nach einigen Tagen, manchen Ausfall tadelnd,
+zurück. Bei den Jungen und Stürmischen aber trägt ihm die Vorlesung
+ein, daß sie seitdem auf ihn als einen Führer sehen, wie er selber beim
+Eintritt ins Collegium auf Lavater und Bluntschli gesehen hat.
+
+
+ 27.
+
+Der Beifall, den Heinrich Pestalozzi an seinem Abend in der Gerwe
+genossen hat, die Achtung selbst von denen, die bis dahin bereit
+gewesen sind, ihn um seiner Wunderlichkeit willen zu verspotten,
+die bedenklichen Gesichter der Abwägenden und das Gemunkel um seine
+rebellischen Ausfälle: bringen für ein paar Wochen einen Überschwall in
+ihm zustande, als ob er selber seiner Stadt ein Agis werden könne. In
+dieser Stimmung findet er eines Mittags, aus dem Collegium heimkehrend,
+ein Billett, das ihm jemand unbemerkt zwischen seine Bücher und Hefte
+gesteckt hat: Einer, der von seinem Vortrag gehört habe, bäte ihn
+aus einer verzweifelten Notwendigkeit um ein geheimes Gespräch; er
+möge nachmittags um fünf Uhr unauffällig durch die Stadelhofporte
+hinausgehen bis ans Zürichhorn, wo ihn dort oder schon unterwegs jemand
+ansprechen würde.
+
+Das Wetter ist dem sonderbaren Ausflug nicht günstig; schwarze
+Wolkenballen drohen ein Gewitter, und gerade, als er zur Porte hinaus
+will, prasselt ein Platzregen los mit Hagelkörnern und Donnerschlägen.
+Er wartet mit drei modischen Mamsells, die sich nicht rechtzeitig
+haben retten können und nun verdrießlich die Federn hängen lassen,
+den schlimmsten Aufruhr ab und geht dann tapfer den Wiesenpfad am
+See entlang. Unterwegs kommt die Sonne in die Nässe, und über den
+Weinbergen versucht sich ein Regenbogen. Am Zürichhorn ist niemand;
+aber als er sich schon für gefoppt hält, legt ein Weidling an, darin
+jemand mit einer Angel gesessen hat. Es ist ein Student aus dem
+Alumnat, den er von Ansehen, nicht mit Namen kennt, ein ungewöhnlich
+langer und blasser Jüngling, dem die Hosen an den Beinen kleben von
+dem Regen. Der fragt ihn nach einer scheuen Begrüßung, ob er ein
+Stück mitfahren wolle auf die Seehöhe hinaus; und erst, als sie so
+weit auf der gleißenden Wasserfläche sind, daß sie vom Ufer aus nicht
+mehr erkannt werden können, fängt er an zu sprechen: nicht scheu und
+stockend, wie Heinrich Pestalozzi erwartet, sondern rasch und fest wie
+einer, der sich die Worte vielmals überlegt hat und seiner Scheu damit
+Gewalt antut.
+
+Was er mitteilt, ist Heinrich Pestalozzi nicht unbekannt; es betrifft
+die geheimen Dinge im Alumnat, von denen im Carolinum längst
+die schändlichsten Gerüchte gehen. Aber was ihm bisher nur ein
+verächtliches Laster gewesen ist, bekommt in den Worten des Jünglings
+eine Gefährlichkeit, daran er nicht gedacht hat: auch die noch
+unbefleckt einträten, würden Opfer der allgemeinen Verführung, sodaß
+die gesundesten Landsöhne schon ein halbes Jahr nach ihrem Eintritt
+wie junge Birken wären, denen im Frühjahr der Saft abgezapft wurde. Er
+selber sei einer von denen, die sich anfangs gewehrt hätten: aber weil
+das Laster nicht mehr heimlich, sondern die allgemeine Gewohnheit im
+Alumnat sei, würde die Tapferkeit nur verhöhnt als ländliche Dummheit,
+auch vermöge sie schließlich der Lüsternheit, die doch nun einmal in
+jeder menschlichen Natur läge -- hier fühlt Heinrich Pestalozzi in der
+Erinnerung an seinen Rousseau einen feinen Stich im Herzen -- nicht
+standzuhalten: Was er von ihm verlange, sei nichts als ein Antrag auf
+Untersuchung, auch was die nächtlichen Zusammenkünfte auf dem hinteren
+Speicher beträfe, der dafür seit Jahren eingerichtet sei. Aber ihn als
+Angeber verraten dürfe er nicht, was auch käme, und er müsse ihm das
+schon in die Hand versprechen, wenn ihm eine Hand wie die seine dazu
+noch recht sei!
+
+Heinrich Pestalozzi verspricht es ihm in die Hand und läßt sich ans
+Ufer fahren, wo die Sonne aus der Regenfeuchtigkeit einen heißen Dunst
+macht. Er geht durch Binsen und Gebüsch der reisigen Stadt Zürich zu
+wie ein Bote, dem die Feinde eine eiserne Halskrause umgeschmiedet
+haben. Als er sich vor der Stadelhofporte zurückwendet, erkennt er
+den Weidling noch, wie er mit beigelegten Rudern auf dem schimmernden
+Wasserberg steht; es ist ihm nun fast sicher, daß er das häßliche
+Geheimnis bewahren muß. Aber noch am selben Abend schreibt er tapfer
+die Anzeige und gibt sie so ohne Vorsicht an der Tür des Antistes ab,
+daß er schon am andern Mittag ins Verhör genommen wird. Er steht noch
+immer in Verdacht, den Lästerbrief geschrieben zu haben, auch hat sein
+spartanisches Sittenbild die Stimmung der Chorherren gegen ihn nicht
+gebessert: so setzen sie ihm scharf zu.
+
+Es ist eine andere Luft als in der Gerwe zwischen den hitzigen Herren,
+von denen ihm jeder einzelne seine bürgerliche Zukunft mit einem
+Tintenstrich durchstreichen kann; er hält aber ihre Kreuzfragen aus und
+verweigert standhaft, einen Gewährsmann zu nennen: er habe ihm seine
+Hand darauf geben müssen, und niemand in der Welt dürfe ihn zwingen,
+wortbrüchig zu werden. Er hätte seine Hand dem sagenhaften Römer gleich
+ins Feuer stecken können, so überzeugt ist seine Gebärde, aber den
+Herren scheint der Fall zu heikel für solche Gewalt. Sie ziehen sich
+mit ihrer Unschlüssigkeit in das geheime Gemach zurück und lassen ihn
+allein zwischen den Stühlen und Schränken. Doch steht ein Fenster
+auf, und er kann hinunter sehen auf den Münsterplatz, wo gerade der
+Bluntschli mit seinen vier Zöglingen daher kommt. Um eines Übermuts
+willen laufen sie ihm fort, und der Kandidat vermag ihnen nicht zu
+folgen gegen den steilen Berg. Heinrich Pestalozzi hört ihn husten und
+sieht auch, wie ihn der Anfall würgt; er möchte ihm beispringen, aber
+während er noch den unnützen Gedanken erwägt, machen die Kinder in
+einem neuen Übermut kehrt und laufen an ihm vorbei gegen das Haus zum
+Loch hinunter. Indem Bluntschli ihnen dahin folgt, sieht er ihn mit
+seiner weltmännischen Höflichkeit eine Jungfer grüßen, die freundlich
+nickend an ihm vorübergeht. Es ist Anna Schultheß, die schöne Schwester
+ihres gemeinsamen Freundes, des Theologiestudenten, und wie er seitdem
+erfahren hat, die Tochter des braunbärtigen Mannes aus der Gerwe. Er
+weiß, daß die beiden miteinander im Gerede sind, und es macht ihn
+wehmütig, sie so lebendig gegen den Berg schreiten zu sehen, der seiner
+kranken Brust zu steil gewesen ist.
+
+Nach ihr kommen noch viele Menschen über den Platz, fremde und solche,
+die er kennt; er hat Zeit, ihnen nachzudenken, denn dreimal schlägt die
+volle Stunde am Münsterturm, bis seine Richter wiederkommen, verärgert
+und erhitzt. Sie schicken ihn nach Haus, wo er sich unter Androhung
+schwerer Strafen verhalten soll, bis sie ihn wieder rufen ließen. An
+dem Abend hört er nichts mehr von ihnen; nur seine Mutter scheint
+unterdessen eine Nachricht zu haben: sie hält sich in der Kammer
+eingeschlossen, und er weiß, daß dies ein Zeichen schwerer Kränkung
+ist. Andern Mittags wird sie statt seiner vor die Herren gerufen; sie
+bringt ihm, blaß wie der Tod, die Weisung mit, daß er sich noch am
+selben Tag zu seinem Großvater, dem Dekan in Höngg, verfügen müsse,
+dem er vorläufig für vier Wochen zur Ahndung seiner vorlauten Anzeige
+überantwortet sei. Diese Weisung steht in der Schrift, die sie ihm
+überbringt; sie selber sagt kein Wort, nimmt auch das Bärbel mit in die
+Kammer, sodaß er ohne Abschied, nur vom bitterbösen Babeli vor die Tür
+getan, den Weg antreten muß, den er nun doch in Trotz und Bitterkeit
+geht.
+
+
+ 28.
+
+Heinrich Pestalozzi findet den Großvater auch diesmal in seiner
+Studierstube; seit dem Tod der Pfarrerin ist er im Regiment des Tantli
+und sitzt fast den ganzen Tag bei seinen Kirchenvätern. Er liest die
+Weisung mehrmals durch und legt sie mit einem Lächeln beiseite, das
+Heinrich Pestalozzi an die Großmutter erinnert, nur ist es spöttischer.
+Nachher werden sie von der Magd zum Vesperbrot gerufen und müssen mit
+dem Tantli von andern Dingen sprechen. Der Großvater sagt ihr, daß
+der Neffe diesmal vier Wochen bleibe, und scheint schon nicht mehr zu
+wissen, warum; es drängt ihn augenscheinlich, wieder allein zu sein,
+und Heinrich Pestalozzi sieht ihn an dem Tag nicht mehr. Doch wie er
+am Abend frühzeitig in seine Kammer kommt, hat er ihm nach seiner
+Gewohnheit etwas auf den Tisch gelegt.
+
+Es ist auch ein Schriftstück des Antistes, aber nicht seinetwegen an
+den Dekan in Höngg gerichtet; als Heinrich Pestalozzi es gelesen hat,
+legt er seine Verweisung mitten darauf, denn auch das andere ist ein
+Stück Papier behördlicher Ungnade! In dem selben Dorf Buchs, woher
+das Babeli ist, hat der Dorfpfarrer einigen Kindern die Konfirmation
+verweigert, angeblich wegen ungenügender Kenntnisse, anscheinend aber,
+weil er mit den Eltern Streitigkeiten hatte. Darauf hat der Dekan in
+Höngg die Zurückgewiesenen ohne Umstände selber konfirmiert, und das
+Schriftstück da ist der sanfte Tadel für seine Eigenmächtigkeit. Wie
+Heinrich Pestalozzi nun an das spöttische Lächeln des Großvaters denkt,
+muß er laut lachen, sodaß er aus diesem verdrießlichen Tag doch noch
+mit Lustigkeit ins Bett kommt.
+
+Als er in der Frühe erwacht, hört er eine Sense dengeln; er besinnt
+sich gleich, daß die Kornernte angefangen hatte, als er heraufkam, und
+mit einem fröhlichen Einfall springt er aus dem Bett. Unten ist noch
+die Dumpfheit der überstandenen Nacht im Haus, aber als er den Riegel
+öffnet, strömt ihn die Morgenluft an wie ein Bad; überall krähen die
+Hähne, und aus einigen Schornsteinen drehen sich schon die blauen
+Rauchsäulen in den Himmel, der noch ohne Sonne ist, aber Hahnenruf und
+Rauch als Frühopfer der Erde in seine reine Stille verschwinden läßt.
+
+Dem ersten Bauer, dem er begegnet, heftet er sich an; es ist ein zäher
+Greis, der seine Enkelin an der Hand führt und den fröhlichen Gruß
+mit der abwartenden Miene erwidert, darin der Bauer die städtische
+Zutraulichkeit abweist. Er merkt es nicht, nimmt das Kind, das seine
+sieben Jahre zählen mag, kurzweg bei der andern Hand, und so gehen
+sie zu dritt die Straße hinunter, bis der Bauer vom Weg abklettert,
+die gedengelte Schneide mit den Fingern prüft und seinen harten
+Sensenschlag in die gelben Halme beginnt, die einen Sprung zur Flucht
+zu machen scheinen, bevor sie ihren stolzen Wuchs für immer neigen.
+Heinrich Pestalozzi steht am Grabenrand und denkt, daß sie mit dem
+Sommerwind ihr geschmeidiges Fangspiel gemacht und im Gewitter sich
+ängstlich geduckt haben, daß sie den dünnen Regen und das dicke goldige
+Sonnenlicht tranken und nun über den süßen abgeschnitten werden, immer
+ein Bündel zugleich, wie sie auch nur miteinander ihr schwankes Leben
+aufrecht halten konnten. Doch ist er nicht da für solche Gedanken, und
+er wartet auch nur ab, was das Mädchen beginnen wird, das vorläufig am
+Rain einer Sternblume die weißen Blättchen auszupft und dazu einen
+Zählreim sagt. Als er beobachtet hat, wie sie danach aus Halmen dünne
+Seile dreht und damit die einzelnen Bündel zu Garben bindet, gibt er
+sich mit daran und bleibt auch hartnäckig dabei, als der Bauer den
+Wetzstein holt und sein Tun mißtrauisch besieht. Auf die Dauer einigen
+sie sich doch, und wie gegen sieben Uhr der schmale Ackerstreifen
+niedergelegt ist und nur noch ein letztes Büschel steht, läßt ihm der
+Alte sogar die Sense, das abzuschlagen; er fährt freilich fast mit
+der scharfen Sense gegen sein Bein, aber gerade das macht den andern
+gesprächig, sodaß sie mit der warmen Morgensonne anders zurückkommen,
+als sie in der kühlen Frühe auszogen.
+
+Das Frühmahl schmeckt ihm danach besser als sonst, und er sitzt schon
+wieder in der Ungeduld dabei, was ihm der Tag nach diesem Anfang sonst
+bringen könnte. Um noch beim Melken dabei zu sein, ist es zu spät;
+doch tut er gleichwohl einen Sprung in den nächsten Stall. Da ist die
+Frau gerade dabei, die seimige Milch durch das Haarsieb zu gießen; sie
+braucht keine Hilfe, aber die hölzernen Eimer unter dem Brunnen sauber
+zu waschen, versucht er doch, bis sie über seine Narrheit lacht und ihn
+anders belehrt. Aus dem Stall geht es in die Matte, wo ein Bub noch
+saftiges Futter vor der steigenden Sonne zu bergen hat, und so fort
+durch das halbe Dorf, wo sich jeder über den närrischen Pfarrstudenten
+wundert. Als er zum Mittagessen kommt, ist er brandig rot, und am Abend
+muß ihm das Tantli einen Finger verbinden, der ihm irgendwo in ein
+Schnitzmesser geraten ist.
+
+Mit dem Großvater spricht er an diesem Tag nur ein paar Worte, da
+der in einer Dekanpflicht über Land gefahren ist; aber auch in den
+nächsten Tagen hält ihn seine ländliche Tätigkeit so weit ab von den
+Kirchenvätern des alten Herrn, daß sie sich nur beim Essen treffen; es
+scheint ihm, als ob der lächelnde Mund immer sarkastischer würde; als
+er es aber eine ganze Woche lang so fort getrieben hat und nun schon
+fast wie ein Bauernknecht aussieht -- nur daß er jetzt schon drei
+Finger verwickelt hat -- findet er abends ein Buch in seiner Kammer,
+das er längst kennt, aber bisher kaum beachtet hat: »Die Wirtschaft
+des philosophischen Bauers« oder, wie es kurzweg heißt, Der Kleinjogg.
+Es ist von dem Doktor Hirzel in Zürich geschrieben, der zu den neun
+Argonauten in Schinznach gehört und manchmal auch in die Gerwe kam.
+Tags hat er immer noch keine Zeit, aber nachts liest er es bei der
+Kerze, und bald schwört er darauf, daß es für einen echten Jünger
+Rousseaus keinen andern Beruf geben könne, als Landmann zu werden. Wenn
+er mitten aus seiner Feldarbeit heraus nach Zürich hinunter sieht und
+an den Grund denkt, der ihn hergebracht hat, an die greulichen Dinge
+im Alumnat, an die Schule und die Stadt mit dem Gezänk der Zünfte, dem
+Gewerk der dunklen Kellerlöcher und dem Geschwätz der guten Stuben:
+dann kann er mitten in seiner Freude traurig werden wie ein Narr, weil
+ihn der Gedanke an die Rückkehr schreckt.
+
+Eines Tages schreibt er wirklich dem Bluntschli einen Brief, daß er
+sein Studium aufgeben möchte, weil er doch nicht zum Pfarrer tauge und
+es auch sonst in der städtischen Unnatur nicht mehr aushalten könne,
+nachdem er einmal das wirkliche Leben eines Landmannes geschmeckt
+habe. Alles andere wäre nur ein Maulwurfsdasein, zum wenigsten könne
+er von seinem Berg die hochmütige Stadt Zürich nur ansehen wie einen
+Maulwurfshügel. Wolken und Sonne und Schnee: für den Städter wären sie
+nichts als veränderte Gelegenheiten zu gutem und schlechtem Wetter --
+und seinen Erdboden habe er gar mit Fundamenten und Straßen völlig
+getötet -- für den Landmann aber bedeuteten sie die Elemente seines
+natürlichen Daseins, sie brächten seiner Saat Regen und machten das
+Korn reif; der Wechsel der Jahreszeiten, ja der ganze Kalender wäre für
+ihn der Kreislauf eines in der Natur gegründeten Lebens. Wenn es ihm
+nicht zuwider sei, möge er schon seiner Mutter bei Gelegenheit ein Wort
+der Vorbereitung sagen, daß sie durch seinen Entschluß nicht auch ihren
+zweiten Sohn verlöre, sondern ihn erst recht gewönne.
+
+Er hat den Brief schreiben müssen, um endlich einem Menschen etwas
+von der Befriedigung seines ländlichen Daseins sagen zu können; der
+Großvater weicht allen Gesprächen darüber aus, und das Tantli, das
+aus einer ländlichen Pfarrerstochter eine Vikarsfrau geworden war und
+nun wieder einem Landpfarrer den Haushalt führt, vermag nur hellauf
+zu lachen, wenn er mit seiner Schwärmerei anfängt; aber als er am
+dritten Tag danach gerade auf einem Wagen voll Korn glücklich obenauf
+sitzt und ins Dorf gefahren kommt, steht vor dem Pfarrtor ein Wagen,
+und Bluntschli sieht kopfschüttelnd seine Einfuhr an. Nachdem er dem
+Dekan seine Aufwartung gemacht hat, die nur kurz ausfällt, gehen sie
+miteinander durch seinen ländlichen Bereich, bis Bluntschli müde wird
+und sich an einen Rain hinsetzen muß. Der hat den begeisterten Freund
+bisher reden lassen; nun weist er auf seine Hände, an denen fast alle
+Finger angeschnitten oder verwickelt sind: ob das seine besondere
+Begabung für die ländliche Arbeit sei? Und ob er nicht wisse, daß zum
+Bauerntum zuvörderst ein richtiger Bauernsitz gehöre? Wenn der Junker
+Meis im Winkel aus der gleichen Begeisterung Bauer würde, wisse er,
+wovon! Aber das alles seien Fragen, die ihn als seinen Freund nichts
+angingen; denn Freundschaft hieße nicht, daß einer dem andern praktisch
+beistände, Freundschaft sei eine Sache der Seele: Dies aber drehe sich
+alles doch nur darum, daß er ein Dasein haben möchte, wie es für seine
+Art möglichst bequem und vergnüglich wäre. Was er zu seinem Agis sagen
+würde, wenn der die Not Spartas verließe, um sich einen Meierhof zu
+suchen? Er möge doch nicht vor seinen eigenen Ideen verächtlich werden,
+was sicherlich der eigentliche Verrat der Freundschaft sei!
+
+Heinrich Pestalozzi wird ihm auf keine dieser Fragen eine Antwort
+schuldig, aber als der Freund, der es eilig hat, wieder abfährt, bleibt
+er mit einem zerbrochenen Mühlrad zurück; obwohl er noch trotzig darein
+blickt, merkt er gleich, er bringt es nicht mehr zum klappern. Und
+als ihm nach drei Tagen der Großvater einen Brief der Mutter in die
+Kammer legt, den sie an ihren Schwiegervater geschrieben hat: was es
+für Torheiten habe mit ihrem Sohn? er möge ihm die Flausen aus seinem
+Wirrkopf blasen! da fällt auch der Trotz rasch ineinander.
+
+Nachdem seine vier Wochen herum sind, läßt er sich vom Großvater die
+Weisung des Antistes als erfüllt bescheinigen und marschiert nach der
+Stadt zurück, die mit ihren Türmen und Dächern gleichmütig am See
+geblieben ist und seine Schritte wie sonst in der Niederdorfporte
+hallen läßt. Gerade, als er hindurchgeht, kommt ihm die Anna Schultheß
+entgegen, die er als Freundin seines Freundes verehrungsvoll grüßt. Daß
+sie das erste ist, was ihm in Zürich begegnet, gibt der Gedrücktheit
+seiner Gedanken einen ziemlichen Stoß, sodaß er heller bei den Seinen
+im Roten Gatter eintrifft, als er in Höngg fortgegangen ist; wobei
+freilich die Liebe seiner Mutter auch das ihre tut, als sie ihn
+herzlich weinend umfängt.
+
+
+ 29.
+
+So muß Heinrich Pestalozzi doch noch einmal ins Collegium, und es ist
+nicht leichter für ihn geworden in dieser Zwischenzeit: im Alumnat hat
+es eine böse Reinigung gegeben, und die davon betroffen sind, stehen
+nun in tückischer Feindschaft gegen ihn; auch die Lehrer übertragen
+zum Teil die Stimmung der peinlichen Enthüllung gegen ihn, und da
+seine Erscheinung durch die ländlichen Sommerwochen nicht gewonnen
+hat, finden sich Anlässe genug ihn zu verhöhnen. Das Schlimmste
+bleibt trotzdem, daß er sich in den witzigen, aufklärerischen Geist
+der Theologenschule nun gar nicht mehr zu finden weiß. Er kann es
+nicht begreifen, daß sich im Zeitalter Rousseaus der humanistische
+Bildungsdünkel noch so breitmachen kann wie in diesem Unterricht.
+Selbst die alten Schriftsteller scheinen ihm aufs gröblichste
+mißverstanden, indem das Leben aus ihren Schriften weggelassen und nur
+das Wort gelehrt und gedreht wird. Als Steinbrüchel, der schon mit
+Übersetzungen der griechischen Tragiker aufgetreten ist, im Lindauer
+Journal die erste olynthische Rede des Demosthenes abdrucken läßt als
+Stichprobe seiner Übersetzung der sämtlichen Werke des athenischen
+Redners, kann Heinrich Pestalozzi der Lust nicht widerstehen, dem
+hochmütigen Mann an einem Gegenbeispiel zu zeigen, was in diesen Reden
+mehr als humanistisch sei. Obwohl er im Griechischen ein mangelhafter
+Schüler ist, legt er im Examen ein Bruchstück der dritten olynthischen
+Rede vor, das er danach auch, gleichsam als Vorrede zu seinem Agis,
+mit diesem im Lindauer Journal abdrucken läßt. Der Beifall, den seine
+Übersetzung durch das Feuer und rednerische Talent der Sprache findet,
+ist so allgemein, daß der gelehrte Professor Steinbrüchel seine
+geplante Demosthenes-Ausgabe im Pult behält und als Übersetzer von nun
+ab peinliche Enthaltung übt.
+
+Damit ist das Studentenschicksal Heinrich Pestalozzis entschieden; aber
+ihm hat die Übersetzung unvermutet ein Tor aufgemacht, durch das er
+doch noch mitten ins Leben zu kommen hofft: Landwirt kann und Pfarrer
+mag er nicht mehr werden; aber gleich dem Demosthenes ein Fürsprech
+der Bedrängten und Volksredner der öffentlichen Dinge zu sein, das
+scheint ihm ein Beruf, den er nun sich und andern mit glühender Liebe
+ausmalt. Alles, was er von dem Leben des großen Griechen liest, wie der
+gleich ihm den Vater früh verliert und erst durch mühevolle Gewöhnung
+seine körperlichen Mängel überwindet, wie er die großen Dinge seines
+Volkes in seine Reden einbegreift und aus einem Rechtsanwalt das
+Sprachrohr der vaterländischen Gesinnung in Athen wird: in allem findet
+er Hinweise für seine durch die Ähnlichkeit des Temperaments und der
+Zeitumstände vorbestimmte Laufbahn. Auch Bluntschli billigt sie, und
+die Mutter willigt schweigend ein. Da es im Collegium Carolinum keine
+Klasse für die Rechtswissenschaft gibt, geht er nun endgültig von der
+Anstalt ab, die ihm verhaßt geworden ist. Wie er zum letztenmal die
+Steintreppe hinuntersteigt, drängt sich ein Trupp seiner Mitschüler
+hinter ihm her, ihm einen höhnischen Abschiedsgruß zu pfeifen. Er
+weiß, daß einige Lehrer gern mit dabei wären; obwohl noch nicht
+zwanzigjährig, hat er nun schon erfahren, daß diese Erlebnisse zu
+einem tätigen und ehrlichen Leben gehören; er schwenkt seinen Hut zu
+den hochmütigen Zürchersöhnen zurück, als ob sie ihm den Wert und die
+Rechtlichkeit seiner Entschließungen bestätigt hätten.
+
+Nach Hause geht er aber nicht, sondern er läuft, wie er da ist, nach
+Höngg hinauf. Bei dem Spott der Jünglinge ist ihm der Ernst Luginbühl
+eingefallen, und wie es die selben sind, die dem Weberknaben die Schule
+verleidet haben. Sogleich hat ihn aber auch die Scham gepackt, daß er
+sich selber nicht mehr um ihn kümmerte. Wohl hat er sich oft nach ihm
+erkundigt, aber zu ihm gegangen ist er nicht mehr, und nur einigemal
+Sonntags hat er ihn gesehen, wenn er, langaufgeschossen und längst mit
+blassen statt roten Backen von seiner Stubenarbeit, in die Kirche kam.
+Er kann nicht anders, er muß es gleich gut machen; aber wie er nach
+Höngg hinaufkommt, läuft er dem Großvater in den Weg, der sich noch
+etwas in der Herbstsonne ergehen will. Von dem erfährt er, daß der
+Ernst Luginbühl vor einigen Wochen nachts seinem Vater davongegangen
+sei, niemand wisse wohin: aber er würde schon überall in der Welt einen
+besseren Platz finden als an seinem Webstuhl! Glaubst du das wirklich?
+sagt Heinrich Pestalozzi und sieht mit einem seltsamen Blick in die
+wellige Hügelferne, als ob er zum erstenmal fühle, daß hinter diesen
+Bergen auch noch eine Welt ist.
+
+
+ 30.
+
+Die Nachricht von der Flucht Ernst Luginbühls hat Heinrich Pestalozzi
+auf den Gedanken einer heimlichen Pilgerfahrt gebracht: Er weiß, daß
+Rousseau seit dem Frühjahr auf der Petersinsel im Bielersee wohnt, und
+er malt sich das Abenteuer aus, dort einmal mit dem großen Mann zu
+sprechen; wenn er bis Baden eine Schiffgelegenheit nimmt, kann er den
+Weg in zwei Tagen hinter sich bringen. Die Mutter wehrt mit der Hand
+seine Worte ab, und er sieht, daß sie bis ins Herz erschrocken ist, als
+er nur im Scherz davon spricht; den Bluntschli aber fragt er einmal in
+der Gerwe auf den Kopf, was er davon hielte?
+
+Da müßtest du weit reisen, sagt der; denn Rousseau ist auf der Flucht
+nach England! Und so erfährt Heinrich Pestalozzi, was der andere
+freilich auch erst seit zwei Tagen weiß, daß die bernische Regierung
+dem Flüchtling sein Asyl auf der Petersinsel gekündigt habe. Warum ist
+er nicht nach Zürich gekommen? fragt er in der ersten Enttäuschung;
+aber nun wird Bluntschli, der eben noch gescherzt hat, bitter: Weil
+die Zeiten Zwinglis vorüber sind und wir keinen Ulrich von Hutten
+mehr brauchen können; besonders, wenn es nur ein Genfer Uhrmachersohn
+ist! Wollte der große Voltaire kommen, sie möchten den Regenten der
+Aufklärung mit vierundzwanzig Pferden einholen und er könnte bei dem
+Antistes wohnen, aber den Rousseau mit seinen Menschenrechten würden
+die Gestrengen Herren in den Wellenberg stecken!
+
+Sie haben im Eifer nicht gemerkt, daß unterdessen der mit dem braunen
+Bart -- wie Heinrich Pestalozzi nun längst weiß, der Pfleger Schultheß
+zum Pflug, der Vater Annas und ihres gemeinsamen Freundes Kaspar --
+hinter sie getreten ist: Der Wellenberg wäre das Mindeste für einen
+Mann, sagt er ernst, der seine Kinder ins Findelhaus schickt und
+ungetraut mit einem Weibsbild lebt!
+
+Der Bluntschli steht artig auf, und Heinrich Pestalozzi sieht, wie er
+todblaß geworden ist; auch ihn selber hat es ins Herz getroffen, das
+Vorbild so von ihrer strengen Tugend entblößt zu sehen. Darüber treten
+andere hinzu, die auch schon die Nachricht von Bern haben, und weil
+durch ein Mißgeschick der angesagte Vortrag ausfällt, wird Rousseau das
+erregte Abendgespräch an allen Plätzen.
+
+Heinrich Pestalozzi hat über den Sommer zuviel in den Wolken gesegelt;
+nun merkt er erstaunt, wie sehr das sogenannte Genfer Geschäft auch
+schon die Züricher erhitzt. Es heißt, daß der Rat von Genf gegen seine
+eigene Bürgerschaft -- die das Verdammungsurteil über Rousseau und
+seine Schriften nicht anerkennt und darum schon im vierten Jahr mit ihm
+streitet -- die Gesandtschaften von Zürich, Bern und Frankreich als
+Friedensrichter in dieser Sache anrufen wolle. Damit würde, wie Bodmer
+freimütig über die Tische weg sagt, sich auch Zürich zu entscheiden
+haben, wieviel Macht der Wahrheit noch über Interesse, Herrschaft und
+falsche Politik geblieben sei! Heinrich Pestalozzi vermag aber nicht,
+diese Gespräche noch weiter anzuhören; das Wort des Pflegers Schultheß
+hat ihn zu sehr getroffen. Als er den Bluntschli bald aufstehen sieht,
+folgt er ihm rasch, um mit ihm in den gleichen Gedanken eingespannt
+früher als sonst heimzugehen: Auch der Hutten soll an einer häßlichen
+Krankheit gelitten haben, sagt der andere mit leiser Stimme, als sie
+oben auf der Niederdorfgasse sind; dann sprechen sie nichts mehr, bis
+sie sich ohne Gruß und Handdruck trennen.
+
+
+ 31.
+
+Im Frühjahr sieht Heinrich Pestalozzi die Züricher Gesandtschaft
+mit ihren kostbaren Staatsperücken in einem großen Aufwand von
+Reisewagen die Fahrt nach Genf antreten: es ist gekommen, wie an
+dem Abend gesprochen wurde, die Mächte sind angerufen, den Handel
+um Rousseau zu schlichten. Er ist immer noch nicht im reinen, wie
+einer sittenlos leben und Tugend lehren könne, und dieser Zwiespalt
+verbittert ihm die Politik. Unterdessen sind nach dem Agis im Lindauer
+Journal auch im Erinnerer eine Reihe von Wünschen gedruckt, die er
+im vergangenen Jahr geschrieben hat, aber selbst seine eigene Feder
+ist ihm verdächtig geworden. Als Bluntschli seine Hauslehrerschaft
+aufgibt und nach Hütten reist, um da eine Kur gegen seine kranke Brust
+zu machen, bleibt er vereinsamt in Zürich zurück. Einmal begegnet er
+dem Alumnaten, zu dem er damals am Zürichhorn ins Schiff gestiegen
+ist; er will ihn ansprechen, aber der weicht ihm scheu aus, als ob
+er eine Schuld von ihm einzufordern hätte. Wenn Heinrich Pestalozzi
+nun an seine Anzeige denkt, fällt eine brennende Unruhe über ihn; es
+ist das einundzwanzigste Jahr seines Lebens, als er gewahr wird, daß
+in der menschlichen Natur schlimmere Feinde der guten Sitten und der
+einfältigen Menschlichkeit liegen als in allen Gewalthabern.
+
+Die Berichte der Gesandtschaft laufen ein, und jeder macht einen
+Sturm im Großen Rat, wo Bodmer unerschrocken gegen die Mehrheit der
+Gestrengen Herren auftritt. Es kommt, wie er prophezeit hat: die
+Entscheidung der Genfer zwischen Wahrheit und Interessen wird auch den
+Zürichern auferlegt; aber immer deutlicher sieht Heinrich Pestalozzi,
+daß die Bürgerschaft durchaus nicht so auf der Seite der Patrioten
+steht, wie seine spartanische Begeisterung gedacht hat. Wo ihrer
+einige zu vorwitzig auf der Gasse sind, kann es ihnen geschehen wie
+ihm damals, als er in den Keller fiel. Er ist verzagt genug, seinen
+Traum nun selber zu belächeln, diese Bürger als ein neuer Demosthenes
+zu reinen und hohen Dingen anzufeuern; es steht nicht einmal so, daß
+er wie sein Agis das Leben wagen könnte, die Zünftler würden sich mit
+einer Tracht Prügel genug tun.
+
+Unerquicklich geht ihm der Sommer und der Herbst hin, indessen er
+noch immer hartnäckig an seiner Rechtswissenschaft mit dem Studium
+alter und neuer Gesetzschriften festhält. Er sieht den Bluntschli
+aus seiner Kur in Hütten mit einer Schwärmerei für die Schönheit der
+Natur und die Einfalt des ländlichen Lebens heimgekehrt, die er nun
+wehmütig belächeln muß. An seiner Gesundheit hat der Freund nichts
+mehr zu klagen, und wenn Heinrich Pestalozzi nicht durch die Mienen
+und Gespräche besorgt gemacht würde, er könnte glauben, daß ihm die
+Kur völlige Heilung gebracht hätte, so heiter sieht er ihn. Als er
+noch einmal über Rousseau mit ihm sprechen will, schüttelt Bluntschli
+den Kopf; auch sonst scheint er den Eifer eines Patrioten verloren
+zu haben, wo sich die andern erhitzen, lächelt er, und als aus Genf
+die Nachricht kommt, daß die mit dem Rat vereinigten Gesandten den
+Bürgern eine neue Verfassung auferlegt hätten, sagt er: da könnte das
+Sechseläuten angehen! Auch in seinen Büchern liest er nicht mehr, das
+Wissenswerte stände nicht darin, pflegt er zu scherzen; obwohl Heinrich
+Pestalozzi die Unheimlichkeit hinter dem veränderten Wesen fühlt,
+vermag er sich der Heiterkeit nicht zu entziehen, darin der Freund
+Jüngling und Greis in einem geworden scheint, und so erlebt er den
+Zürcher Ausklang des Genfer Geschäftes viel weniger aufgeregt, als es
+sonst gewesen wäre.
+
+Mitte Dezember kommt die Nachricht aus Genf, daß die Bürgerschaft
+mit großer Mehrheit das Machwerk der Gesandten verworfen habe;
+gleichzeitig geht das Gerücht, nun würden Frankreich, Zürich und Bern
+Gewalt anwenden und die aufsässige Bürgerschaft mit Krieg überziehen:
+Alles um eines gedruckten Buches willen, scherzt Bluntschli, als ob
+es keine vernünftigen Anlässe mehr gäbe in der politischen Welt! Aber
+die andern Patrioten sind eifriger, und der Privatlehrer Müller, des
+Stadttrompeters Sohn, schreibt das angebliche Gespräch eines Bauern
+mit einem Stadtherrn und einem Untervogt über den Genfer Handel,
+liest es auf seiner Stube auch einigen Freunden vor und verschließt
+es dann in sein Pult. Es ist mehr witzig als aufrührerisch, und
+Heinrich Pestalozzi, der es mit angehört hat, hätte nie gedacht,
+daß sich der Zorn der Obrigkeit daran entzünden könnte. Der Müller
+aber ist unvorsichtig genug, einem seiner Schüler die Handschrift
+zu überlassen. Der macht eine Abschrift davon und gibt sie weiter,
+immer mehr Abschriften werden gemacht, und Mitte Januar flattert das
+Bauerngespräch, wie man es heißt, heimlich durch die ganze Stadt,
+überall die Erregung des Genfer Geschäfts in lustigen Spott über die
+Perücken auslösend, bis eine Abschrift den Gestrengen Herren selber vor
+Augen kommt, die sofort mit heftigen Verhören den unbekannten Verfasser
+suchen.
+
+Heinrich Pestalozzi, der sich mit Lavater besprochen hat, sucht noch
+spät abends den Müller auf, und rät ihm, sich selber zu dem Scherz
+zu bekennen, womit der Sache die Spitze abgebrochen sei; aber als er
+am nächsten Morgen nachfragt, hat der Sohn des Stadttrompeters eine
+richtigere Einsicht in seine Lage gehabt und ist über Nacht geflohen.
+Aus seinem Scherzgespräch ist eine Schandschrift und aus der Lustigkeit
+darüber ein Aufruhr geworden; ehe Heinrich Pestalozzi sich irgend einer
+Gefahr versieht, sitzt er selber auf dem Rathaus in Arrest, weil er
+dem Aufwiegler zur Flucht verholfen habe. Er wird auch drei Tage lang
+wie ein Verschwörer in strenger Haft gehalten, bis von dem Flüchtigen
+ein Brief eingelaufen ist, daß er das Bauerngespräch ohne böse Absicht
+geschrieben hätte und an der Verbreitung unschuldig wäre. Darauf
+lassen sie ihn zwar frei, aber die Untersuchung gegen den Aufruhr
+verliert nicht an Hitzigkeit: in ganzen Kompanien ziehen die getreuen
+Untertanen auf den Stadtplätzen auf, und bald wird von den Kanzeln des
+Kantons ein Urteil verlesen: daß der Verfasser der aufwieglerischen
+und höchst schandbaren Schrift aus dem geistlichen Stand removiert,
+aus der gesamten Eidgenossenschaft verbannt sei und in den Wellenberg
+geworfen werden solle, falls er betroffen würde. Die Schandschrift
+solle zugleich mit dem Lästerbrief aus dem Hottinger Handel durch den
+Henker öffentlich verbrannt werden, die Kosten für die drei Klafter
+Brennholz seien durch die Patrioten zu bezahlen, ihre Wochenschrift
+»Der Erinnerer« dürfe nicht mehr unter die Presse kommen, und sofern
+die gefährliche Gesellschaft noch etwas gegen die Obrigkeit unternähme,
+würden die schärfsten Strafen angewandt.
+
+Bluntschli hat recht gehabt: das Sechseläuten fängt an; und ob es
+Heinrich Pestalozzi selber angeht, soviel obrigkeitliche Torheit vermag
+auch er nicht mehr ernst zu nehmen; als die Schandschriften durch den
+Henker verbrannt werden, spaziert er mit einem Freund auf dem Balkon
+der Meise und macht auf einer Pfeife die Musik dazu.
+
+
+ 32.
+
+Heinrich Pestalozzi hat es gleich gefühlt, daß sein Gespött auch die
+eigenen Träume trifft. Wie in der Heiterkeit des Bluntschli, den er
+nun auch gleich den andern Freunden Menalk nennt, der bittere Ernst
+immer deutlicher wird, so ist es auch mit ihm: er trägt im Übermut
+dieser Tage das Gefühl unabweisbarer Entscheidungen in sich, die
+mit all diesen flatternden Sehnsuchten und Lebensspielereien seiner
+verzettelten Jugend aufräumen werden; daß der Demosthenes dabei sein
+wird, ist ihm sicher.
+
+Das Frühjahr will diesmal nicht kommen; immer wieder schütten die
+Wolken Schneeflocken in den Regen, und wo sich ein blaues Stück Himmel
+zeigt, blasen die kalten Winde es wieder zu. Heinrich Pestalozzi geht
+nun fast täglich nach der Zimmerleutenzunft hinunter, wo der Menalk
+meist am Fenster sitzt und in die Limmat sieht. Er ist hager geworden,
+mit tiefen, forschenden Augen und einer merkwürdigen Art, seine
+Knochenhand auf die Dinge zu legen, die er braucht. Seine Heiterkeit
+aber ist geblieben, und er spricht gern, als ob er jetzt erst den
+richtigen Abstand von seiner Mitwelt habe, die ihm sonst zu nahe und
+daher bedrückend gewesen sei.
+
+Wenn Heinrich Pestalozzi nachmittags gegen die Dämmerung kommt, trifft
+er leicht mit der Anna Schultheß zusammen, die für eine Stunde bei dem
+Freund ist. Menalk hat es nicht gern, wenn er dann stört, und so meidet
+er die Stunde. Um so lieber spricht der Kranke, der immer deutlicher
+ein Sterbender wird, von ihr, die -- um fünf Jahre älter als er --
+doch wie eine jüngere Schwester zu ihm steht. Sie hat als Mädchen noch
+die merkwürdige Zeit erlebt, wo der Dichter Klopstock ein halbes Jahr
+lang in Zürich lebte, und entsinnt sich seiner wohl, wie er auch in
+ihrem Elternhaus zum Pflug war. Da sie wohlhabend und vielgereist ist,
+dabei schön von Gesicht und Gestalt, gilt sie den jüngeren Freunden
+ihres Bruders Kaspar als eine Art Muse, und es war immer eine besondere
+Feier, wenn sie an einer ihrer Veranstaltungen teilnahm. Dabei ist
+sie seit langem Bluntschli so offensichtlich zugetan, daß sich kein
+anderer um sie zu bemühen wagt; und seitdem sie mehrmals Bewerbungen
+abwies, was bei ihrem Alter auffällig war, gilt es für ausgemacht, daß
+sie einmal Menalks Frau würde, obwohl die Eingeweihten wissen, daß ihr
+Verhältnis zu dem Kandidaten viel mehr geschwisterlich ist.
+
+Je sichtlicher die kranke Brust Menalks den letzten Kampf mit dem
+unheimlichen Feind aufnimmt, um so mehr spricht er von der Freundin;
+einmal so schwärmerisch, daß Heinrich Pestalozzi ihn erstaunt ansieht.
+Er bricht dann mitten in der Schilderung ab und sieht lange vor
+sich hin, bevor er die Augen zu ihm hebt: Wir haben zu viel Eifer in
+unsern Sitten gehabt und zu wenig Liebe! Und als ob auch das noch
+nicht richtig sei, nach einer Weile: Ich habe nun so viele Tage vor
+Gott gesessen; am Ende weiß er doch besser als wir, was vonnöten ist.
+Es ist da eine leere Stelle in mir geblieben, aber ich kann sie nicht
+mehr füllen! Er hat seine große Hand über das Herz gebreitet und
+nimmt sie auch nicht mehr fort. Als Heinrich Pestalozzi aus seiner
+Erschrockenheit aufblickt, sieht er die Spur einer Träne, die ihm über
+die hageren Backenknochen in den Mundwinkel geronnen ist.
+
+An einem Abend im Mai wird er zu ihm gerufen. Der alte Steinmetz --
+Menalk ist der zweitjüngste von neun Kindern, und die Mutter liegt seit
+drei Jahren auf dem Kirchhof -- hat ihn noch einmal aus dem Bett ans
+Fenster tragen müssen, wo er im Kissen sitzt. Als ob er die Rechnung
+mit der Bitterkeit seines frühen Todes nun fertig gemacht habe, sieht
+er ihm befreit und heiter entgegen; spricht dann lange nichts, und
+als Heinrich Pestalozzi zögernd fragt, wie er sich befinde, hört er
+nicht darauf. Endlich scheint er die vorgefaßten Worte zu finden: Ich
+gehe sterben, sagt er und sieht auf seine Hände, die nebeneinander vor
+ihm liegen: du baust zuviel Pläne; die Menschen sind nicht so, wie du
+sie glaubst. Bescheide dich in einer stillen Laufbahn, und laß dich
+auf keine weitgehenden Unternehmungen ein ohne einen Ratgeber, der
+die Menschen und die Sachen kaltblütiger nimmt als du. -- Es ist mein
+Testament, setzt er nach einigen Atemzügen hinzu, und der Schatten
+von einem wehmütigen Lächeln hängt an den Lippen, als ob er sich
+entschuldigte, daß es nur Worte wären. Als Heinrich Pestalozzi nach
+einer erschütternden Stille sprechen will, wehrt er ab: Geh jetzt, wir
+sehen uns noch!
+
+Am andern Mittag will er nach ihm sehen, da kommt ihm aus der Tür
+Anna Schultheß entgegen. Wie gehts? fragt er beklommen, weil sie die
+Tränen achtlos rinnen läßt. Sie vermag nichts zu antworten, hebt nur
+die Hände, als ob die allein noch sprechen könnten, und für einen
+Augenblick scheint es, wie wenn sie in einer Ohnmacht hinsinkend sich
+an ihm halten wolle; dann eilt sie fort. Ihre Augen, die vom Schrecken
+übergroß geweitet und glanzlos vom Weinen sind, verlassen ihn nicht,
+bis er in die Stube tritt. Da steht Lavater mit einigen Freunden; sie
+sehen schweigend auf den Sterbenden, der nicht mehr spricht, nur hastig
+atmet wie einer, der zu rasch gelaufen ist. Einmal macht er die Augen
+groß auf, doch sieht er keinen mehr in der Stube; nach langem tut er
+ein paar tiefe Atemzüge, als ob er endlich Luft genug in seine Lungen
+bekäme, dann scheint er sich erlöst zum Schlaf hinzulegen; aber es ist
+der Tod gewesen, und Lavater, der es am ersten sieht, drückt ihm mit
+behutsamen Händen die Augenlider zu.
+
+Die andern gehen danach fort; Heinrich Pestalozzi vermag es nicht, er
+fühlt, daß ihm mehr als ihnen gestorben ist. Aber als er stundenlang
+vor der Unbegreiflichkeit gesessen hat und, einer Regung folgend, dem
+Freund noch einmal die Hand geben will, ist sie schon kalt und nicht
+mehr menschlich; da fühlt er mit Grauen, daß etwas Fremdes an seiner
+Stelle liegt. Darüber kommt Lavater, dessen Umsicht dem alten Vater die
+nötigen Besorgungen abnimmt, mit zwei Frauen wieder, die den Leichnam
+waschen und für den Sarg herrichten wollen; der führt ihn hinunter und
+geht, ohne ein Wort zu sagen, mit ihm vielmals am Wasser hin und her,
+wo die Maisonne ihre Wärme in das Wasser schüttet und die Schwäne den
+Blust ihrer Federn spreizen. Als sie sich trennen, verspricht er ihm
+eine Zeichnung von dem toten Freund.
+
+Ich habe so viele Tage vor Gott gesessen! Das Wort Menalks ist in ihm
+wie ein Stein geblieben, der immer tiefer sinkt; und je mehr er den
+Freund im Unbegreiflichen fühlt, weit fort von dem Leichnam, den fremde
+Frauen wuschen, um so inniger bildet er an seiner Gestalt, wie er da
+tagelang vor der letzten Entscheidung gesessen hat. Am andern Morgen
+bringt ihm Lavater die Zeichnung; er legt sie erschrocken fort, daß ihm
+das Bildnis des Toten die Erinnerung an den Lebendigen nicht störe, und
+während das Blatt unter seinen Blättern versteckt liegt, fangen seine
+Gedanken ein Denkmal an, das mehr als diese Zeichnung sein möchte.
+
+Er soll Träger sein, aber als die Glocken zum Begräbnis läuten, steht
+er noch immer mit dem Babeli im Eifer über seiner Kleidung. Bis er
+hinunter kommt, tragen sie den Sarg schon ohne ihn die Gasse hinauf. Er
+will sich verzweifelt durchdrängen, aber die Jünglinge und Männer, die
+da mit ernsten Gesichtern in der vorgeschriebenen Ordnung schreiten,
+lassen ihn nicht hinein. Unfähig, sich den letzten anzuschließen, irrt
+er fort -- ein Überflüssiger auch hier -- und findet sich aus seiner
+Beschämung erst am Kirchhof wieder, als die ersten schon heimkehren.
+Hinter Büschen versteckt, wartet er die letzten ab und sieht den
+Totengräber beschäftigt, dem Hügel mit der Schaufel die vorgeschriebene
+Form zu geben. Er wagt nicht eher, an das Grab zu gehen, bis auch der
+Mann fort ist. Was er dann vor sich hat, ist nichts als ein Stück
+Frühlingserde, vom Gärtner frisch zubereitet, das er bald wieder
+verläßt.
+
+Obwohl er den Totengräber beobachtet hat, wie der das Tor hinter sich
+zumachte, bedenkt er nicht, daß es geschlossen sein könnte; erst
+als er hinaus will, sieht er sich gefangen. Es ist kein zu großer
+Schrecken für ihn, und er hätte schon einen Schlupf gefunden; aber
+als seine Hände noch in der ersten Überraschung die Torstäbe halten,
+sieht er den Totengräber mit einer schwarzen Jungfrau zurückkommen,
+die einen Strauß Frühlingsblumen trägt. Er weiß auf den ersten Blick,
+daß es Anna Schultheß ist, die dem Grab des Freundes zunächst einen
+Gruß bringen will. Gern möchte er sich noch verstecken, aber die
+beiden haben ihn schon gesehen; so wartet er steif an dem Tor, bis
+es geöffnet wird. Der Mann ist mißtrauisch und augenscheinlich nicht
+gewillt, ihn durchzulassen, wenn er nicht vor seiner Begleiterin in der
+lächerlichsten Verwirrung den Hut gezogen hätte; so läßt er ihn laufen,
+der aus seiner Scham weder ein Wort noch eine Miene der Erklärung
+findet und fassungslos nach der Stadt hinunterstürmt.
+
+Er fühlt die Zweideutigkeit seiner Lage sofort: die Freundin kann
+nicht anders glauben, als daß ihn der besondere Schmerz um den Menalk
+zurückgehalten habe; und soviel er in seiner Bestürzung von ihrem
+Gesicht wahrnahm, ist der Dank ihrer guten Meinung schon darin gewesen.
+Indem er fortrennt, statt ihr gleich tapfer die Umstände zu gestehen,
+hat er die Zweideutigkeit noch vermehrt; denn sie muß sich auch das
+noch auf einen Schmerz deuten, was nichts als die erbärmlichste
+Feigheit ist. So steht er am Grab des gemeinsamen Freundes in einer
+Schauspielerei vor ihr, die unaufgeklärt eine böse Lüge und aufgeklärt
+eine unerträgliche Beschämung bedeutet. Trotzdem er sich sogleich
+tapfer für die Beschämung entscheidet, liegt bis dahin die Lüge auf
+ihm; und das Gefühl davon saugt alles auf, was an selbstklägerischen
+Gedanken seiner wirren und fahrlässigen Jugend schon vorher in ihm
+gewesen ist, sodaß er an der alten Stadtmauer hin und gegen die
+Bollwerke rennt, als ob ihn diese Flucht vor sich selber retten könne.
+Als er sich ganz in das Mauerwerk verlaufen hat, wirft er sich hin, und
+niemals hat er so die Erschütterung zu weinen gespürt wie unter der
+blaßblauen Himmelsglocke dieses Frühlingstages.
+
+
+ 33.
+
+Heinrich Pestalozzi ist einundzwanzigjährig, als der Tod des
+gemeinsamen Freundes ihn der Anna Schultheß nähert und dem
+sehnsüchtigen Schwall seiner Jugend einen frühzeitigen Durchbruch
+ins Leben bringt. Seit der Begegnung an der Kirchhofstür geht sie
+schwarz gekleidet mit Frühlingsblumen durch seine Träume, und wo seine
+wachen Gedanken den Gestorbenen wehmütig bekränzen. Er hat ihr eine
+offene Darstellung seiner Irrgänge am Begräbnistag gesandt und den
+flackernden Leichtsinn seiner Jugend nicht geschont, um das Gegenbild
+des toten Freundes hell vor die Dunkelheit zu stellen, wie der sein
+Jünglingsleben streng vollendete und von der Selbstüberwindung mit
+Heiterkeit gesegnet in den Tod einging.
+
+Die Kaufmannstochter im Pflug dankte ihm kühler, als er erwartete; er
+spürt aus ihren Schriftzügen und Sätzen, um wieviel gehaltener sie
+mit ihren neunundzwanzig Jahren zum Leben steht als er mit seinen
+einundzwanzig: aber weil ihn die heftigen Winde seiner Meinungen den
+Altersgenossen voraus in die Schwierigkeiten einer eigenen Berufswahl
+getrieben haben, indessen sie noch den behüteten Gang ihrer Studien
+gehen, lockt ihn das Ältliche an ihr erst recht. Er weiß es abzupassen,
+daß er sie bald danach auf einem Spaziergang trifft, und ruht nicht,
+als sie zu Besorgungen fort muß, bis sie ihm noch eine Stunde am selben
+Abend verspricht.
+
+Noch liegt für ihn selber das Eingeständnis einer andern als
+freundschaftlichen Neigung nicht zutage; obwohl lebhaft von den
+wechselnden Begebenheiten der Vaterstadt hingenommen und in hundert
+Anlässen geschäftig, die ihn eher vorlaut erscheinen lassen, ist er
+schüchtern, und er hätte aus sich selber kaum die Entschlossenheit, sie
+in der Dämmerung auf dem Lindenhof abzuwarten, wenn er nicht durch die
+schmerzliche Gemeinschaft um den toten Freund in eine so seltsame Nähe
+zu ihr gekommen wäre. Sie wiederum mag durch Menalk viel Rühmliches
+von ihm gehört haben, auch ist sie durch ihre Brüder an Kameradschaften
+gewöhnt: aber als sie dann unter den Bäumen des Lindenhofs beieinander
+stehen -- es ist diesmal noch zu hell, als daß die Sterne schon funkeln
+könnten -- sind sie doch nur ein Menschenpaar, das, ungleich im Alter,
+den Zwang der Natur zu fühlen bekommt. Heinrich Pestalozzi spricht
+unablässig, von der Winternacht, wo er mit Bluntschli hier gestanden
+hat, von dessen bitteren Worten und ihrer gemeinsamen Beklommenheit
+nachher, auch von dem Vermächtnis des sterbenden Freundes am vorletzten
+Abend, nicht anders, als ob erst jetzt das gedämmte Gefühl einen
+Abfluß fände: aber er fühlt wohlig die innige Verbindung mit seiner
+schweigsamen Hörerin, und wieviel er dabei von sich selber in ihre
+Seele sprechen kann.
+
+Als sie sich trennen, erst leise dann dringend von ihr gemahnt, und sie
+ihm die Hand gibt, eine weitere heimliche Zusammenkunft nicht unbewegt,
+aber bestimmt ablehnend, vergißt er sich zu Tränen, sie darum zu
+bitten, und läßt in seiner Inbrunst ihre Hand nicht wieder los, bis sie
+sich selber freimacht und flüchtend von ihm fort eilt.
+
+Heinrich Pestalozzi beherrscht sich mühsam, ihr nicht zu folgen, aber
+er fühlt jeden Schritt ihrer Entfernung wie einen körperlichen Schmerz,
+und in der Frühe findet er sich, mit einem Seufzer aus sehnsüchtigen
+Morgenträumen aufgewacht, aufrecht im Bett sitzen. So sehr er sich
+selber zur Rede stellt und sich des schwärzesten Verrats an Menalk
+beschuldigt, daß er das Gedächtnis an ihn für seine eigenen Gelüste
+mißbrauche: der Drang, sie zu sehen, ist so unbezwingbar, daß er
+unablässig Möglichkeiten aussinnt. Als es ihm am ersten Tag mißlingt,
+am zweiten und dritten auch, weil sie sich offenbar der gewohnten
+Gänge enthält, vermag er es am vierten nicht mehr und geht ihr mit
+einem Vorwand ins Haus. Er weiß, daß sie in der Handlung des Vaters an
+der Ladentheke bedient, und tritt um die stille Zeit nach Mittag ein.
+Von der Ladenschelle gerufen, findet sie ihn als Kundschaft, die sie
+bedienen muß; bis sie den zornig und fast mit Tränen verlangten Zucker
+für die Haushaltung der Mutter abgewogen und ihm hingelegt hat, ist sie
+gesammelt genug, ihn ernst zu bitten, das nicht mehr zu tun!
+
+Er kann kein anderes Wort vorbringen; doch hat er sie nun
+wiedergesehen, und als er dem Babeli den heimlich erworbenen
+Zuckervorrat in die Küche geschmuggelt hat, verhehlt er sich nichts
+mehr von seiner Leidenschaft und beginnt, seine Aussichten zu prüfen:
+Sie ist wohlhabend, und er ist arm; sie trägt ihr schönes Antlitz auf
+einer wohlgebildeten Gestalt, während er als der schwarze Pestaluz um
+seiner pockennarbigen und unordentlichen Erscheinung willen in den
+Gassen verhöhnt wird; sie ist auf zahlreichen Reisen in den Formen
+des Welttons gebildet und mit Geschmack sorgfältig gekleidet, also
+auch darin sein Gegenbild: aber sie steht auch mehr als jedes andere
+Mädchen, das er kennt, mit herzlicher und kluger Kenntnis in der Welt
+seiner Jugendideale und ist durch die gemeinsame Freundschaft mit
+Menalk seinem Herzen so nah wie sonst kein Menschenkind in Zürich.
+Wenn -- wie es heißt -- Lebensgefährten einander ergänzen sollen,
+vermag er sich nichts Vollkommeneres zu denken als sie; und auch er
+hofft ihr -- so sehr er in der Gegenwart seine Mängel fühlt -- aus
+seinen Zukunftsplänen einige haltbare Wechsel bieten zu können. Ihr
+steht es frei, ihm nein zu sagen, nicht aber ihm, sie zu fragen.
+
+Um sich zu prüfen, schließt er sich vor der Schwester ein -- die Mutter
+ist in Höngg, den kranken Großvater zu pflegen -- und sagt dem Babeli,
+daß er krank wäre. Er wird auch wirklich krank in der Unruhe und Marter
+seiner Sehnsüchte und Hoffnungslosigkeiten, bis er nach hitzigen
+Fiebertagen einen Brief schreibt. Er sitzt den ganzen Tag daran, und es
+wird mehr eine Abrechnung mit sich selber, darin er auf der einen Seite
+die eigenen Mängel zu Bergen auftürmt, um auf der andern seine Neigung
+und seine Vorsätze dagegen zu stellen. Aber als er nach einer dadurch
+beruhigten Nacht den Brief noch einmal durchliest, erschrickt er selber
+über seine Maßlosigkeit und zerreißt ihn. Er beginnt dann von neuem,
+noch zweimal an dem Tag, auch diese Briefe wieder zerreißend; bis er,
+aufs tiefste entmutigt über sein Mißgeschick, den ersten Brief noch
+einmal in besonnener Form wiederholt und, um ein klares Ja oder Nein
+bittend, ihn auch endlich absendet.
+
+Sie läßt ihn zwei lange Tage und längere Nächte auf Antwort warten;
+und was sie ihm dann schreibt, ist nur eine Aufzählung der Gründe, die
+gegen ein innigeres Verhältnis sprechen, und der unverhohlene Wunsch,
+mit einem abgewiesenen Liebhaber nicht den Freund zu verlieren. Aber
+Heinrich Pestalozzi ist nun ein abgeschossener Pfeil, der sein Ziel
+treffen oder verfehlen, nicht mehr zurück kann. Er schreibt ihr wieder,
+alle Gründe, namentlich den ihres verschiedenen Alters, mit einem
+Feuerwerk edler Worte widerlegend, und bittet sie aufs neue um eine
+Unterredung -- die sie ihm zögernd gewährt. Diesmal treffen sie sich
+frühmorgens auf der Straße nach Höngg, wo die Morgenfrische ihr gegen
+seine brandige Leidenschaft hilft; doch muß sie ihm zugestehen, daß er
+ihr schreiben und sie manchmal auch sehen dürfe. Sie hält danach noch
+wochenlang an ihrer Bedingung fest, daß alles zwischen ihnen im Rahmen
+der Kameradschaft bleiben solle. Aber mit abendlichen Stelldicheins und
+morgendlichen Spaziergängen, mit langen Briefen und innigen Gesprächen
+nistet sich auch bei ihr die Liebe ein, und als der Sommer auf seiner
+Höhe ist, vermag Anna Schultheß dem Ansturm seiner Gefühle nicht
+mehr zu widerstehen. Es schreckt sie nicht mehr, daß ihre Mutter den
+schwarzen Pestaluz als einen unnützen und prahlerischen Schwarmgeist
+verabscheut und selbst ihr Bruder Kaspar ihn einen Knaben nennt,
+während der Zunftpfleger ihr zuliebe mit seinen sichtbaren Bedenken
+humoristisch zurückhält, es schreckt sie nicht einmal, daß sie selber
+an seinen Äußerlichkeiten Anstoß nimmt: sie hat in dem Schwarmgeist die
+Tiefe der Gesinnung und in dem Knaben die Weite der Seele gespürt, die
+sich freilich an allzu vielen Projekten begeistert, deren grenzenlose
+Kühnheit sie aber mit Stolz empfindet. Auch die rastlose Werbung tut
+das ihre, sie von der Unbeirrbarkeit seines Willens zu überzeugen:
+als er wieder einmal vor ihr steht mit den dunklen Augen, aus denen
+seine Seele in wahren Strahlenkränzen zu leuchten scheint, beugt sie
+ihren Stolz der Kaufmannstochter, ihre weltklugen Erwägungen und die
+Einsicht der älteren Jahre vor dem Ungestüm seiner Jugend und legt sich
+-- auf die mancher wohlhabende Geschäftsfreund ihres Vaters im stillen
+noch hofft -- mit dem Gelöbnis unverbrüchlicher Treue in die Arme des
+einundzwanzigjährigen Jünglings Heinrich Pestalozzi.
+
+
+
+
+ Mittag
+
+
+ 34.
+
+Der Drang seines frühreifen Schicksals will, daß Heinrich Pestalozzi
+das Glück heimlicher Liebesstunden nur kosten, nicht genießen darf.
+Um die Kaufmannstochter aus dem Pflug heim zu führen, kann er keinen
+Beruf gebrauchen, der ihn mit unbestimmten Hoffnungen hinhält; und
+mit den Entwürfen seiner Volksreden verbrennt er die hochmütigen
+Advokatenpläne. Irgendwo die Handgriffe der Landwirtschaft zu lernen
+und dann auf einem Gut zu üben, scheint ihm von allen Möglichkeiten die
+rascheste; nun, wo er mit der Braut auch den Berater gefunden hat, der
+durch Sachen- und Menschenkenntnis -- wie Bluntschli sagte -- seinen
+Traumsinn ergänzt, glaubt er den Schritt aus der Schulweisheit in
+das Bauerndasein wohl tun zu können, zumal Anna Schultheß ihn tapfer
+billigt. Daß es zunächst ein Bruch mit den Beglückungsplänen seiner
+Jugend ist, übersieht er nicht; aber auch hier beruhigt ihn ein Wort
+des Freundes, daß man von den schwachen und niederen Stauden keine
+Körbe voll Früchte ernten könne, der Baum müsse stark und groß sein, um
+Früchte zu tragen! Wenn er erst einmal frei und wohlhabend auf eigenem
+Boden sitzt, will er die vaterländischen Dinge schon nicht vergessen
+haben!
+
+Unterdessen ist seine Mutter noch immer bei dem kranken Großvater in
+Höngg gewesen, während er mit der Schwester und dem alt gewordenen
+Babeli gewirtschaftet hat; nun kommt sie zurück, und er holt sie eines
+Nachmittags ab, freudig, ihr sein Glück mitzuteilen. Der Dekan geht
+kaum noch aus seiner Studierstube heraus; er hat Sterbegedanken und
+ist verdrießlich, daß ihm der Antistes noch einen Vikar aufdrängen
+will, statt seinen natürlichen Abgang abzuwarten. So kann Heinrich
+Pestalozzi ihm nichts sagen, und auch bei der Mutter kommt er erst auf
+dem Rückweg dazu, als hinter Wipkingen die Buben vom Tantli zurück
+gesprungen sind. Sie gehen an der selben Stelle, wo sie mit dem Knaben
+so bitterlich geweint hat, als er endlich Stimmung und Worte für seine
+Freudenbotschaft findet. Zunächst ist sie erschrocken, daß er zu
+den andern Torheiten seiner Jugend auch noch die einer überstürzten
+Heirat über sie bringen will; wie sie den Namen Anna Schultheß hört,
+steigt das Wetterglas auf schön, da sie die Vorzüge der Person und der
+äußerlichen Vorteile in eins übersieht. Eine Schar Tauben flattert
+aus dem Feld, und ihre Sorgen fliegen mit; es fehlt nicht viel, so
+wanderten sie auch diesmal Hand in Hand zur Niederdorfporte hinein.
+
+Am nächsten Sonntag steht Heinrich Pestalozzi am Fenster und sieht
+die Mutter aus der Predigt kommen, zögernden Schrittes, weil nicht
+allzuweit hinter ihr auch die Anna Schultheß ihr Gesangbuch heimträgt;
+er hätte der Mutter nicht soviel List zugetraut, wie sie dicht unter
+seinem Fenster eine Nachbarin anspricht -- was sie sonst niemals tut
+-- nur damit die Jungfrau an ihr vorbei muß. Sie grüßen sich still
+nickend, aber er von seiner Warte nimmt den Blick, mit dem sich die
+beiden Frauen umfassen, wie einen priesterlichen Segen wahr.
+
+Weiter als bis zu solchen Blicken freilich kommt es zunächst nicht, da
+die Mutter Annas sich hartnäckig der Verbindung mit dem unansehnlichen
+und -- wie sie sagt -- kindsköpfigen Wundarztsohn widersetzt; bevor
+Heinrich Pestalozzi nicht vor der Welt etwas anderes vorstellt, kann er
+nicht auf ein öffentliches Verlöbnis hoffen. Er offenbart sich Lavater,
+weil der den Berner Chorschreiber Tschiffeli kennt, der mit seiner
+Musterwirtschaft in Kirchberg als der beste Landwirt der Schweiz gilt
+und namentlich die Zucht der Krappwurzel für die Rotfärberei als ein
+neues und einträgliches Bauerngewerbe treibt. Lavater schreibt um eine
+Lehrstelle, und rascher, als Heinrich Pestalozzi es gedacht hat, tut
+sich für ihn eine Schlupftür ins praktische Leben auf. So schmerzlich
+ihm die Trennung von Anna ist, der Drang, aus der Ungewißheit seiner
+gescheiterten Studien in eine rechtschaffene Stellung vor der Welt zu
+kommen, läßt ihn keinen Tag zögern.
+
+Den letzten Abend ist er bei ihr draußen in Wollishofen, wo ihre Eltern
+ein Gütchen besitzen; sie haben sich schon mehrmals da getroffen, aber
+nun drängt die Wehmut des Abschieds zum Genuß der Stunde. Heinrich
+Pestalozzi fühlt, daß er wie ein Baum im Frühling ist; obwohl sie beide
+das Heiligtum ihrer Liebe zu hüten wissen, verblaßt die Nacht schon in
+den frühen Tag, als er aus Tränen und ewigen Gelöbnissen losgerissen
+am See vorbei nach Zürich zurückwandert. Es sind noch die selben Wege,
+es ist die Stadt mit dem Getürm ihrer Tore und Kirchen, und überall in
+den verschlafenen Häusern erwacht die tägliche Arbeit; nur er selber
+irrt nicht mehr mit ziellosen Sehnsüchten darin umher: Liebe und Beruf
+führen ihn aus ihrem Wirrwarr in die Einfältigkeit eines natürlichen
+Daseins hinaus, darin sein ländliches Besitztum, von der Anna
+Schultheß als Stauffacherin verwaltet, durch Wohlstand und Wohltun den
+Mittelpunkt einer Bauernschaft abgeben soll. Um in seinem Glück nichts
+von den Vorsätzen seiner Jugend zu verlieren, sucht er noch einmal sein
+Leben danach ab, sich feierlich für jeden einzelnen verbürgend, sodaß
+er aus dieser in Liebe durchwachten Nacht mit Gelöbnissen beladen im
+Roten Gatter ankommt.
+
+Da fängt der Abschied noch einmal an, und es gilt mehr als eine
+Trennung auf Wiedersehen: hier packt er für immer ein. Trotzdem geht
+alles viel leichter als in Wollishofen, und er schämt sich fast, mit
+welchen Scherzen er das Nest seiner Jugend verläßt. Der Himmel seiner
+Zukunft ist blausonnig wie der Septembermorgen, der seine Federwölkchen
+nur zum Spiel aufsteigen läßt; und als er im Postwagen gegen Baden
+und Aarau fährt, geht nicht ein trüber Gedanke mit. Lavater hat ihm
+das Bild seiner Anna auf ein Papier gemalt, das hält er in Händen und
+merkt nicht, wie die Mitreisenden sich über ihn lustig machen: sie ist
+die Sonne, aus der alles Licht aufgeht, so sehr, daß ihm die Bäume
+und Wiesen draußen in Schatten zu fallen scheinen, wenn er das Blatt
+umdreht.
+
+
+ 35.
+
+Die Fahrt nach Kirchberg dauert zwei Tage; es ist die erste wirkliche
+Reise, die Heinrich Pestalozzi macht. Sie geht das Limmattal hinunter
+über Baden nach Brugg und dann im breiten Aaretal hinauf über Aarau
+ins Berner Vorland hinein; die Landschaft wechselt aus der waldigen
+Enge seiner Zürcher Heimat in die breite bernische Behaglichkeit, und
+auch die Sprache macht diesen Wechsel mit: er nimmt davon so wenig
+wahr wie von den Mitreisenden. Wenn ihn etwas so bewegt, wie jetzt
+der Abschied und die kreisenden Gedanken um das Ziel, verlieren seine
+Sinne den Zugang zum Bewußtsein; er kann stundenlang sitzen und ihren
+Wahrnehmungen keine Aufmerksamkeit schenken, sodaß sie gleichsam an den
+Zäunen Wächterdienste tun, indessen seine Seele im Garten ihrer selber
+spazieren geht.
+
+Erst als sie am zweiten Nachmittag ins weite Emmental hinein fahren
+und einer beim Anblick der ersten Krappfelder den Namen Tschiffeli
+ausspricht, wacht er auf und möchte am liebsten gleich aus dem Wagen
+springen, die berühmte Kultur der Färberröte zu sehen. Er weiß, daß es
+nur die Wurzeln sind, die den Farbstoff enthalten, an mannshohe Stauden
+mit stachligen Blättern und Blüten hat er nicht gedacht; als nun ein
+leiser Wind hindurch rieselt, erschließt sich ihm die beglückende
+Aussicht, daß dieser Anbau die Schönheit ländlicher Arbeit nicht
+vermissen lasse: wie beim Korn, beim Flachs und in den Wiesen gibt sich
+auch hier das Wachstum der Natur als ein Segen, der dem Menschen mit
+allen Wundern der Blüte und der schwellenden Frucht in die Hände wächst.
+
+Er findet Tschiffeli als einen gebräunten Mann anfangs der Fünfziger,
+der diesen Überschwall wogender Felder aus einer verwahrlosten Öde
+geschaffen hat und wie ihr leibhaftiger Gottvater darin umher geht.
+Als blutarmer Leute Kind verdankt er alles der eigenen Kraft, die
+seine neumodischen Einfälle gegen die guten Meinungen und Ratschläge
+der Gewohnheit durchgesetzt hat, bis er als erfolgreicher Mann vor
+seinem Vaterland dasteht. Das gibt seinem mannhaften Wesen eine
+andere Geltung, als die Zürcher Herren sie aus ihrer Herkunft oder
+Gelehrsamkeit besitzen; Heinrich Pestalozzi fühlt hier einen Teil von
+sich selber zur Vollendung gekommen, und wenn er ihn Vater nennt,
+wie es auf dem Gut Sitte ist, liegt für ihn ein besonderer Sinn
+darin. Tschiffeli wiederum freut sich dieses Zöglings, der garnicht
+das Stadtsöhnchen spielt, den ganzen Tag in Hemdärmeln arbeitet und
+abends noch lustig ist zu Tabellen und Berechnungen. Wenn seine
+Ungeschicklichkeit auch viel mit zerschnittenen Fingern und Beulen zu
+tun hat, so ist doch noch niemand da gewesen, der seinen Spekulationen
+so begeistert und mit Verständnis anhängt.
+
+Es wird ein reicher Herbst und Winter für Heinrich Pestalozzi, der mit
+seinen eigenen Plänen hier nicht verlacht wird, wie bei den Freunden
+in Zürich, sondern einen bereitwilligen Berater findet. Wenn er sieht,
+wie Tschiffeli für die fünf Gemeinden seiner Güter ein Wohltäter
+geworden ist, indem durch ihn Ordnung und Verdienst dahin kam, wo
+vorher Unordentlichkeit und Armut waren, erkennt er freilich auch,
+daß es wirksamere Mittel zur Übung der Volkswohlfahrt gibt als die
+öffentliche Anklägerei der jugendlichen Patrioten: das Beispiel und
+der Antrieb zur Selbsthilfe. So wie Tschiffeli im bernischen Land will
+er einmal im Zürcher Gebiet dastehen als der Mittelpunkt einer in
+planvoller Gemeinsamkeit fröhlich schaffender Bauernsame. Er kann einen
+wahren Spott mit sich selber treiben, wenn er an Winterabenden bei
+den Berechnungen hilft -- wieviel Jucharten für diese und jene Kultur
+einzurichten wären, um mit der mutmaßlichen Ernte den Abschlüssen
+gerecht zu werden -- und dann an seine Jugendläuferei in Zürich denkt,
+an den Schwall seiner Freunde, Pläne und Sehnsüchte, und wie hier
+alles sich selber zufrieden macht; die Zürcher Stadtbürger haben den
+schwarzen Pestaluz sicher kaum kritischer betrachtet, als er es nun
+selber tut.
+
+Aber feierlich wie das große Himmelslicht jeden Morgen hinter den
+Emmentaler Bergen wärmend und segnend über der Arbeit Tschiffelis
+aufsteigt, so steht die Liebe über seinem Tageslauf: sie weckt ihn in
+der Frühe und sie bläst ihm abends die Kerze aus, nichts gerät ihm,
+ohne daß er die Stimme Annas zu hören glaubt, und nichts mißrät, ohne
+daß er ihre Augen mit dem scherzhaften Tadel darin fühlt. Er hat sich
+eine feste Ordnung gemacht, ihr seine Erlebnisse und Erfahrungen zu
+schreiben, und da sie ebenso pünktlich antwortet, flechten die hin und
+her reisenden Briefe aus ihren getrennten Lebensläufen einen Zopf,
+darin die Hoffnung mit lustigen Schleifen eingebunden ist.
+
+
+ 36.
+
+Es sind fast neun Monate, die Heinrich Pestalozzi als Lehrling der
+Landwirtschaft zubringt; aus dem Zürcher Theologiestudenten wird ein
+bernischer Bauernknecht, der stolz auf seine vernarbten Hände ist und
+Sonntags in Hemdärmeln zur Kirche geht. So findet ihn seine Braut, als
+sie ein freundliches Geschick zu einem Besuch in Kirchberg ausnützen
+kann. Ihr Bruder Kaspar hat eine Pfarrstelle im Württembergischen
+bekommen, die nach alten Herkünften den Zürcher Herren untersteht; er
+führt nun befriedigt seine Susanna Judith Motta aus dem Traverser Tal
+heim, eine Herzensfreundin der Schwester und auch Heinrich Pestalozzi
+aus ihrem Zürcher Aufenthalt wohlbekannt. Anna holt ihn zur Hochzeit
+ab, da es über Kirchberg kein zu großer Umweg ist, und sieht mit
+eigenen Augen das gelobte Land ihres Freundes.
+
+Es wird ein Jubeltag für Heinrich Pestalozzi, wie er noch keinen
+erlebte, als er seinem Meister Tschiffeli und allen Leuten auf dem Gut
+ein so stattliches und feines Frauenzimmer als seine Braut vorweisen
+kann. Sie hingegen ist sichtlich bestürzt über die Verwahrlosung seiner
+Hände und Kleider, doch findet sie sich rasch und folgt ihm in die
+Gärten und Felder, die Schauplätze seiner Wochenberichte nun selber
+zu sehen. Am Abend hat Tschiffeli dem Gast zu Ehren Wein und Blumen
+auf den Tisch gestellt, und da er in ihrer Gegenwart den Eifer und das
+Geschick seines Lehrlings mit anerkennenden Worten belegt, kommt der
+Besuch zu einem fröhlichen Abschluß, sodaß Heinrich Pestalozzi der Tag
+nicht mehr fern scheint, wo er selber mit ihr als solch ein Gutsherr
+dasitzen wird.
+
+Als sie andern Morgens miteinander in den Wagen steigen, gegen
+Burgdorf und Aarberg aus dem ländlichen Bereich seiner Bekanntschaft
+hinauszufahren, sitzen ein paar Stutzer aus Neuenburg darin, die ihn
+belächeln. Heinrich Pestalozzi im Eifer, ihr noch im Abfahren jeden Weg
+und Hügel seiner Welt zu zeigen, merkt nichts davon; sie aber zupft ihm
+seine Kleidung zurecht und wird schweigsamer, je weiter sie ins welsche
+Land hineinfahren. Zum ersten Male erlebt er, wie ihn mit der Sprache
+auch die Heimat verläßt; je näher sie an den waldigen Jura heranfahren,
+je seltener trifft ein deutsches Wort sein Ohr. Das letzte ist der
+Abschiedsgruß einer alten Bäuerin aus Erlach, die von Aarberg bis Ins
+mitreist; dann fährt er mit Anna allein in die welsche Welt, und obwohl
+er im Schutzgebiet der Eidgenossenschaft bleibt und obwohl die Sprache
+Rousseaus seiner Seele mit mancher Wendung vertraut ist: der fremde
+Klang schlägt an seine Ohren, als ob er ins Wasser geworfen wäre.
+
+Das wird im Val Travers nicht besser, wo sie spät abends von ihrem
+Bruder Kaspar und seiner Braut abgeholt werden; in Zürich hat die
+Judith Motta nicht anders als deutsch gesprochen, hier in ihrer Heimat
+ist sie welsch, und Heinrich Pestalozzi erleidet ein Gefühl, als ob ihm
+Anna von einer Strömung fortgerissen würde, wie sie nun selber in der
+fremden Flut untergeht. Als sie sich im Eifer vergißt und ihn selber
+in den welschen Lauten etwas fragt, vermag er ihr nicht zu antworten,
+so schnürt ihm der Schrecken die Kehle zu. Er muß sich zwar am selben
+Abend doch dazu bequemen, weil die Verwandten -- die im übrigen
+freundliche Leute sind -- nur französisch sprechen; es macht ihm aber
+Mühe, dem ungewohnten Schwall zu folgen, und er spürt grimmig, wie
+seine Zunge über die fremden Silben stolpert.
+
+Er übersteht die Hochzeit indessen tapfer, und weil er neben einer
+ältlichen Tante aus Môtier sitzt, die für Rousseau schwärmt und ihn
+vielmals gesehen hat, als er noch selber mit seiner Therese da wohnte,
+vermag er sogar seine Scheu vor den welschen Worten zu überwinden.
+Sie bleiben aber ungeschickt auf seiner Zunge und geben Anlaß zu
+manchem Gelächter; namentlich die beiden Stutzer aus Neuenburg, die
+unvermutet auch Hochzeitsgäste sind und an seiner Kleidung wie an
+seinem bäuerlichen Wesen Anstoß nehmen, fangen an, ihren Spott mit ihm
+zu treiben, gegen den er sich um so weniger wehren kann, als er die
+Andeutungen in der fremden Sprache meist garnicht versteht. Da überdies
+die Verwandten der Anna ihr Mitleid nicht verhehlen, als ältliche
+Jungfer noch an einen solchen Tölpel geraten zu sein, und da die
+Geltung in der Welt des guten Tons ihre Empfindlichkeit ist, sieht er
+sie danach mehrmals weinen und hitzig an ihm werden, bis ein Vorfall am
+dritten Hochzeitstag seiner gequälten Stimmung Luft macht.
+
+Er hat das Haus sehen wollen, wo Rousseau wohnte; die Tante lud ihn
+und die andern ein, und so schwärmt am Nachmittag die geputzte Schar
+nach Môtier hinunter. Anna hat Freundinnen gefunden und plätschert in
+der welschen Lustigkeit, als ob es ihr angeborenes Element wäre; der
+eine Neuenburger hat sich als ihr Galan an sie gehängt, während der
+andere angeblich als krank zurückgeblieben ist. Wie sie dann gegen das
+Haus kommen, das ihm die andern in aufdringlicher Freundschaft schon
+von weitem zeigen, geht die Tür auf, und augenscheinlich nach einem
+Kupferstich des berühmten Mannes zurechtgemacht, tritt eine Gestalt im
+Kaftan mit ausgebreiteten Armen heraus: Ob sie ihm sein Früchtchen,
+den Emil, wieder mitgebracht hätten? Bevor Heinrich Pestalozzi die
+Hänselei begreift, hat die Gestalt ihn gerührt ans Herz gezogen und ihm
+von hinten her eine Zipfelkappe aufgestülpt, worüber sich dann alle
+totlachen wollen. Er hört ihr Gelächter, als ob rundum Hunde bellten
+-- auch Anna, so meint er, ist darunter -- aber ehe sich der Komödiant
+dessen versieht, hat er ihn an der Gurgel, und als er unter dem Turban
+das fade Gesicht des andern Neuenburgers erkennt, schlägt er zu, daß
+dem die blutende Nase den Kaftan bemalt. Die andern springen abwehrend
+herzu, und der hämische Scherz ginge mit einer bösen Prügelei aus,
+wenn nicht Anna ihrem Freund die Hand von der Gurgel löste und ihn aus
+dem Rudel zöge. Vor ihrer Bestimmtheit weichen die andern zurück; ohne
+ihrer weiter zu achten, führt sie ihn ins Haus der Tante, deren Tür sie
+hinter sich verschließt.
+
+Das gute Wesen hat einen festlichen Kaffeetisch gedeckt und erlebt
+nun erschrocken, wie sich die andern drohend auf der Straße sammeln
+und mit Fäusten gegen die Tür trommeln. Als ein Stein durchs Fenster
+herein fliegt, nimmt Anna ihren Verlobten wieder bei der Hand, führt
+ihn rasch durch den Garten gegen den Wald hinauf und auf einsamen Wegen
+zu den Verwandten zurück. Heinrich Pestalozzi ist noch lange erregt und
+will ihr nicht folgen auf dieser Flucht; aber mehr noch als der Zwang
+der festen Hand hält ihn der Klang ihrer Stimme. Sie spricht wieder
+die vertraute Sprache, und nach dem welschen Geschrei ist es ihm, wie
+wenn die Heimat selber in ihren Worten mit ihm spräche. Es war nur ein
+Scherz von ihnen, und ich hätte nicht aufbegehren sollen! sagt Heinrich
+Pestalozzi zuletzt und bleibt vor ihr stehen, als ob er sie beruhigen
+müsse; sie aber schüttelt den Kopf und wendet sich bittend von ihm
+ab: Daß du aufbegehrtest, war recht und ich hab dich lieb darum; aber
+wir hätten nicht herkommen sollen! Und dann nach einer Pause wieder
+gewaltsam lächelnd in ihrer schelmischen Art: Du mußt denken, daß die
+Traverser dem Rousseau auch die Fenster eingeworfen haben, bevor er auf
+die Flucht ging nach der Petersinsel.
+
+
+ 37.
+
+Heinrich Pestalozzi hat auch die Frühjahrsbehandlung der Krappkultur
+erlebt, und seine Lehrzeit geht zu Ende; aber noch immer fehlt ihm
+das Jawort aus dem Pflug, sodaß er von dem zukünftigen Gut nicht mehr
+als den Hausschlüssel der Liebe in den Händen hält. Um ihren Eltern
+einen andern Begriff von dem schwarzen Pestaluz zu geben, schreibt
+er der Anna eine für fremde Augen geeignete Darlegung seiner Pläne
+mit scharfsinnigen Berechnungen der Rentabilität, wie er gleich
+seinem Lehrer Tschiffeli Ödland ankaufen und zur Krappkultur instand
+setzen wolle; nur zwanzig Jucharte, davon fünfzehn dem Krapp und fünf
+der Gärtnerei dienten. Artischoken, Spargel, Cardiviol und anderes
+Feingemüse im großen zu gewinnen und teilweise erst im Frühjahr -- nach
+einer neuen Art der Überwinterung -- mit doppeltem Abtrag zu verkaufen,
+dagegen keine Wiese, keine Äcker, keine Reben und wenig Vieh zu haben:
+das solle die nährende Grundlage seiner Landwirtschaft sein, daraus er
+genügenden Unterhalt zu finden glaube!
+
+Es ist alles wie für eine Doktorarbeit durchgedacht; aber die
+praktischen Eltern im Pflug sehen den Scharfsinn auf die Mitgift ihrer
+Tochter gegründet und sind weniger als je geneigt, damit in ungewisse
+Projekte einzutreten; sie halten in den Dingen des Erwerbs praktische
+Hände für wichtiger als Ideen und finden in solchen Projekten nur
+den Bessermacher aus dem Roten Gatter, dem sie die Mitgift mit einem
+glatten Nein zudecken, in der Hoffnung, daß ihnen dann auch die Tochter
+bliebe.
+
+So kommt Heinrich Pestalozzi im Frühsommer als ein von Sonne und Regen
+gebräunter Landwirt ohne Land nach Zürich zurück; auch seine Hoffnungen
+auf die wohlhabende Tante Weber in Leipzig erfüllen sich nicht; der
+Doktor Hirzel verschafft ihm zwar die Aussicht, das Pachtgut der
+Johanniter in Bubikon zu übernehmen, doch geht ein so weitschichtiger
+Betrieb über seine Kräfte. Verdrießlich an dieser Ungewißheit und weil
+es regnet, steht er eines Tages unter den Lauben, als ihm jemand die
+Hand auflegt; wie er umsieht, ist es der Pfarrer Rengger aus Gebistorf
+bei Brugg, den er aus seiner Kollegienzeit kennt. Der fragt ihn aus
+nach seiner Lehrzeit bei Tschiffeli, und als dabei der Grund seiner
+Verdrießlichkeit zutage kommt, spricht er scherzend von dem Birrfeld
+bei Brugg; dort habe man vor kurzem noch steinichte Äcker umsonst
+ausgeboten: wenn er etwa bei dem Hexenmeister in Kirchberg die Kunst
+gelernt habe, aus Steinen Brot zu machen, fände er dort Feld genug.
+
+Er hat nur einen spöttischen Scherz machen wollen; aber Heinrich
+Pestalozzi nimmt den Vorschlag ernst und ist gleich eifrig dabei,
+Näheres zu wissen. Da dem andern nicht mehr als der allgemeine
+Verruf des Birrfeldes bekannt ist, führt er ihn von der Gasse weg
+ins Weiße Rößli am See, wo er sich -- um einer geistlichen Tagung
+willen in Zürich anwesend -- mit dem Pfarrer Fröhlich aus Birr und
+andern Kollegen abgesprochen habe. Der weiß genauer zu berichten:
+daß im ganzen fünf Gemeinden an dem Birrfeld teil hätten, daß es
+vielleicht mehr als andere Gegenden an der Mißwirtschaft des Weidganges
+leide, aber durchaus nicht nur ein wüstes Heideland sei, wie es
+verschrien wäre. Er rät Heinrich Pestalozzi, als er seine Absichten
+hört, ernsthaft zu einer Besichtigung, und da ihn nun auch Rengger
+freundschaftlich einlädt, springt er mit beiden Füßen in den Plan ein;
+um so mehr, als der Pfarrer Fröhlich von einem burgähnlichen Gebäude
+in Müligen an der Reuß spricht, seit altersher der Turm genannt, das
+mit Scheune, Stall und Garten zu mieten wäre.
+
+Noch in derselben Woche ist er nach Gebistorf unterwegs; er findet das
+Birrfeld als eine stundenweite Hochfläche, die zur Reuß mit steilen
+Waldhängen abfällt und sich in steinichten Halden gegen das Kalkgebirge
+des Kestenbergs hebt, auf dem das alte Schloß Brunegg steht. Von einem
+mit Kiesgeröll gemischten Moder bedeckt und an vielen Stellen sumpfig
+wie ein altes Seebecken, ist sie mit Wacholder und kleinen Tännchen
+bestanden und bietet den Anblick einer Heide, obwohl sie da, wo sie
+wirklich bebaut ist, garnicht so üble Felder zeigt. Namentlich aber
+gefällt ihm die Wohnung in Müligen; mit Efeu dicht berankt und unter
+Bäumen am Hügelabhang sonnig gelegen, scheint sie ihm wohl geeignet als
+Nest für sein kommendes Glück. Sie gehört einer begüterten Familie in
+Brugg, und er beeilt sich, sie für vierzig Gulden jährlich zu mieten.
+Der heimlichen Liebsten kann er nur in Briefen blühende Schilderungen
+davon machen; aber seine Mutter kommt bald auf einem Wagen, das Nest
+mit einem Bett und dem nötigsten Hausrat einzurichten. Es wird anders
+mit ihren Söhnen, als sie gehofft hat: der eine tut als Kaufmann nicht
+gut, und der andere hat mehr als ein Dutzend Jahre die Schulbänke
+gedrückt, um die Weltverlassenheit dieser Bauernschaft als sein Glück
+zu preisen. Sie vermag bei seinen Freudensprüngen nicht mehr zu lächeln
+und sieht über die Stundenweite des Birrfeldes mit einer trostlosen
+Wehmut hin. Dies wird einmal ein einziges Gartenfeld sein! sagt
+Heinrich Pestalozzi und begreift die ärmlichen Dörfer des Landes in
+einer großmächtigen Armbewegung. Sie zieht das schwarze Witwentuch um
+ihre schmächtige Gestalt, als ob sie fröre; doch als er sie dann fast
+knabentrotzig fragt, ob sie es nicht glaube? weht ihr ein Lächeln alles
+Trübe fort aus dem blassen Gesicht: Wie soll eine Mutter anders als
+gläubig zu ihren Kindern sein!
+
+
+ 38.
+
+Jeden Morgen steigt Heinrich Pestalozzi den steinichten Hügelweg
+hinauf, das Birrfeld wie ein Eroberer zu durchqueren; die Mutter hat
+ihm einen Rest des väterlichen Vermögens mitgebracht, den sie zur Not
+entbehren kann, und so kann er auf eigenen Landerwerb ausgehen. Er
+findet die besten Plätze bald in den Hummeläckern, die ziemlich mitten
+im Birrfeld liegen und zu der Gemeinde Lupfig gehören. Die Üppigkeit
+einiger Kirschbäume gibt ihm Gewißheit, daß der verwahrloste Boden mit
+guter Düngung bald ertragreich zu machen wäre, und rasch entschlossen
+wendet er siebenundfünfzig Gulden an, sich vier bis fünf Jucharte davon
+zu kaufen, die er mit allem Eifer seiner gelernten Künste aus einem
+Mergellager am Kestenberg aufbessern will. Darüber aber kommt er bei
+den Leuten der Gemeinde auch schon ins Gespräch als Herrenbauer, und
+mehr als einer hört die ungewohnte Geldquelle gegen seine Äcker rinnen.
+Als er darauf mit weiteren Ankäufen zögert, fangen die bäuerlichen
+Listen an, sich mit Wegerechten, Weidgang und andern Vorwänden drückend
+zu machen, sodaß er wohl oder übel zu höheren Preisen kaufen muß.
+
+In diesen Schwierigkeiten, die ihn allein befallen, weil seine Mutter
+wieder nach Höngg zum kranken Großvater gerufen ist, geht er eines
+Nachmittags verdrießlich nach seinem Turm zurück, als ihn ein Mann
+mit seinen Wägelchen einholt und aufsteigen heißt, da er gleichfalls
+nach Müligen führe. Er hat den Mann auf seinen Gängen schon mehrmals
+angetroffen, und weil ihn die Mißlichkeiten müde und unlustig zum Gehen
+gemacht haben, nimmt er das Angebot gern an. Unterwegs holt ihn der
+andere beiläufig aus, ob er auf seinem Hummelacker zu bauen gedächte,
+und als er das bejaht: ob er denn Wasser habe? Warum er nicht weiter
+aus dem Birrfeld hinaus, etwa da oben in den Letten baue? Da habe er
+Quellen genug, brauche sich mit keinem Anlieger herumzuschlagen und sei
+Herr auf seinem Boden. Billiger als da unten sei das Land sicher, wo
+auch sonst die Lupfiger keine günstige Nachbarschaft wären.
+
+Heinrich Pestalozzi weiß, daß der Mann, den er von seinen Gängen her
+als einen Metzger und Wirt aus Birr mit Namen Märki kennt, wohlhabend
+und durch seine Geschäfte bewandert in allen Verhältnissen der Gegend
+ist. Irgendwie fällt ihm das Wort Bluntschlis von dem Ratgeber ein, und
+da ihn der Mann im Sprechen auffällig an seinen Lehrmeister Tschiffeli
+erinnert, nur daß er genau so drastisch in seinen Ausdrücken wie
+jener vorsichtig ist, sieht er ihn prüfend von der Seite an und nicht
+unlustig, seine Dinge mit ihm zu besprechen. Der aber scheint von dem
+Gespräch genug zu haben, kutschiert gleichmütig darauf los, bald hier
+bald dort mit dem Peitschenstiel auf eine Merkwürdigkeit deutend, sodaß
+Heinrich Pestalozzi fast bedauert, als sie hart bremsend den letzten
+gewundenen Abstieg nach Müligen hinunter fahren. Eine Einladung, bei
+ihm für einen Augenblick abzusteigen, nimmt der Mann nicht an, da er es
+wegen der Dunkelheit eilig habe. Bald sieht er ihn denn auch wieder den
+Weg hinauf kutschieren, rüstig zu Fuß, das Pferd am Zügel führend.
+
+Schon am andern Tag macht er einen Weg in die Letten hinauf; er findet
+den Boden mit vermodertem Kalkgestein durchsetzt, das vielfach auch
+mit einem beinernen Glanz zutage liegt: Hier ist wirklich Ödland, aber
+wo der Hang ins ebene Feld ausläuft, doch wieder guter Boden, vor
+allem aber ist reichlich Wasser da, und die abseitige Lage lockt ihn
+besonders. Als er bis an den Waldrand hinaufgegangen ist und von da
+unter einem Nußbaum über das stundenweite Birrfeld hinsieht -- stärker
+als je in dem Traum, es von hier aus stückweise zu erobern und ein
+Gartenmeer daraus zu machen, das Wohlstand in all die ärmlichen Dörfer
+rundum verbreiten soll -- hört er hinter sich seinen Namen rufen, und
+als er umsieht, steht der Märki dort und winkt ihm. Augenscheinlich
+will er nicht gesehen werden, und so steigt Heinrich Pestalozzi zu
+ihm hinauf in den Wald. Der selbe Mann, der gestern gleichmütig war,
+scheint heute wütend: falls er etwa die Absicht habe, hier zu kaufen,
+so möge er sich selber das Geschäft nicht verderben, indem er hellen
+Tags hier herumlaufe! Bauern seien Bauern: wenn er, der Märki, etwa
+hinginge und ihnen bares Geld für einen Acker brächte, wären sie
+noch so froh; so aber der Herrenbauer käme, glaube jeder gleich das
+große Los zu spielen. Er wolle sich mit diesem Beispiel nicht etwa
+aufdrängen, er habe hier nur zufällig einer Klafter Kleinholz nachgehen
+wollen, die überm Winter vergessen worden sei. Da er ihm aber nun
+einmal den Rat gegeben habe, möge er natürlich nicht, daß er dabei zu
+Schaden käme und ihm schließlich noch Vorwürfe mache!
+
+Nichts für ungut, sagt er dann wieder höflich, als er das alles mit
+rotem Kopf mehr geschimpft als gesprochen hat, lüpft an seiner Kappe
+und geht davon, gefolgt von einem Metzgerhund, der sich faul aus der
+Sonne aufhebt. Heinrich Pestalozzi bleibt wie ein gescholtener Schüler
+zurück, doch ist er dem Mann dankbar; wenn er an die Tagelöhner in
+Lupfig denkt, daß nie einer ein richtiges Wort aus den Zähnen läßt und
+jeder an seinem Mißtrauen würgt, irgend einen Vorteil zu verlieren, so
+ist dies doch von der Leber gesprochen. Er folgt seiner Weisung, geht
+nicht über Birr, sondern im Bogen durch den Wald gegen die Hummeläcker,
+wo ihm nun nichts mehr gefällt, sodaß er seine Pläne umdenkend nach
+Müligen heimkehrt. Noch am selben Abend schickt er dem Märki eine
+Botschaft nach Birr hinauf, und nun wird es rasch ein anderes Geschäft
+für ihn: in knapp acht Tagen hat er durch den gewandten Unterhändler
+zehn weitere Jucharte dazu gekauft, nicht übles Land, noch in der
+Ebene gegen den Letten gelegen, sodaß er einen guten Platz für sein
+Haus, einen Brunnen dazu und Land genug besitzt, um seine Plantage
+zu beginnen. Daß die nun in zwei Stücken auseinander liegt, die
+Hummeläcker mitten im Birrfeld und das andere eine gute halbe Stunde
+weiter hinauf am Letten, beunruhigt ihn ebensowenig wie der doppelte
+Preis: auch Tschiffeli hat so zerstreut Boden fassen müssen, und
+schließlich ist doch alles ein großer Besitz geworden. Seitdem er den
+Metzger Märki als Ratgeber hat, fehlt es ihm nicht mehr an Zutrauen,
+daß auch sein Traum gelingt. Denn daß er selber in die Hände eines
+Mannes geraten ist, der vieles zu sich heranbiegt, um daraus nichts als
+seinen Nutzen zu haben -- was unter Kaufleuten die einzige Moral ist --
+während er sich selber einen Nutzen immer nur erträumt, um eine Quelle
+des Wohlstandes für die andern zu sein: das soll er noch erst erfahren.
+
+
+ 39.
+
+Über dem ist der Herbst gekommen und weht Heinrich Pestalozzi die
+dürren Blätter vor die Haustür; die Singvögel ziehen der scheidenden
+Sonne nach, und abends steigen die Nebel kalt aus der Waldschlucht,
+darin die Reuß ihr spärlich gewordenes Wasser der Aare zuführt: nach
+dem Sommer mit der sonnigen Fülle seiner langen Tage kommt der Winter,
+der die Menschen in den Kreis der Lampe drängt. An der seinen war das
+Messing blank, als Anna sie schenkte: aber ihre Hände sind nicht da,
+es zu putzen. Nicht einmal ein Stück Vieh steht im Stall, und Heinrich
+Pestalozzi, der doch ein Stadtkind und gewohnt ist, über seine Dinge zu
+sprechen, sitzt Abend für Abend allein in seinem Turm. Die Mutter kann
+nicht mehr kommen, weil der Großvater sie wieder nach Höngg gefordert
+hat; und dem Bärbel war es bald zu grauslich zwischen Wald und Wasser.
+Seit seinem heimlichen Verlöbnis ist mehr als ein Jahr verstrichen,
+Anna hat im Sommer schon ihren dreißigsten Geburtstag erlebt, und immer
+noch steht die Weigerung der Eltern vor der gemeinsamen Zukunft. Die
+Melancholie der Einsamkeit läßt ihren bitteren Saft in seine Stunden
+fließen, und andere Briefe flattern nach Zürich, als sie aus Kirchberg
+gingen. Einigemal reist er selber hin, auch nach Brugg kommt er
+Samstags, die Schaffhäuser Zeitung zu lesen: aber es ist eine tote Zeit
+für Heinrich Pestalozzi, da er zum erstenmal den einsamen Winter des
+Landmanns wirklich zu spüren bekommt.
+
+Noch im Spätherbst haben auf einer Spazierreise zu Pferd einige Freunde
+aus Zürich bei ihm angeklopft, um sich den Scherz eines Besuchs bei
+dem Einsiedler von Müligen zu machen; sie waren überrascht, alles
+so heimelig bei ihm zu finden -- das Bärbel war gerade da -- und
+namentlich der Johannes Schultheß aus dem Gewundenen Schwert, dessen
+Vater Bankgeschäfte macht, zeigte für seinen Plan viel Aufmerksamkeit.
+Er hat ihm unterdessen mehrmals geschrieben und ist tatsächlich auch
+bei seinem Vater nicht untätig geblieben; als endlich das letzte
+Schneewasser mit hundert Bächen die Reuß braun färbt und die ersten
+vorwitzigen Singvögel den Sonnenschein prüfen, geht Heinrich Pestalozzi
+in der Entschlossenheit eines Verschwörers nach Zürich, mit dem
+Bankherrn in eine Geschäftsverbindung zu kommen. Es dauert zwar noch
+ziemlich eine Woche, und er muß sich manche Laune des aufbrausenden
+alten Herrn gefallen lassen; aber der Sohn läßt nicht locker, und
+schließlich kommt eine Abmachung zustande, daß der Bankiers mit einem
+Einsatz von fünfzehntausend Gulden allmählich in seine Pflanzung
+eintreten will und ihm gleich ein Drittel dieser Summe als Kredit
+eröffnet.
+
+Damit steht Heinrich Pestalozzi vor den Kaufmannsleuten im Pflug als
+einer ihresgleichen da, und als er aus dem Gewundenen Schwert an die
+Limmat hinaustritt, seinen Kreditbrief in der Hand, wagt er damit
+auch den zweiten Gang. Er findet aber niemand zu Haus als den Bruder
+Salomon, da die Eltern mit Anna nach Wollishofen hinaus gegangen
+sind; das ist ein bequemer und weichlicher Mensch, der mit seinem
+Doktorstudium nicht fertig wird und den Schwarmgeist aus dem Roten
+Gatter wie eine Brummfliege haßt: er steht nicht einmal auf von der
+Polsterbank, und als ihm Heinrich Pestalozzi seinen Kreditbrief zeigt,
+spöttelt er, die Schwester sei ihnen kostbarer als solch ein Stück
+Papier. Auch Anna, die er am Abend für eine Stunde sieht, vermag ihm
+keine bessere Hoffnung zu geben, da die Mutter unversöhnlich sei und
+der Vater nichts gegen sie vermöchte. So muß er andern Nachmittags doch
+wieder ohne Braut in das Limmatschiff steigen.
+
+Vorher ist er noch einmal nach Höngg hinaufgegangen, wo sein Freund
+Wüst als Vikar das Pfarramt versieht, dessen Würden der Großvater
+nur noch in seiner Studierstube zu tragen vermag. Er ist mit seinen
+sechsundsiebzig Jahren ganz wunderlich geworden, schüttelt zu allem,
+was er ihm sagt, nur den leeren Kopf, als ob er genug von den Dingen
+der Erde gehört habe. Erst wie er Abschied nehmen will und die zittrige
+Geisterhand in die seine nimmt, hebt er den anderen Zeigefinger, ihn zu
+vermahnen, läßt aber gleich wieder ab und schüttelt von neuem den Kopf,
+sodaß Heinrich Pestalozzi nichts vermag, als weinend seinen Mund auf
+die kraftlosen Hände zu legen.
+
+Im Juli danach ist er tot; Heinrich Pestalozzi erhält die Nachricht
+so spät, daß er das Leichenbegängnis nicht mehr erreicht; wie er
+nach der langen Postfahrt den Berg hinauf hastet, kommt ihm auf der
+Straße still weinend Anna Schultheß entgegen, die außer dem Willen
+ihrer Eltern mit auf den Kirchhof gegangen ist und nun nach Hause
+will. Ihr so unvermutet auf dem Berg seiner Jugend zu begegnen, das
+reißt ihn hin; und auch sie ist durch das Ereignis so bewegt, daß die
+beiden sich aller Augen zum Trotz weinend in die Arme fliegen. Nachher
+gehen sie Hand in Hand nach Höngg zurück, wo unter den leidtragenden
+Amtsgenossen des verstorbenen Dekans noch die Mutter mit dem Bärbel
+ist. Heinrich Pestalozzi läßt auch da die Hand der Geliebten nicht
+los, und sie sträubt sich nicht, sodaß sie wie zwei Kinder an den
+frischen Grabhügel kommen. Beide entsinnen sich da des Grabes, das
+ihre Freundschaft zusammen führte; aber während er sie nun losläßt und
+weinend niederkniet, bleibt sie aufrecht und verharrend bei ihm stehen,
+bis sein Blick sie wiederfindet. Dann gibt sie ihm die Hand zurück,
+und weil er seiner Füße nicht geachtet hat, kommt es so, daß sie zu
+beiden Seiten des Grabes stehen, über dem ihre Hände sich für immer
+geschlossen halten.
+
+
+ 40.
+
+Seit dieser Begegnung in Höngg müssen die Kaufmannsleute im Pflug
+einsehen, daß nichts mehr ihre Tochter vor dem schwarzen Pestaluz
+bewahren kann. Als nacheinander seine Freunde Füeßli und Lavater --
+der nun schon Diakonus ist -- sich um die Liebenden bemühen, als der
+wohlhabende und angesehene Doktor Hotz von Richterswil als Freiwerber
+für seinen Neffen erscheint und mit dem Antistes Wirz selbst der
+Bürgermeister Heidegger ein Wort für die Heirat findet, schickt sich
+die Mutter grollend in die Gewalt und gibt die Tochter frei; jedoch nur
+sie selber, ohne Aussteuer, allein die Kleider, ihren Sparhafen und
+das Klavier darf sie mitnehmen. Heinrich Pestalozzi kommt mit einem
+Wagen von Brugg, sie abzuholen; er hat sich den Tag anders gedacht, als
+daß er sie gleich einer Verstoßenen wegführen müsse. Der Zunftpfleger
+ist aus dem Hause gegangen, den Auftritt nicht zu erleben; die Mutter
+empfängt ihn ohne Gruß wie einen Landfahrenden und gibt der Tochter den
+zornigen Spruch mit, daß sie bei ihm noch einmal mit Brot und Wasser
+zufrieden sein müsse! Aber Anna verhält sich tapfer und schön; sie
+fühlt nun andere Mächte über sich als die elterliche Gewalt, und obwohl
+sie ihr Gesicht blaß geweint hat, steht keine andere Sorge darin, als
+der Mutter nicht hart zu begegnen.
+
+Es fällt ein leichter Frühregen, wie sie durch die Sihlporte hinaus
+auf der Straße nach Alstetten ihren Auszug beginnen; Heinrich
+Pestalozzi hat die Geliebte eben noch in der Wohlhabenheit ihres
+Hauses gesehen, die nun fröstelnd in der kühlen Nässe neben ihm auf
+dem ärmlichen Fuhrwerk sitzt: so überkommt ihn die Wehmut, wie traurig
+es für sie sein müsse, die Heimat so zu verlassen und mit ihm ins
+Ungewisse zu fahren. Sie aber, die alles schon durchlebt hat, was
+bitter daran ist, sieht nicht ein einziges Mal zurück; sie nimmt nur,
+als sie seine Gedanken fühlt, mit einem tapferen Lächeln seine Hand
+-- die nun ihre Heimat sei -- und in ihren Augen, die nicht dunkel
+und voll Unruhe wie die seinen, sondern hell und ruhig sind, steht
+der geklärte Entschluß aus harten Monaten, treu zu beharren bei ihrem
+Herzen und dem Schicksal alles zu bezahlen, was es für die späte Liebe
+fordert. So Hand in Hand beieinander auf ihren Siebensachen sitzend,
+fahren sie durch den Herbsttag hin, der schon bei Alstetten zwischen
+aufgeregtem Gewölk ein blaues Auge zeigt und gegen Baden die Sonne
+zärtlich scheinen läßt.
+
+Bis zur Hochzeit bleibt Anna Schultheß bei dem Pfarrer Rengger in
+Gebistorf, der auch der Freund ihres Bruders ist; dort in der alten
+Dorfkirche werden sie am letzten September getraut. Nachher gehen
+sie miteinander nach Müligen, wo ihnen das Babeli ein einfaches Mahl
+bereitet hat und mit einem bäuerlichen Spruch für die junge Frau unter
+der bekränzten Haustür wartet. Anna dankt dem treuen alten Wesen mit
+einem Kuß auf die runzelige Stirn und heißt es mit in ihrer Reihe
+sitzen, wie sie Heinrich Pestalozzi leise sagt, als Ehrengast. Der
+sieht die Braut allein von ihrer Sippe in der Mitte der Seinigen, als
+wäre er noch immer zu Haus; aber es sind andere Räume, und unmerklich
+ist in seinem Leben die Anna Schultheß an die Stelle der Mutter
+gerückt. Sie sitzen nebeneinander, die ihn geboren hat und die ihm
+Kinder bringen soll; es scheint ihm, als wären sie Schwestern, so
+ähnlich sind sie. Das ist so stark, daß ihm die beiden auf einmal
+entfremdet scheinen, weil er die eine nur als Mutter gekannt hat
+und staunend fühlt, wie unbekannt ihm ihre Frauenwelt war; in diese
+Frauenwelt aber ist die andere nun durch ihn eingefordert worden.
+Da fühlt er tief, daß menschliches Glück nicht in der Erfüllung der
+eigenen Wünsche bestehen könne, weil ein Mensch mit seinen Wünschen im
+Gefängnis einsamer Dinge bliebe. Nur, wessen Seele in andere Seelen
+einginge, könne aus der Enge seines zufälligen Daseins ins Leben kommen!
+
+
+ 41.
+
+Als Heinrich Pestalozzi Anna Schultheß aus ihrem wohlhabenden
+Stadtbürgertum in seine bäuerliche Einsamkeit holt, ist sein Besitz auf
+neununddreißig Jucharte angewachsen, die meist im steinichten Letten
+am Fuß und Abgang des Kestenbergs liegen. An die geplante Gärtnerei
+kann er nicht denken, solange er selber noch so weit entfernt von
+seinen zerstreuten Ländereien in Müligen wohnt; so beginnt er auf dem
+Hummelacker wie auf den unteren Feldern im Letten seine Krappkultur und
+sät die minderen Flächen vorerst mit Esparsette an, weil er weiß, daß
+dieser Futterklee auch auf steinichtem Boden gerät und das Land für
+anderen Anbau fruchtbar macht: das eifrigste seiner Geschäfte aber ist
+der Plan eines eigenen Wohnhauses, das den zerstreuten Besitz erst zu
+einem Gut machen muß, und mancher glückliche Herbstgang mit der tapfer
+erkämpften Lebensgefährtin gilt der Bestimmung des Platzes, wo sie als
+Hausfrau seiner Besitzung walten soll.
+
+Auch was hierbei wehmütig ihre Schritte begleitet, daß ihr das eigene
+Elternhaus feindlich versperrt sei, erfährt bald eine unvermutete
+Wendung: ihrem Vater, dem Zunftpfleger zur Saffran, ist augenscheinlich
+die Trennung von seiner einzigen Tochter das eigentliche Ärgernis an
+ihren Heiratsplänen gewesen -- um so mehr, als er mit den Söhnen nicht
+aufs beste steht und oft Verdruß mit ihnen hat -- und auch die Mutter
+sieht nach der Trennung ein, daß es besser sei, eine Frau Pestalozzi
+als gar keine Tochter mehr zu haben. Nicht länger als zwei Monate hält
+ihr gekränkter Bürgerstolz der Sehnsucht stand, dann kommen Briefe nach
+Müligen, die deutlich nach einer Aussöhnung verlangen; und eben will
+der Winter das einsame Paar einschneien, als eine Einladung erscheint,
+den vorenthaltenen elterlichen Segen zu holen, damit Weihnachten keinen
+Unfrieden mehr in der Familie fände. Mitte Dezember schließen sie
+frühmorgens in dunkler Kälte die Haustür in Müligen ab und sind abends
+miteinander im Pflug, wo die Rührung des Wiedersehens die verlegene
+Erinnerung an die lange Zwietracht im ersten Augenblick zudeckt und
+danach rasch ein so erträgliches Verhältnis entsteht, daß sie statt
+der gewollten drei Tage bis über Weihnachten bleiben. Es kommt nun
+doch noch zu den verwandtschaftlichen Besuchen; die Mutter Pestalozzi
+erscheint im Pflug, und die Zunftpflegersleute bemühen sich zum Essen
+ins Rote Gatter, wo die geborene Hotzin sie mit den Formen ihrer
+Jugend empfängt. Auch sonst gehen die jungen Leute den Fäden ihrer
+Freundschaften nach, und der heilige Abend kommt als der Schlußpunkt
+fröhlicher Festwochen. Um den Übermut zu vollenden, erscheint der Oheim
+Hotz von Richterswil mit aller Behaglichkeit seines Alters und nimmt
+sie mit auf eine Schlittenfahrt nach Hegi und Winterthur. Als sie
+endlich, diesmal im Schiff, aus dem winterlichen Zürich heimfahren,
+sind sie beschüttet von Segenswünschen und Versicherungen herzlicher
+Freundschaft; denn der Heinrich Pestalozzi, im Pflug als Tochtermann
+angenommen, steht anders vor der Welt da als der Wundarztsohn, der mit
+der Tochter im Unfrieden auf einem Bauernfuhrwerk davongefahren ist.
+
+So hätten sie Anlaß, fröhlich auf dem Wasser zu sein, das von der
+winterlichen Mittagssonne dampft, und Anna sagt es auch, noch von dem
+Übermut des Abschieds voll: daß dies erst ihre rechte Hochzeitsfahrt
+sei. Aber ihre Fröhlichkeit schwimmt nur noch wie das Schiff auf dem
+dunklen Wasser; und als ihr Heinrich Pestalozzi ins Auge sieht, traurig
+fragend mit diesem Blick, wie sie das meine, kommt sie unvermutet ein
+tiefes Weinen an, das er viel eher als den Übermut versteht. Ihm ist
+aus dem Lärm dieses Mittags schon vorher die Wehmut aufgestiegen,
+daß sie auf ihrem Wagen damals, den er selber durch den regnerischen
+Herbsttag lenkte, einander näher gewesen seien, und mehr als dies,
+daß sie näher am Herzen Gottes gehangen hätten als jetzt auf dieser
+schaukelnden Schiffahrt, wo sich ihre Hände aus der Zerstreuung so
+vieler Tage nicht zu finden vermögen.
+
+Erst als sie von Turgi noch unter der mondhellen Sternennacht den
+langen Weg nach Müligen wandern und kein Wort sprechen, verliert sich
+Klang und Schaum der überfüllten Tage bis auf den letzten erdigen Rest,
+der ihnen bitter schmeckt -- bis sich noch vor der Haustür Hand und
+Mund zum innigen Gelöbnis finden.
+
+
+ 42.
+
+Andern Morgens im Frühdunkel verläßt Heinrich Pestalozzi das Haus, um
+noch einmal nach den Feldern zu sehen, darüber er am selben Vormittag
+in Königsfelden vor dem Landvogt den Kaufvertrag machen will. Auf dem
+einen steht der breite Nußbaum, unter dem er oft mit seiner jungen
+Frau gestanden und das zukünftige Besitztum überblickt hat; da soll
+dann ein schattiger Sitzplatz sein. Es ist kaum hell, als er hinkommt;
+um so mehr erstaunt er, als Anschläge klingen und gleich darauf ein
+schwerer Baum krachend niederstürzt; wie er Böses ahnend zuläuft,
+liegt der Nußbaum auf der Erde, und der ihn gefällt hat, ist der Mann,
+von dem er den steinichten Acker um dieses Nußbaums willen nicht eben
+billig kaufen will. Es ist, wie er weiß, ein Tanner -- so nennen sie
+die Tagelöhner im Birrfeld -- dem es mit sieben Kindern übel geht und
+dem er deshalb auf Zureden Märkis auch den geforderten Kaufpreis ohne
+Abrede zugestanden hat. Da er nur zufällig noch auf den Acker gekommen
+ist und ihn andernfalls gekauft und bezahlt hätte, macht ihn die
+Niedertracht des Mannes wütend, sodaß er schimpfend gegen ihn anläuft.
+Der aber ist selber so im Zorn, daß er die Axt gegen ihn hebt; und
+als er seinem Frevel dann mit Worten beikommen will -- nun kaufe er
+den Acker überhaupt nicht oder nur um die Hälfte des Kaufpreises --
+schlägt der Mann die Axt in den Stamm, daß es zischt: das sei ihm beim
+Leibhaftigen gleich, und nur der Märki habe den Schaden davon! Seine
+Wirtsschulden würden ihm doch falsch angekreidet, und er bekäme keinen
+Kreuzer von dem Kaufgeld. Den Baum habe er als Knabe selber gepflanzt
+und er solle auch keinem andern gehören!
+
+Heinrich Pestalozzi hat schon mehrmals solche Dinge von dem Märki
+vernommen, und von dem Pfarrer weiß er, daß die Leute um seiner
+Verbindung mit dem Metzger willen gehässig gegen ihn sind; aber daß der
+ihn betrügt wie hier, wo er sich den höheren Kaufpreis in seine eigene
+Tasche gehandelt hat, das ist ihm eine bittere Erfahrung. Er geht
+traurig von dem Platz fort und läßt dem Märki durch einen Boten sagen:
+er könne nicht mit ihm fahren, würde aber pünktlich in Königsfelden
+sein. Als er dann nach einer verstimmten und nicht gradlinigen
+Wanderung den großspurigen Mann sieht, der auch unter Menschen immer
+dasteht, wie wenn er gleich zu metzgen anfangen möchte, hat er nicht
+den Mut, ihm den Handel auf den Kopf zuzusagen, unterschreibt auch
+den Kaufvertrag trotz dem gefällten Nußbaum -- da der Märki die
+Vollmacht des Tanners vorweist -- und ist erschrocken über soviel
+Verschlagenheit. Nur auf seinen Wagen steigt er auch diesmal nicht,
+und erst, als der andere ihn augenscheinlich um seiner Verstimmung
+willen in allerlei Gesprächen aufhält, sagt er ihm sein Erlebnis aus
+der Morgenfrühe ins Gesicht und läßt ihn stehen. Er hört ihn noch über
+das Tannerpack schimpfen, als er mit langen Beinen aus seinem Bereich
+eilt; und kaum ist er eine Viertelstunde unterwegs, da rollt der Wagen
+schon hinter ihm her. Er denkt nicht anders, als daß der Metzger sein
+Pferd zornig an ihm vorbeipeitschen würde; aber der läßt es in Schritt
+fallen, immer neben ihm heran. Ob der Herr Pestalozzi dem versoffenen
+Lumpenkerl vielleicht auch noch glaube? Dann möge er sich jemand anders
+für seine Geschäfte suchen: er habe sich weder aufgedrängt noch sei er
+versessen darauf, für ihn mit aller Welt in Händel zu geraten!
+
+Heinrich Pestalozzi kann nicht antworten, so widerlich ist ihm nun Art
+und Stimme des Mannes. Er tritt in den Graben und will ihn vorfahren
+lassen; der Märki aber hält sein Pferd an, wie wenn er ihn anders
+verstanden habe: er wolle also doch noch aufsteigen? Da merkt er, daß
+ihn der Metzger nicht loslassen will, und läuft querfeld über den
+gefrorenen Acker davon, wo ihm das Fuhrwerk nicht folgen kann. Noch von
+weitem hört er das höhnische Gelächter, und es hallt ihm noch in den
+Ohren, als er verbittert über sich und seine Händel zum Mittag durch
+die Haustür in Müligen eingeht. Da will es sein Unglück, daß auch Anna
+Ärger mit ihrer aufsässigen Magd gehabt hat, sodaß sie beide gereizt
+am Tisch sitzen. Er will ihr nichts sagen, aber sie fragt, bis seine
+kargen Antworten ihr doch den Handel verraten. Da legt sie freilich den
+Löffel hin: ob er den Kauf wirklich gemacht habe? Und als er, nun schon
+trotzig, ja sagt, entfährt ihr ein hartes Wort. Sofort flammt auch sein
+Jähzorn auf, und obwohl er innerlich verzweifelt vor ihr kniet, daß
+sie ihm die Sätze nicht nachtragen möge, bleibt sein hitziges Blut im
+bösen Streit mit ihr, bis er vom Tisch aufspringt und gegen die Reuß
+hinunterläuft.
+
+Vor dem emsigen Zorn der Wellen findet er sich wieder, und schon zur
+Vesper sind sie nach bitteren Tränen der Reue wieder ausgesöhnt: doch
+bleibt das Weh seiner Scham, daß er sterben möchte und sich danach
+auch wirklich bis zur Krankheit in die Selbstanklagen vergrübelt.
+Sylvester feiern sie noch miteinander auf die vorbedachte Art, indem
+sie an die Armen von Müligen einen Korb Brot verteilen -- was als ein
+Anfang seiner Wohltätigkeit gedacht war, scheint ihm nun ein kläglicher
+Rest seiner Beglückungspläne -- dann legt er sich hin und bleibt fast
+eine Woche lang im Bett, unfähig vor Fieber und Mutlosigkeit. Es ist
+längst nicht mehr der böse Tag allein, was ihn quält; es ist die erste
+Abrechnung mit seinen Plänen und mit sich selber, dem hochmütigen
+Plänemacher. Die Sehnsucht seiner Jugend hebt sich auf und steht ratlos
+vor dem Schwall seiner Handlungen in diesem letzten Jahr. Er weiß
+nicht, wo seine Füße anders hätten gehen sollen; nur daß sie falsch
+gehen, das fühlt er genau. Gleich Trompeten schreit eine Stimme in
+ihm, daß er die Forderungen seiner Natur betäubt habe: Was bin ich,
+und was wird aus mir werden? schreibt er ins Tagebuch seiner Frau, das
+immer offen vor dem Bett liegt, obwohl sie sich selber darin nicht
+schont. Und alles, was er als Antwort findet, ist die Verzweiflung, in
+Irrtum und Unrecht unwichtiger und falscher Dinge verstrickt zu sein;
+nicht anders, als ob er selber mit der Peitsche im Metzgerwagen des
+Märki säße und seine Seele über die hartgefrorenen Felder angstvoll
+davonliefe.
+
+
+ 43.
+
+Als Heinrich Pestalozzi wieder aufsteht von seiner Krankheit, ist kein
+Entschluß aus seinen bitteren Gedanken gekommen; sie sind vergangen,
+wie nach Unwetter tagelang die Wolken auf den Bergen lasten, als ob sie
+sich nie wieder heben wollten, und eines Morgens scheint doch die Sonne
+in eine blanke Welt. Er kann wieder mit Freude an seine Unternehmungen
+denken, und alle verzweifelten Gedanken daran kommen ihm als bequeme
+Mutlosigkeiten und als Rückfälle in die unstete Natur seiner
+Knabenjahre vor; er weiß, daß er in diesem Jahr Vater werden soll, und
+schämt sich der Unmännlichkeit, die nicht für das Kind und seine Mutter
+die selbstgewählte Pflicht erfüllt.
+
+Der erste, an dem er sich erprobt, ist Märki; der kommt, das vorgelegte
+Kaufgeld einzufordern, und ist wieder der schlau beherrschte Mann, der
+Nachsicht mit den Launen seines Schützlings hat und ihn, wo er sich
+auflehnen will, die Überlegenheit an Alter und Erfahrung fühlen läßt.
+Heinrich Pestalozzi begreift sich selber nicht mehr, wie er ihm damals
+ausweichen konnte: er sagt ihm unverhohlen und ohne Zorn, daß er das
+andere anweisen, jedoch die Kaufsumme für den Acker um den geschlagenen
+Nußbaum kürzen müsse, da er ihn hierbei in einer Täuschung gehalten
+habe. Der Märki will aufbrausen, aber er verweist ihm das gleich
+so bestimmt, daß der den andern Wind merkt und sich nach mehreren
+Seitensprüngen um der Freundschaft willen, wie er sagt, zu der Sache
+bequemt.
+
+Nach einigen Tagen bringt der Baumeister den Plan des Wohnhauses,
+wie es nach seinen eigenen Angaben sein soll: etwa dreißig Schritt
+im Geviert mit einem Zeltdach und ganz aus Steinen gebaut; es soll
+unten am Letten stehen, wo der angeschwemmte Boden als Gartenland
+geeignet ist, und Neuhof heißen. Der Baumeister hat neben den Aufrissen
+auch eine Ansicht des Hauses in Farben gemacht; es sieht mehr einer
+italienischen Villa gleich als einem schweizerischen Bauernhaus,
+aber gerade das gefällt ihm. Er scherzt, daß er selber ein Italiener
+wäre, und so oft er das hübsche Bild ansieht, wird der Traum seiner
+landwirtschaftlichen Existenz daran lebendig: wie er mit seiner
+Stauffacherin da aus und ein gehen wird, wie unter den Bäumen -- die
+bis jetzt nur auf dem Papier grün sind -- Kinder spielen und auf den
+Feldern rundum fleißige Tanner lohnende Arbeit finden, wie die breit
+gewölbten Keller sich mit Feldfrüchten füllen, und wie er als ein
+neuer Tschiffeli der Mißwirtschaft des Birrfeldes aufhielt durch sein
+Beispiel planvoller Arbeit!
+
+Auch der Baumeister Daniel Vogel, den er sich als fachmännischen
+Berater aus Zürich holt, billigt den Plan; der setzt im
+freundschaftlichen Vertrauen die Berechnungen fest und macht die
+Akkorde mit den Handwerkern unter genauen Abmachungen über das Material
+und die Ausführung. Es ist ein sicherer Gang der Ordnung, wie ihn
+Heinrich Pestalozzi bisher noch nicht in seinen Dingen gespürt hat;
+als ob ihm neue Hände gewachsen wären, seitdem in den abwartenden
+Verdruß des Winters ein wirkliches Geschäft gekommen ist, so gibt sich
+eins ins andere und bringt die Fröhlichkeit zweckbewußter Arbeit mit.
+Als erst der Boden ausgehoben, Steine gebrochen und die Fundamente
+gelegt werden, ist er von früh bis spät dabei und scheut das nasse
+Schneewasser nicht, selber jede Art von Arbeit mitzutun. Daß morgens
+die Leute kommen, Tag für Tag, zum Teil stundenweit und sichtlich froh,
+gute Beschäftigung zu haben, gibt ihm ein Vorbild, wie es einmal auf
+Neuhof sein soll; und wenn er sie Sonntags entlöhnt, ist sein Traum
+schon Wirklichkeit: daß er als der Mittelpunkt einer Unternehmung
+dasteht, daraus die ersten Quellen aller Wohlhabenheit, der sichere
+Verdienst einer regelmäßigen Arbeit, ins magere Birrfeld fließen.
+
+Nachdem Ende Januar unerwartet ein Wechsel aus dem Pflug nach Müligen
+geflattert ist für das Laufende, kommen nacheinander die Brüder,
+am längsten der Doktor Salomon, der die warmen Frühlingstage schon
+zum Angeln -- seiner Lieblingsbeschäftigung -- geeignet glaubt. Sie
+mögen Bericht nach Zürich gegeben haben; denn an dem Mittag, da sie
+abreisen wollen, steht unvermutet die alte Schultheßin mit dem jüngsten
+Bruder gerade vor der Haustür, als sie hinaustreten. Nun bleiben
+alle bis zum andern Tag, und weil die Aprilsonne scheint, wird noch
+am Nachmittag ein fröhlicher Spaziergang durch die Felder und auf
+den Bauplatz gemacht, wo die Fundamente schon kniehoch aus der Erde
+sind und eingewölbt werden sollen. Auch auf den Hang kommen sie, wo
+der Nußbaum niedergebrochen ist; sein Stamm reicht allen zum Sitz,
+sodaß einer den Scherz macht, sie weiheten die Bank ein, bevor das
+Holz dazu geschnitten wäre. Von unten klappert das Gewerk der Maurer,
+und einer, der den Mörtel in der großen Pfanne rührt, singt das alte
+Grenchenlied mit dem spöttischen Hohoho als Schlußreim, in den die
+andern einfallen. Auch die Schultheßin, die mit unverhohlenem Mißtrauen
+den ausgespreiteten Mergel auf den Kleefeldern für weißen Schutt
+gehalten hat, vermag die fröhliche Luft nicht einzuatmen, ohne daß auch
+ihr etwas davon ins gallige Blut geht. Die Scherze der Brüder sorgen
+dafür, daß die Ausgelassenheit auch den Rückweg im sinkenden Nachmittag
+besteht, durch den sie, nun selber das Grenchenlied singend, über die
+Kante des Birrfeldes nach Müligen hinunter kommen.
+
+Andern Morgens nehmen sie Anna für ein paar Tage mit nach Zürich, wo
+sie das Rote Gatter ebenso überraschen will, wie sie selber überrascht
+worden sei. Heinrich Pestalozzi gibt ihnen das Geleit bis Baden; der
+laute Abschied erinnert ihn an die wehmütige Winterschiffahrt, und daß
+ihm die Brüder mit ihrer Ausgelassenheit die Geliebte für ein paar
+Tage entführen, ist ihm auch nicht recht; doch läßt sie ihm ein inniges
+Wort zurück, das er feierlich durch den Morgen nach Hause trägt: Ich
+will deiner Mutter meine Hoffnung sagen!
+
+Er ist noch keine Viertelstunde unterwegs, als er den übrigen Schwall
+schon vergessen hat und nur noch an das Glück denkt, das sie bei der
+Mutter mit ihrem Geständnis einbringen wird. Dabei lallt er die sieben
+Worte immerzu; sie bilden eine Perlschnur, an der die beiden Frauen
+als die letzten angereiht sind -- bald werden sie eins weiter gerückt
+und in die Kette eingereiht sein -- ihm aber ist sie mit der Sorge in
+die Hand gelegt, daß die Perlen bei dem Wechsel der Vergangenheit in
+die Zukunft keinen Schaden nähmen. Was bin ich, und was wird aus mir
+werden? hat er ins Tagebuch seiner Frau eingeschrieben; aber auf die
+Anklage seines Leichtsinns hat das Gefühl der Vorsehung einen Segen
+gelegt, den er glücklich in den Lerchenmorgen hinein trägt: Was er ist,
+darauf haben die beiden Frauen in unübersehbaren Stunden Schätze der
+Liebe gehäuft. Und wenn er ein sinnloser Verschwender damit würde, es
+kann ihm nicht gelingen bis in den Tod, sie auszugeben! Als ihn kurz
+vor Brugg ein Bettler um Geld anspricht, bietet er ihm alles, was er in
+seiner Tasche findet, und geht glücklich weiter, ihm für eine Stunde um
+keinen Kreuzer voraus zu sein.
+
+
+ 44.
+
+Es ist auf lange Zeit der letzte reine Morgen für Heinrich Pestalozzi;
+denn noch am Nachmittag erfährt er, daß über seine Unternehmung die
+absprechendsten Gerüchte in Umlauf sind, sodaß der unvermutete Besuch
+der Schwiegermutter nachträglich eine unfreundliche Bedeutung erhält.
+Nicht lange danach, daß Anna wieder von Zürich zurück ist, erscheint
+auch der Bankier Schultheß im eigenen Reisewagen mit zwei Söhnen und
+einem Bedienten, die Grundlage seines Darlehens zu prüfen. Er will
+jedes Feld und die Art der Besserung sehen, das Haus mißt er selber mit
+dem Maßstab in den Fundamenten aus: er hat dabei eine Art, zornig den
+Kopf zu schütteln, aber das ist nur eine Angewohnheit des alten Herrn,
+und am Ende geht es wie mit der Schultheßin: die Stimmung bessert sich,
+und wie damals Anna fährt nun Heinrich Pestalozzi mit dem Besuch nach
+Zürich zurück.
+
+Sie sind kaum fort, als Anna hört, daß der Bediente unterdessen seine
+eigenen Wege im Birrfeld gegangen ist, überall die Meinung aushorchend;
+auch bei dem Märki ist er gewesen: nach seinen boshaften Bemerkungen
+mit dem kläglichsten Ergebnis. Sie nimmt sich vor, es zu verschweigen,
+aber als Heinrich Pestalozzi nach einigen Tagen von Zürich zurückkommt,
+weiß er schon alles und wie das Urteil dieses Bedienten die Stimmung im
+Gewundenen Schwert macht. Noch am gleichen Tage gehen sie miteinander
+in den Letten hinauf, sich selber zu vergewissern, ob der tüchtige
+Stand der Felder doch nur eine Selbsttäuschung wäre. Sie finden die
+Esparsette auf den steinichten Ackern gut angesetzt, und auch die
+Krappflanzen lassen sich nicht übel an; aber die boshaften Worte
+des Bedienten werden damit nicht ausgewischt, und als Heinrich
+Pestalozzi gegen die Baustelle seines stolzen Hauses kommt, faßt ihn
+der Unwille so, daß er sich abwendet; gerade das ist von dem Bankherrn
+zu kostspielig gefunden worden. Schlimmer aber als alles ist ihm das
+Unkraut der Feindschaft, das der Bediente aus den Dörfern ans Licht
+getragen hat. Er schreibt zwar noch eine lange Darlegung an den
+Geldgeber, aber als Antwort kommt nach drei Tagen die unumwundene
+Mitteilung, daß er die Unternehmung als ruiniert ansehe.
+
+Es ist Anfang Mai, als das geschieht, und für den Sommer trägt Anna
+ein Kind unter dem Herzen; die frohe Hoffnung seiner Geburt vermehrt
+nun die Sorgen dieser Tage. Es kommen zwar noch der Junker Meis und
+der Pfarrer Schinz als Sachverständige zur Prüfung; sie finden, daß
+mehr als eigentliches Mißgeschick die allgemeine Unkenntnis der bei
+Tschiffeli erlernten Neuerungen den vorwitzigen Herrenbauer bei den
+Leuten ins Gespött gebracht hat, und daß der Haß sich eher gegen s
+einen Ratgeber Märki als ihn selber richtet. Auch treten sie ihm mit
+Wärme bei in ihrem Gutachten; aber der Bankherr will wie alle Geldgeber
+das Gold wachsen sehen, Mitte Mai kündigt er die Gemeinschaft, und
+bevor Heinrich Pestalozzi seine Dinge ins Gehen bringen kann, sind
+ihnen die Beine schon abgeschnitten.
+
+
+ 45.
+
+Das Kind wird im August geboren; es ist ein Knabe, den sie Hans
+Jakob nennen. Obwohl der Bankherr noch einmal begütigt worden ist,
+weiß Heinrich Pestalozzi, daß sein Mißtrauen nur auf den günstigen
+Augenblick wartet, sich ganz zurückzuziehen. Die Sorgen und Kämpfe
+um die Rettung seiner Existenz haben ihn so täglich beansprucht,
+daß er mit Scham und Schrecken vor den Richterstuhl des Ereignisses
+kommt. Seine Mutter ist zur Pflege da; sie legt ihm das kleine Wesen,
+das aus dem Schoß der Geliebten ans Licht gebracht worden ist und
+erschrocken von dieser Reise mit seinem dünnen Stimmchen schreit, mit
+einem wissenden Lächeln in die Hände. Er vermag der Erschütterung
+nicht standzuhalten, gibt ihr in einer abergläubischen Furcht das
+Kissenbündel zurück und läuft in den sinkenden Sommertag hinaus. Seit
+seinem Unglück mit dem Bankherrn ist ihm zumute, als ob alles mißraten
+müsse, was seine Hände anfassen, und dies ist eine lebendige Seele.
+
+Doch irrt er noch im Schatten seiner Bäume, als ihm eine Stimme aus dem
+Ungewissen Halt ruft: Ob er das Kind in seine Hände nimmt oder nicht,
+es bleibt sein Sohn, mit dem er gegen Gott und die Welt in eine neue
+Verantwortung getreten ist. Da gilt es andere Eigenschaften, als in
+feigem Aberglauben davon zu laufen. Indem er sich beschämt nach dem
+Haus zurück wendet, darin er sein Kind, seine Frau und seine Mutter
+in der Heiligkeit einer Menschengeburt verlassen hat, und in einem
+einzigen Aufblick die ewige Verantwortung seiner Vaterschaft fühlt,
+erkennt er auch, wie kläglich seine Sorgen und Kämpfe in den Monaten
+zuvor am Vergänglichen gehangen haben: Ein stolz gebautes Wohnhaus und
+blühende Kleefelder, Darlehen und Kaufbriefe sind keine Dinge, die vor
+Gott wichtig stehen; er ist ein Narr der Täglichkeiten geworden wie
+tausend andere und hat keine Zeit mehr für seine Seele gehabt, die sich
+darum furchtsam verkriechen wollte, wo etwas anderes als Geschäfte an
+sie kam.
+
+Die Frauen fürchten sich fast, als er wieder zu ihnen in die Kammer
+tritt, so sehr ist sein Gesicht von Tränen überströmt; auch verstehen
+sie seine Gebärde nicht, wie er das Kind aus der Wiege nimmt. Er macht
+es nicht recht, und seine Mutter springt ihm bei, daß er kein Unheil
+anrichte mit den kleinen Gliedern; dann aber muß sie lächeln, wie er
+in seiner Ungeschicklichkeit dasteht, die beiden Arme vorgestreckt,
+das Kissen zu halten, darauf das Neugeborene mit seinem struppigen
+Kopf liegt. Er läßt sich ehrfürchtig nieder mit einem Knie, wie wenn
+er es darbringen wollte, steht auch nicht auf, als ihm die Mutter das
+Bündel vorsichtig wieder abnimmt und in die Wiege legt. Darin hast du
+auch gelegen, sagt sie scherzend, um ihn nicht zu erzürnen, und bringt
+die Wiege leise tuschelnd in Gang, weil das Knäbchen schon wieder
+weinen will. Heinrich Pestalozzi, den die Scham fast tötet, als Kind,
+Mann und Vater im Geheimnis der Zeugung entblößt zwischen den Frauen
+dazustehen, hört es nicht; erst als Anna ihn ängstlich bei Namen ruft,
+hebt er die Augen wieder in die Welt und sinkt weinend zu ihr hin, wie
+wenn er ihr ein Unrecht angetan hätte, daß er sie aus ihrer einsamen
+Jungfrauenschaft zu einer Mannesfrau und Mutter machte. Sie aber, die
+nur das Glück der Erlösung darin empfindet, streichelt ihm vielmals
+die schwarzen Haare, als ob er ihr Neugeborener wäre: Heiri, sagt sie,
+und ihre Stimme geht auf dem süßesten Grat der Liebe, nun muß unser
+Haus bald fertig sein!
+
+
+ 46.
+
+Die Größe und Kostspieligkeit des Wohnhauses ist von den Ratgebern
+des Bankherrn am meisten getadelt worden; aber Heinrich Pestalozzi
+hat nicht an ein notdürftiges Dasein gedacht, als er mit seinen
+landwirtschaftlichen Zukunftsplänen aufs Birrfeld kam. Nun er auf
+weitere Gelder nicht mehr rechnen kann, nimmt er dem Haus das obere
+Stockwerk fort und läßt das flache Zeltdach gleich auf die Steinmauern
+des Erdgeschosses stellen; es wird zwar etwas anderes als eine
+italienische Villa daraus, aber es kann noch vor dem Winter gedeckt Und
+zum Frühjahr eingerichtet werden.
+
+Das unsichere Verhältnis mit dem Gewundenen Schwert schleppt sich
+indessen unter Mißtrauen und Vertröstungen über den Herbst hin, bis
+seine Freunde in Zürich ein Abkommen zustande bringen, wobei der
+Bankherr ein Ende mit Verlust dem Verlust ohne Ende vorzieht und
+angesichts der Schädigung, die sein Teilhaber durch diesen Rücktritt
+erleidet, unter Zurücklassung von fünftausend Gulden auf das Geschäft
+verzichtet. Das ist für Heinrich Pestalozzi, der seinen Dingen noch
+immer ihren Wert beimißt, zunächst kein übler Schluß der mißlichen
+Angelegenheit; aber aus den berittenen Plänen seiner Musterwirtschaft
+werden simple Fußgänger, er kann nicht mehr über Jahre zielen und muß
+aus der Hand in den Mund leben wie die andern auch. Für die Krappzucht
+hat sich der Boden als zu rauh gezeigt, dagegen steht die Esparsette
+ausnehmend gut und könnte Futter für manches Stück Vieh liefern; seine
+Freunde raten zur Sennerei, und er müßte weniger Federkraft haben, um
+nicht gleich mit beiden Füßen in das neue Arbeitsfeld hineinzuspringen.
+Noch über den Winter werden neben der Scheune die Stallungen angebaut,
+und als er zum Frühjahr auf Neuhof einzieht, brüllen schon die ersten
+Kühe darin.
+
+Es ist ein verdrießliches Regenwetter, als sie den Umzug machen,
+und einmal bleibt der Wagen mit dem Hausrat so in dem aufgeweichten
+Landwege stecken, daß sie ihn mitten im Birrfeld bei schneeigem
+Schlagregen abladen müssen, wobei ein jedes Stück seine Himmelswäsche
+mitbekommt. Dafür ist es auch zum letztenmal, daß wir umziehen, sagt
+er zu Anna, die unterdessen mit dem Kind im Pfarrhaus Obdach gehabt
+hat, als er sie nachher abholt und ihr das Mißgeschick schildert. Sie
+lächelt wehmütig dazu, als ob sie dieser Sicherheit nicht traue. Doch
+geht sie tapfer mit, das Kind in Tüchern eingewickelt auf dem Arm,
+den Einzug auf Neuhof zu halten. Er schreitet sorglich nebenher und
+hält ihren Regenschirm, den sie in den Mädchentagen von einer Reise
+mitgebracht hat, über sie und das Kind. Er ist für die Bauern in Birr,
+die nur ihre Regentücher kennen, ein so absonderliches Gerät wie die
+ganze Landwirtschaft dieses Züricher Stadtherrn: so stehen sie in den
+Türen, wie die drei daherkommen; einige Buben laufen ihnen durch die
+Nässe nach, und weil ein Witzbold unter den Alten das Wort aufgebracht
+haben mag, rufen sie es zum Schimpf hinter ihm her. Heinrich Pestalozzi
+hört nicht darauf, weil ihn der Gang sehr bewegt; doch als sie schon
+das Dach vom Neuhof im Regen glänzen sehen, hält ihn Anna am Arm zurück
+und hat ein seliges Lächeln in den Augen: Achtest du denn gar nicht,
+was sie sagen? Sie rufen: die heilige Familie mit dem Regenschirm!
+
+Er versteht ihre lächelnden Augen lange nicht und erschrickt, als
+er den Sinn erkennt, wie über eine Lästerung, sodaß auch ihr das
+Lächeln in den Augen untersinkt. Als sie das letzte Stück dann
+schweigend gegangen sind und vor das Haus treten, das er für sie und
+sich, auch für den Knaben auf ihrem Arm aus kühnen Hoffnungen in
+Sorgen hineingebaut hat, vermag sie nicht freudig über die Schwelle
+hineinzugehen und beugt sich mit dem Kind weinend an seine Brust, als
+ob dort eine bessere Heimat sei als in der Ungewißheit dieser Steine.
+Nun aber hat sich ihr Lächeln in ihm zur Glut entzündet; gleich einem
+Wanderstab hält er den zusammengeklappten Regenschirm in der Hand und
+ist noch einmal Jüngling seiner rauschhaften Stunden: Die Knaben haben
+recht; es mag wohl sein, daß wir dies bald verlassen müssen wie Joseph
+und Maria auf der Flucht. Drum laß uns, Liebe, nur zur Rast eintreten,
+weil es doch regnet. Vielleicht, daß morgen schon wieder die Sonne auf
+unsere Wanderung scheint!
+
+
+ 47.
+
+Heinrich Pestalozzi beginnt seine eigene Wirtschaft auf dem Neuhof
+mit ungefähr hundert Jucharten; doch liegen die einzeln gekauften
+Acker nicht beieinander; er muß vielfach über fremde Felder fahren,
+wenn er zu den eigenen will, und wiederum andere Bauern fahren ihm
+über die seinen. Das macht Verdrießlichkeiten, weil er sich nicht an
+ihre Dreifelderwirtschaft binden und die vorgeschriebenen Zeiten der
+Zelgenwege einhalten kann. So muß er darauf sehen, sein zerstreutes
+Gut durch Tausch und Kauf einheitlich abzurunden, Und ist bald in
+hundert Händeln. Der Metzger Märki spielt darin immer noch die
+Hauptfigur, er hat die nötigsten Stücke an sich gebracht, wie er sagt,
+um der Preistreiberei der Bauern zuvorzukommen; aber darum sind seine
+Forderungen nicht weniger gesalzen, und als es ihm gelingt, das gute
+Land in den Hummeläckern gegen ein steinichtes Feld in den Letten zu
+tauschen, das Heinrich Pestalozzi für sein Wegrecht nötig braucht, ohne
+Nachzahlung, obwohl es nur halb so groß ist: wird dieser Handel zum
+Wirtshausgespött im ganzen Birrfeld, um so mehr, als der Märki selber
+mit dem Gelächter hausieren geht.
+
+Nachher wird dem schlauen Händler freilich die Haustür im Neuhof
+zugemacht; aber weil er wirtet und das halbe Dorf in der Fron hält mit
+Trinkschulden -- wie den Tanner, der den Nußbaum fällte -- hat Heinrich
+Pestalozzi einen gefährlichen Feind an ihm. Gleich nach seinem Einzug
+auf Neuhof ist er schon mit der Dorfgemeinde Birr in Streit gekommen um
+einen Pfad nach Brunegg, den sie ihm mitten über seine Äcker laufen. Es
+führt zwar auch ein Fahrweg gegen den Wald hinauf, aber in den Zeiten,
+da die Felder meist unbebaut gelegen haben, ist der schnurgerade
+Pfad eine Gewohnheit geworden, deren Beseitigung sie dem Herrenbauer
+verübeln. Er versucht es mit Dornruten und Verhauen: aber was für
+Hindernisse er auch am Tag baut, in dunkler Nacht werden sie hartnäckig
+wieder zerstört, bis er den Weg durch den Pfarrer ins Verbot legen
+läßt. Damit bringt er endlich sein Recht zur Geltung, aber die Gemeinde
+ist ihm seitdem übel gesinnt, und als er auch den Weidegang auf seinen
+Feldern öffentlich und rechtlich untersagen läßt, beruft sich die
+Bauernsame von Birr auf ihr besonderes Weidrecht und fordert auch die
+von Lupfig auf, dem neumodischen Herrenbauer auf Neuhof den Prozeß
+anzusagen. Obwohl die Lupfiger sich dessen weigern, gibt es einen
+langen Rechtshandel, der ihn die bäuerliche Verbissenheit in täglichen
+Molesten spüren läßt.
+
+Endlich wird zwar durch obrigkeitliche Entscheidung das Weidgangsrecht
+auf seinen Feldern gegen einen jährlichen Bodenzins von einem Neutaler
+aufgehoben: aber gerade das setzt in den Köpfen der armen Tanner,
+die keine eigenen Matten haben und auf den Weidgang angewiesen sind,
+das Gefühl eines Unrechts fest, das ihnen von dem neuerungssüchtigen
+Herrenbauer angetan wird. Was durch seine anfängliche
+Handelsgemeinschaft mit dem Märki begonnen wurde, das wird nun durch
+dessen hinterhältige Feindschaft vollendet: die Armen, denen zu helfen
+die heimliche Hoffnung seiner Bauernschaft gewesen ist, hassen ihn
+als einen neuen Ausbeuter ihrer Not. Und da der Neuhof kein einsames
+Bauernhaus ist, sondern oft städtischen Besuch erhält, da namentlich
+Anna einen freundschaftlichen Verkehr mit den Frauen der umwohnenden
+Herrenleute unterhält, ist Heinrich Pestalozzi selber in die Rolle
+eines der Stadtherren gekommen, wie er sie in seiner hitzigen Jugend
+zu Höngg verabscheute; denn was für Sorgen und Nöte er unterdessen mit
+seiner Besitzung hat, das sehen die Armen bei ihm so wenig, wie er es
+damals sah.
+
+Eines Nachmittags muß er eine Bekannte seiner Frau zum Pfarrer nach
+Birr zurück begleiten, wo sie auf Besuch ist. Sie kommt aus Zürich
+und ist mit dem Aufwand der städtischen Mode derart geputzt, daß die
+Kinder aus den Häusern kommen und einige ihr nachlaufen. Gleich hat sie
+einige Batzen zur Hand, die sie zum Spaß hinwirft: nicht anders, als
+ob Hühner nach hingestreutem Futter sprängen, sind sie augenblicklich
+in einer Balgerei, die gleich einem Ball von Staub und Geschrei über
+den Weg rollt. Andere laufen neugierig herzu, und da die Zürcherin
+sich den Spaß noch ein paar Batzen kosten läßt, vergrößert sich der
+balgende Knäuel, indessen die herzlose Person vor Lachen wie toll
+auf ihren zierlichen Stiefelchen herum springt. Bisher hat Heinrich
+Pestalozzi alles für unbedachten Übermut gehalten, aber als sie ihm
+mit schadenfrohen Augen entgegen tritt -- da haben Sie Ihr Volk, Herr
+Pestalozzi -- und lachend gegen das Pfarrhaus davonläuft, erkennt
+er, daß der unwürdige Auftritt sein Gespräch mit ihr beantworten und
+verhöhnen soll.
+
+Der Zorn über ihre Herzlosigkeit macht ihn wild: Dann gehöre ich
+auch dazu! schreit er ihr nach und fährt mitten in die Balgerei. Das
+erste, was er ergreift, ist der Schopf eines stakigen Mädchens, das
+gerade über einen Vierjährigen herfällt, ihm seinen Batzen aus der Hand
+zu reißen. Ehe er noch selber weiß warum, hat er sie und ein halbes
+Dutzend der andren verwalkt und ihnen, soviel sie kratzen und beißen,
+die Batzen abgenommen. Einigen gelingt es, mit ihrer Beute davon zu
+laufen; die nichts haben, bleiben stehen, und als er das eroberte
+Geld überzählt, braucht er nur drei Batzen aus seiner Tasche hinzu zu
+legen und er hat für jeden einen: Hier ging Gewalt vor Recht, sagte
+er, nun aber steht Recht vor Gewalt! zählt jedem seinen Batzen aus,
+vom Kleinsten angefangen, und heißt sie heimlaufen. Die nichts gerafft
+hatten, denen ist es recht, die andern aber -- die ihr erobertes
+Eigentum aus seinen Händen verteilt sehen -- rufen mit mörderlichem
+Geschrei die Ihrigen zur Hilfe, sodaß Heinrich Pestalozzi froh ist,
+als er den letzten Batzen verteilt hat und sich heim wenden kann.
+Doch hängt sich das schreiende Gefolge an ihn, und einige Mütter,
+von ihren Kindern aufgeklärt, fordern drohend den Raub zurück. Unter
+Schimpfreden und Steinwürfen kommt er gegen den Neuhof, wo ihn Anna mit
+dem Knaben an der Hand erschrocken empfängt; denn nun erst nimmt er
+wahr, daß er im Gesicht und an den Händen von Kratzwunden blutet und
+mit seinen Kleidern durch den Staub gewälzt ist. In der folgenden Nacht
+geschieht es zum ersten Mal, daß ihm einige von seinen blitzblanken
+Fensterscheiben eingeworfen werden.
+
+
+ 48.
+
+Das Ergebnis dieser mißglückten Ausgleichung erschüttert Heinrich
+Pestalozzi ebenso tief wie der höhnische Anlaß, und tagelang vermag
+er nicht mehr an seine Dinge zu gehen, so mutlos wird er. Es ist nun
+schon das sechste Jahr, daß er sich müht mit der Landwirtschaft, und es
+ist nichts dabei heraus gekommen, als daß er sich und andere in Sorgen
+und Verluste gebracht hat; er sieht kein Ende, danach es anders werden
+könnte. Indessen gibt es solche Stadtfräuleins und solche Bettelbuben,
+als ob sie in der Welt sein müßten wie alles Gute auch, und aus allen
+seinen Plänen geschieht nichts, was etwas daran ändern könnte; denn
+selbst, wenn er zum Wohlstand seiner Träume käme: die Unfeinheit
+der einen und die häßliche Habgier der andern wäre damit doch nicht
+geändert. Wieder einmal erkennt er die Quellen allen Übels in der
+Natur des Einzelnen; und furchtsam sieht er auf seinen Knaben, der nun
+ins vierte Jahr geht und die ersten Anzeichen seiner Persönlichkeit
+nicht mehr verbirgt. Es ist sein Sohn, und schon meint er die eigenen
+Fehler an ihm zu sehen, seine Zerstreutheit, Unordnung und den unsteten
+Eigensinn. Namentlich die listigen Versuche des kindlichen Eigensinns
+besorgen ihn; es ist nicht anders, als ob der kleine Geist unausgesetzt
+eine Machtprobe gegen die Erwachsenen mache.
+
+Unvermutet kommt Heinrich Pestalozzi in Eifer, an seinem Jaköbli
+den Schlichen und Trotzproben dieser kindlichen Willenskraft mit
+Experimenten nachzugehen, immer bemüht, die störenden Blätter beiseite
+zu biegen, damit der Kern aus sich selber wachsen könne. Er sieht
+erstaunt und betroffen zugleich, wieviel Schleichwege der kindliche
+Geist schon kennt, der Erziehung auszuweichen, und wievieler Strenge
+es bedarf, ihn dieser Schleichwege zu entwöhnen. Die Erinnerung an
+die eigene Jugendzeit macht seine Besorgnisse nicht geringer; denn
+nun meint er zu sehen, warum er selber solch ein im Wind der Gefühle
+schwankendes und von dem Rankenwerk wirrer Einfälle behangenes
+Gewächs geworden ist. Anna versucht ihm zu wehren, wo er dem Kleinen
+zu arg zusetzt; aber als der Winter gekommen ist, scheint es seinem
+entzündeten Eifer schon, als gäbe es nichts Dringlicheres für ihn und
+andere in der Welt, als diese Dinge in unausgesetzten Versuchen klar zu
+stellen; denn alles, was mit einem Menschen später auch geschähe: seine
+Kindheit bliebe die Wurzel seines Schicksals; wie die ins Erdreich
+finde, so wüchse es.
+
+Als das Schwierigste erkennt er bald, die Wartung der kleinen Seele
+so zu halten, daß sie den Mut und die Freude nicht verliert; und es
+ist sein Knecht, der ihn auf diese Weisheit bringt. Denn als der das
+Jaköbli einmal in seiner Gegenwart einige Weisheiten sagen läßt, die
+er draußen am Bach mit ihm gelernt hat, und mit Vaterstolz fragt: ob
+der Knabe nicht ein gutes Gedächtnis habe? schüttelt der Knecht, der
+mit der kindlichen Munterkeit auf einem andern Fuß steht, traurig
+den Kopf: Das wohl, jedoch Ihr übertreibt es mit ihm! Und als er ihm
+betroffen sagt, das könne nicht wohl sein, weil das Jaköbli sonst
+sicher die Freude verlöre und furchtsam würde; dann hieße es natürlich,
+vorsichtig seinem Geist nachzugehen -- da richtet sich der Klaus von
+seinem Holzscheit auf, daraus er einen Schwengel schnitzen will, und
+die Freude steigt ihm ins ehrliche Gesicht: Ihr achtet also des Mutes
+und der Freude! Eben das hatte ich gefürchtet, daß Ihrs vergessen
+würdet!
+
+O, Klaus, sagt Heinrich Pestalozzi da zu seinem Knecht, und der
+Schrecken mischt sich mit dem Glück über das Wort: alles Lernen wäre
+nicht einen Heller wert, wenn Mut und Freude dabei verloren gingen!
+
+
+ 49.
+
+Es ist zum erstenmal, daß Heinrich Pestalozzi sich selber als
+Entdecker fühlt; was er bis dahin auch getrieben hat, von seiner
+Jünglingsschriftstellerei bis zur Landwirtschaft, immer hat ein anderer
+das Tor aufgeschlossen: hier aber hält er den Schlüssel selbst in der
+Hand, und so scheint ihm auch die nebensächlichste Erfahrung seiner
+Erziehungsversuche wichtig genug, sie in einem besonderen Tagebuch
+wortwörtlich aufzuzeichnen.
+
+Mit diesen Aufzeichnungen tritt er aber auch den Gedanken seiner
+Jugend wieder näher, und als im Frühjahr die Helvetische Gesellschaft
+ihre vierzehnte Tagung in Schinznach abhält, pilgert er hinüber, zum
+erstenmal im Kreis dieser Männer zu sein, die aus dem herrschsüchtigen
+Kantonsgeist wieder einer Eidgenossenschaft im Sinn der Väter
+zustreben. Da sieht er den greisen Ratschreiber Iselin aus Basel,
+dessen Gestalt als ein neuer Stauffacher in der jungen Schweiz ein
+sagenhaftes Vorbild ist, und all die andern Träger würdiger Namen.
+Er meint fast, noch einmal in der Gerwe zu sein, so werden die
+spartanischen Vorbilder seiner Jünglingszeit in einem Vortrag wach, den
+der Landvogt Tscharner von Wildenstein hält; aber während der Mann die
+Abhärtung des Körpers und der Seele als Losung gegen den weichlichen
+Luxus der Zeit ausgibt, fängt es in ihm selber anders an zu brennen: er
+denkt an die Scharen der Bettelkinder, und daß keinem Tanner auf dem
+Birrfeld mit einer solchen Losung gedient sei, die für die Herrenkinder
+und Stadtbürgersöhne allein gedacht ist. Er sieht die gepflegten
+Gesichter der Zuhörer, die aus der Sicherheit ihres Standes tapfer und
+begeistert sind, gegen den Luxus zu kämpfen, und kommt sich plötzlich
+als ein Fremdling der Armut unter ihnen vor: Es ist eine ältere
+Generation! will er sich trösten; aber als er am andern Nachmittag
+allein auf der Höhe bei Brunegg steht, wo der Blick zurück auf das
+saubere Bad Schinznach trifft, aber vor ihm in die armselige Breite
+des Birrfeldes geht, fühlt er die Scheidung der Menschlichkeit in arm
+und reich wie zwei feindliche Heerlager, dazwischen er selber als
+heimatloser Überläufer im Zwiespalt geblieben ist. Sein Jaköbli bekommt
+zwar danach manches von den spartanischen Vorschlägen des Landvogts zu
+spüren, aber ihn selber treibt sein Gefühl in andere Notwendigkeiten.
+
+Unterdessen machen ein böses Frühjahr und ein trockener Sommer auch
+die Hoffnungen seiner Sennerei zunichte. Die ersten Viehkäufe hat ihm
+der Märki noch besorgt, und es sind nicht einmal die schlechtesten
+gewesen; als er sich selber in die Untiefen der Märkte wagt, stellt
+er oft genug den Dummen dar, den die Händler suchen. Auch hat die
+kostspielige Einrichtung Schulden auf ihn gelegt, deren Zins ihn schon
+in guten Zeiten drückte; nun selbst die Bauern mit fetteren Ländereien
+in Futternot geraten, sitzt er auf seinem steinichten Neuhof bald in
+der Dürre da. Ein Stück Vieh nach dem andern geht ihm fort, bis der
+Rest den Aufwand seiner Sennerei nicht mehr ertragen kann. Da er mit
+den Zinsen in Rückstand bleibt, werden die Gläubiger besorgt; als erst
+einer sein Kapital gekündigt hat, folgen die andern dem Beispiel, und
+so steht eines Tages Heinrich Pestalozzi zum zweitenmal vor der Not,
+daß ihm seine Besitzung versteigert wird.
+
+Es liegen fünfzehntausend Gulden Schulden darauf, und diesmal ist kein
+Bankherr als Teilhaber da, der sich mit einem Verlust herauszieht. So
+bitter und demütigend es für Heinrich Pestalozzi ist, nun können nur
+noch die Erbhoffnungen seiner Frau den Neuhof retten. Sie einigt sich
+mit ihren Brüdern -- und hat nicht einmal Tränen gegen ihren Spott --
+daß sie die dringendsten Schulden für einen entsprechenden Verzicht
+auf ihre Erbschaft übernehmen. Nur glauben die nicht mehr an seine
+Landwirtschaft und richten ihm einen Baumwollenhandel ein, wo sie nach
+Zürcher Art den Rohstoff liefern, den er im Birrfeld zum Spinnen und
+Weben in die Häuser geben muß, sodaß er nichts als den karg bezahlten
+Aufseher ihrer Geschäfte vorstellt. Als endlich stürzende Herbstfluten
+den dürren Sommer auslöschen, ist von dem Traum seines Lebenskreises,
+der Wohlstand und Segen in der ärmlichen Landschaft verbreiten soll,
+nichts geblieben, als daß er im Dienst städtischer Fabrikherren
+die Not des Bauernvolks ausnützen hilft; und es bedürfte nicht der
+Erinnerung an den Ernst Luginbühl im Webstuhl und an den Großvater mit
+seiner Verachtung dieser ins bäuerliche Leben einfressenden Industrie,
+um ihm sein zertretenes Dasein zur Qual zu machen.
+
+
+ 50.
+
+Es sind nicht immer die eigenen Kinder der Bauern und Tanner,
+die Heinrich Pestalozzi in den Baumwollstühlen das Elend ihrer
+verwahrlosten Jugend weben sieht, sehr häufig sind es Waisen, von der
+Gemeinde ausgedungen, die ihren Pflegern das harte Brot verdienen
+müssen. So schneidend traurig es für ihn ist, daß er Anna und ihren
+Knaben mit in den Zusammenbruch seiner Traumgebäude gerissen hat,
+schlimmer greift es ihn an, Helfershelfer dieser Ausnützung zu sein.
+Sein Herz zittert, wenn er in die Häuser muß, und das früh verblaßte
+Gesicht Ernst Luginbühls kommt wieder in seine Träume. Immer deutlicher
+fühlt er die Hand des Schicksals, die ihm alles zerbricht, was er
+selbstgefällig in seine Hand nimmt; und tagelang kann er verscheucht
+im Neuhof sitzen, über seine Schuld an diesem Schicksal zu grübeln.
+Zuletzt empfindet es sein verscheuchter Geist fast als Milderung, daß
+die Teuerung ihm noch schlimmeres Elend vor den Neuhof treibt.
+
+Denn die an den Webstühlen sitzen, haben immer noch Bett und
+Brot, während ihrer viele von der Hungersnot in den Straßenbettel
+getrieben werden, daß sie wie herrenlose Hunde die Häuser der Reichen
+umlagern und auf den Abfall der Haushaltung warten. Auch vor den
+Neuhof kommen sie scharenweis, und Heinrich Pestalozzi, der ihre Hudeln
+und die von der Krätze entstellten Hände, ihre Frechheit und die
+Verkommenheit der jungen Gesichter sieht, kann Tränen der Bitterkeit
+weinen, wenn er bei diesem Anblick an den Vortrag des Landvogts
+Scharner denkt; solange es Luxus und dieses grausame Elend gleichzeitig
+gibt, sind alle patriotischen Träume leichtsinnige Spielereien. Es
+treibt ihn, sich ganz zu den Enterbten zu schlagen, und oftmals nimmt
+er ihrer einige ins Haus, mehr als das Brot mit ihnen zu teilen; er
+sieht, wie unmenschlich sie schon geworden sind, gierig und in aller
+Heimtücke der Verstellung geschickt: aber er wendet unermüdlich die
+Erzieherklugheiten an, die er an seinem Jaköbli erfahren und geübt
+hat und immer sicherer wird es ihm, daß er damit an ein Zaubermittel
+rührt, ihrer Verkommenheit statt von außen von innen zu begegnen.
+Was sonst in Stadt und Land sich als Wohltätigkeit breitmacht, setzt
+eine Weltordnung voraus, dazu die hilflose Verkommenheit der Armut
+so unabänderlich gehört wie der Überfluß des Reichtums, während --
+das wird ihm sicherer mit jedem Tag -- in jedem dieser Bettelkinder
+der natürliche Keim zu einem rechtschaffenen Menschen steckt, nur
+daß keiner daran denkt, den zu bilden und also der Armut von innen
+beizukommen.
+
+Was in andern Zeiten für Heinrich Pestalozzi nur eine hitzige Erfahrung
+gewesen wäre, das ergreift seine gedemütigte Natur nun zur Rettung, und
+eines Tages löst die Verzweiflung dieser Zeit die tiefe Erkenntnis
+seines Schicksals aus: Ich mußte arm werden aus meinem Hochmut der
+Wohlhabenheit; denn wie soll einer dem Armen helfen können, der mit
+den Sorgen seines Besitztums belastet ist? Wohlstand und Reichtum
+sind Zwangsherren; was für Umstände und Vorsichten braucht es, sie zu
+erhalten? Der Reiche kann nicht der Bruder des Armen sein; denn Geben
+und Nehmen scheidet ihre Seelen. Darum steht im Evangelium geschrieben:
+verkaufe, was du hast, und gibs den Armen!
+
+Seine Frau erschrickt, wie sie die Botschaft hört; sie fühlt sofort,
+daß dies eine neue Prüfung wird; doch kennt sie ihre Sendung, das
+Senkblei seiner Stürme zu sein, und obwohl sie um ihren Knaben zittert
+-- der durch all die neuen Worte des Vaters nicht gestört worden
+ist, aus seinen Brettchen ein Haus zu bauen, und der sie ungestüm an
+der Hand herbei holt -- nickt sie dem Mann erst zu, bevor sie das
+Wunderwerk des Knaben bestaunt. Es ist einer wie der andere, denkt sie
+und sieht die Spalten zwischen den Brettern, die trotzdem ein Dach
+bedeuten sollen: aber es sind Männer und sie wollen bauen, während wir
+Frauen wohnen möchten.
+
+Heinrich Pestalozzi hat nichts von ihrer Bewegung gemerkt, er ist
+hinausgegangen in den Abend, wo der verspätete Herbstregen schon wieder
+in Strömen fließt, und läuft dem Sturz seiner Gedanken nach bis in die
+Dunkelheit. Und während die Täglichkeit danach auf dem Birrfeld ihre
+Herbstarbeiten macht und mancher Blick mit Mitleid das niedrige Dach
+des Neuhofs streift, wo die Sorgen -- wie jeder weiß -- dem vorwitzigen
+Herrenbauer aus Zürich ans Fundament seines Daseins gegangen sind,
+sitzt Heinrich Pestalozzi glücklich bei seinem Knaben und baut Häuser,
+Brettchen auf Brettchen, ob sie zusammenstürzen, unermüdlich aufs
+Neue, bis der Plan seiner Armenkinderanstalt fertig ist: Ich habe ein
+zu großes Haus, sie haben keins; mir fehlen die Hände, die Felder zu
+bestellen, und ihnen mangelt die Arbeit! Was gilts, wenn wir Armen
+uns zusammentun, sind wir reich! Sie sollen mir spinnen für ihren
+Unterhalt, und ich will sie lehren. Ich will sie säubern von ihrem
+Schmutz und will selber rein werden von den Geschäften, für die ich
+nicht geschaffen bin. Ich habe mein Haus Neuhof genannt, als ob es eine
+Neuigkeit wäre, noch ein Haus wie tausend andere dahin zu stellen; nun
+aber soll es ein Neuhof sein, wie keiner vordem war: ein Neuhof, wo die
+Armut sich selber durch Arbeit und Lehre zur Menschlichkeit verhilft,
+die sonst in Faulheit und Laster betteln geht. Jetzt weiß ich, warum
+ich auf dieses steinichte Birrfeld mußte; und wenn weiter Sorgen und
+Not kommen, will ich sie gern tragen, weil es die Sorgennot der armen
+Menschheit, nicht mehr die meine ist!
+
+
+ 51.
+
+Das Jahr ist noch nicht zu Ende, als Heinrich Pestalozzi schon die
+ersten Bettelkinder im Hause hat. Er kalkuliert, daß der Abtrag ihrer
+Arbeit die Kosten einer einfachen Erziehung bestreiten müsse, und gibt
+sich zuversichtlich daran, die Sennerei in einen Raum zum Spinnen
+umzuwandeln, den er seine Fabrik nennt. Die Schwäger in Zürich, die mit
+seinen Baumwollgeschäften schon unzufrieden waren, lamentieren über
+den neuen Plan und beschwören Anna, daß sie ihn davon abhalten möge.
+Ihnen, die seine Lage kennen, darf er sein Herz nicht öffnen, er muß
+ihnen vorrechnen, daß es für ihn selber eine Rettung aus seinen Nöten
+sei; es fällt ihrer Geschäftsgewandtheit nicht schwer, ihm die Irrtümer
+seiner Kalkulation mit spöttischen Fragezeichen anzumalen; aber weil
+Anna mit Standhaftigkeit die Mutterschaft seines Armenkinderhauses
+antritt, schlägt er den Widerstand nicht an.
+
+Für Anna ist es ein Opfer, sie fängt schon an zu kränkeln, auch
+stehen ihr als Stadtherrnkind die Hände nicht danach, verwahrlosten
+Bettelkindern die Läuse abzulesen. So schlimm es ihr erging in den
+Kämpfen dieser Jahre, in den Stuben ist die Ordnung und Reinlichkeit
+ihrer Gewohnheit geblieben, Freunde sind auf Besuch gekommen, und
+wenn Abends die Messinglampe brannte, senkte sich doch ein Stück
+Gottesfrieden in ihren warmen Schein: nun geht das alles hin wie
+ein schöner Traum; als ob sie selber mit ihrem Knaben ins Armenhaus
+gekommen wäre, dringt der Geruch der Hudeln und das Geschrei der
+Verwahrlosung durch ihre behüteten Räume. Aus sich selber hätte sie
+dergleichen niemals vermocht, obwohl es ihrem Herzen nicht an Edelmut
+fehlt; der gierigen Tatensucht ihres Gatten vermag sie um so weniger zu
+widerstreben, als sie das Glück sieht, das nach der mutlosen Dumpfheit
+so vieler Jahre über ihn gekommen ist. Sie hat ihn nun wieder, wie er
+als Jüngling werbend vor ihr gestanden hat, trotzig bereit, sich die
+Adern aufzuschneiden, wenn sein Blut für etwas Edles fließen müßte;
+und da es dieser rauschhafte Edelmut ist, um dessentwillen sie ihn
+andern Männern von soliderer Daseinsfestigkeit vorgezogen hat, nimmt
+sie -- zum wenigsten im Anfang -- auch dieses Los gern auf sich, das
+ums Vielfache schwerer als das ihres Mannes ist: weil ihr Teil allein
+die Aufopferung ist, wo er den Genuß seiner Idee und die Befriedigung
+seiner Natur hat.
+
+Heinrich Pestalozzi weiß von Anfang an, daß es mehr gilt als seine
+eigene Anstalt, und daß er wohl die Menschenfreunde des Landes anrufen
+darf, ihm beizustehen; wenn erst sein Versuch gerät, ist allerorten
+ein Beispiel gegeben, auf menschlichere und gründlichere Art mit der
+Bettlerplage aufzuräumen als durch Landreiter: das Wort des Großvaters
+in Höngg, daß er andere Mittel wüßte als die monatliche Betteljagd der
+gestrengen Herren, liegt ihm dabei wie ein Vermächtnis im Sinn. So
+scheut er sich nicht, selber die Betteltrommel für sein Werk zu rühren
+und mit einem Flugblatt an den Türen der reichen Häuser in Basel, Bern
+und Zürich anzuklopfen. Es ist zum erstenmal seit jener jugendlichen
+Mitarbeit am Erinnerer, daß er die Feder in die Hand nimmt; er ist
+unterdessen ein Jahrzehnt älter geworden und steht mitten in den Nöten
+des Lebens, dem sein Jünglingseifer mit römischen und griechischen
+Schulideen zu Leibe wollte. So wird es eine andere Rede, als er sie
+damals aus Demosthenes übersetzte, ein Quell wirklicher Nothilfe fließt
+darin und rührt an die Herzen, daß vielerorten Gutwillige, von der
+Neuheit des Planes wie von seiner hinreißenden Darstellung gewonnen,
+dem Urheber auch das Vertrauen schenken, ihn auszuführen. Was er sich
+in seiner Lernzeit als Lebensberuf gedacht hat, ein Fürsprech des
+niederen Volks zu sein, das ist er damit unvermutet doch noch geworden,
+und die Besten im Lande lohnen ihm seine erste Rede mit freudigem Opfer.
+
+Geschwellt von diesem Beifall wächst sich der Plan bald aus. Anna
+Pestalozzi mit zwei Mägden leitet die Mädchen in allen Arbeiten der
+Küche und des Haushalts an, sie lernen waschen, nähen, flicken, auch
+die einfache Gartenarbeit, während die Knaben mit den Knechten auf die
+Felder, in die Ställe und in die Scheune gehen: sie sollen für kein
+anderes Leben aufgezogen werden als das der ländlichen Arbeit, wie
+es ihrer wartet, und bei allem zugreifen lernen, was die gemeinsame
+Haushaltung ihnen unter die Hände bringt. Daneben müssen sie spinnen
+und weben, und hierfür hat Heinrich Pestalozzi das Glück, in der
+Jungfer Madlon Spindler aus Straßburg eine vortreffliche Lehrmeisterin
+zu finden, die bald als das Spinner-Anneli im ganzen Birrfeld bekannt
+ist. Er selber gibt den Kindern Unterricht; denn wenn sie auch zu
+keinem andern Leben als dem der Armut abgerichtet werden sollen, die
+Wurzel seines Planes bleibt doch, Menschen aus ihnen zu machen, die
+das Bewußtsein ihrer menschlichen Würde nicht mehr verlören und auch
+dem schlimmsten Los die Unverlierbarkeit ihrer Seele entgegenzustellen
+vermöchten. So lehrt er sie nicht nur das Abc, sondern versucht in
+die zufälligen Wahrnehmungen ihrer Sinne die Ordnung einer bewußten
+Anschauung zu bringen, indem er sie anleitet, über das Gefühl des
+Augenblicks das Urteil ihrer eigenen Erfahrung Meister werden zu
+lassen. Was er selber in den Gesprächen mit dem Jaköbli erfahren hat,
+wendet er nun an, und ob er oft einsehen muß, daß ihm viel zu einem
+Schulmeister fehlt, weil er zu hitzig und zu blind in seinem eigenen
+Eifer wird, sodaß er leicht mit einem Gedanken schon ans Ende gelaufen
+ist, während sie noch begossen vom Schwall seiner Worte den Anfang
+garnicht gefunden haben: so verliert er doch hierin den Mut nicht,
+schließlich die rechten Kunstmittel zu finden, um auch im Blödesten
+noch den Keim zu wecken.
+
+Über allem aber steht wie eine himmelhohe Rauchsäule das Glück, als
+Dreißigjähriger endlich dem Leben zu dienen, statt sich im Erwerb der
+Lebensmittel aufzureiben. Als der Ratsschreiber Iselin eine Zeitschrift
+nur für die Fragen der Volkswohlfahrt gründet, die er die Ephemeriden
+nennt, glaubt Heinrich Pestalozzi wirklich wieder in den Zeiten der
+Gerwe zu leben; nur, was damals Überschwall jugendlicher Ideen gewesen
+ist, das lebt nun als Tat und Wirklichkeit, und er steht mitten drin.
+Kein Geringerer als der Landvogt Tscharner auf Wildenstein tut ihm die
+Ehre an, in siebzehn Briefen über Armenanstalten auf dem Lande seine
+Pläne zu erörtern; und wie er ihm darauf mit eigenen Briefen in den
+Ephemeriden antworten, seine Ansichten und Bedenken, seine Hoffnungen,
+Erfolge und Enttäuschungen vor den Gebildeten seines Landes darlegen
+darf, in der Gewißheit, man achtet seiner und horcht auf ihn: da steht
+Heinrich Pestalozzi endlich da, wohin sein Traum in zwei Jahrzehnten
+gegangen ist. Nicht zu genießen, sondern zu wirken ist der Trieb
+seines Lebens; als er mit der Landwirtschaft sein Dasein auf die
+eigene Wohlfahrt gründen wollte, hatte ihn das Schicksal gedemütigt,
+bis er die Hand darin erkannte; nun liegt die Landwirtschaft und die
+Collegienzeit hinter ihm als bittere Lebensschule, die Sehnsucht seiner
+Jugend ist keine Täuschung gewesen, der Traum wurde doch Wahrheit; und
+so mühsam, so aufreibend in hundert Hindernissen sein Dasein geworden
+ist, ein gepeitschtes Wasser, darauf der Kahn seiner Häuslichkeit ohne
+Segel und Ruder verlassen schwimmt: die Tage seines Glücks sind da,
+weil nichts mehr zwischen seinem Gewissen und seinen Geschäften steht.
+
+
+ 52.
+
+Heinrich Pestalozzi merkt lange den Zwiespalt nicht, an dem sein Glück
+scheitern muß. So überzeugend seine Zahlen auf dem Papier stehen, daß
+die Anstalt sich aus sich selber zu halten vermöge: als die Armenkinder
+wirklich da sind, kommt es zwingender als früher darauf an, die
+vergrößerte Haushaltung wirtschaftlich zu halten; denn die Zuschüsse
+der Menschenfreunde, so tapfer sie auf seine Bitte eingehen, decken
+nicht einmal die erste Einrichtung. Um das Exempel aus dem Papier in
+die Praxis zu bringen, bedarf es anderer Finanzkünste, als sie Heinrich
+Pestalozzi geläufig sind; seine Geschäftsführung kommt schließlich
+doch wieder auf die alte Torheit hinaus, die kleinen Löcher aus einem
+großen Loch zu flicken, und wenn das zu bedenklich wird, mit einem
+phantastischen Lappen die Blöße zu decken. An Einfällen hierzu fehlt es
+ihm nicht; nach Jahresfrist ist aus seiner Anstalt schon eine wirkliche
+Fabrik geworden, indem er die Baumwolle nicht nur spinnen und weben,
+sondern die gewebten Stoffe auch färben und bedrucken läßt, und eines
+Tages erleben die Zurzacher den Spaß, daß der Armennarr vom Neuhof --
+wie er nun schon im ganzen Aargau heißt -- selber seinen Stand auf
+ihrer Messe aufgeschlagen hat, gefärbte und bedruckte Baumwollentücher
+zu verkaufen.
+
+Irgend ein Spaßvogel bringt die Absprache auf, daß er sich eine
+reichliche Bestellung abmessen läßt; wie aber Heinrich Pestalozzi
+glücklich seine Elle geschwungen hat und schwitzend hinter dem Berg
+seiner entrollten Ware steht, entdeckt der angebliche Käufer soviel
+Fehler, daß er ihm scheltend alles hinwirft und unter dem Gelächter der
+andern verschwindet. Erst als ihm das zum drittenmal begegnet, merkt
+seine Harmlosigkeit, daß es die Rache der Händler für die unerbetene
+Konkurrenz ist. Er läßt sich von seinem Zorn hinreißen, mit seiner Elle
+dem Mann nachzuspringen, weil aber der halbe Markt mit Hetzgeschrei
+hinter ihm herläuft, bleibt er doch der Gefoppte. Als er am dritten Tag
+entmutigt abführt, hängt hinten an seinem Wagen -- ohne daß er es merkt
+-- ein freches Schild: Hier wird um Gotteswillen schlechte Ware für
+gute verkauft!
+
+Der Spott trifft ihn tief, weil seine Ware wirklich nicht gut ist
+und es auch gar nicht sein kann. Die Kinder, zum Teil mit Zwang in
+seine Arbeit gebracht, sind viel zu sehr ans Bettelgeläuf gewöhnt,
+um die strenge Arbeitszucht zu ertragen; wenn sie den ersten Hunger
+gesättigt haben und in sauberen Kleidern stecken, jammern sie nach
+ihrem ungebundenen Elend. Immer wieder geht eins in der Sonntagnacht
+mit den guten Kleidern davon, und es wiederzuholen ist schwierig,
+weil die Bauern -- denen er die billigen Arbeitskräfte der Kinder
+fortgenommen hat -- ihm feindlicher sind als je und auch die Behörden
+der neumodischen Gesinnung im Neuhof argwöhnisch mißtrauen. Selbst die
+Gutwilligen bleiben selten länger, als ihre Zwangszeit ist, und darum
+hat sein klug ausgerechneter Plan, mit dem Verdienst der Zöglinge die
+Anstalt zu erhalten, das böse Loch, daß er nur die fehlerhafte Ware von
+Anfängern liefern kann.
+
+Zu alledem muß Heinrich Pestalozzi immer bitterer bemerken, daß
+er selbst für die Schulmeisterei weder geeignet noch geübt ist;
+unausgesetzt beschäftigt, die richtige Lehrart zu finden -- sodaß
+eigentlich nur er allein bei seinem Unterricht etwas lernt -- ist er
+ganz unfähig, drei Dutzend solcher Kinder in Disziplin zu halten. Im
+Augenblick überfließende Liebe und im nächsten maßloser Zorn, steht er
+machtlos inmitten ihrer Tücke, die sich vor seinen Schlägen fürchtet
+und bei seiner Liebe heuchelt; um beides zu verhöhnen, wenn er den
+Rücken gewandt hat.
+
+Niemand fühlt diese Mängel tiefer als seine Frau, die nun den Schmerz
+erlebt, den Geliebten auch in den Dingen seiner Neigung unfähig wie
+im praktischen Erwerb zu sehen; bald hat sie statt seiner die Leitung
+der Anstalt in der Hand, während er unruhig von einem zum andern
+läuft, mehr verwirrend als fördernd. Durch einige Jahre erhält sie
+mit unmenschlichem Kampf den äußeren Bestand der Dinge, dann wird
+sie krank, und kaum hat sie einige Wochen gelegen, als auch schon
+die Unbotmäßigkeit zur Überschwemmung anschwillt, darauf Heinrich
+Pestalozzi mit seinem unsteten Willen wie ein Kork schwimmt. Ein
+paarmal rafft sich die Tapfere noch auf, die Sache zu retten; aber mit
+ihren vierzig Jahren ist sie für die stündlichen Aufregungen nicht mehr
+stark genug. Auf einem verzweifelten Besuch bei ihrer Freundin, der
+Frau von Hallwyl, kommt sie ernsthaft zu liegen und kehrt nicht mehr
+auf ihren Posten zurück.
+
+Die Anstalt ist unterdessen mit den Bedienten auf fünfzig Mäuler
+angewachsen, deren Ernährer Heinrich Pestalozzi sein soll, schon drohen
+die Gläubiger mit der Vergantung, während er immer nach neuen Plänen
+rudert, die alten zu retten: Seit zwei Jahren ist das Bärbel mit dem
+Kaufmann Groß in Leipzig verheiratet, wo sie schon an Kindesstelle
+bei der verwitweten Tante Weber gewohnt hat. Ihr Mann führt die
+Geschäfte des Hauses Weber, sodaß die Schwester als die eigentliche
+Erbin im Wohlstand lebt; Heinrich Pestalozzi hat sich in seiner Not
+an sie um ein Darlehen gewandt, und wirklich erscheint eines Tages
+im November sein Bruder Johann Baptista, der nach wechselnden Jahren
+einer verunglückten Kaufmannschaft wieder in Zürich lebt, als ihr
+Mittelsmann, den letzten Versuch einer Rettung zu machen. Es kommt ein
+Vertrag zustande, worin die Scheune mit zwanzig Jucharten um den Preis
+von fünftausend und etlichen Gulden verkauft wird, um damit Deckung
+für die dringendsten Schulden zu gewinnen.
+
+Eifrig wandert Heinrich Pestalozzi eines Morgens nach Hallwyl hinaus,
+seiner kranken Frau die glückliche Wendung anzusagen, und schon malt
+er sich den Traum einer Kolonie aus, wo Anna mit dem Knaben wieder auf
+dem Neuhof ihr ruhiges Heim haben soll, während die Zöglinge rundum
+mit einzelnen Hausvätern in besonderen Gebäuden wohnen; aber als er
+heimkommt, ist Johann Baptista mit dem Geld unterwegs, sich in Amerika
+eine Farm zu kaufen, wie er ihm in einem Abschiedsbrief hinterläßt.
+So steht er mitten in seinem Unglück auch noch vor dem Zwang, für die
+Mutter und vor der Welt seinen ehrlichen Namen zu retten. Er muß zum
+andernmal nach Hallwyl, und nun wächst kein Traum einer Gartenkolonie
+mehr in seiner verdüsterten Seele; er geht noch am selben Tag, und
+weil es Abend geworden ist, den größten Teil des langen Weges in der
+Dunkelheit. Hinter Lenzburg verirrt er sich und findet die Brücke nicht
+über die Aa, bis er durch das kalte Wasser hindurch watet. Ein paarmal
+ist der Gedanke in ihm, daß die Verirrung dauernd werden möchte, dann
+hilft ihm der aufgehende Mond mit seinem ungewissen Licht auf die
+Straße zurück, die ihn mit eisnassen Strümpfen nach Schloß Hallwyl
+bringt. Da wartet er in der Dunkelheit des Morgens wie ein Bettler am
+Tor, bevor er einen Knecht herausgeklopft hat.
+
+Nun muß Anna Schultheß noch einmal die Taschen ihrer wohlhabenden
+Herkunft absuchen; ihr Vater, auch Freunde helfen schließlich, den
+Schlund notdürftig zuzustopfen -- wie sie den Neuhof nennen --
+nur wird ihm unbarmherzig die Bedingung auferlegt, die Anstalt zu
+schließen. Und damit es keinen Ausweg gibt, wird ein neuer Verkauf
+gemacht, worin Johann Heinrich Schultheß die Fabrik und den größten
+Teil des Landes übernimmt, um einen Pächter einzusetzen.
+
+So kommt nach fünf Jahren der Tag, da Heinrich Pestalozzi seine
+Dienstleute entlassen und die Kinder wieder in die Bettelarmut
+zurückgeben muß, daraus er sie in seinen Neuhof geholt hat. Er findet
+noch die Tapferkeit, ihnen allen mit einer Abschiedsansprache ans
+Herz zu gehen, und es sind nun doch viele Hände, die sich nach ihrem
+Vater strecken. Dann aber, als auch dieser Vorfrühlingstag im ewigen
+Kreislauf der Gezeiten dunkel wird, bleibt er allein in den verlassenen
+Stuben zurück. Die Messinglampe ist noch da, die ihm so manchen Abend
+seiner einsamen Jungmannszeit in Müligen erleuchtet hat; er steckt
+sie nicht an, obwohl unter dem bedeckten Himmel kein Stern aufkommen
+will; es tut ihm wohl, daß seine Augen nichts mehr von allem zu sehen
+brauchen, das nun sinnlos geworden ist. Die ganze Nacht hindurch sitzt
+er wach in seinem Stuhl; erst als der Morgen kommen will, legt ihm der
+Schlaf seine Hand auf die Augen, daß er das Gespenst des leeren Hauses
+nicht in der Todestraurigkeit der ersten Morgenfrühe sähe.
+
+
+ 53.
+
+Am Nachmittag des andern Tages schließt Heinrich Pestalozzi die Tür
+am Neuhof zu, die dritte einsame Wanderung dieser Tage anzutreten.
+Bis Brugg weiß er noch nicht, wohin sie führen soll, dann ist es der
+Ratsschreiber Iselin in Basel, an den sein inneres Gefühl sich wendet;
+er sieht die klargütigen Augen des Mannes und hört seine Stimme, als
+ob er schon vor ihm stände: von allen Freunden seiner Jugendheimat
+weiß er keinen seiner Not so nah wie diesen ihm wesensfremden Basler,
+zu dem er nun über den Jura wandert. Er kommt an dem Tag nur noch bis
+Frick und als er da eine Herberge suchen will, merkt er, daß er ohne
+Geld wegging. Es scheint ihm fast recht, denn mehr als ein Bettler
+kommt er sich kaum vor; müde sitzt er am Wegrain und denkt schon,
+sich um Gotteswillen ein Obdach zu erbitten, da treibt ein Ziegenhirt
+seine Herde an ihm vorbei, lustig auf einer Holzpfeife blasend, die
+er aus jungem Saftholz geschnitten hat. Er selber hätte ihn garnicht
+erkannt, aber der Bursche hält gleich mit dem Stecken sein meckerndes
+Volk zurück und ruft ihn an, höflich den alten Hut lüftend. Es ist ein
+Zögling, der vor einigen Jahren als Waisenkind kurz bei ihm war und nun
+in Frick die Ziegen hütet. Treuherzig von ihm eingeladen, geht Heinrich
+Pestalozzi mit auf den Hof, wo er bei einem rechtschaffenen Bauer
+-- der durch den Burschen Gutes von ihm weiß -- ein sauberes Lager
+angeboten erhält, bevor er darum zu bitten braucht.
+
+Der freundliche Zufall gibt ihm eine bessere Stimmung in den andern
+Morgen, da er nach dankbarem Abschied seine Wanderung fortsetzt; und
+eben läuten die Basler Glocken den Mittag ein, als er gegen Sankt
+Albanstor kommt. Da hat sich ein Blinder an den Weg gesetzt, seinen
+Hut vorzustrecken, so oft er Schritte hört. Heinrich Pestalozzi vermag
+nicht, an ihm vorbeizugehen, und weil er nichts anderes schenken kann,
+löst er die silbernen Schnallen von seinen Schuhen und wirft sie in
+den Hut. Er fühlt, daß es unnütz ist, aber in seinem Zustand tut es
+ihm zornig wohl, das Letzte freiwillig hinzuschenken, wo ihm soviel
+gewaltsam genommen ist. Doch vermag er ohne die Schnallen nicht zu
+gehen, und so flicht er aus Binsengras ein paar dünne Riemchen, mit
+denen er die Schuhe zur Not bindet.
+
+Mehr als einer in den geläufigen Gassen sieht verwundert nach seinen
+Füßen, und auch der Ratsschreiber, als er den unvermuteten Gast selber
+an der Tür abnimmt, vermag seine Blicke nicht zu behüten. Da Heinrich
+Pestalozzi nicht mit der Unwahrheit vor ihm stehen will, als fehle es
+ihm schon derart am nötigsten, erzählt er ihm den Vorfall, worauf ihn
+Iselin, der im Alter sein Vater sein könnte, kopfschüttelnd und nassen
+Auges über soviel Einfalt in die Arme schließt. Nach diesem Empfang
+ist es ihm nicht mehr schwer, die letzten Stationen des Leidensweges
+seinem Patron bekannt zu geben, der sich mehr als ein andrer in den
+Ephemeriden und sonst für ihn eingesetzt hat. Er ist bis ins einzelne
+vorbereitet und hat auch schon eine Antwort zurecht, die mehr als ein
+leerer Trost ist: die Anstalt sei ein Experiment gewesen, und wer in
+der Wissenschaft gearbeitet habe, wisse wohl, daß es auf die Resultate
+ankomme. Freilich bliebe es für ihn ein Schicksalsschlag, daß er das
+Vermögen seiner Frau dabei verloren habe; aber er sei jung und besäße
+in seinem Neuhof immer noch ein gutes Dach über dem Kopf. Am Ende
+wäre alles für ihn nur die Grundlage einer anregenden und fruchtbaren
+Schriftstellerei gewesen. Ob an dem Emil etwas schlechter würde, wenn
+Rousseau selber etwa mit einem solchen Erziehungsversuch gescheitert
+wäre? Man könne freilich mit derartigen Dingen keine goldenen Berge
+erwerben, aber eine bescheidene Ernährung solle sich eine so starke
+Feder wie die seine schon erzwingen können. Da wäre zum Beispiel das
+Preisausschreiben der Basler Aufmunterungsgesellschaft: Wieweit es
+schicklich sei, dem Aufwand der Bürger Schranken zu setzen? Ob er es
+nicht einmal um die zwanzig Dukaten versuchen wolle?
+
+Iselin spricht das alles noch vor seinem Stuhl stehend, und reicht
+ihm die Nummer der Ephemeriden hin, als ob es nur noch an ihm läge,
+die zwanzig Dukaten einzuheimsen; dann geht er hinaus, den Gast zum
+Essen einzumelden. Der sitzt mit dem Blatt in den Händen und vermag
+keinen Buchstaben zu lesen; die Stimme des Ratsschreibers ist wie ein
+Frühlingsregen auf seine verstaubte Stimmung gerieselt; auch hat er
+die Worte nicht alle verstanden, nur wohlig den herrlichen Ton der
+Gesinnung und den unbeugsamen Willen gespürt. Warum bin ich nicht mit
+meinem Werk in der Nähe dieses Mannes gewesen statt in der Daseinsluft
+des Metzgers Märki? denkt er immerfort, und die Tränen rinnen ihm auf
+den Rock. Er ißt mit ihm, und als der Ratsschreiber -- der gerade
+Strohwitwer ist -- mit einem Scherz das Glas gegen das seine hebt,
+vermag er schon wehmütig wieder zu lächeln. Er läßt sich danach drei
+Tage lang von ihm betreuen, auch seine Schnallen bekommt er wieder,
+weil der Ratsschreiber sie heimlich bei dem blinden Stammgast vor St.
+Alban eingelöst hat, und als er in der vierten Frühe die Rückwanderung
+antreten will, hat ihm der väterliche Iselin einen Platz bei der Post
+bezahlt. So kann er dem Ziegenhirt hinter Frick nur von fern zuwinken,
+nicht einmal sicher, ob der auf ihn rät. Ihm ist er auf dieser traurig
+begonnenen Wanderfahrt fast so wert gewesen wie der Ratsschreiber, und
+noch während die Post in den breiten Talkessel von Brugg einrollt,
+denkt er, daß sein Traum einer menschlichen Gemeinschaft trotz aller
+Verschiedenheit der Stände, geeinigt durch ein sittliches Bewußtsein,
+doch nicht von den Sternen wäre.
+
+Trotzdem wird es ihm schwer, von Brugg aus den Weg in das Trümmerfeld
+seiner Wirksamkeit zu gehen, wo viele ihm ohne Gruß begegnen und einige
+Buben ihm höhnisch nachrufen. Aber als er gegen den Neuhof kommt, sieht
+er einen Knaben emsig am Brunnen spielen, der, als er ihn erkennt,
+jubelnd in seine Arme läuft. Es ist das Jaköbli, und die Mutter -- der
+er Nachricht von Basel gegeben hat -- ist auch da; sie sitzt, noch
+schwach von ihrer Krankheit, auf einem Baumstamm in der Sonne und hält
+tapfer lächelnd den Regenschirm in der Hand: Wir dachten, es möchte
+regnen; aber, Lieber, die Sonne scheint! Und erst als sie beide, den
+Kleinen an den Händen zwischen sich, hinein gegangen sind und die
+verlassene Stube mit ihrer Gemeinschaft füllen, daß die Leere durchs
+Fenster entweicht, tritt auch die Frau von Hallwyl zu ihnen, die
+unterdessen beiseit gegangen war.
+
+
+ 54.
+
+So unsicher die Aussicht auf die zwanzig Dukaten der
+Aufmunterungsgesellschaft und die anderen Schriftstellereinnahmen für
+Heinrich Pestalozzi vorläufig ist, so bestimmt stehen die Schildwachen
+der Bedrängnis rund um den Neuhof. Es fehlt am Nötigsten, und für
+Anna ist die Zeit gekommen, die ihre Mutter prophezeite, ja selbst
+das Brot ist nicht immer da. So sieht sich Heinrich Pestalozzi als
+Schriftsteller in der lächerlichen Bedrängnis, nicht einmal das
+notwendige Papier zu haben. In dieser Not fällt ihm ein alter Erbkoffer
+ein, der mit anderem Haushalt von der Mutter bei der Einrichtung in
+Müligen herübergekommen ist und seit Jahren vergessen auf dem Speicher
+steht. Irgendein Vorfahr hat sein Leben lang in der Lotterie gespielt,
+und zwar in der Meinung, daß sich das Glück in Tabellen nachrechnen und
+erlisten ließe. Für diese Tabellen hat er sich dann Bogen mit roten
+Linien herstellen lassen, die Berechnungszahlen einzutragen. Damit ist
+der ganze eisenschwere Koffer gefüllt, durch den nun der gewinnsüchtige
+Vorfahr seinem Erben einen späten Liebesdienst leistet; denn selbst
+da, wo schon Zahlen eingeschrieben sind, lassen sich die Bogen noch
+benutzen, und Hunderte sind ganz frei.
+
+In diese rote Linienwelt schreibt Heinrich Pestalozzi das erste
+Resultat seiner Erfahrungen nieder, und es scheint fast, als ob die
+Tabellenfächer die äußere Form bestimmten: es werden lauter einzelne
+Sprüche daraus, deren Weisheit in den roten Linien wie der Honig
+in Bienenzellen voneinander abgetrennt ist; aber ihr Geschmack ist
+bitterer Wermut. Er nennt sein Schriftstück die »Abendstunde eines
+Einsiedlers« und schickt es Iselin nach Basel, der es auch sogleich in
+die Ephemeriden gibt. Dadurch ermutigt, macht Heinrich Pestalozzi sich
+auch an die Preisaufgabe der Aufmunterungsgesellschaft.
+
+Es liegt nicht an der roten Liniatur, daß sein Eifer bei der zweiten
+Schrift erlahmt; so reich die Gedanken drängen, so schwer fließen ihm
+die Sätze dazu, auch mit den Forderungen der Schriftsprache kommt er
+nur seufzend zurecht. Er muß Bogen vollschreiben, um einige brauchbare
+Zeilen zu gewinnen, und die scheinen ihm wie gepreßte Pflanzen. Sich
+und die Seinigen zu ernähren -- das sieht er bald -- ist es kein
+Geschäft. Um andere Wege zu versuchen, nimmt er zum zweitenmal den
+Stecken, diesmal nach Zürich, wo die meisten seiner Freunde wohnen.
+Wieder geht er zu Fuß; es ist nur ein kleiner Tagesmarsch, und schon am
+Nachmittag kommt er zur Sihlporte herein. Eben will er über den Rennweg
+gegen das Fraumünster hin, als ihm einer der Schulgenossen begegnet,
+mit denen er damals nach Wollishofen hinaus gerudert ist, er hat ihn
+seither oft gesehen, zuletzt bei der lustigen Gesellschaft, die ihn
+nach seinem ersten Weihnachtsbesuch im Pflug ans Schiff brachte. Er
+freut sich, gleich einem Bekannten zu begegnen, aber ehe er noch bei
+ihm ist, entweicht der andre in eine Nebengasse.
+
+Als er nachher das Erlebnis dem Buchhändler Füeßli erzählt, der
+von allen Zürchern am treuesten zu ihm steht, obwohl er nicht zart
+mit Worten ist, läuft der nach seiner Gewohnheit einigemal in der
+Schreibstube hin und her, wirft zornig ein Bündel Papier aufs andre,
+bis die Schriften in einem rechten Durcheinander sein müssen, und
+sagt ihm dann mitten ins flehende Gesicht: soviel sollte er doch die
+Zürcher kennen, daß sie ihn nur noch fürs Armenhaus oder das Spital
+kalkulierten; in einem Jahrdutzend eine vermögende Frau arm zu machen
+und wer weiß wen geschäftlich zu schädigen, das ginge ihnen über das
+bürgerliche Maß. Wenn er ehrlich sein wolle, müsse er ihm schon sagen,
+daß ihn seine Mitbürger für einen bösartigen Narren hielten! Dabei
+wirft er sein Kontobuch, das er gerade ergriffen hat, mit einem solchen
+Zorn in die Papiere, daß sein Tintenfaß erschrocken aufspringt und die
+Umgebung mit mehreren Klexen bespritzt. Er schüttelt ihm dann zwar
+freundlich die Hand, aber immer noch hat sein Zorn einen Hinterhalt:
+Was er denn meine, daß ihm Lavater gesagt habe? Er solle ihm einen
+einzigen Satz von Heinrich Pestalozzi beibringen, der sauber und ohne
+Fehler geschrieben wäre, dann wolle er ihn auch sonst noch für eine
+Sache im Leben brauchbar halten! Aber das unterschreibe er, der Hans
+Heinrich Füeßli, nicht; wenn er nur erst von seiner Narrheit abkäme,
+andern helfen zu wollen, bevor er sich selber geholfen habe, so würde
+sich schon etwas für ihn finden!
+
+Das hat der Gekreuzigte auch hören müssen, sagt Heinrich Pestalozzi,
+den der Zorn des andern angesteckt hat, und fegt nun auch hin und her,
+sodaß es für einen Dritten, der in die Stube gekommen wäre, ausgesehen
+hätte, als machten die beiden ihre schlimmsten Händel aus. Dann
+überkommt ihn die Verzweiflung: Und wenn ich Perücken strählen müßte,
+ich würde es um der Meinigen willen tun! sagt er schmerzlich und läuft
+aus der Stube, weil ihm die Tränen fließen.
+
+Im Roten Gatter findet er auch keinen Trost; die Mutter, nun schon
+sechzigjährig, sieht ihn augenscheinlich in den Fußspuren seines
+Bruders, und das Babeli, eisgrau und wunderlich geworden in der
+Einsamkeit mit der verhärmten Frau, redet mit ihm, als ob sie ihn am
+liebsten noch einmal verwalke. Er muß von seinen Dingen günstiger
+sprechen, als sie sind, und vermag nicht über Nacht zu bleiben. Noch
+vor dem Abend geht er unter dem Vorwand dringender Geschäfte fort und
+auf Umwegen aus der Stadt; er ist in den letzten Monaten in eine wahre
+Gier gekommen, nachts zu wandern. An der Sihlporte fallen ihn die
+Wächter mit scharfen Fragen an; wo ehemals ausgediente Stadtknechte ihr
+Altersbrot hatten, stehen jetzt in aufgeputzten Uniformen stattliche
+Burschen, als ob sie für die Fremden zur Zier dahingestellt wären.
+In seiner Stimmung ärgert ihn die Neuerung, und während er in die
+sinkende Dunkelheit hinein läuft, verbeißt er sich in einen Zorn,
+daß solcherweise die Fortschritte wären, für die das Geld blindlings
+geopfert würde. Er fühlt wohl, daß der Anlaß seinem Zorn nicht
+entspricht, und um sich selber zu begegnen, übertreibt er den Vorfall,
+bis eine Schnurre daraus geworden ist, über die er selber mitten in die
+Nacht hinein lachen muß.
+
+Er kommt damit bis Baden; und wenn ihn dann seine Müdigkeit und die
+Nähe des Neuhofs wieder in seine Melancholie bringen, sodaß er sich die
+letzten Stunden nur noch in einer tonlosen Traurigkeit hinschleppt:
+am andern Morgen ist doch noch so viel von der höhnischen Lustigkeit
+dieser Nacht in seinem Bett, daß er bis in den Mittag darin liegen
+bleibt und von neuem an der Schnurre formt. Nachher nimmt er sich
+einige von den stockfleckigen Lotteriebogen vor und hängt seine
+Einfälle in die roten Linien hinein; ohne Sorgen, wie die Sätze werden,
+nur daß er seinen Zorn noch einmal so närrisch losbekäme. Um dem treuen
+Füeßli den Beweis seiner vollkommenen Narretei zu geben, wie er in
+einem Begleitbrief schreibt, schickt er ihm die Bogen zu; dann begibt
+er sich ingrimmig wieder an seine Preisaufgabe.
+
+Er ist noch dabei, aus dem Wust mit Ändern und Streichen die endgültige
+Fassung zu gewinnen, als er eines Nachmittags eine saubere Weibsperson
+mit einem Bündel kommen sieht, die bestimmten Schrittes auf den
+Neuhof zugeht und die er danach im Hausflur mit seiner Frau sprechen
+hört. Es scheint ihm, daß er sie kennt, und als er, von dem Jaköbli
+gerufen, hinzukommt, ist es die Lisabeth Näf aus Kappel, die vordem bei
+seinem verstorbenen Onkel, dem Doktor Hotze, als Dienstmagd gewesen
+und, soviel er weiß, von dessen Sohn -- seinem Vetter -- übernommen
+worden ist. Sie wolle bei ihnen in Dienst treten, erklärt ihm Anna,
+die augenscheinlich mit der resoluten Jungfer nicht fertig wird. Das
+würde schwer gehen, sagt er, sie seien arm und könnten keine Dienste
+bezahlen! -- Eben deshalb käme sie; sie wolle keinen Lohn; solange
+Frau Pestalozzi noch nicht gesund sei, müsse ihr jemand an die Hand
+gehen. Auch habe sie von dem Undank seiner Zöglinge gehört, daß sie
+ihm alle davon gelaufen wären, und da sie sich in Richterswyl nach dem
+Tod des alten Herrn entbehrlich oder gar überflüssig fühle, wolle sie
+versuchen, ihre Nahrung, mehr nicht, bei ihnen zu verdienen.
+
+Während Heinrich Pestalozzi noch zweifelnd erst seine Frau, dann
+wieder das Wunder ansieht, das aufrecht gewachsen und geraden Blickes
+da vor ihm steht, bittet sie schon wieder die Hausfrau, ihr ein Lager
+zu weisen, da sie heute jedenfalls nicht mehr zurück könne. In kaum
+einer Viertelstunde ist sie schon emsig im Hause, und andern Morgens
+denkt keiner daran, sie wieder fortzuschicken; nach einer Woche ist
+es so, als ob sie immer dagewesen wäre, so unbemerkt weiß sie sich in
+den gedrückten Haushalt zu schicken. Es sei fast zu spät, den Garten
+zu bestellen, sagte sie, ist aber schon dabei, ihn umzugraben; und
+bald merkt Heinrich Pestalozzi, daß in seinem verworrenen Hauswesen
+wieder der sichere Tageslauf der Sonne ist: Schritt für Schritt wird
+die Unordnung des Untergangs beseitigt und aus dem weiten Bereich des
+verwüsteten Gutes der saubere Umkreis des Hauses abgetrennt. Und als
+ob die eine tätige Hand ihren Takt auch in die andern brächte, fängt
+das gestörte Uhrwerk des Hauslebens wieder an, zu gehen. Selbst bis in
+seine roten Tabellen dringt ihre Sicherheit, sodaß er seine Preisarbeit
+bald zu Ende bringen und die Reinschrift der Aufmunterungsgesellschaft
+in Basel nicht ohne Vertrauen auf ihren Wert zusenden kann. Daß man
+dem Aufwand der Bürger äußere Schranken setzen müsse, ist freilich
+nicht seine Meinung: Hier wie überall käme es nicht auf die Landreiter,
+sondern auf die Menschenbildung an.
+
+
+ 55.
+
+Unterdessen hat seine Schnurre über die Umwandlung der ungekämmten und
+krummen Stadtwächter in gerade und gekämmte in Zürich eine Art Glück
+gemacht. Auf der Durchreise von Italien nach London ist der ehemalige
+Freund Lavaters, der Maler Füeßli einen Tag lang bei seinem Vetter
+gewesen; er hat die Schnurre zufällig gelesen, und zwar mit so viel
+Spaß, daß er nicht begreifen will, wie es einem Mann mit einer solchen
+Begabung schlecht gehen könne: sein Talent als Schriftsteller sei
+derart, daß ihm der Erfolg nachlaufen müsse!
+
+So kann ich meine Perücke wieder mitnehmen, scherzt Füeßli, als sie
+in Baden eine rasche Zusammenkunft haben, das Ereignis zu besprechen:
+ich hatte sie schon zum Strählen mitgebracht! Aber Heinrich Pestalozzi
+ist es nicht zum Lachen, umsoweniger, als der andre augenscheinlich
+kaum etwas andres als einen Sack voll solcher Schnurren im Sinn hat.
+Er dämpft die Begeisterung des Buchhändlers sauersüß, ist noch ein
+paar Stunden gern in der Luft einer Freundschaft, denkt aber nicht
+daran, ihm zu folgen; bis er heimkommt und die moralischen Erzählungen
+des Franzosen Marmontel noch aufgeschlagen auf dem Tisch seiner
+Frau findet. Er liest darin, und unversehens überlegt er doch schon,
+dergleichen besser zu machen; um statt weichlicher Rührung gute
+Gedanken ins Volk zu bringen.
+
+Gleich andern Tags versucht er nun das Dichterhandwerk, angebliche
+Menschen als Gestalten seiner Absichten in eine Handlung zu stellen.
+Es gelingt ihm leichter, als er erwartete, und am Abend ist das
+erste Ding schon rund gebracht; aber als er es dann überliest und
+mit dem Vorbild vergleicht, findet er wohl, daß seine Gestalten sich
+ernsthafter unterhalten als bei Marmontel, doch ist die Unterhaltung
+so sehr die Hauptsache, daß es wenig Zweck hat, sie mit den Armen und
+Beinen der Personen zu umgeben; auch haben sie für gemeine Bürgersleute
+eine Art zu predigen, die ihnen nicht ansteht. Aber nun ist einmal
+sein Eifer geweckt, und schon am nächsten Tage läßt er ein neues Paar
+anmarschieren. Diesmal sind es zwei Bauern, ein alter und ein junger,
+die sich über die neumodische Landwirtschaft erhitzen; haben die Bürger
+gepredigt, so verkniffeln sich die Bauern wie zwei Advokaten, und da
+auch hier wieder die Reden des Verfassers die Hauptsache sind, hätten
+die Personen ebensowohl daheim bleiben können. Noch drei- oder viermal
+versucht er es, um immer bedenklicher einzusehen, daß er kein richtiges
+Bauernmundwerk aufs Papier bringt. Soviel er auch an den Tannern im
+Birrfeld erlebt hat, nun merkt er, daß er sie garnicht kennt; und wie
+er das Abc erst an seinem Knaben studiert hat, beginnt er nun, mit
+ihnen seine heimlichen Experimente anzustellen.
+
+Die Leute von Lupfig und Birr machen sich verdächtige Zeichen, als der
+Herrenbauer vom Neuhof anfängt, in ihren Wirtschaften herumzusitzen;
+sie wissen aus Erfahrung, wie dies das Ende solcher Existenzen ist,
+und weil er kaum etwas trinkt, deuten sie hämisch auf seine leere
+Tasche. Er dagegen merkt bald, daß sie mit ihm anders als unter sich
+sprechen, so hält er sich abseits, in einem Wettergespräch oder sonst
+mit dem Wirt, während sie bei ihren Karten oder um irgend einen Handel
+untereinander sind. Wenn ihm dabei eins seiner eigenen Bauerngespräche
+beifällt, kommt ihm alles darin so papieren vor, daß er manchmal im
+Eifer mitanfängt zu fuchteln, als ob er damit die richtigen Worte
+festhalten könnte.
+
+Darüber fangen sie an, ihn vollends für übergeschnappt zu halten, und
+legen sich aufs Hänseln; aber nun reitet ihn schon der Teufel seiner
+Leidenschaft, auch um andrer Dinge als seiner Schriftstellerei willen
+tiefer in ihre Wirtshauswelt hinein zu kommen. Er sieht, wieviele
+Dinge hier ihren Anlaß und ihre Stärkung haben, wieviel aus der Bahn
+geworfene Existenzen am Wirtshaustisch ihr Schicksal absitzen, und
+wie nicht der Schnaps und der Wein allein sie dahin ziehen, sondern
+der Trieb unnützer Buben, mit Hänseleien und großmäuligen Prahlereien
+beieinander zu hocken. Hier müßte zu Hause sein, sagt er sich oft,
+wer eine Armenanstalt aufmachen will; hier ist der Lebensboden aller
+Laster, die in einem Menschen allein garnicht wachsen können, weil
+immer nur mehrere zusammen das Ungetüm ausmachen, das den einzelnen
+mit Haut und Haaren frißt; was nachher dann aus dem Wirtshaus nach
+Hause geht, ist nur noch ein Stück von diesem Ungetüm, dem es natürlich
+nirgend mehr wohl sein kann als bei sich zu Hause, nämlich auf der
+Wirtshausbank, wo es zu fressen und zu saufen bekommt.
+
+Heinrich Pestalozzi hat schließlich ein System von Listen, das Ungetüm
+lebendig zu sehen, indem er sich selber anscheinend mit auffressen
+läßt oder unter einem Vorwand nebenan in der Küche lauscht. Als er
+eines Nachmittags in Mellingen eintritt, weil er schätzt, daß ihrer da
+mehrere vom Viehmarkt sitzen würden, findet er das Zimmer noch leer,
+und da der Wirt augenscheinlich auch noch unterwegs ist, juckt ihn
+der Vorwitz so, daß er in eine große Futterkiste klettert, die in der
+dunklen Ecke neben dem Ofen als Truhe dient und deren offener Deckel
+ihn wie eine Wand verbirgt. Er hört auch bald ihrer zwei hereinkommen
+und über den Metzger Märki in Birr schimpfen, der ihnen beim Handel
+die Flöhe abgesucht hat, wie sie sagen. Weil das Gespräch einmal den
+Lauf genommen hat, bleibt es auch dabei, als andere eintreten, und
+so bekommt Heinrich Pestalozzi unvermutet eine Predigt über seinen
+ehemaligen Ratgeber zu hören, wie sie nicht in seine Tabellen gegangen
+wäre. Aber als sich das Ungetüm so recht wieder aneinander gewachsen
+hat und groß tut mit Fäusten und Flüchen, wird es still von einem
+Schritt, der durch die Tür hereinkommt und nach einem brummigen Gruß
+mitten im Zimmer stehen bleibt. Heinrich Pestalozzi hinter seiner
+Wand hört das Ungetüm schnaufen, bis einer den Märki -- denn niemand
+anders ist es -- nach den Hummeläckern fragt und gleich das Gelächter
+über die Anspielung losbrüllt. Aber so ist der Metzger nicht, daß
+er sich abtrumpfen läßt: im Nu ist er mit ihnen aneinander in einem
+Maulgefecht; und wollten sie ihn um den ausgezogenen Herrenbauer im
+Neuhof hänseln, so gibt er ihnen sein Kunststück mit frecher Prahlerei
+preis: warum sie es nicht selber gemacht hätten, wenn es so leicht
+gewesen wäre? Jedenfalls habe er das Kalb abgestochen; sie könntens ja
+mit ihm auch einmal versuchen: er würde ihnen schon dartun, wer der
+Meister wäre, wie er es diesem Herrn Pestalozzi auch dargetan habe!
+
+Die Abfertigung scheint dem Ungetüm plausibel, denn es schweigt; aber
+als der Märki sich abseits von ihnen auf seinen Trumpf setzen will,
+findet er keinen besseren Platz als die Futterkiste; er klappt den
+Deckel zu, merkt garnicht, daß ein Widerstand da ist, und will sich
+gerade noch einmal auslachen, als es unter ihm mit Faustschlägen
+rumort. Wenn der Teufel selber aus dem Kasten gestiegen wäre, hätte
+die Wirkung nicht anders sein können als nun, da das abgestochene Kalb
+seiner Prahlerei heraus springt. Auch das verdutzte Ungetüm muß sich
+einen Augenblick am Wirtstisch festhalten, und es ist noch nicht zu
+sich gekommen, als Heinrich Pestalozzi durch die Tür dem gemeinsamen
+Gelächter entgeht.
+
+
+ 56.
+
+Die Bauern auf dem Birrfeld sagen, daß dem Märki die schwarze Pestilenz
+als Teufel aus der Futterkiste erschienen wäre; aber so sehr sie dem
+Metzger den Schrecken gönnen, die Narrheit bleibt doch an Heinrich
+Pestalozzi hängen; und wie sie ihn danach bei Sonnenschein und Regen
+draußen herumlaufen sehen, bestätigt ihnen nur, daß ihm sein Unglück
+mit dem Neuhof und der Armenanstalt auf den Verstand geschlagen sei.
+
+Er ist aber nur in eine Auseinandersetzung mit dem Ungetüm geraten, das
+nicht -- wie es scheint -- vom Überfluß, sondern von Mühsal und Armut
+lebt; denn die ihm zu fressen geben, sind die Schwachen, Leichtfertigen
+und Verzweifelten, die, irgendwie von der Bank unverdrossener Arbeit
+abgerutscht, ihr Letztes in Trunk und Geschwätz vertun, während der
+Wirt die ärmlichen Groschen einsammelt und also von dem Ungetüm lebt
+wie ein Savoyardenknabe von seinem Murmeltier. Er will es zum Helden
+einer Geschichte machen; und ob er somit den Kampf mit dem Ungetüm
+nur auf dem Tabellenpapier seines Erbahnen aufnehmen kann: mit einer
+Handlung, einfach und drastisch genug in alle Köpfe einzugehen, wird
+seine Feder, so hofft er, ihm doch eine gefährliche Waffe werden.
+
+Diese Handlung aber vermag er lange nicht zu finden, weil er immer noch
+nicht von sich selber loskommt und sich stets wieder als vorwitziger
+Advokat allein auf der Bühne redend findet. Da hilft ihm unvermutet
+die tapfere Lisabeth aus der Not; als er sie eines Tages wieder bei
+ihrer Unverdrossenheit beobachtet hat, wie sie den Kreis der Ordnung
+Tag für Tag um ihren Mittelpunkt vergrößert, als er sich ausmalt, wie
+sie einem Mann anders als die meisten Bauernweiber an die Hand zu
+gehen vermöchte, von dem Ungetüm los zu kommen: da hat er endlich
+den Gegenspieler seiner Handlung gefunden, um dem hundertköpfigen
+Tier nicht mit den Mitteln fremder Hilfe, sondern mit den Waffen der
+Armut selber beizukommen. Er braucht der tapferen Person nur einen
+leichtfertigen Mann und Kinder anzudichten, wofür sie kämpft, und
+schon ist der Aufbau einer Handlung gegeben, die sich anders als die
+moralischen Erzählungen Marmontels in die Wirklichkeit einstellen soll.
+
+Als ihm dann noch der Märki als Vogt und Wirt in seine Handlung kommt
+und er ihm um der Hummeläcker willen den Namen Hummel gibt, macht er
+eine Gertrud aus ihr, die als die Frau eines Maurers namens Lienhard
+den Kampf mit dem Vogt beginnt und schließlich das ganze Dorf von ihm
+und dem Ungetüm befreit. Er hat sich dessen nie für fähig gehalten:
+wie die Gestalten seiner Handlung von allen Seiten zulaufen, wie sich
+Gespräch und Tat verflechten, und wie aus der geplanten Belehrung
+eine Darstellung des Schicksals wird, die ihn selber oft genug zum
+Weinen erschüttert. In wenigen Wochen stehen die hundert Kapitel
+seines Buches da, als wären sie nicht erfunden, sondern ein Bericht
+aus dem Leben, wie es sich wirklich abgespielt hätte. Da weiß er, daß
+die Schriftstellerei mehr vermöge, als müßigen Leuten die Langeweile
+zu vertreiben, daß sie eine geheimnisvolle Gabe sein könne, die
+Erfahrungen des Lebens zu verdichten und Hunderten von Lesern die Wege
+des Schicksals aufzuzeigen, wo sie selber nur heitere oder traurige
+Vorfälle sehen.
+
+Ehe er es gedacht hat, ist er nach Zürich unterwegs mit seinem Schatz,
+der diesmal ein handgreifliches Päckchen statt einem geträumten
+Luftschloß ist, obwohl Anna, an den Zusammenbruch so mancher mit
+Worten aufgebauten Hoffnung bitter gewöhnt, nur wehmütig über seine
+Begeisterung gelächelt hat. Füeßli ist nicht der Mann dazu, in Rauch
+und Feuer aufzugehen, auch sieht dies anders aus als die Schnurre
+von den ungekämmten Nachtwächtern; er weist ihn an den gemeinsamen
+Freund Pfenniger, der in den Dingen des literarischen Geschmacks
+sachverständig wäre. An die Literatur hat Heinrich Pestalozzi freilich
+nicht gedacht, als er schrieb, und erst garnicht an den gebildeten
+Geschmack, der, statt den geistigen Dingen zu dienen, mit anmaßenden
+Forderungen vor ihnen steht. Pfenniger findet die drei oder vier ersten
+Bogen, die er ihm vorliest, nicht übel, aber so voll unerträglicher
+Verstöße gegen den literarischen Geschmack, daß er ihm dringend die
+Umarbeitung des Buches durch einen Menschen von schriftstellerischer
+Übung empfiehlt und auch gleich einen theologischen Studenten nennt,
+der das literarische Handwerk ebenso beherrsche, wie es ihm fehle. Das
+Wort Lavaters von seiner Unfähigkeit, einen einzigen Satz richtig zu
+schreiben, hat er noch nicht vergessen, und kleinlaut überläßt er sein
+Buch den Ordentlichen, daß sie es für ihren Gebrauch zurecht machen:
+Ich will nur abwarten, sagt er bitter, ob es mir Unordentlichem einmal
+gelingt, ohne Euch richtig zu sterben!
+
+Doch vermag er nicht, sich ganz von seinem Buch zu trennen; er
+läßt ihnen nur die ersten drei Bogen, damit er die Bearbeitung
+erst sähe, und geht für ein paar Tage nach Richterswyl hinaus, wo
+sein Vetter, der Doktor Johannes Hotze, die Praxis des Vaters mit
+Klugheit verwaltet, während der jüngere Bruder mit dem Federhut
+richtig unter die Soldaten gegangen und bei den Österreichern schon
+General geworden ist. Er weilt gern dort, weil der Doktor Hotze ein
+Philanthrop von Einsicht und Willenskraft ist; aber als er ihm mit
+Andeutungen seines Buches begegnet, hält der es anscheinend für einen
+neuen Seitensprung und wehrt warnend ab. So kommt er demütig zu
+Pfenniger, seine Handschrift wie einen vom Lehrer verbesserten Aufsatz
+zurück zu erhalten; aber als er sein Naturgemälde des bäuerlichen
+Schicksals unter dem frömmelnden Firnis dieses Theologen wiedersieht
+und angesichts der steifen Schulmeistersprache, die seine Bauern darin
+reden, an seine Entdeckungsfahrten denkt, fällt die Demut erschrocken
+ab: Dann wolle er doch lieber mit Beulen und steifen Gelenken ein
+ungekämmter Stadtwächter sein, als ein derart gekämmter, sagt er zu
+Füeßli, der zugegen ist, läßt dem Pfenniger die gesäuberte Umarbeitung
+und macht sich auf den Heimweg mit seiner ungesäuberten Handschrift,
+die anscheinend ebensowenig in die ordentliche Welt paßt wie er selber!
+
+Er ist schon in Baden, als er es nicht vermag, mit diesem Ergebnis
+heimzukehren, und entschlossen seine Reise nach Basel fortsetzt, um
+auch bei Iselin sein Glück zu versuchen, bevor er selber an seinem
+Buch zweifelt. Er darf ihm und seiner Gattin noch am Abend seiner
+Ankunft einige Kapitel daraus vorlesen; so inbrünstig seine Hoffnung
+insgeheim um ein günstiges Urteil gefleht hat, auf einen solchen
+Erfolg rechnete sie nicht. Die Frau Ratsschreiber weint vor Rührung,
+und der Ratsschreiber selber geht mit erregten Schritten im Zimmer auf
+und ab, bis er ihm die Handschrift aus den Händen nimmt, als ob er sich
+vergewissern müßte, daß dies alles auch wirklich dastände. Er lachte
+herzhaft auf, als er die Schrift in den roten Tabellen hängen sieht;
+und auch als er dann liest, schüttelt er immer wieder den Kopf: es sei
+nicht zu glauben, wie einer so etwas Herrliches ausdenken und zugleich
+solche Sprach- und Schreibfehler machen könne! So wie es dastände,
+wäre es allerdings ein ungekämmter Stadtwächter, aber den zu strählen,
+brauche es keinen Theologen, sondern einen Setzer, der deutsch könne.
+Er müsse freilich das Buch erst ganz lesen, aber nach dem, was er bis
+jetzt gehört habe, wüßte er nicht seinesgleichen.
+
+Heinrich Pestalozzi bleibt drei Tage lang in Basel, und es ist eine
+Zeit für ihn, als ob Schlaf und Wachen ein einziger Traum geworden
+wären; so erlöst ihn der Beifall dieser klugen und herzlichen Menschen
+aus dem Gefühl seiner Unbrauchbarkeit. Die Schreibfehler in der
+Handschrift verspricht Iselin selber zu beseitigen; auch schickt er
+gleich einen Brief an den Verleger Decker in Berlin, ob er das Buch
+herausbringen wolle? Um ihm aber zu den vielen Tauben auf dem Dache
+doch einen Spatz in die Hand zu geben, offenbart er ihm zum Abschied,
+als er bis Liestal mit ihm gegangen ist und da auf die Post wartend im
+Ochsen noch ein Glas Wein trinkt, daß die Aufmunterungsgesellschaft
+zwar nicht ihm allein, aber doch ihm zu gleichen Teilen mit dem
+Professor Meister in Zürich den Preis von zwanzig Dukaten zuerkannt
+habe.
+
+Es geht mir wie dem Mann, sagt Heinrich Pestalozzi, der am Sonntag zehn
+Louisdor verloren hatte und sich am Montag freute, weil er drei Kreuzer
+fand.
+
+
+ 57.
+
+Schon Anfang September erhält Heinrich Pestalozzi Nachricht, daß der
+Verleger Decker aus Berlin in Basel gewesen sei und ihm für jeden
+Druckbogen einen Louisdor als Honorar bewilligt habe. Das wäre vormals
+nicht viel gewesen, jetzt aber bedeutet es für den ausgeplünderten
+Neuhof eine Quelle, die bei sparsamer Verwendung seine Insassen auf
+eine gute Zeit vor Nahrungssorgen schützt und Heinrich Pestalozzi mutig
+macht, auch noch den Rest seines Tabellenpapiers vollzuschreiben. An
+eine neue Erzählung vermag er nicht zu denken, so voll sind ihm noch
+Kopf und Herz von dieser. So beginnt er noch im Herbst, bevor das Buch
+gedruckt ist, eine Erläuterung dazu zu schreiben, die er »Christoph
+und Else« nennt! In einer angeblichen Bauernhaushaltung läßt er abends
+seine Geschichte von Lienhard und Gertrud lesen und besprechen, wobei
+er dann wieder selber auf der Bühne erscheinen und den Vorgängen der
+Handlung seine Nutzanwendung mitgeben kann: So sind die Leiden und
+Schäden des Landvolks, so sind die Wurzeln seiner Kraft und Urkraft,
+und so kann der Verwilderung geholfen werden! Aus der Abendstunde eines
+Einsiedlers werden Abendstunden einer gutwilligen Gemeinschaft.
+
+Er ist noch mitten in dieser Arbeit, als der Tod in der Familie seiner
+Frau vorspricht und sich die kränkelnde Mutter, gebotene Holzlaub,
+heimholt. Dem alten Zunftpfleger, dem der braune Bart längst weiß
+geworden ist, wird es danach unheimlich im Pflug, wo seine Söhne
+eigenwillig schalten; er zieht der einzigen Tochter nach, an der immer
+sein Herz gehangen hat. So wird der Haushalt um einen Greis vermehrt,
+dem das Leben die Augen zur Freundlichkeit und Milde geöffnet hat,
+obwohl er von Haus aus zornig war. Von seinem Vermögen ist nur noch ein
+bescheidener Altersteil in seinen Händen; aber auch damit bringt er
+eine Sicherung in den Neuhof, die wohlig empfunden wird und das Gefühl
+einer vorsichtigen Wiederherstellung verstärkt. Als dann zur Ostermesse
+endlich »Lienhard und Gertrud« erscheint und seine Wirkung macht,
+sodaß vieler Augen sich auf den Neuhof richten, finden sie nicht mehr
+die Trümmerstätte selbstverschuldeter Armut, als die er den Bauern im
+Birrfeld und dem selbstgerechten Bürgersinn der Zürcher gegolten hat.
+
+Der erste, der ihm Gutes berichtet, ist Iselin, der zwar bescheiden die
+dankbare Widmung aus dem Buch beseitigt hat, aber stolz und beglückt
+durch den Erfolg zu seinem Schützling steht. Er gibt Nachricht von
+dem Beifall der Zeitungen in Deutschland und wie man dort nach dem
+ungenannten Verfasser des Dorfromans riete; auch sammelt er, was
+Rühmens in den Schweizerblättern steht, und hat einen fröhlichen Eifer
+damit, ihm nach den ersten spärlichen Posten ganze Stöße von gedruckter
+Anerkennung in den Neuhof zu schicken.
+
+Heinrich Pestalozzi, dem die Mißachtung einen bösen Bannkreis um seine
+Einsamkeit gezogen hatte, sieht sich in die Beleuchtung eines rasch
+wachsenden Ruhmes gestellt, in den nun mancher wieder hineinlärmt,
+der sich vorher still beiseite getan hat; denn ob sein Name nicht auf
+dem Deckel des Buches steht, dafür sorgen die fleißigen Gerüchte, daß
+überall, wo die Gestalten von Lienhard und Gertrud in ein Schweizerhaus
+eintreten, auch der Armennarr von Neuhof als ihr Pate gilt. So ist es
+kaum noch nötig, daß Iselin den Namen des Verfassers in den Ephemeriden
+bekannt gibt; wohl aber scheint es ein Signal zu sein für die Kutscher
+und Postillone, die nun fast täglich Besucher nach dem Neuhof bringen.
+Sie finden da einen freundlichen Greis, der sich über den Ruhm seines
+Schwiegersohnes um seiner verhärmten Tochter willen freut und gern
+ein Wort spricht; einen elfjährigen Knaben, der als das Jaköbli mit
+den Bauern auf einem vertraulichen Spielfuß steht und augenscheinlich
+beliebter bei ihnen ist als sein Vater; eine Frau von dreiundvierzig
+Jahren, die sich dem Schwall nach Möglichkeit entzieht; endlich ihn
+selber, dem das braune Gesicht mit Rünzelchen verkritzelt ist, als
+ob er sechzig statt erst fünfunddreißig wäre, der aber alle fröhlich
+willkommen heißt, nicht eitel, doch sichtbar glücklich, daß er nun
+endlich Macht über die Menschen gewonnen hat, wie er sie für seine
+Dinge jahrelang vergeblich erflehte. Als eines Morgens der Wagen des
+Herrn von Effinger mit zwei galonierten Dienern vor dem Neuhof hält,
+ihn nach Schloß Wildegg als Ehrengast zum Essen abzuholen, und als
+noch am selben Tag von der Ökonomischen Gesellschaft in Bern fünfzig
+Dukaten mit einer goldenen Denkmünze ankommen, da scheint es zu Ende
+mit seiner angeblichen Unbrauchbarkeit, da ist Heinrich Pestalozzi, der
+gescheiterte Landwirt und Armennarr auf Neuhof, ein Schweizerbürger
+geworden, auf den die Augen seines Volks mit Stolz sehen. Und nun
+endlich kann auch die Stunde nicht mehr fern sein, wo aus Reichen
+und Armen, Klugen und Törichten, Herrschaften und Beherrschten die
+Volksgemeinschaft wird, darin die Menschenbruderschaft des Evangeliums
+aus der Sonntagspredigt in die wirklichen Wohnungen und Geschäfte
+der Menschen kommt. Er ist auf der Höhe seines Lebens, als er diesen
+Glückstraum erlebt; die Gier und Sehnsucht seiner Jugend, die Radbrüche
+seiner ersten Fahrten und der grausame Unfall gelten ihm nun nichts
+mehr, da er sich durch die Hand des Schicksals, die er in einem
+tieferen Sinn als die Sonntagsgläubigen und Kirchenbeter Gott nennt, in
+Schuld und Sorgen zu solcher Erfüllung geführt sieht.
+
+
+ 58.
+
+Könnte Heinrich Pestalozzi die siebzehn einsamen Wartejahre danach
+voraussehen, darin er die Kräfte seiner Mannesjahre aufreiben soll,
+bis ihn das Schicksal an die Dinge selber statt an die Worte läßt, so
+würden ihm die Knospen kaum so schwellen, wie nun, wo er im Rausch des
+Erfolges noch einmal die stürmischen Säfte seiner Jugend fühlt. Er
+hat im Vorwort seines Buches angekündigt, daß die Erzählung aus dem
+angeblichen Dorf Bonnal nur die Grundlage eines Versuchs wäre, dem
+Volk mit einigen Wahrheiten in den Kopf und ans Herz zu gehen. Auf
+alles, was als Tugend oder Laster an seinen Gestalten sichtbar wird,
+Heuchelei und Tapferkeit, Hoffart und Sparsamkeit, Freiheitsliebe
+und Tyrannei, auf alles läßt er nun Christoph und Else in ihren
+Abendstunden mit dem Zeigestock hinweisen, und er selber gibt die
+feurige Lehre seiner in tausend Nöten durchglühten Erfahrung dazu, um
+die Quellen der Bosheit und des Elends in den Zuständen und in der
+Gesetzgebung Europas darzustellen.
+
+Ein Drittel seines Buches hat er so erklärt, als ihn der Eifer drängt,
+näher mit dem Volk zu sprechen; Iselin redet ihm zu, und so gründet er
+sich selber eine Wochenschrift, die er »Ein Schweizerblatt« nennt. So
+hitzig ist er in seinem Eifer, daß er fast alles selber darin schreibt;
+er wird wieder der Marktschreier der Zurzacher Messe, aber diesmal sind
+es nicht Baumwollentücher, sondern Einsichten und Weisheiten, die er
+unablässig, mit Witz und hinreißender Gläubigkeit gemischt, anpreist:
+»Himmel und Erde sind schön, aber die Menschenseele, die sich über den
+Staub erhebt, ist schöner als Himmel und Erde!«
+
+Mitten in seinem Glück hört er schon wieder den Tod an die Tür klopfen,
+und an einem Julitag fährt er im Innersten bewegt nach Basel, Iselin,
+der ihm fast ein Vater war, zu begraben. Durch ein Gewitter erreicht
+er die Post nicht mehr, und er ist gerade dabei, sich in Brugg auf
+eigene Hand einen Wagen zu heuern, als Füeßli mit dem Doktor Hirzel
+durchfährt. Die nehmen ihn mit, und so wird es eine Freundesfahrt der
+Lebendigen zu dem Toten; denn auch die andern haben Iselin geliebt,
+wenn sie auch nicht soviel Freundschaft von ihm erfahren konnten wie
+er. Während sie so durch die grünen Täler hinfahren, manchmal im
+Schritt, weil es scharf bergan geht, dann wieder trabend, will Füeßli
+wissen, was er jetzt schreibe. Und weil Heinrich Pestalozzi durch den
+Tod Iselins erst recht in seinem Eifer entzündet ist, jeder Stunde zu
+achten, damit von seinem Leben ein Nutzen für das arme Volk bleibe,
+spricht er von seinen Abendstunden und merkt lange nicht, daß die
+beiden schweigen und ihn fast traurig ansehen.
+
+Ich dachte, sagte Füeßli endlich und kollert vor Zorn, daß du jetzt
+dein Metier gefunden habest und wenigstens im Schwabenalter vernünftig
+würdest, aber dich reitet die Bessermacherei, bis sie dich ganz vom
+Neuhof ins Spital verschupfen! Über die bösen Worte ist Heinrich
+Pestalozzi so erschrocken, daß er ihn fragt, wie er das meine. Er sehe
+doch, wie die Menschen durch sein Buch gerührt würden, warum er die
+dargebrachte Rührung nicht für die Menschlichkeit ausnützen solle! --
+Als ob die Leser dem Verfasser jemals ihre Rührung gäben, antwortet
+Füeßli und ist nun selber bitter geworden. Sie erwarten und nehmen sie
+als Genuß von ihm für ihr ausgelegtes Geld, gleich einem Kirschwasser
+oder einem Schweinebraten auch!
+
+Sie begraben danach den Ratsschreiber in Basel; es ist ein Sarg, wie
+Füeßli grausam vor Trauer sagt, darin der Hummelvogt den selben Platz
+gehabt hätte. Für Heinrich Pestalozzi wird alles zum Verhängnis seit
+dem bösen Wort im Wagen. Er hat es längst gespürt, daß er mit seinem
+Buch nichts als ein Menschenmaler geworden ist, von dem man nun weitere
+Bilder verlangt. Wenn die Bauern im Birrfeld sich hämisch freuen,
+daß er es seinem Widersacher Märki gut gegeben habe, oder wenn die
+literarischen Blätter die Vortrefflichkeit seiner Charakterschilderung
+rühmen: es ist das Gleiche, daß sie ihn als ihren Spaß- oder Rührmacher
+halten, nicht aber ihm redlich ins Menschliche folgen wollen. Er
+vermag nicht, mit den beiden wieder heimzufahren, tut sich vor der
+zudringlichen Begrüßung des berühmten Verfassers scheu zur Seite und
+wandert frühmorgens heimlich aus Basel fort. Unterwegs gelüstet es ihn,
+das bäuerliche Paar in Frick aufzusuchen, das ihn damals so freundlich
+genächtigt hat, in der Sehnsucht, von ihm andere Botschaft des Volkes
+zu hören als von den Gebildeten.
+
+Er trifft sie auch und bleibt zum zweitenmal bei ihnen zur Nacht, nicht
+anders aufgenommen als beim erstenmal, obwohl der Ziegenhirt nicht mehr
+da ist. Aber als er enttäuscht, daß sie nicht selber davon sprechen,
+zuletzt nach ihrer Meinung über sein Buch fragt, haben beide zwar
+einiges davon gehört, jedoch nichts daraus gelesen. Wir sind Bauern,
+Herr Pestalozzi, sagt der Mann treuherzig, und seine Frau nickt ihm
+zu: wir haben unser Tagwerk; was soll in einem Buch von unserm eigenen
+Leben stehen, daß wir nicht selber wüßten? Und unsere Nachbarn? Wir
+reden selber nicht schlecht von ihnen, warum sollen wir lesen, wie das
+ein anderer tut!
+
+Es sind zwei Grabschriften, die Heinrich Pestalozzi von dem Begräbnis
+seines väterlichen Freundes mitbringt und die nun in den Gärten
+seiner Hoffnungen stehen. Er schreibt zwar danach noch tapfer sein
+Schweizerblatt, Woche für Woche; aber daß es eigentlich keine Leser
+hat, das nimmt er nun erst wahr. Als die ersten dreißig Abendstunden
+von Christoph und Else erscheinen, die wie ein Katechismus des
+bäuerlichen Lebens in alle Strohhütten gehen sollen, ist die Wirkung
+so schwach, daß der Verleger das Buch nicht weiter drucken will.
+Unterdessen singen die Blätter das Lob von Lienhard und Gertrud
+unablässig weiter, bis der kleinste Kalender davon voll ist. Ich habe
+das Pferd vorn und hinten eingespannt, denkt Heinrich Pestalozzi; und
+da auch der Verleger um eine Fortsetzung seines Romans drängt, gibt er
+sich tapfer daran, seine Pläne an dem Dorf Bonnal seiner Dichtung zu
+versuchen und statt Ermahnungen und Vorschlägen die Darstellung einer
+angeblichen Besserung zu geben. Ehe er es hofft, ist ein zweiter Band
+von Lienhard und Gertrud fertig, aus dem nun der Ratsschreiber Iselin
+die dankbare Widmung an seinen Schatten nicht mehr ausstreichen kann.
+Die Neugier hilft, daß er diesmal noch gelesen wird; aber die den
+ersten Band gepriesen haben, sind an dem zweiten enttäuscht und finden,
+daß der Verfasser sich wiederhole und in der langen Jugendgeschichte
+des Hummelvogtes nur eine überflüssige Nachrede brächte. Es ist mit
+dem Ruhm und der Wirkung seiner Schriftstellerei wie mit einem der
+Bäche im Kalkgebirge, die irgendwo stark aus dem Boden brechen, eine
+Zeitlang trügerisch in der Sonne fließen und dann wieder im Gestein
+verschwinden.
+
+
+ 59.
+
+Daß Heinrich Pestalozzi durch den Pfarrer seines Buches die
+Jugendgeschichte des Hummelvogtes so ausführlich erzählen läßt, kommt
+nicht von ungefähr. Das Jaköbli ist nicht nach seinen Hoffnungen
+geraten; in den sechs Jahren der Armenanstalt ist es als Sohn der
+Hausmutter vor dem Gesinde und den Zöglingen von selber der Prinz
+geworden, an dem die einzelnen sich ein Wohlwollen verdienen wollen;
+im wechselnden Drang der häuslichen Umstände danach zwischen die
+überlieferten Erziehungsansichten der Mutter und die neumodischen
+Absichten seines Vaters gestellt, hat seine Natur nicht die Ruhe an
+den Wurzeln gehabt, die Kindern das Nötigste von aller Wartung ist.
+So ist er mit zwölf Jahren wohl ein großer Knabe geworden, aber ohne
+Festigkeit und geplagt von dem Eigensinn seiner reizbaren Art, die
+zwischen der Heftigkeit des Vaters und der zärtlichen Liebe der Mutter
+ihre Hinterhalte hat.
+
+Was an Abhärtung getan werden konnte, um der Weichlichkeit seiner Natur
+zu begegnen, das hat Heinrich Pestalozzi spartanisch an ihm geübt, auch
+ist er mit List und Stärke dabei gewesen, seinen kindlichen Eigensinn
+zu brechen -- bis der gefährliche Untergrund dieser Eigenschaften
+im Ausbruch seiner Krankheit herzschneidend zutage kommt. Es ist in
+der Zeit, da die Stimme anfängt zu wechseln; er hat einen Korb mit
+Pflanzkartoffeln aus dem Keller holen sollen und kommt nicht wieder.
+Als Heinrich Pestalozzi heftig hinunterläuft, sitzt er verträumt vor
+einem Spinnennetz; die Überraschung mag zu jäh gekommen sein: ehe
+Heinrich Pestalozzi bei ihm ist, tut der Knabe einen Schrei und fällt
+hin wie ein Toter. Doch hat er ihn kaum an der Schulter gefaßt, als
+das Leben mit unheimlichen Zuckungen wieder anfängt. Das fallende Weh
+rast in ihm und Heinrich Pestalozzi, der als eifernder Vater zu hadern
+gekommen ist, sieht sein armes Kind in dem fahlen Kellerlicht Mächten
+überliefert, die seiner Strenge wie seiner Liebe spotten. Erst als
+alles vorüber ist und der Knabe aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht,
+wagt er die Lisabeth zu rufen.
+
+Seine Hoffnung, daß es ein einzelner Anfall gewesen sein möge, wird
+nicht erfüllt; die Krankheit kommt zurück und steht seitdem warnend
+hinter jedem ärgerlichen Wort, das er dem Knaben sagen will. Das Grauen
+nimmt ihm für lange den Mut; denn deutlicher als jemals sieht er, wie
+das Schicksal des Menschen als einer Kreatur nicht an eigene oder
+fremde Verschuldung allein gebunden ist, wie Glück und Unglück aus den
+Naturgründen des Lebens kommen und alle sittliche Sorgfalt zu verhöhnen
+scheinen. Lange versucht er, das Unheil Anna zu verheimlichen, die
+bei dem ersten Anfall in Hallwyl war; als sie es eines Tages doch
+erlebt -- sie sind in den Letten hinaus spaziert und müssen ihn da in
+den rotblühenden Klee legen -- meint er in dem entsetzten Blick der
+Mutter einen Vorwurf zu spüren, der ihm lange nachgeht und bald darauf
+eine peinliche Ergänzung findet. Er hört, daß die Leute in Birr der
+unvernünftigen Abhärtung -- den Knaben von kleinauf, auch im Winter,
+im eiskalten Brunnenwasser zu waschen -- die Erkrankung zuschreiben.
+Die Gewohnheit behält immer recht! sagt er bitter, aber ein grausamer
+Rest ihrer Schadenfreude bleibt zurück und quält ihn mit Zweifeln, ob
+er dem Knaben ein rechter Vater gewesen sei. Er sieht nun erst, daß der
+Jakob kaum lesen und schreiben kann und auch sonst gegen die Kinder
+seines Alters zurück ist. Am Ende kommt er mit Anna überein, ihn für
+ein Jahr oder zwei nach Mülhausen in eine Erziehungsanstalt zu geben,
+die ihm durch seinen Vetter, den Doktor Hotze in Richterswyl, empfohlen
+ist; die zage Hoffnung auf seine Heilung muß ihnen über den schweren
+Abschied forthelfen.
+
+Auf der Rückreise sucht er einen Herrn Battier in Basel auf, der
+ihm noch durch Iselin bekannt geworden ist; ein Kaufmann, der
+fest im Sattel seiner zahlreichen Geschäfte sitzt, aber allen
+menschenfreundlichen Dingen mit der Kraft seiner unabhängigen und
+kühnen Natur zugewandt blieb; der will den Jakob nachher in die Lehre
+nehmen. Vorläufig aber hat er von all den kläglichen Nöten gehört,
+in denen der berühmte Verfasser von Lienhard und Gertrud immer noch
+lebt, und setzt ihm hartnäckig zu, eine Liste seiner Schulden und
+Verpflichtungen aufzustellen. Es wird eine quälende Stunde für Heinrich
+Pestalozzi, in dem blitzsauberen Kontor und vor dem schneeweißen
+Halstuch dieses Kaufmanns seine verzwickte Lage zu offenbaren; auch
+vermag er aus der Erinnerung unmöglich durch den Urwald seiner
+Bedrängnisse hindurch zu kommen. Er weicht ihm schließlich aus mit dem
+Verspruch, ein genaues Verzeichnis seiner Güter und ihrer Belastung
+aufzuschreiben; aber der Kaufmann ist nicht für Ausflüchte: dann wolle
+er sich, wenn es ihm recht sei, den Neuhof einmal selber ansehen, und
+zwar gleich andern Tags, da er doch in Geschäften nach Zürich müsse!
+
+So kommt Heinrich Pestalozzi am nächsten Morgen nicht bescheiden
+mit der Post aus Basel fort, wie er gedacht hat, sondern in dem
+blitzblanken Reisewagen des Kaufmanns Battier mit zwei Apfelschimmeln,
+die den Postwagen schellenklingelnd überholen und auch weiterhin nicht
+wie die Postgäule bei jeder Steigung aus dem Trab fallen. Mein Leben
+hat zwei Straßen, sagt er seinem unternehmenden Begleiter, als er
+Stück für Stück der wohlbekannten Landschaft flinker als sonst nahen
+sieht: auf einer bin ich von Zürich gekommen und die andre bringt
+mich zeitweils nach Basel; es will mir scheinen, daß die Basler mir
+allmählich geläufiger wird! Das ließe sich ändern, sagt Battier und
+legt ihm von hinten -- als ob er ihn umarmen wolle -- die Hand auf die
+Schulter: Wenn Sie selber nach Basel zögen, wäre es wieder nur die eine
+Straße, auf der Sie gekommen sind, und zu Ihrem Sohn hätten Sie es
+näher!
+
+Es zeigt sich bald, daß dies nicht nur eine Augenblicksrede war; denn
+als der Kaufherr noch am selben Nachmittag stundenlang unermüdlich
+gewesen ist, jeden Acker in Augenschein zu nehmen, mit vielen Scherzen,
+als ob das alles nur ein Spaß dem schönen Wetter zuliebe wäre, und
+als sie danach bei einem Glas Landwein in der Stube sitzen, holt er
+aus seiner Tasche ein Bündel Papiere heraus, die längst schon in
+der saubersten Ordnung enthalten, was er soeben gesehen hat: jeden
+Acker nach seinem Tageswert abgeschätzt, und daneben das Verzeichnis
+aller noch ungelöschten Schulden und Verbindlichkeiten in einer
+Vollständigkeit, daß Heinrich Pestalozzi erstaunt und erschrocken
+zugleich ist; denn wenn es vor den Augen eines nicht einmal übel
+gesinnten Geschäftsmannes so mit ihm steht, brauchte nur das Soll mit
+dem Haben vertauscht zu werden und die Rechnung ginge so auf, daß
+er in der Mitte mit nichts übrig bliebe. Er muß an den Bankier aus
+dem Geschwundenen Schwert in Zürich denken, der damals auch so im
+Handumdrehen seinen Besitz beaugenscheinigte; nur daß der Basler sich
+den Bericht des Bedienten anscheinend schon vorher verschafft hat. Aber
+dann kommt statt der Enttäuschung von damals die Überraschung: das sei
+der Vermögensstand von heute; aber wie die Felder ständen und wie sie
+durch resolute Behandlung werden könnten, in dieser Differenz läge ein
+möglicher Zukunftsgewinn für einen praktischen Mann, der den Neuhof
+heute zu dem gültigen Satz übernähme. Dieser Käufer wolle er selber
+sein und ihm also schon jetzt die Zinsen des zukünftigen Wertes als
+eine Rente zahlen, die ihn und die Seinen mit einem Schlag sorgenlos
+mache und ihm erlaube, ungehindert seiner Schriftstellerei zu leben!
+
+Heinrich Pestalozzi spürt die herzliche Absicht in dem Vorschlag; er
+sieht, wie der Mann glüht, ihm wohlzutun: aber er ist den schmerzlichen
+Blick noch nicht los, mit dem er seinen Knaben in der Franzosenstadt
+im Elsaß gelassen hat. Es ist ein blauer Himmel, der sich da nach
+Gewitter und Nebelschwaden auftut; nur würde er seinem Sohn das
+Erbe ableben, wenn er den Vorschlag annähme! Auch wäre es für ihn
+selber ein Verrat an seinen Plänen, die er heimlich viel ernsthafter
+trägt, als der Basler ahnen kann, der schließlich wie die andern auch
+nur den Schriftsteller in ihm sieht. Er nimmt die angebotene Frist
+bis zur Rückkehr aus Zürich an, lässt den Kaufmann mit fröhlichem
+Peitschenknall gegen Abend nach Baden fahren und steht winkend an der
+Straße. Aber als Battier nach drei Tagen wiederkommt, ist er mit Anna
+tapfer entschlossen, nicht die verlockende Fahnenflucht zu machen,
+sondern nach soviel überstandenen Bedrängnissen auszuharren und, sei es
+selbst durch bittere Nöte, dem Sohn das Hoferbe zu erhalten.
+
+Battier nimmt die Absage seines edel gesinnten Vorschlags zunächst als
+Eigensinn, und er sagt das auch in der ersten Verstimmung, sodaß es
+diesmal einen unbewinkten Abschied gibt. Aber schon nach drei Tagen ist
+ein fröhlicher Brief von ihm da, als ob nichts anderes im Vorschlag
+gewesen wäre: er wolle die drängenden Schulden auf sich nehmen ohne
+Kauf und Verzinsung, nur gegen eine bestimmte Anerkennungsgebühr. Jetzt
+braucht es also nur, sagt die Lisabeth, der er den Brief zeigt, daß ich
+fleißig bin und daß der Herr Pestalozzi nicht über jeden Bettler mit
+einem Gulden herfällt!
+
+
+ 60.
+
+Unterdessen geht Heinrich Pestalozzi schon gegen die Vierzig; es
+kann ihm geschehen, daß er wie ein uralter Rabe dasitzt und über die
+Trümmerfelder seiner Mannesjahre wehmütig in die ferne Jugend denkt.
+Die erste Neugier um den Einsiedler auf Neuhof hat sich längst gelegt,
+und es ist selten, daß ein Wanderer oder gar ein Wagen den Weg zu ihm
+aufs Birrfeld findet. Solange der Knabe noch dagewesen ist mit seinen
+Spielen und Gesprächen, hat die Einsamkeit nur zum Besuch kommen
+dürfen; nun wohnt sie in seiner verlassenen Kammer und macht sich
+täglich breiter im Haus. Die einzige Verbindung mit den Vorfällen der
+Welt besorgt die Schaffhauser Zeitung, die Heinrich Pestalozzi Samstags
+im Gasthof zum Sternen in Brugg liest. Da ihm der Weg dahin allmählich
+zu mühsam wird, namentlich bei schlechtem Wetter, hat er sich angewöhnt
+zu reiten. Sein struppiges Pferdchen ist, wie die Bauern sagen, genau
+solch eine Vogelscheuche wie die Pestilenz selber, und da er immer
+noch die Gewohnheit seiner Jugend hat, das Tier mit dem Zügel im Trab
+zu halten, gibt er einen merkwürdigen Reiter ab, dem die vornehmen
+Kurgäste aus Baden oder Schinznach mit spöttischem Vergnügen begegnen.
+
+Als er so eines Samstags sein Pferd am Sternen angebunden hat und
+drinnen bei einem Kirschwasser die Schaffhauser Zeitung liest, ist ein
+Fremder da, der ihn ungeduldig abwartet, ihn dann aber klug in ein
+Gespräch verwickelt, daß Heinrich Pestalozzi bald merkt, einen Mann
+von Kenntnissen vor sich zu haben, der auch seine Schriften und Taten
+genau kennt, obwohl er sonst wie ein Handelsmann aussieht. Ehe er noch
+eine Absicht des Mannes merkt, hat der ihm beigebracht, daß seine wie
+alle ähnlichen Mißerfolge nur von der Vereinsamung der einzelnen
+Menschenfreunde kämen, die wie die Prediger in der Wüste lebten und auf
+die zufälligen Bekanntschaften angewiesen wären. Wenn die sich etwa an
+den Jesuiten ein Beispiel nehmen und sich zu einer Gemeinschaft der
+Heiligen zusammen tun wollten, würde der Einzelne mit einem Schlag eine
+Macht bedeuten. Nur dürfe es keine öffentliche Gesellschaft mit dem
+Ehrgeiz der Führer und der Scheu der einzelnen Mitglieder sein: Wie
+zum Beispiel der Geheimorden der Illuminaten Hunderte von Mitgliedern
+hätte, deren keins das andere persönlich kenne, weil jedes nur mit
+einem selbstgewählten Namen geführt würde, aber unter diesem Decknamen
+mit jedem einzelnen korrespondieren könne, und zwar mit vermögenden und
+hochstehenden Persönlichkeiten.
+
+Das Gespräch dauert bis in die Dunkelheit, und Heinrich Pestalozzi
+hätte es gern noch fortgesetzt, so beglückt ihn diese geheimnisvolle
+Möglichkeit, seine Ideen bei Ministern und Fürsten anbringen zu können.
+Aber der Fremde, der seinen Stand und Namen nicht einmal andeutet, muß
+mit der Post nach Baden zurück, von wo er gekommen ist. Er sagt ihm
+noch, daß eine Nachricht von Augsburg kommen würde, die er an die selbe
+Stelle beantworten möge, und läßt ihn in einem Schwall von Hoffnungen
+zurück, mit denen er nachher in einem gespenstischen Galopp durchs
+nächtliche Birrfeld reitet.
+
+Durch diese Begegnung ist der Docht seiner Pläne wieder ins Glimmen
+gebracht; tiefer als jeder andere glaubt er die Not des Volkes zu
+kennen; während die Wohltätigkeit vergeblich an den bösesten Löchern
+flickt und, wie er sagt, die Gerechtigkeit in der Mistgrube der Gnade
+verscharrt, hält er die Menschenbildung als Heilmittel in der Hand.
+Er hat von dem Herzog von Württemberg gehört, der mit den Seinen als
+einfacher Landmann lebt; nun spürte er in der Rede des seltsamen
+Fremden einen Hauch dieses Geistes aus Deutschland herüber wehen,
+und als die angekündigte Schrift aus Augsburg kommt, tritt er mit
+weitgreifenden Hoffnungen in den Bund der Illuminaten ein, obwohl ihm
+die Geheimniskrämerei daran von Anfang an mißbehagt.
+
+Er legt sich nach dem sagenhaften König der Angelsachsen den Namen
+Alfred zu und ist mit fiebrigem Eifer dabei, ein Memorial nach dem
+andern in den namenlosen Bereich des Ordens hineinzusenden, wie ein
+geschäftiger Apotheker sein Heilmittel anpreisend. Es gelingt ihm auch
+bald, über seine Vorschläge zur Menschenbildung mit einflußreichen
+Persönlichkeiten in einen direkten Briefwechsel zu kommen, unter denen
+der Herzog von Toskana und Graf Zinzendorf, der Minister Josefs II. in
+Wien, die wichtigsten sind. Von allen Zeiten seines Lebens ist diese
+nun die seltsamste, wo er sich in der bäuerlichen Verborgenheit des
+Neuhofs allmählich seinen Landsleuten aus dem Augenkreis verschwinden
+und den Ruhm seiner Schriftstellerei nach jedem neuen Buch mehr
+versiegen sieht, während er mit Ungestüm an das Gewissen von Ministern
+und Fürsten klopft. Den ersten Teil von Lienhard und Gertrud hat er
+noch im Angesicht des Birrfeldes geschrieben, und die Abendstunden
+von Christoph und Else haben als Katechismus in die Strohhütten
+gesollt: nun wachsen sich die beiden letzten Bände von Lienhard und
+Gertrud immer mehr in Gesetzesvorschläge hinein; aus dem Ungetüm der
+Wirtshäuser wird das Ungetüm der Verwahrlosung überhaupt, und an die
+Regierenden in Europa geht sein Aufruf, es mit dem Heilmittel der
+allgemeinen Menschenbildung zu bekämpfen.
+
+Er ist acht Jahre älter geworden seit dem ersten Band, als er den
+vierten hinaussendet, und er stapft schon mit einem Fuß auf die
+Fünfziger zu; die Straßen nach Basel und Zürich geht er nun gleich
+wenig, wohl aber studiert er auf der Karte die Reise nach Wien, wo
+Zinzendorf sich immer mehr für seine Dinge erwärmt und wo der Glanz
+des Kaisers seine Hoffnungen anlockt. Für die Bauern im Birrfeld
+bleibt er die Pestilenz, die sie nun schon wie etwas Zugehöriges über
+die Straßen reiten oder Sonntags in der Kirche nach seiner Gewohnheit
+am Halstuchzipfel lutschen sehen; für die weitere Heimat ist er die
+Vogelscheuche seines Ruhms geworden, die immer noch den unnützen
+Phantastereien seiner Jugend nachhängt und sich den letzten Ausweg zum
+Wohlstand als Schriftsteller mit dem angeborenen Ungeschick verbastelt
+hat.
+
+
+ 61.
+
+Lisabeth, die Magd, ist in den Jahren fleißig und sparsam gewesen, wie
+sie Heinrich Pestalozzi versprochen hat; sie hält die verkleinerte
+Wirtschaft über Wasser, bis der Jakob sie übernehmen kann. Der ist
+aus Mülhausen durch den tapfer sorgenden Battier in seine Handlung
+in Basel übernommen worden, um einmal besser als sein Vater für die
+geschäftliche Führung gerüstet zu sein. Doch läßt ihn seine Krankheit
+nicht mehr los; als er wieder auf den Neuhof kommt, ist es auf den
+ersten Blick ein großer und starker Jüngling, aber für Heinrich
+Pestalozzi stehen ihm die Spuren seines Zustandes zu grausam im
+Gesicht, als daß er seiner froh werden könnte.
+
+Er ist ein Vierteljahr da, als der Vater Annas in seinem fröhlichen
+Greisentum kränkelt; der Tod nimmt ihn weg, bevor ein längeres Siechtum
+ihn mißmutig machen könnte. Sie begraben ihn an einem harten Wintertag
+hinter dem kleinen Schulhaus in Birr; auch die Brüder Annas sind da,
+und einer entäußert sich des gemeinsamen Verdrusses, daß sie nun ihren
+Vater, der doch ein Zürcher Bürger und Zunftpfleger gewesen sei, auf
+dem bäuerlichen Kirchhof im fremden Aargau begraben müßten, alles
+um der Projekte seines Schwiegersohnes willen! Heinrich Pestalozzi
+weiß, daß ihn viel mehr die Unstimmigkeiten mit den Söhnen auf den
+landfremden Altenteil getrieben haben -- wodurch ihm die eigene Mutter
+scheu in der Einsamkeit des Roten Gatters geblieben ist -- er hört aus
+den Worten des Schwagers schon die Entscheidungen heraus, die nachher
+kommen sollen, als es gilt, den Rest der Erbschaft aus dem Pflug zu
+teilen; denn so fern die Geschwister Schultheß allem stehen, was nach
+einem Erbstreit aussehen könnte, so wenig verhehlen sie ihre Besorgnis,
+daß auch der letzte Teil Annas in neuen Plänen verschwinden möge. Es
+findet sich auch eine Klausel im Testament, und ehe sich Heinrich
+Pestalozzi dessen versieht, ist er in endlose und manchmal hitzige
+Verhandlungen verwickelt, in denen sein eigener Sohn den Prozeßgegner
+vorstellt. Es wird schließlich ein Pakt gemacht, laut welchem er seinem
+minderjährigen Sohn Jakob den Neuhof für sechszehntausend Bernergulden
+verkauft; doch erhält er dieses Geld nicht, sondern es werden damit die
+Brüder Annas und andere Gläubiger abgelöst.
+
+Es ist eine klare Regelung, und Heinrich Pestalozzi kann mit dem
+Ergebnis zufrieden sein, da es den Neuhof für seinen Sohn sichert, wie
+er es selber gewollt hat; auch werden die Beratungen mit dem Respekt
+geführt, den man dem berühmten Verfasser von Lienhard und Gertrud
+schuldig zu sein glaubt: aber das mildert nur wenig an der Grausamkeit,
+mit fünfundvierzig Jahren schon ausgezogen und auf die freiwillige
+Unterhaltung durch seinen Sohn gesetzt zu sein! Und bitterer noch
+als dieses Ergebnis sind die Bedenken, die dahin führten und die ihn
+-- so sehr es auch verklausuliert wird -- gleich einem Verschwender
+entmündigten.
+
+So bin ich denn lebendig begraben! spottet Heinrich Pestalozzi grausam,
+als er seinen Namen unter den Vertrag gesetzt hat und unter dem
+Vorwand, in Bern mit dem Herrn von Fellenberg unterhandeln zu müssen,
+nicht mit Anna auf den Neuhof zurückgeht. Er kommt an dem Tag nur bis
+Kirchberg; denn als er da gegen Abend mit der Post durchfahren will,
+erschüttert ihn der Anblick der bekannten Fluren so, daß er aussteigt
+und sich in wehmütige Erinnerungen verliert. Es sind mehr als zwei
+Jahrzehnte vergangen, seitdem er hier gelernt hat, und da der Vater
+Tschiffeli seit zehn Jahren in der Erde liegt, stehen die Felder längst
+nicht mehr von ihm bereitet da. Die Krappkultur ist auch hier bis auf
+spärliche Reste eingegangen, und wo damals junge Alleen führten, hängen
+jetzt vereinzelte Bäume verwildert im roten Laub: Ich bin Landwirt
+geworden, sagte er, wie ein Brot in den Backofen sollte; da haben sie
+mich vergessen, und ich bin in den Krusten vertrocknet!
+
+Es fällt ihm ein, wie er hier mit Anna umher gegangen ist, mehr sie den
+Leuten, als ihr die Dinge zeigend; und weil sie damals einen Ausflug
+nach Burgdorf und seinem ragenden Schloß gemacht haben, läuft er noch
+am selben Abend durch den Mondschein dahin. Er kommt erst in der Nacht
+an und sieht nur noch im Unterdorf Licht in einer kleinen Wirtschaft,
+weil eine Kuh kalbt. Da findet er zwar ein Lager, aber er schläft
+nicht bis in die Frühe, und als dann endlich die bleierne Ermüdung auf
+seine rastlosen Gedanken gefallen ist, wird er bald wieder aus dem
+Morgenschlaf geweckt. Er träumt, daß er noch eine Armenanstalt habe
+und sich eifrig mit den Kindern plage; aber wie er wach wird, ist es
+die Hintersassenschule nebenan mit ihrem Lärm. Es lockt ihn nachher,
+als er mit der Morgensuppe fortgeht, die Schultür zu öffnen und in
+den Raum hinein zu sehen, wo immer noch wie damals in der Hausschule
+zu Zürich der Lehrer mit einem Stock schreiend in der Klasse herum
+wandert. Der Mann bemerkt ihn gleich und läuft unwirsch auf ihn zu: was
+er wünsche? Heinrich Pestalozzi sieht an seiner Schürze, daß es ein
+Schuhmacher ist, und die Bitterkeit schießt ihm auf, daß in der Schule
+das gleiche Elend geblieben ist durch vier Jahrzehnte: Ich wünsche, daß
+dies anders werden möchte! sagt er und geht fort, während der verdutzte
+Schulmeister in der Tür steht und dem Landstreicher nachsieht.
+
+Von Burgdorf nach Bern sind es fünf Stunden; er braucht den ganzen Tag
+dazu. Ich komme doch überall Zu früh, sagt er doppelsinnig zu sich
+selber, indem er bald hier, bald dort seinen Einfällen nachgeht und
+so schließlich erst gegen Abend vor dem Stadttor steht, bestaubt von
+der Straße und auch sonst unansehnlich genug. Zufällig sieht ihn da
+der Offizier der Wache, dem er verdächtig scheint; er fragt ihn nach
+seinem Namen, den er nicht weiter kennt, und da der Wanderer an seinem
+Halstuch lutschend ihm blöd vorkommt, läßt er ihn ohne weiteres als
+einen Landstreicher abführen. So kommt Heinrich Pestalozzi statt zu dem
+Ratsherrn von Fellenberg ins Fremdenarmenhaus, und seine Stimmung ist
+so, daß er sich nicht einmal ungern dahin abführen läßt; es ist ihm
+oft genug von den Züricher Freunden als sein sicheres Ziel prophezeit
+worden. Meines Besitzes ledig, ohne Amt oder Beruf, auf nichts als auf
+die Einfälle meiner Feder gestellt und auch damit längst nicht mehr
+willkommen: was bin ich vor ihrer bürgerlichen Ordnung anders als ein
+Bettler!
+
+Als er seine Suppe und nachher ein Bett erhält, die eine wohlschmeckend
+und das andere sauber, vergeht sogar seine düstere Stimmung: er findet
+sich besser aufgehoben als zur vergangenen Nacht in Burgdorf, und
+die Freude, daß für die anwandernden Armen in Bern so gut gesorgt
+ist, macht ihn fast fröhlich. Er schläft gut, ißt andern Morgens
+in der Frühe wieder seine Suppe und macht sich Freund mit seinen
+Leidensgenossen. Ich habe eine Frau, ein Gut und einen Sohn gehabt, es
+ist ein Strudel von Sorgen und Aufregungen um mich gewesen, ich bin
+berühmt geworden mit einem Buch und wieder vergessen mit einem andern:
+aber alles das war mein Leben nicht! Ich hätte arm sein und bleiben
+sollen wie einer von diesen; das andere hat mich vom Notwendigen
+abgebracht und in tausend Alltäglichkeiten verstrickt, die nicht die
+Atemzüge wert waren, die ich dran wandte!
+
+Er bleibt noch bis gegen Mittag da; erst, als er nachher eine Weile
+spazieren will, merkt er, daß sie ihn gefangen halten, und schickt dem
+Herrn von Fellenberg einen Zettel. Es dauert nicht eine halbe Stunde,
+so kommt der Ratsherr selber angeritten, und der Aufseher kann sich
+nicht genug verwundern, wie er vom Pferd springt und dem angeblichen
+Landstreicher um den Hals fällt. Hernach scheint er gereizt genug,
+sie alle um das Versehen anzufahren; aber Heinrich Pestalozzi legt
+ihm sogleich die Hand auf den Arm und lächelt ihn listig an mit allen
+Runzeln seines Gesichtes: Ich wollte doch nur sehen, wie ihr mit Betten
+und Suppen für die Landarmen sorgt!
+
+
+ 62.
+
+Erst als er mit dem Ratsherrn, der sein Pferd am Zügel führt, durch
+die Straßen von Bern geht, gesteht sich Heinrich Pestalozzi den Zweck
+seiner Reise ein: Fellenberg hat ihn dem Grafen Zinzendorf empfohlen;
+nun will er seinen Rat und andere Weisungen für Wien holen, denn
+nichts anderes als eine Wanderung dahin hat er im Sinn. In den Neuhof
+zurückzukehren, scheint seinem Trotz unmöglich, und sonst gibt es in
+der Schweiz nichts mehr für ihn zu tun; in Zürich, Basel und Bern,
+überall ist er der lästige Projektemacher. Zinzendorf war ziemlich
+der einzige, der ihm über den vierten Teil von Lienhard und Gertrud
+begeistert geschrieben hat; wenn er ihm unter die Augen träte -- er
+hat sich den Augenblick hundertmal ausgemalt -- könnte es garnicht
+fehlen, daß der Minister auch eine Stelle fände, sein Heilmittel der
+allgemeinen Menschenbildung zu versuchen!
+
+Fellenberg scheint diesen Reiseeinfall zunächst für einen Witz zu
+halten; er fitzt ein paarmal mit der Reitgerte durch die Luft und lacht
+dazu, als sie nachher miteinander auf einer Fensterbank sitzen: Das
+wäre allerdings keine üble Szene, wenn er in Wien als Wunderdoktor
+aufträte! Aber als Heinrich Pestalozzi mit einem Freudenruf aufspringt
+und redend ins Zimmer läuft, wie wenn er schon vor dem Grafen stände,
+wobei er sich freilich in einen Teppich verfängt und stolpert, fällt
+der Ratsherr ihm in den Arm, setzt sich aber gleich hin, ingrimmig
+lachend und den Kopf abermals schüttelnd wie einer, der mit seinem
+Verstande zu Ende ist. Je mehr sich Heinrich Pestalozzi in die
+Einzelheiten seines phantastischen Plans hinein redet -- wie er als
+dramatischer Dichter versuchen will, dem ganzen Hof ins Gewissen zu
+reden -- je schweigsamer wird der andere; bis beide schweigen und
+Fellenberg sich mit aller Gewandtheit seiner Diplomatie daran gibt,
+das Schaukelbrett wegzuziehen, darauf die Pläne seines Gastes gebaut
+sind: Der Wiener Hof und der Graf Zinzendorf hätten zur Zeit andere
+Dinge zu bedenken; der Kaiser Josef, durch dessen Eifer alle Mühlen
+in Österreich so eifrig am Mahlen gewesen wären, läge sterbenskrank
+darnieder, verbittert am Widerstand seiner Zeit. Er würde ihn wohl kaum
+noch lebend finden, wenn er in Wien ankäme; und so große Hoffnungen
+auch auf seinen Bruder Leopold, den Herzog von Toskana, als seinen
+Nachfolger zu setzen wären -- Heinrich Pestalozzi habe ihm ja immediat
+schreiben dürfen und besitze sicher einen Gönner in ihm -- er würde den
+Staat in einer Verfassung finden, die fürs erste auf andere Dinge als
+noch mehr Reformen ginge! Und was er sich sonst unter Wien und seinem
+Hof vorstelle? Es könne ihm passieren, daß er, einmal versehentlich
+ins Armenhaus gebracht, nicht so leicht wieder herauskäme wie hier.
+Jedenfalls würde ihn der Graf Zinzendorf kaum selber herausholen!
+
+Es hilft nichts, daß Heinrich Pestalozzi seine Gegengründe mit den
+Armen heran bringt, diese Dinge kennt der Ratsherr besser als er; und
+da der ihm weder in Bern noch sonst in der Schweiz einen Platz für
+seine Experimente weiß, tritt er nach drei Tagen, gedemütigter als
+er gekommen ist -- trotz aller ehrenden Sorge des Ratsherrn -- seine
+Rückreise nach dem Neuhof an. Da es sein muß, vermag er den Weg nicht
+durch eine neuerliche Wanderung in die Länge zu ziehen; er fährt mit
+der Post und langt nach einer durchrumpelten Tagesfahrt nachmittags in
+Lenzburg an, von da über den Berg zu laufen. Er will sich im »Löwen«
+noch stärken für den Marsch, als ihm sein Sohn aus der Tür mit einem
+Mädchen entgegentritt, das er nach der ersten Überraschung als eine
+Brugger Tochter namens Fröhlich erkennt, die auch schon einigemal
+im Neuhof gewesen ist. Die beiden haben sich, wie sie abwechselnd
+errötend sagen, zufällig hier in Lenzburg auf dem Markt getroffen und
+wollen mit ihren Eltern im Wagen nach Brugg heimkehren. Da er ablehnt,
+mitzufahren, und der Wagen schon wartet, treten sie garnicht mehr mit
+ihm ein; so kommt er trotz der Begegnung allein mit dem Abend ins
+Birrfeld hinunter, nun völlig sicher, daß kein Platz mehr für ihn und
+seine Pläne auf dem Neuhof ist.
+
+
+ 63.
+
+Es geschieht so, wie Fellenberg prophezeit hat; nach einigen Monaten
+liest Heinrich Pestalozzi in der Schaffhauser Zeitung, daß der
+edle Kaiser Josef im neunundfünfzigsten Jahr seines Lebens und im
+fünfundzwanzigsten Jahr seiner Regierung gebrochenen Herzens gestorben
+sei. Damit ist der Rest seiner heimlichen Hoffnungen allein auf seinen
+Nachfolger Leopold gestellt, und im Herbst wagt er es, ihm mit einer
+Schrift durch den Grafen Zinzendorf seine Dienste anzubieten. Aber
+auch damit hat Fellenberg recht gehabt, der Brief bringt ihm nie eine
+Antwort ein, und während er nach Trostgründen sucht, stirbt der neue
+Kaiser seinem Bruder rasch hinterher.
+
+Unterdessen ihm die Weltgeschichte diese Striche durch seine
+phantastische Rechnung macht, beeilt sich sein Sohn Jakob mit der
+Anna Magdalena Fröhlich von Brugg; im einundzwanzigsten Jahr macht
+er Hochzeit, und seitdem sitzt Heinrich Pestalozzi wirklich auf dem
+Altenteil im Neuhof. Seine Frau ist nun fast immer bei ihrer Freundin
+auf Schloß Hallwyl, und ihn treibt seine einsame Ruhelosigkeit nach
+Zürich, wo er den Rest seiner Freunde gelegentlich um neue vermehrt.
+Noch immer ist es die gelobte Stadt schwärmerischer Jünglinge,
+denen die Lage am See, der Ausblick ins Gebirge, dazu die gastliche
+Geselligkeit ihrer reichgewordenen Bürger und nicht zuletzt das durch
+Bodmer -- den auch nun längst gestorbenen -- begründete literarische
+Leben einen Zauber von freier Schönheit vortäuschen. Obwohl seine
+Schriften weder im Einklang mit dem Wesen der Stadt noch mit ihrem Ruf
+stehen, ist der Verfasser von Lienhard und Gertrud doch für manchen der
+fremden Jünglinge eine Bekanntschaft, die ihnen zugehörig scheint; und
+das Angenehmste, was Heinrich Pestalozzi von seinem Ruhm erlebt, wird
+ihm von ihnen gelegentlich in Zürich zuteil.
+
+So trifft er einmal einen jungen Holsteiner namens Nicolovius, der
+mit dem Grafen Stolberg nach Zürich gekommen ist und sich -- wie er
+Heinrich Pestalozzi sagt -- seit Beginn der Reise darauf gefreut hat,
+ihn zu sehen. Die norddeutsche Kühle des jungen Mannes entspricht
+wenig dieser warmen Versicherung, und er erwartet eigentlich nicht
+viel, als er ihn einlädt, ihn einmal auf dem Neuhof zu besuchen. Wie
+er dann aber kommt, ist er ohne seinen Grafen viel weniger steif, und
+als sie erst einen Spaziergang miteinander machen übers Birrfeld und
+Müligen nach der Reuß hinunter, erschließt er ihm bald sein Herz. Der
+Jüngling hat all seine Schriften mit glühendem Eifer gelesen und den
+Plan seines eigenen Lebens darauf gebaut. So erlebt Heinrich Pestalozzi
+ganz unvermutet an ihm das Glück einer wirklichen Jüngerschaft; in der
+Gedrücktheit seiner Lage wird das ein berauschendes Erlebnis für ihn,
+und wie er trotz Iselin und Battier niemals zu einem der Schweizer
+Freunde hat sprechen dürfen, so öffnet er diesem Jüngling sein Herz.
+Er kommt fröhlicher als seit langem heim, und darum fällt ihm die
+Traurigkeit so schneidend ins Herz, als um einer Besorgung willen sein
+Sohn ins Zimmer tritt und die beiden nebeneinander stehen, ziemlich
+gleich groß im Bau, aber der eine stumpf und von der Verbitterung
+seiner Krankheit mißmutig, trotzdem er das fröhlichste Frauenzimmer
+der Welt sein eigen nennt, der andere hell, klug und voll Schwung,
+ein junger Bach, in den er alle Trübheit seines Alters gießen könnte,
+ohne die gläserne Helligkeit zu trüben. Ach wäre es mein Sohn! schreit
+eine Stimme in ihm auf, wieviel leichter stände ich in der Welt, einen
+solchen Erben meiner Wünsche für die Menschheit zu haben! Und um nicht
+weinend über diesen Zwiespalt dazustehen, läuft er hinaus gegen den
+Wald, mit stürzenden Tränen wie in seiner Jugend.
+
+
+ 64.
+
+Nicht lange danach macht Heinrich Pestalozzi die erste größere Reise
+seines Lebens; die Tante Weber in Leipzig ist gestorben, und weil er
+am ehesten abkömmlich ist -- wie ihm der Vetter Hotze in Richterswyl
+nicht ohne Spott beibringt -- reist er als Erbbevollmächtigter seiner
+mütterlichen Familie hin. Er reist gern, weil er sich freut, das Bärbel
+wiederzusehen, das ihm in den fünfzehn Jahren als Frau Groß nicht
+untreu geworden ist und aus seinen Briefen von allem Schicksal weiß.
+Dahinter aber lockt die Hoffnung, daß er nun selber in dieses große
+Deutschland fährt, aus dem ihm immer noch das stärkste Echo gekommen
+ist. Vielleicht, daß er doch einen Reichsfürsten für seine Pläne findet!
+
+Die Fahrt geht noch im nassen März über Schaffhausen, Ulm, Nürnberg,
+Bamberg; aber diese Städte sind nur die größeren Nachtpausen in der
+endlosen Fahrt, die durch ein Gewirr von waldigen Hügeln, Wiesentälern
+und Ackerfeldern unaufhörlich über neue Grenzen in immer fremdere
+Gebiete führt. Wie es heißt, sind deutsche Heere nach Frankreich
+gezogen, den gefangenen König zu befreien, und überall begegnet
+er den Spuren dieses Feldzugs, sodaß er froh ist, nach einer fast
+vierzehntägigen Reise endlich in Leipzig zu sein. Er findet seine
+Schwester, die als Mädchen fortging, als eine stattliche Matrone
+wieder an der Seite eines Mannes, der vom ersten bis zum letzten
+Augenblick des Tages keinen andern Gedanken hat als sein Geschäft. Die
+Förmlichkeiten der Erbschaft denkt er bald zu erledigen und danach
+den eigenen Sachen nachzugehen; aber eine Eingabe zieht die andere
+nach sich und ein Anwalt den andern; schon nach acht Tagen sitzt er
+vor einem Berg von Akten, und jedes Papier hat die Sache schwieriger
+gemacht. Dabei ist er ein Schweizer unter lauter Sachsen, und so
+komisch er ihre Sprache findet, sie können das Lachen nicht verhalten
+vor der seinen. Selbst wenn er jemand für seine Sache eifrig gemacht
+hat, zerstört ein Gespräch mehr, als drei Briefe Nutzen brachten. Ist
+er in der Schweiz mit seinen Taten der Narr der Leute gewesen, so wird
+er es hier mit seiner Erscheinung; er vermag schließlich nur noch
+ängstlich über die Straßen zu gehen, weil immer wieder die Buben mit
+Gelächter hinter ihm drein laufen.
+
+Sein geheimer Plan, nach Weimar oder sonst an einen Fürstenhof zu
+fahren, verdrückt sich dadurch; verschüchtert und ingrimmig über die
+langwierigen Termine und die Ergebnislosigkeit seiner Reise fängt
+er bald an, Heimweh nach seiner Schweiz zu kriegen, und eher, als
+er gedacht hat, ist er auf der Rückfahrt. Nicht einem Menschen hat
+er ernstlich von seinen Dingen sprechen können, aber mit seinen
+Luftschlössern im Ausland ist er trotzdem fertig. Er hat gesehen,
+daß Zürich und Leipzig für ihn dasselbe ist; hier wie dort gibt es
+Stadtbürger, deren Namen einem gefüllten Geldsack den Klang verdankt;
+hier wie dort sind diejenigen weiße Raben, die mehr als ihren Vorteil
+wollen, nur daß er die weißen Raben daheim allmählich kennt und zu
+beurteilen weiß, während er dort nicht einmal zu einer oberflächlichen
+Kenntnis kommt! Auch auf der Heimreise sieht er nichts von den Ländern,
+durch die sein Postwagen fährt. Überall Postmeister, Stadtsoldaten
+und Zöllner, Schlagbäume und mürrisch geöffnete Stadttore. Ohne ein
+eigentliches Erlebnis kommt er gedemütigt wieder an und nicht geneigt,
+mehr als seinen geschäftlichen Bericht von der Reise zu geben. Daß er
+zweimal dicht am Rheinfall vorüber gefahren ist, erfährt er erst, als
+man ihn danach fragt.
+
+Das einzige, was er mitbringt, sind die ungeheuren Vorgänge in Paris,
+von denen täglich neue Blutberichte nach Leipzig kamen. Noch lebt der
+König, aber schon weiß man, daß er kaum mehr als ein Gefangener der
+Empörer ist. Auch sonst scheint die Weltordnung einzustürzen; das Elend
+und die Verzweiflung der Armut stehen auf, wie Heinrich Pestalozzi
+es längst befürchtete, und da er das Heilmittel angepriesen hat, die
+Regierungen mit ihren Völkern übereins zu bringen, kommt er sich wie
+ein Prophet vor, auf den niemand hören wollte. Aber als bis in den
+Hochsommer hinein sich die Schreckensnachrichten häufen, sodaß es
+scheint, als ob Paris den Untergang Jerusalems noch einmal erleben
+solle, bekommt er die Nachricht, daß ihm die Nationalversammlung
+der Empörer in Paris das Ehrenbürgerrecht des französischen Volkes
+verliehen habe. Achtzehn Ausländern ist es zugesprochen worden, und
+neben den weltberühmten Namen Washington, Klopstock und Schiller sieht
+er den seinigen geehrt, wie er es niemals geträumt hätte.
+
+Er ist wieder einmal mit Hans Heinrich Füeßli zusammen -- den sie
+unterdessen in Zürich auf den Lehrstuhl für vaterländische Geschichte
+am Collegium Carolinum berufen haben -- als die Nachricht eintrifft:
+Das ist was Rechtes, spottet der, um seine Freude zu verbergen,
+Ehrenbürger einer Räuber- und Mörderbande zu sein! Aber in seinem
+Kopf haben alle Gedanken schon eine neue Windrichtung angenommen:
+Wo Heinrich Pestalozzi Ehrenbürger wird, sagt er fest, und bleibt in
+seiner Gläubigkeit allem Hochmut fern, ist etwas Gutes im Wege! Für
+eine Räuberbande könnten sie landauf, landab schon andere Leute finden,
+auch in Zürich.
+
+Trotzdem, ein Ehrenbürger des Aufruhrs bleibst du, sagt Füeßli nun
+gleichfalls ernst und setzt seinen Hut auf, weil er doch gehen will!
+Da gibt ihm Heinrich Pestalozzi die Hand, und jedes Rünzelchen seines
+braunen Gesichts scheint einzeln zu lächeln: Du meinst, weil ich selber
+ein Aufrührer sei? Ich hätte freilich gern euren Brei gerührt, er war
+zu zäh für meine Holzlöffel, die mir nacheinander zerbrochen sind. Was
+gilts, die haben eiserne Löffel, und ihr werdet daraus essen müssen!
+
+
+ 65.
+
+Seit diesem Tag ist ein Schein in der Welt, der Heinrich Pestalozzi
+das Blut unruhig macht; er fühlt, daß es die Sache der Menschheit
+ist, die in Paris verhandelt wird, und soviel Greuel da mit Greueln
+totgeschlagen werden: er wartet aus der wilden Mordnacht getrost auf
+ein Morgenlicht, das auch seinen Dingen scheinen soll. Für ihn bedeutet
+die Verkündigung der Menschenrechte auch die der Menschenpflichten;
+während die Franzosen ihrem König den Kopf abschlagen, schreibt er in
+einer glühenden Schrift sein klares »Ja oder Nein« zu dem Aufruhr der
+verwahrlosten Menschennatur; und weil er sieht, wie nun das Christentum
+von denen zur Hilfe gerufen wird, die es bisher nicht brauchten,
+scheut er sich nicht, die Übereinstimmung der christlichen Lehre mit
+den sozialen Forderungen der Revolution in einer zweiten Flugschrift
+darzulegen. Aber er findet keinen Drucker in der Schweiz für diese
+Kühnheiten, und seine Freunde sind erlöst, daß er sie ins Schubfach
+legt.
+
+Indessen Heinrich Pestalozzi so die flackernden Brände der
+Zeitgeschichte in den Spiegel seiner Ideen nimmt, sitzt er selber noch
+überflüssig auf dem Neuhof im Altenteil; so kommt ihm eine Anfrage
+seines Vetters, des Doktors Hotze, recht: Der will eine längere Reise
+nach Deutschland machen, wo seine Tochter einen Herrn von Neufville
+in Frankfurt heiratet, und er soll ihm über den Winter das Haus in
+Richterswyl hüten. Er sieht sich als stellvertretender Hausherr in die
+Sorglosigkeit eines wohlhabenden Hauses am See verpflanzt, den Freunden
+in Zürich mit einer nicht zu umständlichen Schiffahrt erreichbar und
+mitten in einer Landschaft, die ihn mit den letzten Gesängen der
+Weinernte umfängt und gegen das rauhe Birrfeld ein einziger Garten ist.
+Zum erstenmal in seinem unrastigen Mannesleben weicht die Täglichkeit
+der Sorgen von ihm zurück, und während er in den ersten Tagen sein
+zeitweises Besitztum abschreitet, gegen den See hinunter und bis an den
+Wald hinauf, kommt es ihm vor, als habe er in seinem Leben noch keinen
+Spaziergang gemacht.
+
+Wie er nun eines Tages unten am See sitzt und sich von der letzten
+Wärme der Herbstsonne durchschauern läßt -- es ist dieselbe Stelle, wo
+ihn die Mutter damals auf den Armen ins Haus holte -- muß er an den
+Knaben im Federhut denken, der es unterdessen bei den Kaiserlichen
+zum General gebracht hat. Wo sind meine Taten? fragt er da in die
+blausonnige Seewelt hinaus, und alles, was er an großen Dingen
+versuchte, erst mit seinen mißlungenen Gründungen, danach mit seiner
+Feder, scheint ihm ärmlich und zerstreut. Wohl hat er mit Lienhard
+und Gertrud einen Plan aufgebaut, wie der verwahrlosten Menschheit
+zu helfen wäre, aber der Plan ist auf das Herrenrecht gegründet
+gewesen, das er nun überall wanken sieht. Er ist nicht auf den Grund
+der Menschennatur gegangen, er hat seine Vorschläge an Verhältnisse
+geklebt, die sich vor der großen Abrechnung, die nun kommt, nicht
+halten können, und so bröckeln sie mit ihnen hin. Nichts scheint ihm
+fest in dieser Zeit, als der Gedanke der menschlichen Verpflichtung,
+der sich im Schicksal der Tage aufringt und aus dem allein die Ordnung
+der Zukunft kommen kann.
+
+Er sitzt noch mitten in dieser Rechnung, als er drei Männer vom Haus
+herunter an den See kommen sieht, von einer Magd zu ihm gewiesen:
+Landfremde, die er aus Zürich kennt, zwei Deutsche und der dänische
+Dichter Baggesen; der eine Deutsche aber, namens Fichte, hat die
+Tochter einer Freundin in Zürich geheiratet und ist ihm dadurch wie
+durch den Steilflug seiner Gedanken vertrauter geworden. Wie die
+drei gerade in dieser Stunde daher kommen, wird ihm alttestamentlich
+zumut, so wohl tut ihm ihre Gegenwart. Noch sind sie keine Stunde
+da, als er schon tief im Gespräch ist, wie nichts nötiger sei als
+eine Nachforschung über den Gang der Natur in der Entwicklung des
+Menschengeschlechts. Die Abrechnung mit der alten Zeit ist da, und
+allein aus der Natur kann die Formel für die neue gefunden werden. Er
+hat ein Gefühl, als ob ihm in der Tiefe ein Strom aufgebrochen wäre,
+daraus seine Rede zur Sprache des Lebens selber würde. Und da es Männer
+sind, die wie er diese Zeit im Innersten erleben, die nicht wie die
+Regierenden und Besitzenden händeringend um die bedrohte Macht und
+ihren Reichtum dastehen, sondern in sich die Seele und das Schicksal
+ihres Volkes und der Menschheit fühlen, spricht er nicht rauben Ohren.
+Der Tag geht hin und die halbe Nacht; und obwohl sie kaum Wein dazu
+trinken, ist ein Rausch in ihnen, daß sie sich aller Dinge kraft ihres
+Geistes mächtig fühlen.
+
+Als gegen Mitternacht der Mond aufgeht, treten sie noch einmal hinaus,
+wo eine alte Linde ihre Äste über den Hof senkt. Das ist unser
+Freiheitsbaum, sagt Heinrich Pestalozzi und faßt die Hände seiner
+Nachbarn: seine Wurzeln im Saft der Erde halten die Krone im Wind;
+kein dürrer Steckling, sondern eine gewachsene Kreatur! Ehe sie es
+selber merken, hat sich auch Fichte als der vierte eingefaßt, sodaß
+sie in einem Ring um den Lindenbaum dastehen. Aber der Stamm ist so
+dick in den Wurzeln, daß sie sich alle vier ihm dicht zuneigen müssen
+und mehr in einer Umarmung als zum Reigen dastehen: Es ist nichts
+mit dem Tanzen, sagt Heinrich Pestalozzi, jetzt weiß ich, warum die
+Freiheitsbäume der Franzosen so dünn sind!
+
+
+ 66.
+
+Danach fühlt Heinrich Pestalozzi, wie alles in seinem Leben der
+Auflösung entgegengeht. Nach dem Winter in Richterswyl findet er
+sich nicht mehr in den Neuhof zurück; wohl hält er sich auch danach
+noch wochenlang dort auf, aber seitdem seinem Sohn eine Tochter
+Marianne geboren ist, die ihn zum Großvater macht, sitzt et nur noch
+wie ein Zuschauer dabei, wenn sie sich abends im Lichtkreis um den
+Tisch sammeln -- es ist immer noch die Messinglampe, die ihm schon in
+Müligen geleuchtet hat und bis auf den Tag das Staatsstück des Hauses
+vorstellt. Er ist nun wieder viel und gern bei seiner Mutter, die noch
+einmal nach der kleinen Stadt hinübergezogen ist, wo sie mit einer
+Aufwärterin in zwei Stuben ihr einsames Wesen hat; denn auch das Babeli
+liegt bei St. Leonhard begraben nach seinem tapferen Leben. Sie ist
+nun in der Mitte der Siebziger, schlohweiß und eingeschrumpft; doch
+weiß sie noch immer, daß sie eine geborene Hotzin ist, und Heinrich
+Pestalozzi erfährt manchen Tadel, weil er nicht acht gibt auf ihre
+Ordnung und Reputation. Am liebsten hat sie, wenn er vom Bärbel und
+seinem Besuch in Leipzig erzählt und wie da alles in den Glanz des
+bürgerlichen Lebens gekommen ist, den sie entbehren mußte; es gibt
+Fragen, die sie schon hundertmal gestellt hat und deren Antwort sie
+doch immer mit der gleichen glücklichen Neugier abwartet. Auch ein paar
+dunkle Stellen sind da um den andern Sohn, wo sie den Kopf schüttelt
+und am Boden wie auf einer Landkarte den Verschollenen sucht; doch
+kennt Heinrich Pestalozzi die Brücken, um sie rasch hinüberzubringen in
+die sicheren Umstände ihrer Täglichkeit.
+
+Eines Tages im März wacht sie nicht mehr auf aus ihrem
+Mittagsschläfchen; aber als er sie findet, liegt abgegriffen und
+weich, kaum noch wie ein Papier, der letzte Brief ihres Johann Baptista
+unter der Schürze, als ob sie ihn auch noch vor dem Tod ängstlich
+verstecken wolle.
+
+Nun stehen wir vorn, sagt Heinrich Pestalozzi zu seiner Frau, als
+sie von dem Kirchhof bei St. Anna zurückkommen und abgesondert von
+den Leidtragenden in die leere Wohnung der Mutter gehen: wir beide
+sollten nun hier wohnen und auf den Herold mit der Sense warten! Aber
+Anna Schultheß, die auch schon achtundfünfzigjährig und eine rechte
+Großmutter ist, hat in den dreißig Jahren gelernt, daß nichts weniger
+als abwarten seine Sache ist: Wer weiß, sagt sie und lächelt ihn mit
+der Güte an, die über alles Schicksal ihr edles Teil für ihn geblieben
+ist: wer weiß, auf welchen Wegen wir noch gehen und den Herold abholen
+müssen!
+
+
+
+
+ Abend
+
+
+ 67.
+
+Als Heinrich Pestalozzi und seine Frau Anna ein paar Stunden lang still
+miteinander in den Stuben geblieben sind, daraus sie morgens seine
+Mutter als die letzte von den vier Eltern ihrer Ehe auf den Kirchhof
+getragen haben, trennen sich ihre Wege für lange Zeit. Nicht, daß sie
+unfriedlich auseinander gingen; ihre Seelen sind selten so im Rätsel
+der Vertrautheit gewesen wie an diesem Nachmittag, wo sie im Vorhof
+des Todes und also im Allerheiligsten des Lebens ihre Hände und Augen
+ineinander legen und das Naheste ihres Lebenskreises, ihr Fleisch
+und Blut im Neuhof und dahinter die Herzensfreunde nur noch wie eine
+fremde Ferne fühlen. Aber Abmachungen vom Morgen rufen Anna zu ihren
+Brüdern im Pflug, wo noch am Abend ein Wagen sie zu einer Freundschaft
+abholen soll. Er mag weder zum einen noch zum andern: Es sind deine
+Sachen, sagt er, wie meine Mutter allein die meine ist; ich will noch
+ein paar Tage ihr Sohn gewesen sein, weil nun der Faden meiner Kindheit
+abgeschnitten wurde.
+
+Es schlägt fünf Uhr, und der Märztag geht rötlich dem Ende zu, als er
+sie auf die Straße bringt. Wir sind im Nachmittag, sagt er, und weil
+am Morgen und Mittag alles kam, wie es geschehen mußte, wird auch der
+Abend unseres Lebenstages nicht anders sein! Danach geht er hinauf und
+sitzt zum Abend schon tief in den Gedanken, die seit Wochen und Monaten
+das Selbstgericht seines Daseins sind: »Ich will wissen, was der Gang
+meines Lebens, wie es war, aus mir gemacht hat; ich will wissen, was
+der Gang des Lebens, wie es ist, aus dem Menschengeschlecht macht!« Das
+sind seine Nachforschungen aus Richterswyl, und er verläßt die Stuben
+seiner Mutter nicht eher, als bis er die Schrift vollendet hat, an der
+er nun schon im dritten Jahr seine Denkkraft versucht. Er schreibt
+sie nicht für sich und nicht um seinetwillen, er sieht sich in der
+Menschheit und die Menschheit in sich, er will der wirren Zeit einen
+sicheren Maßstab und Weiser ihrer Taten geben. Dies aber ist ihm im
+Einzelnen wie in Allen der gleiche Gang der Natur: aus dem tierischen
+Paradies der Jugend in die gesellschaftliche Verpflichtung als Bürger,
+als Teil der Familie, der Gemeinde, des Staates, als Erfüller eines
+Berufes; doch kann für ihn dieses Dasein des brauchbaren Bürgers nicht
+Sinn und Ziel des Lebens sein: das Ziel ist allein der Mensch als
+sittlicher Zustand, der sich jenseits von allem bürgerlichen Zweck in
+das Weltwesen einordnet, wie es der Weisheit des Alters vorbehalten
+scheint. Die selige Unschuld der Jugend kann er mit dem Bewußtsein
+des Alters nicht wieder erreichen, aber doch die Unfreiheit des
+gesellschaftlichen Menschen überwinden und als letzte Einsicht die
+Einheit der Kreatur mit dem Schöpfer wieder gewinnen, die das Tier in
+seiner paradiesischen Unschuld nicht verliert.
+
+Es ist der Abschied von seinen Mannesjahren, den Heinrich Pestalozzi
+einsam feiert, als er über dieser Schrift wochenlang mit dem hitzigen
+Eifer seiner Jünglingsjahre sitzt. Daß er sie in der Stube seiner
+Mutter niederschreibt, bringt ihm auch sonst die Stimmung der Zeiten
+zurück, da er den spartanischen König Agis in die Zürcher Verhältnisse
+beschwor. Wie damals hätte er gern einen Kreis Gleichgesinnter gehabt,
+ihnen die gelungensten Stücke aus seiner Schrift vorzulesen; aber es
+gibt keine Gerwe mehr, Bodmer liegt seit dreizehn Jahren in der Erde,
+und statt seiner heiteren Menschlichkeit herrschen die Humanisten über
+die Zürcher Jugend. Gleichwohl, als er zu Ende ist mit seiner Schrift
+und im Gefühl tiefer Dankbarkeit aufatmet nach der fiebrigen Anspannung
+dieser Wochen, treibt es ihn, einen Kreis alter Freunde zu suchen,
+denen er die Hauptstücke seiner Nachforschungen vorlesen darf. Die
+meisten sind unterdessen Großvater geworden gleich ihm, und der Beruf
+hat nicht allen Zeit gelassen, den Lebensfragen so nahe zu bleiben wie
+er; aber die Feuersbrunst von Westen hat so viele Brandflocken in die
+Schweiz herüber geworfen, daß auch die Zurückhaltenden die Unruhe der
+Zeit fühlen; und schließlich ist Heinrich Pestalozzi nicht mehr allein
+der Armennarr von Neuhof, sondern auch der berühmte Verfasser von
+Lienhard und Gertrud und schweizerischer Ehrenbürger der französischen
+Republik.
+
+So kommt es zu einem Frühsommerabend, wo er wieder wie als Jüngling mit
+dem Agis nun mit seinen Nachforschungen über den Gang der Natur dasitzt
+und seine zitternde Stimme Wege in ihre Herzen suchen läßt. Er weiß,
+dies ist für ihn mehr als eine Schrift, es ist die Grundlage alles
+dessen, was er in Taten und Worten versucht hat, die Rechtfertigung
+seines im bürgerlichen Sinn gescheiterten Daseins und zugleich ein
+Religionsbuch der Zeit, wie er keines kennt. Aber die Freunde haben
+etwas anderes von dem Ehrenbürger der Franzosen erwartet, etwas, darin
+der Brand der Zeit ist; sie sehen sich wieder einmal enttäuscht durch
+ihn, und obwohl sie betreten schweigen und vor seinen zitternden Worten
+stumm bleiben, mag in allen das gleiche Gefühl sein: daß in diesem
+Menschen eine krankhafte Sprunghaftigkeit sei; nun er als Figur für die
+Öffentlichkeit feststeht und sein Weg durch die Erfolge vorgezeichnet
+ist, verfällt er auf philosophische Spekulationen, zu denen es ihm --
+so scheint es ihnen -- durchaus an der Bildung fehlt. Der Abend geht
+peinlich in eine betretene Stimmung aus; nur ein alter Landpfarrer
+vom See, der ihn schon mehrmals im Neuhof besucht hat, ein ehrlich
+gesinnter Menschenfreund, ist erregt von dem Abend. Er begleitet ihn
+nach der kleinen Stadt hinüber, und Heinrich Pestalozzi scheint es, als
+ob er auf der mondlichten Brücke und nachher in dem Schattengewinkel
+der Gassen ein paarmal tief vom Herzen seufze. Erst vor seiner Tür
+findet der Mann die Worte zu seiner Bewegung, indem er die Kappe
+abnimmt und ein paarmal über sein weißes Haar streicht: er müsse
+Abschied von ihm nehmen; er könne sich nun einmal sein Christentum
+nicht als einen Kirschbaum denken, den sich die Menschen selber in
+ihren Garten gepflanzt hätten!
+
+In seine Milde ist ihm unvermutet der pfarrerliche Zorn gefahren; ehe
+Heinrich Pestalozzi -- der mehr den Zorn als die Worte versteht --
+aus seiner Bestürzung antworten könnte, ist der alte Mann schon im
+Schlagschatten der nächsten Quergasse verschwunden. Sie wollen alle
+das Beste, sagt er bitter, als er im Dunkeln die enge Stiege allein
+hinauf tappt, aber sie fürchten das Gute. Noch in derselben Nacht aber
+schreibt er sich selber eine bittere Grabrede als Nachwort zu seiner
+Schrift: »Und die Welt zerschlug ihn mit ihrem eisernen Hammer, wie
+die Maurer einen unbrauchbaren Stein zum Lückenfüller zwischen den
+schlechtesten Brocken!«
+
+
+ 68.
+
+Es geht Heinrich Pestalozzi mit seinen Nachforschungen in der großen
+Welt nicht anders als in der Enge seiner Zürcher Freunde; trotz seinem
+flehentlichen Schlußwort kommt kein Echo, und wenn alles ein blasser
+Unsinn gewesen wäre, könnte die Stille nicht peinlicher sein. Aber
+nun ist es zu Ende mit der Einsiedlerschaft und der Wartezeit seiner
+einsamen Mannesjahre: die Stube der Mutter hat ihn wieder in seine
+Vaterstadt gebracht, und von den Signalen seiner Jünglingszeit erfüllt,
+nimmt er teil an dem Handel mit dem aufrührerischen Stäfa, der auch den
+Gestrengen Herren in Zürich die Schicksalsstunde läutet.
+
+Er hat den Anfang schon in dem Winter erlebt, als er seinem Vetter
+Hotze das Haus in Richterswyl hütete. Auch durch die Dörfer am See ist
+der Sturmwind der Menschenrechte geweht und hat in dem unterdrückten
+Landvolk die Erinnerung an alte Gerechtigkeiten geweckt, an den
+Kappeler Brief und den Waldmannischen Spruch. Als die Urkunden sich in
+der Gemeindelade zu Küsnacht wirklich fanden, haben die Seebauern zu
+Küsnacht, Horgen und Stäfa, ein Memorial an die Gestrengen Herren in
+Zürich gesandt, ob diese Briefe noch zu Recht beständen? Das allein
+aber hat den Rädelsführern schon den Kopf kosten sollen, und nur der
+hinreißenden Beredtsamkeit Lavaters ist es gelungen, Bluturteile zu
+verhindern. Seitdem sitzen ihrer zwei aus den drei Orten gefangen im
+Wellenberg, und über dem Haupt des Ältesten, eines siebzigjährigen
+Greises aus Stäfa, namens Bodmer, ist auf offenem Markt das Schwert des
+Henkers geschwungen worden, zum Zeichen, daß sein Leben den Zürcher
+Herren verfallen sei.
+
+Heinrich Pestalozzi hat damals selber im Verdacht gestanden, das
+Memorial verfaßt zu haben; als nun der Handel in einen Bürgerkrieg
+auszugehen scheint, indem das erbitterte Landvolk -- von den
+Sturmnachrichten aus Frankreich mutig gemacht -- die Aufhebung des
+ungerechten Urteils und die Freigabe der Eingekerkerten unter Androhung
+offener Gewalt verlangt, sodaß die Revolution in der Schweiz hier
+ihren Ausgang nehmen will: ist er der einzige Zürcher, der es wagen
+darf, in das empörte Stäfa zu gehen, um mit der Geltung seines Namens
+den blutigen Ereignissen entgegenzuarbeiten. Er hat es unterdessen
+auf sonderbare Weise noch einmal zum Fabrikanten gebracht: eine
+Seidenfirma Notz richtet auf der Platte in Zürich eine Fabrik ein
+und braucht einen Zürcher Bürger als Inhaber, um die Erlaubnis der
+Niederlassung zu erhalten; weil, wie er selber spottet, sein Name in
+den zweiundfünfzig Jahren das einzig Brauchbare an ihm geblieben ist,
+läßt Heinrich Pestalozzi sich den abkaufen. So führt er bürgerlich
+nur noch ein Schattendasein; aber mit Sendschriften und Flugblättern
+flackert sein landfahrender Menschengeist durch den wilden Handel. Zum
+erstenmal seit seiner Jünglingszeit kommt er dabei wieder mit Lavater
+überein, der -- wie er in den Seegemeinden -- in Zürich die Regierung
+von gewaltsamen Schritten abhält. Überall liegen die Waffen zur offenen
+Empörung bereit, Blut soll die verweigerte Gerechtigkeit auslösen, und
+die Verhandlungen zwischen den feindlichen Mächten sind abgebrochen:
+da überbringt Heinrich Pestalozzi einen offenen Brief Lavaters an
+den redlichsten Mann in Stäfa, in dem eine friedliche Freilassung
+der Verurteilten aufs bestimmteste in Aussicht gestellt wird. Und so
+ehrlich ist das Vertrauen der Landbürger auf die beiden Männer, daß die
+Waffen noch einmal ruhen.
+
+Umso aufrührerischer aber tut das zugelaufene Volk, das sich eine
+Gelegenheit entschwinden sieht. Seitdem es sich herumgesprochen hat,
+daß in Stäfa der Handel des unterdrückten Landvolks mit den hochmütigen
+Stadtherren zum Austrag kommen soll, ist dort alles zusammengeströmt,
+was in der Zürcher Herrschaft und in den Kantonen rundum auf den Tag
+der Abrechnung wartet, sodaß die Wirtschaften und Scheunen in Stäfa
+voll sind von einer braunen wilden Menge: ehrlich Verbitterte, die
+auf Vergeltung lauern, und gewalttätiges Bettelvolk, das schon von
+einer Plünderung der reichen Zürichstadt träumt, alte Kriegläufer,
+die in der neuen Ordnung keinen Platz mehr gefunden haben. Sie haben
+ihr Hauptlager in einer leeren Scheune, wo sie die Zürcher Herren mit
+wilden Flüchen nach dem Pariser Vorbild an die Laternen hängen, obwohl
+sie vorläufig weder Laternen noch Zürcher dahaben. Im Vertrauen auf
+seine Geltung wagt sich Heinrich Pestalozzi mit dem Brief Lavaters
+auch dahinein; aber da wissen sie nichts von Lienhard und Gertrud und
+seinem Ehrenbürgertum, ihnen ist er nichts als ein Zürcher Spion, und
+so empfängt ihn in der halbhellen Scheune eine Schweigsamkeit, die nur
+höhnisch lachen, nicht mehr sprechen kann. Zu arglos in seinem Eifer
+fängt er an, gutmütig scheltend auf sie einzureden; aber als er schon
+denkt, sie zu rühren -- so still ist es um ihn -- tut einer einen Ruf,
+und gleich ist es, als ob sich rundum ihre Hörner senkten. Er hat noch
+ein Stück seiner Rede im Mund, da heben sie ihn wie eine Strohpuppe an
+den Beinen hoch und tragen ihn, die Marseillaise heulend, durch den
+Raum. Noch immer täuscht sich Heinrich Pestalozzi über die Gefahr und
+versucht, auf sie einzureden; aber je mehr er dabei in ihren Fäusten
+zappelt, umso höhnischer wird das Hetzgeschrei -- bis ein Schuß fällt.
+Einer hat den Zürcher abschießen wollen wie einen Schützenvogel, aber
+gefehlt, und die Kugel zischt ins Gebälk. In der Verwirrung kommt er
+wieder auf den Boden; aber es wäre keine Rettung für ihn gewesen, wenn
+sich nicht ein stakiger Kerl mit einem alten Soldatenhut vorgedrängt
+hätte, der ihm gleich beim Eintritt durch das von feurigen Narben
+entstellte Gesicht und um einer Ähnlichkeit willen aufgefallen wäre:
+Heißt der Mann nicht Pestalozzi? Und als einige verblüffte die barsche
+Frage bejahen: Dann Brand und Pest, wer ihn anrührt! Er gehört mir, wir
+haben noch etwas miteinander auszumachen! Dabei hat er schon seinen
+alten Reitersäbel blank, und Heinrich Pestalozzi meint, sein Arm müsse
+unter dem Griff zerbrechen, wie er ihn durch das Gedränge schiebt und
+mit dem Fuß das klappernde Tor aufstößt: So, Heiri, sagt er, als er ihn
+draußen hat -- und Heinrich Pestalozzi aus dem verwüsteten Gesicht den
+Ernst Luginbühl erkennt -- jetzt schau, daß du weiterkommst!
+
+
+ 69.
+
+Mit diesem Vorspiel in der Scheune ist das Kriegstheater in Stäfa schon
+wieder aus; bereits am dritten Tag danach kommt der Bürgermeister
+Wyß, durch einen dringenden Brief Lavaters aus der Tagsatzung in
+Aarau gerufen, zu einer Sitzung der Rate und Bürger, die den Wünschen
+des Landvolks nachgibt. Heinrich Pestalozzi ist dabei, wie sie unter
+Glockengeläut und Freudenschüssen die Befreiten in geschmückten Wagen
+heimholen, und an der Grenze von Zollikon spricht er dem ehrwürdigen
+Bodmer einen Zuruf, dem diesmal die Freude lauter nachschreit, als die
+Wut in der Scheune. Den Luginbühl findet er nicht mehr, der gehört zu
+denen, die sich der neuen Lage mißtrauend davon gemacht haben, an einem
+andern Ort die Abrechnung zu erwarten; denn daß die alte Zeit stürmisch
+zu Ende geht, fühlt jeder in der Schweiz, seitdem der General Bonaparte
+von seinem siegreichen Feldzug in Italien nach Rastatt selbstherrlich
+durchs Land gereist ist, Gunst und Ungunst wie ein Herrscher verteilend.
+
+Heinrich Pestalozzi vermag die Stunde nun doch nicht in Zürich zu
+erwarten; in der Seidenfabrik auf der Platte ist nur sein Name nötig,
+er selber geht noch einmal auf das Birrfeld zurück. Vorher läßt er die
+Stuben seiner Mutter ausräumen und fährt so nach dreißig Jahren zum
+andernmal auf einem Wagen mit Hausrat aus der Sihlporte hinaus. Es ist
+ein graulicher Wintertag, und er kommt im Dunkeln auf dem Neuhof an, wo
+ihm seine Schwiegertochter unterdessen ein zweites Enkelkind geboren
+hat, sein Sohn Jakob aber schon viele Monate gelähmt daliegt. Es war
+noch zu früh, sagte er der Lisabeth, die noch im Mondlicht mit einem
+schweren Korb aus der Scheune kommt und ihn vor Erstaunen hinsetzt: ich
+muß ein kleines warten, bis sie mich brauchen; meinen Namen hab ich
+dahinten gelassen; er ist in Zürich Fabrikant!
+
+Es ist wirklich nur noch ein kleines; fünfmal kommt er noch
+Sonntags auf seinem Pferdchen nach Brugg, im Gasthof zum Sternen
+die Schaffhauser Zeitung zu lesen, und jedesmal sind es der
+Sturmnachrichten mehr: Im Waadtland fängt es an mit der lemanischen
+Republik; wohl rufen die Berner den Landsturm auf gegen die
+eindringenden Franzosen, und Tausende folgen den Sturmglocken, aber
+die Kräfte sind verzettelt; als es dem tapferen Oberst von Grafenried
+gelingt, die Welschen im Sensetal blutig zu schlagen, ist der Sieg
+umsonst, weil unterdessen der General Schauenburg nach dem Gefecht
+bei Fraubrunnen an einem Märzmittag in Bern eingezogen ist und der
+unbesiegten Stadtherrlichkeit eines Jahrtausends ein unrühmliches Ende
+gemacht bat.
+
+Wie Heinrich Pestalozzi zum sechstenmal geritten kommt, steht
+von eilfertigen Patrioten aufgerichtet auch schon in Brugg der
+Freiheitsbaum: es ist vorüber mit der alten Eidgenossenschaft der
+Landstände; die Tagsatzung in Aarau muß im Zwang der französischen
+Waffen die Helvetische Republik proklamieren. Obwohl der Baum ihm immer
+noch zu dünn und ohne Wurzeln ist, steigt er ab von seinem Tier und
+tauscht den Bruderkuß. Im Sternen will man ihn deshalb hänseln, er aber
+fährt sie zornig an: Die alte Welt konnte von Heinrich Pestalozzi nur
+noch den Namen gebrauchen, vielleicht, ihr Herren, daß in der neuen
+Platz für mich selber ist!
+
+
+ 70.
+
+Heinrich Pestalozzi weiß wie wenige im Land, daß die Freiheit eines
+Volkes andere Dinge verlangt, als daß ihm die Ketten einer ungerechten
+Verfassung abgenommen werden: der Baum, den sie im Wald abschneiden und
+ohne Wurzeln in die Straße pflanzen, scheint ihm ein passendes Sinnbild
+solcher Freiheit. Er aber ist auf seinem Neuhof der Armennarr geworden,
+weil er einen Freiheitsbaum mit Wurzeln wollte: Ein Volk, das sind
+tausend und viele tausend Einzelne; jeder Einzelne aber bringt eine
+lebendige Menschenseele mit auf die Erde, und wer diesen Seelen ein
+Gärtner ist, daß sie in der Jugend Wurzeln schlagen können zu einer
+wirklichen Anschauung der Weltzusammenhänge, tut mehr für die Freiheit,
+als wer einen neuen Zaun mit prahlenden Fähnchen an den Toren um den
+Garten zieht. Von allen Figuren um Lienhard und Gertrud steht ihm der
+Leutnant Glüphi am nächsten, der sich kein besseres Los auf der Welt
+findet, als den Dorfkindern in Bonnal ein Schulmeister zu sein; und
+seit dem Tag, da die Helvetische Republik Raum für solche Dinge gibt,
+brennt Heinrich Pestalozzi vor Begierde, es seinem Leutnant gleich zu
+tun.
+
+Gleich in den Frühlingstagen der jungen Republik geht er hinüber nach
+Aarau, sich dem Vaterland anzubieten. Er findet es ungünstig, indem der
+zuständige Minister, an den er durch Lavater dringend empfohlen ist,
+noch in Paris weilt. Trotzdem spürt er gleich, daß die Lebensluft der
+neuen Verhältnisse ihm günstiger weht; sein Name schließt Türen auf, an
+die er bisher vergeblich klopfte, und als er einen Brief hinterläßt,
+weiß er sicher, daß in den Aktenfächern kein Stockfisch daraus wird.
+
+Der neugebackene Minister der Künste und Wissenschaften Albert Stapfer
+ist vordem Professor der Philosophie in Bern gewesen; er kann Heinrich
+Pestalozzi nicht freundlicher gesinnt sein, als es Iselin und Battier
+vor ihm gewesen sind, aber seine Ministerhände greifen breiter als die
+ihrigen; auch kehrt die neue Regierung noch scharf als neuer Besen, und
+unter den Männern in der Schweiz ist keiner, der aufrichtiger dabei
+helfen will, als der Einsiedler und Armennarr vom Neuhof. Stapfer
+ist kaum aus Paris zurück, als ihn die Bürger von Aarau schon fast
+täglich mit Heinrich Pestalozzi unterwegs sehen. Er lutscht noch immer
+an seinem Halstuchzipfel und stellt auch sonst neben dem feinen und
+gewandten Stapfer einen altmodischen Großvater vom Land vor; aber
+hier kennen und ehren ihn viele, die ihm nun die lange Schicksalszeit
+auf Neuhof als ein Martyrium der neuen Herrlichkeit anrechnen; denn
+in Aarau als Vorort ist man mit der Helvetischen Republik nicht übel
+zufrieden.
+
+Stapfer, der voll eigener Ideen ist, will zuerst der allgemeinen
+Schulnot des Landes durch ein Lehrerseminar abhelfen, durch das
+endlich andere Männer als Schneider und Schuster in die Dorfschulen
+kämen; er tritt eines Tages auf der Straße mit dem Einfall auf ihn
+zu, daß er die Leitung übernehme. Aber Heinrich Pestalozzi hat gerade
+Kindern zugehört, die in einem schattigen Winkel Schule spielen und
+sich mit dem Prügelstock und Geschrei den Katechismus abhören; die
+ganze Sinnlosigkeit dieses Betriebes ist ihm aufgegangen als ein
+Handwerk, das weder Werkzeug noch Fertigkeiten hat, und wehmütig
+lächelnd entgegnet er dem Minister: Wie soll man etwas lehren können,
+was noch keiner kann? Es hilft nichts, Bürger Minister, ich muß erst
+Schulmeister werden!
+
+
+ 71.
+
+Heinrich Pestalozzi hat dem Minister den Plan einer Armenschule
+eingereicht; der ist genehmigt worden, und er wartet auf die Anweisung,
+wo er beginnen könne, als der neue Besen der Regierung schon im
+Stiel zu wackeln beginnt. Im Juni soll der Helvetischen Republik
+der Huldigungseid geleistet werden; aber die Urkantone, die unter
+dem tapferen Reding den unerbetenen Geburtshelfern aus Frankreich
+bis zuletzt blutigen Widerstand geleistet und bei Morgarten dem
+Schlachtenruhm der Väter ein neues Blatt beigefügt haben, bleiben
+halsstarrig. Sie werden von den französischen Heerhaufen überwältigt,
+aber sie geben ihr Herz nicht aus der Hand. Ehe Heinrich Pestalozzi
+es merkt, sieht er sich dem Uhrwerk in Aarau eingefügt, das solchem
+Widerstand zum Trotz die neue Schweizerzeit einlaufen soll: es gilt,
+Aufrufe zu schreiben, redlich und einleuchtend genug, zum wenigsten
+die Gutwilligen für die neue Ordnung zu gewinnen. Es sind keine
+Nachforschungen mehr, was er schreibt, es sind die quellenden Worte
+eines Fürsprech, der das Schicksal des Angeklagten in die Macht seiner
+Rede gelegt sieht. Für ihn ist die Sache Frankreichs die Entscheidung
+der Menschheit; wenn sich die Schweiz ihr abwendet, ist sie für lange
+verloren: »Ihr tretet jetzt hin, die Sache der Telle und Winkelriede
+gegen alle Geßler, die Sache der Völker gegen alle Unterdrücker -- die
+Sache der Kirchen und Schulen, der Vernunft und des Fleißes gegen die
+Barbarei Dummheit, Bettelei und das Elend zu verteidigen!« Wieder wie
+in Stäfa steht er mit der Macht seiner Rede im Kampf, aber diesmal geht
+sie ans ganze Schweizervolk; ihm zuliebe hat er Fürsprech werden wollen
+aus den Griechenträumen seiner Jünglingszeit, nun ist es zum zweitenmal
+Wahrheit geworden.
+
+Als auch die Gewalt zu Aarau es mit einem Regierungsblatt versucht,
+den guten Willen und die Einsicht ihrer Machthaber in alle Köpfe zu
+predigen, ist Heinrich Pestalozzi der Mann des Schicksals, es zu
+leiten: statt in eine Armenschule sieht er sich in die Redaktion des
+Helvetischen Volksblattes gesetzt, das vom Herbst ab wöchentlich
+erscheinen soll. Es wiederholt sich alles, denkt er, der es vordem mit
+seinem Schweizerblatt schon auf eigene Hand versucht hat. Aber die
+eigene Hand ist besser daran gewesen, sie hat schreiben können, was sie
+wollte; hier kommen andere mit ihren Schriftstücken: er ist schließlich
+nichts als ein Sekretär, der sich mit dem guten Willen und der Torheit
+seiner Vorgesetzten herumschlägt. Auch was er selber schreibt, wird ihm
+diktiert, und da er nichts ohne sein Herz vermag, steigert er sich in
+einen blinden Glauben hinein, aus dem er redet und schreibt, als ob das
+alles sein Herzblut wäre.
+
+Am 8. September endlich erscheint die erste Nummer, tags darauf aber
+tut das Schicksal einen Schlag auf seinen Redaktionstisch, daß ihm die
+Spreu seiner politischen Leitartikel für immer durcheinanderfliegt.
+Er ist unterdessen mit der Regierung als ihr unlösbares Anhängsel
+nach Luzern gezogen, der neuen Hauptstadt der Helvetischen Republik,
+wo ihm die Berge der Telle und Winkelriede, von denen er geschrieben
+hat, täglich vor Augen stehen. Auch fährt er eines Tages mit Legrand
+von Basel und anderen Räten aus dem Direktorium über den grünblauen
+See in die enge Bucht von Stansstad, wo sie unter freiem Himmel eine
+Besprechung mit den aufständischen Nidwaldern haben, die der Republik
+den verlangten Eid verweigern. Er ist den Bollwerken der heimatlichen
+Unabhängigkeit noch nicht so nahe gewesen, und als er aus dem Kahn ans
+Ufer tritt, möchte er sich vor Ehrfurcht hinwerfen, den heiligen Boden
+zu küssen. Er sieht aber auch den Husarenkapuziner, wie sie ihn nennen,
+den Pater Paul Styger, den roten Zünder der fanatischen Volksbewegung;
+in Todesfeindschaft stehen sie auf dem geheiligten Boden gegeneinander,
+die in beiden Lagern doch Schweizer und um der selben Heimat willen
+voller Feindschaft sind. Wie leicht ist der Haß der Menschen aufzurufen
+und wie schwer die Güte! denkt er und fühlt mit einem schaudernden
+Blick in sein Leben, daß er nun selber Partei ist: mit anderen, aber
+nicht besseren Gründen als diese Männer aus Nidwalden auch, die alle
+ihre Hände wie zum Schwur übereinandergelegt halten und gleich den
+Stieren ihres Landes dastehen, die vermeintliche Freiheit der Väter zu
+verteidigen.
+
+Da die Nidwaldener es nicht bei ihrer Weigerung belassen, sondern
+sich zu zweitausend waffenfähigen Männern um den Husarenkapuziner
+scharen, die von Uri und Schwyz Zuzug erhalten und so dicht vor
+den Toren der Hauptstadt Luzern eine böse Gefahr für die junge
+Republik bedeuten, zumal die katholischen Luzerner selbst mehr zu den
+Nidwaldenern als zu der ketzerischen Regierung halten: ruft die den
+General Schauenburg zu Hilfe. Der rückt mit sechzehntausend Franzosen
+an, das Ländchen zum Gehorsam zu zwingen; drei Tage brauchen sie nach
+den ersten Schüssen, bis sie vor Stans aneinander kommen, aber dann
+ist es kein Soldatenkrieg mehr: Frauen und Kinder, alles, was einen
+alten Morgenstern, ein Beil oder eine Sense tragen kann, ist dabei,
+und als die Franzosen am Sonntag mittag mit dem Glockenschlag zwölf
+in Stans einrücken, gilt es nicht den Sieg, sondern den Anfang einer
+grausamen Metzelei. Es ist den Nidwaldern eingeredet worden, daß
+es um den Glauben gehe, drum wollen sie lieber sterben, als in die
+Hände der Ketzer fallen. Jedes Haus wird eine Opferstätte verrückter
+Menschlichkeit, tief in die Nacht geht der wahnsinnige Kampf, und am
+Morgen ist das blühende Stans ein rauchendes Ruinenfeld, darin die
+Leichen wie geerntete Feldfrüchte liegen. Nur der Husarenkapuziner, der
+ihnen unverwundbare Leiber und Engelscharen versprochen hat, ist über
+die Berge davon.
+
+Hunderte von Luzernern sind -- weil es Sonntag ist -- auf die
+unteren Abhänge des Pilatus und auf den Bürgenstock gestiegen, um
+dem schrecklichen Schauspiel wie einem Manöver zuzusehen. Heinrich
+Pestalozzi war nicht unter ihnen, aber er hat in Luzern die fernen
+Kanonenschläge gehört und noch in der Nacht Nachricht von dem Greuel
+des Tages erhalten. Drei Tage später fährt er hinüber und sieht den
+rauchenden Kirchhof, wo die Luft nach den verbrannten Leichen riecht
+und die schwälenden Rauchsäulen der erstickten Brände den Gefallenen
+die Totenwacht halten. Lebendiges scheint außer den französischen
+Soldaten, die mit verbitterten Gesichtern noch immer Totengräberarbeit
+tun, niemand mehr in Stans zu sein; was die Franzosen nicht
+niedergemacht haben, ist in die Berge geflohen; nur ein Trüppchen
+Kinder sieht er, das sich in seiner Verzweiflung unter der Kirchmauer
+geschart hat und, von einigen Soldaten bewacht, kaum anders aussieht
+als ein Haufe jungen Schlachtviehs. Er hat im Ranzen Nahrung für sich
+selber mitgebracht, die teilt er ihnen aus, und was er an Geld bei sich
+hat, gibt er eilig den Soldaten, daß sie ihm Brot holen unten am See,
+wo schon Kähne mit Nahrungsmitteln angekommen sind. Auch spricht er mit
+den Kindern und läßt sichs nicht angehen, daß kaum eines eine Antwort
+gibt; er vergißt Zeit und Ort um ihrer Not willen und ruht nicht, bis
+er sie alle in der Klosterscheune gebettet hat, weil im Kloster selber
+die verwundeten Soldaten bis in den Gängen liegen; erst, als er sie
+endlich schlafend weiß, sucht er sich selber ein Lager.
+
+So bleibt er drei Tage lang mit ihnen und ist glücklich bewegt, als
+sich das Trüppchen mehrt; am vierten Mittag findet ihn ein dringender
+Bote aus Luzern um der fälligen Nummer des Helvetischen Volksblattes
+willen. Er braucht lange, bis er sich in die Papierwelt seines letzten
+Daseins zurückbesonnen hat; er schüttelt den Mann, der ihm folgt,
+jähzornig ab und wäre so ein Armer unter den Ärmsten geblieben, wenn er
+nicht dem Minister Rengger in die Arme gelaufen wäre, der auch diese
+Ernte der neuen Regierung besichtigen und einen Bericht machen will:
+Sollen wir nicht ein paar Tausend Volksblätter kommen lassen, sagt er
+ingrimmig zu ihm, und die Tränen quellen ihm aus allen Rinnen seines
+Gesichtes, das Elend einzuwickeln?
+
+Ein Waisenhaus wäre nötiger, sagt Rengger und stellt sich hart wider
+ihn. Da ist Heinrich Pestalozzi schon am Nachmittag wieder in Luzern,
+um keine Stunde zu versäumen, das zu erreichen.
+
+
+ 72.
+
+Es dauert drei lange Monate, bis die Regierungsherren in Luzern sich
+einigen, Heinrich Pestalozzi nach Stans zu lassen. Es ist die letzte
+Wartezeit, doch wird das Vierteljahr ihm länger als Jahre vorher, so
+drängt die Ungeduld, endlich aus dem Stauwasser seiner Schriften in
+Fluß zu kommen. Er würde in den höchsten Alpen, ohne Feuer und Wasser,
+anfangen, wenn man ihn nur einmal anfangen ließe.
+
+Endlich im Dezember beschließt das Direktorium der Helvetischen
+Republik, dem Bürger Pestalozzi die Einrichtung und Leitung eines
+Waisenhauses in Stans zu übertragen; er wartet die Ausfertigung nicht
+ab und fährt schon am zweiten Tag danach über den nebeligen See, um
+bei der Baueinrichtung dabei zu sein. Die Anstalt soll in einem Flügel
+des Frauenklosters eingerichtet werden, und der Baumeister Schmidt
+aus Luzern geht mit hinüber, die notwendigen Veränderungen zu machen.
+Da schon im Herbst eine scharfe Kälte eingefallen ist, sodaß den
+Bauern die Erdäpfel in den Feldern erfroren sind, hat der Hunger die
+Bettelwaisen aus ihren Schlupflöchern in die Häuser gejagt, wo ohnehin
+schon zuviel hungrige Mäuler warten. Längst schon, bevor er Betten
+und die sonstige Einrichtung hat, fängt Heinrich Pestalozzi an, Brot
+zu verteilen und dabei seine Zöglinge zu suchen; als er Mitte Januar
+die ersten Waisen bei sich hat, kann er zunächst an keinen Unterricht
+denken, so verelendet sind sie.
+
+Es ist nur eine Stube fertig, sie aufzunehmen, und überall in
+den Gängen werkeln die Bauleute noch mit Staub und Lärm. Tiere
+könnten nicht so verwahrlost sein wie diese Menschenkinder, die mit
+eingewurzelter Krätze und aufgebrochenen Köpfen, viele wie ausgezehrte
+Gerippe, gelb, grinsend, mit Augen voll Angst und Mißtrauen von den
+Verwandten oder auch vom Landjäger in den Kreis seiner Liebe gebracht
+werden. Es ist anfangs kein Platz da, außer einer Haushälterin in der
+Küche irgendwen zur Hilfe unterzubringen; auch wenn es ginge, Heinrich
+Pestalozzi möchte es nicht. Damals in den rauchenden Trümmern hat das
+Mitleid sein Herz hineingerissen; jetzt aber gilt es das Experiment
+seiner Lehre: daß auch in dem niedrigsten Opfer der menschlichen
+Verwahrlosung noch ein Keim läge, der zum Dasein einer sittlichen und
+freien Menschlichkeit gepflegt werden könne. Er weiß, daß der Zwang
+einer äußeren Ordnung, Ermahnungen oder gar Strafen die Herzen nur
+verhärten würden, aus denen er dem Keim die erste Nahrung geben will;
+nur die Liebe vermag ihn zu wecken, und was diese Liebe von ihm zu tun
+verlangt, das vermöchte ihm kein anderer: er schält sie selber aus
+ihren Lumpen heraus, er wäscht ihnen die Geschwüre und die Krusten der
+Verwahrlosung ab, als ob er eine Tiermutter wäre in dem Winterlager,
+wohin sie die Not und Kälte aus der verschneiten Bergwelt getrieben
+hätten. Er ißt und schläft mit ihnen, er weint mit ihren Leiden und
+lächelt zu ihren kleinen Freuden, sie sind außer der Welt und außer
+Stans, sie sind bei ihm, als ob sie wieder in den Ausgang ihres
+Lebens zurückgekehrt wären, um hier den Mut zu finden, nach so vieler
+Bitterkeit das Dasein noch einmal zu versuchen.
+
+In kaum einem Monat sind es siebzig Waisen, und obwohl allmählich mehr
+Stuben fertig werden und auch schon fünfzig Betten dastehen, sodaß
+er ihrer nur zwanzig am Abend heimschicken muß, die tagsüber kommen,
+ist er immer noch allein unter ihnen. Der Pfarrer Businger, den die
+Regierung an Stelle des entwichenen nach Stans gesandt hat, und der
+Bezirksvorsteher Truttmann -- beides wohlgesinnte Männer, die tapfer zu
+ihm stehen -- drängen darauf, daß er sich Hilfe nähme. Er fände keinen,
+der ohne Schaden zwischen ihn und die verscheuchten Seelen seiner
+Zöglinge treten könnte.
+
+Als die Frühlingssonne den Schnee wegschmilzt, daß sich die grünen
+Matten immer höher hinauf in die weißen Berge heben, ist in der
+verwahrlosten Schar die Menschlichkeit schon äußerlich zu Hause; die
+älteren Kinder helfen ihm, daß sich die kleineren sauber halten, die
+ordentliche Nahrung hat vielen die Backen gerötet, und nun wartet er,
+daß die Frühlingssonne sie bräune. Einige lockt ihr Straßenblut, und
+manchmal geschieht es, daß eins in der Dämmerung entwischt, andere
+kommen dafür wieder: es ist ein wenig wie ein Bienenstock, wenn die
+Wärme drängt. Er läßt es sich nicht verdrießen, so sehr ihn der Undank
+und die Untreue schmerzen; denn nun ist er längst in den Dingen mit
+ihnen, die ihm mehr gelten als ordentliches Essen und saubere Kleidung.
+Der Seelenfänger hat ihnen die Schlingen gelegt, und ob ihn das
+Mitgefühl hinreißt, wo ein Schmerz oder eine Freude an sie kommt, ob
+er mit seinen Großvaterbeinen treppauf und -ab rennen muß und zwanzig
+Hände zu wenig wären, alles das zu tun, was auf ihn wartet: es sind nur
+die Spinnfäden seiner Absicht, die er unermüdlich um ihre Seelen legt;
+er selber sitzt still mitten im Nest und wartet auf die Stunden, wo er
+seine Lehre an ihnen versuchen darf.
+
+
+ 73.
+
+Längst hat Heinrich Pestalozzi angefangen zu unterrichten; anfangs ist
+er sich vorgekommen wie der alte Lehrer, zu dem ihn das Babeli brachte;
+auch so mit der Ungeduld seines Alters im Gedränge ihrer Wünsche
+und Fragen: wo es schwer wäre, mit einem Frager fertig zu werden,
+sind es Dutzende, und dabei sitzen die Trägen noch immer abseits in
+ihrer Untätigkeit. Doch merken sie bald, wenn er sich laut sprechend
+hinstellt, daß sie alle nur sein einziger Zuhörer sind. Er lehrt sie,
+seine Sätze im Chor zu wiederholen, und lockt Antworten heraus, die sie
+gemeinsam sagen können; täglich gewitzter in dieser Kunst, die auch die
+Unaufmerksamen in seinen Sprachkreis zieht, entdeckt er das Geheimnis
+der Klasse, die aus dem Vielerlei von Schülern ein Wesen macht, sodaß
+es gleich ist, ob ihrer drei oder dreißig dasitzen. Dabei nimmt er sich
+ängstlich in acht, etwas Fremdes in sie hineinzusprechen; immer lauert
+er, wo ihre Sinne und Gedanken sind, um sie für sich einzufangen.
+Irgendwo ist ein Riß in der Wand, der wie ein seltsames Tier aussieht,
+einen langen Schnabel wie eine Ente, aber Füße wie ein Maikäfer hat; ob
+sie wollen oder nicht, wenn ihre Blicke durch den Raum gehen, hängen
+sie daran fest: er fängt ihnen das Ungeheuer ein in Sätze, die sie
+willig nachsprechen, weil sie von ihnen selber gefunden sind.
+
+Einige haben Bücher, und ein paar können sogar ein weniges lesen; er
+zeigt den andern, wo diese Hexenmeisterkunst ihre Herkunft hat. Er
+läßt sie in den Worten die tönenden und zischenden Laute finden und
+macht ein lustiges Spiel daraus, ihrer zwei miteinander zu verbinden,
+jeden einzelnen durchs Abc hindurch; dabei schont er sich nicht,
+unermüdlich das ba, be, bi, bo mitzusprechen, bis ihm die Stimme in
+der Brust schartig wird; manchmal kommt er sich vor wie ein Hahn, wenn
+er schwitzend dasteht und mit ihnen kräht. Bis eine Stunde mit Minuten
+und ein Tag mit Stunden abgelaufen ist, läßt sich viel hineinfüllen,
+und Tag für Tag geht es verzwickter zu, vom bal, bel, bil, bol, bul zum
+balk, belk, bilk: immer anders marschieren die Soldaten aus ihrem Mund
+auf, bis ihnen alle Übungen, rechts- und linksum, kehrt und vorwärts
+marsch gleich geläufig sind. Und eines Tages läßt er für die Augen
+sichtbar werden, was solange nur durch Mund und Ohren ging.
+
+Er hat ihnen keine Fibeln mitgebracht, nur einen Korb mit Täfelchen,
+darauf die Buchstaben einzeln mit ihren Häkchen und Schnörkeln wie
+Vögel mit ihren Schwanzfedern prahlen, und rastet nicht, bis jeder
+seinen Laut als Namen hat, sodaß er ihn nur zu zeigen braucht, und
+schon gibt ihm die ganze Klasse Antwort. Sie wissen nun längst,
+daß keiner die siebzig Einzelnen verstehen kann, wenn jeder nach
+seinem Einfall losschreit, und warten das Zeichen ab, das ihnen sein
+Finger gibt. Sie sind dann wirklich eine Klasse, ein Wesen, das
+hundertvierzig Ohren und Augen, aber nur einen Takt und darum nur
+einen Mund hat. Und manche Nacht, während sie schlafen und er allein
+in der Schlaflosigkeit des Alters wach unter ihnen liegt, bildet
+sich traumdünn die Ahnung einer Lehrmethode: daß es wie mit den
+Buchstaben mit allen andern Kenntnissen des Menschen sei, daß sie sich
+bauen ließen, Steinchen um Steinchen, bis eine Wand, ein Zimmer und
+schließlich das Haus einer Wissenschaft dastände.
+
+Kühner aber, als jemals sein Kopf ein Gespinst machte, scheint ihm
+dies: daß auch alles andere, was einen Menschengeist mitsamt der
+Seele ausmache, seine Denkkraft, seine Fertigkeiten, sein Wille,
+seine Wünsche, seine Absichten, sein Glauben wie seine Taten, in
+einem solchen Takt einzufangen sei, und daß, wenn einer erst den
+Taktstock dazu finde, ihn hundert andere gebrauchen könnten, um
+überall die wildaufwachsenden Menschenseelen in den Wohlklang der
+Ordnung einzuführen. Er kann sich dann ein Zukunftsbild austräumen,
+daß es zwar reich und arm, jedoch nicht mehr die häßliche Anwendung
+davon gäbe, wo die Habsucht und Willkür des Reichen den Armen
+unterdrücke und ausnütze; denn das einzige Mittel dieser Geldherrschaft
+sei die Unwissenheit des Armen: erst einmal im Besitz seiner
+entwickelten Seelen- und Geisteskräfte, könne er nicht mehr das Opfer
+herrschsüchtiger Ausbeutung sein! Was jetzt allerorten geschähe, daß
+Reiche den Armen helfen wollten durch Wohltätigkeit, sei Täuschung
+und Selbstbetrug: der Reiche könne dem Armen garnicht helfen, er habe
+nichts als sein Geld, das auch im Wohltun das Zwangmittel ungerechter
+Herrschaft bliebe; erst wo Gerechtigkeit regiere, könne eine
+brüderliche Hilfe von Herzen wohltätig sein!
+
+
+ 74.
+
+Während Heinrich Pestalozzi so mit seinen Waisen auf der Wanderung
+nach einer neuen Menschlichkeit ist, wächst das Dickicht der alten ihm
+rundum die Wege mit Unkraut und Brennesseln zu. Noch immer zieht der
+Haß seine Schwaden durch die Täler des Nidwaldener Landes; der Aufruhr
+wurde in Blut und Brand erstickt, aber was ihn heraustrieb, blieb mit
+tausend Wurzeln lebendig. Für die Stanser ist Heinrich Pestalozzi
+ein Ketzer, von der Revolutionsregierung gesandt, ihre Waisen und
+Armenkinder im Unglauben der neuen Zeit abzurichten, sie den Sitten
+der Väter und dem Glauben der Heimat mit Teufelslisten zu entfremden.
+Sie sehen seine verwahrloste Kleidung und achten ihn für einen
+Landstreicher, der bei der neuen Herrschaft der Lumpen und Schelme
+untergeschlupft ist.
+
+Aber auch die Freunde fangen an zu zweifeln; sie verstehen nicht,
+warum er sich allein mit siebzig Kindern abplagt, eigensinnig ihr
+Lehrmeister, Aufseher, Hausknecht und Dienstmagd in einem und dabei
+selber zum Erbarmen verwahrlost ist. Sie raten und drängen, doch
+Gehilfen zu nehmen, damit er endlich aus seiner Anstalt ein richtiges
+Waisenhaus mache, und sind verstimmt, weil er sich unter Ausflüchten
+weigert. Er scheint ihnen vom Eigensinn des Alters wie von einem
+Fieber befallen, und vertrauliche Briefe gehen an die Minister, daß
+man dem alten Mann mit Gewalt aus diesem Zustand helfen möge. Stapfer
+aber hält treu und weitsichtig zu ihm, weil er das Experiment fühlt
+und daß Heinrich Pestalozzi erst zu Resultaten gekommen sein muß,
+bevor er Hilfe brauchen kann. Er ermuntert ihn auch im Mai, als warme
+Sonnenbläue die Täler füllt und der See rund an den Ufern in einem
+Blust von Blumen zu schäumen scheint, mit seinen Zöglingen einen
+Ausflug nach Luzern zu machen.
+
+Es ist Sonntag, und sie gehen die drei Stunden zu Fuß, bei Stansstad in
+Kähnen hinüber nach Hergiswyl und dann zwischen Pilatus und dem See bis
+Horw, wo sie den weiten Talboden der Allmend von Luzern erreichen. In
+Horw rasten sie, und da sie früh aufbrachen, sehen sie da erst, wie die
+Sonne überm Rigi hochschießt; ein jedes hat Brot im Sack, und Wasser
+fließt überall aus den Brunnenrohren. Die älteren haben gesorgt, daß
+sie alle sauber sind; nur auf ihren Schuhen liegt der Staub wie Mehl,
+als sie singend über die alte Kapellbrücke in Luzern gehen und die
+vielgetürmte trutzige Stadt bestaunen. Es ist Sonntag, und viele Leute
+spazieren auf den Straßen, die den seltsamen Zug und den seltsameren
+Mann davor belächeln. Einige kennen ihn von seinem Luzerner Aufenthalt
+und lüpfen den Hut, um ihm kopfschüttelnd nachzusehen. Aber Stapfer,
+der Minister, hat gesorgt, daß die Stanser Waisen nicht unbegrüßt in
+der Landeshauptstadt sind: auf dem alten Kornmarkt vor dem Rathaus
+steht einer in blanker Uniform mit einem Leinenbeutel, darin rasseln
+lauter nagelneue Zehnbatzenstücke der Helvetischen Republik, und
+jedes Kind bekommt eins zum Andenken in seinen Sack. Sie singen ein
+Schweizerlied zum Dank, und Heinrich Pestalozzi, dem nichts so fern
+liegt wie Musik, kräht mit vor Rührung; garnicht merkend, wie falsch er
+die Töne nimmt, bis alles hinter ihm lacht.
+
+Auch sonst geschieht den Kindern der Nidwaldener Gutes in dem
+katholischen Luzern, und wie ein siegreicher Heerhaufe ziehen sie
+am Nachmittag wieder hinaus. Aber nun hat die Sonne ihre strahlende
+Bahn durch den Himmel gezogen und aus dem Weltall Glut auf die Erde
+geschüttet. Die Kinder werden müde, und er muß nun hinter ihnen gehen,
+die letzten anzutreiben. Dabei ist ihm selber schwül und nicht froh
+zumut; er hat in Luzern von dem Lauf der Dinge gehört, die für Monate
+außer ihm gewesen sind: der Krieg ist wieder im Land, überall bläst
+der Wind hitziger Zeitläufte den Zunder an, und es gilt schon als
+ausgemacht, daß die Regierung der Helvetischen Republik nach Bern
+übersiedeln wird, wo ihr der Boden sicherer scheint als hier in der
+Aufsässigkeit der Urkantone. Am Gotthard schlagen sich die Franzosen
+mit den Österreichern herum, und viel wird gesprochen von den Taten
+seines Vetters Hotze, der als kaiserlicher General über den Bodensee
+bis Zürich ins Land gedrungen ist; es kann in einigen Wochen wieder aus
+sein mit der republikanischen Herrlichkeit. Zu diesen Sorgen tut ihm
+die Brust weh, und er merkt, wie ihm die Monate zugesetzt haben. Der
+Pilatus zieht verdächtige Wolken an, und als ob über eine ferne Brücke
+Lastwagen rollten, grollt ein Gewitter in der Luft: er kann sonst über
+Ahnungen lachen, aber nun ist ein Gefühl da, daß es ihn treffen wird.
+Gerade gehen sie von Steinrüti gegen Hergiswyl am See hin, der dick und
+still daliegt, da wird ihm süßlich im Mund, und das Licht tanzt ihm wie
+Mücken vor den Augen; er will einem Buben, der vor Müdigkeit weint, die
+Hand geben, da fühlt er sich tiefer zu ihm hinsinken, als es nötig ist,
+und sieht noch für einen Augenblick die erschrockenen Augen über sich.
+
+Heinrich Pestalozzi meint, er sei gleich wieder aufgewacht, aber es
+muß wohl länger gewesen sein; nebenan steht ein Wagen, der vorher
+nicht da war, und im Kreis der Kinder bemühen sich Leute in Hemdärmeln
+um ihn. Tiefer als im Schlaf war er aus allem fort, nun er die Augen
+aufschlägt, nimmt sein Bewußtsein mit einem Blick den Kreis seines
+Daseins auf, darin er Kind, Mann und Greis zugleich ist. Rund um
+diesen Kreis sieht er die Berge spukhaft in den gewitterlichen Dunst
+des Himmels ragen und fühlt, daß so die Schwierigkeiten um ihn stehen,
+denen er nichts als die Willenskraft seiner zu Boden geworfenen Natur
+entgegenstellen kann. Im gleichen Augenblick setzt er sich auf, von dem
+ungebeugten Willen kommandiert; da merkt er, daß Blut in seinem Mund
+ist.
+
+Darüber erschrickt er tief und läßt sich nun willig in den Wagen heben.
+Die von den Kleinen am müdesten sind, müssen zu ihm, und so im Schritt
+vor seiner Schar her geht es heim. Einer hat sich neben den Knecht
+gesetzt, und der läßt ihm die Zügel, weil er den Gaul kennt. Heinrich
+Pestalozzi muß wehmütig an den Tag denken, wo er mit dem Großvater
+nach Höngg fuhr und auch so unablässig an den Zügeln rupfte, wie nun
+der Knabe vor ihm: Ich habe mirs nicht abgewöhnt bis heute, lächelt
+er bitter, wo ich selber ein Großvater bin, und alles, was ich in die
+Hand nehme, ist so geblieben! Wenn mir jedes so in Ordnung ginge, wie
+hier dem Gaul und dem Knecht, ich würde auch die Zügel gleichmütig
+hängen lassen; aber nun bin ich dreiundfünfzig und über meine Jahre
+gealtert, gar noch krank, und habe erst den Anfang vom Weg gefunden.
+Ich müßte wohl den Gaul für ein paar Wochen in den Stall tun; doch ist
+er unabkömmlich, weil ich noch weit mit dem Abend muß!
+
+
+ 75.
+
+Die zweite Woche seit seiner Wallfahrt nach Luzern ist noch nicht
+ins Land gegangen, als Heinrich Pestalozzi eines Mittags durch
+Trommelwirbel aufgeschreckt wird. Wie er ans Fenster läuft, rücken die
+schweizerischen Soldaten, die gegen Engelberg und Seelisberg hinauf als
+Rückendeckung der Franzosen ausgestellt sind, eilig in Stans ein: die
+Österreicher kommen, heißt es und die im Uri geschlagenen Franzosen
+seien über den See zurück. Die Panik des Krieges ist wieder in Stans,
+bevor ein Schuß in den Nidwaldener Bergen fiel; wer noch bewegliche
+Habe hat, flüchtet sie in die Sennhütten hinauf, händeringende
+Weiber und trotzige Männer kommen, ihre Kinder zu fordern, und
+Heinrich Pestalozzi vermag nicht, sie zu halten. Als ob eine Mure
+vom Stanserhorn niederginge, läßt er die andern ihre Bündel raffen,
+zur Flucht bereit zu sein. Gerade hat er sie um sich versammelt im
+Arbeitssaal, da fällt ein Schuß; die Kinder schreien, einige laufen ihm
+zu, viele aber auch hinaus auf die Gasse, sich noch in die Berge zu
+retten.
+
+Als danach alles still bleibt -- die Alarmnachrichten waren falsch,
+und auch der Schuß ist nur einem hitzigen Sennbuben losgegangen --
+sitzt kaum noch die Hälfte seiner Kinder da. Zwar kommen im Nachmittag
+noch einige wieder, auch finden sie andere weinend irren, als sie
+gegen Abend den Ort absuchen: aber die Besorgnis bleibt über ihnen
+wie die schwarze Wolkendecke, die sich mit dem Abend vom Entlebuch
+herüberdrängt. Die Kinder schlafen sich schließlich in angstvolle
+Träume ein; Heinrich Pestalozzi bleibt wach: seit seiner Ohnmacht
+fühlt er, daß es in Stans zu Ende geht. Mit einer Kerze in der Hand
+wandert er um Mitternacht von Bett zu Bett; einigen, die sich stöhnend
+wälzen, legt er seine Hand auf die Stirn, daß sie, erwachend, ins Licht
+blinzeln und vor seinem Gesicht mit einem erlösten Lächeln um die
+Lippen einschlafen. Nachher sitzt er noch, bis das Licht niedergebrannt
+ist, streicht in seiner Liste die Schäflein an, die ihm fehlen, und
+denkt den einzelnen nach, wo sie wohl seien. Bald aber wandern die
+bekümmerten Gedanken auf einsamen Höhen, wo er mit seinem Werk allein
+ist. Was auch mit den Kindern geschieht, für keins -- das fühlt er
+sicher -- ist die Zeit vergebens gewesen: aber sein Werk, wenn er
+es jetzt abbrechen muß, ist verloren. Es ist ihm zumut wie einem
+Kundschafter im weglosen Dickicht; er hat sich durchgearbeitet, bis er
+eine getretene Fußspur fand, die ihn zum Weg führen muß: da reißt ein
+Bergbach die Schlucht vor ihm auf, und ob er drüben die Spur deutlich
+weiter gehen sieht, er kann nicht hinüber.
+
+Andern Tags ist alles vorbei, als ob es nur böse Träume gewesen wären;
+die Bauern sind wieder bei ihrer Arbeit, und die Soldaten in den
+Quartieren singen Schweizerlieder. Die Sonne geht ihren strahlenden
+Lauf, als wolle sie es diesmal zwingen, über die Ermattung des Mittags
+fort in den unendlichen Himmel hinein zu steigen. Noch ein paar Kinder
+wagen sich unsicher wieder herzu, und als nach diesem Tag noch ein
+zweiter und dritter die weißen Sommervögel durch sein dickes Blau
+schwimmen läßt, fängt auch Heinrich Pestalozzi an, den Nacken zu heben.
+Am dritten Abend sitzt er scherzend und fragend mit ihnen bei der
+Hafersuppe, da ruft ihn ein Bote eilig zu dem Regierungsstatthalter
+Zschocke.
+
+Der empfängt ihn mit einem Blatt in der Hand. Er habe Stafette
+bekommen, daß am frühen Morgen der General Lecourbe einrücken würde;
+er müsse Platz besorgen für einige tausend Mann und ein Hospital für
+die Verwundeten und Kranken herrichten, dazu habe er keinen andern
+Platz als das Waisenhaus. Obwohl Heinrich Pestalozzi beim ersten
+Wort weiß, daß ihm nun das Brett unter den Füßen fortgezogen wird,
+damit er noch über den Bergbach zu kommen hoffte, kämpft er wie ein
+aufgescheuchtes Tier für sein Nest und seine Brut. Aber nun ist er mit
+allem Ruhm seiner Bücher und mit der ewigen Absicht seines Werkes nur
+der Bürger Pestalozzi, der andere aber steht als Regierungsgewalt da
+und löst das Waisenhaus auf. Weil er nicht wie die Nidwaldener kämpfen
+und sterben kann, sondern dem Federstrich gehorchen muß, erfüllt er
+bitteren Herzens den Rest seiner Pflicht. Er teilt jedem Kind doppelte
+Kleidung, Wäsche und einiges Geld aus für das Notwendigste, rechnet mit
+dem Statthalter ab und übergibt ihm von den sechstausend Franken, die
+ihm das Direktorium bewilligt hat, den Rest mit dreitausend Franken --
+mehr hat er nicht gebraucht in den fünf Monaten mit all den Kindern.
+Noch eine Nacht geht er in seiner schlafenden Herde ruhelos umher,
+nimmt in der Frühe weinenden Abschied von ihnen allen, deren Vater
+er durch seine Liebesgewalt geworden ist, und am Nachmittag, als die
+ersten Franzosen einrücken, fährt er nach Stansstad hinunter mit dem,
+was er für bessere Zeiten retten will. Wieder einmal sitzt er auf
+einem bepackten Wagen, diesmal auf Säcken neben einem Knecht, der ihn
+gleichmütig in sein ungewisses Schicksal hinaus kutschiert; es ist ein
+Appenzeller, der den Pferden mit der Peitsche die Fliegen vertreibt und
+dazu mit halber Kehle seine heimatlichen Jodler singt, als ob es eine
+Lustfahrt wäre. Er fühlt die Schmerzen in seiner Brust heftiger und die
+brennende Angst fährt mit ihm, daß er nun sterben muß: dann ist alles
+umsonst gewesen, was er Unmenschliches in diesen Monaten ertrug; denn
+er allein weiß, daß er in Stans den Weg zur Befreiung der Menschheit
+entdeckt hat, kein anderer kann fortsetzen, was für ihn selber ein
+tastend beschrittener Anfang, aber darum doch das Ergebnis vieler
+Tausend fiebernd benützter Stunden ist.
+
+Immer noch läuft eine letzte Hoffnung hinter dem Wagen her, daß die
+Luzerner Freunde mächtiger sein könnten als der Regierungsstatthalter;
+als er ankommt in der vieltürmigen Stadt, muß er erfahren, daß die
+Regierung der in tausend Nöten gefährdeten Helvetischen Regierung nach
+Bern ausgeflogen ist.
+
+
+ 76.
+
+Es ist ein heißer Julitag, als Heinrich Pestalozzi durch das breite
+Entlebuch ins waldige Emmental hinüber und durch seine reichen Dörfer
+nach Bern hinunter fährt. Die Fahrt über die holprigen Bergstraßen
+bekommt ihm schlecht, und als er spät abends anlangt, fühlt er sich
+sterbenselend. Bis zum Schluß sind immer noch die Bauleute im Kloster
+zu Stans gewesen, und wenn er hustet, meint er noch den scharfen
+Kalkstaub in der Lunge zu spüren. Trotzdem ist er am andern Morgen
+schon früh bei dem Minister Stapfer. Der erschrickt, wie er ihn sieht,
+und rät ihm, den ungewollten Urlaub vor allem zu einer Kur zu benutzen,
+damit er wieder zur Arbeit fähig sei, wenn nach dem Krieg die Anstalt
+neu eingerichtet würde. Da er selber zu einer Sitzung muß, übergibt er
+ihn seinem Kanzleivorsteher Fischer, einem ehemaligen Theologen, der
+auch schon in Stans war.
+
+Der bietet ihm willfährig seine Begleitung an, wohin er auch wolle,
+und ehe Heinrich Pestalozzi sich beiseite tun kann, hat er ihn auch
+schon eingefangen mit klugen und ehrlichen Fragen. Es findet sich, daß
+sie Leidensgenossen sind, indem auch er den Traum seines Lebens an die
+Schule gehängt hat. Er ist Schüler bei dem Philanthropen Salzmann in
+Schnepfental gewesen und will nun in Burgdorf eine Musterschule, wenn
+es erreichbar ist, ein Lehrerseminar einrichten. Es ist immer noch
+das Lehrerseminar, das Stapfer ihm selber in Aarau angeboten hat, und
+obwohl sich Heinrich Pestalozzi im stillen wundert, wie unbekümmert
+sein Nachfolger die Schwierigkeiten übersieht, die ihm fast das Leben
+kosten, ist er ihm doch dankbar, weil er die Lauterkeit in seinem
+Wesen spürt. Er bleibt ziemlich den ganzen Tag mit ihm zusammen und
+erwirbt durch ihn eine Bekanntschaft, die in seine gehetzten Tage eine
+breite Pause bringt: Noch am selben Abend sitzen sie zu einem Mann
+aus Bad Gurnigel, namens Zehender, der seine Schriften liebt und sein
+Märtyrertum in Stans glühend bewundert; der lädt ihn ein, einige Wochen
+bei ihm da oben in der reinen Gebirgsluft zu wohnen und von der Quelle
+zu trinken. Stapfer und Fischer reden ihm dringend zu, und da der Mann
+mit seinem Wagen andern Tags zurück muß, kommt Heinrich Pestalozzi
+schon am Abend mit ihm auf dem Gurnigelberg an.
+
+Ein verrauschtes Gewitter hat ihnen einen Regen nachgeschickt, der die
+Talweite unter ihnen mit Nebelschwaden bedeckt; auch wirft ihn sein
+Elend nun ganz hin, sodaß sie ihn fast aus dem Wagen ins Haus tragen
+müssen. Den andern Tag läßt ihn sein Gastfreund nicht aus dem Bett,
+auch den zweiten nicht: da es draußen doch noch regne! Am dritten
+Morgen liegt er schon lange wach und wartet mit Sehnsucht auf den Tag;
+als die Fensterscheiben in der Morgenröte warm werden, springt er mit
+beiden Füßen aus dem Bett und reißt ein Fenster auf, seine Faulheit
+zu lüften. Er tritt erschrocken zurück vor der unendlichen Weite; in
+einer überirdischen Bläue sieht er das Tal zu seinen Füßen liegen,
+unermeßlich und schön; er hat noch nie eine so weite Aussicht gesehen,
+und das Glück davon überwältigt ihn so, daß er die Hände wie ein Kind
+danach ausbreitet. Fast ängstigt ihn die Höhe, aber als er nach rechts
+und links äugt, sieht er die hohen Baumgruppen; er fühlt den Wald und
+den Berg hinter sich als sicheres Ufer, von dem aus er über das Meer
+der morgendlichen Erde tief unter sich hinschaut. Und ehe sich noch
+die Worte dazu bilden, ist ein Gefühl in ihm, wie wenn da unten sein
+eigenes Leben läge: aus den blauen Seeweiten der Kindheit durch die
+ruhelose Brandung seiner Mannesjahre bis auf die Bergkanzel dieser
+Stunde hinauf.
+
+Aber wie er sich umwendet, ist sein niedriges Menschenzimmer wie ein
+Kästchen ganz getäfelt und auf dem runden Birnenholztisch liegt ein
+Buch, das ihm bekannt scheint: »Nachforschungen über den Gang der Natur
+in der Entwicklung des Menschengeschlechts« steht auf dem Titel. Er
+weiß nicht, warum ihn die Erschütterung hindert, es in die Hand zu
+nehmen; er sieht sich wieder in dem Sterbezimmer seiner Mutter daran
+schreiben -- als ob es gestern oder vor hundert Jahren gewesen wäre, so
+nah und so fern -- fast meint er, es wäre dasselbe Zimmer, aber seine
+Augen suchen vergebens in den fremden Sachen. Er ist wieder mitten
+drin im hochmütigen Elend jener Tage; die Brandung spritzt, und er
+fühlt sich versinken in die Tatenlosigkeit der endlosen Mannesjahre: da
+weiß er, es ist kein Ufer, an dem er gesichert steht, es ist nur eine
+Insel, ein Stein im Meer, darauf ihn die Brandung geworfen hat.
+
+
+ 77.
+
+Sechs Wochen lang ist Heinrich Pestalozzi auf dem Gurnigel, von lieben
+Menschen treu gepflegt. Die reine Höhenluft heilt in seiner Lunge aus,
+was Kalkstaub und Abc-Geschrei darin verwüstet haben. Es sind noch
+andere Kranke oben, auch Gesunde, die vor der herrlichen Natur in
+Schwärmerei vergehen. Seit seinem ersten Morgen vermag er nicht mehr in
+die blaue Talweite hinunter zu blicken, ohne an sein verlassenes Werk
+zu denken. Er sieht unter allen Dächern die Wohnungen der Menschen und
+weiß, von wieviel Verwahrlosung jede Wohlhabenheit da unten umgeben
+ist. »Meine Natur ist der Mensch,« sagt er den Schwärmern, und eines
+Morgens ist er mit seinem Stock und Ranzen nach Bern unterwegs. Er hat
+keinen Wagen gewollt; es tut ihm wohl, so bergab schreitend den Takt
+seines fröhlichen Marsches zu fühlen: alle lebendigen Dinge gehen im
+Zweischritt, hat er dem besorgten Zehender zum Abschied gesagt, nur das
+Leblose und Kranke rollt auf Rädern.
+
+Zum Mittag hat er die sechs Stunden bis Bern hinter sich, und als
+Rengger und Stapfer, die beiden Minister, aus einer gemeinsamen Sitzung
+noch etwas zu besprechen haben, das sich auf dem Heimweg besser als
+im Betrieb der kommenden und gehenden Posten erledigen läßt, läuft er
+ihnen buchstäblich in die Arme und lacht mit seinem Runzelgesicht wie
+ein Knabe, der aus den Ferien wiederkommt. Er will Kinder haben, es
+ist ihm gleich wo, an denen er seine Versuche fortsetzen kann, bis
+sein Waisenhaus in Stans wieder kriegsfrei ist; und noch in derselben
+Viertelstunde schlägt ihm Stapfer vor, nach Burgdorf zu gehen, wo auch
+Fischer seit einem Monat sei und an dem Statthalter Schnell wie an
+dem Doktor Grimm einsichtige Helfer habe. Als Heinrich Pestalozzi das
+Wort hört, fährt ihm eine halbvergessene Erinnerung auf, wie ihn der
+Vorwitz eines Morgens dort in die Hintersassenschule brachte; er nimmt
+es als eine Fügung, auch scheint es ihm eine Erleichterung, in Burgdorf
+nicht wieder einsam zu sein. In seiner Fröhlichkeit sagt er gleich zu,
+so kann Stapfer die Eingabe ans Direktorium vorbereiten, er selber
+macht sich am andern Morgen gleich unterwegs, sein neues Arbeitsfeld
+abzuschreiten.
+
+Über Nacht gibt es Regen, und er muß die Post nehmen; ein guter Zufall
+setzt ihm den Statthalter Schnell aus Burgdorf in denselben Wagen. Der
+kennt ihn, hat am Abend vorher schon durch Stapfer von seinen Absichten
+gehört und ist begeistert, dem berühmten Verfasser von Lienhard und
+Gertrud gefällig sein zu können. Die Fahrt wird in Gesprächen kurz, und
+in Burgdorf muß Heinrich Pestalozzi sein Gast sein; auch der Doktor
+Grimm wird Hals über Kopf zu Tisch geladen, und es ist eine wahre
+Verschwörung, wie sie ihm alles einrichten wollen. Sie wundern sich,
+daß er gerade an der Hintersassenschule lehren will, und wollen ihm
+das ärmliche Lokal erst zeigen. Er erzählt ihnen von dem Morgen, wo er
+vorwitzig hinein sah, und ist fast ausgelassen vor Erwartung. Gegen
+den Abend, als der Regen endlich nachläßt, macht er noch einen Gang zum
+Schloß hinauf, das eine kleine Festung vorstellt, aber augenscheinlich
+seit langem verwahrlost ist. Das äußere Tor hängt offen in den Angeln,
+und an dem innern läutet er so lange vergebens, bis er merkt, daß
+die Schlupftür geöffnet ist. Die Kiesel im Schloßhof sind vom Gras
+überwachsen, hinten steht eine Linde, und als er bis an die Mauer geht,
+fällt der Berg da fast senkrecht in die schäumende Emme, die ihn im
+Bogen umfließt. Es nisselt immer noch, und sein Rock ist längst feucht;
+er merkt es nicht, er hat zuviel gesprochen bei den Männern da unten,
+und nun sind die Gedanken wie eine Krähenschar, die nicht zur Ruhe
+kommt:
+
+Er hat es Mord genannt, wie die Kinder bis ins fünfte Jahr im
+sinnlichen Genuß der Natur bleiben, wie sie sehen, sprechen und ihre
+andern Sinne gebrauchen lernen, und sich von selber eine natürliche
+Anschauung der Welt in ihrer Seele aufbauen: wie sie dann aber gleich
+Schafen zusammengedrängt in eine stinkende Stube geworfen würden, um
+der fremden, sinnlosen Buchstabenwelt ausgeliefert zu sein! Nun denkt
+er, wie auch die Moral und das Gesetz, selbst die Religion und ihre
+Tugenden von hier aus der jungen Menschenseele aufgenötigt würden
+und dadurch leicht das bittere Beigefühl lebensfeindlicher Mächte
+behielten; sodaß, was dem Leben des Menschen einen höheren Sinn geben
+solle, im Gefühl der Armen als Mittel der Unterdrückung bliebe. Seine
+Gedanken können es noch nicht greifen, aber er fühlt sie dicht daran:
+daß er alles, was nur aus dem Buchstaben gelernt würde, als fremd und
+gleichgültig in seinem Unterricht ausscheiden, daß er den Naturgang
+der ersten fünf Lebensjahre weiterführen möchte; nicht, um es den
+Kindern bequemer zu machen, sondern um die Unnatur aus dem Wachstum des
+Menschen zu nehmen.
+
+Er ist so versessen in diese Gedanken, daß er garnicht hört, wie jemand
+von hinten zu ihm kommt und die Hand auf die Schulter legt. Als er sich
+umkehrt, ist es Fischer, der ihn zufällig aus seinem Fenster gesehen
+hat: Wir sind die einzigen Menschenseelen in dem ganzen Gebäude, sagt
+er erklärend zu ihm; aber Heinrich Pestalozzi ist noch viel zu sehr
+bei den Reitversuchen seiner stolzen Gedanken, um ihn wörtlich zu
+verstehen: Dann müssen wir jeden Tag den Berg hinunter traben, sagt
+er und muß hellauf wie ein Knabe lachen, so rasch springt ihm aus
+der abendlichen Grübelei ein Scherz auf: Zwei Narren in einem leeren
+Schloß mit einem Steckenpferd, das wird ein schönes Rittertum, wenn wir
+ausreiten.
+
+
+ 78.
+
+Nach acht Tagen kommt Heinrich zum zweitenmal aus Bern; diesmal in
+einem heiteren Wolkenwetter zu Fuß; die Verwaltungskammer hat ihm im
+Schloß ein Zimmer als Wohnung eingeräumt und für die Hintersassenschule
+die Lehrerlaubnis erteilt. Der Schulmeister Samuel Dysli muß ihm
+einen Teil von seinen dreiundsiebzig Schülern überlassen; weil aber
+nur eine Stube da ist, vereinbaren sie einen Strich, der die Klassen
+trennt: auf der einen Seite stellt sich Heinrich Pestalozzi auf und
+fängt wieder tapfer an, aus der Sprache die Buchstabenlaute abzulösen;
+auf der andern wandert der Schuhmacher von Bank zu Bank und behört
+den Heidelberger Katechismus. Er kann es nicht verwinden, daß man
+ihm den alten Landstreicher in die Schulstube schickt, die doch mit
+dem Haus sein angeerbtes Eigentum ist, und wenn er in der Folge das
+unaufhörliche Geschrei hört, wie der andere die Kinder abrichtet, im
+Chor zu sprechen, wobei er selber mitkräht, wenn er sieht, wie sie
+keine Bücher und Schreibhefte, nur eine Schiefertafel haben -- nie hat
+er solch ein Schreibzeug gekannt -- darauf sie mit dem Griffel allerlei
+Winkel und Figuren kritzeln: glaubt er einem Tollhäusler zuzusehen.
+Er versucht, ihm zur Beschämung, mit seiner Schar die gewohnten Dinge
+zu treiben, aber auch die ist von dem seltsamen Wesen angesteckt, hat
+Augen und Ohren auf der andern Seite; und weil er sich scheut, vor den
+Augen dieses Narren wie sonst mit dem Stock drein zu fahren, frißt ihm
+der Ingrimm über die Vergewaltigung Stunden und Tage auf. Er sieht
+bald, daß einer von ihnen beiden hier unmöglich wird, und da es seine
+eigene Werkstatt ist, aus der er sich hinterlistig verdrängt sieht,
+richtet er sich auf den Krieg ein.
+
+Wenn Heinrich Pestalozzi, der ihn im Eifer meist ganz vergißt, ihn
+kollegialisch ansprechen will, stellt er den gekränkten Stolz seiner
+Bildung zwischen sich und ihn; denn er hat bald gemerkt, daß der
+andere den Firlefanz nur treibt, weil er weder den Katechismus noch
+sonst etwas nach der Vorschrift kann. Der Wurm der Kränkung will ihm
+unterdessen das Herz abfressen, und schließlich geht er zum Pfarrer.
+Dem ist es verdächtig, sich in diesen Handel zu mischen, weil er die
+Hintermänner kennt; doch gibt er ihm Lienhard und Gertrud mit, damit
+er sehe, was für ein Wundertier dieser Mann vorstelle. Samuel Dysli
+hat schon gehört, daß es ein Romanschreiber sei, doch macht es ihm zu
+viel Mühe, so dicke Bücher zu lesen; er blättert nur höhnisch darin
+herum, und so findet er die Stelle, wie es dem alten Schulmeister in
+Bonnal übel geht und wie sich der stelzbeinige Leutnant mit allerlei
+Schleicherkünsten an seiner Stelle einnistet. Nun weiß er Bescheid,
+und während Heinrich Pestalozzi schon wieder besessen von seiner
+Absicht ist und gleich einem Specht an der Anschauungskraft der Kinder
+herumklopft, bearbeitet Samuel Dysli die Väter, und eines Sonntags
+halten die Burgdorfer Hintersassen eine Art Landesgemeinde in seiner
+Werkstube ab: Wenn die Bürger und Herren schon ihre Narrheit mit der
+neumodischen Lehrart hätten, möchten sie die Probe auch an den eigenen
+Kindern machen!
+
+So aufgereizt sind sie, daß sie es nicht bei dem Beschluß belassen; als
+Heinrich Pestalozzi am Montag danach um sieben Uhr in die Schulstube
+kommt, sitzen auf seiner Hälfte nur noch drei Kinder und heulen. In
+der ersten Bestürzung ist er töricht genug, den Dysli zu fragen; der
+läßt den Katechismus herunter schnurren, als ob er ihn extra für ihn
+aufgezogen hätte. Da merkt er, daß ihm einer das Uhrwerk abgestellt
+hat; doch kann er seinen Jähzorn noch meistern und geht hinaus. Und
+nun meint er, daß der Schulmeister ihn wiederkennen müsse; denn wie
+damals an dem Morgen kommt er ihm nach bis in die offene Tür. Auch
+sonst stehen die Leute an den Fenstern und auf der Gasse; er sieht im
+Vorbeigehen, daß sie die Kinder hinter sich halten, als ob sie ihre
+Brut vor dem Wolf schützen müßten. Einige vermögen ihre Schadenfreude
+nicht zu meistern und rufen ihm nach; ein Flickschneider, der ein
+Schwager des Dysli ist, verfällt auf die Rache, laut zu buchstabieren:
+b u bu, b e be, b a ba! Die ganze Gasse ist begeistert davon, und so
+muß Heinrich Pestalozzi Spießruten laufen durch sein höhnisches Echo,
+das ihm noch nachkräht, als er schon im Oberdorf ist.
+
+Er will zu seinen Freunden, aber weder den Statthalter Schnell noch
+den Doktor Grimm trifft er zu Hause, und Fischer ist für ein paar
+Tage nach Bern gereist. So geht er kopfschüttelnd und trotz seiner
+Großvaterschaft dem Weinen nahe wie ein Knabe den steilen Schloßweg
+hinauf. Der Hof ist leer wie immer, und die Sonne malt die verzogenen
+Schatten der Dächer hinein, als ob auch die ihm Fratzen schneiden
+wollten. Es ist ihm für den Augenblick gleichgültig, wohin er geht,
+weil jeder Schritt zwecklos ist; so tritt er unter die Linde und starrt
+über die Mauer in die glitzernde Emme hinunter. Auch da unten sind noch
+Hütten der Hintersassen, denen er aus der hilflosen Armut helfen will,
+aber die bellen ihn an wie Hunde. Der Abend fällt ihm ein, wo er zum
+erstenmal hier stand und das von dem Steckenpferd sagte. Nun haben sie
+mir auch das fortgenommen, denkt er, und jetzt laufen ihm richtig die
+trotzigen Tränen übers Gesicht, daß er ihre Schärfe in den Mundwinkeln
+schmeckt.
+
+
+ 79.
+
+Das Erlebnis geht Heinrich Pestalozzi so nah ans Herz, daß er an diesem
+und auch am folgenden Tag das Schloß nicht verläßt, obwohl er Hunger
+leidet. Dann kommt Fischer aus Bern zurück, hört schon im Stadthaus,
+wo er aus der Post steigt, von dem Aufruhr der Hintersassen, und
+nun erlebt der Geschlagene, was treue Freundschaft für ihn vermag:
+Grimm und Schnell helfen, und noch in derselben Woche steht Heinrich
+Pestalozzi in der Buchstabier- und Leseschule der Margarete Stähli, wo
+er seine Versuche ohne Widerstände fortsetzen kann. Da sind nur zwei
+Dutzend Kinder in einer hellen Stube, und die Jungfrau bescheidet sich,
+ihm eine Gehilfin zu sein. Er ist zwar im Anfang noch verscheucht, man
+möchte ihn noch einmal aus der Schulstube fortschicken, und hält sich
+ängstlich an die äußeren Vorschriften -- täglich von acht bis sieben
+Uhr, die Mittagspause abgerechnet, steht er in seiner Klasse -- aber
+indem er nun nicht mehr wie in Stans durch die wirtschaftlichen Sorgen
+als Hausvater belästigt und bedrückt wird, auch keine verwahrlosten
+Bettelkinder, sondern gepflegte Bürgertöchter vor sich hat, kann
+er sich ungehindert dem Abc der Anschauung widmen, das ihm als die
+Grundlage aller Kenntnisse und Fertigkeiten täglich geläufiger wird.
+Noch immer geht er von keinem vorgefaßten System aus; er verläßt sich
+auf seinen Instinkt, daß er für jeden Unterricht den natürlichen
+Anfang finden wird. Namentlich im Rechnen versucht er nun, von den
+kindlichen Zählspielen ausgehend, zu den Schwierigkeiten der vier
+Spezies zu gelangen. Er ist wie ein Chemiker im Laboratorium, immer
+neue Mischungen versuchend, bis er die rechte Verbindung gefunden hat;
+und die Jungfrau Stähli geht ihm mit gemischter Verwunderung zur Hand.
+
+Unterdessen spielt das Kriegstheater auf Schweizerboden seine
+europäischen Stücke, und es sieht nicht aus, als ob er sobald wieder
+nach Stans käme: über den Gotthard drängen die Russen unter Suworow,
+und über Zürich ins Glarner- und Einsiedlerland die Österreicher
+unter seinem Vetter Hotze, der ein berühmter Kriegsheld geworden
+ist. Aber Hotze fällt bei Schänis, Masséna nimmt Zürich ein -- wobei
+Lavater durch einen betrunkenen Grenadier schwer verwundet wird --
+und als Suworow die Franzosen nach dem mörderlichen Kampf um die
+Teufelsbrücke zurückgedrängt hat bis Flüelen, sind die Kaiserlichen
+überall geschlagen, und er muß sich seitwärts in böser Jahreszeit über
+den Kinzig-, den Pragel- und den wüsten Panixerpaß ins Vorderrheintal
+retten, wo er ohne Pferde und Geschütze ankommt und mit dem Rest
+seiner Scharen die Schweiz bald verläßt. Als Bonaparte, aus Ägypten
+heimkehrend, sich zum ersten Konsul der Franzosen macht, hat er die
+Eidgenossenschaft ganz in der Hand, und den Urkantonen vergeht die
+Hoffnung, daß ihnen fremde Hilfe aus der Helvetischen Republik in die
+alte Kantonsherrlichkeit zurück helfen könnte.
+
+Im Bernischen sind die Kriegsschläge nur von fern hörbar gewesen, aber
+viele Heerhaufen rückten durch, und jeden Abend sank die Sonne in eine
+Nacht voll ungewisser Furcht. Heinrich Pestalozzi hat in Stans erlebt,
+was die ruhmvollen Taten der Kriegshelden in der Nähe bedeuten, wie
+aus einer blühenden Landschaft ein Schlachtfeld wird, darin die Dörfer
+brennen und die Verwundeten mit ihren Blutlachen zwischen Leichen auf
+den Straßen und in den Feldern liegen, während in den Bergställen und
+in Felsschlüften Frauen und Kinder schreckensbleich die Schießerei
+abwarten, bis der Hunger sie doch in das Unheil hineintreibt. Er kann
+nur auf den Tag warten, an dem dieser Kriegsbrand endlich gelöscht sein
+wird; es wird auch für ihn der Tag sein, wo er für sein Werk gerüstet
+dastehen muß.
+
+Darüber fallen auch die Blätter dieses Jahres und eines Tages im
+November, als der Regen schon eiselt, erfährt er, daß die Regierung ihn
+nicht nach Stans zurücklassen will. Er hat gewußt, daß sich Stapfer
+seit dem September vergebens darum bemühte, und ist gefaßt, daß ihm
+die Tür nicht wieder geöffnet werde, die der Krieg zuschlug; aber die
+Hoffnung hat doch jeden Abend auf seinem Bettrand gesessen, wenn er mit
+den Kleidern auch die Mühsale des Tages auf den Stuhl legte. Im äußeren
+Schloßhof steht noch ein Tretrad über dem tiefen Brunnen, der bis in
+den Talgrund reicht; er ist einmal vorwitzig hineingestiegen, das
+sonderbare Hand- und Beinwerk probieren; nun träumt er in der Nacht,
+der Strick mit dem Eimer sei abgerissen, während er in den Sprossen
+stände, sodaß er die Radtrommel, des Gegengewichtes beraubt, nur immer
+um sich selber drehen müsse. Er tröstet sich zwar in der Folge, daß
+er für seine Versuche in der hellen Stube der Jungfrau Stähli besser
+aufgehoben sei als in dem Kalkstaub des Stanser Waisenhauses, aber der
+Lebensstrang seiner Arbeit ist ihm doch schmerzlich abgerissen, und
+unruhig fängt er an zu suchen, wo er ihn nach dieser Probierzeit wieder
+einhaken könne. So kommt es, daß er mit dem Ende des Jahres von neuem
+an seinen Neuhof denkt.
+
+Dieses Ende marschiert mit den Schritten der allgemeinen Not, wie
+keines vorher, als ob es die Leidensreste des vergehenden Jahrhunderts
+noch über der Schweiz ausgösse, die durch die Kriegszüge verwüstet und
+von den Franzosen mit Millionen von Kriegskosten ausgesogen ist. Als
+er für die Weihnachtstage nach dem Neuhof fährt, wandern Scharen von
+Bettlern über die winterlichen Straßen, sodaß er wehmütig an seine
+Flugblätter und das Helvetische Volksblatt denkt, darin er sich und
+dem Schweizervolk so herrlich viel von der neuen Ordnung der Dinge
+versprach.
+
+Er findet Anna, die er in Hallwyl abholt, mit eisengrauem Haar; sie hat
+die Sechzig hinter sich, und sie sind nun die Großvatersleute, die zum
+Besuch aufs Birrfeld kommen. Da schaltet die gebotene Fröhlich, und
+Lisabeth hilft ihr, auch die schlimmen Dinge tapfer zu überstehen; sie
+müssen den Hof allein halten; denn Jakob ist trotz seiner dreißig Jahre
+ein übellauniges Gebreste. Es wird trotzdem ein inniges Weihnachtsfest,
+die Großmutter hat aus Hallwyl den Enkelkindern viel Liebes
+mitgebracht, und die fünfjährige Marianne vermag schon Christlieder
+zu singen, in die der dreijährige Gottlieb selbstbewußt einstimmt. Als
+danach die heiligen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr mit Rauhreif
+kommen, der in der Sonne mit Millionen Kristallen funkelt, ist es
+für Heinrich Pestalozzi mehr als die Insel auf dem Gurnigel, es ist
+die Küste, von der er ausfuhr, und fast scheint es ihm, dies sei die
+Heimkehr.
+
+Silvester, als sich die Kälte in einen näßlichen Nebel gewandelt
+hat, wandert er zufällig durch das Gehölz bis nach Brunegg auf den
+Waldkamm hinauf. Er weiß, das kleine Schloß steht seit der neuen
+Ordnung mit leeren Fenstern da, aber wie er hinzukommt, ist an der
+verschlossenen Tür ein vergilbter Zettel angeheftet, daß die Regierung
+den verlassenen Besitz mit sechzig Jucharten Wald und Weide zum Verkauf
+ausbietet. Er braucht garnicht zu überlegen, der Plan steht gleich wie
+eine Eingebung da: Schloß Brunegg zu erwerben und mit dem Neuhof zu
+vereinigen in einem Besitztum, auf dem sich ein helvetisches Waisenhaus
+wohl einrichten und halten ließe. Die Seinigen wissen nicht, warum er
+allein an dem Abend fröhlich ist, während ihre Wehmut dem scheidenden
+Jahrhundert die Totenwacht hält; nur Anna, die das Wetterglas seiner
+Stimmungen besser kennt als sie, merkt bald, daß er irgend etwas im
+Schilde führt. Wie dann die Standuhr auf dem Gang ihre zwölf Schläge
+mit dem gleichen schnarrenden Klang wie sonst getan hat, und sie alle,
+die im Schein der Lampe darauf warteten, sich den Menschenkuß geben,
+nimmt er sie wie in den jungen Zeiten bei der Hand und führt sie aus
+dem Kreis der andern hinaus in die Nacht, die durch die Erschütterung
+der Glocken aus ihrer Stille aufgeschreckt und von Menschenlichtern
+nah und fern durchleuchtet mit ihren Geheimnissen in die Wälder
+zu flüchten scheint: So war die Nacht, wo ich mit Menalk auf dem
+Lindenhof stand, sagt er draußen zu ihr, als sie unsicher schreitend
+den Landweg nach Brunegg gehen: nur daß wir damals die Glocken in uns
+selber hatten, und draußen war es still. Das ist das Schicksal dieser
+Zeit gewesen, daß jeder in seinem Gehäuse saß; das einzige, was die
+Menschen miteinander verband, hießen sie ihre Bildung: ich heiße es
+ihre Ungläubigkeit. Das neunzehnte Jahrhundert der Christenheit wird
+wieder einen Glauben wie zu Zwinglis Zeiten haben, aber es wird das
+Jahrhundert der Menschlichkeit sein, wo die guten Werke nicht mehr für
+einen guten Platz im Himmel getan werden. Wer die ewige Seligkeit erst
+im Himmel anfangen will, hat sie schon versäumt. In Indien, heißt es,
+werden die Heiligen ihrer auf Erden teilhaftig, indem sie ihre Wünsche
+und Begierden Gott zum Opfer darbringen. Das heißen sie Nirwana oder in
+Gott ruhen; aber Gott hat auch unsere Wünsche und Begierden gemacht,
+nicht daß wir sie töten, sondern seinen Willen damit erfüllen. Wenn wir
+Gott selber in unsern Wünschen und Begierden haben, können sie kein
+Hindernis mehr sein. Ihre Seligkeit heißt, in Gott zu ruhen; unsere
+wird sein, Gott zu tun.
+
+Sie sind unter Brunegg stehen geblieben, weil es ihn angestrengt hat,
+im Steigen soviel zu sprechen; nun sagt er ihr seinen Plan eines neuen
+Waisenhauses. So bist du der Alte geblieben? fragt sie, und er sieht in
+der ungewissen Helligkeit der Winternacht, wie sie selber die Antwort
+dazu lächelt. Ihm aber ist es auf einmal zumut, als ob er wieder in
+der Schule das Vaterunser sprechen müsse; er kann die Worte fast nicht
+herausbringen, so unbändig kichert seine Fröhlichkeit: Ja, Liebe, und
+darum wollte ich dich fragen, ob wir nicht Schloß Brunegg kaufen sollen!
+
+
+ 80.
+
+Seit dieser Nacht fühlt Heinrich Pestalozzi einen fremden Flügelschlag
+über seinen Dingen, sodaß er sich eilen muß, den Ereignissen zu folgen,
+statt sie mühsam anzuzetteln. Er macht zwar noch das Höchstgebot auf
+Brunegg und findet bei der aargauischen Regierung eine unerwartete
+Willfährigkeit, ihm bei der Einrichtung eines helvetischen Waisenhauses
+behilflich zu sein; aber das Schicksal verlegt ihm mit gütigen
+Wendungen den Rückweg aufs Birrfeld: Schon im November hat der Doktor
+Grimm sich erboten, einige Waisen aus dem Kriegsgebiet in sein Haus
+zu nehmen, andre Bürger sind ihm willig gefolgt, und da Fischer den
+Plan mit Feuer betreibt, kommen Ende Januar sechsundzwanzig Kinder in
+Burgdorf an, die der Pfarrer Steinmüller zu Gais im Appenzeller Land
+gesammelt hat. Heinrich Pestalozzi will gerade zum Schloß hinauf, als
+die Bürger ihnen entgegenleuchten; überall sind Betten und warme Suppen
+für die Zitternden bereit, es könnten ihrer hundert sein, soviel Hände
+strecken sich hilfreich aus. Auch sein Herz wallt ihnen entgegen,
+und gleich ist er mitten in der Schar, mit scherzenden Fragen seinen
+Willkomm zu sagen; aber eins nach dem andern wird ihm eingefordert, und
+ehe er sichs versieht, steht er allein auf der Straße da. Meine Zeit
+ist noch nicht gekommen, sagt er kopfschüttelnd vor sich hin, als er in
+einer bestürzten Wehmut durch die Dunkelheit zum Schloß hinaufgeht.
+
+Aber unversehens fällt das, was andre begonnen haben, ihm in den Schoß,
+der die Seele solcher Taten ist: die Kinder sind durch einen jungen
+Dorfschulmeister namens Hermann Krüsi aus Gais gebracht worden, der
+als dritter ein Zimmer im Schloß erhält. Er ist ein lernbegieriger
+Mensch von vierundzwanzig Jahren, dem die Nähe des berühmten Verfassers
+von Lienhard und Gertrud eine Erhöhung seines Lebens bedeutet;
+für seine Appenzeller Kinder wird ihm eine besondere Schule im
+Ort eingerichtet, sodaß sie morgens miteinander in den Burgdorfer
+Schuldienst hinuntergehen. Obwohl Heinrich Pestalozzi sich mit seinen
+Menschheitsplänen in der Buchstabierschule der Jungfrau Stähli -- wie
+er dem Krüsi sagt -- allmählich gleich einem Seefahrer vorkommt, der
+seine Harpune verloren hat und mit der Angel probiert, Walfische zu
+fangen, bleibt er unverdrossen dabei, bis er im Frühjahr die Burgdorfer
+zu einer öffentlichen Prüfung einladen kann. Schon die Neugierde, in
+die seltsamen Karten des wunderlichen Fremdlings zu blicken, treibt sie
+zahlreich herzu; aber nun steht nicht mehr das Mitleid kopfschüttelnd
+da wie in Stans, es gibt eine wahre Verblüffung über die Fertigkeiten
+so junger Schüler, und die Schulkommission stellt ihm ein öffentliches
+Zeugnis aus, dankbar, daß er gerade Burgdorf für seine Lehrversuche
+gewählt habe. Diese Anerkennung macht ihn zittrig vor Freude, weil
+er nun endlich die Weite für seine Dinge geöffnet sieht, sodaß er
+in seinem fünfundfünfzigsten Jahr trotz dem Ehrenbürgertum der
+französischen Republik wie ein belobter Schüler in die Ferien kommt und
+seiner Frau Anna das Zeugnis in den Schoß legt. Eigentlich bist du zu
+alt dazu, lächelt sie wehmütig mit dem Papier in der Hand: oder sollte
+die Zeit gekommen sein, wo die Großväter wieder zur Schule gehen? Aber
+er läßt sich sein Glück nicht erschüttern: »Man hat mir schon in meinen
+Knabenschuhen gepredigt, es sei eine heilige Sache um das von unten
+auf Dienen; ich achte es für die Krone meines Lebens, daß man mich mit
+grauen Haaren in der Schule von unten anfangen läßt!«
+
+Er hätte nötig, daß diese Ostertage Ferien für ihn würden, aber sein
+Sohn Jakob will sterben, und während draußen der Frühling schäumt,
+zerreißen die Schmerzen den hilflosen Mann, dem er den Neuhof als
+Erbschaft mühsam aufgespart hat. Zerstört von Nachtwachen kommt er
+wieder in Burgdorf an, wo Krüsi allein auf ihn wartet, weil Fischer
+enttäuscht und todkrank nach Bern zurückgegangen ist. Als Heinrich
+Pestalozzi spät abends den Steilweg aus dem Ort hinauf tastet, findet
+er den Appenzeller, der seitdem einsam und landfremd in den leeren
+Gebäuden haust, sehnsüchtig harrend am Tor. Mein Sohn stirbt, sagt er,
+als sich der Jüngling ihm weinend in die Arme wirft: kommst du mir an
+Sohnes Statt?
+
+Danach gibt es einen Erntesommer für ihn, wie er noch keinen erlebte:
+die Bürger haben ihn dankbar zum Lehrer an der zweiten Knabenschule
+gemacht, darin er an die sechzig Knaben und Mädchen zu lehren hat;
+und kaum, daß er mit Krüsi überlegt, wie ihre Schulen sich vereinigen
+und, in Klassen eingeteilt, besser im Lehrplan einrichten ließen --
+nur an Raum fehlt es im Schulhaus, während im Schloß die schönsten
+Räumlichkeiten leer stehen -- sind die Herren in Burgdorf und Bern
+gleich so diensteifrig, daß die Kinder schon zum Sommer auf dem Berg
+einrücken können. Als der Schloßhof von dem emsigen Gewirr ihrer
+Stimmen widerhallt, müssen die Knaben und Mädchen von der Linde ein
+Schweizerlied ins waldige Emmental hinunter singen, und diesmal stehen
+keine Luzerner da zum Lachen, weil er selber mit seiner alten Stimme
+fröhlich den Takt hineinkräht: Nun ist es kein leeres Schloß mehr,
+denkt er, und ich brauche morgens nicht auf einem Steckenpferd den
+Berg hinab zu reiten! Wie ein Feldherr einen Engpaß bezwungen hat,
+das bedrängte Land von den Feinden zu räumen, fühlt er sich längst
+über die ersten Buchstabier- und Rechenkünste hinaus und mächtig, in
+die entlegenen Gebiete der herkömmlichen Schulmeisterei den Gang der
+Natur zu tragen. Er hat zum Wort und zu der Zahl die Form der Dinge als
+drittes Element für seinen Unterricht gefunden und hält nun endlich
+das Geheimnis in der Hand: das Abc der Anschauung, daraus sich alle
+Fertigkeiten und Kenntnisse gewinnen lassen.
+
+Mit dem Sommer fängt die Nachricht von der Wunderschule im Schloß
+zu Burgdorf an durchs Land zu gehen, und wie ehemals auf dem
+Neuhof, kommen Gläubige und Zweifelnde an, sich mit eigenen Augen
+zu überzeugen, was Wahres an dieser neuen Zeitung sei. Sie finden
+keinen Einsiedler mehr: Krüsi hat aus Basel seinen Freund Tobler
+geholt, der dort als Theologiestudent den Hauslehrer spielte; der
+wiederum bringt einen jungen Buchbinder namens Buß aus Tübingen mit,
+weil er sich trefflich aufs Zeichnen und die Musik versteht, welche
+Künste Heinrich Pestalozzi auch in den Anfängen versagt sind. Sie
+hausen zu vieren in dem Schloß und müssen manchmal selber lachen,
+was für einen seltsamen Verein sie bilden: ein Romanschreiber, ein
+Theologiestudent, ein Buchbinder und ein Dorfschulmeister. Ich bin
+nun wirklich ein Wundertier, scherzt Heinrich Pestalozzi oft, ich
+habe vier Köpfe und acht Hände. Er wird auch nicht müde, die Fremden
+durch die Klassen zu führen, wo im ersten Stock die Körbe mit den
+Buchstabentäfelchen stehen, daraus sich vor den Augen der Kinder die
+Silben und Wörter auswachsen; in der zweiten fangen die Schreibkünste
+auf den Schiefertafeln an -- die meist als die größte Neuheit bestaunt
+und befühlt werden -- und durchsichtige Hornblättchen mit eingeritzten
+Buchstaben sind die stummen Schulmeister in den Händen der Kinder,
+ihre Schriftzüge zu kontrollieren; der dritte Raum ist groß genug zu
+Marschübungen, und wenn den Besuchern schon aus den andern Stuben
+der Takt im Chorsprechen als das Erstaunlichste im Ohr geblieben
+ist, weil er die Vielheit der Schüler mit einem Mund sprechen läßt,
+so sehen sie nun den selben Takt als Erscheinung lebendig werden,
+wenn die Kinder fröhlich singend oder deklamierend gleichen Schritt
+halten. Heinrich Pestalozzi weiß wohl, daß dies alles nur die
+Augenfälligkeiten seiner Lehrübungen sind, und es ficht ihn nicht an,
+wenn ein gelehrter Herr kopfschüttelnd über die Einfalt solcher Methode
+den Berg hinuntergeht. Sie suchen den Stein der Weisen, spöttelt er,
+aber es darf kein Stein sein, weil sie sonst nur an den Bach zu gehen
+brauchten! Auch meinen sie, ich plagte mich in meinen Großvaterjahren
+um neue Schulmeisterkünste, wo ich doch nur der Armut eine Treppe bauen
+will. Und als der sinnende Tübinger, dem es am schwersten fällt, sich
+einzuleben, ihn einmal am Abend fragt, wie er das meine? sagt er sein
+Beispiel von dem Haus des Unrechts.
+
+Sie sitzen auf der Mauer unterm Lindenbaum und sehen, wie die
+Sonnenröte die Alpen herrlich überschüttet, und auch die beiden anderen
+kommen horchend herzu, als er beginnt: Was meint ihr, daß einer im
+Keller unseres Schlosses von diesem Abend sähe! Die Luken im Gewölbe,
+zu hoch für die Augen, werden ihm nur einen bläßlichen Schein der Röte
+geben! Besser wird es in den Stuben des unteren Stockwerks sein; obwohl
+es nach außen kein Fenster hat, sieht man den Widerschein im Hof und
+ahnt die Herrlichkeit! Nur oben, wo die Fenster aus den Sälen nach
+allen Seiten den freien Ausblick gestatten, kann der Bewohner sich
+gemächlich in eine Nische setzen, den Anblick zu genießen! Nun denkt
+euch, Freunde, es gäbe keine Treppe in diesem Haus, sodaß die Herren
+in den Sälen die einzigen Genießer wären, die Bürger in den Stuben
+darunter könnten nicht hinauf, obwohl ihnen der Widerschein im Hof das
+Blut unruhig machte; das arme Volk aber in den Gewölben säße gefangen
+im fensterlosen Dunkel und hätte von Gottes Sonne nur die trübe Röte an
+der Luke!
+
+So, Freunde, ist das Haus des Unrechts um die Klassen der Gesellschaft
+gebaut. Drum hab ich mich gemüht mein Leben lang und bin ein Narr
+geworden vor ihren Augen, daß ich in dieses Haus des Unrechts die
+Treppe der Menschenbildung baute.
+
+
+ 81.
+
+Wenn die Morgenstunden seiner Schule zu Ende sind, geht Heinrich
+Pestalozzi bei gutem Wetter an die Emme hinunter, Steine zu suchen. Er
+kennt nur wenige Arten und wählt sie mehr wie ein Kind nach der schönen
+Farbe aus, doch schleppt er gern ein Taschentuch voll davon, wenn
+er zum Stadthauswirt Schläfli an den Mittagstisch kommt. Meist geht
+auch eins oder das andere der Appenzeller Kinder mit, und namentlich
+ein Knabe namens Ramsauer begleitet ihn gern. Wie er eines Tages mit
+dem im sonnigen Gestein sitzt -- trotzdem ihm die Gehilfen tapfer
+beistehen, schmerzt ihn die Brust vom Sprechen -- denkt er mit einer so
+traurigen Sehnsucht an sein verlassenes Waisenhaus in Stans, daß ihm
+die Tränen rinnen. Er weiß schon lange, daß ihn die Regierung nicht
+dahin zurücklassen will, aber er hat es nicht angeschlagen um seiner
+neuen Arbeit willen; nun läuft ihm die Bitterkeit der unbefriedigten
+Gedanken von allen Seiten zu. Es gerät ihm wie niemals vorher mit
+seiner Treppe der Menschenbildung, er hat den Schlüssel, alle
+Stockwerke zu öffnen, aber es sind doch nur die Bürgerkinder dieser
+wohlhabenden Kleinstadt, die davon Nutzen haben: Schlimmer als jemals
+ist die Not im Land, und ich habe in eitler Selbstgefälligkeit die
+Fremden durch meine Methode spazieren geführt. Als sie mich für einen
+Narren hielten, schrieb ich meine Schriften; jetzt, wo mir die Bürger
+gute Zeugnisse geben und ein Gehalt zahlen, bin ich Großvater wirklich
+ihr Narr geworden!
+
+Als er bedrückt von solchen Gedanken, diesmal ohne Steine im Sacktuch,
+in die Stadthauswirtschaft kommt, sieht er Tobler schon wieder mit zwei
+Fremden dasitzen, einem rotköpfigen Pfarrer und einem Tirolerknaben,
+die erfreut aufstehen, ihn zu begrüßen. Er kann seinen Groll zu
+keinem freundlichen Wort zwingen, macht augenblicklich kehrt und
+läßt sein Mittagsmahl im Stich, obwohl Tobler gleich hinter ihm her
+ruft. Unterwegs tut ihm die Torheit leid, aber wie er dann an seinem
+Sorgenplatz unter der Linde steht, kommen ihm die drei hartnäckig
+in den Schloßhof nach, und nun muß er selber lachen, weil der junge
+Pfarrer niemand anders als der Freund Toblers, Johannes Niederer aus
+Sennwald ist, mit dem er seit Monaten im herzlichsten Briefwechsel
+steht. Den Tirolerknaben, der auf eigene Faust sein Schüler werden
+will, hat er zufällig unterwegs getroffen. So geht mirs, klagt er und
+schließt sie beide in die Arme: vor Gleichgültigen mache ich meine
+Kapriolen, und wenn Freunde kommen, rennt der Hase fort!
+
+Er kehrt danach mit ihnen in das Stadtwirtshaus zurück, und es wird
+ein fröhlicheres Mittagsmahl, als er es seit Wochen hatte; denn seit
+dem Holsteiner Nicolovius ist ihm nicht mehr solche Liebe widerfahren,
+wie in den Feuerbriefen dieses kaum zwanzigjährigen Pfarrers aus
+Sennwald, der nun wie der Husarenkapuziner aus Stans neben ihm sitzt,
+so rotköpfig und so verbissen in seine Gedanken. Er ist zwar vorläufig
+nur zum Besuch gekommen, aber Heinrich Pestalozzi reißt wieder einmal
+gierig die Zukunft aus der Gegenwart los: Ihr seid die Jugend, die zu
+mir aufsteht, sagt er und halt ihnen sein Glas hin, als ob er alle Tage
+so schöppelte; nun will ich den Fischzug meines Lebens machen! Und weiß
+auf einmal garnicht, warum er sich bis zu diesem Tag geweigert hat,
+die Erbschaft Fischers ganz anzutreten: ein Schullehrerseminar, eine
+Musterschule und eine Pensionsanstalt hat der in Burgdorf gewollt, den
+nun in Bern der Rasen deckt, indessen er noch immer eigensinnig auf
+sein Waisenhaus in Stans wartet, als ob es diese oder jene Waisen und
+nicht die Treppe seiner Lehre gelte.
+
+Noch in den Tagen, da Niederer wie ein Spürhund durch die Klassen geht
+und jeden Fund verbellt, verhandelt er mit der Regierung in Bern. Er
+fühlt, daß sich die Summe seines Lebens einsetzen will: was er als
+Landwirt, Armennarr und Schriftsteller auf dem Neuhof, als Waisenvater
+in Stans und als Winkelschulmeister in Burgdorf an Erfahrungen
+einbrachte, soll nun Erscheinung werden. Zwar haben die politischen
+Hagelwetter seinen Freund Stapfer als Minister verdrängt, aber
+noch in den letzten Wochen hat er ihm eine helvetische Gesellschaft
+von Freunden des Erziehungswesens gegründet, die ihm nun mit einem
+Aufruf an die Bürger aller Kantone beisteht. Zum andernmal nach einem
+Vierteljahrhundert rasselt seine Werbetrommel durch das Land, aber nun
+treten ihrer viele zu dem Bürger, dessen Ruhm im Ausland geklungen
+hat. Schon im November sind an die fünfzig Zöglinge im Schloß, nicht
+Bettelkinder wie im Neuhof, die ihren Unterhalt durch eigene Arbeit
+verdienen sollen, sondern Bürgersöhne und Töchter, deren Eltern den
+Aufenthalt mit gutem Geld bezahlen. Er löst die Burgdorfer Schule ab,
+und nur die von den Appenzeller Kindern bei ihm bleiben wollen, behält
+er um Gotteswillen; der Tiroler Schmidt ist auch darunter.
+
+Heinrich Pestalozzi staunt, wie rasch ihm dies alles ins Kraut
+geschossen ist, aber der Erfolg macht ihn fröhlich, sodaß er dem Herbst
+und Frühwinter die Tage wie die Blätter eines Märchenbuches abliest.
+Darüber kommt Weihnachten, und er kann diesmal nicht in Neuhof sein,
+weil einige Kinder mit den Gehilfen bleiben, denen er als Vater das
+Fest bereiten muß. Zum Neujahr deckt ein dicker Schnee alles mit runden
+Kappen zu, und der Weg vom Schloß hinunter bis in die Häuser ist
+eine steile Schlittenbahn. Selbst seine Burgdorfer Freunde schütteln
+mißbilligend den Kopf, als sie ihn da mit den Kindern schlitteln
+sehen, und der Doktor Grimm sagt ihm, daß dies kein Geschäft für einen
+Großvater sei; er aber, der nichts Schöneres auf der Welt kennt, als
+wenn verschüchterten Kindern die Augen fröhlich aufgehen, nimmt
+einen Schneeball und wirft ihn, sodaß es -- als die Knaben seinem
+Beispiel folgen -- ein lustiges Gefecht um die Fröhlichkeit gibt, bei
+dem der Griesgram in die Flucht geschlagen wird: Das ist keine so
+einträgliche Schlacht für euch Doktoren, als wenn mit Bleikugeln auf
+Menschen geschossen wird, sagt er ihm einige Tage später, als er ihn
+bei Tauwetter wiedertrifft, aber sie macht rote Backen! Der Doktor
+schüttelt unwillig den Kopf: er habe ihm nur die Post mitgebracht, weil
+er doch zu dem Knaben müsse, der sich bei dem Spaß bös erkältet habe.
+
+Es ist nur ein zierlicher Brief, von Frauenhand mit dünnen Buchstaben
+adressiert; er öffnet ihn gleich und liest, daß ihm die Tochter
+Lavaters den Tod ihres Vaters meldet, der am zweiten Januar seiner
+Verwundung nach langem Siechtum erlegen sei. Von ihm selber aber liegt
+ein Zettel dabei, den er als Abschiedsgruß noch auf dem Sterbebett an
+ihn geschrieben hat:
+
+ »Einziger, oft Mißkannter, doch hochbewundert von vielen,
+ Schneller Versucher des, was vor dir niemand versuchte,
+ Schenke Gelingen dir Gott! und kröne dein Alter mit Ruhe!«
+
+Heinrich Pestalozzi ist so erschüttert, daß er den erstaunten Doktor
+ohne Wort auf der Straße stehen läßt und quer über die nassen
+Schneefelder zur schwarzen Rinne der Emme hinunterläuft. Dies ist genau
+so unvermutet wie in den Jünglingstagen, als Lavater ihm den »Emil« ins
+Rote Gatter brachte: Er war nicht mein Freund, überschlägt sein Gefühl,
+er hat mich nie recht gemocht, und nur ein paarmal hat uns das Leben
+nebeneinandergestellt; nun hat er wie Bluntschli vor Gott gesessen
+mehr als ein Jahr, kaum, daß ich einmal an ihn dachte im Strudel meiner
+Dinge, und er schickt mir dieses Wort!
+
+Nur die treue Erinnerung hat er aus dem Zettel gelesen, kaum die
+Sätze; doch wagt er nicht, ihn noch einmal vor die Augen zu bringen,
+so ehrfürchtig ist ihm zumute, weil er von einem Toten kommt: Wie
+dieser Bach im Schnee übereilen wir unsern Weg, sagt er und läßt seine
+Augen mit den Glattwellen laufen, bis sie hinter den schwarzen Büschen
+verschwinden. Nur an unsern Ufern sehen wir die Dinge, alles nur einmal
+im Gedränge, und kein Augenblick kann gegen den Wellenschlag zurück.
+Wenn wir unten sind, ist dies unser Leben gewesen; aber unser Wasser
+war es nicht. Das Wasser gehört der Welt, der kein Tropfen an irgend
+wen verloren geht; unser Teil ist, daß wir fließen. Durch ein paar
+Mühlräder können wir laufen unterwegs, aber nicht mehr sehen, wieviel
+von Gottes Korn damit gemahlen wird.
+
+
+ 82.
+
+Heinrich Pestalozzi hat sich in dem nassen Schnee eine Erkältung
+geholt, die über Nacht fiebrig wird, sodaß ihn der Doktor Grimm für
+ein paar Tage zur Vergeltung ins Zimmer sperrt. Kröne dein Alter mit
+Ruhe! steht auf dem Zettel Lavaters, den er nun auswendig weiß; aber
+selten hat ihm ein Wort so viel Unruhe bereitet. Er weiß, wie dünn ihm
+die Kräfte geworden sind und daß ihn täglich die Gefährlichkeit seiner
+Jahre ankommen kann; aber keine drohende Krankheit vermöchte ihn so zu
+schrecken wie die Sorge, lässig zu werden: Die Ruhe des Alters kommt
+denen zu Recht, die Glück mit ihrem Leben hatten; ich aber, dem alles
+unter den Händen zerbrach und der ich noch als Großvater in die Schule
+mußte, ich wäre damit einem Bauer gleich, der seine Felder und Gärten
+in Dürre und Kriegsnot bestellt hat und danach die Ernte versäumte.
+
+Diese Ernte aber wächst weder in Burgdorf noch in einer andern
+Anstalt allein, sie ist ihm auf den unübersehbaren Feldern seines
+Lebens gereift, und nur, wenn er eine alles umgreifende Darstellung
+seiner Lehre der Menschenbildung hinterläßt, hat er nicht umsonst
+gelebt. Unter den Gehilfen, die er nun wieder mit den Zöglingen
+Schneeballen werfen sieht -- weil der Winter neuen Schnee auf den
+glatt gefrorenen Guß des Tauwetters gelegt hat -- ist keiner, der
+von der Last seiner Erfahrungen und dem Gang der Methode mehr als
+die Anfänge wüßte; und was sie davon ausbrächten, wenn er stürbe,
+wäre nichts als eine notdürftig gebesserte Schulmeisterei. Schneller
+Versucher des, was vor dir niemand versuchte, schreibt er mit den
+Worten Lavaters auf das oberste der Blätter, die er gleich am ersten
+Tag seiner Stubenhaft herauskramt, um sein Lehrbuch der Menschenbildung
+zu beginnen. In seinen Nachforschungen über den Gang der Natur in
+der Entwicklung des Menschengeschlechts hat er versucht, seine Sache
+auf eine Weltanschauung zu gründen; nun will er den gleichen Gang
+der Natur in der Erziehung aufweisen. Aber als er gleich in diesen
+Januartagen anfängt zu schreiben, wird es zugleich ein Bekenntnisbuch
+seines fünfundfünfzigjährigen Lebens: alle Einsichten, die er sich
+in mühseligen und schmerzenden Erfahrungen für die Volksbildung
+erkämpft hat, fließen ihm hin in zwölf angeblichen Briefen, von denen
+jeder eine Schrift für sich sein könnte. Es ist nun wirklich, als ob
+er die Früchte abnähme vom Baum seines Lebens, obwohl draußen erst
+das Frühjahr den Winter ablöst und sich von einem Strauch zum andern
+durchblüht in den grünen Sommer. Immer wieder füllen die Zöglinge den
+Hof mit ihrem fröhlichen Lärm, von den Gehilfen zum Spiel geführt, Tag
+für Tag steht er selber unter ihnen mit Zuspruch und Lehre, Eltern
+kommen, ihre Kinder zu bringen, und Freunde weither in Reisewagen,
+seine Schule zu sehen: was sonst der Sinn seines Tages war, ist nun
+eine bunte Füllung geworden, und erst abends, wenn Heinrich Pestalozzi
+wieder an seinen Blättern sitzt, blüht ihm die Seele im eigenen
+Herzschlag auf. Wer ganz bei sich ist, ist bei den andern! schreibt er
+einmal auf einen Zettel, als er sich selber zu eigensüchtig vorkommt
+inmitten der durch ihn bewegten Dinge.
+
+Das zwölfte Stück ist fertig, als ein Brief vom Neuhof anlangt, daß
+sein Sohn Jakob im einunddreißigsten Jahr seines schmerzvollen Lebens
+gestorben ist; seine Frau schreibt ihm die Nachricht und daß sie ihr
+Kind selber, von Zürich hingerufen, nur noch auf dem Totenbett gefunden
+habe. Es tut ihm einen Stich ins Herz, aber er vermag die Feder nicht
+hinzulegen, so sehr scheint ihm die Nachricht aus der Verwirrung seiner
+Gedanken aufzuquellen. Er ist mit seiner Arbeit in eine böse Stockung
+geraten: wie er die Uhrfeder der Sittlichkeit in seine Methode
+einsetzen will, erkennt er, daß die sinnliche Befriedigung bei jedem
+Kind auf den Genuß geht und dem sittlichen Zwang feind ist. Soviel
+er denkt und deutelt, er vermag die Sittlichkeit auf kein Bedürfnis
+der Kindnatur zu gründen, und so muß er seiner Lehre selber die
+Natürlichkeit fortnehmen, als er sie damit krönen will: »Es ist hier,
+wo du das erste Mal der Natur nicht vertrauen, sondern alles tun mußt,
+die Leitung ihrer Blindheit aus der Hand zu reißen und in die Hand von
+Maßregeln und Kräften zu legen, die die Erfahrung von Jahrtausenden
+angegeben hat.« In diese Verwirrung fällt die Todesnachricht, die
+dadurch nicht gemildert wird, daß er sie für den Sohn als eine Erlösung
+empfindet. Er hat den Blick Annas nicht vergessen, als sie ihn damals
+ins Kleefeld legen mußten; irgendwie stürzt ihm das Gebäude seiner
+Lehre ein und er hört die Säulen krachend zerbrechen: Wenn jetzt seine
+Gläubigkeit nachläßt, wird ihm alles da entwertet, wo er es geheiligt
+sehen wollte.
+
+Die Schriftzüge seiner Frau retten ihn; er weiß, ihr ist es als Mutter
+schwerer geworden, die Nachricht mit einer Feder zu schreiben, als ihm,
+sie zu lesen; aber kein Wort steht anders als in der Ergebung da, die
+ihr heiliges Erbteil ist. So beugt er sich aus seinen Wirrsalen über
+das tiefe Geheimnis der Mutter, darin die sinnliche Befriedigung alles
+Daseins im Anfang beschlossen ist. Die Sitte der Appenzeller Frauen
+fällt ihm ein, dem Neugeborenen einen papierenen Vogel über die Wiege
+zu hängen, bunt bemalt, um so die ersten Sinneseindrücke des Säuglings
+in den menschlichen Bannkreis zu zwingen. Die Mutter ist der Brunnen,
+darin Gott und Natur noch eins sind, aus ihr wächst die erste Nahrung
+des Kindes, wie es selber gewachsen ist, und alles, was sie ihm danach
+gibt, wird natürlich durch ihre Gabe, sie kann aus Gott das Brot des
+Lebens machen. Nachdem rastet Heinrich Pestalozzi nicht mehr, schreibt
+durch diese Nacht und noch tief in den Morgen, bis er die letzten
+Briefe seines Buches fertig hat, die nun ein Lobgesang auf die Mutter
+werden und auch den Titel des Buches bestimmen: »Wie Gertrud ihre
+Kinder lehrt«. Eine gehetzte Angst hat seinen Überschwall getragen, bis
+er am andern Mittag vor den Blättern -- leergeflossen an ihrem Inhalt
+-- auf dem Stuhl in einen bleiernen Schlaf sinkt.
+
+Am andern Morgen in der Frühe holt er den Stecken und den Ranzen vor,
+noch einmal aufs Birrfeld zu wandern, wo seine Frau das frische Grab
+des Sohnes hütet. Es wird ihm leichter zu gehen, als er gedacht hat;
+und als er schon tief im Aargau drin zwei Kinder bei einer Scheune
+trifft, die eine Leiter quer über einen Brunnentrog zu einer Schaukel
+gelegt haben, auf der sie abwechselnd mit glücklichen Augen in den
+Himmel fahren, ruht er sich rätselvoll bewegt bei ihnen aus. Gleich
+wird die Magd mit dem Eimer kommen, Wasser zu schöpfen, und der
+Knecht wird die Leiter brauchen; das Glück ihres Spiels bleibt ihnen
+trotzdem unangetastet: eine paar Steine auf dem Feld, eine Kuhherde
+auf der Weide werden ihnen vielleicht in einer Stunde noch höhere Lust
+bereiten, weil die nicht aus den Dingen -- und also aus den Sinnen --
+sondern aus ihren Seelen kommt. Es gibt keine bösen Lockungen der
+Sinne zum Genuß, es gibt nur eine Lust der Seele, die sich in ihrem
+Körper fühlt; sie ist das Leben selber und kann kein Hindernis der
+Bildung sein: gerade sie muß der Mutter das Leitseil werden, ihr Kind
+ins Gute zu führen. Die Hölle und das Paradies liegen gleichviel darin,
+oder fast nicht, weil Lust und Pein Feuer und Wasser sind, während jede
+Lust in ewige Seligkeit ausfließen will!
+
+Er trifft Anna, wie sie mit Gottlieb, dem Enkel, am Brunnen steht, als
+ob es noch ihr Knabe wäre. Die Rührung überströmt ihn, sodaß er ihr
+ins Ungewisse hinein die Hand hin hält, so hindern die Tränen ihn,
+ihr Gesicht zu sehen: Nun ist das Band fort, das von meinem zu deinem
+Leben ging! Aber als ob ein Schwamm ihm dreißig Jahre von seinem Leben
+auslöschte, wird er vom Klang ihrer Stimme berührt: Nein, Pestalozzi,
+es ist nur in die Ewigkeit gelegt!
+
+
+ 83.
+
+Im Oktober läßt Heinrich Pestalozzi das Buch erscheinen, und noch vor
+Weihnachten sieht er die Saat seiner Worte in den deutschen Blättern
+aufgehen; es können zunächst freilich auch nur Worte sein, aber die
+Namen der Schreiber sagen der aufhorchenden Schweiz, daß aus dem
+Armennarr im Neuhof eine geistige Macht geworden ist. Auch könnte
+ihm Füeßli nicht noch einmal mit seiner Rede von der Rührung und dem
+Kirschwasser kommen; denn alles an dem Buch ist Rede und Überredung,
+und jeder Beifall bedeutet eine Entscheidung für ihn, die irgendwie
+in Taten endigen muß. Indem sich danach die Zöglinge für seine Anstalt
+reichlicher melden, hilft das Buch auch seiner äußeren Lage, sodaß er
+diesmal zuversichtlicher als sonst das Frühjahr abwartet.
+
+Die geborene Fröhlich ist zu ihm gezogen mit der kleinen Marianne,
+die ein überzartes Kind von sechs Jahren ist und schon am Unterricht
+teilnehmen kann. Zum Fest kommt auch die Großmutter mit dem Gottlieb,
+sodaß sie bis auf Lisabeth, die den Neuhof hüten muß, in Burgdorf
+beisammen sind. Es befriedigt ihn, endlich einmal Anna seine Dinge
+in der neuen Gestalt zeigen zu können, wo er nicht selber mehr der
+Lehrling, sondern der Meister ist; und selbst damals, wo er sie auf dem
+Gut Tschiffelis umher führte, ist er nicht stolzer auf sie gewesen als
+nun, wo sie lächelnd über seinen Eifer mit ihm durch die Schulstuben
+und Schlafsäle der Anstalt geht. Die zweiunddreißig Jahre der Ehe
+haben ihm nichts von ihrer Schönheit ausgelöscht, und während sie den
+Gehilfen eine ehrfürchtig begrüßte Matrone vorstellt, ist ihm bräutlich
+zumut. Der Tod ihres einzigen Kindes geht noch mit ihr, und obwohl sie
+willig zu seinen Erklärungen nickt, bleibt der Schmerz in ihren Augen
+wie Glas, darin sich die Eindrücke dieser Dinge mit der Spiegelung
+schmerzhafter Erinnerungen mischen. Es wird ein stilles Fest, aber
+heilig für ihn; und als sich gleich nach Neujahr Tobler im Schloß
+trauen läßt, und Niederer zum zweitenmal nach Burgdorf kommt, seinem
+Freund die Traurede zu halten, sitzt er wirklich -- wie Niederer sagt
+-- als Erzvater dabei.
+
+Aber die Zeiten sind nicht testamentarisch; unversehens zieht noch
+einmal ein Kriegsjahr seine Unruhen und Bedrängnisse um die Anstalt.
+Schon im vergangenen Oktober haben die Föderalisten, wie sich die
+Anhänger der alten Kantonswirtschaft nennen, die helvetische Regierung
+in Bern gestürzt und eine andere gewählt, die dem Schwyzer Aloys
+Reding als Landammann untersteht. Da es der neuen Herrschaft aber wie
+der alten an Geld fehlt, um aus der Schuldenwirtschaft zu kommen,
+steigen im Frühjahr schon wieder die sogenannten Unitarier auf der
+Schaukel hoch. Dagegen erheben sich die Urkantone, die auch sonst
+überall die Mißvergnügten an der neumodischen Franzosenwirtschaft
+finden, und während für Europa endlich ein Friedensjahr gekommen
+ist, fangen die Schweizer unter sich Kriegshändel an. Obwohl sie es
+selber um der altmodischen Bewaffnung willen den Stecklikrieg nennen,
+muß die helvetische Regierung vor den Aufständischen aus Bern nach
+Lausanne flüchten, und gerade soll der Tanz im Waadtland losgehen,
+als zwischen den feindlichen Scharen der General Rapp sechsspännig
+vorfährt, den Einspruch Bonapartes zu bringen, dem ein nachrückendes
+Heer von vierzigtausend Franzosen ein unwiderstehliches Gewicht gibt:
+die einzelnen Kantone sollen ihm, statt diesen Bruderkrieg zu führen,
+Abgeordnete nach Paris schicken, um dort unter seiner Aufsicht eine
+neue Verfassung zu beraten. Es bleibt den hitzigen Schweizern nichts
+übrig, als ihr Waffenzeug heimzutragen und die Tagsatzung statt in
+Schwyz in Paris vorzubereiten, weil sie -- wie ein Witzbold sagt
+-- ihrem vielbeschäftigten Ehrenpräsidenten Bonaparte jetzt keine
+Schweizerreise zumuten dürften!
+
+Heinrich Pestalozzi hat diese Händel als einen Streit von Bauleuten
+angesehen, die sich über den Plan ihres neuen Hauses nicht einigen
+können und dem alten nachjammern, obwohl sie es selber eingerissen
+haben; er ist zu der bitteren Einsicht gekommen, daß es bei solchen
+Parteikämpfen mehr um die Macht, zu regieren, als um das Volkswohl
+geht. Bevor noch das sechsspännige Fuhrwerk des Generals Rapp in
+die Schweiz eingefahren ist, hat er in einer Flugschrift die vier
+Eckpfeiler aufgestellt, mit denen das Haus einer helvetischen
+Verfassung besser als mit Flinten und Kanonen unter Dach zu bringen
+wäre: wirkliche Volksbildung, unbestechliches Gericht, allgemeine
+Militärpflicht und gerechte Finanzen. Der Grundstein aber müsse unter
+dem Pfeiler der Volksbildung eingesetzt werden; weil an die anderen
+Pfeiler ohne diesen ersten nicht zu denken wäre, sei er dem heutigen
+Geschlecht das einzig Erreichbare. Er hat die Schrift in wenigen Tagen
+hingeschrieben; sie stellt ihn auf den schmalen Grat, wo der Haß von
+beiden Seiten aufbrandet, aber als die Wahlen für die Tagung in Paris
+vorüber sind, ergibt sich, daß er an zwei Stellen, von den Bauern des
+Emmentals wie von dem Landvolk in Zürich, als Abgeordneter gewählt ist.
+
+Ich werde nicht sechsspännig fahren, scherzt er, mein Wagen geht auf
+zwei Beinen! Obwohl er dann um der unruhigen Zeiten und der Mühsale
+willen -- auch geht es in den Winter -- die Reise doch im Wagen machen
+muß, fährt er fröhlich und mit besonderen Hoffnungen für seine Sache
+ab. Seitdem er seine Anstalt in Burgdorf hält, haben drei französische
+Gesandte in Bern gewechselt, doch jedem sind seine Dinge mehr als
+einen flüchtigen Besuch wert gewesen; auch weilt Stapfer in Paris,
+der ihm die rechten Türklopfer in der Stadt zeigen kann, darin die
+Zukunft Europas zurechtgehämmert wird. Und seine Anstalt läßt er gut
+besorgt zurück, weil Anna sich tapfer entschließt, während seiner
+Abwesenheit das Hausregiment zu führen. Es ist seine zweite Reise und
+in der Strecke fast der Fahrt nach Leipzig gleich, die er vor zehn
+Jahren machte; auch werden die Tage wieder in die selbe Kette von
+Zollhäusern, Posthaltereien und Gasthöfen eingespannt, nur daß die
+Uniformen französisch sind. Doch als er am zwölften Nachmittag die
+Unermeßlichkeit der Stadt um den blinkenden Lauf der Seine daliegen
+sieht, ist es ein anderes Wesen als das Landstädtchen an der Elster. So
+hat sich auch sonst alles um mich geweitet, denkt er: damals kam ich um
+eine Familienerbschaft, heute schickt mich mein Volk für seine Zukunft;
+in Leipzig lief ich als Unbekannter die Türen kleinstädtischer Behörden
+ab, hier werde ich als Ehrenbürger der Franzosen vor ihren Konsul
+treten!
+
+Aber er bekommt den Machthaber nur einmal zu sehen, als Bonaparte
+unvermutet in ihren Saal tritt, anscheinend zufällig, als ob er nur
+den Durchgang benützte, aber eindrucksvoll mit seinem goldflirrenden
+Gefolge. Das letzte Wort der unterbrochenen Rede findet noch Zeit,
+in das Stuckwerk der Decke zu flattern, dann ist die starre Ruhe
+der Augen da, die alle auf den kleinen Mann blicken, der, im Alter
+der jüngste unter ihnen, Europa mit dem Ruhm seines Namens erfüllt
+hat. Er läßt sich kurz rapportieren, wobei er mehr durch die Augen
+als die Ohren zu hören scheint, schneidet mit der Handbewegung eines
+ungeduldigen Knaben die Rede ab und wendet sich mitten durch die
+Reihen, sie gleichsam überrumpelnd, einigen Köpfen zu, die ihm ins
+Auge fallen. Auch Heinrich Pestalozzi fährt unvermutet eine Frage ins
+Gesicht; er ist geistesgegenwärtig genug, eine Antwort zu finden, die
+den Machthaber festhält, sodaß der sich schon halb im Weitergehen noch
+einmal zu ihm wendet. Heinrich Pestalozzi merkt sofort, daß er mehr als
+ein Name für ihn ist, er umklammert ihn gleichsam mit Worten und sieht
+mit einer glücklichen Hoffnung, daß in dem kalt forschenden Blick etwas
+von ihm selber zu leben beginnt. Kein Zweifel, daß er den Konsul der
+Franzosen mehr als einer der Männer vor ihm interessiert; während die
+andern im Kreis zurückgetreten sind, weiß er auf die Zwischenfragen
+des blassen und verarbeiteten Gesichtes ebenso rasch zu antworten:
+Jetzt oder nie, denkt er, ist meine Stunde da! Auch noch, wie er in
+hastig abgerissenen Sätzen von der Volksbildung spricht -- daß sie das
+Fundament jeder wirklichen Verfassung und ohne sie alles nur der Schein
+einer Gesetzgebung sei -- hört der Konsul noch sichtbar nachdenklich
+zu, als ob er versuche, den Gedanken bei sich einzustellen. Irgendwie
+scheint ihm das nicht zu geraten; er klopft ein paarmal unwillig mit
+der Fußspitze, und während Heinrich Pestalozzi noch von Worten der
+Zukunft überströmt, ist er für den Mann der Gegenwart nur noch ein
+unangenehmer Greis, der ihm mit seinen haspelnden Armen an die Brust
+will: Ich kann mich nicht in euer Abc mischen, sagt er spöttisch und
+verläßt unverzüglich den Saal, als ob er versehentlich in eine Schule
+geraten wäre.
+
+Heinrich Pestalozzi bleibt in dem Kreis der schadenfrohen und
+bestürzten Gesichter, die wieder an ihre Plätze gerufen werden, und
+braucht lange, bis er seinen Stuhl findet; aber während die Verhandlung
+weiterstolpern will, kommt ihm alles wie eine leer laufende Mühle vor.
+Noch immer ist er mit dem blassen Mann allein in dem Saal: Wir beiden,
+denkt er -- und tritt über Scham wie Hochmut hinweg in den Bereich des
+Menschengeistes, wo die Persönlichkeit aufgibt, sich selber zu gehören
+-- wir beiden sind verschieden an dem Gefährt der Menschheit beteiligt:
+er will sein Lenker sein, und ich möchte haltbare Räder machen; er aber
+kanns nicht abwarten, weil er nur seine Stunde hat, drum knallt mir
+seine Peitsche um die Ohren.
+
+Herab mit dem Schild, wenn die Sache weg muß! sagt er zu seiner
+eigenen Erstaunung laut in die Verhandlung hinein und geht durch die
+Hinterpforte hinaus, wie der andere durch die Flügeltüren gegangen ist.
+
+
+ 84.
+
+Heinrich Pestalozzi merkt bald, daß der Pariser Wind der helvetischen
+Republik ungünstig weht. Die Franzosen haben genug Menschenrechte
+proklamiert, und Bonaparte hält wieder Hof in den Tuilerien; er
+braucht Glanz und Aufwand um sich, und die Aristokraten von Bern
+passen besser in seine Pläne als die hartnäckigen Unitarier. Bevor
+die Verhandlungen beginnen, ist die Schweiz durch sein Dekret schon
+wieder in neunzehn Kantone eingeteilt; was den Abgeordneten noch zu tun
+bleibt, sind nur die einzelnen Kantone, und es ist vorgesorgt, daß die
+Herren von Herkunft und Vermögen darin das Heft in Händen behalten.
+Heinrich Pestalozzi versucht es noch einmal mit einer schriftlichen
+Darlegung seiner Ansichten, aber er weiß nun schon, daß er Wasser in
+den Bach trägt. Selbst sein Ehrenbürgertum scheint bei den Franzosen
+des Konsulats schäbig geworden zu sein; er braucht nur zu sehen, wie
+die geputzten Herren und Damen seine Erscheinung belächeln, um sich
+aller Illusionen zu schämen: Sie müssen mich für ein großes Wundertier
+gehalten haben, wie ihren Cagliostro, spottet sein Grimm, nun bin
+ich bloß ein Mensch! Und wie es ihm mit seiner Kleidung und der Art,
+ihre Sprache zu sprechen, geht, so bleibt auch seine Methode mit all
+dem Umstand ihrer tiefen Begründung den Parisern eine belächelte
+Geheimniskrämerei; es brauchte nicht das unaufhörliche Geknatter ihrer
+Sprache in seinen Ohren zu sein, und die Nötigung, seine Herzensdinge
+dahinein zu sperren, um ihm seine Wesensfremdheit unter den Welschen
+bald unerträglich zu machen.
+
+So hält er es für zwecklos, das Ende der Händel abzuwarten; als Ende
+Januar die Hauptverhandlung ist, fährt er durch ein mildes Frostwetter,
+das die Wege trocken gemacht hat, im Sundgau schon auf Basel zu, und
+fünf Tage später holt ihn Anna am Stadthaus in Burgdorf aus der
+Post. Da hast du deinen Odysseus wieder! versucht er zu scherzen, um
+seiner Tränen Herr zu werden. Sie schafft ihm seinen Ranzen nach,
+den er vor Rührung vergessen hätte, und er meint das Lächeln um ihre
+schmerzensreichen Lippen zu sehen, als er ihre Stimme auf seinen Scherz
+eingehen hört: So bin ich mit fünfundsechzig Jahren gar deine Penelope?
+In Wahrheit, Pestalozzi, es war mir schwer, die Freier zu füttern; nun
+magst du wieder deinen Bogen spannen!
+
+Er findet aber alles aufs beste besorgt, und daß sie als Hausmutter in
+der Anstalt waltete, hat einen Segen hinein gegeben, der bisher fehlte;
+von den Kindern wie von den Gehilfen ehrfürchtig begrüßt, bringt sie
+eine ruhige Gangart in das Tagwerk. Der Bienenschwarm hat seine Königin
+erhalten! sagt Krüsi in seiner biederen Art, als Heinrich Pestalozzi
+sich verwundert, um wie weniger lärmend es bei den Mahlzeiten zugeht,
+nur weil sie still an ihrem Platz sitzt. Auch sonst hat sie der Anstalt
+wohlgetan: Briefe und Bücher sind in eine schöne Ordnung gebracht, und
+wenn er nun aus dem Trubel in seine Stube tritt, wohnt die Häuslichkeit
+darin. Daß es so bleiben könnte, denkt er jeden Tag; denn seitdem sie
+damals aus Hallwyl nicht wiederkam, ist seine Seite leer geblieben;
+und ob es bitter oder fröhlich mit seinen Plänen ging, daß ihre
+Abwesenheit ihm alles entkrönte, war immer die leise Trauer darin.
+Auch diesmal ist sie nur gekommen, an seiner Stelle das Hauswesen zu
+leiten, und mit heimlicher Sorge wacht er über ihre Schritte, ob sie
+nicht wieder zur Abreise rüsten werde. Doch läßt sie Wochen gleichmütig
+verstreichen, und er hofft schon, daß sie dauernd bliebe, als ihr mit
+den ersten Frühlingsblumen das Heimweh in die Säfte steigt. Sie ist
+im Winter schwer krank gewesen, nun kommt die Schwäche wieder über
+sie mit Todesahnungen: Ich möchte unsern See noch einmal sehen, klagt
+sie; aber als sie dann endlich nach Zürich zu ihren Brüdern reisen
+will, hat sie wohl seine erschrockenen Augen gesehen; denn andern Tags
+möchte sie wieder bleiben. Doch sieht er, daß die Unruhe in ihr nicht
+mehr rastet; ihr Ehrenplatz im Saal bleibt immer häufiger leer, da sie
+die Mahlzeiten allein nimmt: der Taubenschlag ist ihr zu laut, aber in
+ihrer Stube plagt sie die Einsamkeit.
+
+So steht sein Barometer mit ihr schon wieder auf veränderlich, als
+eines Tages ein Jüngling das Quecksilber rasch auf schön Wetter steigen
+läßt. Heinrich Pestalozzi bringt ihn aus Bern mit, aber er hat ihn
+nicht dort erst gefunden: Ich mußte nach Paris reisen, um meinen Jünger
+Johannes zu finden, scherzt er oft, so froh ist er selber, daß ihm
+der Thurgauer von Muralt dort in die Hände kam. Es fehlt ihm nicht
+mehr an Gehilfen, seitdem die dänische Regierung zwei junge Lehrer aus
+Kopenhagen sandte und die gebildete Welt Deutschlands von Burgdorf
+als einem Wallfahrtsort der Erziehung spricht; auch sind junge Leute
+von Geist darunter, aber alles Schwarmseelen und wie ihr Meister
+mehr auf stürmische Absichten als auf Sorgfalt gestellt, allmählich
+Burgdorf mit ihrer buntgewürfelten Absonderlichkeit erfüllend. Johannes
+von Muralt bringt nicht nur den Klang eines in der ganzen Schweiz
+bekannten Namens, sondern auch die Vorzüge einer guten Erziehung und
+gründlichen Bildung mit; als er zum erstenmal mit zu Tisch sitzt,
+sorgfältig gekleidet und frei von der hastigen Schüchternheit, die
+mit Empfindlichkeit gepaart das Erbteil einer durchgekämpften Jugend
+ist, schweigt Heinrich Pestalozzi und Anna spricht. Es sind freilich
+diesmal nicht die gewohnten Schuldinge; Johannes von Muralt ist durch
+drei Semester in Halle der Lieblingsschüler des Philosophen Friedrich
+August Wolf gewesen und hat in Paris mit dem Dichter Schlegel und
+seiner Gattin Dorothea freundschaftlich verkehrt: der Geist schöner
+Bildung lebt in seinen Gesprächen auf, der für Anna Schultheß seit der
+Erscheinung Klopstocks in ihrer Jugend die heimliche Liebe geblieben
+ist.
+
+So schließt sie den Jüngling mit einem Eifer ins Herz, der Heinrich
+Pestalozzi fast eifersüchtig macht, bis der Schalk in ihm den Vorteil
+erkennt. So schmerzlich er den Zwiespalt zum Vorschein kommen sieht,
+der seit Anfang zwischen seinen Absichten und ihren Neigungen bestand
+und schließlich zur Trennung ihrer äußeren Lebenswege führte -- obwohl
+sie durch alle Schicksalsschläge treu zu ihm stand -- das Leben hat ihn
+nicht so verwöhnt, daß er sich die Äpfel wie andere frank und frei von
+den Bäumen pflücken kann. Fast listig läßt er sie gewähren, da sie nun
+den See und ihre Abreise zu vergessen scheint: Wir Alten wollen die
+Kinder unseres Geistes haben, überlegt er, und da es uns beiden mit
+einem Sohn mißraten mußte, weil die Natur aus diesem Zwiespalt nichts
+machen konnte, müssen wir Ersatz für unsere ungesättigte Elternschaft
+suchen. Ich will ihr gern diesen Sohn gönnen, wenn sie mir damit die
+Mutter meines Hauses bleibt!
+
+
+ 85.
+
+Heinrich Pestalozzi lächelt fast hinterhaltig, als er Anna nicht
+lange danach den Johannes Niederer anbringt, der sein Pfarramt in
+Sennwald aufgegeben hat, um -- wie er sagt -- mit bei der Wiege der
+Menschenbildung zu sein: Nun habe auch ich wieder einen Sohn, und es
+ist seltsam, daß sie beide Johannes heißen, denkt er, als er neben
+dem schwarzen Muralt den roten Schopf Niederers sieht. Der hat auf
+seinem Dorf keine Zeit gehabt, sich an der Welt zu schleifen: mit
+neunzehn Jahren voreilig in den Pfarrdienst gekommen, hat er seit fünf
+Jahren in der Feldschlacht menschenfreundlicher Bemühungen gestanden
+und um Gottes willen seine wohlhabende Gemeinde im Appenzell mit dem
+armseligen Rheindorf Sennwald vertauscht; da haben andere Dinge als
+Bildungsformen gegolten, so sitzt er wie ein Glaubensstreiter aus
+dem Heerhaufen Zwinglis da. Heinrich Pestalozzi sieht, wie Anna fast
+erschrickt vor ihm, der mit seinen vierundzwanzig Jahren noch ein
+Jüngling wie Muralt, aber in Mannesgeschäften kantig geworden ist;
+Jakob und Esau, vergleicht er, in diesem fließt das stillere Blut von
+Anna, aber in jenem arbeitet mein Ungestüm!
+
+Als im selben Juli auch noch Tobler -- mit einer eigenen
+Erziehungsanstalt am hochmütigen Widerstand der Basler gescheitert --
+zu ihm zurückkommt, ist Heinrich Pestalozzi mit diesen dreien, mit
+Krüsi, Buß und dem Zustrom von Gehilfen aus aller Welt, die nur kurz
+bei ihm lernen wollen, auch für die Burgdorfer kein Steckenpferdritter
+mehr, der morgens aus dem Schloß zu ihnen herunter reitet: Der Weg geht
+zu steil, sonst würde es von Wagen nicht leer werden im Schloßhof, die
+täglich neue Fremde nach Burgdorf bringen, das aus einem bäuerlichen
+Städtchen durch ihn ein Hauptort der Schweiz geworden scheint. Schon
+was die Zöglinge -- längst über hundert -- an Besuch von Eltern und
+Verwandten nachziehen, würde für die Gasthäuser und Fuhrleute etwas
+bedeuten, dazu die Pädagogen und Pfarrer aus aller Welt: das Schloß
+ist wirklich ein Taubenschlag geworden, und die Bürger bestaunen die
+fremden Vögel, die seiner Berühmtheit zufliegen.
+
+Längst schon denkt Anna nicht mehr daran, daß sie nur für die Zeit
+seiner Pariser Reise nach Burgdorf gekommen ist; sie sieht endlich die
+Erntewagen in die Scheune fahren, die weder seine Landwirtschaft noch
+alle Bemühung seines hingehetzten Lebens jemals zu ernten vermochte.
+Daß kein Gold daraus in seine Taschen fließt, weiß sie wohl; trotzdem
+die meisten Zöglinge zahlen -- wenn auch nicht alle den vollen Preis
+-- sind es doch viele Mäuler, die täglich auf Nahrung warten, und wenn
+die Haushaltungskünste der geborenen Fröhlich, ihrer schaffnerischen
+Schwiegertochter, nicht wären, würden die Sorgen sich manchmal dichter
+auf ihrem Schreibtisch sammeln; aber daß der angeblich unbrauchbare und
+vor der Zeit entmündigte Mann nun vor sich selber und vor dem Spott der
+Tüchtigen im Glanz eines Ruhmes dasteht, der alles für sie Erreichbare
+in den Schatten enger Bürgerlichkeit stellt: das ist für sie wie eine
+Abendsonne, die in der letzten Stunde doch noch über einen trübseligen
+Regentag gesiegt hat.
+
+So wird es ein bewegter Geburtstag für sie, als ihr die fünfundsechzig
+Jahre vollgezählt werden, und es ist unwirklich schön, daß er auf
+einen Sonntag fällt. Muralt und Niederer haben ihn als ein Sommerfest
+vorbereitet, das bei kühlsonnigem Augustwetter im Schloßhof gefeiert
+wird. Da sind Bänke und Tische aufgestellt, auch ist ein Boden
+aufgeschlagen, einen Tanz oder ein Spiel zu machen, und solange die
+Sonne in den Hof geschienen hat, mag sie nicht ein so buntes Getümmel
+darin gesehen haben wie an diesem Tag. Das Gemäuer rundum ist mit
+Laubgewinden und Schweizerfahnen aller Kantone geschmückt, und eine
+Musikkapelle -- von den Zöglingen unter Bußens Leitung gestellt --
+sorgt, daß die Schweizerlieder auch Begleitung haben.
+
+Als dann die Röte sich aus dem Licht der Sonne ablöst und umso wärmer
+zu leuchten scheint, jemehr die Wärme versiegt, treten ihrer viele an
+die Mauer, nach den Bergen zu schauen, die langsam von der Glut voll zu
+laufen scheinen. Auch Heinrich Pestalozzi ist mit Muralt vorgegangen,
+und Mutter Pestalozzi, wie sie an diesem Tag mehr als hundertmal
+begrüßt worden ist, wird von Niederer in einem galanten Anfall am Arm
+herzu geleitet. Wie sie dastehen, mag über Tobler, der seit seinem
+Mißerfolg in Basel leicht wehmütig wird, der Schatten einer Eifersucht
+fallen, daß er nun sichtlich an die dritte Stelle geraten ist; als
+ob er den Meister in die gemeinsame Frühzeit zurück führen müsse,
+erinnert er ihn an den Abend, wo sie zu vieren hier standen und er
+sein Beispiel vom Haus des Unrechts sagte. Daß die andern davon nichts
+wissen, tut ihm sichtlich wohl, und als sie darum drängen, versucht
+er es mit eigenen Worten zu sagen, wie der Anteil an den Lebensgütern
+in drei Stockwerke geteilt wäre, darin die Wenigen, wenn sie wollten,
+Gottes Herrlichkeit aus allen Fenstern sähen, die Mehreren nur den
+Glanz an den Hofwänden, während die Vielen im Keller nicht einmal den
+trüben Schein in ihren Löchern zu deuten vermöchten.
+
+Heinrich Pestalozzi, der die Schwermut im Grund seiner Heiterkeit schon
+den ganzen Tag gefühlt hat, spürt den Schrecken bei der ersten Frage
+ans Herz klopfen; während der ahnungslose Erzähler vor den andern seine
+Erinnerung ausbreitet, quillt das schwarze Wasser der Trübnis in ihm
+auf, so überkommt ihn der Zwiespalt zwischen dem lauten Freudentag und
+der verschütteten Heimlichkeit seiner Absichten. Er wagt nicht, Annas
+Blick zu suchen, so wehmenschlich ist ihm zumut, legt Muralts Hand
+von seinem Arm weg auf den Mauerrand, und ehe die andern wissen, was
+ihn ankommt, läuft er durch ihre Reihen hinaus und über den unteren
+Hof vors Tor. Da breitet sich die abendliche Landschaft in ihrer
+Sommerfülle aus, und die Dächer der Bürgerhäuser stehen behäbig darin,
+sodaß ihm der Schritt auch hier gehemmt wird: Warum hab ich es nicht
+im Birrfeld vermocht? Ein Armenkinderhaus habe ich gewollt und die
+Pensionsanstalt sollte mir nur die Mittel dazu geben: nun sind die
+Mittel längst selber Zweck. Ich sitze als Glücksvogel hier auf dem
+Schloß und spreize das Rad meiner Federn; im Birrfeld, oder wo sonst
+die Not der Zeit ist, geht alles wie vor dreißig Jahren, nur diesem
+Bürgerort hab ich neues Fett gemästet!
+
+Er weiß nicht, daß er weint, aber als sich das Gesicht Annas zu ihm
+beugt, die ihm allein nachgegangen ist, vermag er ihre Augen vor Tränen
+nicht zu erkennen; auch quillt der Zorn noch so in ihm, daß er fast
+nach ihr schlägt. Du hast gesiegt! schreit er und schlägt den Kopf in
+beide Fäuste: der Armennarr ist tot! Ich hab verloren. Sie streichelt
+und tröstet ihn nicht, wie er fürchtet, sie setzt sich still gegenüber,
+wo ihr der andere Torstein einen Platz anbietet, und wartet ab, bis aus
+der Mure seiner Verzweiflung die gröbsten Blöcke ins Tal gefahren sind
+und endlich der zähe Schlamm seiner Verbitterung zum Stehen kommt. Sie
+hat ihn klug verstanden, daß es zwei Welten wären: ihre Stille, den
+Wohlstand herzugeben, und seine Unrast, ihn zu vertun; auch hat sie das
+böse Wort nicht überhört, warum Kampf sein müsse zwischen ihm und ihr,
+zwischen Mann und Frau durchs Leben? Aber als es dann still wird, weil
+nichts mehr fließt, und nur ein Wind vom Tal sie beide mild bestreicht,
+die in der sinkenden Dunkelheit am Tor dasitzen, als ob sie all das
+junge Leben dahinter bewachen müßten gegen die unheimlichen Gestalten
+der Nacht, fängt ihre Stimme an zu sprechen, daß nach dem Getöse seines
+Bergsturzes nun wieder ein Bach hörbar wird: Pestalozzi, sagt sie und
+wägt die Worte: ich dachte, daß wir vor Gott gleich wären, arm und
+reich! Warum willst du das Unrecht nach unten in der Menschenordnung
+mit Unrecht nach oben vergelten? Oder sollten Kinderseelen schon darum
+unwert sein, weil die Eltern Geld im Beutel haben? Was nötig ist, sind
+nicht die Waisenhäuser im Birrfeld oder hier, sondern daß du dein
+Vorbild und deine Lehre hinterläßt. Am Ende kommt es darauf an, was
+wir gewesen sind, hat dir der Menalk gesagt, als wir jung waren und
+er schon sterben mußte. Nun, wo wir vierzig Jahre älter geworden sind
+und alt an dem Tor dasitzen, will ich das Wort noch einmal sagen; doch
+hat es sich verändert: Am Ende, Pestalozzi, fragt Gott nicht, was wir
+gewesen sind, er rechnet, was aus uns werden möchte!
+
+
+ 86.
+
+Heinrich Pestalozzi hat seine Unternehmung im Namen der helvetischen
+Republik begonnen; seit der Tagsatzung in Paris gibt es aber nur
+noch einen Schweizer Bund mit neunzehn selbstherrlichen Kantonen:
+sein Landesherr ist nun die bernische Regierung, ihr gehört das
+Schloß Burgdorf, und er muß zuwarten, ob sie ihn darin wohnen läßt.
+Im vierspännigen Wagen, wie ein Landesfürst, kommt eines Tages der
+Regierungspräsident von Wattenwyl an, seine Anstalt zu besichtigen;
+obwohl es schwierig und steil geht, muß ihn der Kutscher bis in den
+Schloßhof fahren, und als ihn Heinrich Pestalozzi dann begrüßen
+darf, ist es kaum anders, als wenn ein Schloßherr sich von seinem
+Kastellan Aufwartung machen läßt. Er schnurrt durch alles hindurch
+mit einem deutlichen Mißbehagen an dem landfremden Zürcher, der sich
+hier eingenistet hat und der Regierung mit seiner Berühmtheit und
+dem intoleranten Heer der deutschen Geister lästig wird, dem sogar
+französische Gelehrte, Generale und Minister beistehen, sodaß selbst
+eine allmächtige Kantonsgewalt zuwarten muß. In einigen Stunden hat
+er nach der Art solcher Regierungsherren das Ergebnis einer Arbeit
+besichtigt, die Heinrich Pestalozzi ein Lebensalter mühsamer Kämpfe
+gekostet hat, und ist im Dampf seiner eigenen Bedeutung wieder
+abgefahren.
+
+Seine Haltung in den Verfassungshändeln hat ihn den Aristokraten, die
+nun wieder auf ihren alten Plätzen sitzen, mißliebig gemacht, und den
+Kirchlichen ist er immer mit seiner Religion ein Aufwiegler geblieben:
+nun, wo er sichtbar zu Paris in Ungnade und nicht mehr durch ein
+helvetisches Direktorium geschützt ist, fängt die Hetze an, und noch
+in dem Sommer muß sich Heinrich Pestalozzi durch eine Eingabe an den
+Kirchenrat wehren, als fehle es in seiner Anstalt -- wie die Anklage
+lautet -- an einem richtigen Religionsunterricht. Er überläßt die
+Verteidigung Niederer, dem Religionslehrer und ehemaligen Pfarrer,
+und zum erstenmal erhebt dieser Herold seine dröhnende Stimme für den
+Meister.
+
+Unterdessen ist aus dem Lehrerseminar wie aus der Waisenanstalt nichts
+geworden, und die Zuwendungen der Regierung sind ihm gestrichen; das
+einzige, was er von ihr noch hat, ist das Gebäude, und auch darin wird
+es unsicher: Mit der neuen Ordnung ist ein Oberamtmann nach Burgdorf
+gekommen, der zu seinem Ärger in einem Privathaus wohnen muß, während
+oben im Schloß sich das fahrende Volk der Abc-Schützen breit macht. Er
+fängt an, bei der Regierung in Bern um eine Änderung dieses krankenden
+Zustandes zu mahnen, und weist alle anderen Vorschläge als unpassend
+zurück; als es gegen Weihnachten geht, kann Heinrich Pestalozzi nicht
+mehr zweifeln, daß ihm zum Frühjahr die Räumlichkeiten gekündigt
+werden: »Es war das Haus der Herren und soll wieder das Haus der Herren
+werden,« schreibt er an einen Freund, »ich hoffe, mein Ei sei bald
+ausgebrütet, und dann achtet es auch der schlechteste Vogel nicht mehr,
+wenn ihm die Buben sein Nest vom Baum herabwerfen.«
+
+Doch kann die bernische Regierung angesichts der Schwärmerei, mit
+welcher die gelehrte Armee Deutschlands die Vorteile dieser Anstalt
+ausposaunt -- wie der Herr von Wattenwyl in einem Gutachten schreibt --
+die Gefahr nicht herausfordern, mit diesem intoleranten Heer öffentlich
+in eine Fehde zu geraten: so bietet man ihm das leere Kloster
+Münchenbuchsee an, und im Januar fährt Heinrich Pestalozzi mit einer
+Abordnung hin, es zu besichtigen. Er findet ein niedriges Gebäude,
+das eine Zeitlang als Spital krätzischer und venerischer Soldaten
+gedient hat, seitdem verwahrlost in einer melancholischen Ebene dasteht
+und weder die grünen Hügel Burgdorfs noch sonst etwas von seinem
+malerischen Reichtum um sich sieht. Am liebsten möchte er, all dieser
+Dinge müde, seinen Stecken nehmen und in den Aargau zurückwandern;
+aber es ist unmöglich, jetzt aus dem Kreis der Zöglinge und Gehilfen
+fortzugehen; in den Möbeln, Betten und Lehrgegenständen stecken ihm
+schon wieder zwanzigtausend Schweizerfranken, die er nicht lassen
+kann, auch brennt der Abend an dem Tor immer noch in seiner Seele.
+Um Anna zu halten, nimmt er das Obdach an, das ihm schäbiger Weise
+zunächst bloß für ein Jahr instandgesetzt werden soll. Nur nicht wieder
+als ein Unbrauchbarer vor ihr dastehen, denkt er, als er die vorläufige
+Abmachung unterzeichnet, und ahnt nicht, daß diese Kränkung schon auf
+ihn wartet.
+
+So zieht dieses Frühjahr hin -- es ist das fünfte seiner Burgdorfer
+Zeit -- wie wenn das Jahr mit ihm erschrocken seinen Lauf einstellen
+wolle; denn ob das Emmental den Blumenteppich seiner Wiesengründe
+ausbreitet, und ob die Wälder täglich grüner werden: im Schloß fängt
+heimlich das Aufräumen an, die Möbel warten, daß sie von kräftigen
+Händen hinausgetragen werden -- sie sind sich selber ihre Särge, sagt
+Heinrich Pestalozzi -- und wie auch ein Änderungsgedanke auftaucht,
+gleich tritt ihm das Bedenken in den Weg, daß mit den Ferien der Auszug
+beginnen soll. Als der Tag da ist, werden die meisten Zöglinge in
+Trupps mit je einem Lehrer auf die Reise geschickt, meist ins sonnige
+Waadtland hinüber, und nur Freiwillige bleiben, den Umzug mitzumachen.
+Auch Anna geht nun auf ihre Reise an den Zürcher See: Ich bin das
+erste Möbel, das ihr fortschafft, scherzt sie, als er mit ihr in der
+Morgenfrühe zur Post hinuntergeht; denn sie selber hat tapfer dableiben
+und helfen wollen. Er hört ihre Worte garnicht, weil seine Gedanken in
+Sorgen sind, daß sie nicht wiederkommen möchte: Ich war ein halbes Jahr
+lang im Traum, sagt er, und stellt ihre Reisetasche hin, dem Gottlieb
+einen Klatschmohn abzunehmen, den der für die Großmutter anbringt:
+Jetzt habt ihr mich wach gemacht, und du gehst fort! Er will ihr die
+Blume geben, aber der fallen die roten Blätter ab, daß nur die grüne
+Fruchtkapsel mit dem Deckel bleibt. Das kann die Großmutter nicht mehr
+brauchen! klagt er zu dem Kleinen und will das Ding wegwerfen; sie aber
+nimmt ihm die Kapsel rasch aus der Hand und lächelt ihn fast listig an
+mit einem Schulmädchengesicht: Bis ich nach Münchenbuchsee komme, ist
+der Same reif, dann streuen der Gottlieb und ich ihn aus, damit wir
+doch ein Andenken vom Schloßberg haben!
+
+
+ 87.
+
+Am selben Tag, da Heinrich Pestalozzi von diesem Abschied fröhlich
+wird und den ernsthaften Niederer durch die Mitteilung in Verwirrung
+bringt, daß er in Münchenbuchsee wieder Landwirtschaft treiben und
+lauter Felder mit Klatschmohn anbauen wolle, erscheinen mittags zwei
+ländliche Männer im Schloß, die garnicht aussehen, wie die sonstigen
+Wallfahrer. Sie kommen aus Peterlingen im Waadtland und bringen einen
+Antrag der Stadt, mit seiner Anstalt dorthin zu kommen; sie wollen
+ihm ihr Schloß mit allen Gärten lebenslänglich zur Verfügung halten,
+ihm das Ehrenbürgerrecht mit einer Pension geben und jährlich ein
+bestimmtes Maß von Korn, Weizen, Wein und Holz. So bin ich immer noch
+im Traum, sagt er, und reicht den Männern gern die Hand; auch müssen
+sie zum Mittag bleiben, und es wird fast ein Fest, das er mit Niederer
+und Krüsi -- den einzigen Gehilfen, die noch bei ihm sind, weil der
+Auszug schon begonnen hat -- und den Bürgern von Peterlingen feiert.
+Wir werden einen Orden der neuen Menschlichkeit gründen und all die
+verlassenen Schlösser der Gewaltherren in der Schweiz mit neuem Leben
+bevölkern, schwärmt Niederer, der gern bei einem Glas ins Weite
+schweift. Aber Heinrich Pestalozzi, der die enttäuschten Gesichter
+der Männer sieht, lenkt schalkhaft ein: Zuerst müssen wir einmal nach
+Münchenbuchsee auswandern und sehen, ob es von da einen Fahrweg für
+unsere Möbelwagen nach Peterlingen gibt!
+
+Der Abschied hat danach seinen Stachel verloren; als andern Tages noch
+ein Herr von Türck aus Mecklenburg anreist, ein Päckchen neuer Liebe zu
+bringen, machen sie mit dem und den Burgdorfer Freunden, die wehmütig
+dabei sind, einen schwärmerischen Gang nach Kirchberg hinüber, bevor
+sie die letzte Nacht in Burgdorf schlafen -- nun schon nicht mehr im
+leergeräumten Schloß, sondern beim Stadthauswirt -- und andern Morgens
+mit der ersten Sonne nach Münchenbuchsee wandern, wo die Zöglinge mit
+Tobler sehnsüchtig ihren Vater erwarten.
+
+Es sind drei Stunden Wegs, und sie müssen an Hofwyl vorbei,
+wo Fellenberg, der Sohn des Ratsherrn, seit fünf Jahren eine
+landwirtschaftliche Musterwirtschaft als Grundlage seiner
+Erziehungsanstalt für alle Stände eingerichtet hat. Wir suchen die
+Goldkörner der Methode im Land, und er prägt die Goldstücke daraus,
+sagt Niederer sarkastisch, als sie in einiger Entfernung an der
+sauberen Erscheinung seiner Gebäude vorüberwandern und überall in
+den Feldern und Gärten die Zeichen der wohlhabenden Ordnung sehen.
+Aber Heinrich Pestalozzi verweist ihm den Spott; er weiß zwar, daß
+Fellenberg gleich mit einer Viertelmillion Franken das Gelände ankaufen
+und aus dem Vollen wirtschaften konnte -- wo er sich notdürftig
+durchhalf und gerade noch in diesem Augenblick erstaunt ist, daß er
+mit Ehren aus den Burgdorfer Schulden kam -- aber er weiß auch, daß
+der Sohn seines alten Freundes, des Ratsherrn in Verehrung zu ihm groß
+geworden ist, und daß diese Anstalten nur eine Frucht aus Lienhard und
+Gertrud sind: »Er deckt wenigstens das Elend nicht mit dem Mist der
+Gnade zu, wie es die andern machen!«
+
+Als sie dann aber gegen Münchenbuchsee kommen und die wenigen Zöglinge,
+die nicht in Ferien sind, unter Toblers Leitung mit einem Schweizerlied
+anmarschieren, hält seitwärts ein Reiter, als ob die kleine Truppe
+ein Vorposten seines Regiments wäre; es ist Fellenberg, der nach
+der jubelnden Begrüßung respektvoll herzu reitet: auch er habe den
+Nachbarn nicht unbegrüßt einziehen lassen wollen! Er bleibt nicht auf
+seinem stolzen Gaul sitzen, als er das sagt; aber gerade, wie er vom
+Pferd springt und seine hohe Gestalt beugt, ihn zu umarmen, wird der
+Unterschied zwischen dem gepflegten Aristokraten und dem ärmlichen
+Greis so deutlich, daß Niederer für seinen Meister gekränkt beiseite
+geht. Auch Heinrich Pestalozzi ist durch die Umstände dieser Begrüßung
+verstimmt: Wir sind zu nahe an den Schloßherrn von Hofwyl geraten,
+sagt er nachher zu Tobler, nun reitet er schon auf seinem Vorwerk herum!
+
+Er bemerkt nicht, daß Tobler betreten schweigt, so sehr bewegt ihn
+die Sorgfalt, mit der die geborene Fröhlich schon Ordnung in die
+neue Wirtschaft gebracht hat: Du bist die Schwalbenmutter, scherzt
+er zu ihr, wir sperren die hungrigen Schnäbel auf, und du hast immer
+etwas hineinzutun. Tobler schweigt zum zweitenmal; er weiß, daß ihre
+Haushaltungskünste allein es nicht vermocht hätten, der Anstalt einen
+so guten Abgang aus Burgdorf zu sichern, und daß die Sorge vor den
+Gläubigern manche Woche auf Pestalozzi gelegen hat, bevor sich alles
+unerwartet löste; er weiß auch, wie diese Lösung zustande kam, und er
+ist mit Muralt, seinem Mitverschworenen, fest entschlossen, den Meister
+endlich aus allen wirtschaftlichen Sorgen zu befreien. Noch muß er die
+Rückkehr des andern abwarten, aber als die kurzen Ferien vorüber sind
+und von allen Seiten die Vögel wieder zufliegen, der melancholischen
+Gegend zum Trotz in Münchenbuchsee ihr Geschwärm wieder zu beginnen,
+gehen die beiden entschlossen ans Werk: Wenn die Anstalt in Burgdorf
+zuletzt nur noch mit Mühe zu halten war, steht sie hier, wo sie sich
+ohne Zuschüsse der Regierung ganz aus sich selber erhalten muß, nur an
+der Schwelle neuer Schwierigkeiten. Sie haben die Ordnung in Hofwyl
+gesehen, und da sie die Verehrung Fellenbergs für den Verfasser von
+Lienhard und Gertrud kennen, ist es ihr Plan, die wirtschaftliche
+Leitung der Anstalt in die festen Hände dieses Mannes zu legen, um
+Heinrich Pestalozzi für seine wertvolleren Dinge unabhängig zu machen.
+Nichts als treue Liebe führt sie auf diesen Weg, an dem die Sorge, ihn
+nicht zu verletzen, die Meilensteine setzt.
+
+Mit vorsichtigen Andeutungen und Besuchen in Hofwyl, mit Besorgnissen
+über die ungewisse Zukunft, mit Mahnungen an sein Alter und was er
+der Methode noch schuldig sei, bringen sie ihn endlich zu einer
+Zusammenkunft mit Fellenberg. Sie findet, damit der Boden neutral sei,
+unter einer Linde statt, die ziemlich in der Mitte zwischen Hofwyl
+und Buchsee mit einer alten Steinbank steht. Fellenberg kommt diesmal
+nicht geritten, doch trägt er die Reitgerte in der Hand, und zwei Hunde
+kläffen ihm vorauf. Heinrich Pestalozzi hat um so weniger eigensinnig
+scheinen wollen, als Muralt und Tobler die Vertrauten Annas unter den
+Gehilfen sind; er sieht dem Mann mit der Reitgerte und den Hunden nicht
+einmal mißmutig entgegen, da er sich seiner Sache sicherer fühlt,
+als seine Harmlosigkeit merken läßt. Aber wie sie dann anfangen zu
+sprechen, sind es drei gegen ihn, und jedes Wort wird so sorgsam auf
+die Goldwage seiner Empfindlichkeit gelegt, daß er unmöglich hart und
+abweisend gegen soviel treue Vorsorglichkeit werden kann: Es ist ein
+Dachsfang, wo ich alter Kerl in die Sonne gelockt werden soll, denkt
+er und läßt sie sprechen, bis dem blassen Tobler die Schweißperlen
+auf der Stirn stehen und Muralt verzweifelt die Hände reibt. Nur der
+selbstsichere Fellenberg verliert die Zuversicht nicht und entfaltet
+ein Papier aus der Brusttasche: ob er ihm einmal den Entwurf einer
+Übereinkunft vorlesen dürfe? Heinrich Pestalozzi hat nie recht zuhören
+können, wenn einer etwas aus einer Schrift vorlas; er läßt die Worte
+fließen und fühlt fast, wie sie an seinem Rock heruntertropfen. Zum
+Schluß nimmt er die Handschrift, in keiner andern Absicht, als den
+dreien die Enttäuschung nicht zu fühlbar zu machen. Wie dann aber seine
+Augen, fast so taub wie vorher seine Ohren, über die Buchstaben laufen,
+tut es ihm unvermutet einen Stich zwischen die Rippen: Haben wir nicht
+heute den fünfzehnten Juli? fragt er und bringt den Zeigefinger nicht
+von dem Datum fort, das am Schluß steht. Beschlossen auf den ersten
+Juli 1804. Sie wollen ihm erklären, daß dies nur um des Semesters
+willen so zurückgeschrieben sei; aber seine Gedanken sind schon Milch
+auf dem Feuer: er reißt den Schriftsatz in zwei Fahnen und wirft sie
+den Hunden hin, die ihn sofort anbellen und ihm, als er die bestürzten
+Mienen und beruhigenden Worte abwehrend davon läuft, in die Hacken
+fahren, sodaß ihr Herr sie mit der Pfeife zurückholen muß.
+
+Sie haben mich verhandelt wie eine Kuh! schreit ihm sein Grimm in
+die Ohren, während er seitwärts in das Wäldchen läuft, sich da einen
+Schlupfwinkel zu suchen; aber erst, als er sich gegen das Gewässer
+verlaufen hat, das seine Binsenfelder vor ihm auftut und -- wo seine
+Fläche durchblinkt -- den langen Tierrücken des Jura spiegelt, merkt
+er, daß ihm der Stich ein Gift beibrachte: warum Muralt und Tobler
+und nicht die andern? Weil Anna dahinter steht? Er sieht sie wieder
+abfahren mit der Mohnkapsel, davon ihm die roten Blätter abgefallen
+sind, er hört ihr Wort und sieht ihr Lächeln: Ich dachte, klagt er
+laut in den Sommertag, ich wäre endlich etwas vor ihr gewesen! Nun war
+ich doch im Traum und bin erwacht in meine Unbrauchbarkeit!
+
+Weit in der Ferne tut es einen Schuß von einem verlorenen Donnerschlag,
+und über den Jura bläht sich ein Wölkchen grellweiß in den blauen
+Himmel. Daß es ein Gewitter würde und mich kalt machte, damit es
+endlich einmal ein Ende hätte mit diesem Strom von Irrtum und Unrecht,
+darin mein Leben geflossen ist! Es bleibt aber schön, und er geht
+stundenlang auf dem weichen Moosboden hin, bis die Frösche aus dem
+Röhricht quaken. Sie werdens auch schon wissen! zürnt er noch einmal,
+dann überläßt er sich willig der dämmrigen Traurigkeit, bis die leise
+Nacht kommt und ihn doch noch den Heimweg finden läßt: Bist du es, will
+er flüstern, als ihm ihre Gestalt zur Seite schreitet; sie nickt nur
+und sieht ihn kaum an; da merkt er, daß es die Jungfrau Anna Schultheß
+ist, die mit einem Strauß Frühlingsblumen an das Grab Menalks will.
+Sie haben mir das Tor zugemacht, weil ich zu spät gekommen bin! klagt
+er und staunt, wie weit sich der Weg über den Kirchhof zieht. Auch
+weiß er nicht, warum ein Licht auf dem Grab brennt. Bis Niederer ihm
+aus dem Schein entgegentritt und der Spuk verschwindet, weil er den
+Klostergiebel in Münchenbuchsee erkennt.
+
+
+ 88.
+
+Nach diesem Abend fühlt Heinrich Pestalozzi sein Dasein in
+Münchenbuchsee nur noch wie einen Krug, der an einem Sprung leer
+läuft; er widerstrebt den Freunden nicht mehr und unterzeichnet den
+Dienstvertrag, wie Niederer das Schriftstück nennt. Wenn Fellenberg
+angeritten kommt und mit Sporen durch den Hof klirrt, schließt er
+sich in sein Zimmer ein, das er auch sonst wenig verläßt. Er hat
+Wandergedanken, aber er findet kein Ziel, bis eine Mahnung aus Ifferten
+kommt. Dort hat ihm der Stadtrat schon vor den Männern von Peterlingen
+das Schloß des Herzogs von Zähringen angeboten; er ist auch einmal im
+Frühjahr dort gewesen und hat das viertürmige Gebäude angesehen, aber
+er fürchtet sich vor dem welschen Land. Nun, wo die Stadt ihm schreibt,
+daß sie das Schloß von der Regierung angekauft habe und seine Wünsche
+vernehmen möchte, wie es einzurichten sei, kommt die Aufforderung
+seiner Sehnsucht recht, ganz aus dem Bereich seiner Enttäuschung
+fortzugehen. Abschied vermag er keinen zu nehmen; die Seinen denken,
+es gelte nur eine Fahrt, als sein Wagen in der Frühe gegen Aarberg
+davonrollt. Er wäre lieber gewandert, aber die Kräfte haben ihn
+verlassen, als ob nun das Alter mit einem Male käme.
+
+Die Stadtherren in dem verschlafenen Ifferten haben schon vernommen,
+daß der berühmte Volksfreund nur ein unscheinbarer Greis ist; sie
+finden seine Wünsche bescheiden und laden ihn zu einem Mahl ein, die
+Bekanntschaft festlich zu besiegeln. So kommt Heinrich Pestalozzi am
+dritten Abend, den er aus Münchenbuchsee fort ist, an eine Tafel mit
+ehrenfesten Bürgern, die beglückt sind, einen solchen Fang zu tun. Der
+schöne Wein mundet ihm, der sonst nur selten mehr als ein Kirschwasser
+nimmt, und die lebhaften Gespräche dieser weinfröhlichen Waadtländer
+helfen, ihm die Zunge zu lösen; gerade, daß sie französisch sprechen,
+läßt ihn auf ihre Worte hören, und daß er selber welschen muß, macht
+ihn unversehens lustig, sodaß die Stadthäupter zu ihrem Erstaunen den
+Greis mit dem Sorgengesicht lebhaften Geistes und schlagfertig finden.
+Ihn selber freilich stimmt der Abend, als er andern Tages erwacht,
+noch trauriger als zuvor; seit ihm die Verwirrung seiner Sinne an dem
+abendlichen Gewässer die Erscheinung Annas vorgetäuscht hat, fürchtet
+er, kindisch zu werden, und so nimmt er auch seine Fröhlichkeit
+nachträglich als einen Beweis dafür. Er bleibt aber fürs erste in
+Ifferten, weil ihm die Landschaft um das kleine Städtchen gefällt;
+namentlich in die Wiesen gegen den See geht er gern, wo in den hohen
+Bäumen auch bei der Hitze noch der Jurawind rieselt: Sie stehen wie
+müßige Greise da, und ich bin der müßigste unter ihnen!
+
+Unterdessen erreichen ihn Briefe Niederers, der als ein angeschossener
+Wolf in Münchenbuchsee geblieben ist; sie schildern ihm den Zustand der
+Anstalt nach seinem Weggang so wenig günstig, daß er in einigen Wochen
+noch einmal zurückgeht, seinen Abschied nachzuholen. Er bringt keine
+Ermutigung daraus mit; Fellenberg ist gereizt, daß er sich beiseite tun
+will, und droht, von der Übereinkunft zurückzutreten; als sie sich noch
+einmal an dem Wäldchen treffen -- diesmal ist Niederer dabei -- sieht
+sich Heinrich Pestalozzi von einer Flut böser Vorwürfe überschüttet,
+die er nur mit großen Augen anhören kann. Es kommt danach zwar noch
+eine Versöhnung zustande, die ihn seiner persönlichen Verpflichtungen
+entläßt, aber die Trennung ist nun sicher. Mit Buß und Krüsi und
+mit neun Zöglingen geht er zum andernmal nach Ifferten; er selber
+aber vermag es nun auch dort nicht mehr auszuhalten. Auf einer Fahrt
+nach Lausanne, um bei der waadtländischen Regierung den Gesetzen der
+Niederlassung zu genügen, verläßt ihn in Cossonay der Mut zur Rückkehr.
+Er hat dort nur übernachten wollen, aber am andern Morgen läßt er die
+Post fahren und bleibt in dem kleinen Ort, der zwischen Weinbergen
+auf einem Hügel liegt und ihn mit seinem Ausblick über die Talweite
+wehmütig an seinen verlorenen Schloßberg in Burgdorf erinnert. Da hockt
+er einsam und in den Gedanken seiner Schwermut verhangen, bis der
+biedere Krüsi ihn findet und wie ein Sohn um ihn sorgt. Nach Ifferten
+aber, wo Buß unterdessen die neue Anstalt einrichtet, folgt er ihm
+vorläufig nicht.
+
+Das Weinland der Waadt, in dem er lebt, ist die Heimat von Laharpe,
+dem ehemaligen Direktor der helvetischen Republik, der seiner Sache
+mit hoher Achtung zugetan ist. Als Erzieher des Kaisers Alexander
+von Rußland vermag er noch viel in Petersburg, und so kommt eines
+Tages in das kleine Cossonay eine kaiserlich russische Berufung an
+Heinrich Pestalozzi, das livländische Schulwesen von Dorpat aus nach
+seinen Vorschlägen einzurichten. So verdonnert ihn Krüsi ansieht,
+und so abenteuerlich der Plan ist, in seinem Alter noch nach Rußland
+auszuwandern, seine Stimmung hängt sich mit Leidenschaft daran. Er
+hat schon seine Bedingungen mitgeteilt und macht allen Abratungen zum
+Trotz Vorbereitungen für die Auswanderung, von der er nicht mehr zurück
+zu kommen hofft, als ihm ein zufälliges Erlebnis ein Loch in seine
+Schwermut reißt:
+
+Als er eines Tages nach Ifferten gefahren ist und am Abend mit Krüsi
+neben dem Wagen her gegen Cossonay hinauf geht, begegnen ihnen in
+der frühwinterlichen Dunkelheit einige leere Weinfuhren, die sie im
+Geräusch des eigenen Wagens nicht hören, bis Heinrich Pestalozzi dicht
+vor sich zwei Pferde spürt. Er glaubt, es seien Tiere von der Weide,
+und will zwischen ihnen durch; da wird er von der Deichsel getroffen,
+die ihn unter die Hufe der Pferde wirft: So jäh es ihn gefaßt hat,
+so schnell arbeitet sein Instinkt, daß er noch vor den Rädern gleich
+einer Katze unter den Pferden her auf allen Vieren seitwärts in den
+Graben springt und die beiden Wagen an sich vorüber rasseln läßt. Als
+Krüsi ihn findet, der seitlich gegangen war, ist er schon dabei, sich
+aufzurichten; die Kleider sind ihm bis auf den bloßen Leib zerrissen,
+aber ihm selber ist nichts geschehen, sodaß er -- durch Gefahr und
+Rettung in einem Augenblick des Wunders hindurch gegangen -- gegen den
+Berg schreitend wie vorher das Gasthaus erreichen kann.
+
+Er hat in diesem Herbst, wo er sich kindisch glaubte, oftmals zu
+sterben gewünscht, bevor er ganz dem Siechtum des Alters verfiele;
+nun ist er durch den Tod in einer Jünglingskraft hindurch gesprungen,
+die er sich längst verloren glaubte. Was er schon als Knabe erfuhr,
+als er bei Wollishofen aus dem Weidling in den See fiel, daß die
+heimliche Lust des Lebens durch nichts so sehr als durch das Grauen
+des Todes angeregt würde, das bewirkt nun eine Wiedergeburt in ihm,
+die ihn fast übermütig macht: Er glaubte schon sterben zu müssen wie
+Moses, ehe er einen Fußbreit von seinem Kanaan sah; nun fühlt er sich
+im ungeminderten Besitz von Kräften, die alle Nervenschwäche und die
+Müdigkeit seines vermeintlichen Siechtums als trübe Einbildungen von
+sich abfallen lassen. Die Kränkung durch Muralt und Tobler, der Streit
+mit Fellenberg und die Böswilligkeit der bernischen Regierung, die --
+wie er längst weiß -- seine Anstalt in Münchenbuchsee als eine staats-
+und kirchengefährliche Unternehmung überwachen läßt: alles, was ihm den
+ängstlichen Geist in diesen Monaten ans Kreuz geschlagen hat, scheint
+ihm vor dem Gefühl, zu leben und seiner Kräfte noch mächtig zu sein, so
+nebensächlich, daß er seine Schwermut wie eine Torheit belächelt: Wo
+ich Kränkungen ohne Maßen sah, sehe ich nun die treue Liebe, sagt er
+glücklich, und niemals ist ihm das Bild seiner Lebensgefährtin klarer
+dagestanden als in diesen Tagen.
+
+Als bald danach der König von Dänemark ihm hundert Louisdor übersenden
+läßt als Anerkennung für die gastliche Aufnahme der dänischen Lehrer,
+ist er übermütig vor Glück: Schau, zweitausend Schweizerfranken, sagt
+er zu Krüsi, mit nichts als einer Idee und etwas Güte verdient! So
+bleibt es Monate lang, während er noch einmal an die Lehrbücher seiner
+Methode geht; und so voll fühlt er den Segen strömen, daß ihm das
+Wort Lavaters nun sein liebster Spruch wird: Ich war mürrisch, als
+ich die Ruhe des Alters für Müdigkeit hielt; sie ist die Sammlung auf
+der Lebensstraße, wo das Glück auf der Straße lag, indessen ich den
+Seifenblasen meiner Wünsche nachlief. Nun der Höchste mir mein Alter
+mit Ruhe gekrönt hat, sehe ich, daß es der Jungbrunnen ist, von dem die
+Väter sagten.
+
+
+ 89.
+
+Indessen Heinrich Pestalozzi sich so die Trennung zum Besten dienen
+läßt, sind die Nachrichten aus Münchenbuchsee immer mehr mit
+Enttäuschung beschwert. Muralt und Tobler haben nicht bedacht, daß
+sich Fellenberg mehr als Pädagoge denn als Landwirt fühlt und als
+solcher -- wie Niederer sagt -- die Drei- und Vierfelderwirtschaft auch
+auf die Zöglinge anwenden will; die Buchführung ist besser geworden,
+und die Ordnung wird streng gewahrt, aber die Luft steht stiller und
+kälter in den Räumen, die sonst auch an Nebeltagen immer noch von
+einem Sonnenstrahl väterlicher Liebe und menschlicher Laune belebt
+und erwärmt war. Daraus wächst Mißmut und -- weil es Fellenberg auch
+nicht leicht hat mit Zöglingen und Gehilfen, die einen andern Meister
+schwärmerisch verehren -- endlich der böse Streit.
+
+Niederer ist der erste, den es nach Ifferten zieht; er hat im Herbst
+ein schweres Nervenfieber durchgemacht und ist noch hohlwangig davon.
+Seit dem Sommer hat er gemeinsam mit Fellenberg und den andern
+Lehrern über dem Wortlaut einer Einladung an die Eltern Europas
+gesessen, ihre Kinder als Zöglinge nach Münchenbuchsee zu geben; Satz
+für Satz ist darin durchberaten worden, auch Heinrich Pestalozzi hat
+mitgeholfen, bis eine umfängliche Flugschrift seiner Methode fertig
+war. Als aber der Druck Weihnachten ankommt, hat Fellenberg ihn
+nachträglich mit eigenen Ankündigungen zum Teil großsprecherischer
+Art für seine besonderen Zwecke zurecht gemacht, was nun auch Muralt
+und Tobler gegen den eigenmächtigen Mann aufreizt. Das Frühjahr geht
+in einem unaufhörlichen Wechsel von Streit und Versöhnung hin, der
+seine Wellenschläge nach Ifferten hinüber tut. Heinrich Pestalozzi
+sucht aus dem Knäuel der Verstimmungen die Fäden der Liebe und der
+gemeinsamen Ideale herauszuziehen; am liebsten aber möchte er den
+Knäuel in den Bach werfen: er läßt sich nun nicht mehr beirren, daß die
+Anstalt im Umkreis seiner Absichten nur einen Versuch bedeutet, und
+ist weder für Münchenbuchsee noch für Ifferten aus dem Dachsbau seiner
+Schriftstellerarbeit herauszubringen, die der Welt andere Resultate als
+die zufälligen einer solchen Anstalt sichern soll.
+
+Doch wird er hier wie dort die Geister, die er rief, nicht los: er hat
+das Klostergebäude in Münchenbuchsee von der bernischen Regierung nur
+für ein Jahr erhalten und müßte zum Juli einen neuen Antrag um gnädige
+Überlassung für ein weiteres Jahr stellen; weil aber Fellenberg in
+einer Zuschrift an die Regierung die Leitung niedergelegt hat, sind
+die Hunde der Verdächtigung auf seine Sache losgelassen. Um nicht
+abzuwarten, daß er böswillig ausgeräumt wird, reicht er selber die
+Kündigung ein. Damit hat er nach einem halben Jahr der Trennung alles
+wieder, was ihm nun nicht mehr wie beim Abschied Glück und Unglück
+seines Lebens bedeutet; aber daß die Herde ihm sehnsüchtig nachfolgt
+und ihn durch diese Nachfolge anerkennt, tut ihm doch wohl, und um
+dieses Wohlgefühls willen tritt er tätiger in die Leitung ein, als er
+es nach seiner Rettung bei Cossonay für möglich gehalten hätte; auch
+reißen ihn die glücklich veränderten Umstände hin, und eine heimliche
+Hoffnung überredet den Widerstand:
+
+In Ifferten ist er nicht mehr wie in Burgdorf der zugewanderte Greis,
+der froh sein muß, eine Schulstube für seine Versuche zu finden; der
+Ruhm seiner Sache ist europäisch geworden und die Bürgerschaft setzt
+viel daran, davon zu profitieren. Sie hat ihm -- um die Lockung nach
+Peterlingen zu schlagen -- die weiten Räume des Zähringer Schlosses
+und die Gärten dazu unkündbar überlassen und richtet alles nach seinen
+Wünschen ein. Auch steht die Regierung im Kanton Waadt, aus dem
+dreihundertjährigen Zwang der bernischen Landvögte befreit, anders zu
+ihm, als die Aristokratenherrschaft in Bern; ihr ist er keiner staats-
+und kirchenfeindlichen Gesinnung verdächtig. Die Zöglinge, die von
+Anfang aus dem liberalen Waadtland am reichlichsten kamen, mehren
+sich rasch; als auch die geborene Fröhlich -- die aus Münchenbuchsee
+bald fortgegangen war, einen wohlbegüterten Landwirt namens Kuster
+zu heiraten -- den Haushalt von neuem in ihre unverdrossenen Hände
+nimmt, ist unvermutet der ganze Bienenstaat wieder um ihn versammelt,
+eifriger als je, den Honig einer neuen Menschenbildung einzutragen;
+nur noch die verscheuchte Königin fehlt, weil Heinrich Pestalozzi noch
+immer eine abergläubische Furcht hat, sie schon zu rufen.
+
+Als aber der Winter den Reichtum nicht vermindert und das Frühjahr
+den Ruhm der Anstalt in einen Erntesommer trägt, der ihm -- wie er
+einem Freund bestürzt durch diese Wendung schreibt -- das Geld zum
+Dach hinein regnet, bittet er sie frohen Mutes, wieder wie in Burgdorf
+seine Hausmutter zu sein! Sie kommt ihm mit einem Schiff über den See
+gefahren, und er wartet manche Stunde unruhig unter den alten Bäumen,
+die immer noch den Jurawind durch ihre Blätter rieseln lassen, bis
+gegen Abend das Boot anschwimmt.
+
+Schon von weitem sieht er ihre Gestalt still darin sitzen und meint
+fast, ihre Augen auf sich zu spüren, wie er unruhig am Ufer hin und
+her läuft. Sie ist alt geworden, und ihr kranker Fuß, an dem sie
+lange in Zürich gelegen hat, hindert sie noch immer beim Gehen, sodaß
+der Schiffsmann ihr über den Steg ans Land helfen muß: Das sind
+meine vier dicken Türme, sagt er mit glücklichen Augen und zeigt
+auf das Schloß, das zwischen dem Grün weißlich durchschimmert. Sie
+gibt keine Antwort und ist auch schweigsam, während sie das kurze
+Stück über die weichen Wiesen gehen, nur bringt sie die Lippen
+nicht so fest wie sonst aufeinander, weil die strengen Falten einem
+hinterhaltigen Lächeln nicht Meister werden. Erst als sie sich durch
+die stürmische und ehrfürchtige Begrüßung der Zöglinge und Lehrer
+-- die haben sich im bekränzten Schloßhof aufgestellt und singen ihr
+ein Lied -- hindurchgelächelt hat und endlich in ihrer Turmstube im
+Lehnstuhl sitzt, fragt sie: Hast du auch einen Garten? Er hört die
+Frage garnicht, weil er nun erst mit seinem vergessenen Blumenstrauß
+ankommt, den er ihr ans Ufer bringen wollte; sie aber fängt in ihrer
+perlenbestickten Reisetasche an zu kramen und holt ein Schächtelchen
+heraus, darin die Mohnkapsel winzig zusammengeschrumpft zwischen den
+schwarzen Samenkügelchen liegt. Das legt sie ihm behutsam mitten auf
+seine Blumen und lächelt sich die Tränen der Rührung fort: Wenn die
+Samen nur nicht überjährig geworden sind!
+
+
+ 90.
+
+Heinrich Pestalozzi ist über sechzig und Anna Schultheß fast siebzig
+Jahre alt, als sie ihr gemeinsames Leben im Zähringer Schloß zu
+Ifferten beginnen; in Burgdorf war der Unterschied ihrer Jahre
+ausgelöscht, nun aber fängt sie an, ihr Leben abzurüsten, während er
+noch neue Segel einsetzt. Wenn sie miteinander in dem weitläufigen
+Gebäude, im Garten oder weiter hinaus gegen Clindy gehen, ist er im
+Eifer, ihr alles günstig zu zeigen, immer voraus, während sie oft
+still steht und am Stock nachkommend mehr ihm zuliebe als für sich
+ihre Augen auf seine Dinge richtet. Habe ich dirs nicht gleich gesagt,
+Pestalozzi, ich sei zu alt für dich! scherzt sie einmal, als er wie
+ein ungeduldiger Knabe am Bach nach ihr ruft, weil eine Ringelnatter
+fortschwimmt, bevor sie zur Stelle ist. Aber es gefällt ihr alles
+sichtbar wohl, und wenn sie mit ihrem Enkel Gottlieb durch die Straßen
+der ländlichen Kleinstadt geht, gern gegrüßt von den Leuten, sehen
+sie eine wirkliche Schloßherrin. Sie hat noch einmal geerbt von ihrem
+Bruder Jakob in Zürich und braucht in ihrer bescheidenen Wohlhabenheit
+nicht gleich zu sorgen, wenn es irgendwo eine Spalte in dem großen
+Hauswesen gibt.
+
+So treibt das unruhige Wasser seines Lebens mit dem letzten Stauwehr
+doch noch eine reiche Mühle, und er ist sicher, daß im Land kein
+besseres Korn gemahlen wird. Aber er denkt noch immer nicht daran,
+hier für lange den Müller zu spielen; sein Brot soll für die Armen
+gebacken werden. Nun es ihm mit dem andern herrlich geraten ist, nun
+er die Methode eines auf die Natur des Kindes gegründeten Unterrichts
+in Händen hat, nun ihm Hilfskräfte jeder Art verfügbar sind und er
+des Beistandes vieler für eine solche Unternehmung sicher sein kann:
+fängt die Armenkinderanstalt wieder an, das Ziel zu werden, mit dem er
+sein Leben krönen will. Der Schauplatz seiner letzten Tat aber soll
+nicht das welsche Waadtland, sondern der Kanton Aargau sein: wo er
+den Kampf um die allgemeine Menschenbildung begonnen hat, will er ihn
+auch enden. Das Schloß Brunegg hat unterdessen einen andern Besitzer
+gefunden, aber Wildenstein bei Schinznach steht noch leer, und mitten
+aus dem fröhlichen Gesumm seines wohlbestellten Hauses reicht er den
+Antrag um den Wildenstein bei der Regierung in Aarau ein. Die kommt
+ihm willig entgegen, und so steht er vor dem geöffneten Tor seiner
+letzten Ausfahrt, als die Zustände in Ifferten ihn nötigen, den Wagen
+vorläufig wieder abzuspannen.
+
+Als ob sie die Ansteckung aus Münchenbuchsee mitgebracht hätten, ist
+der Lehrerstreit da und reißt ihm einen Spalt mitten durch die Anstalt,
+den weder Anna mit ihrer Erbschaft noch er aus dem Faß seiner Liebe
+verstopfen kann. Den ersten Riß bringt eine Erholungsreise Niederers
+mit, die ihn nach einem Rückfall seines Nervenfiebers fast zwei
+Monate lang von Ifferten fernhält und gleichzeitig eine Studienreise
+sein soll für die Lebensgeschichte des Meisters, die er schreiben
+will. Von Anfang an hat er sich als Herold der Methode gefühlt, und
+Heinrich Pestalozzi, der wohl weiß, wie eigenwillig ihm selber in der
+Rede und Schreibe die Gedanken zulaufen, kann erstaunt zuhören, um
+wieviel gelehrter und selbstbewußter sie in dem Mund Niederers klingen.
+Selbst, wo ihm Zweifel überkommen, ob nicht im Strom dieser Worte
+fremdes mitfließt, steht er willig dafür ein, weil er der Einsicht und
+selbstlosen Begeisterung des Eiferers sicher ist. Er hat ihn immer als
+seine rechte Hand gehalten und ihm die Führung in Ifferten zugedacht,
+wenn er selber als Armenhausvater fortgehen wird: nun aber sieht er
+während seiner Abwesenheit gründlicher in die Mädchenanstalt hinein,
+die unter Niederers Leitung in einem besonderen Gebäude neben dem
+Schloß eingemietet ist, und nimmt eine Lässigkeit wahr, die sich mit
+keiner Liebe mehr zudecken läßt.
+
+Als Niederer danach heimkommt, geladen mit Eindrücken und
+schwärmerisch beglückt über sein gesammeltes Material zu der geplanten
+Lebensgeschichte, vermag Heinrich Pestalozzi keine Freude mehr an
+diesen Dingen zu gewinnen. Ihm ist in der Abwesenheit der rechten
+Hand die linke wichtiger geworden, und mit Eifersucht sieht der
+Ideenmensch Niederer an der andern Seite des Meisters den Realmenschen
+Schmid stehen, der in allem seinen Gegenspieler vorstellt. Es ist der
+Tirolerknabe, mit dem er damals nach Burgdorf kam, und der sich im Lauf
+der wenigen Jahre aus einem unwissenden, aber begabten Schüler zum
+glänzenden Lehrer der Anstalt durchgearbeitet hat: Wie er in seinem
+Fach der Zahl- und Raumlehre die Methode als Schulmeisterkunst ausübt,
+das wird von den andern Gehilfen immer williger anerkannt und von
+den Besuchern bestaunt; vor den glänzenden Leistungen seiner Klasse
+vollzieht sich meist die Bekehrung der Ungläubigen. Er ist zu einseitig
+gebildet, um die Niedererschen Gedankenflüge mitzumachen, auch liegt
+die Schwärmerei seiner Natur nicht: sonnengebräunt und fest wie das
+Gesicht ist sein Wesen und in Tüchtigkeit verbissen, die auf alle
+Unordnung und Faulheit in der Anstalt wie ein Raubvogel Jagd macht; für
+das geplante Armenkinderhaus ist er begeistert, er mag die wohlhabenden
+Zöglinge nicht und verachtet die Eltern, die ihre Kinder -- wie er sagt
+-- nur aus Bequemlichkeit in Erziehungsanstalten schicken.
+
+Ehe Heinrich Pestalozzi Augen für ihre Eifersucht hat, ist sie schon
+zur Feindschaft geschwollen, und er steht mitten darin: Ich bin wie
+eine Jungfer zwischen zwei Liebhabern, scherzt er zu Krüsi und glaubt
+noch lange, er könne den bösen Zustand mit launigen Zurechtweisungen
+lösen; aber weil beide ihren besonderen Anhang haben, sieht er zu
+seinem Schrecken die Anstalt in zwei feindliche Lager geteilt und wird
+mit seiner hülflos suchenden Liebe ein Fangball, den sie einander
+zuwerfen: der alte Vorwurf seiner Unbrauchbarkeit ist über Nacht aus
+dem Boden gewachsen, grausamer als sonst, weil er ihn diesmal aus allen
+Himmeln reißt. Um kein Trümmerfeld in Ifferten zu hinterlassen und Anna
+für immer zu verscheuchen, die sich jetzt schon verstimmt durch die
+Händel in ihrem Zimmer hält, muß er den Plan der Armenkinderanstalt in
+Wildenstein vertagen. So gießt ihm der Herbst des mit Siegesgedanken
+begonnenen Jahres Galle in seinen Jungbrunnen, und obwohl schließlich
+durch den vermittelnden Muralt eine Aussöhnung zustande kommt, sodaß
+sie Weihnachten in Frieden feiern, bleibt eine bittere Stimmung in ihm,
+die seiner gewohnten Neujahrsrede nicht günstig ist.
+
+Am letzten Nachmittag des Jahres kommt er zufällig mit einer Besorgung
+in die Werkstatt des Schreiners, der seit der Einrichtung die Arbeiten
+im Schloß hat. Sie nennen ihn in Ifferten den Heiden, und Heinrich
+Pestalozzi kennt unter andern Seltsamkeiten des alten Sonderlings
+auch diese, daß er sich für jedes Neujahr einen Sarg herrichtet, die
+erste Nacht des Jahres darin zu schlafen. Wie er nun bei ihm eintritt,
+stehen die fünf Bretter schon fertig genagelt da, und er ist gerade
+dabei, dem Deckel eine Hohlkante anzuhobeln. Den brauch ich vorläufig
+nicht, spöttelt er und bietet ihm eine Prise an, es ist nur wegen der
+Vollständigkeit! Und als Heinrich Pestalozzi, den der selbstgefällig
+lächelnde Greis neben dem Sarg verwirrt, ihn fragt, warum er sich
+jedes Jahr solch ein neues Bett mache, streicht der mit der Hand die
+Hobelkante ab und paßt den Deckel ein, wie einer, der das Schicksal
+pfiffig überlistet: Weil es mir noch keinmal geraten ist, ihn zu
+verwahren; schon im Frühjahr ist meist ein anderer Liebhaber da!
+
+Heinrich Pestalozzi vermag keinen Geschmack an dieser
+Lebensversicherung zu finden, aber der gehobelte Sarg hat ihm das
+Herz bewegt, und als er draußen den Schmid trifft, wie er mit einigen
+Zöglingen einen Handwagen voll Tannenreisig aus dem Wald anbringt, die
+Schloßkapelle zu schmücken, übermannt es ihn so, daß er ihn gerührt
+in die Arme schließt. Ein hämischer Zufall will, daß Niederer seither
+dazu kommt, todblaß, weil er die Herzlichkeit gesehen hat. Sie gehen
+zu dreien miteinander vor dem Handwagen der Zöglinge her in einem
+verlegenen Gespräch, und Heinrich Pestalozzi in der Mitte will sich
+schon der Begegnung freuen, als die Worte zerbrechen und die Scherben
+im Streit umher fliegen. Er rafft die Zöglinge an den Händen fort, daß
+sie nicht Zeugen der Häßlichkeit würden; aber noch, als er drinnen auf
+dem oberen Treppenumgang steht, hört er die bellenden Stimmen durch die
+Mauern dringen.
+
+Er sieht an dem Abend niemand mehr und erlebt die Mitternacht allein
+und verdüstert in seiner Kammer: Ich Narr der Eitelkeit, jammert er,
+was soll die Welt mit meiner Lebensgeschichte, die ein Buch voller
+Grabreden ist! Als er in den Kleidern auf dem Bett liegend endlich
+einschläft, bleibt seine letzte Empfindung die mutlose Müdigkeit, daß
+es der Sarg des Schreiners sein möchte! Und noch, als die ersten
+Glocken den Morgen ansagen, quält er sich im Halbschlummer mit den
+engen Brettern. So trifft Heinrich Pestalozzi die Stunde, wo er als
+Hausvater vor den Seinen mit dem Bekenntnis des alten und dem Gelöbnis
+des neuen Jahres stehen soll.
+
+Er läßt durch zwei Zöglinge den Sarg des Schreiners holen und vor den
+Altar stellen; und ob er Anna bei dem Anblick die Kapelle verlassen
+sieht und aus all den fragenden Augen der andern das Entsetzen vor
+seinem Frevel spürt: nichts vermag ihn aus der Nötigung zu reißen, den
+Sarg als den seinen zu betrachten und statt einer Neujahrsansprache
+sich selber eine Grabrede zu halten. Niemand vermöchte seine
+Unbrauchbarkeit grausamer anzuschlagen, als er es nun selber tut, und
+fast ist es mit Gott gehadert, wie er ihm die Unfähigkeit seiner Natur
+vorhält und alle Schuld an dem Zerwürfnis auf sich selber legt. Aber so
+erschütternd seine Klagen durch die Kapelle irren und in manchem Herzen
+den Schrecken um seinen Verstand aufjagen: ihm selber ist es, als ob
+sein Körper damit ausfließe wie ein verunreinigtes Gefäß; bis er, von
+aller Verbitterung leer, die Brunnen der Demut in sich aufquellen
+fühlt. Da weiß er, daß seine Anklagen nur die Torheit eines Kindes
+sind, das sich durchtrotzen möchte und hundert Wohltaten vergißt, weil
+ihm eine verwehrt wird: Wie undankbar und eigensinnig ist es, gegen
+mein Schicksal zu hadern, das mich vor allen Menschen mit meinem Werk
+gesegnet hat! Sodaß Heinrich Pestalozzi die Kapelle in einem Gefühl der
+Begnadung verläßt, darin selbst die Beschämung über sein zorniges Tun
+ins Ferne verfliegt.
+
+
+ 91.
+
+Nach dem Gewitter dieser Neujahrsrede fängt die Sonne wieder an zu
+scheinen, und Heinrich Pestalozzi, der die schlimmen Dinge leichter
+als die guten vergißt, fühlt ihre Wärme über Ifferten, als ob erst
+Mittag wäre. Auch Anna, die lange gekränkelt hat, lebt wieder auf und
+braucht nicht mehr am Stock zu gehen: Ich mußte die alternde Frau in
+mir los werden, sagt sie einmal zu ihm, als sie dem bunten Getriebe der
+Zöglinge auf der Eisbahn zusehen: jetzt sind die Reste fort, und ich
+bin ganz eine Greisin; ich konnte nicht alt werden, nun ich es bin, ist
+alles wieder frei; ich möchte fast ein paar Eisschuhe antun, so leicht
+ist mir!
+
+So bin ich doch der Ältere von uns beiden, antwortet er und nimmt
+zärtlich ihre Hand; denn auch das habe ich dir vorgelebt: Nur das
+Gesicht und die Hände waren jung und werden alt, die Seele lebt als
+eine schwingende Schnur, die in der Mitte heftig schwirrt und am Ende
+-- wie am Anfang -- nur noch zittert, bis der andere Knoten kommt, wo
+sie an den Bogen ihres Erdendaseins gespannt ist!
+
+Er spricht auch sonst wieder viel mit ihr, fast wie damals auf ihren
+ersten Spaziergängen, und lächelt hinterhaltig, wenn er sich bei den
+Listen seiner Liebe ertappt. Als ob er noch einmal seine Mutter hätte,
+geht er behutsam mit ihren Wünschen um und verschweigt ihr die Unrast
+um sein Werk, die noch immer weit vom Knoten schwingt: Es ist nur mein
+Sterbeteil, denkt er oft, der bei ihr die heimlichen Schlupfwinkel
+seines Lebens hat; der Menschengeist in mir, dem die schwingende Seele
+die zitternde Spindel war, ist nicht an ihre Schnur gebunden; der
+trägt den Takt ihrer Bewegung fort ins Breite, wenn die Schnur längst
+still steht! Und deutlich fühlt Heinrich Pestalozzi die Unheimlichkeit
+dieser Trennung, wie die Seele sich zur Ruhe rüstet, indessen sein
+Menschengeist immer ferner auf Abenteuer reitet.
+
+Das Wort verläßt ihn nicht; der Zwiespalt seines Lebens wird
+ihm sinnbildlich darin, daß seine Seele für die Abenteuer des
+Menschengeistes einstehen mußte, der nicht den Seinigen, sondern dem
+Volk gehörte und von dem Gewissen der Menschheit in Pflicht genommen
+war. So hat die Seele daheim im Streit gelegen bis auf diese Stunden,
+wo er zurseite Annas gemächlich am See spaziert -- unter den überhohen
+Bäumen, die ihre Blätter nur deshalb im Jurawind rieseln lassen können,
+weil ihre Wurzeln ihnen unablässig den Saft aus dem schwarzen Grund
+zubringen -- indessen sein unruhiger Geist mehr als je in das Abenteuer
+der Menschenbildung verwickelt ist: nur daß er, anstatt auf eigene
+Faust zu kämpfen, längst ein Häuptling wurde mit einem Kriegslager,
+dahinein von fernher die Krieger reiten, sich Weisung zu holen.
+
+Denn Heinrich Pestalozzi -- der Greis, wie ihn die Burgdorfer schon
+nannten -- ist unversehens in Europa eine Macht geworden; nicht,
+weil er überall in den Regierungen Anhänger hat, die ihm Lehrlinge
+der Methode nach Ifferten schicken, das dadurch eine Hochschule
+der Erziehung wird, sondern weil nun die Weltgeschichte auch sonst
+seinen mißachteten Ideen nachkommt: Seitdem ihm der Konsul Bonaparte
+spöttisch den Rücken zukehrte, sodaß er mit dem verschmähten Sauerteig
+der allgemeinen Volksbildung von Paris heimkehren mußte, hat sich
+der korsische Advokatensohn zum Gewalthaber Europas gemacht, der
+Fürstentitel und Königskronen wie Kinderspielzeug verschenkt, den
+Papst nach Paris kommen läßt, ihn als Kaiser zu krönen, und der sich
+die habsburgische Kaisertochter als seine Frau einfordert. Nichts in
+der Welt scheint seiner Selbstherrlichkeit zu widerstehen; so ist
+ihm auch der Preußenstaat des großen Friedrich nur ein Hindernis auf
+seiner neuen Landkarte, das er mit einer kriegerischen Handbewegung bei
+Jena beseitigt, wobei er noch Zeit findet, dem Dichter der Deutschen
+das Kreuz der Ehrenlegion an die Weltbürgerbrust zu heften. Aber
+diese Handbewegung macht dem Totengräber seiner Schwertmacht, dem
+Menschengeist in Preußen, die Hände frei.
+
+Wie immer kehrt auch hier der eiserne Besen der Not die unfähigen
+Gewalthaber auf den Mist, und Männer treten in ihre Stellen ein,
+nach den Menschenrechten die Menschenpflichten zu proklamieren,
+in denen allein die Blutsaat der Revolution zu einer Volks- und
+Menschengemeinschaft aufgehen kann. Einer der ersten ist sein Freund
+aus den Tagen in Richterswyl Johann Gottlieb Sichte, der Schwiegersohn
+des Wagenmeisters Kahn in Zürich; in seinen Reden an die deutsche
+Nation, in denen er die sittlichen Mächte im deutschen Geist aufruft,
+setzt er Heinrich Pestalozzi und seine Idee der Menschenbildung in eine
+Beleuchtung, die keine Gegnerschaft mehr auslöschen kann. Als auch
+der Holsteiner Nicolovius in die Leitung des preußischen Schulwesens
+berufen wird, will der Traum in einem Land Europas Wirklichkeit werden;
+die besten Geister haben die Regierung des preußischen Staates in
+der Hand, und ihr Ziel ist das seine: Befreiung und Erneuerung des
+Volkes als einer sittlichen Gemeinschaft, und als Grundlage dieser
+Gemeinschaft die Erziehung aller mit den Mitteln, wie er sie in dem
+Naturgang seiner Methode gefunden hat. So ist Heinrich Pestalozzi
+aus einem einsamen Abenteurer des Menschengeistes doch ein anderer
+Heerführer geworden als sein Vetter Hotze mit dem Soldatenhut, von dem
+nur noch der verblaßte Ruhm übrig geblieben ist.
+
+So gut geht alles, daß auch die feindlichen Lager in Ifferten
+Gottesfrieden halten. Muralt hat vermocht, daß eine genaue Teilung
+der Pflichten Niederer und Schmid auseinander hält, und namentlich,
+seitdem Rosette Kasthofer aus Grandson das Töchterhaus in ihren
+jüngferlich festen Händen hält, während Niederer -- der auch nicht
+mehr im Schloß wohnt -- nur noch seine Pflichtstunden gibt und die
+schriftstellerischen Tagesbedürfnisse der Anstalt besorgt, ist die
+tägliche Verärgerung beseitigt. So kommt der letzte September des
+Jahres 1809, an dem es vierzig Jahre her ist, daß Heinrich Pestalozzi
+sich mit Anna Schultheß aus dem Pflug in der Dorfkirche zu Gebistorf
+trauen ließ, recht in die Zeit für ein Freudenfest: Nun haben wir es
+doch einmal beide nach unserem Herzen, sagt er neckend zu ihr, die
+fast bräutlich geschmückt im Lehnstuhl auf ihn wartet, wird aber gleich
+wieder ernst vor ihrem würdigen Gesicht: Unser Haus ist wohlbestellt
+unter einem großen Dach, wie ich dir den Neuhof bauen wollte, und mir
+ist sein Glanz keine Unruhe mehr, weil ich der Lebensströme sicher bin,
+die daraus fließen!
+
+Als sie dann miteinander in den geschmückten Saal treten und in das
+fröhliche Bienengesumm die Stille ihrer Gegenwart bringen, als Niederer
+seine Festrede aus der Brunnentiefe seiner gewaltigen Begeisterung
+holt und ihnen Kränze von innigen Worten auf die weißen Häupter legt,
+indessen sie Hand in Hand wie zwei Kinder im Augenblick hundertfacher
+Liebe dasitzen: sind alle Wechsel, die der Lehrling Tschiffelis an
+die Kaufmannstochter im Pflug sandte, so über alle damalige Geltung
+eingelöst wie im Märchen, wo auch die gehäuften Nöte auf einmal von dem
+vorbestimmten Glück abfallen. Nur ganz den feierlichen Ernst der Stunde
+zu ertragen vermag Heinrich Pestalozzi noch immer nicht; es ist auch
+hier ein wenig bei den hohen Worten, als ob er wieder nach dem Examen
+vor den andern Schülern das Vaterunser sprechen solle: so lächert es
+ihn durch seine Glückstränen. Kaum sind die Ströme der Feier über
+ihn hingeflossen, und die Frühlingsblumen dieser Herbstfröhlichkeit
+wollen in einem Tanz der Kinder aufblühen, da muß er ihnen zeigen,
+wie es damals zuging, als er noch der schwarze Pestaluz aus dem Roten
+Gatter und Anna Schultheß die scheu verehrte Muse der jungen Patrioten
+aus der Gerwe war: und übermütig, wie er es damals nicht vermocht
+hätte, schreitet Heinrich Pestalozzi, der Armennarr auf Neuhof, die
+Pestilenz des Birrfeldes, der Waisenvater in Stans und der Prophet
+der Menschenbildung in Burgdorf und Ifferten, mit seiner schlohweißen
+Gattin zu einer alten Weise den ersten Tanz.
+
+
+ 92.
+
+Wenn die Deutschen nach Ifferten kommen, meist über Basel und Bern
+oder auch über Zürich, geschieht es ihnen leicht, daß sie mit ihrer
+Begeisterung für Heinrich Pestalozzi an diesen Orten als närrische
+Wallfahrer aufgenommen werden, weil man da eine andere Ansicht
+von dem unruhigen Projektenmacher hat, sodaß sie kleinlauter in
+das viertürmige Schloß eintreten und dann nicht selten durch die
+unordentliche Erscheinung ihres Propheten abgeschreckt werden, als ob
+die achselzuckende Mißachtung des Mannes in seiner Heimat am Ende doch
+das Klügere sei. Sie haben erwartet -- weil sie als Deutsche blindlings
+ans Gute glauben -- daß sein Vaterland wie eine stolze Familie zu ihm
+stände, und finden ihn eher als verlorenen Sohn darin, zu dem sich
+nur die Tapferen ohne Vorbehalt bekennen. Je höher der Lichtschein
+seines Ruhmes draußen steigt, umso ängstlicher wird die Vorsicht,
+als Schweizer für seinesgleichen gehalten zu werden, als ob etwa die
+gesicherte Kultur Helvetiens noch seiner seltsamen Bildungsversuche
+bedürfe.
+
+In Basel und Zürich sind es die Humanisten, die seine Abc-Künste
+bespötteln, und in Bern die Aristokraten, die seine Anstalt als staats-
+und kirchengefährlich hassen, besonders seitdem er in dem abtrünnigen
+Waadtland haust. Und gerade während der Zeit, da in Preußen Humboldt,
+Stein und Fichte seine Grundmittel der Menschenbildung mit heiliger
+Überzeugung ergreifen, muß Heinrich Pestalozzi sich in der Heimat gegen
+böswillige Angriffe wehren. Um ihrer mit einem Mal Herr zu werden,
+stellt er der schweizerischen Tagsatzung in Freiburg das Ansinnen,
+seine Anstalt von Landeswegen zu prüfen, ob die Methode nicht auch
+in der Schweiz, wie in Preußen zum Vorteil des Vaterlandes allgemein
+eingeführt werden könne! Auch hat der Eifer Niederers vermocht, daß
+eine schweizerische Gesellschaft der Erziehung gegründet wird, die
+wie vormals die helvetische Gesellschaft in Schinznach so jährlich
+zum Sommer in Lenzburg tagen soll, und bevor noch die Dreimänner der
+Tagsatzung zur Prüfung der Methode nach Ifferten kommen, hält Heinrich
+Pestalozzi als Präsident der Gesellschaft eine Rede über seine Idee
+der Menschenbildung, mit der er noch einmal als ein Demosthenes
+seines Landes auf den Markt tritt: aber die ihn anhören, sind einige
+vierzig für seine Sache schon vorher bemühte Leute, nicht die neunzehn
+Kantonsregierungen des Schweizervolks, das in seinen Blättern manchen
+Spott lesen kann, ob eine solche Sache wohl berechtigt sei, ernsthafte
+und gelehrte Leute zu bemühen? Und als die nächste Tagsatzung den
+Bericht der Dreimänner bekannt gibt, ist es eine hämische Aufzeichnung
+der Mängel, die sie in der Anstalt gefunden haben, sodaß nun Niederer
+wieder mit einer Flugschrift auf dem Wall erscheint und den Gegnern der
+Anstalt mit Heroldsworten den Fehdehandschuh hinwirft.
+
+Bevor darauf die Angreifer aus allen Kantonen mit den entrollten
+Bannern der überkommenen Weltordnung anrücken, das Nest des Aufruhrs
+in Ifferten auszuheben, bricht es innen auseinander. Einem Dämon
+der Zwietracht gelingt es, die verhaltene Feindschaft Schmids und
+Niederers in das innerste Glas ihrer Männlichkeit zu gießen, wo sie
+zischend auseinander fahren muß. Seit einiger Zeit ist eine Lehrerin,
+namens Luise Segesser, in der Anstalt, ein schönes und herzlich
+verankertes Mädchen aus Luzern, um das sich beide mit der Leidenschaft
+ihrer fanatischen Seelen bemühen. Schmid, der gegen den rotköpfigen
+und schwächlichen Niederer ein starkes Mannsbild von unverkennbarem
+Tirolertum ist, glaubt sich schon als Katholik im Vorteil gegen
+den pfarrerlichen Protestanten, da die Segesser selber aus einem
+katholischen Hause kommt. Sie würde es bei ihrer Familie mit ihm ebenso
+leicht haben wie mit Niederer schwer, aber nach dem Instinkt solcher
+Frauen wählt sie das Schwere. Schmid ist immer noch erst ein Jüngling
+von dreiundzwanzig Jahren, ihm werden durch ihre Wahl stolze Bäume
+aus der Wurzel gerissen; er war bis auf diese Zeit der Liebling des
+Meisters und die sichtbare Stütze der Anstalt, selbst der hämische
+Bericht der Dreimänner hat seine Leistungen ausnehmen müssen: jetzt ist
+ihm alles unwert, weil ein Mädchen sich gegen ihn entschieden hat. Es
+fängt an, in seiner Galle zu wühlen, und nun ist es nicht mehr seine
+Feindschaft mit Niederer allein, nun hat ihn der Geist der Anstalt
+verraten, wo jeder -- so scheint es ihm -- vom kleinsten Zögling bis
+zum ältesten Lehrer das tut, was seiner Neigung bequem ist, und wo
+Heinrich Pestalozzi nur als Strohpuppe gehalten wird, mit der sie
+abwechselnd ihr Ränkespiel treiben: Er vermag nicht mehr, in der
+Gemeinschaft zu bleiben, deren fester Stundenschlag er mehr als jeder
+andere gewesen ist; eines Tages steht er tief vergrollt vor dem Meister
+und sagt ihm, daß er für immer fortgehen müsse!
+
+Es ist ein Frühlingsabend, und Heinrich Pestalozzi, dem das Alter
+den Rücken müde gemacht hat, liegt nach seiner Gewohnheit in den
+Kleidern auf dem Bett und diktiert, als er zu ihm tritt. Er kennt den
+Herzenslauf des Jünglings seit langem, und die Schadenfreude hat ihm
+zugetragen, an welches Ende es nun damit gekommen ist: Du nimmst meinem
+Dach den Firstbalken weg, sagt er zu ihm, als sie allein sind: und es
+ist kein anderer da, der ihn mir wieder aufrichtet; aber wenn dir alles
+im Blut verleidet ist, will ich dich nicht mit dem Wasser meiner Worte
+halten! Er greift ihm nach den Händen, und einen Augenblick ist es,
+als ob der andere ihm seinen Kopf an die Brust werfen und in Tränen
+aufgehen möchte; aber der Trotz hält ihn erschlossen gegen solche
+Weichheit, daß er die Hände zurücknimmt und bald mit hohen Schultern
+das Gemach verläßt.
+
+Der Wind hat die Tür hinter ihm wieder aufgedrückt, daß sie leidmütig
+in den Angeln knarrt. Heinrich Pestalozzi ruft nach Anna; sie scheint
+nach ihrer Gewohnheit hinuntergegangen zu sein in den Garten, wo die
+Vögel das junge Laub anschreien, daß ihm ein einziges Geschrill
+davon durchs offene Fenster kommt. Um nicht allein zu sein mit der
+Entscheidung, die unsichtbar in der Kammer auf ihn wartet, tappt er
+hinunter, sie zu suchen. Es ist die Stunde, da die Knaben unten am See
+unter den Bäumen spielen, und darum eine Stille auf den Gängen und
+Treppen, die ihn fast ängstlich macht. Bin ich auf einmal allein in der
+Welt, denkt er; als er aufatmend unten Schritte hört und, rasch über
+die Galerie gebeugt, Muralt mit einem Brief in der Hand quer durch den
+Hof zur Treppe gehen sieht. Den schickt mir der Himmel, hofft er und
+wartet still, während der andere auf seine schlanke Art heraufkommt;
+aber als er ihm seine Sache klagen und ihm sagen will, daß er der
+einzige sei, Schmid umzustimmen, wehrt Muralt gleich schmerzlich ab
+und reicht ihm seinen Brief. Es ist seine Berufung nach Petersburg,
+die schon seit Monaten schwebt: So wollt ihr mich alle verlassen, wie
+die Ratten das sinkende Schiff, schreit er im Zorn und will ihm das
+Papier an die Brust werfen. Aber es fliegt übers Geländer und tanzt im
+Zickzack in den Hof nieder, wo es wie eine Anklage seiner Heftigkeit
+liegen bleibt, bis Muralt nach einer Pause hinuntergeht und es aufhebt.
+Er kommt nicht zurück, schreitet mit gesenktem Gesicht aus dem Hof
+hinaus, sodaß Heinrich Pestalozzi wieder allein in dem leeren Gemäuer
+bleibt: ein Bettler im eigenen Haus, wie er bitter vor sich hindenkt,
+bevor er zurück in seine Kammer geht, wo die Vögel noch immer das junge
+Laub anschreien. Aber die Sonne ist fort, und aus den Ecken wachsen die
+grauen Gespinste, den letzten Tag zu verzehren.
+
+
+ 93.
+
+Meine Anstalt ist ein Uhrwerk, klagt Heinrich Pestalozzi, als Schmid
+und Muralt nicht mehr in Ifferten sind, davon mir irgendwer den
+Stundenzeiger und das Schlagwerk fortgenommen hat: nun schnurren die
+Räder weiter, und der Minutenzeiger läuft unaufhörlich im Kreis herum,
+aber niemand weiß die Stunde! Umso eifriger ist Niederer; er hat nun
+endlich freie Hand, die Gewichte nach seiner Neigung aufzuziehen, und
+macht aus der Stunde siebzig Minuten, die Anstalt und die Methode vor
+den Angreifern zu retten.
+
+Bisher haben die Gegner ihren Zorn nur in den Kantonsblättern auslassen
+können; der Aristokratenprofessor von Haller in Bern macht ihnen
+endlich im Ausland auf eine Weise Luft, die auch die Anspruchsvolleren
+befriedigt. Unter dem schützenden Mantel der Gelehrsamkeit -- darin
+seit je die Bosheit ihren geliebten Schlupf hat -- tritt er in den
+Göttinger Gelehrten Anzeigen auf, um dem harmlosen Deutschland die
+Augen über die gefährliche Revolutionsschule in Ifferten zu öffnen.
+Da kann der Haß gegen den Unruhestifter einmal dick ausfließen, und
+fleißige Schaufelräder bemühen sich allerorten, ihn ins Land zu
+leiten. Niederer, für den nun endlich die Methode aus dem Staub der
+Schulklassen in das Feuer der geistigen Prüfung kommt, schlägt mit dem
+Schwert seines Eifergeistes in den Brei, bis er selber in einem Berg
+von Schaum dasteht. Aber schon meldet sich von Zürich der Humanismus,
+der seit Agis Zeiten noch eine Abrechnung mit dem vorlauten Patrioten
+aus der Gerwe hat: in der viel gelesenen Zürcher Freitagszeitung
+stellt der Chorherr Bremi drei Dutzend Zeitungsfragen, die sich mit
+gewandter Bosheit gegen den rasselnden Niederer richten, aber Heinrich
+Pestalozzi dem gebildeten Geschmack preisgeben. Er will nun selber
+antworten, aber weder die Zeitung in Zürich noch die in Bern nimmt
+seine Einsendungen auf, sodaß doch wieder Niederer das Wort nimmt,
+diesmal in einem zweibändigen Werk, das den Streit in den Untiefen der
+Dialektik entscheidet.
+
+Die Aufregungen dieser papierenen Kämpfe machen aus dem Zähringer
+Schloß in Ifferten mehr eine belagerte Festung als eine Schule.
+Manchmal genug muß Heinrich Pestalozzi an seine Kattunfabrik und
+die Zurzacher Messe denken, wenn er zusieht, wie sich bei Niederer
+die Pläne jagen, wie im Handumdrehen ein Verlagsgeschäft, eine
+Buchdruckerei und eine Buchhandlung im Schloß eingerichtet werden, um
+besser für diese Händel gerüstet zu sein; doch liegt er nun fast immer
+an seinem Rückgrat in Schmerzen auf dem Bett und läßt es geschehen, daß
+ihm der Zielpunkt seines Lebens täglich mehr auf die Seite geschoben
+wird, als ob er um solcher Klopffechterkünste willen gelebt hätte.
+
+Darüber kommt er durch einen törichten Unfall auch noch fast ans
+Sterben: als er eines Tages mit einer Stricknadel im Ohr bohrt,
+aber nicht recht aus dem Gehänge seiner Gedanken aufwacht, läuft er
+unversehens damit gegen den Kachelofen, so unglücklich, daß ihm die
+Nadel durch das innere Ohr in den Kopf hinein sticht. Trotzdem es ihm
+wehtut, scherzt er selber noch über sein täppisches Ungeschick, bis
+die Schmerzen nach einigen Tagen heftiger werden, Fieber dazu kommt
+und ihm wie den andern die Gefährlichkeit ankündigt. Krüsi begleitet
+ihn nach Lausanne, aber da lassen ihn die Ärzte nicht mehr fort, weil
+nun schon das Fieber mit den Schmerzen um sein Bewußtsein kämpft und
+der Tod an seine Bettstelle treten will. Vier Monate seines Lebens
+kostet ihn die falsche Anwendung dieser Stricknadel, und manche Woche
+irrt sein Geist in Delirien hin, darin die Kämpfe der letzten Zeit in
+den Spuk früher Kinderträume tauchen, wo die Feinde mit greulichen
+Gesichtern und langen Messern heran schleichen. Namentlich ein plumpes
+Tier peinigt ihn lange, das dicht über seinen Augen schwebt und ihn
+erdrücken wird, wenn es sich niederläßt. Als seine Sinne heller werden,
+weil die Sonne durchs Fenster scheint und mütterliche Hände um seine
+Wiege sind, ist es der bunte Papiervogel, von dem er geschrieben hat,
+daß ihn die Appenzeller Mütter ihren Kindern übers Bett hängten,
+damit der suchende Blick daran den ersten Anhalt aus dem Unbewußten
+in die Menschenwelt fände. Endlich an einem Nachmittag erwacht er
+wieder in seine Greisenwelt, Anna Schultheß lächelt ihn an mit ihrem
+Faltengesicht, und der Vogel ist fort: aber die Erinnerung an seine
+Farben bleibt in ihm, wie wenn er aus dem Paradies gewesen wäre. Und
+noch einmal wird Heinrich Pestalozzi überwältigt von dem tiefen Sinn
+dieses Volksgebrauches: Mir löscht das Bewußtsein meiner alten Tage den
+Traum bald wieder aus, denkt er und liegt noch immer wie ein Kind in
+der Wiege lächelnd mit gefalteten Händen da; aber das Kind, das sich
+die Welt mit seinen Sinnen erst aufbauen soll, sieht am Eingang den
+paradiesischen Vogel, und es wird immer diesen Kern von Wohllaut in dem
+Weltgebäude seiner Anschauung fühlen.
+
+Mitten in diese Gedanken hinein muß er so herzhaft lachen, daß
+sich Anna erschrocken -- das Fieber möchte wiederkommen -- zu ihm
+hinunterbeugt. Es dauert lange, bis er mit den schwerfälligen Worten
+dem blitzschnellen Lauf seiner Gedanken nachkommen kann: Er hat von dem
+Papiervogel aus an das Bergwerk gedacht, darin die Seele im Verlauf
+einer Jugend von den Erfahrungen der Sinne begraben wird, und an die
+unendliche Geduld seiner Methode, sie mit der Ordnung einer wirklichen
+Weltanschauung wieder ans Licht zu bringen, auf einmal ist aber noch
+Niederer dagewesen mit dem Papierberg seiner Wissenschaft: Weißt du
+noch, kichert er und malt ihr mit dem Finger einen Vogel auf die Hand,
+wie mich der Henning aus Preußen neulich nach der Stelle in meiner
+Lenzburger Rede fragte, aus der Niederer ein gedrucktes Buch gemacht
+hat? Es wäre mir auch zu tiefsinnig, was ich da gedacht hätte, sagte
+ich: er müsse Niederer fragen!
+
+Als aber Anna schon wieder in Ifferten ist und er noch immer geschwächt
+von seiner Krankheit daliegt, bleibt der mühsame Weg von dem
+Appenzeller Vogel bis zur Wortposaune der Lenzburger Rede der Strich,
+an dem er den Gang seiner Absichten auf der Bettdecke abtasten kann:
+Es geht schon arg über den Rand damit, sagt er kopfschüttelnd, und
+macht sich fast ein Spiel daraus, wie alles andre danach, der Professor
+Haller in den Gelehrten Anzeigen und der Chorherr Bremi mit den drei
+Dutzend Zeitungsfragen samt den Niedererschen Antwortschriften auf den
+Boden purzelt, wo sie das Turnier in ihrer eigenen Welt, nicht in der
+seinen abmachen.
+
+Endlich nach fast vier Monaten kann ihn Anna im Wagen wieder holen; er
+möchte -- wie er wehmütig scherzt -- den Umweg über Ifferten garnicht
+mehr machen, da es über Burgdorf näher nach dem Birrfeld wäre. Und bei
+Cossonay muß ihn der Kutscher ein Stück gegen den Berg hinauf fahren,
+damit er ihr die Stelle seiner Rettung unter den Pferden zeigen kann.
+Es ist seit Januar Anfang Mai geworden, und die sonnige Luft hat ihn
+heiter gemacht; aber wie sie nachher durch das Sumpftal der Orbe
+hinunter fahren, fängt er bitterlich an zu weinen. Er hat an das Glück
+der Ruhe damals gedacht, und wie anders dies jetzt ist, in das er
+hinein fährt: Wo ist mein Jungbrunnen geblieben? klagt er unaufhörlich,
+sodaß Anna, die nicht an den Boden seiner Trauer gelangen kann, schon
+bitter zweifelt, ob die Nadel seinem Kopf nicht doch geschadet habe.
+
+
+ 94.
+
+In den selben Maitagen, da Heinrich Pestalozzi so weichen Herzens
+von der überstandenen Krankheit nach Ifferten zurück fährt, reist
+Bonaparte seinem Heer nach, den Feldzug gegen Rußland zu wagen. Noch
+einmal versammelt er in Dresden die deutschen Könige und Fürsten als
+seine Vasallen um sich, bevor er dem Winter in den russischen Steppen
+entgegen zieht. Das Gepränge seines Ausmarsches, den auch Tausende
+von Schweizersöhnen mitmarschieren, ist kaum in die Einöde verklungen,
+und eben legt der erste Winterschnee dem Jurarücken seine Schutzdecke
+auf, als der Brand von Moskau sein blutiges Nordlicht leuchten läßt.
+Noch sind es Wenige, die den Schein zu deuten wagen; aber bald fliegen
+die Gerüchte an den Landstraßen hin, daß der Weltherrscher in einem
+Schlitten allein durch Deutschland zurück geflohen sei, indessen die
+Leichensaat der großen Armee in Rußland geblieben wäre. Während sich
+eine dumpfe Erwartung über die Menschen legt, fängt bei den preußischen
+Lehrern, die noch in Ifferten sind, die Unruhe an zu brennen;
+kaum fallen die ersten Eiszapfen von den Dachrändern, als sie dem
+Befreiungskrieg ihres Vaterlands zufliegen.
+
+Wenn der Krieg auch fürs erste der Schweiz fern bleibt, bekommt ihn die
+Anstalt doch zu spüren; schon mit den preußischen Lehrern sind Zöglinge
+heimgereist, und auch sonst holen besorgte Eltern ihre Kinder. Mit dem
+Frühjahr schmelzen die Einnahmen bedenklich hin, während die Ausgaben,
+von den Niedererschen Ideen gedüngt, üppig ins Kraut schießen. Es geht
+schon wieder wie mit der Fabrik im Neuhof, Heinrich Pestalozzi in
+seiner Bedrängnis stopft die kleinen Löcher aus einem großen Loch, und
+noch einmal muß Anna Schultheß aus ihrem Ererbten sechstausend Franken
+hergeben, den Bankrott abzuwehren. Sie ist fünfundsiebzigjährig, als
+sie den Pakt unterzeichnet, und ihr Enkel steht schon als Jüngling
+dabei; ihm den Rest des Vermögens zu sichern, wird ein Vertrag gemacht,
+der sie nun selber auch auf den Altenteil setzt, sodaß sie beide
+nichts mehr besitzen, als daß sie -- wie die Lehrer auch -- ihre
+Unterkunft in der Anstalt haben: Jetzt kann ich nicht mehr das Senkblei
+deiner Stürme sein, sagt sie zu ihm, jetzt bin ich leicht wie du!
+
+Während er so das Schneckenhaus seiner Gründung mühsam weiterschleppt,
+ist die Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen, und wie Bonaparte
+früher die Völkerscharen Europas gegen seine Feinde geführt hat, so
+drängen sie nun gegen ihn. Ehe die Schweiz sich dessen versieht, steht
+die Hauptarmee der Verbündeten in Basel, bereit, nach Frankreich
+einzudringen; die Tagsatzung beschließt eine vorsichtige Neutralität,
+aber nun gibt es zwischen Für und Wider keine Möglichkeit mehr, und
+hundertdreißigtausend Österreicher rücken ungefragt ins Schweizerland,
+den Heerweg zwischen Jura und den Alpen nach Genf zu nehmen. Ifferten
+liegt mitten in der Bahn, und als schon Tausende durchgerückt sind,
+reitet eines Tages ein Offizier mit dem Befehl in die Stadt, das Schloß
+für ein Lazarett zu räumen! Kommt mir alles wieder? denkt Heinrich
+Pestalozzi; aber nun ist er nicht mehr der hilflose Waisenvater in
+Stans, und als die Stadt zwei Abgeordnete nach Basel ins Hauptquartier
+schickt, das Übel noch abzuwenden, schließt er sich trotz seiner
+neunundsechzig Jahre den beiden an.
+
+Die modischen Stadtherren sind nicht erfreut, als ihnen der ungekämmte
+Sonderling auch noch in den Wagen gepackt wird, und wo sie Rast machen
+unterwegs, verleugnen sie ihn vorsichtig, um nicht für seinesgleichen
+zu gelten. Aber als sie nach Basel kommen, wo es von Federbüschen
+und goldbestickten Uniformen wimmelt und auf den Straßen die Karossen
+der Fürstlichkeiten drängen, sind die Türen der Heeresämter nicht
+so offen wie unterwegs die Gasthöfe; der Weltkrieg hat keine Zeit
+für die Wünsche kleiner Landstädte, und selbst die Abgeordneten der
+Tagsatzung zucken mit den Achseln; die Stadtherren von Ifferten müßten
+ungehört abfahren, wenn ihnen nicht der mißachtete Greis die Türen und
+Ohren aufmachte. Wie sie sich wieder nach ihm umsehen, ist er eine
+vielbegehrte Berühmtheit, und schon am dritten Tag dürfen sie ihm zur
+Audienz beim russischen Kaiser folgen.
+
+Der empfängt den runzeligen Alten inmitten seiner Würdenträger wie
+einen Zauberer, und schon sein erstes Wort entledigt die Stadtherren
+von Ifferten aller Sorgen. Nur wurmt es sie, daß Heinrich Pestalozzi
+sich nicht sogleich -- wie es schicklich wäre -- mit ehrfürchtigem
+Dank zurückzieht, sondern den Herrscher aller Russen wie ihresgleichen
+ins Gespräch nimmt; obwohl sie nicht hören, was er ihm alles sagt,
+weil der Kaiser schrittweise vor seiner Lebhaftigkeit zurückweicht,
+zittern sie um seiner Zudringlichkeit willen, und als er ihn nach
+einer Viertelstunde bis an die gegenseitige Tür gedrängt hat und
+immer noch nicht nachgibt, sogar die Hand hebt, um den Kaiser nach
+seiner Gewohnheit am Knopf zu fassen, möchten sie ihn an den Beinen
+hinausziehen. Doch scheint der Kaiser anderer Ansicht zu sein; sie
+wollen es nicht glauben, aber sie sehen es mit ihren Augen, wie er den
+alten Mann, dem im Eifer sein Strumpf gerutscht ist, gerührt in die
+Arme schließt, bevor er sich wieder zu den Staatsgeschäften seines
+Gefolges wendet.
+
+Bei der Rückfahrt möchten die beiden seinem Alter diensteifrig zu Hilfe
+sein; aber nun scheint dem Greis die letzte Vernunft zu entfahren: er
+fragt sie selber aus seinem Traum, ob alles in Ordnung sei? Heinrich
+Pestalozzi sind in diesen Basler Tagen andere Dinge wichtig geworden
+als Ifferten und seine Anstalt. Wohl hat er dem Kaiser der Russen
+vieles gesagt, wie der Mensch durch einen naturgemäßen Bildungsgang
+in die Menschheit eingeführt werden müsse; aber er fühlt, es müßten
+Monate, nicht Stunden der Predigt sein, um seiner Botschaft wirklich
+solch ein Herz zu wecken: Es sind nicht die Menschendinge, die den
+Mächtigen ans Herz gehen, sagt er zu den Stadtherren, die garnicht
+merken, daß er mit sich selber spricht, es gilt nicht die Menschheit
+und nicht einmal ihr Volk, es ist nur ihre Macht. Aber diese Macht
+allein kann nichts als Heere unterhalten und Länder mit Krieg
+überziehen; wenn danach der Friede kommt, ist sie wie eine Schelle
+ohne Klöppel. Ich wüßte Einem, der mir folgte, eine Macht in Europa zu
+gründen, die mächtiger als Bonaparte wäre; und ich sage euch, wer es am
+ersten mit mir hält, dem wird die Herrschaft in Europa zufallen!
+
+Er hat die beiden Stadtherren aus Ifferten nun wirklich an den
+Rockknöpfen gepackt, und obwohl sein Menschengeist kühner als jemals
+auf Abenteuer in die Zukunft reitet, murmelt er nur Worte, die sie
+nicht verstehen. Darum sind sie froh, als er endlich schweigt und sie
+losläßt; denn ob sie noch immer über die Geltung dieses unscheinbaren
+Greises betroffen sind, ihn in die Arme zu schließen vermöchten sie
+nicht, trotzdem es ihnen ein Kaiser vormachte.
+
+
+ 95.
+
+So zufällig der Anlaß dieser Reise nach Basel für Heinrich Pestalozzi
+gewesen ist, so bedeutend wird ihre Folge. Er fährt den Stadtherren
+zuliebe über Bern zurück, wo sie einen Tag lang bleiben wollen, noch
+ohne Ahnung, daß dies gefährlich sein könnte. Schon zwei Tage vor
+Weihnachten haben die Berner die napoleonische Verfassung abgeschafft
+und sich wieder nach der ehrwürdigen Ordnung der Väter eingerichtet,
+die ihnen von neuem die Zwingherrschaft über den Aargau und das
+Waadtland geben soll. Sie wissen, daß sie beim Fürsten Metternich für
+solche Gelüste Rückhalt finden und haben schon den österreichischen
+Oberst Bubna beauftragt, im Durchrücken die verhaßte liberale Regierung
+in Lausanne einzustecken. So ist jeder Waadtländer in Bern wieder ein
+Empörer wie zu Davels Zeiten, und als Heinrich Pestalozzi sich in der
+Frühe nach seinen Ratsherren umsieht, sind sie noch am Abend eilig
+wieder abgefahren.
+
+Es wird zwar noch nicht mit Musketen geschossen, und er kommt
+ungefährdet aus den finsteren Trutzgassen der alten Bärenstadt wieder
+hinaus; aber seine Schweizer Gedanken haben eine böse Erschütterung
+erfahren. Nun erst sieht er, was dieser Siegesmarsch der Verbündeten
+bedeutet: er soll der europäischen Welt die letzten zwanzig Jahre wie
+ein Geschwür ausschneiden, und dies begreift er sofort, daß seine
+Menschenbildung mit zu dem Geschwür gehört. Zwar wird er auf den Schutz
+des russischen Kaisers und der preußischen Regierung rechnen können,
+aber sein Werk wird in einer so kurierten Welt keine Lebensluft mehr
+haben. Er ist nun selber die Schelle ohne Klöppel, und so lustig er
+über die vorsichtigen Ratsherren gespottet hat: nun kommt er wie sie
+mit einem Gefühl der Gefahr in Ifferten an. Die ersten Zöglinge, denen
+er vor dem Ort begegnet -- es sind die goldäugigen Zwillinge eines
+Pfarrers aus dem Traverser Tal -- holt er zu sich in den Wagen und hält
+sie fest, als ob schon die Landreiter kämen.
+
+Er findet Anna und die geborene Fröhlich in einer Aufregung, die der
+seinen gewachsen ist: Niederer, den jedermann noch im Verhältnis
+mit der Segesser glaubte, hat sich mit Rosette Kasthofer verlobt,
+der Heinrich Pestalozzi im vergangenen November das Töchterhaus als
+Eigentum abgetreten hat, was den Frauen schon damals nicht recht
+gewesen ist. Auch ihm kommt die Nachricht unerwartet, aber länger als
+eine Minute vermag er nichts Ärgerliches daran zu finden: Wir müssen
+nun alle zusammen halten, sagt er aus seiner andern Welt, und erst als
+Anna, die schon Wunderdinge aus Basel gehört hat, ihn verdutzt fragt,
+ob es vielleicht doch anders gewesen sei, als das Freudengespräch durch
+Ifferten gehe: berichtet er von seiner Audienz, darüber sie für diesen
+Abend doch noch fröhlich miteinander sind.
+
+Am andern Morgen aber ist der Spuk wieder da und böser, als er ihn von
+Bern mitbrachte. So muß Noah zumute gewesen sein, denkt er, als er die
+Arche baute: und meine vier dicken Türme können nicht schwimmen, auch
+ist es gar die Zwingburg des Zähringers selber, darin ich sitze! Ich
+muß mein Testament schreiben, sagt er zu Anna, aber sie merkt bald,
+daß es nicht ihrem Enkel Gottlieb gilt: »An die Unschuld, den Ernst
+und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes« steht oben
+darüber, und wenn er jemals Worte für seine innere Beredtsamkeit fand,
+so gelingt es ihm diesmal. Er hat in Bern und schon in Basel sagen
+hören, daß es die alte Kultur herzustellen gelte: aber nun leuchtet
+er die gerühmte Zeit der Väter mit dem Lichtschein der Menschlichkeit
+ab und zeigt, daß ihre hitzigen Preiser nur den äußeren Glanz des
+gesellschaftlichen Lebens meinen. Kultur aber ist nur da -- dies
+setzt er scharf ins Licht -- wo das Gewissen des einzelnen sich zur
+sittlichen Persönlichkeit durchfindet und wo die Gesellschaft zur
+Gemeinschaft solcher Persönlichkeiten wird. Darum kann Kultur nicht
+durch eine Veränderung der äußeren Zustände herbeigeführt werden,
+ihr Boden ist allein der Mensch: Laßt uns Menschen werden, damit wir
+Bürger, damit wir Staaten werden können!
+
+Es schwinden ihm Wochen und Monate über dieser Schrift, und die
+Täglichkeit, so peinlich und verworren sie ihn bedrängt, wird eine
+ferne Unwirklichkeit. Mancherlei Freunde wollen der bankrotten Anstalt
+mit Neuerungen in der Verwaltung aufhelfen, und Anna kommt von einer
+Reise nach Zürich nicht zurück, weil sie der Besserung nicht im Wege
+stehen will; Niederer heiratet die Kasthofer und geht für Monate
+mit ihr auf die Hochzeitsreise: es wird abgerüstet, das ist das
+einzige, was er davon wahrnimmt, und das treibt ihn wieder in die
+Gedanken seiner Schrift zurück. Es geht an den Grund seiner ganzen
+Lebensarbeit, es geht an die Wurzeln der europäischen Menschheit,
+da ist das zufällige Schicksal seiner Anstalt nichts mehr als die
+verspritzte Welle eines rauschenden Stromes. Als die siegreichen
+Mächte auf dem Wiener Kongreß das Schicksal Europas bestimmen wollen,
+ist der Freiherr von Stein der erste, dem er die Schrift übersendet;
+ganz ahnungslos, daß der als Triebfeder der deutschen Befreiung schon
+wieder ausgeschaltet ist, weil es nur noch die gierige Verteilung der
+Länderbeute gilt.
+
+Es ist zum letzten Mal, daß der Menschengeist in Heinrich Pestalozzi
+auf ein europäisches Abenteuer reitet; seine Seele sitzt unterdessen
+in den Nöten seiner Anstalt zu Ifferten und wartet, wer ihr daraus zum
+Frieden helfe. Die Reise nach Basel hat nicht das benachbarte Grandson
+von den Lazaretten freihalten können; von dort aus verbreitet sich das
+Nervenfieber der österreichischen Soldaten doch nach Ifferten, und
+als der Herbstwind die gelben Blätter auf den Weg zu treiben beginnt,
+trifft es die geborene Fröhlich. Im siebenundvierzigsten Jahr ihres
+schaffnerischen Lebens legt ihr der Tod die Hände ineinander, die seit
+dreizehn Jahren das Hauswesen der Anstalt gehalten haben. Als sie den
+Sarg hinaus bringen, trägt Heinrich Pestalozzi keine Hoffnung mehr
+hinterher: Anna ist von Zürich auf den Neuhof gegangen; er möchte vom
+Kirchhof zu ihr laufen, statt in das verwahrloste Schloß zurück zu
+gehen, wo fremde Hände sein Geld und seine Worte ausgeben.
+
+In dieser Zeit nimmt Niederer sein Herz in die Hand; er hat schon
+auf der Hochzeitsreise seinen Gegner Schmid in Bregenz besucht,
+den alten Groll auszulöschen; nun setzt er viele Briefe daran, dem
+Trotzigen die Rückkehr abzubitten, weil er allein mit dem Ruf seiner
+Lehr- und Regierfähigkeit die Anstalt retten könne. Und während
+die eifersüchtig streitenden Mächte auf dem Wiener Kongreß wie
+eine gestörte Spatzenschar auffliegen, weil Bonaparte noch einmal
+das Glück der Weltgeschichte versucht, kommen kurz nacheinander
+zwei Wagen nach Ifferten gefahren, die Heinrich Pestalozzi seine
+siebenundsiebzigjährige Frau Anna mit der hart und grau gewordenen
+Lisabeth und den Tiroler Schmid wiederbringen. Beide werden auch von
+den andern jubelnd begrüßt, und Pfingsten ist noch nicht im Land, da
+zeigen Stundenzeiger und Uhrwerk wieder den festen Gang des Uhrwerks
+an. Das Geld regnet nicht noch einmal zum Dach herein, aber es fliegt
+auch nicht mehr hinaus, weil eiserne Sorgfalt es behütet.
+
+Heinrich Pestalozzi hat schon nicht mehr gedacht, noch einmal sorgenlos
+unter den hoben Seebäumen spazieren zu können; aber so sehr er die
+Erlösung aus den täglichen Nöten fühlt, die Landschaft ist taub für
+ihn geworden, und es kann ihm begegnen, wenn er Anna zuliebe vor dem
+Gelärm der Zöglinge beiseite geht, daß er sich selber erleichtert
+fühlt, das Gewühl ihrer Stimmen nicht mehr zu hören: er hat Sehnsucht
+nach der harten Stille des Birrfeldes, die Anstalt ist ihm verleidet,
+und er möchte sein Waisenhaus haben. Mit all seinem Ruhm -- sogar den
+Wladimirorden hat ihm der russische Kaiser gesandt -- mit dem fremden
+Zulauf in seine Anstalt kommt er sich vor wie ein Wagen, der mit den
+Achsen nach oben auf der Wiese steht und seine schnurrenden Räder
+nur noch als Spielzeug der Kinder hat: Solange ich nicht mit einem
+Armenkinderhaus gezeigt habe, wie der Armut aus sich selber geholfen
+werden kann, hat die Methode nur der Schule, nicht dem Leben gedient,
+und mein Werk ist nur halb getan! sagt er zu Schmid. Aber der schüttelt
+eisern den Kopf: Ehe er nicht ohne Verschuldung auf den Neuhof zurück
+könne, ließe er ihn nicht fort! Er brauche vielleicht nicht länger als
+ein Jahr, aber das müsse er aushalten!
+
+Wenn Heinrich Pestalozzi über solche Worte bei Anna klagt, obwohl
+er sich der Liebe darin freut, legt sie wohl seufzend ihr Buch aus
+der Hand und sieht ihn über die Brille wie ein Meerwunder an, daß er
+noch mit grauen Haaren solch ein Kind seiner Unrast sei. Sie liest
+nun ziemlich den ganzen Tag und spricht von den Dingen und Gestalten
+ihrer Bücher, als ob sie die Wirklichkeit wären. Von ihrer letzten
+Anwesenheit im Neuhof hat sie das Nibelungenlied mitgebracht, wie es
+der Stadttrompeterssohn und Patriot Müller aus der Gerwe zum ersten Mal
+in Druck gab; daraus ist es gekommen, daß sie Schmid den ingrimmigen
+aber treuen Hagen von Tronje nennt.
+
+Er mag das grausam heidnische Buch nicht, wie er es nennt, und
+er schmollt oft in einen Greisenzank, wenn sie schon wieder über
+Kriemhildens Klage weint; aber es tut ihm wohl wie alter Wein, daß sie
+so geruhsam am Fenster sitzt und zum wenigsten sein Werk in Ifferten
+nun als gesichert ansieht. Wenn ihn selber die Unruhe quält, schlüpft
+er gern für einige Minuten in das Behagen ihres beruhigten Alters ein;
+er weiß, daß sie einen gepreßten Klatschmohn im Buch liegen hat, den
+sie im Sommer aus dem Schloßgarten anbrachte, und das verblaßte Rot
+davon braucht nur aus den Blättern zu leuchten, so möchte er schnurren
+wie ein Kater in der Ofenwärme.
+
+So glüht ihnen das Jahr still zu Ende, das unerwartet das letzte ihres
+Lebens ist. Anfangs Dezember wird sie von heftigen Brustschmerzen
+überfallen, die sich nach einer fiebrigen Nacht in Schlafsucht lösen.
+Am dritten Nachmittag wacht sie auf und streicht ihr dünnes Haar
+zurecht wie ein Mädchen, das sich verschlafen hat: Siegfried hat
+wie Christus keinen Sohn gehabt, sagt sie aus ihrem Traum und muß
+noch lächelnd weinen, weil sie an ihren Jakob denkt. Als sie dann
+kopfschüttelnd über ihre Verwirrung aufgestanden ist und auf dem Sofa
+sitzt, hebt sie die beiden Hände vor die Brust und sieht ihn aus einer
+tiefen Verwunderung an: Wie seltsam ist dies, Pestalozzi, in Schlaf
+zu fallen und wieder zu erwachen! Er hört nicht recht darauf, weil er
+ihr die Schuhe holen will; auch fällt ihm ein, daß nun bald wieder
+Weihnachten und Neujahr ist, wo er in der Kapelle sein Haus ansprechen
+muß, und wie er diesmal eher ein Brot, aus Gottes Korn gebacken,
+mitbringen könne als einen Sarg! Weil solche Einfälle in ihm ihr
+eigenwilliges Leben haben, ist er gleich eifrig dabei, Gedanken daran
+zu schnüren, indessen sie -- nicht anders glaubt er -- die Hände sinken
+läßt, noch einmal in ihren Schlaf zu fallen. Aber wie es darüber
+dunkel in der Stube wird und er die Messinglampe holt, die auch den Weg
+vom Neuhof hierher gefunden hat, sieht er, daß sie zu dreien im Zimmer
+gewesen sind, von denen zwei ihm unbemerkt weggingen.
+
+
+ 96.
+
+Als Anna Schultheß begraben wird, die für Heinrich Pestalozzi durch
+achtundvierzig Jahre das Senkblei seiner Stürme gewesen ist, gibt
+es eine Trauerfeier für Ifferten, als ob wirklich die Schloßherrin
+gestorben wäre. Eilfertige Liebe hat bei der Regierung in Lausanne
+bewirkt, daß ihr Sarg im Schloßgarten beigesetzt werden darf, unter
+zwei alten Nußbäumen, die sie gern hatte; und für Heinrich Pestalozzi
+ist schon der Platz daneben bereit. Irgendwer heftet ihm den
+Wladimirorden an den Rock, und auch sonst ist soviel Sorgfalt um die
+feierliche Stimmung des Tages bemüht, daß er sich als die willenlose
+Hauptfigur dieser Handlung umher geschoben fühlt und erlöst ist,
+endlich aus dem Schwall von Glockengeläut und feierlichen Mienen in
+seine Stube zu können. Er hat noch immer für das Frühjahr heimliche
+Pläne mit dem Neuhof gehabt, und es sollte eine gemeinsame Heimkehr
+aus der welschen Fremde sein. Nun hat er keine Heimat mehr; denn Anna
+liegt hier in der fremden Erde und wartet auf ihn. Ob seine ruhelosen
+Gedanken auf den Wegen der Vergangenheit mit Vorwürfen und Klagen
+seiner Unbeständigkeit nach ihr suchen, diese Qual steht unbeweglich in
+ihm: Nun bin ich schiffbrüchig, klagt er, und niemand kann mir wieder
+ans Land zurück helfen!
+
+So erlebt er seinen siebzigsten Geburtstag einsam und düster, und auch
+die Zustände in der Anstalt sind nicht mehr so, daß sie ihn aufheitern
+könnten. Als ob er nur den Tod der Hausmutter abgewartet hätte, ist
+der Lehrerstreit heftiger als je ausgebrochen; die Kränze liegen noch
+auf ihrem Grabhügel, da sind die Hände, die sie banden, schon wieder
+in Feindschaft geballt. Sie haben den Tiroler gerufen, daß er Ordnung
+in die Verwahrlosung brächte, nun er Unmenschliches leistet, die
+Anstalt zu retten, nehmen sie Anstoß an seinen Mitteln: Obwohl nur noch
+achtundsiebzig Zöglinge da waren, als er kam, lebten zweiundzwanzig
+Lehrer von den Einnahmen; er kündigte den Entbehrlichen und kürzte das
+Gehalt der andern, er sorgte für einen Stundenplan, der die Lehrkräfte
+ausnützte, und sah unbeugsam darauf, daß er eingehalten wurde; er
+richtete eine Buchführung ein, darin kein Rappen seitwärts ging, und
+räumte mit den Niedererschen Verlagsgeschäften, der Buchhandlung und
+Druckerei auf. Auch kann ihm niemand nachsagen, daß er den eigenen
+Vorteil suche, weil er am ersten Tag seine mühsamen Ersparnisse ohne
+Schein und Zins in das Loch der Verschuldung hineingeworfen hat. So ist
+er in Wahrheit der unabänderliche Stundenschlag, der alles bedrängt,
+was faul und sorglos ist.
+
+Der, den es am ärgsten trifft, ist Niederer; er war die rechte Hand
+und soll nun gehorchen, wo die linke kommandiert. Mehr als je hält
+er sich für den Herold der Methode und verachtet den unwissenden
+Rechenmeister: so wird er die Brandstelle für die Verstimmung der
+andern. Verbittert durch den Undank, und daß sie ihm mit ihrem Streit
+diese Zeit entweihen, stellt sich Heinrich Pestalozzi selber vor ihren
+Groll, Schmid zu schützen; um zu erfahren, daß sich seit den Tagen
+Steinbrüchels nichts für ihn geändert hat: kein Lehrer damals hat ihm
+seine Mängel grausamer vorgehalten, als es nun die eigenen Gehilfen
+tun, und namentlich Niederer führt eine Sprache, als ob er nur das
+verunreinigte Gefäß von Ideen wäre, die in seinem Feuer viel reiner und
+mächtiger brennten. Ach, daß ich einmal gerade und einfach meine Straße
+gehen könnte, klagt Heinrich Pestalozzi, statt immer auf die Folter
+meiner Unfähigkeit gespannt zu sein!
+
+Darüber wird es Pfingsten, und die Konfirmanden der Anstalt sollen
+durch Niederer in die Christengemeinschaft aufgenommen werden; um
+der besonderen Feierlichkeit willen sind auch viele Einwohner in der
+Schloßkapelle, als er die Kanzel besteigt. Vorher haben die Zöglinge
+eine Kantate aufgeführt, und wie draußen im jungen Grün ist in den
+Herzen drinnen die Stimmung des Festes, das so seltsam dem Geist in der
+Menschheit gewidmet ist, dem Heiligen Geist, der nach dem apostolischen
+Glaubensbekenntnis sogar gleich dem Vater und Sohn als göttlich verehrt
+wird. Das merkwürdige Mädchenwort seiner sterbenden Frau von Siegfried
+und Christus ist Heinrich Pestalozzi noch nicht so aufgeblüht wie an
+diesem Pfingstmorgen, wo es ihm wunderlich an die Schläfen klopft,
+um wieviel heller und siegfriedhafter die Gestalt Christi in dieser
+Erscheinung geworden ist als in seinem ganzen Leben von Bethlehem
+bis Golgatha. Der Geist macht lebendig, sagt er glückselig vor sich
+hin, indessen der Brustton Niederers mit wahren Wortschauern über
+die Versammlung regnet. Und merkt erst, daß etwas geschieht, als die
+Worte, die eben noch so rauschend flossen, gehackt und heiser in die
+Stille fallen, die sich ihnen erschrocken entgegenstellt. Und auch
+dann muß er seine verstörte Seele lange an der Schulter rütteln, daß
+es Wirklichkeit sei, wie Niederer sich auf der Kanzel mit hadernden
+Worten von ihm lossagt und ihm am Pfingstfest vor der Gemeinde sein Amt
+hinwirft.
+
+Der Zorn faßt ihn augenblicklich, und er hört seine Löwenstimme
+durch den Raum schallen, ihm den Frevel zu verweisen, bevor er die
+Worte bedenken kann. Der rote Niederer bringt danach seine Rede
+zu Ende und spricht auch das Gebet zum Schluß wie sonst; es ist
+Heinrich Pestalozzi, als müsse ein Wasser einbrechen und sie alle
+hinausschwemmen, die statt einer Pfingsterbauung nur die Häßlichkeit
+dieser Zänkerei in der Seele haben. Er spricht mit keinem, als sie
+hinausgehen, senkt seine Augen vor den Zöglingen und flüchtet in sein
+Zimmer wie ein Gerichteter: Es ist mein Haus, in dem das geschah, und
+es ist mein Werk, das zu diesem Ende zielte!
+
+Andern Tags erhält er von Niederer einen Brief; er zittert, daß eine
+Abbitte des Frevels darin sein möchte; als er ihn öffnet, ist es eine
+Aufrechnung seines Stundengeldes. Unter allen Mißlichkeiten seiner
+Lebenserfahrung ist ihm keine so verhaßt wie die, immer wieder an
+den Punkt zu kommen, wo die menschlichen Verhältnisse mit Franken
+und Rappen bezahlt werden. Er fürchtet, daß der Streit hierin noch
+häßlicher auslaufen möchte, schickt ihm am selben Tag das Geld und
+zugleich für die geborene Kasthofer eine Generalquittung, daß er auf
+alle Ansprüche aus dem Mädchenheim verzichte, sich aber bereit erkläre,
+was sie noch etwa zu fordern habe, als gültig anzunehmen und zu
+bezahlen. Nur endlich fort in eine reinliche Welt, fleht er, als er die
+Quittung fortschickt; und die Gewißheit, zum wenigsten in Geldsachen
+durch das Ordnungswerk Schmids nicht mehr unfähig zu sein, gibt dem
+Abschied eine grimmige Tröstung bei.
+
+Unterdessen hat der Austritt Niederers dessen Freundschaft mitgerissen;
+in den nächsten Tagen kündigen ihm andere Lehrer den Dienst, sodaß er
+zum guten Teil mit Schmid allein in der Anstalt bleibt, die dadurch in
+der Wurzel angeschnitten wird. Und als er sich durch diese Kündigung
+doch wieder in das Elend des Streites zurückgeworfen sieht, den er mit
+der Quittung aus dem Haus senden wollte; kommt ihm das Papier selber
+höhnisch zurück. Niederer und seine Gattin erkennen die Quittung nicht
+an; sie glauben, selber viel höhere Forderungen an ihn zu haben, deren
+er sich dadurch mit einer böswilligen Unterstellung entledigen wolle,
+und melden den Streit beim Friedensrichter an.
+
+Es ist schon dämmerig, als er diese Nachricht erhält in Worten,
+die ihn als einen Satan von Bosheit und hinterlistiger Berechnung
+hinstellen. Und nun erst erlebt er, wie die äußere Ruhe dieser Tage
+eine Selbsttäuschung gewesen ist, wie das Erlebnis in der Kirche noch
+garnicht auf den Grund seiner Seele gekommen war: jetzt schlägt es den
+Bodensatz seiner Verbitterung auf; daß er meint, in Verzweiflung und
+Galle ausfließen zu müssen. Warum lebe ich noch! jammert er und irrt
+hinaus in den Abend, um aus der Welt seiner Unfähigkeit fort zu laufen.
+Die Sonne des Frühsommertages hat nicht alle Helligkeit mitnehmen
+können hinter die Juraberge; nur unter den hohen Bäumen hat der Abend
+seine Schatten eingesetzt, über dem See und auf den Wiesen an seinem
+Ufer liegt das vergessene Licht bis hinauf in den unwirklich hellen
+Himmel: Es ist der Dämmerungsspuk meines übriggebliebenen Daseins,
+fühlt er, indem er schwer gegen das aufrauschende Wasser vor seinen
+Füßen angeht, es will nicht Nacht werden und ist doch kein Tag mehr!
+
+Als es Mitternacht schlägt, findet er sich in nassen Kleidern unter den
+Nußbäumen im Schloßgarten wieder. Sie haben ihr einen gemeißelten Stein
+aufs Grab gesetzt und auch da schon Raum gelassen für seinen Namen.
+Ach, daß ich darunter läge, weint seine verzweifelte Seele; gleich
+aber jagt sein Zorn auf, daß es der Boden seiner Feinde sei, darin er
+liegen soll. Sie haben mir schon lebendig den Grabstein aufgesetzt,
+schreit etwas in ihm, und als ob alle Feindschaft dieser Tage gegen
+ihn stände in diesem Stein, springt er ihn an und rüttelt an seiner
+Unbeweglichkeit und rast mit Wahnsinnskräften, bis er ihn wanken fühlt.
+Und obgleich Orgelstimmen in ihm aufquellen, ihn zu warnen: er vermag
+die Raserei nicht aus den Händen zu bringen, bis der Steinklotz sich
+hintenüberneigt und dumpf ins Erdreich schlägt. Da erst sieht er, daß
+seine Füße auf dem Grab und den zerstampften Blumen stehen; der Bann
+weicht von ihm, und mit einem wehen Aufschrei wirft er sich hin.
+
+
+ 97.
+
+Noch lange danach, wenn Heinrich Pestalozzi an diese Nacht denkt,
+fürchtet er, den Verstand von neuem zu verlieren, so fürchterlich
+ist seiner Seele der Einbruch sinnloser Wut noch in der Erinnerung.
+Schmid hat ihn andern Tages nach Bulet auf den Jura gebracht, wo ihn
+der Bergwind und die Stille in eine starke Kur nehmen. Soviel er kann,
+kommt Schmid abends die drei Wegstunden noch zu ihm herauf; aber er mag
+nichts mehr von Ifferten hören, fast abergläubisch ist seine Furcht,
+noch einmal in die Hölle der Feindschaft hinunter zu müssen. Ich bin
+wieder auf dem Gurnigelstein, sagt er bitter, diesmal endgültig, weil
+mich die Welt nicht brauchen kann!
+
+Aber Schmid hat ein Heilmittel bereit, das ihn aus der Wüste wieder zu
+den fließenden Brunnen seines Lebens bringt. Schon vor dem schlimmen
+Pfingstfest ist er nach Stuttgart zu dem Verleger Cotta gefahren, um
+einer Gesamtausgabe der Schriften willen; er hat auch einen Vertrag
+zustande gebracht, aber wie günstig dessen Bedingungen sind, zeigt sich
+nun erst, als die Vorausbestellungen anfangen, einzulaufen. Der Kaiser
+von Rußland steht mit fünftausend Rubel an der Spitze, und gegen den
+Herbst kann Heinrich Pestalozzi aus seinem Anteil mit einer Einnahme
+von fünfzigtausend Franken rechnen. Das ist ein Erfolg, den er auch
+in hoffnungsvollen Stunden nicht erträumte; nun kommt der Segen in
+die Entmutigung. Also bin ich den Leuten doch nur ein Buchschreiber
+geblieben, sagt er zuerst noch grollend und will auch nichts mehr von
+seinen Schriften wissen. Als er sie endlich zur Hand nimmt, in seiner
+Bergstille zu prüfen, was die bittere Erfahrung dieser Jahre daran
+geändert habe, packt ihn allmählich doch der Eifer, das Veraltete darin
+neu zu sagen. Damit wird er, sich selber unbemerkt, auf die Heerstraße
+seines Lebens zurück geführt; er sieht wieder, in wieviel Abenteuer
+er für die Befreiung der Menschheit gezogen ist, und wird Blatt für
+Blatt aufs neue begeistert für den Sinn seiner Sendung: die Treppe der
+Bildung in das Haus des Unrechts zu bauen.
+
+Selbst, was die Geißel seines Lebens gewesen ist, die eigene
+Unbrauchbarkeit, die er -- in seiner Krankheit nichtswürdig vollendet
+-- aus dem Seeboden herauf brachte in die Juraluft, hört auf, ihn zu
+lähmen: Ich sollte nicht anders sein, als ich da bin; Gott hat meine
+Seele gemacht, nicht ich; er wird wissen, warum sie solch ein unreines,
+undichtes und verbeultes Gefäß sein mußte! Vielleicht, oder gewiß, daß
+ich anders dem Menschengeist untauglich gewesen wäre, weil es doch
+soviel saubere und glatte Kannen gibt, darin nur Selbstgefälligkeit
+ist. Und darf ich wohl klagen, daß es mir übel ging, wo es meine
+Begnadung war, um der Menschheit willen aus Schuld Und Irrtum zu lernen?
+
+Wenn er in solchen Gedanken von der sonnigen Bergweide hinunter
+sieht über den See, der von hier oben betrachtet mit seinem Becken
+tief in die Berge gezwängt ist wie das Tal unterm Gurnigel, kann es
+ihm geschehen, daß ihn schon wieder ein Lächeln anfliegt, weil er das
+großmächtige Dach des Zähringer Schlosses klein wie ein Spielzeug
+sieht: Es waren nicht seine vier dicken Türme, die mich ängstigten --
+sie sind garnicht dick, ein Finger vor meinen Augen hält sie alle vier
+zu -- es war der babylonische Turm meiner Erziehungsanstalten. Was
+mir nur ein Mittel sein sollte, meine Methode klar zu machen und mir
+das Geld für mein Armenkinderhaus zu bringen, das ist mir in Wahrheit
+über den Kopf gewachsen, so hoch, daß ich vom Himmel nur noch das
+Viereck über meinem Gemäuer sah. Hätte ich Waisenvater in Stans bleiben
+können, wäre meine Welt klar und einfach und übersichtlich für meinen
+Verstand geblieben. Ich hätte es schwerer gehabt, gleichviel, ich wäre
+glücklicher gewesen! Und Heinrich Pestalozzi freut sich wie ein Knabe,
+als er auf der Kuhweide in Bulet ein Wort findet, das ihm alle Qual der
+letzten Monate in einen bittersüßen Scherz umkehrt: Weil ich es leicht
+hatte, weil ich es mir zu leicht machte, nur darum bin ich unglücklich
+geworden! Und jedesmal -- wie ein Sennbub wettend die Hand hinhält --
+steht hinter dem Wort und dem Gedanken sein Mut schon wieder auf beiden
+Beinen da: Topp, was gilts? Mein Leben hat noch Raum, glücklich zu
+werden!
+
+Als er im Herbst von seinem Berg herunter kommt, nußbraun von der
+Sonne, daß seine Augen wie zwei Porzellanschilder darin stehen -- hat
+ihm Schmid in die Hand versprochen, daß er den Traum seiner Seele,
+sein Armenkinderhaus, sogleich versuchen darf.
+
+Er findet ein Gebäude dafür in dem benachbarten Clindy; denn nun hat er
+keine Fluchtgedanken mehr: meine Welt ist überall! sagt er, der sich
+mit den Einnahmen aus seinen Schriften fürstlich genug vorkommt, die
+Heimat des Werkes selbst zu wählen. Auch Gottlieb, der Enkel, der von
+den Frauen einem Gerber in die Lehre gegeben war -- damit er einmal
+fester als sein Großvater im Leben stände -- und der ihm zu Neujahr
+fröhlich wiederkommt, will gern hier bleiben, wo seine Mutter und die
+Großmutter begraben liegen. Ich habe meinen Jungbrunnen wieder! sagt
+Heinrich Pestalozzi, und als er in sein dreiundsiebzigstes Jahr tritt,
+liest er den Seinen zum Geburtstag eine Rede vor, die ihnen und der
+Welt ein Testament seiner befreiten Stimmung sein soll; sie schreitet
+Schritt für Schritt noch einmal die Absichten seines Lebens ab, um mit
+dem letzten in Clindy am Ziel zu sein. Gleich für den Neuhof hat er die
+Betteltrommel rühren müssen, und bis ins Alter sind ihm die Geldsorgen
+auf den Fersen geblieben: jetzt endlich einmal steht er selber als
+Stifter da, und keine Stunde in seinem Dasein ist er so stolz im Glück
+gewesen wie nun, da er die fünfzigtausend Franken als ewiges Kapital
+für seine Anstalt in Clindy stiftet.
+
+Es ist die Höhe seines Lebens, die er nun in der dünnen Luft seines
+Alters doch noch erreicht. Als ich auszog, war ich Einer; jetzt sind
+es Tausende in der Welt, die meinem Gedanken diese Hülfe bringen! Aus
+dem Einsiedler im Neuhof ist eine Gemeinde in Europa geworden; mein
+letztes Werk in Clindy soll dem Menschengeist in Europa eine andere
+Stunde der Befreiung einläuten als das Jakobinertum der Revolution!
+In Stans, wo ich meine Schulmeisterschaft begann, ist auch die Heimat
+von Winkelried, der in der Schlacht bei Sempach dem Vaterland mit
+seiner Brust eine Gasse durch die Lanzen machte: mir hat es die Brust
+zerstochen gleich ihm, aber nun ich sterben gehe, schallt Sieg um mich,
+weil ich die Gasse der Menschenbildung gebrochen habe!
+
+
+ 98.
+
+Es sind die Sturmtage mit jagenden Regen- und Hagelschauern, die
+das schönste Abendrot auftun und die Berge mit den Wolken in eine
+Herrlichkeit verklären. Aber leicht ist dann noch hinter den Bergen
+ein Hinterhalt der kalten Winde, die den Nachthimmel doch wieder mit
+schwarzem Sturmgewölk bedecken, als ob der Aufruhr nun in die hohen
+Lüfte gekommen wäre, indessen die Nacht sich ruhig in die Täler der
+Erde legt. So brennt die Abendröte Heinrich Pestalozzis in die letzte
+Täuschung hinein: er hat die fünfzigtausend Franken aus den Händen
+gegeben, ehe sie darin waren; erst nach drei Jahren kommt eine Rate
+von zehntausend Franken an; so kann er die Anstalt auftun, aber nicht
+halten. Niederer hat den Streit um Mein und Dein zu einem Prozeß
+gemacht. Demütigung und Trotz, Zorn und Verzweiflung, Liebe und Verrat:
+alles jagen die kalten Winde aus dem Hinterhalt der Berge in den
+Sturmhimmel der sinkenden Nacht.
+
+Noch sechs lange Jahre bleibt Heinrich Pestalozzi in Ifferten, und
+immer mehr entsinken die Zügel seiner zitternden Hand; wohl hält
+Schmid die Peitsche, die Pferde doch noch in den Stall zu bringen,
+aber längst schon ist es kein fröhlicher Trab mehr, den sie laufen;
+sie sind vom Weg gekommen, und ihre Beine stapfen im Moor, das die
+Räder versinken läßt, bis keine Hoffnung bleibt, den Wagen zu retten:
+sie müssen abspannen vor der Nacht und mit den Pferden den Heimweg
+nach dem einsamen Licht suchen, das aus der Ferne leuchtet. Es kommt
+vom Birrfeld, wohin sein Enkel Gottlieb mit der Schwester Schmids, als
+seiner jungen Frau, ihnen voraus gegangen ist, den dritten Hausstand im
+Neuhof zu versuchen. Am letzten Februar seines achtzigsten Jahres nimmt
+Heinrich Pestalozzi Abschied von dem Grabstein unter den Nußbäumen;
+seine Hände sind nicht mehr stark genug, daran zu rütteln, und in
+seiner Seele rast kein Zorn mehr: Ich muß heim, Anna, klagt er, du
+bleibst unter deinem gemeißelten Stein; ich armer Müdling gehe bei den
+Enkelkindern im Birrfeld eine Zuflucht suchen. Aus Reichtum und Armut
+kamen unsere Wege zusammen, nun scheidet sich der meine in die Armut
+zurück; dich lasse ich im Schloß, als dessen Herrin sie dich begruben!
+
+
+ 99.
+
+Der Schnee vergeht im Tauwind, und die Wasserrinnen ziehen schwarze
+Striche hindurch, als Heinrich Pestalozzi nach siebenundfünfzig Jahren
+zum zweitenmal auf das Birrfeld kommt: Es gibt keinen Punkt auf
+diesem meilengroßen Kirchhof, sagt er zu Schmid, darauf ich nicht eine
+Erinnerung als Grabstein stellen könnte! Aber wie sie gegen den Neuhof
+fahren, steht Lisabeth da, die fast ein halbes Jahrhundert lang seine
+Schaffnerin gewesen ist, und hängt Kinderwäsche in den Wind. So bin ich
+auch noch Urgroßvater geworden! will er sagen, aber der Boden seines
+Lebens bricht durch, daß Anna und Jakob, sein Enkel Gottlieb mit seiner
+Frau nichts mehr als die Erinnerung eines fremden Romans in seiner
+Seele sind. Ich habe mich verspätet, Babeli, ruft er und will aus dem
+Wagen zu ihr hinspringen; doch sind ihm die Beine steif von der langen
+Fahrt, und ehe er an die Gartentür kommt, steht Lisabeth statt ihrer
+vor ihm und nimmt ihn an der Hand: Wir haben erst für morgen auf Euch
+gerechnet, Herr Pestalozzi, aber die Suppe wird bald gerichtet sein! Er
+sieht ihr hartes, treues Gesicht und findet das Babeli nicht; als ob er
+sich verirrt hätte, tritt er in das Haus. Auch als sie ihm den Urenkel
+darbringen, betrachtet er das eigene Geschlecht kopfschüttelnd wie
+ein fremdes und beugt sein braunes Runzelgesicht über das Kissen, als
+ob er sich vor ihm entschuldigen müsse: Ich will hier nur den andern
+Wagen abwarten, sagt er und merkt nicht, daß seine Tränen dem Säugling
+ins Gesicht tropfen, bis der ein Geschrei anhebt und in die Kammer
+zurückgebracht wird.
+
+Als danach die letzten Leintücher des Winters aus dem Birrfeld
+verschwinden und die Quellen wieder klar fließen, geht er viel um den
+Neuhof herum, die Obstbäume zu suchen, die noch aus seiner Zeit stehen
+geblieben sind -- es ist mancher ein Krüppel geworden, den er noch als
+schwankes Stämmchen kannte -- da drängen sich die Grabsteine seiner
+Erinnerung am dichtesten, und je nachdem sie lustig oder ärgerlich
+sind, kann er zornig brummen oder lachen. Wenn ihn die Birrer so sehen,
+wie er mit dem Halstuchzipfel im Mund seine ewige Unterhaltung hat,
+sagen sie, er sei kindisch geworden; aber die Alten, die ihn noch
+kennen, wehren ab: so sei er immer gewesen, im Streit mit den eigenen
+Gedanken. Daß sie ihn die schwarze Pestilenz nannten, will keiner so
+recht mehr wissen; alle aber wundern sich, wie er mit seinen achtzig
+Jahren noch rüstig zu Fuß ist und weder einen Gang nach Brugg oder
+hinauf nach Brunegg anschlägt, wo die Frau Hünerwadl -- ehemals seine
+Schülerin zu Ifferten -- ihm noch immer wie eine Tochter anhängt.
+Wenn ihm der Berg zuviel geworden ist in der Maisonne, fordert er
+sich von ihr ein Ruhebett, ein Stündchen friedlich zu schlafen. So
+lebt er den ersten Frühling, als ob er nur auf den Tod warte und von
+der Rastlosigkeit seines langen Lebens allein noch seine schrulligen
+Gewohnheiten hätte.
+
+Wie dann aber die Maienblust auch im Birrfeld ihre weißen Fahnen weht
+mit Wolken und Blühebäumen und in Schinznach wieder die Helvetische
+Gesellschaft tagt, in der er vor einundfünfzig Jahren den Vortrag des
+Landvogts Tscharrner hörte, läßt er sich hinüber fahren und erscheint
+unter den Jungleuten, die da im Geist ihrer Väter und Großväter raten.
+Es lebt keiner mehr aus jenen Tagen, und so steht er erschüttert am
+selben Ort und in der selben Stube unter den fremden Gesichtern einer
+neuen Zeit; aber es sind wenige da, die ihn nicht kennen, und auch
+diese Wenigen schätzen es als ein Glück, den Greis zu sehen, der wie
+eine ehrwürdige Gestalt der Vorzeit in ihre Gegenwart eintritt. Und
+so erlebt Heinrich Pestalozzi noch einmal, daß es außer den Zürcher
+Humanisten und den Berner Aristokraten doch andere Schweizer gibt,
+die ihm innig anhängen; und daß es die besten seines Volkes sind, die
+sich hier treffen, weiß er aus seinen Tagen. Es wird ein Jubel ohne
+gleichen, als sie ihn zu ihrem Präsidenten wählen; und wenn er sich wie
+ein dürres Eichblatt vorkam, als er eintrat, vom Wind in ihr junges
+Grün geweht: so geht er andern Tags fort in dem Gewühl eines Baumes,
+der seine Blätter rauschen hört.
+
+Seit diesem Maitag drängen die Säfte noch einmal hoch, die ihm selber
+in der Vereinsamung und Enttäuschung der letzten Jahre eingetrocknet
+schienen. Seine Wurzeln haben die Heimat wiedergefunden; aber es ist
+nicht das Birrfeld, es ist das ganze Schweizerland, darin er sich
+gewachsen fühlt, indessen zu Ifferten nur das Gezänk von Lehrern und
+Zöglingen war. Nun braucht ihn niemand mehr an die noch ausstehenden
+Bände seiner Gesammelten Werke zu mahnen; eher müssen die Seinen
+aufpassen, daß er sich nicht zuviel zumute. Sie haben ihm einen
+Mann gefunden, der sein Diener und Schreiber in einem ist, einen
+ordentlichen Glarner, namens Steinmann; der hat nun manchmal bis
+tief in die Nacht zu schreiben, während Heinrich Pestalozzi nach
+der Gewohnheit seines müden Rückens in den Kleidern auf dem Bett
+liegt und unermüdlich das Band seiner Gedanken abwickelt. Ehe er es
+selber gedacht hat, ist er mitten darin, noch einmal die Lehre seiner
+Menschenbildung darzustellen. Er nennt es seinen Schwanengesang,
+und der treue Steinmann muß oft genug anhören, wieviel Wehmut und
+Schelmerei sich in dem Titel mischen; denn als er noch einmal mit dem
+Eifer seines Alters das Ziel und die Mittel seiner Lehre durchgegangen
+ist, als ob er behend eine Leiter hinauf liefe, die er sich Sprosse
+für Sprosse selber mit dem Schnitzmesser machen mußte: kommt er wieder
+an das Fragezeichen, das ihm seine Lebenserfahrung als Fähnchen oben
+hingesteckt hat: Warum, wenn dies alles so klar und notwendig ist,
+warum bin ich selber mit meinen Versuchen immer wieder gescheitert und
+als ein Unbrauchbarer auf den Neuhof zurückgekehrt?
+
+Noch einmal zieht er die Lehre aus seinem Leben, die ihm die harte
+Juraluft in Bulet gab, daß er ein unreines und verbeultes Gefäß für
+seine Lehre gewesen sei; und der selbe Bekennerdrang, der ihm den
+Sarg in die Kapelle stellte, läßt ihn nun nach den Mängeln seiner
+Natur und ihrer Erziehung suchen. Sich selber unerwartet schreibt
+er mit achtzig Jahren seine Lebensgeschichte; aber es ist weder
+Altersgeschwätzigkeit noch Eitelkeit oder Jugendwehmut darin, es wird
+die Schicksalsgeschichte seiner Fehler und Schwächen. Und er ist tapfer
+genug, vor Ifferten nicht Halt zu machen; obwohl ihm doch wieder
+Bitterkeit und Zorn einfließen, daß er oft genug an den Bodensatz
+seiner Verzweiflung kommt, läßt er nicht nach, bis er auch da seine
+Lehre und ihre Gültigkeit von seiner eigenen Unbrauchbarkeit gereinigt
+hat.
+
+Der Sommer weht ihm darüber hin wie kaum einer in seinem Leben; es wird
+Herbst und Winter, ehe er es weiß, und erst, als wieder Frühjahr um
+ihn ist -- es sind nur einundachtzig Lenze, denkt er, man könnte sie
+in einer Minute zählen, wenn sie neben- statt hintereinander ständen;
+und nur, weil man immer eins durchs andere sieht, scheint es wie eine
+Unendlichkeit -- kann er die Druckbogen absenden. Es ist unterdessen
+noch einmal bunt um ihn geworden; seitdem er sich so unvermutet in
+Schinznach zeigte, wissen viele, daß er wieder im Land ist; und mancher
+erinnert sich seiner als eines Ideals der eigenen Jugend, das er über
+den toten Jahren zu Ifferten fast vergessen hat, als ob Heinrich
+Pestalozzi längst gestorben wäre: nun ist er für den Aargau von den
+Toten auferstanden, und es vergeht selten ein Tag, der ihm nicht einen
+Dank zubrächte, ein Stück seines Menschengeistes, das irgendwo zum
+eigenen Leben kam und sich seines Schöpfers erinnert. Er hat sich noch
+einmal durch den Groll schreiben müssen: es waren die Reste des alten
+Mannes in mir, denkt er nun oft mit den Worten Annas; seitdem ich den
+los bin, ist mir frei und leicht.
+
+So geht er zum andernmal in die Helvetische Gesellschaft, diesmal
+nach Langental als ihr Präsident; und was im vergangenen Jahr eine
+Überraschung gewesen ist, fällt nun als Springbrunnen des Segens auf
+ihn zurück. Er fühlt es und sagt es auch: dies ist der Dank meines
+Landes! und alle bitteren Jahrzehnte wiegen nun die eine Stunde
+nicht auf, da er sich im Kreis dieser Männer und Jungmänner als eine
+Lebensquelle fühlt, die immer noch über den Rand zu fließen vermag. Er
+kommt beschüttet vom Glück und mit der seligen Wehmut heim, daß es sein
+letzter Tag in ihrem Kreis gewesen sei, weil er ein Nocheinmal nicht
+ertrüge.
+
+Im Spätsommer ist er immer noch rüstig genug, mit Schmid -- der seit
+Ifferten ein Unsteter geworden ist und nun nach Paris will, um dort
+eine französische Ausgabe der gesammelten Werke einzurichten -- bis
+Basel zu reisen; in die Stadt, die ihn, das weiß er, bis auf den Tag
+verachtet in dem Hochmut ihrer gesicherten Kultur, und die ihm doch
+zweimal durch einen ihrer Bürger zur Rettung geworden ist. Ich hätte
+nicht her kommen sollen, klagt er; es stimmt ihn wehmütig, die Gassen
+und Häuser wieder zu sehen, die einmal lebendig um sein Leben standen
+und jetzt für ihn gestorben sind. Doch läßt er sich durch Schmid
+verleiten, im Wagen nach Beuggen hinaus zu fahren, wo Zeller ein
+Waisenhaus in seinem Sinn führt. Da hat sich die Anstalt seit Tagen
+gerüstet, den Vater der Waisen zu empfangen, und die Kinder treten ihm
+mit Gesang entgegen. Er weiß beim ersten Ton: das hätte ich mir nicht
+antun dürfen, meinem versagten Herzenswunsch das Bild eines fremden
+Gelingens zu zeigen. Sie wollen ihm einen Kranz überreichen, aber er
+wehrt ihn ab und wankt vor ihnen in den Saal, wo ein Ehrenpult steht,
+daß er zu den Kindern spräche. Vorher singen sie noch einmal:
+
+ »Der du von dem Himmel bist,
+ alles Leid und Schmerzen stillest,
+ den der doppelt elend ist,
+ doppelt mit Erquickung füllest,
+ ach! ich bin des Treibens müde!
+ Was soll all der Schmerz und Lust!
+ Süßer Friede,
+ komm, ach komm in meine Brust!«
+
+Hat ihm schon draußen der Gesang an sein tiefstes Leid gerührt,
+so reißt er ihn nun zu Tränen hin, daß er meint zu ersticken. Die
+Goetheschen Verse, die ihm schon in Lienhard und Gertrud klangen, wie
+wenn irgendwo in der Welt eine Quelle der Liebe unerschöpflich quölle,
+ergreifen ihn nun in ihrer überirdischen Schönheit; er vermag vor den
+Augen dieser Waisen, die alle mit fragender Neugier an seinem Schmerz
+hängen, nichts als aus der Tiefe seines Herzens zu schluchzen, wie
+vielleicht in seiner ersten Jugend, aber nie mehr in seinem bitter
+gesegneten Leben.
+
+Der Tag hat ihm in seine Heiterkeit einen Schnitt gemacht, der nicht
+wieder heilt. Obwohl sein Verstand kopfschüttelnd dabei steht, er
+vermag seiner Seele nicht Halt zu gebieten, die nun ihre Sehnsucht
+immer nach der gleichen Seite fließen läßt, bis sein Enkel Gottlieb ihm
+nachgiebt und neben dem Neuhof noch den Bau eines Armenkinderhauses
+beginnt. Er weiß es genau und sagt es sich immer wieder, daß er nicht
+mehr hineinkommt, daß es aus seinem Leben in die Nachwelt gebaut wird;
+aber er kann seine Hände nicht davon lassen, und wieder wie damals am
+Neuhof steht er unter den Bauleuten, ihnen übereifrig Handreichung zu
+tun, obwohl es nasser Schnee ist, darin seine Füße kalt werden.
+
+Unterdessen ist sein Schwanengesang erschienen; aus seiner
+Lebensgeschichte hat ihm der Verleger die Jahre in Ifferten
+herausgenommen, er hat sich aber nicht abhalten lassen, daraus eine
+besondere Schrift zu machen, die er »Meine Lebensschicksale« nannte.
+Lobendes und Tadelndes kommt ihm darüber zu, es ist ihm nicht mehr
+wichtig, seitdem er in Beuggen war: Ich bin auf dem Altenteil der
+Seele, sagt er dem Steinmann, der Menschengeist muß sehen, wie er
+allein in der Welt zurecht kommt! Aber im Spätwinter fällt ihm die
+Antwort aus Ifferten wie ein Stein auf den Tisch; Niederer hat ihn
+geworfen, jedoch nicht die Tapferkeit gehabt, dafür einzustehen, sodaß
+nun ein junger Lehrer an der Mädchenschule mit dem Namen Biber die
+Schrift decken muß. Als Heinrich Pestalozzi die Anklage liest, die ein
+ziemliches Buch ist, hat er ein Gefühl, als ob er noch immer lebe, aber
+die Welt um ihn hätte ihren Lauf eingestellt. Vor einem halben Jahr
+würde er es verwunden haben, sich aus dem eigenen Haus als Lügenvater
+und als Wahnsinniger beschimpft zu sehen; jetzt nach dem Tag in Beuggen
+trifft ihn der Dolchstich, daß er hinstürzt.
+
+Mitten aus seiner hartnäckigen Gesundheit haben sie nun im Neuhof einen
+Kranken zu pflegen, dem das Fieber aus der Seele in den Körper zu
+rasen scheint. Schon liegt er von Schmerzen zerrissen auf dem Bett, da
+will er noch die Antwort schreiben, und er fleht den Arzt an, ihm ein
+paar ärmliche Wochen zu schenken, da er vorher doch so sinnlos lange
+gelebt habe! Nicht mehr wie sonst vermag er zu diktieren, er muß die
+Feder selber führen, und es ist grausig für den getreuen Steinmann, daß
+er ihn vielmals ohne Tinte schreiben sieht: Tupfen, Herr Pestalozzi,
+tupfen! sagt er ihm immer wieder; aber die gequälte Seele sieht nicht
+mehr, was sie tut.
+
+Die Schmerzen werden bald so stark -- es sind Harnbeschwerden -- daß
+der Arzt ihn nach Brugg haben möchte, um besser nach ihm zu sehen.
+Noch liegt dicker Schnee, als sie ihn mit Kissen und Decken in einen
+Schlitten packen. Das ist mein Wagen, diesmal der letzte, sagt er zu
+seinem Urenkel, den sie ihm aus der Wiege anbringen müssen, daß er den
+fiebrigen Kopf über ihn neige; auch den andern gibt er mit tapferen
+Worten die Hand, nur als sie an den halbfertigen Mauern des Armenhauses
+vorbeifahren, hält er sich die weinenden Augen zu.
+
+Im Gasthaus zum Roten Haus in Brugg wartet die Sorgfalt auf ihn und
+Steinmann ist da, ihn zu pflegen. Noch eine Woche lang strömt ihm
+die besorgte Liebe seiner Freunde aus dem Aargau zu, und er ist wach
+genug, sie zu empfinden; nur der Glarner, der ihn nun besser kennt
+als irgend einer, sieht durch Tränen, wie er die Hände nicht mehr zu
+halten vermag, die Hände und die Lippen, als ob er unablässig aus einem
+niederstürzenden Schutt die Worte ausscharren müsse.
+
+Als es stiller damit wird, weiß der treue Diener zuerst, wer die Ruhe
+bringt; und während die andern an seiner Heiterkeit wieder auf Genesung
+zu hoffen wagen und mit ihm sprechen, als ob dies nur ein unpäßlicher
+Aufenthalt auf einer Poststation sei, geht Steinmann in blinder Trauer
+um seinen erwürgten Herrn beiseite. Bis mit dem Abend die Heiterkeit
+aus den Augen Heinrich Pestalozzis auch in die Sprache kommt, daß
+sie hell und frei wird wie bei einem Knaben, und endlich sich ein
+überirdisches Lächeln um die Greisenlippen legt, dem nur die Augen
+nicht standhalten, weil sie im Anblick der jenseitigen Welt erstarren
+und für diese leblos aufgerissen sind: da schließt seine Dienerhand die
+beiden Fensterläden, die zwischen dieses und jenes Leben von Anbeginn
+der Menschheit gelegt sind.
+
+
+
+
+ Nacht
+
+
+ 100.
+
+Selten sind über das Birrfeld solche Schneemassen niedergegangen wie
+in der Februarnacht, da der Glarner im Roten Haus zu Brugg Heinrich
+Pestalozzi die erste Totenwacht hält; und erst am andern Nachmittag
+ist soviel Bahn gemacht, daß sie ihn mühselig genug im Schlitten nach
+dem Neuhof holen können. Da wird er bei Kerzenlicht in der Kammer
+aufgebahrt, wo die stummen Dinge seiner Gewohnheit eine Woche lang
+auf ihn gewartet haben; als ob er aus tiefem Schlaf erwachen wolle,
+liegt er im Sarg, und das Lächeln glücklicher Träume scheint sich in
+den Runzelfalten seines verwelkten Gesichtes zu verstecken. So ist er
+über Nacht geworden, erklärt Steinmann dem Pfarrer und gibt auch seine
+Dienerweisheit dazu: Der Körper freut sich, endlich die unruhige Seele
+los zu sein!
+
+Am andern Vormittag begraben sie ihn auf dem verschneiten Dorfkirchhof;
+der Wind fegt eisig über das Birrfeld, und die Wege zwischen den
+Dörfern sind wie Maulwurfsgänge durch den meterhohen Schnee gegraben:
+aber die Schulkinder aus der ganzen Kirchgemeinde kommen, ihm ein Lied
+ins Grab zu singen, und die Schulmeister tragen den Sarg. Damit sie auf
+dem Kirchhof stehen können, haben die Bauern dem Küster helfen müssen,
+einen Hof aus dem Schnee zu schaufeln, und die gefrorenen Erdschollen
+poltern gleich Steinen auf die Bretter: es ist ein anderes Begräbnis
+als vor elf Jahren, da sie Anna Schultheß im Schloßgarten zu Ifferten
+begraben. Das bäuerliche Dasein, aus dem er mit seiner Bitte an
+Menschenfreunde hervortrat, hat seinen Leib zurück gefordert, und bevor
+die Freunde im Land Und draußen seinen Tod erfahren, verweht der eisige
+Wind den einsamen Grabhügel schon mit neuem Schnee. Als ihrer dann
+einige mit dem Frühjahr kommen, staunen sie, wie das Mißgeschick ihm
+bis auf den Kirchhof folgte: er ist mit seinem Sarg unter die Traufe
+des Schulhauses geraten; der Regen, den das Dach von den Dorfkindern
+abhält, gießt auf seinen Hügel. Statt des Rosenstockes, der darauf
+steht, möchten sie ihm einen Stein setzen; aber der Enkel im Neuhof
+zeigt ihnen ein vergilbtes Blatt, darauf er sich selber den Grabschmuck
+wünschte.
+
+Der Stock trägt weiße Rosen und wird mit den Jahren ein Busch, der
+im Frühsommer als ein schäumender Ball vor dem kleinen Schulhaus
+steht. Selten kommt dann ein Fremder, der sich nicht eine Blüte davon
+mitnähme; und an diesen Wallfahrten zu seinem Rosenstock merken die
+Birrfelder, daß etwas von Heinrich Pestalozzi lebendig geblieben sein
+muß.
+
+ * * * * *
+
+Sein Sterbeteil ist längst vermodert, und die Seele Heinrich
+Pestalozzis ruht im Zeughaus des Lebens aus von der Ruhelosigkeit
+ihrer Tage; nur der Menschengeist, dem sie die schwingende Unruhe
+war, reitet sein Abenteuer in die Unsterblichkeit. Die Zeiten sind
+nicht danach, seinen Wahlspruch, Freiheit durch Bildung, beliebt
+zu machen, und das prophezeite Jahrhundert der Menschlichkeit will
+nicht anbrechen. Nach dem Traum der Befreiungskriege ist Europa
+wieder eingeschlafen, und die deutsche Jugend der schwarzrotgoldenen
+Burschenschaften wird hinter Gitterstäben von dem Traum kuriert.
+Überall hat sich der Geist der Väter auf die vergoldeten Stühle der
+alten Herrlichkeit gesetzt, und die Landreiter spähen, daß seine Hüte
+an den Stangen in der schuldigen Ehrfurcht gegrüßt werden. Darüber
+flackern die Menschenrechte, denen zuliebe soviel Köpfe abgeschlagen
+wurden, zum andernmal auf in einer Revolution, aber diesmal schlägt ein
+nasser Sack die Strohfeuer aus: Das Reich fällt noch einmal in einen
+bleiernen Morgenschlaf, und über den Ozean her leuchtet ein Morgenrot,
+dem die halbwachen Schläfer in Millionen zutaumeln.
+
+Indessen so von den Luftschlössern der Freiheit nichts übrig bleibt
+als die Schwärmerei für Ruinen -- selbst der neue Napoleon begnügt
+sich, von Gottes Gnaden auf dem angestammten Kaiserthron zu sitzen --
+ist aus den Zeiten Steins in Preußen der Eckpfeiler der Volksschule
+durch alle Schwierigkeiten pietistischer Bedrängung stehen geblieben,
+und im preußischen Lehrerstand reitet der Menschengeist von Heinrich
+Pestalozzi sein Abenteuer in die kleinsten Dörfer. Längst ist die
+deutsche Frage ein Rattenkönig geworden, da tut es bei Königgrätz einen
+scharfen Schlag, der die Schwänze blutig auseinander reißt: Preußen
+marschiert und ein geflügeltes Wort kommt auf, daß der preußische
+Schulmeister die Schlacht an der Bistritz gewonnen habe. Dann
+schmiedet Bismarck das neue Reich aus Blut und Eisen, wie es in den
+Ruhmesblättern heißt; aber er selber schreibt aus Versailles an seine
+Frau, daß Deutschland dem gemeinen Soldaten mehr als den Generälen den
+Erfolg in Frankreich verdanke.
+
+Ich wüßte Einem, der mir folgte, eine Macht in Europa zu gründen, die
+mächtiger als Bonaparte wäre; und ich sage euch, wer es am ersten mit
+mir hält, dem wird die Herrschaft in Europa zufallen! hat Heinrich
+Pestalozzi zu den Stadtherren von Ifferten gesagt, als sie von der
+Audienz in Basel zurück fuhren: nun steht das Deutsche Reich mächtig in
+Europa da aus seiner Lehre.
+
+Aber wenn der Armennarr vom Neuhof, der den Rockknopf des russischen
+Kaisers nicht zu fassen kriegte, danach seine dritte Reise machte,
+diesmal fröhlicher nach Berlin als damals nach Paris: er würde das
+goldblinkende Dach des Reichstags staunend von außen betrachten und
+in die zweite Volksschule nur aus dem Zweifel gehen, ob die erste mit
+ihren sauberen Klassen und dem peinlich umzirkelten Lehrplan nicht ein
+Blendwerk der Schulbehörde gewesen sei; er würde nach den Wohnungen der
+Armen fragen und aus dem Prunk der Linden hinaus wandern in die trüben
+Straßen, wo die Kinder in engen Höfen spielen; und unverdrossen mit den
+ärmsten bis in die letzte Dachwohnung steigen: Ich will sehen, was die
+Treppe der Menschenbildung aus dem Haus des Unrechts gemacht hat!
+
+Wohl würde er schaudern vor dem Haß des Klassenkampfes, aber er würde
+sich tapfer zu seinem Anteil bekennen: daß der Arbeiterstand die
+Gerechtigkeit nicht im Mist der Gnade verscharrt haben wolle, sondern
+-- durch Bildung frei gemacht -- Macht gegen Macht einsetze, sie zu
+ertrotzen. Er würde vor den Gewerkschaftshäusern und Konsumanstalten
+beklommen vor Glück dastehen, daß aus der Masse von einzelnen Schwachen
+soviel Stärke im Ganzen möglich wäre, und er ließe sich nicht mit
+der Verdächtigung schrecken, daß da die vaterlandslosen Gesellen
+ihre Kriegslager des Umsturzes hätten: Er hat es zu sehr am eigenen
+Leib gespürt, wie rasch die herrschenden Mächte mit der bedrohten
+Moral bei der Hand sind, wenn ihnen einer um der Gerechtigkeit willen
+widerstrebt! Wie er dem Pfarrer Lavater einmal schrieb, daß er leicht
+nach oben milder und nach unten strenger sei, als es sein Herr Jesus
+Christus gehalten habe!
+
+Freilich, wenn Heinrich Pestalozzi, der es im Leben zu keinem Wohlstand
+brachte, der in schlechten Kleidern ging und auch so aß und wohnte, von
+seinen einsamen Gängen wieder in die Hauptstraßen zurück käme und den
+Aufwand der Schaufenster, die geputzten Menschen und die Marmorsäle
+sähe, die jeden Mittag und Abend gefüllt sind, als ob es ewig Feste
+zu feiern gäbe: er würde in einem tiefen Schrecken von neuem seitab
+irren in die dunkleren Straßen der unermeßlichen Steinwüste und den
+Plakaten folgend in eine der Versammlungen geraten, wo die Männer der
+Lohnarbeit einem jüdischen Redner zuhörten, der die Schlupfwinkel
+einer wirtschaftlichen Frage mit juristischer Dialektik ableuchtete.
+Sie würden erstaunt sein, wenn sich nachher der Greis mit dem
+blatternarbigen Runzelgesicht zum Wort meldete, und mißtrauisch seine
+seltsame Erscheinung betrachten, ob er ihnen nicht mit lächerlichen
+Einfällen Unfrieden stiften wolle? Auch bliebe Heinrich Pestalozzi
+selber im Anfang noch verschüchtert, wie wenn ihn der Schulmeister
+Dysli mit seinem Anhang unter den Hintersassen noch einmal aus der
+Stube schicken könnte; bald aber fände er in den feindlich abwartenden
+Augen eine Menschenseele, zu der er also spräche:
+
+Lieber Bruder und Genosse -- wie ihr euch nennt -- meiner Seele ist es
+gegangen wie deiner, sie fand sich in eine Ordnung gestellt, die aus
+dem Unrecht der Gesellschaft gewachsen war, und seit den Jünglingstagen
+wallte mein Herz wie ein Strom, die Quellen des Elends zu verstopfen,
+darin ich das niedere Volk um mich versunken sah: aber wie mir die
+Methode nur das Mittel und nicht das Ziel war, so auch die äußere
+Wohlfahrt. Darum habe ich zwei Dinge nicht gekannt, die mir in diesen
+Tagen mehr, als es gut ist, begegneten: den Neid und den Haß. Warum,
+Bruder und Genosse, willst du den Reichen hassen, und um was willst du
+ihn beneiden? Er hat ja selber nichts als sein Geld und was er sich für
+sein Geld kaufen kann? Ist es aber dies, warum wir zwischen Geburt und
+Tod unser rasches Leben haben, und kann es unser Glück sein, daß unsere
+Frauen sich putzen können mit kostbaren Kleidern, und daß wir die edlen
+Weine trinken und Kapaune essen?
+
+Ich weiß wohl und habe es bitter gefühlt wie du, daß ein Mindestes
+für jeden Menschen nötig ist: daß er im Winter nicht friere und im
+Sommer nicht hungrig sei, daß er Stunden haben möchte, wo er aus der
+harten Arbeit zu sich selber käme, und daß er um seines Lohnes willen
+niemandes Knecht zu sein braucht! Auch weiß ich wie du, daß dies
+abscheulich an unserer gesellschaftlichen Ordnung ist, wie sie am
+Geldsack hängt: aber geht nicht vieles, wie ihr es ändern wollt, geht
+es nicht auch nur im Gelüst auf jene Genüsse, die aus dem Geldsack
+kommen? Ist nicht in eurem Haß auf die besitzenden Klassen auch der
+Neid? Der Neid auf Güter, deren Genuß euch nicht weniger als der Mangel
+im Elend eines nichtigen Lebens ließe!
+
+Eine gute Verfassung ist zwar von einer schlechten wie ein guter Acker
+von einem schlechten verschieden; aber du weißt, es wächst dir weder
+auf dem guten noch auf dem schlechten Acker etwas aus dem Acker allein,
+sondern aus der Arbeit und dem Samen, die du darauf verwendest! Wie
+aber kann deine Arbeit wertvoll für dich und die andern sein, wenn du
+doch wieder das alte Unkraut säst? Wie anders haben wir es damals von
+den Welschen gelernt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! nur laß es
+mich verdeutschen:
+
+Es gibt vielerlei ~Freiheit~ auf der Welt: aber die Freiheit der
+Sau im Wald, die ihren Suhl hat, und die Freiheit des Reichen, der
+sich mit seinem Gold das Tischlein-deck-dich herzaubern kann, ist
+Knechtschaft der Begierden. Frei sein heißt nicht, tun dürfen, was du
+möchtest, sondern tun wollen, was du mußt; darum achte, daß du draußen
+wie drinnen keinen Herrn über dein Gewissen habest! Jesus Christus,
+der sich für die Mühseligen und Beladenen ans Kreuz schlagen ließ, war
+freier als Pontius Pilatus, der den Befehl dazu gab.
+
+Es gibt vielerlei ~Gleichheit~, aber willst du dem Schlechten
+und Geringen gleich sein oder dem Besten? Soviel dir einer voraus
+hat in Gütern, Wissen und Fertigkeiten, im Selbstgefühl kannst du
+dem Reichsten und Klügsten gewachsen sein trotz all seinem Geld,
+seinen Künsten und seiner Wissenschaft. Vor Gott gleich sein, wie die
+Frommen wissen, heißt etwas anderes, als nichts vor seiner Allmacht zu
+bedeuten; denn frage deine Seele, ob du dich als Sandkorn von Meer und
+Wind verweht fühlen oder selber Meer und Wind sein willst? Vor Gott
+gleich sein, heißt aus dem Ungewissen ins Gewissen der Welt, heißt in
+die Allmacht berufen sein.
+
+Es gibt vielerlei ~Brüderlichkeit~; aber daß der Reiche im Wagen
+dich mitnimmt hinter seine Pferde, in sein Haus und an seinen Tisch:
+dadurch wirst du nicht sein Bruder, sondern sein Knecht, der Wohltaten
+empfängt. Und wenn er all das Seine mit dir teilte, gutwillig und
+gerecht: er würde vielleicht dein Bruder sein, du aber nicht der seine;
+denn Brüderlichkeit ist ein Geschenk, das nur gegeben, nicht empfangen
+werden kann; du aber willst empfangen! Es gibt nur eine Brüderlichkeit,
+die ist vor Gott -- und ich meine nicht die Stündlisbruderschaft -- ihr
+sind die Güter der Erde wenig vor dem Gefühl der Seele, aus dem Rätsel
+in das Menschenschicksal geboren zu sein und wieder in das Rätsel
+der Welt hinein sterben zu müssen. Allein vermöchten wir das Grauen,
+aus dem ewigen Weltall durch unser menschliches Bewußtsein für eine
+flackernde Sekunde abgesondert zu sein, nicht auszuhalten, wir würden
+vor Schreck daran verdorren: nur weil wir gleich den Halmen im Feld
+dastehen, können wir miteinander auf den Schnitter warten und uns doch
+wiegen im Wind und wärmen in der Sonne und den Saft der Erde trinken
+für unsere Frucht!
+
+Wenn Heinrich Pestalozzi das gesagt hätte, würde er noch einmal in
+dem Saal dastehen, als ob er nach bestandenem Examen vor den andern
+Schülern das Vaterunser sprechen müsse, so zum Lachen würde ihn schon
+wieder eine Einsicht und ein Irrtum überraschen; und wie immer ginge
+auch diesmal seine Rede in einem Selbstgespräch zu Ende, das keiner
+der Männer in dem bleichen Gaslicht dieses Saales verstehen würde:
+Ich dachte, es wäre der Menschengeist von mir, der immer noch auf
+Abenteuer reitet, indessen sie meinen Körper unter die Dachtraufe und
+den Rosenstock legten! Nun muß ich sehen, daß er nur der Diener unserer
+Menschenbruderschaft und nicht das Leben selber ist, daß er die Worte
+setzt, damit eine Botschaft von meiner Seele in deine, Bruder und
+Genosse, käme; da beide sonst einsam im gemeinsamen Schicksal bleiben.
+Denn allein die Seelenkraft ist das Leben, darin wir alle eins und von
+Gott und also unverletzlich sind. Botschaft der Weltseele in unser
+irdisches Dasein zu bringen, ist das Abenteuer des Menschengeistes,
+dessen Tapferkeit sonst nur Ehrgeiz und Rauflust und vor der Ewigkeit
+ein windiger Spaß wäre, ein grausames Puppenspiel der Menschen für ihre
+Götter, wie es die Hoffnungslosigkeit der Alten dachte.
+
+
+
+
+ Berichtigung.
+
+
+Der letzte Band meiner Erzählenden Schriften mußte durch widrige
+Umstände ohne Korrektur gedruckt werden. Dadurch sind Druckfehler
+stehen geblieben, die nach meinem Willen schon in früheren Ausgaben
+beseitigt wären. Hierzu gehört auch, daß statt Tauner (Tagelöhner)
+durchgehend Tanner gedruckt wurde, was natürlich falsch ist.
+
+ S.
+
+
+
+
+ Die Erzählenden Schriften von Wilhelm Schäfer
+
+
+ ~Mannsleut~, Westerwälder Bauerngeschichten. Verlag Samuel Lukas,
+ Elberfeld 1894 (vergriffen).
+
+ ~Die Zehn Gebote~, Erzählungen des Kanzelfriedrich. Verlag
+ Schuster & Loeffler, Berlin 1897.
+
+ ~Gottlieb Mangold~, Der Mann in der Käseglocke. Verlag Schuster &
+ Loeffler, Berlin 1900.
+
+ ~Die Béarnaise~, eine Anekdote. Sonderdruck der Rheinlande
+ Düsseldorf, 1901 (vergriffen).
+
+ ~Rheinsagen~, mit Zeichnungen von Bernhard Wenig. Verlag Fischer
+ & Franke, Düsseldorf 1908 (vergriffen).
+
+ -- Neue Ausgabe für die Mitglieder des »Frauenbundes zur Ehrung
+ rheinländischer Dichter«, umgearbeitet und ergänzt. 1913.
+
+ -- Dieselbe Ausgabe zweite Auflage, Verlag Georg Müller, München 1913.
+
+ ~Anekdoten~ (erste bis dritte Auflage), Verlag der Rheinlande,
+ Düsseldorf 1908.
+
+ -- seit der vierten Auflage Verlag Georg Müller, München 1911. Fünfte
+ Auflage 1913.
+
+ ~Der verlorene Sarg~ und andere Anekdoten, Verlag Georg Müller,
+ München 1911.
+
+ ~Dreiunddreißig Anekdoten.~ Verlag Georg Müller, München 1914.
+ Vierte Auflage.
+
+ ~Die Mißgeschickten.~ (Zuerst in der »Neuen Rundschau«, Januar
+ 1909.) Verlag Georg Müller, München 1909.
+
+ ~Die Halsbandgeschichte.~ Verlag Georg Müller, München 1909,
+ Zweite Auflage. (Zuerst in den »Rheinlanden« 1908.)
+
+ ~Karl Stauffers Lebensgang~, eine Chronik der Leidenschaft.
+ Verlag Georg Müller, München 1911. Sechste Auflage.
+
+ ~Die unterbrochene Rheinfahrt.~ Verlag Georg Müller, München
+ 1912. (Zuerst in der Frankfurter Zeitung.)
+
+ ~Lebenstag eines Menschenfreundes.~ Verlag Georg Müller, München
+ 1915. Zehnte Auflage. (Zuerst in der »Deutschen Rundschau«. Okt. 1914
+ bis April 1915.)
+
+ ~Die begrabene Hand~, Sonderausgabe der neuen Anekdoten und
+ Novellen, Verlag Georg Müller, München 1918.
+
+ ~Die Erzählenden Schriften.~ Gesamtausgabe in vier Bänden. Verlag
+ Georg Müller, München 1918.
+
+ ~Lebensabriß.~ Verlag Georg Müller, München 1918.
+
+
+ Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75169 ***
diff --git a/75169-h/75169-h.htm b/75169-h/75169-h.htm
new file mode 100644
index 0000000..d4bae96
--- /dev/null
+++ b/75169-h/75169-h.htm
@@ -0,0 +1,10538 @@
+<!DOCTYPE html>
+<html lang="de">
+<head>
+ <meta charset="UTF-8">
+ <title>
+ Lebenstag Eines Menschenfreundes | Project Gutenberg
+ </title>
+ <link rel="icon" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover">
+ <style>
+
+body {
+ margin-left: 10%;
+ margin-right: 10%;
+}
+
+ h1,h2,h3 {
+ text-align: center;
+ clear: both;}
+
+h1 { font-size: 220%;
+ page-break-before: avoid;}
+
+h2, .s2 { font-size: 170%}
+h3, .s3 { font-size: 125%}
+
+p { text-indent: 1em;
+ margin-top: .51em;
+ text-align: justify;
+ margin-bottom: .49em;}
+
+.p0 {text-indent: 0em;}
+
+.p2 {margin-top: 2em;}
+.p6 {margin-top: 6em;}
+
+.hang2 {
+ margin-left: 2em;
+ text-indent: -2em }
+
+
+hr {
+ width: 33%;
+ margin-top: 2em;
+ margin-bottom: 2em;
+ margin-left: 33.5%;
+ margin-right: 33.5%;
+ clear: both;}
+
+hr.k {width: 30%; margin-left: 35%; margin-right: 35%; border-width: 2px;}
+hr.tb {width: 45%; margin-left: 27.5%; margin-right: 27.5%;}
+hr.chap {width: 65%; margin-left: 17.5%; margin-right: 17.5%;}
+@media print { hr.chap {display: none; visibility: hidden;} }
+
+hr.r5 {width: 5%; margin-top: 1em; margin-bottom: 1em; margin-left: 47.5%; margin-right: 47.5%;}
+
+div.chapter {page-break-before: always;}
+h2.nobreak {page-break-before: avoid;}
+
+table {
+ margin-left: auto;
+ margin-right: auto;
+ width: 50% }
+
+
+.tdl {text-align: left;}
+.tdr {text-align: right;}
+
+
+.pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */
+ /* visibility: hidden; */
+ position: absolute;
+ left: 92%;
+ font-size: small;
+ text-align: right;
+ font-style: normal;
+ font-weight: normal;
+ font-variant: normal;
+ text-indent: 0;
+} /* page numbers */
+
+
+.blockquot {
+ margin-left: 5%;
+ margin-right: 10%;}
+
+.center {text-align: center;}
+
+.r5 {text-align:right; margin-right: 5%;}
+
+.gesperrt {letter-spacing: 0.2em;
+ margin-right: -0.2em;}
+
+em.gesperrt {font-style: normal;}
+
+img {
+ max-width: 100%;
+ height: auto;}
+
+img.w100 {width: 100%;}
+
+.figcenter {
+ margin: auto;
+ text-align: center;
+ page-break-inside: avoid;
+ max-width: 100%;}
+
+/* Transcriber's notes */
+.transnote {background-color: #E6E6FA;
+ color: black;
+ font-size:small;
+ padding:0.5em;
+ margin-bottom:5em;
+ font-family:sans-serif, serif;}
+
+/* Illustration classes */
+.illowp46 {width: 46%;}
+.x-ebookmaker .illowp46 {width: 100%;}
+
+
+ </style>
+</head>
+<body>
+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75169 ***</div>
+
+<div class="transnote">
+<p class="s3 center"><strong>Anmerkungen zur Transkription</strong></p>
+<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und Interpunktion
+des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche
+Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden. Worte in Antiquaschrift sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p>
+<p class="p0">Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter erstellt; der Schmutztitel entfernt</p>
+</div>
+
+<figure class="figcenter illowp46" id="cover" style="max-width: 100em;">
+ <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt="">
+</figure>
+
+<hr class="k">
+
+<div class="chapter">
+<p class="s2 center"><b>Wilhelm Schäfer</b></p><br>
+<h1>Lebenstag eines<br>
+Menschenfreundes</h1><br>
+<h3>Roman</h3>
+<p class="center">Georg Müller Verlag München 1920</p><br>
+</div>
+<p class="p6 center">12. Tausend</p>
+<p class="center">Copyright 1920 by Georg Müller Verlag A.-G. München</p><br>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_1">[S. 1]</span></p>
+<hr class="k">
+
+<div class="chapter">
+<p class="p2 s2 center"><b>Inhalt</b></p>
+
+<table>
+<tr>
+<td class="tdl">&nbsp;</td>
+<td class="tdr">Seite</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Morgen</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_3">3</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td class="tdl">Mittag</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_113">113</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td class="tdl">Abend</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_239">239</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td class="tdl">Nacht</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_397">397</a></td>
+</tr>
+
+<tr>
+<td class="tdl">Berichtigung</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_407">407</a></td>
+</tr>
+</table>
+
+</div>
+<hr class="k">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_3">[S. 3]</span></p>
+<h2 class="nobreak" id="Morgen">Morgen</h2>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>1.</h3>
+</div>
+
+<p>Als die Menschenseele in Heinrich Pestalozzi erwacht, liegt sie in
+einer Stube am Hirschengraben, wo sich jenseits der alten Stadtmauer
+bis zu den neuen Bastionen am Zürichberg hinauf die Landhäuser der
+Reichen sonnen. Sie selber spürt nicht viel von dieser Sonne, sie
+haust mit Kleinbürgersleuten im Gedränge hoher Steingebäude, die nur
+finstere Gäßchen zwischen sich lassen und mit dunklen Treppen in
+beengte Wohnungen führen. Außer der Mutter und einer Magd, die Babeli
+gerufen wird, sind noch drei Geschwister in der Stube, ein Knabe
+Johann Baptista und zwei Mädchen, von denen das kleinste in der Wiege
+liegt. Das wird eines Tages von schwarzen Männern fort getragen, über
+die dunkle Treppe hinunter in die Stadt, die draußen mit beschneiten
+Dächern wartet. Im Sommer aber ist es wieder da, schläft in der Wiege
+und heißt Bärbel, wie es vorher auch geheißen hat. Doch weint die
+Mutter immer noch, und der Vater, der sonst mit großen Schritten durch
+die Stube gegangen ist, liegt in der Kammer nebenan, nicht anders als
+das Bärbel in der Wiege; seine haarigen Hände ruhen auf dem Leintuch,
+und die Augen forschen an der Zimmerdecke.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span></p>
+
+<p>Eines Tages muß das Babeli hinein zu ihm — allein und lange, während
+die Dachtraufe vor dem Fenster einen langen Strahl zerstäuben läßt;
+als es wieder herauskommt, fällt es der Mutter um den Hals und weint.
+Die hat, das Bärbel säugend, auf der Ofenbank gesessen; nun tut sie
+das Kind schnell von der Brust und läuft in die Kammer. Nachher muß
+Heinrich Pestalozzi mit den Geschwistern auch hinein; der Vater bemerkt
+sie schon nicht mehr, seine Augen aber forschen noch immer an der
+Zimmerdecke, nur die eine Hand ist von der Bettdecke abgerutscht, und
+die Mutter hängt daran, als ob sie ihn festhalten wolle.</p>
+
+<p>Am andern Tag ist er in einen Sarg getan, die Hände sind auf der Brust
+gefaltet, und die Lider haben wie zwei Deckel aus Wachs die forschenden
+Augen zugemacht. Heinrich Pestalozzi und sein Bruder bekommen die
+Sonntagskleider an und müssen — als fremde Männer in schwarzen Röcken
+und Hüten kommen, den Vater zu holen — mit hinunter über die dunkle
+Treppe und hinter ihnen her durch die Gassen nach dem Großmünster
+gehen, wo gesungen und gebetet wird, bevor sie den Sarg auf den
+Kirchhof bringen und bei Wind und Regen in ein frisch gegrabenes Loch
+versenken. Seitdem Heinrich Pestalozzi die hohen Münsterhallen mit dem
+Donnerschall der Orgel gesehen hat, weiß er, wo die Schwester Bärbel so
+lange gewesen ist; der Vater aber kommt nicht wieder, bis er ihn fast
+vergißt und nur noch manchmal gleich ihm mit langen Schritten die Stube
+messen will.</p>
+
+<p>Als wieder Winter wird, nimmt ihn das Babeli<span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span> eines Abends schnell
+bei der Hand, einen Arzt zu suchen; sie finden den ersten nicht und
+müssen den zweiten erst aus einem Wirtshaus holen, wo viele Männer
+bei der Lampe in einer qualmigen Stube sitzen. Der läuft gleich
+mit, doch geht er bald wieder kopfschüttelnd fort von dem Bettchen
+der Schwester Dorothea, und andern Morgens sagt die Mutter, es sei
+gestorben an der Bräune. Die schwarzen Männer kommen zum drittenmal,
+aber diesmal tragen sie das Dorli fort, mit dem er jeden Tag gespielt
+hat. Seitdem ist ihm das Großmünster ein furchtbares Geheimnis, und
+so oft er die Glocken läuten hört, läuft er zur Stubentür, den Riegel
+vorzuschieben. Manchmal aber kommen doch Menschen über die Treppe
+herein, die mit der weinenden Mutter sprechen und denen er die Hand
+geben muß; er tut es gehorsam, doch immer in der Furcht, daß sie ihn
+mitnehmen könnten in das Großmünster. Auch wenn die Mutter oder das
+Babeli ihn selber an der Hand hinunter führen, ist er nicht froh,
+bis er endlich durch die Haustür hinein schlüpfen kann und oben die
+Heimeligkeit der Stube wiederfindet. Und nur dadurch, daß seine
+seltenen Ausgänge meist den gleichen Verlauf nehmen, durch die steilen
+Gassen und über Treppen zum Markt hinunter, wo die Limmat unter den
+Holzbrücken hindurch ihr reißendes Wasser drängt, oder Sonntags bis an
+den gleißenden See hinaus, wo die Schiffe und Schwäne schwimmen und die
+Wolken auf den fernen Bergen Rast machen, die den blauen Himmel mit
+ihrem weißen Zackenrand begrenzen: bahnt sich seine furchtsame Seele
+allmählich Straßen in die fremde<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> Unermeßlichkeit, darin die Türme des
+Großmünsters drohend stehen. Sonst aber bleibt die Stube die einzige
+Sicherheit seiner Welt.</p>
+
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>2.</h3>
+</div>
+
+<p>Einmal macht Heinrich Pestalozzi auch eine Reise an den See mit
+seiner Mutter; mittags nach dem Markt fahren sie hinaus, unaufhörlich
+am Seeufer hin durch Dörfer mit weißen Kirchen, durch Weinberge und
+Matten, wo die Bauern lustige Haufen Heu zusammen bringen, bis nach
+Richterswil, wo der Onkel Johannes wohnt. Es ist dort ein großes Haus
+mit einem prächtigen Garten und vielen fremden Menschen, die seiner
+schwarzen Mutter um den Hals fallen und denen er die Hand geben muß.
+Auch einen Knaben gibt es, älter als er und wie ein Soldat mit einem
+stolzen Federbusch gekleidet; der führt ihn auf den großen Speicher,
+wo Korn in Haufen liegt, durch die Ställe mit unheimlich behörnten
+Kühen und stampfenden Pferden in die Weinberge hinauf zu einer Bank,
+die unter einer Linde einen Ausblick auf den See gibt bis tief in die
+blauen Bergschlüfte hinein, und danach an das weiche Ufer hinunter, wo
+das Ried mit hohen Halmen aus dem Wasser wächst und seine Büschel im
+Wind verneigt. Da haben Jünglinge gerade ein Schiff los gemacht, und
+weil der eine ein Bruder des Knaben mit dem Federhut ist, sollen sie
+mit einsteigen. Die Mutter aber kommt gelaufen, todblaß, und trägt ihn
+auf den Armen, obwohl er sich dessen schämt und schreiend wehrt, durch
+den Garten zurück ins Haus.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span></p>
+
+<p>Sie bleiben zwei Tage dort, bis sie am dritten Morgen noch in der
+Dunkelheit abfahren auf dem selben Bauernwagen und in der Morgenfrühe
+zurück kommen in die Stadt und in die Stube, wo der dicke Kachelofen
+mit der kühlen Steinbank auf sie wartet und das Babeli mit den
+Geschwistern ist. Er denkt später nicht gern an diese Reise; es ist ihm
+alles fremd geblieben, als ob er nur geträumt hätte.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>3.</h3>
+</div>
+
+<p>Lieber hat Heinrich Pestalozzi die Ausflüge nach Höngg, wo der
+Großvater als Pfarrer amtet. Sie brauchen keinen Bauernwagen dahinaus,
+sie gehen durch die Niederdorfporte auf die Schaffhauser Straße und
+dann am Käferberg sacht hinauf durch Weinberge bis an den Hügelrand,
+wo nach einer Stunde das Dörfchen mit der sauberen Kirche und dem
+Pfarrhaus erscheint. Unten zieht die Limmat ihren Silberstreifen
+durch das breite Tal, und hinten zeigt der Albisrücken die steile
+Schmalseite; wo seine Kante gegen den See verläuft, steht vor der
+Heiligkeit der Berge und gegen das blanke Wasser die Stadt Zürich mit
+ihren Mauern und Türmen dunkel wie ein Haufe reisigen Kriegsvolks da.</p>
+
+<p>Jedesmal, wenn er mit seinem Bruder Johann Baptista angekommen ist und
+sie sich in dem unteren mit spitzen Feldsteinen gepflasterten Flur von
+dem Staub des Marsches gereinigt haben, dürfen sie zu dem alten Herrn
+in die Studierstube hinauf. Sie liegt ganz oben und ist in der Ecke
+des Pfarrhauses so eingebaut, daß<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> durch die breiten Fenster von Süden
+und Osten die Helligkeit der weiten Landschaft hinein sieht und den
+würdigen Greis mit Heiterkeit umspielt. Er steht nicht auf, wenn die
+Buben zu ihm herein kommen, auch dürfen sie nicht anders als einzeln
+gerufen zu ihm an den Tisch treten. Jedes muß sein Sprüchlein sagen,
+wie sie die Mutter verlassen haben und wie lange sie unterwegs gewesen
+sind; und niemals fällt es ihnen bei, hier oben die Ehrwürdigkeit
+durch eine Zärtlichkeit zu verletzen. Erst unten, wenn er mit am Tisch
+sitzt, wo die Großmutter mit den gütigen Zwickelfalten ihres alten
+Gesichtes das Gespräch führt, wird er der Großvater, der sie aus den
+Schoß nimmt und Scherze mit ihnen treibt. Aber wenn sich allmählich aus
+dem Donnergott des Großmünsters das Bild Gottes als eines himmlischen
+Vaters in Heinrich Pestalozzi umbildet, sind es die Züge des Großvaters
+in der Studierstube, die dem Bild ihr Wesen geben.</p>
+
+<p>Stärker wird dieser Eindruck, als er am Gottesdienst teilnehmen darf.
+Das Pfarrhaus ist an die Kirche so angebaut, daß es mit dem Totenacker
+seitlich vom Dorf und am äußersten Rand des Hügels eine Art Gutshof
+vorstellt, der wie ein solcher auch durch einen Torweg zugänglich ist.
+Durch den sieht Heinrich Pestalozzi Sonntags die Kirchgänger kommen,
+sauber gekleidet in ihrer bäuerlichen Tracht. Die Glocken klingen
+heller, und auch die Orgel hat nicht den brausenden Schall wie im
+Großmünster. Wenn sie anfängt zu spielen, ist es nicht anders, als ob
+sich die dunkleren Stimmen der Männer mit denen der stauen und Kinder
+mischten,<span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span> und wenn das Lied dann wirklich einsetzt, wird alles zum
+Gesang der Gemeinde.</p>
+
+<p>Weil er die Stimme und das Wesen des Großvaters kennt, bleiben ihm auch
+die Worte seiner Predigt nicht gar so fremd, so wenig er im einzelnen
+davon versteht. Es ist fast der himmlische Vater selber, der zu seinen
+Kindern in dem feierlichen Ton der Studierstube spricht, aber der
+gütige Klang in seiner Stimme bleibt; und weil er niemals poltert,
+niemals aus den Rand der Kanzel schlägt wie die Prediger in der Stadt,
+bekommt die Predigt nichts von ihrem gottfremden Haß. So trägt Heinrich
+Pestalozzi jedesmal einen warmen Glanz von der Empore mit hinunter;
+und weil er die Kirchgänger nachher nicht gleich den Zürchern in die
+dunklen Schlüfte der Gassen verschwinden sondern langsamen Schrittes
+sich rund herum in die Gehöfte zerstreuen sieht, zweifelt er nicht
+daran, daß sie überall etwas von dem Glanz hinbringen. Um so stolzer
+ist ihm zumut, daß er selber danach im Pfarrhaus bleiben und mit dem
+Träger dieser feierlichen Macht zu Tisch sitzen darf — wo der Pfarrer
+freilich am Sonntag außer dem Gebet niemals ein Wort spricht, wie er
+auch an diesem Vormittag das Frühbrot in seiner Studierstube nimmt
+und sich vor dem Gottesdienst niemandem zeigt. Erst wenn er seine
+Mittagsruhe gehalten hat, sehen ihn seine Enkel als Großvater wieder,
+der gern fröhlich ist und sie manchmal noch bis vor das Tor der Stadt
+zurück begleitet; hinein geht er seit dem Tode seines einzigen Sohnes
+nicht mehr gern.</p>
+
+<p>So bewirkt der Großvater in Höngg durch die weise<span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span> Trennung amtlicher
+Würde von seiner gütigen Menschlichkeit, daß sich für die Kindheit
+Heinrich Pestalozzis das Grauen von den kirchlichen Dingen hebt.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>4.</h3>
+</div>
+
+<p>Auch außerhalb des Pfarrhauses findet Heinrich Pestalozzi im ländlichen
+Leben zu Höngg vertrautere Wege aus der engen Stube als in der
+finsteren Stadt. Wo jeder den andern kennt und die Großmutter wohl
+weiß, mit welchen Kindern sie den Enkel spielen läßt, ergibt sich
+leichter ein Kamerad. Der angenehmste heißt Ernst Luginbühl und wird
+ihm bald ein sehnsüchtig erwarteter Führer in die hügeligen Gebiete
+bis an den Wald am Käferberg hinauf oder gar in die steinichten
+Limmatwiesen hinunter, wo Samstags die Schiffe der geputzten Zürcher
+eilfertig mit der Strömung nach Baden treiben und Sonntags von dem
+Landvolk an Stricken mühsam stromauf gezogen werden. Er trägt keinen
+stolzen Federhut wie der Vetter in Richterswil, er läuft barhaupt und
+barfuß wie die andern Landbuben auch und hat prallrote Backen mit
+wasserhellen Augen; aber er weiß, wo man am sichersten einen Specht bei
+seiner Klopfarbeit belauscht oder wo ein Ameisenberg ist. Sein Vater
+arbeitet als Baumwollenweber, der erste und einzige in Höngg; einmal
+geht Heinrich Pestalozzi mit hinein und sieht den bärtigen Mann gebückt
+in dem Gestänge sitzen. Er hat nichts Ähnliches von menschlicher Arbeit
+gesehen; Küfer, Schmiede, Bäcker und Schreiner und erst recht die
+Bauern: alle schaffen mit den Händen und bleiben für sich selber frei;
+dieser Weber<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> aber sitzt im Gestänge seiner Arbeit als ein Teil von
+ihr, wie die Spinne ans Netz gebunden. Er bleibt eine Stunde lang mit
+den Knaben dasitzen und hört dem unablässigen Geklapper zu, das aus
+dünnen Fäden Stoff macht. Als er nachher beim Abendessen ausgefragt
+wird, wo er gewesen ist, und anfängt, von dem Baumwollenweber zu
+erzählen, will der Großvater stirnrunzelnd nichts mehr hören von dem
+Unglück dieser städtischen Neuerung — es ist das einzige, was Heinrich
+Pestalozzi von seinem Unwillen versteht.</p>
+
+<p>Einmal ist er eine ganze Woche lang in Höngg geblieben und kommt
+sich selber schon wie ein Landkind vor, als ihn die Mutter wieder
+holt. Auch diesmal geht der Großvater mit, aber nur bis Wipkingen,
+von wo er sich geärgert gegen den Berg zurückwendet. Er ist böse
+auf das geputzte Stadtvolk in den Schiffen, das sich am Sonntag von
+den Dorfleuten heimziehen läßt, ihre schwere Arbeit mit übermütigem
+Geschrei begleitend, und Heinrich Pestalozzi hört wieder, wie er von
+dem städtischen Unglück zu der Mutter spricht. Es geht schon gegen die
+Dämmerung, und so wendet sich der alte Mann von ihnen fort in einen
+dunkelroten Abendhimmel hinein, der den Häusern glühende Augen macht.
+Heinrich Pestalozzi weiß nicht warum, aber die Traurigkeit überkommt
+ihn so, daß er herzbrechend hinter dem Großvater her weint; es dauert
+lange, bis die erschrockene Mutter heraus bekommt, daß es die dunkle
+Stadt ist, vor der er sich fürchtet, und daß er alle Tage mit ihr
+und den Geschwistern und dem Babeli auf dem Land wohnen möchte. Da
+gesteht sie ihm, daß die Verwandten<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> in Richterswil ihr das schon
+damals bei dem Besuch vorgeschlagen hätten, daß sie es aber nicht
+möchte der Stadtschulen wegen. In Richterswil möchte ich auch nicht,
+sagt er fast trotzig, lieber in Höngg! und weiß nicht, warum nun seine
+Mutter herzbrechender weint als er vorher; sodaß sie beide mit einer
+verlorenen Traurigkeit durch die Niederdorfporte in Zürich eingehen.</p>
+
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>5.</h3>
+</div>
+
+
+<p>Nach diesem Abend verlangt Heinrich Pestalozzi sehnsüchtig in die
+Schule. Seitdem die Schwester Dorothea gestorben ist und der Johann
+Baptista, um ein Jahr älter als er, täglich sechs Stunden zu den
+Schulmeistern am Neumarkt geht und nachher bei den Schularbeiten sitzt,
+ist er tagsüber allein mit dem Bärbel, das immer noch in der Wiege
+liegt und ihm kein Gespiele sein kann. Für die deutsche Schule scheint
+es der Mutter noch zu früh, so bringt ihn das Babeli eines Morgens in
+die Hausschule.</p>
+
+<p>Es wird aber kein schönes Erlebnis für ihn: als sie in den schmalen
+Raum eintreten, der eigentlich nur einen breiteren Gang vorstellt, ist
+der alte Lehrer gerade dabei, einen Buben zu walken; es sieht aus, als
+ob er ihm die Haare in Büscheln ausreißen wolle; zugleich vollführen
+die beiden ein weinerliches Geschrei, über das die andern Kinder, Buben
+und Mädchen durcheinander, schadenfroh lachen. Erst als das Babeli den
+Zornigen anruft, hört er auf. Hinten ist noch eine Bank frei, dahinein
+wird Heinrich Pestalozzi mit seinen Sachen gesetzt; das Babeli droht
+ihm noch einmal mit dem Finger<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span> und überläßt ihn den Kindern, von denen
+er nicht eines kennt, und dem weißköpfigen Schulmeister, der — als er
+den Namenszettel gelesen hat — die Magd für die Frau Pestalozzi selber
+hält und ihr mit vielen Komplimenten an die Tür nachläuft. Der Lärm,
+der durch die Neugier gestockt hat, hebt wieder an: die Kinder haben
+neben den Büchern ihre Eßwaren, und was sie sonst mit sich führen,
+auf den Pulten ausgebreitet; ein jedes liest laut oder schreibt für
+sich wie zuhause: der Lehrer ist nur eine Art Unhold, der eines nach
+dem andern vornimmt und die andern schwatzen und balgen läßt. So hört
+das Geklatsch seiner Prügel und sein Geschrei ebensowenig auf wie der
+Lärm der Kinder, die meist garnicht hinsehen, wenn sich sein Zorn
+beim nächsten Opfer neu entzündet. Auch Heinrich Pestalozzi kommt
+endlich an die Reihe, als er eine Stunde lang verängstigt dagesessen
+hat; er wundert sich fast, als es diesmal ohne Prügel abgeht, malt
+danach Buchstaben, wie er es von seinem Bruder gelernt hat, und ist
+noch fleißig dabei, als die andern mit eiligem Geklapper ihre Sachen
+zusammen raffen.</p>
+
+<p>Auf der Gasse wartet das Babeli; und wenn ihm das schon diesmal Spott
+einträgt, so wird ein paar Tage später ein wahres Schicksal daraus: es
+macht sich gerade so, daß ein Platzregen losgeht, das handfeste Babeli
+will ihn unter die Schürze nehmen; und rafft ihn kurzerhand — da er
+sich vor den andern schämt — als Bündel unter den Arm, um mit ihm heim
+zu rennen, so sehr er schreit und strampelt; sogleich verfolgt von
+einem Rudel der Kinder, die sich nun alle aus dem Regen<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> nichts mehr
+machen und die Tropfen in ihre Gesichter klatschen lassen.</p>
+
+<p>Seitdem haben sie ihren Schabernack mit ihm, wo sie nur können. Seine
+Vorfahren vom Vater her sind Italiener gewesen, davon hat er die
+schwarzen Haare und die dunklen Augen behalten, und von den Blattern
+ein Gesicht voll Narben: so sieht er eher einem Savoyardenknaben
+ähnlich als einem Stadtzürcher und ist für sie ein fremder Vogel.
+Obwohl er nichts lieber gemocht hätte als mit ihnen spielen, macht ihn
+die Erfahrung scheu, sodaß er nun erst recht ein einsames Stubenkind
+wird.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>6.</h3>
+</div>
+
+<p>Später in der deutschen Schule tritt Heinrich Pestalozzi statt mit
+dem Babeli mit seinem Bruder Johann Baptista auf; der ist beweglicher
+als er und hat auch schon Bekanntschaften; dadurch kommt er mit den
+Knaben anfangs besser zurecht, um so leidvoller wird die Schule
+selber für ihn. Obwohl die Lehrer nicht solche Zornickel sind wie
+in der Hausschule, bleibt auch ihr Unterricht eine fortgesetzte
+Streitigkeit mit dem einzelnen Schüler, wobei sie die Schwächen eines
+jeden mit geübter Schulmeistergrausamkeit zu finden wissen. Heinrich
+Pestalozzi, dem es niemals völlig gerät, sich selber und seine Bücher
+in Ordnung zu halten, der bald ungekämmt in die Schule kommt, bald
+seine Schreibsachen oder Hefte vergessen hat, der aus den Spaziergängen
+seiner Gedanken aufgeschreckt die törichtsten Dinge zu sagen vermag und
+dem die richtigen Antworten meist erst<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> auf dem Nachhauseweg einfallen,
+ist ihnen bald nur eine Gelegenheit, die herkömmlichen Schulwitze
+anzubringen. Daß er im ganzen eifriger als die meisten ist und sich
+leicht geschickter anstellt als es zu ihren Späßen paßt, stört sie
+nicht in ihren Hänseleien.</p>
+
+<p>Und weil die Lehrer es so halten, widerstehen auch die Mitschüler der
+Verlockung nicht, ihren Witz an diesem Neuling zu üben, der nichts von
+ihren Spielen kennt und sich gutgläubig zum Narren halten läßt. Ihm
+steht diese Gutgläubigkeit gleichsam schon im Gesicht geschrieben,
+und seine linkischen Hände scheinen nur geschaffen, für ihr Gelächter
+fehl zu greifen. So weiß ihn eines Tages einer mit Äpfeln begehrlich
+zu machen, die er im Sack hat: er würde ihm den schönsten schenken,
+wenn er ihm damit auf sechs Schritte in den Rücken werfen dürfe. Mehr
+um der Tapferkeit als um des Apfels willen geht Heinrich Pestalozzi
+auf den Handel ein; der Knabe aber trifft ihn so hart zwischen den
+Schultern, daß er wie von einem Büchsenschuß hingestreckt wird, und —
+als er sich mit einer Übelkeit kämpfend an dem nassen Steintrog unter
+dem steinernen Brunnenmann aufrichtet — nur noch sehen kann, wie ein
+Flinker unter dem Hallo der andern den Apfel aufhebt und davon rennt.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi fühlt damals schon, daß es die Absperrung seiner
+häuslichen Erziehung ist, die ihn so fremd und linkisch unter den
+andern Knaben macht; er ginge trotz solcher Späße gern nach der Schule
+zu ihren Spielen auf die Gasse, aber das Babeli, das immer mehr wie ein
+handfester Weibel die Stubenwelt der<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> Witwe Pestalozzi regiert, duldet
+dergleichen schon aus Sparsamkeit nicht: Warum wollt ihr unnützerweise
+Kleider und Schuhe verderben? Seht eure Mutter, wie sie wochen- und
+monatelang an keinen Ort hingeht und jeden Kreuzer spart, euch zu
+erziehen! Und um dem Grund praktische Kraft zu geben, nimmt sie den
+Buben nach der Schule sogleich die Schuhe weg.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi vermag nicht wie sein Bruder Johann Baptista den
+gutgemeinten Zwang mit allerlei Listen zu umgehen; er hat unterdessen
+durch die Mutter erfahren, was damals am Sterbebett des Vaters
+geschehen ist: da hat die Magd dem todkranken Wundarzt um ihrer
+Christenheit willen versprochen, die Frau nicht zu verlassen, weil
+seine Kinder sonst womöglich in fremde und harte Hände kämen! Das
+Babeli in seiner Einfalt, damals dreißigjährig, hat es dem Sterbenden
+in die Hand gesagt, an ihrem Platz zu bleiben, bis sie stürbe; auch
+hat sie tapfer Wort gehalten, als sie den Antrag eines ehrlichen
+Stadtbürgers ausschlagen mußte, und ist dem bedrängten Haushalt ohne
+Lohn durch alle Schwierigkeiten treu geblieben. Seitdem Heinrich
+Pestalozzi das weiß, kann er das faltige Sorgengesicht der guten
+Magd nicht anders als ehrfürchtig ansehen; und wenn der Großvater in
+Höngg dem Bild des himmlischen Vaters für seine Vorstellung die Züge
+herleiten muß, so vermag er die biblische Erzählung von Christus und
+den Schwestern in Bethanien nicht zu hören, ohne daß ihm seine Mutter
+zur still vertrauenden Maria und das Babeli zur schaffenden Martha
+wird. Soviel innige Gläubigkeit er aber damit auf die zarte Gestalt
+der Mutter legt, die<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> — als Susanna Hotze in Richterswil bei den
+wohlhabenden Brüdern aufgewachsen — ihre bescheidene Lage niemals als
+Armut fühlt und auch den Kindern das Gefühl ihres guten Standes erhält;
+so wenig vermag er aus dem Evangelium eine Verachtung für die treue
+Magd zu ziehen, deren Stunden nichts als schaffende Sorgen kennen; ja,
+so oft er die abweisenden Worte Jesu liest, drängt ihn sein Gefühl, für
+die schaffende Martha aufzustehen.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>7.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi ist acht Jahre alt, als ihm eine Veränderung der
+äußeren Lebensumstände die Gedanken der Armut dennoch aufdrängen
+will. Seine Mutter, die immer noch die alte Wohnung gehalten hat,
+sieht sich genötigt durch die wachsenden Ausgaben für die Kinder,
+den Haushalt in der kleinen Stadt jenseits der Limmat bescheidener
+einzumieten. So lustig die Knaben mit dem Bärbel, das nun schon aus
+der Kammer in die Stube laufen kann, den äußeren Aufwand des Umzugs
+finden: so schmerzlich ist der Augenblick, als sie hinter dem Wagen mit
+ihrem Hausrat her — das Babeli trägt die Schwester auf dem Rücken,
+und die Mutter führt die Brüder an der Hand — am steinernen Rathaus
+hinübergehen auf die breite Bretterbrücke und in die kleine Stadt.
+Die ist freilich um den hohen Lindenhof herum gebaut, von dem die
+Schriften sagen, daß er schon in römischen Zeiten befestigt und der
+eigentliche Ursprung der Stadt gewesen wäre; aber darum lassen sie
+doch das Großmünster mit dem Haus Zwinglis<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> drüben, von wo der Zürcher
+Glaubensheld für seinen Gott in den Krieg und Tod gezogen ist. Überdies
+will ein Mißgeschick, daß am Hotel zum Schwert gerade ein fremder Herr
+mit drei Rossen vorfahren will und bei der Wendung in die Deichsel
+ihres Gefährtes gerät. Der Ruck ist heftig und bricht dem Tisch, der
+hinten mit abgesperrten Beinen aufgebunden ist, eins davon ab, das
+schief herunterhängt. Gleich gibt es zwischen den Fuhrleuten ein
+Geschimpfe, und weil der ihrige zu Fuß geht, der andere aber in einer
+stolzen Uniform auf dem Bock sitzt, auch der Wirt zum Schwert gleich
+seinem vornehmen Gast zu Hilfe kommt, bleibt der mit den drei Rossen
+Sieger, indessen sie mit ihrer Habe, verbellt von Hunden, demütig um
+die Ecke ziehen.</p>
+
+<p>Es ist kein großer Schaden; sie müssen den Tisch nachher in eine
+Wandecke stellen, damit er ihnen beim Abendbrot nicht umfällt; doch
+liegt die Stimmung des verschimpften Auszuges aus der großen Stadt so
+jämmerlich auf ihnen, daß sie miteinander in eine Heulerei geraten. Die
+neue Wohnung ist sichtlich beengter als die alte; außer der Küche mit
+einem Alkoven für das Babeli und der gemeinsamen Kammer für die andern
+hat sie nur einen Raum, der fortab Besuch- und Wohnstube in einem sein
+muß: es ist die Lebensluft verschämter Armut, in die sie nun eingezogen
+sind. Mehr als die Mutter hat das praktische Babeli auf den Umzug
+gedrängt.</p>
+
+<p>Die Mutter will auch da noch die geborene Hotzin bleiben; und wenn in
+der Folge eine Bekanntschaft aus den besseren Zeiten, da der Wundarzt
+Pestalozzi noch<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> auf die Jagd oder fischen ging, oder gar einer aus
+der vornehmen Verwandtschaft vom See den Weg in die kleine Stadt
+findet, wird die Stube jedesmal mit allem Staat aufgemacht, den sie
+aus ihrer Mitgift gerettet hat. Auch hält die einsam verhärmte Frau
+ängstlich darauf, was sie als Stadtbürgerin an Ehrengaben zu leisten
+ihrem Stande schuldig ist; und ob sie manchmal dem letzten Gulden mit
+Ehrenfestigkeit zu Leibe geht, und ob das Babeli danach die Kreuzer
+zusammenkratzen und auf dem Markt das Billigste erfeilschen muß: nach
+außen soll alles den Anschein eines unabhängigen Bürgerhaushalts
+behaupten.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>8.</h3>
+</div>
+
+<p>Für Heinrich Pestalozzi wird der Abstieg in die Armut dadurch
+gemildert, daß er gleich am andern Tag nach Höngg hinauskommt. Er ist
+mit der deutschen Schule zu Ende, und bevor er in die Lateinschule
+am Fraumünster eintritt, will der Großvater seinen Kenntnissen noch
+etwas nachhelfen. Er holt ihn diesmal selber ab; die Übersiedelung hat
+ihn besorgt gemacht, doch findet er alles recht und gegen Abend ist
+eine Kalesche da, sie miteinander hinauszufahren. Vor der Stadt darf
+Heinrich Pestalozzi auch einmal kutschieren; er zupft aber unablässig
+an den Zügeln, als ob es an ihm läge, daß die vier Beine sich bewegten,
+sodaß der Gaul am Ende wild wird und sie in einem unfreiwilligen Galopp
+nach Wipkingen bringt. Der Großvater liebt solche Vorfälle nicht; als
+er ihm kurzerhand die Zügel abgenommen und das Pferd zur Ruhe gebracht
+hat, sagt er<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> strafend, das würde einem Knaben vom Land nicht begegnen;
+es wäre ein rechtes Stadtbubenstück. Er bleibt aber nicht unfreund mit
+ihm, und als er vor der Wegsteile gegen Höngg aussteigt und das Pferd
+am Zügel führt, nimmt er ihn gütig an der Hand, als ob trotzdem noch
+etwas Rechtes aus ihm werden könne.</p>
+
+<p>Der Großvater hat den armen Kindern der Gemeinde erlaubt, hinter der
+Kirche zu spielen, wo neben dem Kirchhof ein sonniger Rasenplatz auf
+neue Gräber wartet. Obwohl manche von den Kindern nur mit Hudeln
+bekleidet sind, tadelt er es nicht, wenn seine Enkel an ihren Spielen
+teilnehmen. So ist Heinrich Pestalozzi eines Tages mit ihnen dabei,
+das Wasser aus einer Pfütze neben der Kirche in einer Rinne bergab zu
+leiten, wo es gerade den schönsten Wasserfall macht, als auf einmal
+einige der Kinder, dann alle auseinander laufen und sich unter der
+alten Steinbank, hinter Gräbern oder wo sie sonst einen Schlupfwinkel
+finden, verstecken: ohne ihr sonstiges Geschrei und sichtbar in Angst,
+nicht anders, als ob Hühner einen Habicht in der Luft gespürt hätten.
+Er hält alles zunächst für eins von ihren Spielen, aber so still es aus
+dem Kirchhof ist, so laut wird es auf der Landstraße: die Gestrengen
+Herren in Zürich haben allmonatlich eine Betteljagd verordnet, und
+nun kommen die Landreiter von ihrer Pirsch mit einer verlumpten
+Schar, Alten und Kindern, in einem langen Strick wie eine Schafherde
+eingehürdet.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi besinnt sich nicht, er läuft nach vorn um die
+Kirche an den Torweg, und obwohl die Holzflügel schwer mit Eisen
+beschlagen sind, bringt er<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> sie mit allen Kräften doch in die Riegel.
+Die Landreiter sind unterdessen schon durch das Dorf geritten, sie
+hätten sich auch schwerlich durch das Tor abhalten lassen; doch als
+er eben dabei ist, den Verschüchterten anzusagen, das Tor wäre zu und
+kein Landreiter könne herein, kommt der Großvater um die Kirche herum
+neugierig nach. Er hat das eilige Geschäft seines Enkels bemerkt, tut
+aber nicht weiter dergleichen, nur wie er ihn nachher an der Hand mit
+ins Pfarrhaus genommen hat und der Knabe in dem dämmrigen Hausflur
+schon denkt, er werde ihn strafen: hebt er ihn auf den Arm, als ob er
+ihm sagen wolle, bist ein tapferer Bub! Und als sie miteinander oben
+in dem Studierzimmer sind, wo er nun lernen soll, wendet er sich zu
+ihm hin, wie wenn er ein Großer wäre: Ich wüßte den Herren in Zürich
+andere Mittel als Landreiter und Betteljagden, der Armut auf dem Lande
+abzuhelfen!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>9.</h3>
+</div>
+
+<p>Als Heinrich Pestalozzi diesmal von Höngg zurück kommt, trägt er einen
+Schatz bei sich, mit dem er sich stolz und vieler Dinge mächtig fühlt.
+Um ihm den ungewissen Weg in die lateinische Wissenschaft vertrauter zu
+machen, hat ihn der Großvater das Vaterunser lateinisch gelehrt. Auf
+dem ganzen Weg nach Zürich hinunter, den er diesmal tapfer allein geht,
+sagt er die fremden Worte vor sich hin, ängstlich, daß ihm eins davon
+entfallen könnte. Es ist aber nicht die Schule, der zuliebe er sorgsam
+mit ihnen ist; dahinter steht das Bild des Großvaters als Lebensziel
+auf: auch einmal<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> so in einem Dorf Seelsorger zu werden — womöglich in
+Höngg selber — den Armenkindern ein väterlicher Freund; das scheint
+ihm alle kommenden Mühsale der Schule wert zu sein.</p>
+
+<p>Er wird auch im Fraumünster kein Schüler, wie ihn die Schulmeister
+brauchen können. Zu sehr gewöhnt in seiner behüteten Stubenwelt, die
+Dinge von sich aus zu erleben und eigene Wege in das Geheimnis der
+Augenwelt zu suchen, sieht er sich bei ihnen vor ein unaufhörliches
+Vielerlei von leeren Worten gestellt. Bloß auswendig Gelerntes
+herzuplappern, wie es die meisten tun, vermag er nicht; und selbst,
+wenn er etwas verstanden hat, wird es ihm schwer, Worte daraus zu
+machen, weil er sich damit leicht wie ein Komödiant vorkommt. Damit er
+etwas sagen kann, darf es nicht schon ausgedacht sein, es muß ihm aus
+den Gedanken selber, nicht aus dem Gedächtnis kommen: weil aber die
+Fragen der Lehrer selten in seine Gedanken treffen, findet er trotz
+bestem Willen und innerer Lebendigkeit wenig Gelegenheit, sich als
+guten Schüler zu zeigen; ja, weil er gerade dann, wenn ihn eine Sache
+des Unterrichts wirklich beschäftigt, leicht für Minuten und länger
+von dem unwiderstehlichen Fluß seiner Gedanken fortgetragen werden
+kann, stellt er nur selten den gelehrigen Schüler dar — der er doch
+ist —, sondern er wird gerade dann gescholten, wenn er vielleicht
+mehr als ein anderer bei der Sache ist. Am selben Tag kann er in einem
+Fach der beste und gleich darauf doch wieder der schlechteste sein;
+so kommt er bei allem Eifer auch in der Lateinschule bald wieder in
+ein feindseliges Verhältnis<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> zu den Lehrern, das mit zornigen Strafen
+über seine Zerstreutheit anfängt und mit der Verspottung seiner
+absonderlichen Art ausgeht, ihn nach wie vor dem Gelächter der Klasse
+bloßstellend.</p>
+
+<p>Obwohl das Babeli ihn stets ordentlich herausputzt, steht er doch in
+der Kleidung gegen die gepflegten Herrenbuben zurück, und was er von
+der mühsamen Ordnung heimbringt, ist manchmal übel genug. Auch hält
+das Babeli immer noch strenge Hauszucht, sodaß er auch jetzt nicht zu
+den Spielen der andern auf die Gasse darf und für die lateinischen
+Mitschüler der gleiche fremde Vogel bleibt, der er auf der deutschen
+Schule war. Als der erste Sommer zu Ende geht, hat er bei ihnen schon
+den Spottnamen, der ihm von da ab durch die ganze Schule bleibt: Heiri
+Wunderli von Torliken.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>10.</h3>
+</div>
+
+<p>Trotzdem hört Heinrich Pestalozzi allmählich auf, der unfreiwillige
+Spaßvogel seiner Mitschüler zu sein; er lernt sich zu wehren, und kommt
+durch einen Vorfall sogar in den Ruf einer besonderen Tollkühnheit:</p>
+
+<p>Er ist ein Jahr lang Lateinschüler gewesen, als sein zeitweiliger
+Spielfreund Ernst Luginbühl aus Höngg in die untere Klasse eintritt.
+Dessen Vater ist herkömmlich ein verarmter Stadtbürger, der sich in
+sein dörfliches Anwesen hinein geheiratet hat, aber bis in seine
+Baumwollenweberei ein unruhiger Kopf bleibt, weshalb ihn auch der
+Großvater nicht gern in seiner Dorfgemeinde sieht. Ihm selber ist es
+mit allen möglichen Anschlägen fehl gegangen, darum will er seinem
+Buben eine bessere<span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span> Bildung mitgeben und bringt ihn — der einen klaren
+Kopf hat und gern lernt — in die Lateinschule, wo er, älter als die
+andern, in die untere Klasse aufgenommen wird. Er hat noch immer
+seine roten Backen und die wasserhellen Augen, aber er trägt Schuhe
+an den Füßen und ist auch sonst für die städtische Schule zurecht
+gemacht, in einer ländlichen Art, die den Stadtkindern von selber zum
+Gespött wird. Heinrich Pestalozzi weiß längst, wie die Bürgersöhne
+den Knaben vom Land die Schule verleiden, als ob sie Eindringlinge in
+ihre Vorrechte wären; ihn selber lassen sie deutlich genug merken,
+daß seine Mutter nur eine Landbürgerin ist; nun aber trifft es seinen
+Freund, der in dieser fremden, feindseligen Welt mit den Bauernaugen
+um Mitleid zu flehen scheint. Jeden Morgen kommt er den mühsamen Weg
+von Höngg herunter, manchmal, wenn es geregnet hat, naß bis auf die
+Haut; und mittags, wenn die andern heimgehen, fertigt er seinen Hunger
+im Klassenraum mit einem Stück Brot ab. Er gerät in ein hartes und
+verstocktes Dasein, und wenn ihn Heinrich Pestalozzi anspricht, ist
+es fast, als ob er etwas von seinem Haß gegen die hochmütigen und
+grausamen Bürgersöhne auf ihn übertrüge, sodaß es hier in der Stadt
+keine rechte Fortsetzung der ländlichen Freundschaft geben will.</p>
+
+<p>Eines Mittags kommt Heinrich Pestalozzi zufällig als der Letzte aus der
+Klasse und hört unter dem Gang im Hof ein Hetzgeschrei. Einige größere
+Knaben haben den mißliebigen Weberssohn in eine Ecke gedrängt und hauen
+auf ihm, der sich kratzend und beißend wehrt, mit<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> Linealen herum;
+einer muß ihn am Kopf getroffen haben, denn aus dem weißblonden Haar
+laufen ein paar Zickzacklinien von Blut herunter. Heinrich Pestalozzi
+weiß nichts von dem Anlaß des Streites, er sieht nur das Blut, und
+wie sie ihren Übermut und Hohn an dem Knaben auslassen; darüber faßt
+ihn augenblicklich der zornige Eifer so, daß er blindlings aus der
+offenen Halle über die Steinbrüstung hinunter klettert. Es ist eine
+kleine Stockwerkshöhe, und er könnte sich leicht zu Tode stürzen, als
+er für einen Augenblick selber erschrocken an der Steinbrüstung hängt.
+Er purzelt aber einem, der sich gerade bückt, auf die Schultern, daß
+der bäuchlings hinfällt und ihn wie einen Igel abkugeln läßt, ist
+gleich von Zorn besessen wieder auf und springt auf die andern ein,
+die im ersten Schrecken auseinander rennen. Auch der von seinem Sprung
+Betroffene will fort, kann aber nicht auf und kriecht auf Händen und
+Füßen eilig davon. Darüber erheben die andern, die schadenfroh der
+Prügelei zugesehen haben, ein solches Hohngeschrei, daß ein Lehrer
+dazukommt, ehe die Überfallenen ihrem kuriosen Angreifer heimzahlen
+können. Es gibt nun zwar ein strenges Verhör, bei dem Heinrich
+Pestalozzi, weil er trotzig schweigt, als der allein Schuldige
+übrigbleibt und auch in Strafe genommen wird: aber mit seinem
+tollkühnen Sprung ist er doch Sieger geblieben, und die Schande einer
+feigen Flucht vor dem schmächtigen Heiri Wunderli von Torliken bleibt
+auf den andern sitzen. Das Babeli, als es durch den Johann Baptista
+davon hört, will ihn strafen, weil die Hosen zerrissen sind; aber die
+Mutter wehrt ihr und streichelt ihn.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span></p>
+
+<h3>11.</h3>
+</div>
+
+<p>Im Dezember des gleichen Jahres sind die Schüler in der Klasse von
+Heinrich Pestalozzi gerade aufgestanden, ein Weihnachtslied zu üben,
+als es einen Erdstoß gibt, wie wenn Pferde einen Wagen anzögen, auf dem
+sie ständen. Sie hören in derselben Sekunde auf zu singen und halten
+sich an den Bänken fest; dann ist der Lehrer der erste, bei dem sich
+die Erstarrung auf die Gefahr besinnt. Mit langen Beinen springt er
+zur Tür, die Geige und den Bogen noch in den Händen; aber ehe er dort
+ist, drängen sich ihm schon die nächsten Knaben vor. Draußen quillt
+die Schreckensflucht aus den andern Räumen ebenso zur Treppe; und ist
+es zuerst totenstill gewesen, so erhebt sich nun das Geschrei; erst
+derer, die hinfallen und getreten werden, dann der andern, die davon
+angesteckt die letzte Besinnung verlieren. Es gibt keinen Einzelnen
+mehr, nur noch eine Herde, dahinein die Todesfurcht gefahren ist; und
+die am ehesten Kaltblütigkeit bewahren sollten, die schulmeisterlichen
+Hirten gehen mit langen Beinen über die Köpfe und abwehrenden Hände der
+Knaben hinweg.</p>
+
+<p>Auch Heinrich Pestalozzi ist wie die andern von der Besessenheit
+gepackt worden und hat Arme und Beine gebraucht, sich in dem Strudel
+oben zu halten; aber darum haben seine Augen doch das unwürdige
+Beispiel der Lehrer aufgefaßt; und als er unten auf dem Hofe steht,
+wo rundherum die Stücke von Dachziegeln in dem schwärzlichen Schnee
+liegen und die Nachzügler kommen, die von den andern überrannt wurden
+und teilweise bluten — einer liegt leichenblaß seitwärts allein,<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span>
+weil er aus dem Fenster gesprungen ist und den Fuß gebrochen hat —
+muß er weinen vor Zorn. Die meisten drängen auf die Gasse hinaus,
+wo die Bürger unterdessen aus den Werkstätten gelaufen sind und in
+den Himmel starren, der unbewegt über dem Erdbeben steht. Die zurück
+bleiben, möchten zum Teil gern ihre Bücher und Hüte herunterholen,
+aber keiner wagt sich hinein; obwohl nach der ersten Erschütterung,
+die gleich einem langen Gerolle von unterirdischen Wagen gewesen ist,
+nichts mehr geschieht und die leeren Gebäude gleichsam verwundert auf
+die ängstliche Menschheit herunter sehen. Der Widerspruch zwischen
+dieser lächerlichen Flucht und dem alten Heldentum, davon sie täglich
+durch die selben Lehrer hörten, macht, daß ihm sein Knabenherz trotzig
+aufspringt, sich selber und den andern ein Beispiel von Tapferkeit zu
+geben. Während einige Bürger in den Schulhof gekommen sind und den
+Jungen mit dem zerbrochenen Fuß aufheben, geht er in das verlassene
+Schulhaus zurück: obwohl es unheimlich ist auf der leeren Treppe und
+oben im Gang, wo alle Türen offen stehen, kommt er bis an die Klasse
+und holt seine Sachen heraus; auch einigen andern bringt er mit, was
+er rasch greifen kann; und nachher zwingt er seine Furcht, daß er die
+Treppe nicht hinunter springt, Schritt für Schritt die Stufen nimmt und
+triumphierend zu den Wenigen hinaus tritt, die da noch warten.</p>
+
+<p>Als er danach heim kommt in die Stube, ist der Johann Baptista schon
+längst dabei, dem Bärbel das Abenteuer zu erzählen, indessen das Babeli
+verzweifelt durchs Fenster sieht und ihn scheltend empfängt, daß er
+so spät<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> käme; nun wäre die Mutter aus Angst um ihn schon auf die
+Gasse gelaufen! Er könnte ihr anders antworten; doch wirft er nur die
+Sachen verächtlich auf einen Stuhl und springt hinunter, den Schrecken
+der Mutter abzukürzen. Er findet sie auch gleich, wie sie mit blassem
+Gesicht zurück kommt und ihn erblickend nichts anderes vermag, als ihn
+hastig am Arm zu nehmen, wie wenn sie ihn jetzt noch retten müßte.</p>
+
+<p>Bei den Genossen aber gilt der Heiri Wunderli seit diesem Erdbebentag
+als einer, der sich aus Großmannssucht für etwas Besseres hält, und
+ihrem Spott ist fortab deutlich der Haß beigemischt, der für das
+Ungewöhnliche das sicherste Erbteil unter den Menschen ist.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+
+<h3>12.</h3>
+</div>
+
+<p>Mit zwölf Jahren kommt Heinrich Pestalozzi wieder hinüber in die große
+Stadt, wo seine Mutter im Haus zum Roten Gatter an der Münstergasse
+eine billige Wohnung gefunden hat. Er tritt nun in die Lateinschule
+am Großmünster über und verliert dadurch seinen ländlichen Freund
+aus Höngg ganz aus den Augen. Um so betroffener wird er, als er beim
+Großvater in die Ferien einrückt und dort erfährt, dem Baumwollenweber
+sei es zu teuer geworden mit der Schule, auch habe der Ernst Luginbühl
+selber die Plage mit den Stadtsöhnen nicht mehr gemocht. Er benutzt
+den ersten Ausgang, ihn zu besuchen; schon draußen vor dem kleinen,
+windschiefen Haus hört er den Webstuhl klappern, aber als er zögernd
+hinein kommt, sitzt statt des bärtigen Baumwollenwebers der Sohn im
+Gestänge. Es ist so laut in<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> der Stube, daß der ihn nicht gleich
+bemerkt; als er sich nachher umsieht, dauert der Streifblick nicht
+länger als eine Sekunde, dann starrt er wieder in seinen Webstuhl.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi denkt, daß es die Arbeit so erfordere, und wartet
+geduldig eine Pause ab; als sich nach einer Viertelstunde immer noch
+nichts ändert an dem gleichförmigen Takt, ruft er ihn an, erst leise,
+dann mehrmals lauter: der andere aber zieht nur trotzig die Schultern
+ein. Da merkt er, daß ihn der Ernst Luginbühl nicht mehr ansehen
+will, und in einer tief rinnenden Traurigkeit verläßt er die Stube.
+Draußen sieht er gerade noch, wie die mattrote Sonnenscheibe in dem
+Wolkengerinnsel am Horizont versinkt; was ein warmer Glanz mit lustig
+langen Schatten war, als er herauf kam, ist nun eine rote Glut, die
+sich brandig in den Himmel einfrißt. Nur am Ütliberg läuft noch eine
+feurige Kante hinauf, und unten starrt das Kriegslager von Zürich vor
+dem See, als ob es dunkel auf eine bläßliche Glasscheibe gemalt wäre.
+Er fühlt mit seinen zwölf Jahren, daß alles, was bisher in seinem
+Herzen gewesen ist, Zorn und Empörung, Mitleid und Freude: mit den
+Stunden kam und verrann, wie dort das Sonnenlicht verrinnt und morgen
+wiederkommt; aber, was da am Webstuhl angeschlossen ist, kam nicht mehr
+los aus seiner Unabwendbarkeit.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi vermag nicht ins Pfarrhaus zurückzugehen; bis
+zur Dunkelheit sitzt er am Rain und versucht, aus dem Knäuel dieser
+Gedanken heraus zu kommen. Das einzige, was er gewinnt, ist ein
+Gefühl, dass bis zur Stunde alles eitel und selbstsüchtig in ihm<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> war:
+nur, weil er die reichen Verwandten am See und hier den Großvater im
+wohlbestallten Pfarrhaus hat, durch kein anderes Vorrecht, ist er vor
+dem gleichen Schicksal behütet. Je tiefer er sich da hinein denkt,
+um so mehr schämt er sich vor dem Knaben und um so glühender wird
+sein Wunsch, ihm wenigstens ein Pfand der Liebe aus seinem Herzen
+hinzulegen, da er ihm sonst nicht helfen kann. Und als er das Pfand
+gefunden hat — es darf nur das Liebste sein, was er besitzt — hindert
+Heinrich Pestalozzi nichts mehr, sein Herz zu erfüllen:</p>
+
+<p>Vor der Tür des Pfarrhauses, aus dem ein Licht der Wohlhabenheit in den
+Abend leuchtet, zieht er die Schuhe aus und schleicht auf Strümpfen
+in die Kammer. Der Ranzen ist noch nicht ausgepackt, und seine Hände
+wühlen im Dunkeln nach dem silberbeschlagenen Testament, das seine
+Mutter von ihrem Vater zur Konfirmation erhalten und ihm kürzlich am
+Grab des eigenen Vaters in die Hand gegeben hat. Er fühlt das Unrecht,
+das er damit tut: es gehört ihm selber garnicht, es ist ein Vorrecht
+vor den Geschwistern, es zu haben. Aber gerade das bestimmt ihn, es
+herzugeben; denn nur darum ist er wie alle übermütigen Stadtbürgersöhne
+in Zürich gegen den Weberknaben im Vorteil, weil sie in den Reichtum
+solcher Familienstücke hineingewachsen sind! Und daß es ein Liebespfand
+von seiner Mutter ist, darauf hat Christus selber zu Maria gesagt:
+Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?</p>
+
+<p>Als er zitternd und mit einem schmerzenden Knie, weil er im Eifer
+gefallen ist — auch die Schuhe wieder anzuziehen, hat er vergessen —
+zu dem Knaben in die<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> Stube kommt, ist von dem Lichtspan an der Wand
+ein trübes Licht darin, das die Schatten des Webstuhls wie Ratten in
+dem halbhellen Raum hin und her laufen läßt. Diesmal hört der Ernst
+Luginbühl gleich auf zu weben, so sehr scheint er erschrocken, wie
+einer aus der Dunkelheit mit bittend hingestreckten Armen in sein
+Licht kommt. Vor den heißen Augen weiß Heinrich Pestalozzi keins von
+den Worten zu sagen, mit denen er her gelaufen ist; weil die Hände
+des Knaben am Webstuhl hängen bleiben, legt er ihm das Testament mit
+dem blinkenden Silber darauf. Wohl eine Minute lang ist es still
+um die Atemzüge der beiden Knaben, wie wenn dieses Liebespfand sie
+wirklich vereinen könnte; dann reißt der Webersohn die Hände fort, als
+ob ihn mit dem kalten Metall des Buches ein widerliches Tier berührt
+hätte. Klappernd fliegt es gegen das Holz und fällt seitwärts auf den
+Lehmboden; doch darf es auch da nicht liegen, der Dämon in dem Knaben
+fährt auf und spuckt danach; und als Heinrich Pestalozzi schützend
+seine Hände über sein Heiligtum breiten will, tritt er mit beiden
+Füßen darauf, bis es in den Lehm eingestampft ist. Erst dann bricht er
+schluchzend aus und läuft durch die offene Tür in die Nacht.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi meint, die Mutter laut mit sich weinen zu hören,
+als seine zitternden Finger das Buch aus dem Boden graben; mit einem
+Grauen, darin das Großmünster aus seiner ersten Jugend über ihm
+einstürzt, geht er aus der Stube. Am Zürichberg wird unheimlich das
+Signal der Mondscheibe aufgezogen; so rot ist sie, als hätte sie dem
+Abendrot das Blut ausgetrunken.<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> Und wenn Heinrich Pestalozzi auch erst
+nach Jahren die Verzweiflung verstehen soll, die ihm sein Liebespfand
+bespien und zertreten hat, eine Ahnung trägt er schon an diesem
+Abend ins Pfarrhaus hinunter: alles andere, nur nicht das gedruckte
+Evangelium hätte er dem Knaben auf die Hände legen dürfen, der sich von
+einer auf dieses Evangelium gegründeten Welteinrichtung verraten fühlt.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>13.</h3>
+</div>
+
+<p>Seitdem geschieht es Heinrich Pestalozzi häufig, daß er unversehens
+an den Webstuhl in Höngg denken muß; er meint dann, das unaufhörliche
+Geklapper zu hören, und kann, wenn er sich auf die Schulgegenwart
+besinnt, staunend in eine neue Anschauung der Wirklichkeit versinken:
+die sonst nur als der Kreis seiner Sinne um ihn gewesen ist oder in
+seiner Erinnerung ein Bilderbuchdasein geführt hat, je nachdem er
+zufällig an etwas dachte, wächst sich zur Weite ihrer unabhängigen
+und ungeheuren Existenz aus. Es wird ein leidenschaftliches Spiel
+seiner Einbildung, sich vorzustellen, was alles in der gleichen Stunde
+geschieht, da er mit seinen Büchern dasitzt: wie der Großvater in Höngg
+den Pfarrhut in seiner Studierstube aufsetzt und hüstelnd — er geht
+nun schon an die siebzig — die Treppe hinuntersteigt, die Kranken
+der Gemeinde zu besuchen; wie die Großmutter unterdessen mit ihren
+runzeligen Händen im Garten schafft, manchmal ein Viertelstündchen
+mit einer Nachbarin plaudernd; wie rund herum in den Weinbergen
+und Feldern die Bauern sich nach ihrer Arbeit<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> bücken; wie auf der
+Straße die Kaufmannswagen, mit runden Tüchern überspannt, ihren Trott
+dahingehen, oft überholt von den Staubwolken eiliger Reisenden; wie
+bald ein Sonnenstrahl, bald ein Wolkenschatten hinläuft über das breite
+Limmattal, über die reisige Stadt Zürich und die Großmünstertürme —
+daneben er selber im Schulhaus sitzt und dies alles denkt — über den
+langen See hin bis Richterswil und weiter hinauf gegen den blaudunklen
+Wall der Berge, die sich nicht so leicht überrennen lassen, über
+ungezählte fleißige Menschen hin, welche, die fröhlich singen, und
+andere, die um einer Not willen verzweifelt sind. In der Weite und
+unausdenkbaren Vielgestaltigkeit dieses Lebens fühlt er sich und seine
+Pfarrpläne kaum anders als den Vetter am See, der mit seinem Federhut
+den Soldaten spielt. Die Welt ist nicht mehr so, daß einer mit seiner
+Knabeneinfalt hineingehen und ihre Dinge umgestalten kann, die Dinge
+selber sind es, die mit ihrem unübersehbaren Zustand den Einzelnen
+festhalten und nötigen. Wie die Unheimlichkeit des Großmünsters
+drohend gegen die Stubenwelt seiner frühen Knabenjahre aufgestanden
+ist, so kommt jetzt der Lebenskreis der Dinge; nur, daß er diesmal
+die wirklichen Zusammenhänge fühlt und demütig die Überhebung seiner
+Knabenpläne einsieht.</p>
+
+<p>Dazu kommt etwas Zufälliges, das freilich mit dieser Art, die Dinge
+zu empfinden, zusammenhängt, ihn völlig verzagt zu machen: Weil er im
+Examen der Erste gewesen ist, trifft es ihn, daß er das Gebet vor der
+Klasse sprechen muß. So feierlich für ihn die Worte des Vaterunsers<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span>
+sind, da er sie selber zum erstenmal öffentlich sagen soll, überfällt
+der komische Zwiespalt zwischen seiner in tausend Täglichkeiten
+verbrauchten Knabenstimme und dem feierlichen Aufwand, den er damit
+treiben soll, sein verscheuchtes Selbstgefühl derartig, daß er einem
+unwillkürlichen Zwang zu lachen nicht widerstehen kann und dadurch zu
+einer ernstlichen Vermahnung kommt. Auch in der Folge verliert sich
+dieses Hindernis nicht; so oft er in der Schule oder gar in der Kirche
+etwas öffentlich aufzusagen hat, ist das stete Gefühl dabei, vor den
+anderen Knaben lächerlich dazustehen, und er braucht dann nur seinen
+Blick mit einem andern zu kreuzen, um auch schon auszuplatzen. Es ist
+ihm sicher, daß er niemals als Pfarrer seine Stimme in der Kirche wird
+erheben können, ohne diesen Zwang zum Lachen. Die erste Erkenntnis der
+Weltzusammenhänge hat ihm die Unschuld seines Knabendaseins unsicher
+gemacht, und ängstlich fragt er, ob sie ihm jemals wiederkommt?</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>14.</h3>
+</div>
+
+<p>Als Heinrich Pestalozzi mit dem fünfzehnten Jahr aus der Lateinschule
+übertritt in das sogenannte Collegium Humanitatis, das auch beim
+Chorherrngebäude des Großmünsters liegt, ist von seinen Knabenplänen
+nichts geblieben als die Verzagtheit, überhaupt einen Platz mit seinem
+Dasein in der Wirklichkeit zu finden. Da hilft ihm zum erstenmal
+seine Vaterstadt; indem er anfängt, die Dinge zu beobachten, wie sie
+außer dem Kreis seiner Sinne ihre eigenen wechselvollen Zustände<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span>
+haben, sieht er sich unerwartet vor ihre Vergangenheit gestellt. Diese
+Bastionen und Stadttürme, Kirchen und Brücken: das alles ist nicht
+immer so gewesen, wie es nun für seine Augen dasteht. Es ist die
+Erbschaft der Jahrhunderte — wie die öffentlichen Einrichtungen der
+Zünfte, der Lehrschulen und Gottesdienste auch — von Menschenhänden
+in den ewigen Kreislauf der Natur gestellt und von Menschen in der
+unaufhörlich ablaufenden Frist ihrer irdischen Gegenwart verändert.
+Noch bevor er Schüler vom alten Bodmer wird, der seit Jahrzehnten in
+Zürich helvetische Geschichte lehrt, verfällt er mit Eifer auf die
+Geschichte der stolzen Heimatstadt. Gerade weil sie ihm mit ihren
+finsteren Gassen nie so heimelig geworden ist wie das Land, und weil
+sein Gefühl sich so schwer zurechtfindet mit den Einrichtungen, die
+überall Ehrfurcht fordern und ihn bedrücken: sucht er hitzig nach der
+Herkunft aller dieser Dinge und Sitten, als ob es ihm so gelingen
+müßte, sein eigenes Gefühl aus der drohenden Ungewißheit in eine
+sichere Übereinstimmung mit der Heimat zu bringen.</p>
+
+<p>So liest Heinrich Pestalozzi, der zwischen den Bürgersöhnen immer noch
+ein schmächtiges Gewächs und der Heiri Wunderli von Torliken ist,
+die mehr als tausendjährige Geschichte seiner Stadt: wie schon zu
+römischen Zeiten der Lindenhof ein befestigtes Kastell war und in den
+Märtyrern der thebäischen Legion, Felix und Regula, seine christlichen
+Schutzheiligen gewann; wie Karl der Große ihm seine geistlichen
+Stifte, das Großmünster und das Fraumünster, gab und eine Reichsvogtei
+das<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> römische Kastell auf dem Lindenhof ablöste; wie es lange vor
+dem Eintritt in die Eidgenossenschaft reichsfrei und ein mächtiges
+Stadtwesen war, bis es durch Zwingli der Vorort der reformierten
+Christenheit wurde. Er liest von den berühmten Bürgermeistern der
+Stadt: von Bruns, dem ränkevollen Aufrührer der Innungen, der die
+Regierungen der Zünfte gegen die Geschlechter begründete und in der
+Züricher Mordnacht die von Rapperswil eingebrochenen Adeligen grausam
+unterwarf; von dem riesenhaften Stüssi, der um das Toggenburger Erbe
+den Krieg mit den Eidgenossen aufnahm und vor dem Stadttor an der
+Sihlbrücke fiel; von Hans Waldmann, dem Helden zu Murten, unter dessen
+Hand Zürich zum Vorort der ganzen Eidgenossenschaft wurde, bis er,
+von seinem eigenen Glanz verblendet, seinen Gegner, den Volkshelden
+Frischhans Theiling, hinrichten ließ und bei der Empörung der Seebauern
+selber den stolzen Hals aufs Schafott legen mußte. Er liest, wie sich
+die Bürgermeister um Geld an mächtige Fürsten verkauften, wie Zürich um
+seines Vorteiles willen mehrmals die Eidgenossen an die Österreicher
+verriet, und wie durch den Bundesvertrag mit Frankreich das Reislaufen
+der Eidgenossen ein bezahltes Handwerk wurde. Aber dann kommt
+Zwingli, der gegen diese wie andere Unsitten in Zürich ein Regiment
+schweizerischer Mannhaftigkeit aufrichtet und, obwohl er selber bei
+Kappel kläglich umkommt, Zürich zur evangelischen Glaubensburg macht.
+Aus dem ränkevollen Spiel der Jahrhunderte wächst ihm die Gestalt
+dieses Glaubenshelden zu einer Größe heraus, daneben die Figuren der
+Bürgermeister<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> in den schwankenden Schatten böser Leidenschaften
+versinken.</p>
+
+<p>Alle diese Dinge liest Heinrich Pestalozzi, wie ein anderer Zürcher
+Knabe die Geschichte seiner Vaterstadt auch gelesen hätte; aber
+unvermutet kommt eine Begebenheit, die seine eigene Herkunft angeht und
+danach lange den heimlichen Schlüssel seiner vaterländischen Gefühle
+abgibt: Zwingli ist seit vierundzwanzig Jahren tot, und überall haben
+die Evangelischen mit der katholischen Gegenreformation zu kämpfen; da
+ziehen an einem Mittag des Jahres 1555 einhundertsiebzehn Flüchtlinge
+in Zürich ein, ziemlich die ganze reformierte Gemeinde aus Locarno,
+die mit ihrem Pfarrer Beccaria über den schneebedeckten Bernardino und
+den Splügen, durch Lawinengefahr und die Frühjahrsschrecknisse der Via
+mala gewandert ist und in dem Nachfolger Zwinglis, dem Münsterpfarrer
+und eigentlichen Regenten von Zürich, Heinrich Bullinger, einen
+mannhaften Beschützer findet. Heinrich Pestalozzi weiß vom Großvater,
+daß seine Familie ursprünglich italienisch und um des Glaubens willen
+eingewandert ist: nun erkennt er die Umstände und wie tief er —
+mütterlicherseits sogar ein direkter Abkömmling jener Flüchtlinge —
+der Stadt Zürich verpflichtet ist. Zum andernmal wächst das Großmünster
+mächtig auf vor einem Gefühl, aber es ist kein Grauen mehr; er sieht
+die beiden Türme als reisige Wächter seines Glaubens die Stadt behüten,
+und wenn nun Sonntags die mächtigen Glocken darin läuten, ist es der
+Schlachtgesang Zwinglis und seiner Getreuen, die für das Evangelium
+hinaus reiten in den Tod.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span></p>
+
+<h3>15.</h3>
+</div>
+
+<p>Seitdem sich Heinrich Pestalozzi selber als einen Schützling dieser
+mächtigen Stadt erkannte, mag er einsam durch ihre Straßen gehen
+und sich allein von solchem Gang beglückt fühlen: Es braucht nur
+ein Hufschmied zu hämmern, und schon hört er Schwertschlag auf
+stählerne Panzer, und wenn er Sonntags mit der Gemeinde in den hohen
+Münsterhallen singt, beim Donnerschall der Orgel, wenn er den Prediger
+das Buch vom Altar nehmen sieht, wie es Zwingli an derselben Stelle
+genommen hat, mischt sich mit dem ehrfürchtigen Grauen der Stolz und
+Dank seiner von unbändigen Erinnerungen erfüllten Seele. Er weiß nun,
+was es bedeutet, daß der steinerne Karl außen hoch am Münsterturm das
+Schwert flach auf den Knien hält und warum auf den Brunnen die reisigen
+Männer stehen. Als er einmal mit in die Zwölfbotenkapelle unter dem
+Großmünster hinunter darf, läuft er nachher wohl eine Stunde lang
+weinend vor Glück an der Limmat hin.</p>
+
+<p>Es ist, als ob er nun die Stadt erst sehe, in der er aufgewachsen
+ist; und wenn er durch eine der alten Porten hinaus geht, die noch
+immer wehrhaft dastehen, obwohl draußen die wohlgerüsteten neuen
+Bastionen sind, kann es ihm ängstlich werden, die schützende Grenze zu
+überschreiten. Der schwarze Pfahlwall im See am Grendel, der mit der
+Dunkelheit die Schifffahrt absperrt, der Wellenbergturm mitten in der
+Strömung, das mit mächtigen Quadern ins Wasser vorgebaute Rathaus, die
+stattlichen Zunfthäuser und der<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> breitbedachte Rüden am Stücklimärt,
+wo immer noch die Constafel, die Geschlechter, tagen, das Haus zum
+Königstuhl mit seinem derb vorgebauten Erker, darin der Bürgermeister
+Stüssi gewohnt hat, oder das Haus zum Loch, mit seltsamen Sagen dem
+großen Kaiser Karl verknüpft: jeder Stein der Stadt wird mit dem
+Bewußtsein der Geschichte lebendig, die daran gebaut hat.</p>
+
+<p>Auch empfindet er nun, daß es etwas anderes ist, ob der Antistes
+von Zürich durch die Straßen geht, oder ob sein Großvater von Höngg
+zu einer Besorgung herein kommt; und als er erst einmal in der
+Wasserkirche gewesen ist, wo die alte Bibliothek der Stadt in zwei
+Galerien eingebaut steht und mit den alten Ölbildern an den Wänden
+gleichsam das Uhrwerk ihrer geistigen Geschichte darstellt, wird der
+stille Saal für ihn ein Raum mancher heimlichen Feier. Von hier aus
+beginnt er mit Stolz nach den Männern zu sehen, die zum Ruhm und
+Vorbild der Bürgerschaft leben, und wenn er nun den greisen Bodmer
+daherkommen sieht, fühlt er: es ist mehr als ein Professor der
+helvetischen Geschichte, es ist der Geist dieser tapferen Geschichte
+selber, der unter seinen buschigen Augenbrauen in die Gegenwart blitzt.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>16.</h3>
+</div>
+
+<p>In dieser Zeit fängt Heinrich Pestalozzi auch an, Kameraden zu
+bekommen; er ist den Wunderlichkeiten des alten Babeli entwachsen,
+und so sehr die Gute schilt, wenn seine Kleider bei einer unnützen
+Kletterei an der<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> Stadtmauer oder sonst Schaden genommen haben: er ist
+zu lange in ihrer Stubenhaft gewesen, um nicht mit Ausgelassenheit
+die Freiheit solcher Streifereien zu genießen. Sogar reiten lernt er,
+als wieder einmal der Vetter Weber aus Leipzig für einige Zeit in
+Zürich auf Geschäften ist und ihm eins von seinen Rossen leiht. Es
+geht ihm immer noch wie damals bei dem Großvater in der Kalesche, er
+kann nicht mit dem Gaul übereinkommen, hält sich an den Zügeln fest,
+als ob es Rettungsseile wären, und macht das arme Tier einmal am
+Hottinger Pörtchen so wild, daß es auf der Holzbrücke anfängt, Männchen
+zu machen, und ihn beinahe über das Geländer in den Stadtgraben
+hinunter wirft. Schon läuft der Torwächter erschrocken hinzu, und die
+Spaziergänger flüchten sich; irgendwie aber bleibt er doch noch im
+Sattel hängen, das Pferd zieht es vor, den Stall zu suchen, und er
+widerstrebt ihm nicht, obwohl er dabei seine Mütze verliert und nicht
+gerade eine Reiterfigur macht.</p>
+
+<p>Schlimmer geht es ihm jenes Mal, als er an einem Sonntagnachmittag mit
+einigen Kameraden in einem Weidling nach Wollishofen hinausgerudert
+ist und nachher wieder heim will. Sie sind nach Knabenart laut
+gewesen, haben Schweizerlieder gesungen und in dem schwanken Schiff
+ihre Katzbalgereien gehabt, als ob ihnen garnichts Schlimmes begegnen
+könnte. Beim Einsteigen aber, als sie noch mitten im Gelächter sind,
+kommt er mit dem einen Fuß nicht vom Landungssteg los, während er den
+anderen schon auf den Rand gesetzt hat. Durch den Ruck weicht das
+Schiff unter ihm<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span> fort, bis seine Beine zu kurz für die Spannung sind
+und er kopfüber in den See kippt. Er kann nicht schwimmen; das Wasser
+ist ihm immer unvertraut gewesen, und nur dadurch, daß die andern ihm
+schnell das Ruder hinhalten, als er mit zappelnden Armen hoch kommt,
+ertrinkt er nicht. Sie schleppen ihn daran wie einen gefangenen Fisch
+gegen das Ufer zurück, wo sie ihn diesmal mit größerer Vorsicht ins
+Boot holen wollen. Er mag aber nicht mehr, verschlägt sich unter
+den Scherzen der andern seitwärts an eine durch Büsche geschützte
+Uferstelle und trocknet da seine Kleider in der Sonne. Das dauert
+einige Stunden, während die andern wieder ihre Tollheiten in dem
+Kahn machen und ihn schließlich, seine Feigheit verhöhnend, im Stich
+lassen. Daß seine Kleider naß geworden sind, macht ihm nichts aus bei
+der Sonne; auch ist er so rasch wieder oben gewesen, daß er gleich mit
+den andern dazu gelacht hat: nun er aber allein so am Wasser sitzt,
+das auf eine gierige Art ans Ufer schwappt, fängt das Erlebnis an, ihn
+schwermütig zu machen. Er hat, als er untersank, für einen Augenblick
+die Augen der Mutter dicht vor den seinen gesehen, und den Großvater
+dahinter, wie er ihm die Hand auf die Schultern legte: nun hört er das
+übermütige Geschrei der Knaben vom See und kann nicht begreifen, daß
+er selber dabei war. Es wäre nichts als ein unnützer Knabe gewesen,
+den das Wasser an ihm verschluckt hätte; weil aber nichts so heftig in
+seiner Seele aufbegehrt als der Ehrgeiz, sich selber wert zu halten
+und es den großen Männern seiner Stadt einmal gleich zu tun, werden
+für Heinrich<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> Pestalozzi die beiden Nachmittagsstunden, während er am
+See bei Wollishofen in der Sonne sitzt, zu einem Selbstgericht, wo ein
+beschämter Jüngling die Kleider halbtrocken wieder anzieht, die sich
+der Knabe naß vom Leib gerissen hat.</p>
+
+<p>Stärker als damals in Höngg vor der Tür des Ernst Luginbühl ist das
+Gefühl eines eitlen und selbstgefälligen Daseins in ihm. Mit all seinem
+Selbstbewußtsein, mit seinen Vergangenheitsträumen und spintisierten
+Taten ist er doch nur ein Schüler, nach dem niemand fragt, als die,
+denen er mit seinen Großsprechereien zuleide ist. Seine Auflehnung
+gegen die Ungerechtigkeit der Lehrer, wenn der Kantor betrunken in
+die Singstunde kommt oder der Provisor Weber — der selbe, der sich
+einmal eine Laus vom Kopfe nahm und ihm auf dem Papier zerknickte
+— dem Ludwig Hirzel vom Schneeberg ein paar Fehler übersieht, weil
+dessen Eltern ihm eine Metzgeten ins Haus geschickt haben; sein ganzes
+Weltverbesserertum setzt er nun gegen die Unfähigkeit, mit sechzehn
+Jahren sich selber und seine Kleider in Ordnung zu halten oder einen
+Heller zu haben, den er seiner Mutter nicht abgebettelt hat, als ob die
+ganze Schöpfung nur da wäre, einem Schulknaben nach seinen Einfällen
+und Sinnen gefällig zu sein.</p>
+
+<p>Freilich, als er dann sucht, wie er seine unnützen Beine unter
+dem Tisch der Mutter fortbringen könne, findet er nichts als die
+Kaufmannschaft, dahinein sie schon im Frühjahr nicht ohne Tränen den
+Johann Baptista getan hat. Ihr zuliebe muß er die Schule durchhalten;
+so ist es unvermutet doch wieder der Zirkel solcher<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> unnützen
+Schülerschaft, darin er seine Jugend gebunden sieht. Trotzdem, als er
+im späten Nachmittag allein gegen Zürich geht, fröstelnd von den nicht
+völlig trockenen Kleidern, ist es ihm, als ginge er nun wirklich in den
+großen Schritten des Vaters, die er als kleiner Knabe so gern versucht
+hat. Er mochte sich kein Gelöbnis geben, und auch diesmal sind die
+Kreise seiner Gedanken gleich dem Ringelspiel um die Steine verlaufen,
+die er draußen in den See warf: doch geht eine Sicherheit mit ihm, als
+läge sein unnützes Knabentum noch mit den Kleidern auf einem Häufchen
+im warmen Uferschilf. Weil aber doch für einen Augenblick der Tod an
+seine Natur gerührt hat, ist die heimliche Lust des Lebens in ihm, die
+— wie er danach noch tiefer erfahren soll — durch nichts so sehr als
+durch das Grauen des Todes angeregt wird.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>17.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi ist im Januar siebzehnjährig geworden, als er zum
+Frühjahr ins Collegium Carolinum eintritt. Er weiß, daß er für keinen
+schlechten Kopf gilt, wenngleich er bis zuletzt als ein unordentlicher
+und zerstreuter Schüler gescholten worden ist: nun liegt die Zeit der
+Abrichtung hinter ihm, und er steht als Student zu Hause wie vor den
+Mitbürgern mit dem Stolz da, endlich auf die Wissenschaften selber zu
+zielen. Wo Bodmer helvetische Geschichte lehrt und Breitinger außer den
+alten Sprachen Philosophie, da hat die Schulmeisterei ihr Ende; das
+sind Männer, um die er Zürich von halb Europa beneidet weiß, und zu
+denen weither die Berühmtheiten<span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span> angereist kommen. Namentlich Bodmer
+mit seiner vaterländischen Begeisterung, der auch als Mitglied des
+großen Rates in Zürich selber in die Regierung eingreift, ist das Ziel
+seiner Verehrung. Der ist damals noch nicht der schrullenhafte Greis,
+trotz seiner fünfundsechzig Jahre behend und rasch mit der trefflichen
+Rede. Unter seinen Zuhörern zu sitzen, bedeutet für Heinrich
+Pestalozzi, in die geistige Gemeinschaft seiner Stadt eingetreten zu
+sein; und als es ihm zum erstenmal gelingt, einige Worte mit ihm zu
+sprechen, erzählt er nachher der Mutter und dem Bärbel glückselig von
+der Begegnung. Die Mutter, wie immer, hört mit leiser Trauer zu; das
+Bärbel aber, das nun schon vierzehnjährig mit seinen Italieneraugen ein
+zärtliches Kind vorstellt, ist stolz auf den großen Bruder.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi spürt seit dem ersten Tage, daß ihm die
+Zeitumstände einen günstigen Wind in sein Studium bringen; tagtäglich
+kann er neue Segel aufziehen, und wenn er sein Lebensschiff in dieser
+ersten Studentenzeit aufmalen könnte, wäre es von der Mastspitze bis
+zum Steuer bewimpelt.</p>
+
+<p>Aus Frankreich ist die Nachricht von einem Buch gekommen, das einen
+Schweizer, den Genfer Uhrmacherssohn Jean Jacques Rousseau, zum
+Verfasser hat und im Auftrag des Parlaments in Paris vom Henker
+zerrissen und verbrannt worden ist; auch der Magistrat in Genf hat
+das Buch verdammt, und so gibt es wenige, die seinen Inhalt wirklich
+kennen. Aber als ob aus den Flammen des Henkers Funken fortgeweht
+wären, nistet sich der Brand allerorten ein, sodaß die Wirkung des<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span>
+»Emil« — wie das Buch heißt — ihm in hitzigen Gesprächen vorausläuft,
+besonders da, wo die übrigen Schriften des welschen Schweizers seine
+Naturreligion schon verbreitet haben. Heinrich Pestalozzi kann nicht
+daran denken, so bald ein Exemplar dieses Buches zu erhalten, wohl aber
+bekommt er seine Wirkung zu spüren. Er war eben aus der Lateinschule
+gekommen, da haben die neun Schweizer, durch Iselin in Basel gerufen,
+ihre Freundschaftsfahrt nach Schinznach gemacht, die helvetische
+Gesellschaft zu gründen. Auch ein Zürcher, Hans Kaspar Hirzel, ist
+dabei gewesen, und obwohl die Gestrengen Herren im nächsten Jahr die
+Teilnahme an den Verhandlungen in Schinznach als staatsgefährlich
+verboten haben, weiß er wohl, daß ihrer sieben heimlich dort gewesen
+sind; und er entsinnt sich noch, mit welchen Augen selbst die Knaben in
+der Schule davon sprachen, als ob Schinznach ein neues Rütli für die
+Eidgenossenschaft wäre gegen den gewalttätigen Herrschaftsgeist der
+einzelnen Kantone. Und nun kommt der Tag, wo der alte Bodmer das Licht
+öffentlich aufsteckt, das bis dahin nur mit Tüchern verhüllt heimlich
+von Haus zu Haus getragen worden ist; wo er als der einzige in Zürich,
+der die Geltung und den Freimut zugleich besitzt, dergleichen zu wagen,
+die helvetische Gesellschaft zur Gerwe einrichtet.</p>
+
+<p>Als Heinrich Pestalozzi sich mit andern Studenten vor den Anschlag
+drängt, der den Arbeitsplan der Gesellschaft kundgibt, kommt zufällig
+Bodmer mit zwei jungen Männern daher, die schon die Kleidung
+der zukünftigen Geistlichkeit tragen und aus Respekt vor dem<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span>
+Professor, obwohl er freundschaftlich mit ihnen spricht, die Hüte
+in der Hand halten. Die beiden sind ziemlich allen bekannt als die
+Predigtamtskandidaten Bluntschli und Lavater, die dem alten Herrn
+eifrig zu Diensten und auch bei der Gründung der neuen Gesellschaft
+seine Handlanger sind. Sie verziehen keine Miene ihrer feierlichen
+Gesichter, als sie vorübergehen; Bodmer aber bleibt seiner scherzhaften
+Laune folgend stehen, und weil er zufällig an Heinrich Pestalozzi
+gerät, tippt er ihm mit dem Zeigefinger leicht auf die Brust: ob er
+Lust zur Mitarbeit habe? Die Frage scheint nicht weiter gemeint, der
+alte Herr wartet auch gar keine Antwort ab und geht mit den schwarzen
+Pagen zur Münstertreppe hinunter: aber darum hat er ihm doch mit dem
+Finger ans Herz gerührt. Er wäre auch sonst glücklich gewesen, mit
+bei dieser Sache zu sein, die aus seinen glühenden Wünschen gemacht
+scheint; nun aber sind seinem Ehrgeiz Hoffnungen geweckt, die er sich
+selber wie eine Fahne aufrollt.</p>
+
+<p>Der schwarze Pestaluz wird Tambour! höhnt ein Bürgersohn, den die
+Bevorzugung ärgert, und die andern lachen dazu, als ob sie ihn schon
+trommeln hören; er aber ist viel zu erregt, darauf zu achten, und noch
+als er zu Hause die Treppe hinaufgeht, spürt er die Stelle, wo ihm der
+Bodmer genau auf das Herz getippt hat.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>18.</h3>
+</div>
+
+<p>Die Gesellschaft heißt zur Gerwe, weil ihre Versammlungen im Zunfthaus
+der Gerber abgehalten werden, das unterhalb des Rathauses über die
+Limmat hinaus<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> gebaut ist. Als Heinrich Pestalozzi zum erstenmal
+hinkommt, ist noch niemand da, weil seine Ungeduld sich verfrüht
+hat; so wird er von einigen Männern, die nach ihm eintreten, um eine
+Auskunft angesprochen und gerät dadurch gleich anfangs in die Stellung
+eines Vertrauten, der mehr von dieser Sache weiß, um so mehr als Bodmer
+nachher der Versammlung scherzhaft ankündigt, daß sie es einmal mit
+der umgedrehten Welt versuchen und der Jugend das Wort lassen wollten,
+indessen sie, die Alten, diesmal nur das Parterre im Theater wären.
+Es mögen an die hundert Personen in dem getäfelten Saal sein, wie
+Heinrich Pestalozzi an der Begrüßung merkt, zumeist Schüler Bodmers,
+der seit vierzig Jahren vaterländische Geschichte in Zürich liest und
+schon der Lehrer einiger Graubärte gewesen ist, die nun als begeisterte
+Eidgenossen in seine Studiengesellschaft eintreten. Den ersten Vortrag
+hält der Kandidat Bluntschli; er liest ihn mit einer Stimme, die
+beinern vor Erregung ist, und das Papier zittert ihm so in den Händen,
+daß ein Blatt mitten durch reißt. Auch seine Worte sind so, sie handeln
+von den Grundsätzen der politischen Glückseligkeit, und wie Heinrich
+Pestalozzi den blassen, schon durch die Schwindsucht gezeichneten
+Menschen von den politischen Einrichtungen Zwinglis sprechen hört,
+glaubt er den Reformator fast selber zu sehen, so erfüllt ist dieser
+Kandidat von der unbeugsamen Sittlichkeit seiner Gedanken.</p>
+
+<p>Nachher gibt es eine Aussprache, und nun spürt Heinrich Pestalozzi,
+daß dies mehr sein soll und ist, als eine Studiengesellschaft der
+vaterländischen Geschichte.<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> Einer der Männer, die ihn zu Anfang
+angesprochen haben, nimmt auch das Wort, und es ist schon ein Zeichen
+selbständiger Gesinnung, wie er mit seinem braunen Vollbart gegen die
+rasierten Gesichter der modischen Herren steht. Er bringt die Rede auf
+den Landvogt Grebel in Grüningen, der in seiner sechsjährigen Amtszeit
+mehr ein Räuber als eine Obrigkeit im Sinne Zwinglis gewesen sei und
+nur deshalb seinen Raub trotz aller Klagen des Landvolks behalten
+könne, weil er der Eidam des Bürgermeisters wäre. Obwohl der alte
+Bodmer sichtlich erschrocken die harten Worte mit erhobenen Händen
+abwehrt, muß er sie wieder sinken lassen; denn aus der Versammlung
+bricht die Empörung über die allbekannten Greuel des leichtfertigen und
+bösen Mannes in solchen Zurufen aus, als ob sie sich alle nur deshalb
+in der Gerwe vereinigt hätten. Bodmer weiß zwar die Erregung mit klugem
+Bedacht wieder auf eine Aussprache zurückzulenken, aber die Worte, die
+nun kommen, sind anders, als die vorher waren: als ob sie auf einem
+Wasser hingerissen würden, so vergeht der einzelne Schall, aber die
+stark strömende Flut der Erregung bleibt.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi fühlt sich aus seinem jünglinghaften Träumerdasein
+mitten ins Leben versetzt; er könnte die Worte des bärtigen Mannes aus
+dem Gedächtnis sagen, so sind es Hammerschläge auf sein Herz gewesen,
+und als es zum Schluß noch ein erregtes Zwiegespräch mit dem Bluntschli
+gibt, steht er im Rausch dabei: Der Kandidat ist mit der Anwendung
+seiner Grundsätze nicht einverstanden; weil er aber nur abzulesen,<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span>
+nicht frei zu sprechen vermag, hat er dem braunen Mann vor der
+Versammlung nicht entgegnen können; nun, wo die meisten, auch Bodmer,
+schon gegangen sind, gerät sein zu lange verhaltener Widerspruch in
+Zorn, sodaß es fast einen Streit gibt. Der andere aber, der vorher so
+scharf gewesen ist, weiß nun den Humor des Älteren herauszukehren,
+sodaß sie zuletzt noch friedlich mit einander auf die Gasse kommen.
+Heinrich Pestalozzi hätte längst heim gemußt, er kann sich aber nicht
+von den andern lösen, solange derartige Dinge in den Worten sind; so
+geht er treulich noch am nächtlichen Limmatufer mit den andern hinauf
+und befindet sich, als es unvermutet eine Abschiedsecke gibt, zu seiner
+eigenen Verwunderung mit dem Kandidaten allein.</p>
+
+<p>Der in seiner gereizten Stimmung ist augenscheinlich froh, noch einen
+Zuhörer für seine zornigen Gedanken zu haben. Vielemal läuft er mit ihm
+disputierend am Wasser auf und ab, auf dem der Mond sein Silberlicht in
+einen ruhelosen Abgrund schüttet: Er habe die Grundlage der sittlichen
+Bürgerordnung, nicht den Aufruhr stipulieren wollen, sagt der Kandidat,
+und obwohl Heinrich Pestalozzi seine Freude an dem braunbärtigen Manne
+gehabt hat, folgt er dem Aufgeregten in seine Welt. Es tut ihm wohl,
+von dem Älteren so gewürdigt zu werden, und als er endlich allein —
+vom Nachtwächter verscheucht — zum Roten Gatter hinaufgeht, geben
+die einstürmenden Erinnerungen aus der Stadtgeschichte nur noch die
+Begleitung zu seiner fast trunkenen Melodie, daß er nun mit beiden
+Füßen in das Gemeinleben der Stadt eingetreten sei und daß er an<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> dem
+Kandidaten einen Bekannten gewonnen habe, von dessen entschiedenen
+Meinungen er sich manches für seine eigene Zukunft erhoffen dürfe.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>19.</h3>
+</div>
+
+<p>In der Folge sorgt Heinrich Pestalozzi, daß ihn der Bluntschli nicht
+wieder aus den Augen verliert. Er weiß, wie der unbemittelte Sohn
+eines Steinmetzen es gleich ihm nicht leicht hat zwischen den reichen
+Bürgersöhnen, aber um seines Fleißes und der jungmännlichen Strenge
+willen mit besonderen Hoffnungen betrachtet wird. Wen der Bluntschli
+von den Studenten seines Umgangs würdigt, der ist damit schon etwas
+Besonderes; obwohl er den unfröhlichen Menschen bisher nicht günstig
+angesehen hat, überläßt sich Heinrich Pestalozzi nun willig seiner
+Führung, weil sein Ehrgeiz in dieser Gefolgschaft schneller einen Weg
+in die Lebensdinge zu finden hofft, als auf dem Umweg der Schule.</p>
+
+<p>Es dauert auch nicht lange, so darf er ihn besuchen im Zunfthaus zu
+den Zimmerleuten, wo sein Vater Stubenverwalter ist. Er spürt wohl,
+daß der Bluntschli einen herrschsüchtigen Hang hat und seinen Freunden
+strengere Pflichten auferlegt, als es einem Lehrer gestattet würde;
+aber weil er selber in einen fanatischen Lerneifer geraten ist, sodaß
+er nicht essen kann, ohne daß noch ein Buch neben dem Teller liegt, ist
+ihm die Strenge recht.</p>
+
+<p>Eines Tages kommt es zu einem Spaziergang, durch Sihlport hinaus
+gegen den Uto. Er muß sich einen Tadel gefallen lassen, weil er dem
+Bluntschli zu hastig mit<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> den Armen schlenkernd dahinläuft; als sie
+dann gegen den Waldrand hinauf wollen, merkt er freilich, daß es
+nicht nur die Sorge um seine Würde ist, die den andern so gemessen
+schreiten läßt: der Atem wird ihm bald zu kurz, sodaß sie den steilen
+Weg verlassen und einem Pfad links unter der Manegg her folgen. Wo
+die Büsche den Blick frei lassen, geht er über die schattige Rinne
+des Sihltals und den dunklen Waldrücken bei Wollishofen in das
+blaue Himmelsbecken des Zürichsees, darin Wolken und Bergfernen ihr
+schimmerndes Licht mischen: so erstaunt Heinrich Pestalozzi nicht,
+als sie in einer grünen Wiesenbucht einen Maler emsig dabei finden,
+die Linien und Farben dieser Ansicht auf ein Papier zu bringen. Ein
+Genosse von ihm hat sich augenscheinlich als Staffage auf eine Kuppe
+davor gesetzt, und ein weißer Hund liegt artig ihm zu Füßen, als ob er
+seine Wichtigkeit im Bild fühle. So emsig der eine mit den Wasserfarben
+hantiert, so eifrig liest der andere in einem Buch; und erst als der
+Hund sich erhebt, die beiden Ankömmlinge knurrend zu stellen, schauen
+beide auf, erst der Maler, und als der gleich einen Juchzer ausstößt,
+auch der Leser.</p>
+
+<p>Der mit dem Buch ist Lavater, und Heinrich Pestalozzi begreift nicht,
+daß er ihn nicht beim ersten Blick erkannt hat; von dem andern weiß
+er, daß er ein Sohn des Malers Füeßli ist, gleichfalls Theologie
+studierend, aber gern mit dem Handwerkszeug seines Vaters über Land,
+und den Lehrern mit seiner freimütigen Art vielmals ein Ärgernis. Er
+hat wie meist sein Waldhorn mit, und ehe sie noch ihren Gruß sagen
+können, bläst er ihnen<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> schon einen ländlichen Hopser ins Gesicht.
+Dem Bluntschli scheint die Begrüßung zu mißfallen; er geht an dem
+übermütigen Bläser vorbei gleich auf Lavater zu, und es sieht aus, als
+ob er ihn zur Rede stelle. Dabei hat er den Hund des Malers nicht mit
+berechnet; denn als er mit einer beschwörenden Gebärde auf den Freund
+losgeht, stellt das große Tier seinen Mann und legt ihm die Pfoten auf
+die Schultern, sodaß er statt dem Gesicht des Ungetreuen das bleckende
+Maul vor sich hat. Der Füeßli kann vor Gelächter nicht mehr blasen; er
+ruft den Hund erst zurück, als er sieht, daß der Bluntschli sich mit
+seinem blassen Zorn in Gefahr bringt.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat den Auftritt, weil der Füeßli nicht zu seiner
+Bekanntschaft gehört, wie ein überflüssiger Zuschauer erlebt; sein
+Pflichtgefühl ist bereit, sich zu dem Zornigen zu schlagen; als aber
+der Maler ihm lachend die Hand hinhält, vermag er den lustigen Augen
+nicht standzuhalten. Die andern scheinen sich unterdessen auch geeinigt
+zu haben; obwohl verstimmt, kommen sie hinzu, setzen sich auch zögernd,
+wie der mit dem Waldhorn vorschlägt, miteinander auf den trockenen
+Grasboden und betrachten sein Bild. Es zeigt erst die porzellanene
+Bergferne und vorn das waldige Sihltal wie eine dicke grüne Raupe, aber
+es ist sauber gemalt, und Heinrich Pestalozzi muß den leichtherzigen
+Menschen bewundern, der gleichwohl solches vermag. Dem Bluntschli
+scheint das Bild keiner Beachtung wert; er will wissen, was für ein
+Buch Lavater gelesen hat, und als der ihm den Titel zeigt, weist er
+es kopfschüttelnd zurück. Als ob er sich vor Pestalozzi rechtfertigen
+müsse,<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> gibt Lavater ihm das Buch in die Hand: es ist eine Schrift von
+Winckelmann über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei
+und Bildhauerkunst. Er weiß nicht weshalb, aber er hat im Augenblick,
+da er es nahm, gehofft, es möchte der Emil von Rousseau sein; so gibt
+er das Buch enttäuscht aus der Hand.</p>
+
+<p>Der Maler will die Stimmung retten und schlägt vor, daß sie zusammen
+durch das Sihltal hinüber nach Wollishofen wandern und von da am Abend
+in einem Schiff zurückfahren sollten. Heinrich Pestalozzi würde das
+trotz seinem Erlebnis an dem Weidling mitgemacht haben; aber Bluntschli
+steht geärgert auf und geht ohne Gruß den gleichen Pfad zurück, es ihm
+überlassend, ob er folgen oder sich den andern anschließen will. Er
+wäre auch bei besserer Stimmung eines solchen Verrats nicht fähig, gibt
+also beiden mit einem flehenden Blick für seinen zornigen Genossen die
+Hand und springt ihm nach.</p>
+
+<p>Bis zur Sihlbrücke kommen sie schweigend, Bluntschli immer vorauf und
+er wie sein Pudel hinterher; dann scheint das rauschende Wildwasser
+den Groll zu lösen, und obwohl Heinrich Pestalozzi deutlich fühlt, daß
+nur die Eifersucht um Lavater den Verärgerten so sprechen läßt, horcht
+er doch seinen Worten. Die ersten hört er kaum im Lärm der Sihl, erst
+nachher versteht er, daß der Bluntschli streng und erbittert von dem
+Geist der Aufklärung spricht, von dem Heidentum, das mit der gerühmten
+modernen Bildung in die Stadt Zwinglis gekommen sei und sich da mit
+dem Tand seidener Kleider, mit komischen Erzählungen lüsterner Art,
+mit radierten Idyllen und dem armseligen Götterwerk der<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> heidnischen
+Welt breitmache. Solange man seine Urteilskraft an wahrhaft nützlichen
+Gegenständen üben könne, sei es ein Abfall, dürre und unfruchtbare zu
+wählen: Die nötigen Kenntnisse sind allen Menschen gemein, die nicht
+allgemeinen sind unnötig!</p>
+
+<p>Es ist zuviel von seiner eigenen Gesinnung darin, als daß Heinrich
+Pestalozzi ihm nicht zustimmen sollte, und für eine Weile stehen die
+beiden da oben im Wald vor ihnen wie rechte Taugenichtse da; aber als
+sie von der Meisezunft her gegen die Wasserkirche über die Brücke
+gehen, lehnt bei dem Mühlrad ihr Lehrer, der weise Bodmer, und sieht in
+das glatt strömende Wasser, als ob er etwas in seinem Grund suche. Sie
+wollen ehrfürchtig grüßend an ihm vorbei; er erkennt sie aber und hält
+sie an: ob sie schon wüßten? Als sie beide den Kopf schütteln, nimmt er
+sie mit hinunter in die Gerwe und zeigt ihnen da eine Anklageschrift
+gegen den Landvogt Grebel, die in der ganzen Stadt verbreitet wäre und,
+wie er bestimmt vermute, Lavater und Füeßli zu Verfassern hätte: Wenn
+sie sich dazu bekennen müssen, sagt er und faltet das Papier wieder in
+seine Brusttasche, ist den beiden der Wellenberg sicher!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>20.</h3>
+</div>
+
+<p>Einige Tage später muß Heinrich Pestalozzi hinauf nach Höngg, wo seine
+Mutter mit dem Bärbel die kränkelnde Großmutter pflegt. Sie ist nun
+einundsiebzig und längst zu schwach für ihren Garten, doch hat sie
+es gern, wenn sie bei gutem Wetter hinuntergelassen und auf Stühlen
+zwischen den Beeten gebettet wird. Da<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> liegt sie auch diesmal, als er
+um einer Laune willen unten an der Limmat hin und dann den steilen Pfad
+heraufgekommen ist. Es macht die alte Frau besorgt, daß er von dem
+raschen Anstieg seine brandigen Hitzflecken im Gesicht hat, und sie
+ruht nicht, bis er sich mit ihrer Schürze den Schweiß abtrocknen läßt.
+Nachher muß er sich auf die Steinbank setzen und ihr erzählen; da ihn
+die Vorfälle um den Vogt Grebel, die geheimnisvolle Anklageschrift und
+die zornigen Untersuchungen der Gestrengen Herren bis in den heißen
+Kopf erfüllen, spricht er ihr davon. Dann scheint es ihm freilich,
+als ob ihr einfältiger Sinn den Dingen nicht zu folgen vermöchte; sie
+streichelt nur immer eine Lilie, die sich in der linden Luft zu ihr
+neigt, und lächelt auf eine kindliche Art dazu. Als er aufsteht, die
+andern aufzusuchen, hält sie ihn fest mit ihrer welken Hand, und für
+einen Augenblick scheint ihr Greisensinn völlig verwirrt. Du mußt im
+Traum sein, Heiri, den Landvogt hat der Tell geschossen!</p>
+
+<p>Er findet die Mutter und das Bärbel, die er abholen soll, schon
+reisefertig im Flur. Seitdem der Tochtermann des Pfarrers, der Vikar
+Wolf, gestorben ist, führt ihm die Witwe den Haushalt; das Tantli,
+wie sie bei ihnen heißt, ist noch eine junge Person und kann es trotz
+ihrer beiden Kinder wieder allein machen, seitdem es mit der Großmutter
+bessert. Er mag aber nicht sobald wieder fort; es drängt ihn, auch
+mit dem Großvater zu sprechen; so läßt er die beiden allein gehen und
+bleibt zur Nacht. Der Großvater hat mit der zunehmenden Gebrechlichkeit
+des Alters eine Vorliebe für gelehrte<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> Studien gefaßt und sitzt über
+seinem Liebling, dem Kirchenvater Lactantius, den er den christlichen
+Cicero nennt; er läßt sich aber diesmal gleich stören: Es geht mir
+bald wie mit meinem Schwiegervater selig, dem Chorherrn Ott und seinem
+Flavius Josephus, sagt er wehmütig lächelnd, indem er die alten Bände
+zur Seite legt. Heinrich Pestalozzi weiß, wie merkwürdig die Weisheit
+dieses Juden aus der Zeit Christi an dem Zürcher Baum der Erkenntnis
+seines Urgroßvaters gehangen hat, und wie der alte Chorherr daran zum
+Narren geworden ist; aber angefüllt von den Dingen der Gegenwart vermag
+er nicht mit dem Großvater zu lächeln und sagt ihm das seltsame Wort
+aus dem Garten, das einen Dammbruch in seine Gefühle gerissen hat. Der
+alte Herr wird im Augenblick ernst und nimmt ihn hastig an der Schulter
+hinaus, als ob dergleichen in seiner Amtsstube nicht gesprochen werden
+dürfe.</p>
+
+<p>Sie machen danach miteinander einen Gang ins Dorf, wo der Pfarrer dem
+Schulmeister eine Weisung zu geben hat. Heinrich Pestalozzi sieht von
+weitem das Haus, darin er den Ernst Luginbühl an den Webstuhl genötigt
+weiß, und das schmerzhafte Erlebnis mit dem Testament der Mutter, das
+er seitdem tiefunterst im Schrank verwahrt, gibt seinen strömenden
+Worten einen bitteren Beiklang. Der Großvater läßt ihn schweigend sein
+übervolles Herz ausschütten und tadelt ihn nur, als er sich allzu
+heftig zum Richter aufwirft. In seiner Kammer aber findet er an diesem
+Abend — vom Großvater heimlich hingelegt — die Verordnungen für das
+gemeine Landvolk, die den Pfarrern von den Gestrengen Herren<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> übergeben
+sind. Er liest darin, bis sein Kerzenlicht zu Ende ist; nachher vermag
+er nicht zu schlafen, sitzt in den Kleidern am offenen Fenster bis
+in den Morgen und sieht in die unruhige Mondnacht hinaus, darin die
+jagenden Wolken ihre schwarzen Schatten vor die silberne Scheibe
+drängen; so oft sie auch siegend daraus hervorkommt, unaufhörlich
+steigen die schwarzen Sturmvögel vom Zürichberg herauf, ihr Licht zu
+decken; nicht anders, als die Verordnungen der Züricher Stadtherren
+über den mühsamen Lebensstand des gemeinen Landvolkes kommen:</p>
+
+<p>Alle Ämter in Staat und Kirche, alle ehrsamen Handwerke sind dem
+Landvolk verschlossen, das mit Zehnten und Grundzinsen, mit dem Erb-
+und Leibfall, der dem Landvogt bei jedem Todesfall das beste Stück der
+Hinterlassenschaft sichert, mit Fronden und Kleidervorschriften, mit
+Handelsverboten und strengen Strafen für jedes Gelüst der Freizügigkeit
+von den Stadtbürgern wie leibeigen gehalten wird. Heinrich Pestalozzi
+hat all diese Dinge einzeln auch schon vorher gewußt, wie der Bauer
+nichts auf dem Dorf verkaufen, sondern alles auf den Zürcher Markt
+bringen muß, wo die Bürger für jede Ware den Preis festsetzen, wie
+ihm verboten ist, Geld auszuleihen, damit die Stadtherren den hohen
+Zins behalten, wie er nicht einmal sein selbstgesponnenes Tuch und
+Leinen selber färben darf: aber daß diese grausame Willkür mit allen
+Folgen des Elends ein Verrat an den alten Sagen und Briefen der
+Eidgenossenschaft ist, das hat er nicht durchgefühlt bis zu dieser
+Nacht, wo ihn das einfältige Wort der Großmutter vom Landvogt<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> und dem
+Tell in einen Aufruhr aller Gedanken gebracht hat.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+
+<h3>21.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi kommt am nächsten Morgen aus Höngg zurück, als ob
+der Geist Tells in der Stadt Zürich auf ihn warte. Er findet den Kram
+der Straßen in der gleichmütigsten Geschäftigkeit, und nur am Rathaus
+drängen sich die Leute vor einem Anschlag der Gestrengen Herren: Man
+habe mißfällig vernommen, daß gewisse für die Ordnung des Staates
+zwar wichtige Nachrichten auf eine illegale Weise angezeigt worden
+wären, und wolle hiermit jedermann erinnert haben zu berichten, was
+er von der Sache wisse! Der Vorwitz der Stunde treibt ihn, sich eines
+Wortes von Bodmer zu erinnern, daß es der Charakter der Regierungen
+sei, sich selber allen Patriotismus zuzuschreiben und bei andern
+Leuten nichts als Unverstand, unreine Absichten, Wildheit und Aufruhr
+zu bemerken. Aber einige grämliche Handwerker, die dabei stehen,
+nehmen ihm den jugendlichen Vorwitz übel und hätten ihm die vorlauten
+Worte mit Schlägen heimgezahlt, wenn er nicht eilig in die Marktgasse
+hinauf entwichen wäre. Als er sich da nach den schimpfenden Verfolgern
+umsieht, aber hastig weiterläuft, hat er das Unglück, in eine offene
+Kellertreppe hinein zu fallen, wodurch er zwar ihrem Zorn entgeht, sich
+aber schmerzhaft den Knöchel vertritt. Er ist noch nicht aufgestanden,
+als schon mit einem Licht aus der Tiefe des Kellers ein Mann im
+Lederschurz herzuläuft, den er gleich als den braunbärtigen Ankläger
+aus der Gerwe<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> erkennt. Der hilft ihm mit lustigem Spott auf, leuchtet
+ihn ab und bringt einen Napf mit Wasser, die Schramme an, der Stirn
+zu waschen, aus der ihm Blut in die Augen läuft. Es scheint nichts
+Schlimmes damit, und da er bei seiner hastigen Art Beulen und Schrammen
+gewöhnt ist, hält ihn das Gespräch mit dem handfesten Mann länger auf
+als seine Wunde. Er erfährt, daß sich Lavater und Füeßli gleich tapfer
+zu der Schrift bekannt haben und sofort ins schärfste Verhör genommen
+sind: weil sie geblasen hätten, was sie nicht brannte.</p>
+
+<p>Um seine Mutter nicht unnötig zu erschrecken, humpelt er zunächst
+ins Carolinum, wo ihm die allgemeine Aufregung die Mitteilung des
+Mannes bestätigt. Er kommt in der kampflustigsten Stimmung, aber
+mit schmerzendem Fuß zu Hause an, und über Nacht schwillt dieser so
+auf, daß der Doktor kommen muß. Es ist nur eine Zerrung der Sehnen,
+aber der Fuß wird eingepackt, und er liegt nun als das erste Opfer
+der Begebenheit zu Hause. Das Babeli läßt ihn ihren Grimm über den
+unnützen Fall spüren, und wenn ihm das Bärbel nicht mit schwesterlichem
+Eifer zu Diensten wäre, hätte er es hart. Sie bringt ihm ans Lager,
+was er braucht, und holt Erkundigungen über den Stand der Dinge ein:
+Es gibt zwar eine zornige Partei, die den beiden Angebern nach altem
+Brauch kurzerhand den Wellenberg verordnen möchte, aber der Kreis
+der Patrioten aus der Gerwe sammelt Unterschriften aus der ganzen
+Stadt, daß die beiden nur nach ihrem Bürgereid gehandelt hätten.
+Da der Bürgermeister Leu sich in der Sache neutral verhält, obwohl
+der beschuldigte Landvogt<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> Grebel sein Eidam ist, auch Lavater wie
+Füeßli aus angesehener Familie sind, gelingt es Bodmer, sie vorläufig
+freizuhalten, indessen die Untersuchung nach anderen Aufrührern ihre
+verbissenen Gänge weiter wühlt.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi kann schon wieder vom Fenster an die Ofenbank
+humpeln, als es eines Abends gegen die Dämmerung zaghaft an die
+Stubentür klopft. Das Babeli hebt noch schnell ein Stuhlkissen auf,
+das er dem Bärbel im Scherz nachgeworfen hat, bevor es den Riegel
+aufklinkt. Herein kommt aber nur die unsichere Gestalt Lavaters, der
+den Hut schon draußen abgenommen hat und damit ein Päckchen in seiner
+Hand bedeckt. Heinrich Pestalozzi kennt ihn bisher eigentlich nur aus
+der Gerwe, wo er freilich einmal lange mit ihm gesprochen hat, und ist
+ebenso überrascht von dem Besuch, wie der andere verlegen scheint. Er
+habe erst jetzt von seinem Mißgeschick gehört, sagt er schließlich,
+als ihm Hut und Päckchen abgenötigt sind, und fängt an, vor Heinrich
+Pestalozzi auf und ab zu schreiten: seine eigene Sache stände nicht
+günstig, er wolle zwar nicht vorher fliehen, aber nach dem Urteil außer
+Landes gehen; zu Hause und vor der übrigen Verwandtschaft als einer
+dazustehen, der aus Leichtsinn seine Zukunft verspielt habe — hier
+läuft das Babeli weinend aus der Stube — wäre ihm unerträglich; er
+wolle sehen, ob die Welt keinen andern Platz für ihn habe! Er spricht
+noch manches, bis es völlig dunkel wird, und verhehlt auch nicht, daß
+Füeßli der treibende Wille und er nur die Feder dieser Anklageschrift
+gewesen sei, die ihn nun selber zum Angeklagten gemacht habe. Als
+das Bärbel ein Licht<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> bringt, nimmt er seinen Hut, bevor Heinrich
+Pestalozzi weiß, was er eigentlich gewollt bat, das Päckchen läßt er
+liegen; die Schwester will es ihm nachbringen, aber er wehrt mit einer
+komischen Verdrießlichkeit ab und geht auf seine lautlose Art rasch die
+Treppe hinunter, von dem Bärbel beleuchtet.</p>
+
+<p>Als sie wieder zurückkommt mit dem Licht und Heinrich Pestalozzi das
+sauber verschnürte Päckchen ansieht, trägt es seinen Namen. Ungeduldig,
+nun endlich zu wissen, was der seltsame Besuch des Kandidaten für ihn
+bedeutet, reißt er den Umschlag ab, und dann steht für einen Augenblick
+sein Leben still wie eine Kerzenflamme: was er in den Händen halt, ist
+Rousseaus »Emil«.</p>
+
+<p>Was hast du? fragt die Schwester, als sie ihn mit dem Buch in den
+Händen so dasitzen sieht; er hält ihr den Titel hin und weiß kaum
+selber, was sein Mund spricht: Ich habe den Propheten!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>22.</h3></div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi vermag nicht so fließend französisch zu lesen,
+daß er das Buch verschlingen könnte; er muß es wie einen alten
+Schriftsteller studieren, und oft genug stockt er bei einem Wort,
+dessen Sinn ihm vieldeutig oder unklar ist. Aber darum ist es doch für
+ihn, als ob er eine Feuersbrunst erlebte, wie erst nur die Flämmchen
+nach dem First hinlaufen, auf einmal Pfannen niederprasseln und endlich
+das feurige Gerippe brennender Balken in der Lohe steht, wo vorher ein
+Dach jahrhundertelang die Menschlichkeit vor den Elementen<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> beschützt
+hat. Zeit und Raum verliert er vor dem Buch; und wenn er aus den
+Seiten aufblickt in die Stube, kann er staunend seine Mutter oder das
+Bärbel dasitzen sehen, als ob sie im Augenblick aus himmlischen Weiten
+hergeweht wären. Vieles kennt er schon, aber gerade darum ist es ihm,
+als ob in den Gesprächen Bluntschlis, in den Reden Bodmers und allen
+Verhandlungen der Gerwe nur Irrlichter gewesen wären von dem Feuer, das
+hier durch Tag und Nacht seinen Brand brennt. Mehr als dies alles aber
+ist die heimlich wachsende Erstaunung, daß die Seele seiner Jugend in
+dem Buch ihre Heimat findet; immer bis zu diesem Tag ist es gewesen,
+daß es von ihr zur Welt keinen Zugang gab: So irrend er gesucht hat,
+so lieb ihm die Mutter und das Bärbel, das Babeli und der Baptist, die
+Großeltern in Höngg und das heimelige Pfarrhaus gewesen sind, er ist
+doch in der Einsamkeit geblieben, als ob nicht schon seine Ahne vor
+mehr als zweihundert Jahren, sondern er selber erst fremd über die
+Alpen nach Zürich gekommen wäre. Auch alle Schriften, die er bis dahin
+gelesen hat, sind für ihn von dieser fremden Welt gewesen; nun aber ist
+es, als ob in diesem Buch seine Seele selber aufgebrochen wäre, sodaß
+es in der Welt ringsum nichts mehr gäbe als sie. Alles bis zu diesen
+Tagen, was er gefühlt, gewollt und getan hat, ist mit dem schmerzlichen
+Gefühl des Unrechts geschehen; zum erstenmal steht seine Natur auf und
+sieht, daß sie recht hat.</p>
+
+<p>Die Tage füllen sich zu Wochen, und die Wochen laufen schon in den
+zweiten Monat, daß Heinrich Pestalozzi<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> noch immer mit dem Buch dasitzt
+und sich mit achtzehn Jahren erst eigentlich zur Welt bringen läßt.
+Unterdessen läuft draußen alles seinen Gang ab: der Landvogt Grebel
+wird schuldig gesprochen, aber Lavater und Füeßli müssen öffentlich
+Abbitte tun; sie verlassen bald miteinander Zürich, wo die Patrioten
+in der Gerwe vom Argwohn und Haß der Gestrengen Herren beaufsichtigt
+bleiben und von den Kanzeln gegen den aufrührerischen Geist der Jugend
+gepredigt wird. Im Carolinum werden die alten Schriften und die
+Kirchenväter gelesen, und in den Zünften wird mißtrauisch über die
+städtischen Rechte der Gewerke Buch geführt, das Bauernvolk bringt
+zu Wagen und zu Schiff die Erträgnisse seiner Arbeit auf den Zürcher
+Markt, und Sonntags strömen die geputzten Bürgersöhne und Mamsells
+hinaus in seine ländliche Welt, in den Gasthöfen steigen Kaufleute
+und empfindsame Reisende aus allen Ländern Europas ab, und die
+Baumwollenweberei stellt zum Nutzen Zürcher Fabrikherren einen Stuhl
+nach dem andern in den Dörfern auf, angeblichen Wohlstand verbreitend,
+die Landreiter gehen auf die Betteljagd, und an zierlichen Tischen
+werden die Idyllen Geßners gelesen: alles um ihn läuft seinen Gang
+wie zuvor, nur steht das sehnsüchtige Gefühl seiner Jugend nicht mehr
+als ein unbrauchbarer Fremdling darin. Es hat die Natur als Boden der
+Menschlichkeit gefunden, wo alles Verirrung und Falschheit ist, was dem
+inneren Gefühl um äußerlicher Vorteile willen widerstrebt, und er ist
+sicher: dies ist der einzige Schlüssel für den Menschen in die Welt.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span></p>
+
+<h3>23.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat den Emil zum drittenmal gelesen und ist noch
+immer im Traum dieser Dinge, als Ende November in Höngg die Großmutter
+sanft hinwegstirbt. Sie haben sie am Mittag bei milder Sonne noch
+einmal in den Garten hinuntertragen müssen; da sind ihr mit den letzten
+verirrten Blüten die Augen zugefallen, als ob sie schliefe. Er muß
+mit dem Bärbel allein zum Begräbnis gehen, weil die Mutter selber zu
+Bett liegt. Der matte Glast der Novembersonne steht in der unbewegten
+Luft, als sie den Sarg um die Kirche auf den Acker tragen, wo die alten
+Holzkreuze auf ein neues zu warten scheinen. Das ganze Dorf ist da,
+auch die, denen es zu keinem sonntäglichen Kleid mehr reicht in ihrer
+Armut; bis an die untere Mauer stehen sie als der letzte Kriegshaufe
+lebendiger Liebe gegen den Tod. Bevor sie ihm seine Beute in das enge
+Erdloch hinunterlassen, tritt der Schulmeister vor, mit den Kindern das
+Abschiedslied ihres Lebens zu singen: Heinrich Pestalozzi ist oft mit
+dem Großvater in der Dorfschule gewesen und hat ihnen zugehört, nun
+will ihm der Gesang der Mädchen- und Knabenstimmen einstimmig vereint
+herrlicher klingen, als er jemals Menschen singen gehört hat, und die
+Erschütterung davon ist tiefer als die Trauer.</p>
+
+<p>Weinend kommt er in die Kirche; da vermag die kleine Halle nicht alle
+zu fassen, daß ihrer viele noch draußen horchen, wie der alte Pfarrer
+und Dekan seiner eigenen Frau die Leichenrede hält. Auch er ist welk,
+und der Kopf kämpft mit dem gebeugten Nacken, das Angesicht<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> von der
+Erde zu heben, aber die Stimme trägt noch klar durch den Raum, als
+er der Gemeinde den Lebenslauf der Dorothea Ott vorträgt, die seit
+achtundvierzig Jahren seine Frau und seit sechsunddreißig Jahren ihre
+Pfarrerin gewesen ist. Heinrich Pestalozzi weiß nun, es ist nicht
+der liebe Gott seiner Knabenjahre, der da spricht, es ist ein Greis,
+den sie selber bald um die Kirchecke tragen; umsomehr fühlt er, wie
+ergreifend dies ist, daß ein Mensch mit seinem Leid dasteht und aus
+der Ewigkeit den Lebenslauf seiner Gefährtin ablöst, deren irdisches
+Dasein vor dem seinen vollendet ist. Aber was ihn tief erschüttert, ist
+die Erfahrung, wie alles, was er hier sieht und hört, nur ein Stück
+aus dem Buch des Genfers scheint. Wenn er von hier aus an die Stadt
+denkt, an ihre Gassen, ihren Aufwand, ihr Gezänk: glaubt er niemals
+wieder hineingehen zu können. Auf dem Dorf allein ist das menschliche
+Wesen noch auf die Einfalt der Natur gestellt; von hier aus allein kann
+deshalb der Geist natürlicher Sittlichkeit wieder gesellschaftliche
+Rechte in der Menschheit erhalten. Es ist ihm nicht anders, als ob sie
+drei: die ländliche Gemeinschaft, seine Seele und der Traum des Buches
+in dieser Stunde einen Bund schlössen gegen den verkünstelten Aufwand
+der städtischen Welt.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>24.</h3>
+</div>
+
+<p>Seitdem denkt Heinrich Pestalozzi wieder ernstlich daran, Pfarrer
+zu werden; das Bild des Großvaters ist von neuem sein Lebensziel
+geworden, aber nicht um den Armen ein väterlicher Freund, sondern
+dem menschlichen<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span> Wesen ein Fürsprech und Märtyrer gegen Unnatur
+und elende Versunkenheit zu sein. Er tritt mit seinen Studien, die
+ihn immer leidenschaftlicher abgesondert haben, bis das Erlebnis
+Rousseaus ihm alles andere überflüssig machte, wieder in den Kreis des
+vorgeschriebenen Unterrichts ein. Selbst das Patriotentum in der Gerwe
+scheint ihm für eine Zeit nicht mehr so wichtig, und als es im Januar
+wieder zu einer Anklage diesmal gegen den Zunftmeister Brunner kommt,
+der sich schwerer Veruntreuungen schuldig gemacht hat, bleibt er der
+Sache fremd.</p>
+
+<p>Er geht schon in sein neunzehntes Jahr und sieht wohl die Sorge, mit
+der die Mutter seine Unstetigkeit aufnimmt. Er wollte ihr auch den Emil
+zu lesen geben, aber sie ist nur traurig dabei geworden und hat ihm das
+Buch ungelesen wieder hingelegt. Seitdem er mehr von seinem Vater weiß,
+wie der zwar ein geschickter Wundarzt, aber ein sorgloser Haushalter
+gewesen ist, spürt er leicht eine Besorgnis in ihren stillen Augen, daß
+er von seiner Art zuviel geerbt haben möchte — zumal von seinem Bruder
+Johann Baptista bedenkliche Nachrichten kommen — und immer tapferer
+wird sein Entschluß, auch ihr zuliebe etwas Tüchtiges zu werden. Er
+weiß, wie schwer ihm alles in den Kopf geht, was nicht irgendwie
+sein Gefühl ergreift; doch weil er gerade das, was eine kaltblütige
+Beobachtung erfordert, als das Wichtigere geschätzt sieht, übt er sich
+täglich im Zwang zur Aufmerksamkeit. Unvermutet aber wird er durch
+einen Lehrer wieder aus der Zucht seiner strengen Entschlüsse geworfen:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span></p>
+
+<p>Im selben Frühjahr ist ein Schüler Breitingers mit Namen Steinbrüchel
+als Lehrer der Eloquenz ins Collegium gekommen, ein noch jugendlicher
+Mann, der die größte Belesenheit mit einem glänzenden Vortrag verbindet
+und bald zum Abgott der Studenten wird, dabei von schneidender
+Schärfe, wo er unklaren oder halben Dingen zu Leibe geht. Auch
+Heinrich Pestalozzi tritt bei ihm ein, und er erwartet sich für seine
+gegenwärtigen Absichten eine heilsame Kur davon. Es geht auch anfangs
+vortrefflich, solange er nichts als seinen Schüler vorstellt; aber als
+nach einem Vierteljahr die erste Bekanntschaft gesichert ist, sodaß
+auch in diesem Verhältnis das Menschliche zum Vorschein kommen kann,
+sieht er als Grundlage aller glänzenden Fähigkeiten dieses Mannes den
+Geist der Aufklärung, den er immer gehaßt hat und der ihm seit dem
+Emil als die Quelle aller Unnatur verächtlich wurde. Es ist eine Art,
+die Welt in das Einmaleins der Vernunft aufzulösen, die seiner Natur
+unmöglich ist und ihm als Vorbereitung für das Pfarramt verbrecherisch
+scheint. Das Bild eines Seelsorgers, wie es ihm vorschwebt, ist der
+Diener eines gütigen und demütigen Menschentums; dies aber dünkt ihm
+eine Sklavenherrschaft der Bildung zu sein, die auch die jungen Pfarrer
+noch von dem Volk absondert zu dem geistigen Hochmut, in dem er alles
+städtische Wesen eingezirkelt sieht: In dem Zwiespalt dieser geistigen
+Dressur zu seinem Lebensgrund zerreißen sich die tapferen Absichten
+der Selbstzucht; denn gerade die freimütige Art des Professors, seine
+Schüler zur tätigen Mitarbeit herauszufordern, bringt seine Natur
+zu Äußerungen<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> des Widerspruchs, die dem selbstsicheren und auch
+selbstgefälligen Mann als mädchenhaft verächtlich sein müssen.</p>
+
+<p>So kommt es eines Tages, als Steinbrüchel über das vernünftige Denken
+in der Religion mit allem Aufwand seiner gewetzten Vernunft und
+seines spöttischen Witzes gesprochen hat und gerade dabei ist, seinen
+Triumph aus den Äußerungen der Schüler zu ernten, zu einem Frage-
+und Antwortspiel, darin der Streit von Anschauungen zu persönlicher
+Feindschaft ausartet. Heinrich Pestalozzi, der das Rüstzeug Rousseaus
+gegen Voltairesche Dialektik in Händen hat und an seine sterbende
+Großmutter denkt, wie sie die Lilie im Garten streichelt, vergißt die
+Eitelkeit des berühmten Lehrers und sagt: Wie alles Wahrnehmbare könne
+auch die Religion Gegenstand der vernünftigen Denkarbeit sein, nur
+dürfe man nie den Unterschied vergessen, der zwischen ihr selber und
+den Gedanken über sie bestände, und um Gottes willen diese Gedanken
+nicht schon für Religion halten; wie in allen Arten der Liebe, in der
+Treue, im Haß und in der Trauer habe man in ihr eine direkte Äußerung
+des Lebens — und zwar die tiefste, da sie auf den Zusammenhang mit dem
+Geheimnis der Welt ginge — während alles Denken nur indirekt, eine
+Hilfe des Lebens, aber nicht wie jene Dinge, das Leben selber sei!</p>
+
+<p>Er bringt das nicht so rasch heraus, verhaspelt sich vielmals und
+sucht mit den Armen nach dem fehlenden Wort, sodaß die andern schon
+zum Spott gestimmt sind, bevor der Professor ihn mit dem scharfen Witz
+abfertigt, daß sie ja auch hier zum Denken und nicht zum<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> Leben seien,
+auch wenn ihm das eine schwerer zu fallen scheint als das andere! Mit
+solcher Waffe hat er es natürlich leicht, die Spottlust der Klasse über
+seinen ungeschickten Gegner herauszufordern, sodaß die Antwort Heinrich
+Pestalozzis vom Gelächter verschüttet wird. Seit diesem Tag behandelt
+Steinbrüchel ihn mit einer spöttischen Nachsicht, als ob er einen
+komischen Störenfried in seiner Klasse hätte; und da der Geist der
+Aufklärung, aus dem er sich mit den meisten seiner Schüler verständigt,
+der Stolz von Zürich ist, kommt Heinrich Pestalozzi unvermutet wieder
+in die Rolle des Heiri Wunderli von Torliken, und gerade die Klasse,
+in die er mit so tapferem Willen eingetreten ist, wird ihm zu einem
+Martyrium, darin er nun die Freude am Collegium überhaupt verliert.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>25.</h3>
+</div>
+
+<p>Mitten in den Entmutigungen dieser Zeit trifft Heinrich Pestalozzi ein
+merkwürdiges Ereignis: Lavater ist nach fast einjähriger Abwesenheit
+in der Stille zurückgekehrt, hat sich auch den Freunden einige Wochen
+lang nicht gezeigt und überrascht sie eines Tages mit einem Bändchen
+Schweizerlieder. Der nach seiner demütigen Abbitte aus der Vaterstadt
+entwichene Kandidat kehrt damit als ein Dichter in die Heimat zurück,
+den nun auch die Mißgünstigen nicht mehr wie einen jugendlichen
+Störenfried abtun können. Als er danach zum erstenmal wieder in die
+Gerwe kommt, von Bodmer an der Hand geführt, wird der Tag von den
+Patrioten wie ein Sieg der vaterländischen Sache gefeiert. Auch
+Heinrich<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> Pestalozzi schüttelt dem Glücklichen die Hand, geht aber
+bald wehmütig fort; nicht, daß er dem Lavater den Triumph weniger als
+ein anderer gönnte, aber es wird ihm mitten im Kreis der Freunde, die
+sich um ihn drängen, deutlich, daß er nicht zu ihnen gehört, daß er
+nur einen jüngeren Nachzügler ihrer Generation vorstellt. Fast alle
+sind älter als er und haben ihr Studium schon beendigt, während er sich
+selber immer mehr als ein Gescheiterter vorkommt. Darin hilft ihm auch
+sein Rousseau nur zu einem trotzigen Selbstbewußtsein, das letzten
+Grundes seine Unfähigkeit zu einer bei jenen geachteten Existenz
+bestätigt.</p>
+
+<p>In dieser Laune begegnet er Bluntschli, der unterdessen Hauslehrer
+in Zürich geworden ist und, durch seine Verpflichtungen verspätet,
+noch zur Gerwe will. Um mit seinem frühen Weggang nicht sonderbar
+zu erscheinen, geht er einige Straßen mit ihm zurück und klagt ihm
+offenherzig seine Not. Der hört ihn schweigend an, aber als sie vor der
+Gerwe stehen, kehrt er kurzerhand um: Wenn es ihm recht wäre, könnten
+sie miteinander noch auf den Lindenhof gehen!</p>
+
+<p>Es ist eine unermeßliche Sternennacht da oben; obwohl der Mond noch
+nicht aufgegangen ist, scheinen die Dächer der Stadt vom Licht
+begossen, und der See leuchtet den Himmel in einer zarten Verklärung
+wider. Sie schweigen lange, bis Bluntschli spricht: Du hast mir von
+einem Menschen gesagt, der sein Leben nicht wie einen sauberen Parkweg
+vor sich sieht und darum verzweifelt ist; ich könnte dir von einem
+andern erzählen, der seine Stunden sorgfältig vorbereitet hat, nur<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> daß
+er sie selber nicht mehr wird schlagen hören, weil ihm das Uhrwerk vom
+Rost zerfressen ist! Er hat die Hand auf seine vom Anstieg angestrengte
+Brust gelegt, als er das sagt, und danach schweigt er, sodaß Heinrich
+Pestalozzi — der kein Wort findet, das ehrlich und zart zugleich ist,
+um eine Antwort auf dieses Bekenntnis eines Todgeweihten zu sein — in
+einer Spannung dasteht, als müsse ihm der Kopf zerspringen. Auch der
+andere kommt nicht mehr zurecht, bis sie schweigend aus dem Schauer
+dieser Sternennacht hinunter gehen, in die dunklen Gassen und auf der
+Brücke mit dem Mühlrad nach der großen Stadt hinüber. Erst auf der
+Münsterterrasse, wo die beiden Türme sich riesenhaft in die Sterne
+einzubauen scheinen, findet die Erregung noch einmal ein Wort: Wozu
+meinst du, sagt der Bluntschli und zeigt an den Steinmauern hinauf,
+wozu meinst du, daß die dastehen? Für dich nicht und für mich nicht,
+für jeden einzelnen wären sie zu groß, und für alle sind sie auch nicht
+da; denn ich weiß hundert, denen sie gleichgültig bleiben! Aber daß
+die Menschlichkeit im Namen des Höchsten, das wir kennen, täglich in
+die Geschäfte und die Arbeit eingeläutet wird, dafür sind sie so dick
+und dauerhaft gebaut. Und daß sie uns sagen: was einer für sich selber
+Irdisches zuwege bringt, das hört mit seinem Leben auf; aber was er an
+der Menschlichkeit tut, das ist unsterblich. Du sorgst, was aus dir
+werden soll, und mir ist die Sorge bald abgenommen — am Ende aber ist
+es wichtiger, was wir gewesen sind!</p>
+
+<p>Er läßt ihn danach stehen, gibt ihm nicht einmal die Hand und geht auf
+seine vorgebeugte Art davon. Heinrich<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> Pestalozzi kommt nach Haus, als
+ob er aus dem Jenseits wiederkehre.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>26.</h3>
+</div>
+
+<p>Seit diesem Frühwinterabend verliert Heinrich Pestalozzi die enge
+Fühlung mit den Freunden in der Gerwe nicht mehr; es ist, als habe er
+eine Verkündigung erlebt, was zwischen ihnen Gemeinsames sei. Als sie
+zum Januar ein Wochenblatt gründen, das der Erinnerer heißt und von
+der klugen Hand Lavaters in Gemeinschaft mit Heinrich Füeßli — einem
+Vetter des Malers, der unterdessen in London seine Künstlerlaufbahn
+begonnen hat — geleitet wird, ist er eifrig dabei. Sie haben nun alle
+Rousseau gelesen; und wenn Bodmer sie von Anfang an lehrte, daß der
+sicherste Weg zur persönlichen Freiheit der sei, sich aller unnötigen
+Bedürfnisse zu entwöhnen, da man nur durch diese den Machthabern
+ausgeliefert, ohne Bedürfnisse aber frei wäre: so wird nun ein
+asketischer Wetteifer daraus, der über die persönliche Unabhängigkeit
+hinaus eine spartanische Vereinfachung der Sitten erzwingen will.
+Mit jugendlicher Behendigkeit wird dadurch das Ideal des sittlichen
+Lebens aus der Zeit Zwinglis und der Eidgenossen in das Kriegslager
+der Spartaner zurückverlegt; und auch Heinrich Pestalozzi überrascht
+das Babeli damit, daß er sich auf den Stubenboden bettet, nur mit
+einem Rock zugedeckt, und dies auch monatelang zu ihrer Verzweiflung
+durchhält.</p>
+
+<p>Unvermutet gibt die Züricher Regierung den patriotischen Jünglingen
+Gelegenheit, die spartanische Tugend<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> zu erproben: Schon in der
+deutschen Schule ist in der Klasse von Heinrich Pestalozzi ein Sohn
+des Amtmanns Schinz zu Embrach gewesen, der — ein Jahr älter als er
+— jetzt mit ihm Theologie studiert und auch einer aus der Gerwe ist.
+Dessen Eltern besitzen einen Pachthof in Dättlikon, wo der Pfarrer
+Hottinger von seiner Gemeinde eher für einen Wolf im Schafspelz als
+für einen guten Hirten gehalten wird. Da ihn die Züricher Regierung
+trotz der bösesten Gerüchte weiter amtieren läßt, weil er anscheinend
+beim Antistes einen verläßlichen Fürsprecher hat, setzt der Student
+Rudolf Schinz eine Anklageschrift auf, die von dem Gerichtsvogt und dem
+Schulmeister in Dättlikon, den Gebrüdern Ernst, unterschrieben und mit
+sorgfältiger Beachtung aller Vorschriften in Zürich eingereicht wird.
+Als darauf zwei Monate lang nichts geschieht, als ob die Gestrengen
+Herren auch diese Anklage noch verschweigen wollten, findet der
+Antistes Heß an einem Maitag in seinem Kirchenstuhl einen mit Bleistift
+geschriebenen Zettel, auf dem der Oberpfarrer an seine Pflicht erinnert
+wird: Weil sonst die Steine anfangen möchten zu schreien!</p>
+
+<p>Dieser Lästerbrief, wie er danach in den Akten heißt, bringt die
+Gestrengen Herren mehr in Zorn als alle Amtsvergessenheit eines
+lasterhaften Pfarrers. Wer von den Patrioten fähig scheint, ihn verfaßt
+zu haben, wird peinlich ins Verhör genommen; auch Heinrich Pestalozzi
+trifft es diesmal. Seine Mutter verschließt sich traurig in die Kammer,
+als er den Weg aufs Rathaus antreten muß, und das Babeli putzt ihn
+grimmig zurecht, daß er zum wenigsten noch in der Kleidung als ein<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span>
+ordentlicher Mensch vor die Herren käme; er selber ist voll überlegener
+Verachtung. In einem öffentlichen Anschlag des Kleinen Rates sind
+dem, der den Briefschreiber verriete, zweihundert Dukaten versprochen
+worden unter Verschweigung seines Namens: Daß eine Regierung, die in
+ihren Schulen die Tugenden der Römer und Spartaner lehren läßt, sich
+so weit vergißt, hat — wie der Bluntschli sagt — aus dem Schwert der
+Gerechtigkeit ein Dolchmesser gemacht. So hört Heinrich Pestalozzi die
+umständlichen Vermahnungen der Herren mit verächtlichem Trotz an und
+verweigert wie die andern den verlangten Eid — nichts von der Sache zu
+wissen — mit der vereinbarten Begründung, daß er bereit sei, einen Eid
+für alles zu schwören, was er nach seinem Bürgergewissen zu sagen sich
+für verpflichtet halte.</p>
+
+<p>Gegen so viel Festigkeit der Jünglinge, die sich in die Hand gelobt
+haben, ein Beispiel spartanischer Tugend zu geben, wagen die Gestrengen
+Herren diesmal noch nicht vorzugehen: der Pfarrer Hottinger wird seines
+Amtes enthoben, die Brüder Ernst in Dättlikon als Landbürger müssen
+»übertriebener Anklägten« halber zweimal vierundzwanzig Stunden aufs
+Rathaus in Arrest, Rudolf Schinz kommt als Stadtzürcher mit einer
+Verwarnung davon.</p>
+
+<p>In Heinrich Pestalozzi löst das Ergebnis einen Plan aus, den er
+schon lange mit sich herumgetragen hat: Seitdem Klopstock und andere
+deutsche Dichter Zürich hoch gerühmt haben, ist es eine beliebte
+Äußerung des Heimatstolzes geworden, die Stadt an der Limmat mit Athen
+zu vergleichen. Ihm scheint der Vergleich in<span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span> dem besonderen Sinn
+zu passen, daß athenischer Luxus und athenische Verweichlichung in
+der Stadt Zwinglis überhand genommen haben, und daß es not täte, sie
+auf das Beispiel Spartas zurückzuführen. Nun hat Heinrich Pestalozzi
+in der ganzen Geschichte des lakonischen Staates nichts so gerührt
+wie das Schicksal des jungen Königs Agis, der die von athenischen
+Sitten angesteckte Stadt wieder zu den Gesetzen des großen Lykurgus
+zurückführen wollte und darüber von seinen eigenen Landsleuten
+hingerichtet wurde. Lykurgus und Zwingli sind für sein Gefühl eins;
+weil aus dem spartanischen Zürich der Reformationszeit das Limmatathen
+des Dättlikoner Handels geworden ist, liegt es für ihn nahe, auch
+für Zürich einen Agis zu erwarten, und tatsächlich vermag er nicht
+an seinen Freund Bluntschli zu denken, ohne daß dieser ihm das Bild
+jenes edlen und unglücklichen Agis vorstellt. Nun sie in dem Handel
+Sieger geblieben sind, gewinnt er Mut zur Beschwörung des alten
+Heldenjünglings; aber seine Darstellung soll so deutlich auf Zürcher
+Verhältnisse zielen, als ob der spartanische Reformator noch einmal in
+die Welt gekommen wäre.</p>
+
+<p>So schreibt Heinrich Pestalozzi, der sein zwanzigstes Lebensjahr
+noch nicht vollendet hat und unter den Patrioten immer noch das
+Nesthäkchen ist, als Antwort auf den Dättlikonhandel seinen »Agis«
+nieder, den er dem greisen Bodmer in Handschrift überreicht, und
+den er nachher auch in der Gerwe vorlesen darf. Endlich kommt sein
+Ehrentag, und er hätte am liebsten seine Mutter, das Bärbel und das
+Babeli dabei — den Großvater<span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span> hat er gefragt, aber der hat sich
+nicht entschließen können mit seinen dreiundsiebzig Jahren — wie
+er den jungen und alten Patrioten seiner Heimatstadt ein Bild ihrer
+schlimmen Zustände im Spiegel Spartas zeigen darf. Nicht allen sind
+seine starken Ausdrücke recht, wie er das Reislaufen für fremdes Gold,
+die Raubsucht der Reichen, die aufgeblasene Weisheit, das kriechende
+Wesen der Untertänigen und den Redner, der um Beifall spricht, mit
+dem Zeigefinger aus dem Bild herausholt; als er die Verleumdung gegen
+Agis auch die Sprache der Niedrigkeit unserer Tage nennt, stürmen die
+Jünglinge so laut mit ihrem Beifall, daß einige Ältere aufstehen und
+sich entfernen; und als er den Agis sagen läßt: Ich rede die vergessene
+Sprache der Freiheit in ein Jahrhundert hinein, das gewohnt ist, die
+ewigen Gesetze der Freiheit verletzen, Mitbürger in Sklaverei stürzen
+und das Heil des Staates vertilgen zu sehen! sind auch manche von
+den Jüngeren erschrocken, und viele Augen richten sich fragend auf
+den sonst so klugen Bodmer. Der aber, der den Schluß kennt, sieht
+unbewegt und fast spöttisch unter seinen weißen Augenbüscheln gegen das
+vertäfelte Gebälk der alten Zunftdecke. Als sich dann das Schicksal
+des spartanischen Jünglings unter hohen Worten erfüllt, kommt alles
+so, wie es der alte Herr vorausgesehen hat: mit ihrer Rührung um den
+Helden gehen sie doch wieder in das griechische Altertum ein; soweit
+sie ängstlich gewesen sind, sichtlich froh, alle harten und bösen Worte
+mit dahinein packen zu können.</p>
+
+<p>Aber in den Erinnerer wagt Lavater die Arbeit doch<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> nicht zu nehmen,
+und selbst Bluntschli, der sich die Handschrift noch an dem Abend
+mitnimmt, bringt sie nach einigen Tagen, manchen Ausfall tadelnd,
+zurück. Bei den Jungen und Stürmischen aber trägt ihm die Vorlesung
+ein, daß sie seitdem auf ihn als einen Führer sehen, wie er selber beim
+Eintritt ins Collegium auf Lavater und Bluntschli gesehen hat.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>27.</h3>
+</div>
+
+<p>Der Beifall, den Heinrich Pestalozzi an seinem Abend in der Gerwe
+genossen hat, die Achtung selbst von denen, die bis dahin bereit
+gewesen sind, ihn um seiner Wunderlichkeit willen zu verspotten,
+die bedenklichen Gesichter der Abwägenden und das Gemunkel um seine
+rebellischen Ausfälle: bringen für ein paar Wochen einen Überschwall in
+ihm zustande, als ob er selber seiner Stadt ein Agis werden könne. In
+dieser Stimmung findet er eines Mittags, aus dem Collegium heimkehrend,
+ein Billett, das ihm jemand unbemerkt zwischen seine Bücher und Hefte
+gesteckt hat: Einer, der von seinem Vortrag gehört habe, bäte ihn
+aus einer verzweifelten Notwendigkeit um ein geheimes Gespräch; er
+möge nachmittags um fünf Uhr unauffällig durch die Stadelhofporte
+hinausgehen bis ans Zürichhorn, wo ihn dort oder schon unterwegs jemand
+ansprechen würde.</p>
+
+<p>Das Wetter ist dem sonderbaren Ausflug nicht günstig; schwarze
+Wolkenballen drohen ein Gewitter, und gerade, als er zur Porte hinaus
+will, prasselt ein Platzregen los mit Hagelkörnern und Donnerschlägen.
+Er wartet mit drei modischen Mamsells, die sich nicht rechtzeitig<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span>
+haben retten können und nun verdrießlich die Federn hängen lassen,
+den schlimmsten Aufruhr ab und geht dann tapfer den Wiesenpfad am
+See entlang. Unterwegs kommt die Sonne in die Nässe, und über den
+Weinbergen versucht sich ein Regenbogen. Am Zürichhorn ist niemand;
+aber als er sich schon für gefoppt hält, legt ein Weidling an, darin
+jemand mit einer Angel gesessen hat. Es ist ein Student aus dem
+Alumnat, den er von Ansehen, nicht mit Namen kennt, ein ungewöhnlich
+langer und blasser Jüngling, dem die Hosen an den Beinen kleben von
+dem Regen. Der fragt ihn nach einer scheuen Begrüßung, ob er ein
+Stück mitfahren wolle auf die Seehöhe hinaus; und erst, als sie so
+weit auf der gleißenden Wasserfläche sind, daß sie vom Ufer aus nicht
+mehr erkannt werden können, fängt er an zu sprechen: nicht scheu und
+stockend, wie Heinrich Pestalozzi erwartet, sondern rasch und fest wie
+einer, der sich die Worte vielmals überlegt hat und seiner Scheu damit
+Gewalt antut.</p>
+
+<p>Was er mitteilt, ist Heinrich Pestalozzi nicht unbekannt; es betrifft
+die geheimen Dinge im Alumnat, von denen im Carolinum längst
+die schändlichsten Gerüchte gehen. Aber was ihm bisher nur ein
+verächtliches Laster gewesen ist, bekommt in den Worten des Jünglings
+eine Gefährlichkeit, daran er nicht gedacht hat: auch die noch
+unbefleckt einträten, würden Opfer der allgemeinen Verführung, sodaß
+die gesundesten Landsöhne schon ein halbes Jahr nach ihrem Eintritt
+wie junge Birken wären, denen im Frühjahr der Saft abgezapft wurde. Er
+selber sei einer von denen, die sich anfangs gewehrt<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> hätten: aber weil
+das Laster nicht mehr heimlich, sondern die allgemeine Gewohnheit im
+Alumnat sei, würde die Tapferkeit nur verhöhnt als ländliche Dummheit,
+auch vermöge sie schließlich der Lüsternheit, die doch nun einmal in
+jeder menschlichen Natur läge — hier fühlt Heinrich Pestalozzi in der
+Erinnerung an seinen Rousseau einen feinen Stich im Herzen — nicht
+standzuhalten: Was er von ihm verlange, sei nichts als ein Antrag auf
+Untersuchung, auch was die nächtlichen Zusammenkünfte auf dem hinteren
+Speicher beträfe, der dafür seit Jahren eingerichtet sei. Aber ihn als
+Angeber verraten dürfe er nicht, was auch käme, und er müsse ihm das
+schon in die Hand versprechen, wenn ihm eine Hand wie die seine dazu
+noch recht sei!</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi verspricht es ihm in die Hand und läßt sich ans
+Ufer fahren, wo die Sonne aus der Regenfeuchtigkeit einen heißen Dunst
+macht. Er geht durch Binsen und Gebüsch der reisigen Stadt Zürich zu
+wie ein Bote, dem die Feinde eine eiserne Halskrause umgeschmiedet
+haben. Als er sich vor der Stadelhofporte zurückwendet, erkennt er
+den Weidling noch, wie er mit beigelegten Rudern auf dem schimmernden
+Wasserberg steht; es ist ihm nun fast sicher, daß er das häßliche
+Geheimnis bewahren muß. Aber noch am selben Abend schreibt er tapfer
+die Anzeige und gibt sie so ohne Vorsicht an der Tür des Antistes ab,
+daß er schon am andern Mittag ins Verhör genommen wird. Er steht noch
+immer in Verdacht, den Lästerbrief geschrieben zu haben, auch hat sein
+spartanisches Sittenbild die Stimmung der Chorherren gegen ihn nicht
+gebessert: so setzen sie ihm scharf zu.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span></p>
+
+<p>Es ist eine andere Luft als in der Gerwe zwischen den hitzigen Herren,
+von denen ihm jeder einzelne seine bürgerliche Zukunft mit einem
+Tintenstrich durchstreichen kann; er hält aber ihre Kreuzfragen aus und
+verweigert standhaft, einen Gewährsmann zu nennen: er habe ihm seine
+Hand darauf geben müssen, und niemand in der Welt dürfe ihn zwingen,
+wortbrüchig zu werden. Er hätte seine Hand dem sagenhaften Römer gleich
+ins Feuer stecken können, so überzeugt ist seine Gebärde, aber den
+Herren scheint der Fall zu heikel für solche Gewalt. Sie ziehen sich
+mit ihrer Unschlüssigkeit in das geheime Gemach zurück und lassen ihn
+allein zwischen den Stühlen und Schränken. Doch steht ein Fenster
+auf, und er kann hinunter sehen auf den Münsterplatz, wo gerade der
+Bluntschli mit seinen vier Zöglingen daher kommt. Um eines Übermuts
+willen laufen sie ihm fort, und der Kandidat vermag ihnen nicht zu
+folgen gegen den steilen Berg. Heinrich Pestalozzi hört ihn husten und
+sieht auch, wie ihn der Anfall würgt; er möchte ihm beispringen, aber
+während er noch den unnützen Gedanken erwägt, machen die Kinder in
+einem neuen Übermut kehrt und laufen an ihm vorbei gegen das Haus zum
+Loch hinunter. Indem Bluntschli ihnen dahin folgt, sieht er ihn mit
+seiner weltmännischen Höflichkeit eine Jungfer grüßen, die freundlich
+nickend an ihm vorübergeht. Es ist Anna Schultheß, die schöne Schwester
+ihres gemeinsamen Freundes, des Theologiestudenten, und wie er seitdem
+erfahren hat, die Tochter des braunbärtigen Mannes aus der Gerwe. Er
+weiß, daß die beiden miteinander im Gerede sind, und es<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> macht ihn
+wehmütig, sie so lebendig gegen den Berg schreiten zu sehen, der seiner
+kranken Brust zu steil gewesen ist.</p>
+
+<p>Nach ihr kommen noch viele Menschen über den Platz, fremde und solche,
+die er kennt; er hat Zeit, ihnen nachzudenken, denn dreimal schlägt die
+volle Stunde am Münsterturm, bis seine Richter wiederkommen, verärgert
+und erhitzt. Sie schicken ihn nach Haus, wo er sich unter Androhung
+schwerer Strafen verhalten soll, bis sie ihn wieder rufen ließen. An
+dem Abend hört er nichts mehr von ihnen; nur seine Mutter scheint
+unterdessen eine Nachricht zu haben: sie hält sich in der Kammer
+eingeschlossen, und er weiß, daß dies ein Zeichen schwerer Kränkung
+ist. Andern Mittags wird sie statt seiner vor die Herren gerufen; sie
+bringt ihm, blaß wie der Tod, die Weisung mit, daß er sich noch am
+selben Tag zu seinem Großvater, dem Dekan in Höngg, verfügen müsse,
+dem er vorläufig für vier Wochen zur Ahndung seiner vorlauten Anzeige
+überantwortet sei. Diese Weisung steht in der Schrift, die sie ihm
+überbringt; sie selber sagt kein Wort, nimmt auch das Bärbel mit in die
+Kammer, sodaß er ohne Abschied, nur vom bitterbösen Babeli vor die Tür
+getan, den Weg antreten muß, den er nun doch in Trotz und Bitterkeit
+geht.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>28.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi findet den Großvater auch diesmal in seiner
+Studierstube; seit dem Tod der Pfarrerin ist er im Regiment des Tantli
+und sitzt fast den ganzen<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> Tag bei seinen Kirchenvätern. Er liest die
+Weisung mehrmals durch und legt sie mit einem Lächeln beiseite, das
+Heinrich Pestalozzi an die Großmutter erinnert, nur ist es spöttischer.
+Nachher werden sie von der Magd zum Vesperbrot gerufen und müssen mit
+dem Tantli von andern Dingen sprechen. Der Großvater sagt ihr, daß
+der Neffe diesmal vier Wochen bleibe, und scheint schon nicht mehr zu
+wissen, warum; es drängt ihn augenscheinlich, wieder allein zu sein,
+und Heinrich Pestalozzi sieht ihn an dem Tag nicht mehr. Doch wie er
+am Abend frühzeitig in seine Kammer kommt, hat er ihm nach seiner
+Gewohnheit etwas auf den Tisch gelegt.</p>
+
+<p>Es ist auch ein Schriftstück des Antistes, aber nicht seinetwegen an
+den Dekan in Höngg gerichtet; als Heinrich Pestalozzi es gelesen hat,
+legt er seine Verweisung mitten darauf, denn auch das andere ist ein
+Stück Papier behördlicher Ungnade! In dem selben Dorf Buchs, woher
+das Babeli ist, hat der Dorfpfarrer einigen Kindern die Konfirmation
+verweigert, angeblich wegen ungenügender Kenntnisse, anscheinend aber,
+weil er mit den Eltern Streitigkeiten hatte. Darauf hat der Dekan in
+Höngg die Zurückgewiesenen ohne Umstände selber konfirmiert, und das
+Schriftstück da ist der sanfte Tadel für seine Eigenmächtigkeit. Wie
+Heinrich Pestalozzi nun an das spöttische Lächeln des Großvaters denkt,
+muß er laut lachen, sodaß er aus diesem verdrießlichen Tag doch noch
+mit Lustigkeit ins Bett kommt.</p>
+
+<p>Als er in der Frühe erwacht, hört er eine Sense dengeln; er besinnt
+sich gleich, daß die Kornernte angefangen hatte, als er heraufkam, und
+mit einem fröhlichen Einfall<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> springt er aus dem Bett. Unten ist noch
+die Dumpfheit der überstandenen Nacht im Haus, aber als er den Riegel
+öffnet, strömt ihn die Morgenluft an wie ein Bad; überall krähen die
+Hähne, und aus einigen Schornsteinen drehen sich schon die blauen
+Rauchsäulen in den Himmel, der noch ohne Sonne ist, aber Hahnenruf und
+Rauch als Frühopfer der Erde in seine reine Stille verschwinden läßt.</p>
+
+<p>Dem ersten Bauer, dem er begegnet, heftet er sich an; es ist ein zäher
+Greis, der seine Enkelin an der Hand führt und den fröhlichen Gruß
+mit der abwartenden Miene erwidert, darin der Bauer die städtische
+Zutraulichkeit abweist. Er merkt es nicht, nimmt das Kind, das seine
+sieben Jahre zählen mag, kurzweg bei der andern Hand, und so gehen
+sie zu dritt die Straße hinunter, bis der Bauer vom Weg abklettert,
+die gedengelte Schneide mit den Fingern prüft und seinen harten
+Sensenschlag in die gelben Halme beginnt, die einen Sprung zur Flucht
+zu machen scheinen, bevor sie ihren stolzen Wuchs für immer neigen.
+Heinrich Pestalozzi steht am Grabenrand und denkt, daß sie mit dem
+Sommerwind ihr geschmeidiges Fangspiel gemacht und im Gewitter sich
+ängstlich geduckt haben, daß sie den dünnen Regen und das dicke goldige
+Sonnenlicht tranken und nun über den süßen abgeschnitten werden, immer
+ein Bündel zugleich, wie sie auch nur miteinander ihr schwankes Leben
+aufrecht halten konnten. Doch ist er nicht da für solche Gedanken, und
+er wartet auch nur ab, was das Mädchen beginnen wird, das vorläufig am
+Rain einer Sternblume die weißen Blättchen auszupft<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> und dazu einen
+Zählreim sagt. Als er beobachtet hat, wie sie danach aus Halmen dünne
+Seile dreht und damit die einzelnen Bündel zu Garben bindet, gibt er
+sich mit daran und bleibt auch hartnäckig dabei, als der Bauer den
+Wetzstein holt und sein Tun mißtrauisch besieht. Auf die Dauer einigen
+sie sich doch, und wie gegen sieben Uhr der schmale Ackerstreifen
+niedergelegt ist und nur noch ein letztes Büschel steht, läßt ihm der
+Alte sogar die Sense, das abzuschlagen; er fährt freilich fast mit
+der scharfen Sense gegen sein Bein, aber gerade das macht den andern
+gesprächig, sodaß sie mit der warmen Morgensonne anders zurückkommen,
+als sie in der kühlen Frühe auszogen.</p>
+
+<p>Das Frühmahl schmeckt ihm danach besser als sonst, und er sitzt schon
+wieder in der Ungeduld dabei, was ihm der Tag nach diesem Anfang sonst
+bringen könnte. Um noch beim Melken dabei zu sein, ist es zu spät;
+doch tut er gleichwohl einen Sprung in den nächsten Stall. Da ist die
+Frau gerade dabei, die seimige Milch durch das Haarsieb zu gießen; sie
+braucht keine Hilfe, aber die hölzernen Eimer unter dem Brunnen sauber
+zu waschen, versucht er doch, bis sie über seine Narrheit lacht und ihn
+anders belehrt. Aus dem Stall geht es in die Matte, wo ein Bub noch
+saftiges Futter vor der steigenden Sonne zu bergen hat, und so fort
+durch das halbe Dorf, wo sich jeder über den närrischen Pfarrstudenten
+wundert. Als er zum Mittagessen kommt, ist er brandig rot, und am Abend
+muß ihm das Tantli einen Finger verbinden, der ihm irgendwo in ein
+Schnitzmesser geraten ist.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span></p>
+
+<p>Mit dem Großvater spricht er an diesem Tag nur ein paar Worte, da
+der in einer Dekanpflicht über Land gefahren ist; aber auch in den
+nächsten Tagen hält ihn seine ländliche Tätigkeit so weit ab von den
+Kirchenvätern des alten Herrn, daß sie sich nur beim Essen treffen; es
+scheint ihm, als ob der lächelnde Mund immer sarkastischer würde; als
+er es aber eine ganze Woche lang so fort getrieben hat und nun schon
+fast wie ein Bauernknecht aussieht — nur daß er jetzt schon drei
+Finger verwickelt hat — findet er abends ein Buch in seiner Kammer,
+das er längst kennt, aber bisher kaum beachtet hat: »Die Wirtschaft
+des philosophischen Bauers« oder, wie es kurzweg heißt, Der Kleinjogg.
+Es ist von dem Doktor Hirzel in Zürich geschrieben, der zu den neun
+Argonauten in Schinznach gehört und manchmal auch in die Gerwe kam.
+Tags hat er immer noch keine Zeit, aber nachts liest er es bei der
+Kerze, und bald schwört er darauf, daß es für einen echten Jünger
+Rousseaus keinen andern Beruf geben könne, als Landmann zu werden. Wenn
+er mitten aus seiner Feldarbeit heraus nach Zürich hinunter sieht und
+an den Grund denkt, der ihn hergebracht hat, an die greulichen Dinge
+im Alumnat, an die Schule und die Stadt mit dem Gezänk der Zünfte, dem
+Gewerk der dunklen Kellerlöcher und dem Geschwätz der guten Stuben:
+dann kann er mitten in seiner Freude traurig werden wie ein Narr, weil
+ihn der Gedanke an die Rückkehr schreckt.</p>
+
+<p>Eines Tages schreibt er wirklich dem Bluntschli einen Brief, daß er
+sein Studium aufgeben möchte, weil er<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> doch nicht zum Pfarrer tauge und
+es auch sonst in der städtischen Unnatur nicht mehr aushalten könne,
+nachdem er einmal das wirkliche Leben eines Landmannes geschmeckt
+habe. Alles andere wäre nur ein Maulwurfsdasein, zum wenigsten könne
+er von seinem Berg die hochmütige Stadt Zürich nur ansehen wie einen
+Maulwurfshügel. Wolken und Sonne und Schnee: für den Städter wären sie
+nichts als veränderte Gelegenheiten zu gutem und schlechtem Wetter —
+und seinen Erdboden habe er gar mit Fundamenten und Straßen völlig
+getötet — für den Landmann aber bedeuteten sie die Elemente seines
+natürlichen Daseins, sie brächten seiner Saat Regen und machten das
+Korn reif; der Wechsel der Jahreszeiten, ja der ganze Kalender wäre für
+ihn der Kreislauf eines in der Natur gegründeten Lebens. Wenn es ihm
+nicht zuwider sei, möge er schon seiner Mutter bei Gelegenheit ein Wort
+der Vorbereitung sagen, daß sie durch seinen Entschluß nicht auch ihren
+zweiten Sohn verlöre, sondern ihn erst recht gewönne.</p>
+
+<p>Er hat den Brief schreiben müssen, um endlich einem Menschen etwas
+von der Befriedigung seines ländlichen Daseins sagen zu können; der
+Großvater weicht allen Gesprächen darüber aus, und das Tantli, das
+aus einer ländlichen Pfarrerstochter eine Vikarsfrau geworden war und
+nun wieder einem Landpfarrer den Haushalt führt, vermag nur hellauf
+zu lachen, wenn er mit seiner Schwärmerei anfängt; aber als er am
+dritten Tag danach gerade auf einem Wagen voll Korn glücklich obenauf
+sitzt und ins Dorf gefahren kommt, steht vor dem Pfarrtor ein Wagen,
+und Bluntschli sieht kopfschüttelnd<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> seine Einfuhr an. Nachdem er dem
+Dekan seine Aufwartung gemacht hat, die nur kurz ausfällt, gehen sie
+miteinander durch seinen ländlichen Bereich, bis Bluntschli müde wird
+und sich an einen Rain hinsetzen muß. Der hat den begeisterten Freund
+bisher reden lassen; nun weist er auf seine Hände, an denen fast alle
+Finger angeschnitten oder verwickelt sind: ob das seine besondere
+Begabung für die ländliche Arbeit sei? Und ob er nicht wisse, daß zum
+Bauerntum zuvörderst ein richtiger Bauernsitz gehöre? Wenn der Junker
+Meis im Winkel aus der gleichen Begeisterung Bauer würde, wisse er,
+wovon! Aber das alles seien Fragen, die ihn als seinen Freund nichts
+angingen; denn Freundschaft hieße nicht, daß einer dem andern praktisch
+beistände, Freundschaft sei eine Sache der Seele: Dies aber drehe sich
+alles doch nur darum, daß er ein Dasein haben möchte, wie es für seine
+Art möglichst bequem und vergnüglich wäre. Was er zu seinem Agis sagen
+würde, wenn der die Not Spartas verließe, um sich einen Meierhof zu
+suchen? Er möge doch nicht vor seinen eigenen Ideen verächtlich werden,
+was sicherlich der eigentliche Verrat der Freundschaft sei!</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi wird ihm auf keine dieser Fragen eine Antwort
+schuldig, aber als der Freund, der es eilig hat, wieder abfährt, bleibt
+er mit einem zerbrochenen Mühlrad zurück; obwohl er noch trotzig darein
+blickt, merkt er gleich, er bringt es nicht mehr zum klappern. Und
+als ihm nach drei Tagen der Großvater einen Brief der Mutter in die
+Kammer legt, den sie an ihren Schwiegervater geschrieben hat: was es
+für Torheiten<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> habe mit ihrem Sohn? er möge ihm die Flausen aus seinem
+Wirrkopf blasen! da fällt auch der Trotz rasch ineinander.</p>
+
+<p>Nachdem seine vier Wochen herum sind, läßt er sich vom Großvater die
+Weisung des Antistes als erfüllt bescheinigen und marschiert nach der
+Stadt zurück, die mit ihren Türmen und Dächern gleichmütig am See
+geblieben ist und seine Schritte wie sonst in der Niederdorfporte
+hallen läßt. Gerade, als er hindurchgeht, kommt ihm die Anna Schultheß
+entgegen, die er als Freundin seines Freundes verehrungsvoll grüßt. Daß
+sie das erste ist, was ihm in Zürich begegnet, gibt der Gedrücktheit
+seiner Gedanken einen ziemlichen Stoß, sodaß er heller bei den Seinen
+im Roten Gatter eintrifft, als er in Höngg fortgegangen ist; wobei
+freilich die Liebe seiner Mutter auch das ihre tut, als sie ihn
+herzlich weinend umfängt.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>29.</h3>
+</div>
+
+<p>So muß Heinrich Pestalozzi doch noch einmal ins Collegium, und es ist
+nicht leichter für ihn geworden in dieser Zwischenzeit: im Alumnat hat
+es eine böse Reinigung gegeben, und die davon betroffen sind, stehen
+nun in tückischer Feindschaft gegen ihn; auch die Lehrer übertragen
+zum Teil die Stimmung der peinlichen Enthüllung gegen ihn, und da
+seine Erscheinung durch die ländlichen Sommerwochen nicht gewonnen
+hat, finden sich Anlässe genug ihn zu verhöhnen. Das Schlimmste
+bleibt trotzdem, daß er sich in den witzigen, aufklärerischen Geist
+der Theologenschule nun gar nicht mehr<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> zu finden weiß. Er kann es
+nicht begreifen, daß sich im Zeitalter Rousseaus der humanistische
+Bildungsdünkel noch so breitmachen kann wie in diesem Unterricht.
+Selbst die alten Schriftsteller scheinen ihm aufs gröblichste
+mißverstanden, indem das Leben aus ihren Schriften weggelassen und nur
+das Wort gelehrt und gedreht wird. Als Steinbrüchel, der schon mit
+Übersetzungen der griechischen Tragiker aufgetreten ist, im Lindauer
+Journal die erste olynthische Rede des Demosthenes abdrucken läßt als
+Stichprobe seiner Übersetzung der sämtlichen Werke des athenischen
+Redners, kann Heinrich Pestalozzi der Lust nicht widerstehen, dem
+hochmütigen Mann an einem Gegenbeispiel zu zeigen, was in diesen Reden
+mehr als humanistisch sei. Obwohl er im Griechischen ein mangelhafter
+Schüler ist, legt er im Examen ein Bruchstück der dritten olynthischen
+Rede vor, das er danach auch, gleichsam als Vorrede zu seinem Agis,
+mit diesem im Lindauer Journal abdrucken läßt. Der Beifall, den seine
+Übersetzung durch das Feuer und rednerische Talent der Sprache findet,
+ist so allgemein, daß der gelehrte Professor Steinbrüchel seine
+geplante Demosthenes-Ausgabe im Pult behält und als Übersetzer von nun
+ab peinliche Enthaltung übt.</p>
+
+<p>Damit ist das Studentenschicksal Heinrich Pestalozzis entschieden; aber
+ihm hat die Übersetzung unvermutet ein Tor aufgemacht, durch das er
+doch noch mitten ins Leben zu kommen hofft: Landwirt kann und Pfarrer
+mag er nicht mehr werden; aber gleich dem Demosthenes ein Fürsprech
+der Bedrängten und Volksredner der öffentlichen Dinge zu sein, das
+scheint ihm ein Beruf,<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> den er nun sich und andern mit glühender Liebe
+ausmalt. Alles, was er von dem Leben des großen Griechen liest, wie der
+gleich ihm den Vater früh verliert und erst durch mühevolle Gewöhnung
+seine körperlichen Mängel überwindet, wie er die großen Dinge seines
+Volkes in seine Reden einbegreift und aus einem Rechtsanwalt das
+Sprachrohr der vaterländischen Gesinnung in Athen wird: in allem findet
+er Hinweise für seine durch die Ähnlichkeit des Temperaments und der
+Zeitumstände vorbestimmte Laufbahn. Auch Bluntschli billigt sie, und
+die Mutter willigt schweigend ein. Da es im Collegium Carolinum keine
+Klasse für die Rechtswissenschaft gibt, geht er nun endgültig von der
+Anstalt ab, die ihm verhaßt geworden ist. Wie er zum letztenmal die
+Steintreppe hinuntersteigt, drängt sich ein Trupp seiner Mitschüler
+hinter ihm her, ihm einen höhnischen Abschiedsgruß zu pfeifen. Er
+weiß, daß einige Lehrer gern mit dabei wären; obwohl noch nicht
+zwanzigjährig, hat er nun schon erfahren, daß diese Erlebnisse zu
+einem tätigen und ehrlichen Leben gehören; er schwenkt seinen Hut zu
+den hochmütigen Zürchersöhnen zurück, als ob sie ihm den Wert und die
+Rechtlichkeit seiner Entschließungen bestätigt hätten.</p>
+
+<p>Nach Hause geht er aber nicht, sondern er läuft, wie er da ist, nach
+Höngg hinauf. Bei dem Spott der Jünglinge ist ihm der Ernst Luginbühl
+eingefallen, und wie es die selben sind, die dem Weberknaben die Schule
+verleidet haben. Sogleich hat ihn aber auch die Scham gepackt, daß er
+sich selber nicht mehr um ihn kümmerte. Wohl hat er sich oft nach ihm
+erkundigt, aber zu ihm gegangen<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> ist er nicht mehr, und nur einigemal
+Sonntags hat er ihn gesehen, wenn er, langaufgeschossen und längst mit
+blassen statt roten Backen von seiner Stubenarbeit, in die Kirche kam.
+Er kann nicht anders, er muß es gleich gut machen; aber wie er nach
+Höngg hinaufkommt, läuft er dem Großvater in den Weg, der sich noch
+etwas in der Herbstsonne ergehen will. Von dem erfährt er, daß der
+Ernst Luginbühl vor einigen Wochen nachts seinem Vater davongegangen
+sei, niemand wisse wohin: aber er würde schon überall in der Welt einen
+besseren Platz finden als an seinem Webstuhl! Glaubst du das wirklich?
+sagt Heinrich Pestalozzi und sieht mit einem seltsamen Blick in die
+wellige Hügelferne, als ob er zum erstenmal fühle, daß hinter diesen
+Bergen auch noch eine Welt ist.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>30.</h3>
+</div>
+
+<p>Die Nachricht von der Flucht Ernst Luginbühls hat Heinrich Pestalozzi
+auf den Gedanken einer heimlichen Pilgerfahrt gebracht: Er weiß, daß
+Rousseau seit dem Frühjahr auf der Petersinsel im Bielersee wohnt, und
+er malt sich das Abenteuer aus, dort einmal mit dem großen Mann zu
+sprechen; wenn er bis Baden eine Schiffgelegenheit nimmt, kann er den
+Weg in zwei Tagen hinter sich bringen. Die Mutter wehrt mit der Hand
+seine Worte ab, und er sieht, daß sie bis ins Herz erschrocken ist, als
+er nur im Scherz davon spricht; den Bluntschli aber fragt er einmal in
+der Gerwe auf den Kopf, was er davon hielte?</p>
+
+<p>Da müßtest du weit reisen, sagt der; denn Rousseau<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> ist auf der Flucht
+nach England! Und so erfährt Heinrich Pestalozzi, was der andere
+freilich auch erst seit zwei Tagen weiß, daß die bernische Regierung
+dem Flüchtling sein Asyl auf der Petersinsel gekündigt habe. Warum ist
+er nicht nach Zürich gekommen? fragt er in der ersten Enttäuschung;
+aber nun wird Bluntschli, der eben noch gescherzt hat, bitter: Weil
+die Zeiten Zwinglis vorüber sind und wir keinen Ulrich von Hutten
+mehr brauchen können; besonders, wenn es nur ein Genfer Uhrmachersohn
+ist! Wollte der große Voltaire kommen, sie möchten den Regenten der
+Aufklärung mit vierundzwanzig Pferden einholen und er könnte bei dem
+Antistes wohnen, aber den Rousseau mit seinen Menschenrechten würden
+die Gestrengen Herren in den Wellenberg stecken!</p>
+
+<p>Sie haben im Eifer nicht gemerkt, daß unterdessen der mit dem braunen
+Bart — wie Heinrich Pestalozzi nun längst weiß, der Pfleger Schultheß
+zum Pflug, der Vater Annas und ihres gemeinsamen Freundes Kaspar —
+hinter sie getreten ist: Der Wellenberg wäre das Mindeste für einen
+Mann, sagt er ernst, der seine Kinder ins Findelhaus schickt und
+ungetraut mit einem Weibsbild lebt!</p>
+
+<p>Der Bluntschli steht artig auf, und Heinrich Pestalozzi sieht, wie er
+todblaß geworden ist; auch ihn selber hat es ins Herz getroffen, das
+Vorbild so von ihrer strengen Tugend entblößt zu sehen. Darüber treten
+andere hinzu, die auch schon die Nachricht von Bern haben, und weil
+durch ein Mißgeschick der angesagte Vortrag ausfällt, wird Rousseau das
+erregte Abendgespräch an allen Plätzen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span></p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat über den Sommer zuviel in den Wolken gesegelt;
+nun merkt er erstaunt, wie sehr das sogenannte Genfer Geschäft auch
+schon die Züricher erhitzt. Es heißt, daß der Rat von Genf gegen seine
+eigene Bürgerschaft — die das Verdammungsurteil über Rousseau und
+seine Schriften nicht anerkennt und darum schon im vierten Jahr mit ihm
+streitet — die Gesandtschaften von Zürich, Bern und Frankreich als
+Friedensrichter in dieser Sache anrufen wolle. Damit würde, wie Bodmer
+freimütig über die Tische weg sagt, sich auch Zürich zu entscheiden
+haben, wieviel Macht der Wahrheit noch über Interesse, Herrschaft und
+falsche Politik geblieben sei! Heinrich Pestalozzi vermag aber nicht,
+diese Gespräche noch weiter anzuhören; das Wort des Pflegers Schultheß
+hat ihn zu sehr getroffen. Als er den Bluntschli bald aufstehen sieht,
+folgt er ihm rasch, um mit ihm in den gleichen Gedanken eingespannt
+früher als sonst heimzugehen: Auch der Hutten soll an einer häßlichen
+Krankheit gelitten haben, sagt der andere mit leiser Stimme, als sie
+oben auf der Niederdorfgasse sind; dann sprechen sie nichts mehr, bis
+sie sich ohne Gruß und Handdruck trennen.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>31.</h3>
+</div>
+
+<p>Im Frühjahr sieht Heinrich Pestalozzi die Züricher Gesandtschaft
+mit ihren kostbaren Staatsperücken in einem großen Aufwand von
+Reisewagen die Fahrt nach Genf antreten: es ist gekommen, wie an
+dem Abend gesprochen wurde, die Mächte sind angerufen, den Handel
+um Rousseau zu schlichten. Er ist immer noch nicht<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> im reinen, wie
+einer sittenlos leben und Tugend lehren könne, und dieser Zwiespalt
+verbittert ihm die Politik. Unterdessen sind nach dem Agis im Lindauer
+Journal auch im Erinnerer eine Reihe von Wünschen gedruckt, die er
+im vergangenen Jahr geschrieben hat, aber selbst seine eigene Feder
+ist ihm verdächtig geworden. Als Bluntschli seine Hauslehrerschaft
+aufgibt und nach Hütten reist, um da eine Kur gegen seine kranke Brust
+zu machen, bleibt er vereinsamt in Zürich zurück. Einmal begegnet er
+dem Alumnaten, zu dem er damals am Zürichhorn ins Schiff gestiegen
+ist; er will ihn ansprechen, aber der weicht ihm scheu aus, als ob
+er eine Schuld von ihm einzufordern hätte. Wenn Heinrich Pestalozzi
+nun an seine Anzeige denkt, fällt eine brennende Unruhe über ihn; es
+ist das einundzwanzigste Jahr seines Lebens, als er gewahr wird, daß
+in der menschlichen Natur schlimmere Feinde der guten Sitten und der
+einfältigen Menschlichkeit liegen als in allen Gewalthabern.</p>
+
+<p>Die Berichte der Gesandtschaft laufen ein, und jeder macht einen
+Sturm im Großen Rat, wo Bodmer unerschrocken gegen die Mehrheit der
+Gestrengen Herren auftritt. Es kommt, wie er prophezeit hat: die
+Entscheidung der Genfer zwischen Wahrheit und Interessen wird auch den
+Zürichern auferlegt; aber immer deutlicher sieht Heinrich Pestalozzi,
+daß die Bürgerschaft durchaus nicht so auf der Seite der Patrioten
+steht, wie seine spartanische Begeisterung gedacht hat. Wo ihrer
+einige zu vorwitzig auf der Gasse sind, kann es ihnen geschehen wie
+ihm damals, als er in den Keller<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> fiel. Er ist verzagt genug, seinen
+Traum nun selber zu belächeln, diese Bürger als ein neuer Demosthenes
+zu reinen und hohen Dingen anzufeuern; es steht nicht einmal so, daß
+er wie sein Agis das Leben wagen könnte, die Zünftler würden sich mit
+einer Tracht Prügel genug tun.</p>
+
+<p>Unerquicklich geht ihm der Sommer und der Herbst hin, indessen er
+noch immer hartnäckig an seiner Rechtswissenschaft mit dem Studium
+alter und neuer Gesetzschriften festhält. Er sieht den Bluntschli
+aus seiner Kur in Hütten mit einer Schwärmerei für die Schönheit der
+Natur und die Einfalt des ländlichen Lebens heimgekehrt, die er nun
+wehmütig belächeln muß. An seiner Gesundheit hat der Freund nichts
+mehr zu klagen, und wenn Heinrich Pestalozzi nicht durch die Mienen
+und Gespräche besorgt gemacht würde, er könnte glauben, daß ihm die
+Kur völlige Heilung gebracht hätte, so heiter sieht er ihn. Als er
+noch einmal über Rousseau mit ihm sprechen will, schüttelt Bluntschli
+den Kopf; auch sonst scheint er den Eifer eines Patrioten verloren
+zu haben, wo sich die andern erhitzen, lächelt er, und als aus Genf
+die Nachricht kommt, daß die mit dem Rat vereinigten Gesandten den
+Bürgern eine neue Verfassung auferlegt hätten, sagt er: da könnte das
+Sechseläuten angehen! Auch in seinen Büchern liest er nicht mehr, das
+Wissenswerte stände nicht darin, pflegt er zu scherzen; obwohl Heinrich
+Pestalozzi die Unheimlichkeit hinter dem veränderten Wesen fühlt,
+vermag er sich der Heiterkeit nicht zu entziehen, darin der Freund
+Jüngling und Greis in einem geworden scheint, und so<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> erlebt er den
+Zürcher Ausklang des Genfer Geschäftes viel weniger aufgeregt, als es
+sonst gewesen wäre.</p>
+
+<p>Mitte Dezember kommt die Nachricht aus Genf, daß die Bürgerschaft
+mit großer Mehrheit das Machwerk der Gesandten verworfen habe;
+gleichzeitig geht das Gerücht, nun würden Frankreich, Zürich und Bern
+Gewalt anwenden und die aufsässige Bürgerschaft mit Krieg überziehen:
+Alles um eines gedruckten Buches willen, scherzt Bluntschli, als ob
+es keine vernünftigen Anlässe mehr gäbe in der politischen Welt! Aber
+die andern Patrioten sind eifriger, und der Privatlehrer Müller, des
+Stadttrompeters Sohn, schreibt das angebliche Gespräch eines Bauern
+mit einem Stadtherrn und einem Untervogt über den Genfer Handel,
+liest es auf seiner Stube auch einigen Freunden vor und verschließt
+es dann in sein Pult. Es ist mehr witzig als aufrührerisch, und
+Heinrich Pestalozzi, der es mit angehört hat, hätte nie gedacht,
+daß sich der Zorn der Obrigkeit daran entzünden könnte. Der Müller
+aber ist unvorsichtig genug, einem seiner Schüler die Handschrift
+zu überlassen. Der macht eine Abschrift davon und gibt sie weiter,
+immer mehr Abschriften werden gemacht, und Mitte Januar flattert das
+Bauerngespräch, wie man es heißt, heimlich durch die ganze Stadt,
+überall die Erregung des Genfer Geschäfts in lustigen Spott über die
+Perücken auslösend, bis eine Abschrift den Gestrengen Herren selber vor
+Augen kommt, die sofort mit heftigen Verhören den unbekannten Verfasser
+suchen.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi, der sich mit Lavater besprochen hat, sucht noch
+spät abends den Müller auf, und rät<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> ihm, sich selber zu dem Scherz
+zu bekennen, womit der Sache die Spitze abgebrochen sei; aber als er
+am nächsten Morgen nachfragt, hat der Sohn des Stadttrompeters eine
+richtigere Einsicht in seine Lage gehabt und ist über Nacht geflohen.
+Aus seinem Scherzgespräch ist eine Schandschrift und aus der Lustigkeit
+darüber ein Aufruhr geworden; ehe Heinrich Pestalozzi sich irgend einer
+Gefahr versieht, sitzt er selber auf dem Rathaus in Arrest, weil er
+dem Aufwiegler zur Flucht verholfen habe. Er wird auch drei Tage lang
+wie ein Verschwörer in strenger Haft gehalten, bis von dem Flüchtigen
+ein Brief eingelaufen ist, daß er das Bauerngespräch ohne böse Absicht
+geschrieben hätte und an der Verbreitung unschuldig wäre. Darauf
+lassen sie ihn zwar frei, aber die Untersuchung gegen den Aufruhr
+verliert nicht an Hitzigkeit: in ganzen Kompanien ziehen die getreuen
+Untertanen auf den Stadtplätzen auf, und bald wird von den Kanzeln des
+Kantons ein Urteil verlesen: daß der Verfasser der aufwieglerischen
+und höchst schandbaren Schrift aus dem geistlichen Stand removiert,
+aus der gesamten Eidgenossenschaft verbannt sei und in den Wellenberg
+geworfen werden solle, falls er betroffen würde. Die Schandschrift
+solle zugleich mit dem Lästerbrief aus dem Hottinger Handel durch den
+Henker öffentlich verbrannt werden, die Kosten für die drei Klafter
+Brennholz seien durch die Patrioten zu bezahlen, ihre Wochenschrift
+»Der Erinnerer« dürfe nicht mehr unter die Presse kommen, und sofern
+die gefährliche Gesellschaft noch etwas gegen die Obrigkeit unternähme,
+würden die schärfsten Strafen angewandt.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span></p>
+
+<p>Bluntschli hat recht gehabt: das Sechseläuten fängt an; und ob es
+Heinrich Pestalozzi selber angeht, soviel obrigkeitliche Torheit vermag
+auch er nicht mehr ernst zu nehmen; als die Schandschriften durch den
+Henker verbrannt werden, spaziert er mit einem Freund auf dem Balkon
+der Meise und macht auf einer Pfeife die Musik dazu.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>32.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat es gleich gefühlt, daß sein Gespött auch die
+eigenen Träume trifft. Wie in der Heiterkeit des Bluntschli, den er
+nun auch gleich den andern Freunden Menalk nennt, der bittere Ernst
+immer deutlicher wird, so ist es auch mit ihm: er trägt im Übermut
+dieser Tage das Gefühl unabweisbarer Entscheidungen in sich, die
+mit all diesen flatternden Sehnsuchten und Lebensspielereien seiner
+verzettelten Jugend aufräumen werden; daß der Demosthenes dabei sein
+wird, ist ihm sicher.</p>
+
+<p>Das Frühjahr will diesmal nicht kommen; immer wieder schütten die
+Wolken Schneeflocken in den Regen, und wo sich ein blaues Stück Himmel
+zeigt, blasen die kalten Winde es wieder zu. Heinrich Pestalozzi geht
+nun fast täglich nach der Zimmerleutenzunft hinunter, wo der Menalk
+meist am Fenster sitzt und in die Limmat sieht. Er ist hager geworden,
+mit tiefen, forschenden Augen und einer merkwürdigen Art, seine
+Knochenhand auf die Dinge zu legen, die er braucht. Seine Heiterkeit
+aber ist geblieben, und er spricht gern, als ob er jetzt erst den
+richtigen Abstand von seiner Mitwelt<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> habe, die ihm sonst zu nahe und
+daher bedrückend gewesen sei.</p>
+
+<p>Wenn Heinrich Pestalozzi nachmittags gegen die Dämmerung kommt, trifft
+er leicht mit der Anna Schultheß zusammen, die für eine Stunde bei dem
+Freund ist. Menalk hat es nicht gern, wenn er dann stört, und so meidet
+er die Stunde. Um so lieber spricht der Kranke, der immer deutlicher
+ein Sterbender wird, von ihr, die — um fünf Jahre älter als er —
+doch wie eine jüngere Schwester zu ihm steht. Sie hat als Mädchen noch
+die merkwürdige Zeit erlebt, wo der Dichter Klopstock ein halbes Jahr
+lang in Zürich lebte, und entsinnt sich seiner wohl, wie er auch in
+ihrem Elternhaus zum Pflug war. Da sie wohlhabend und vielgereist ist,
+dabei schön von Gesicht und Gestalt, gilt sie den jüngeren Freunden
+ihres Bruders Kaspar als eine Art Muse, und es war immer eine besondere
+Feier, wenn sie an einer ihrer Veranstaltungen teilnahm. Dabei ist
+sie seit langem Bluntschli so offensichtlich zugetan, daß sich kein
+anderer um sie zu bemühen wagt; und seitdem sie mehrmals Bewerbungen
+abwies, was bei ihrem Alter auffällig war, gilt es für ausgemacht, daß
+sie einmal Menalks Frau würde, obwohl die Eingeweihten wissen, daß ihr
+Verhältnis zu dem Kandidaten viel mehr geschwisterlich ist.</p>
+
+<p>Je sichtlicher die kranke Brust Menalks den letzten Kampf mit dem
+unheimlichen Feind aufnimmt, um so mehr spricht er von der Freundin;
+einmal so schwärmerisch, daß Heinrich Pestalozzi ihn erstaunt ansieht.
+Er bricht dann mitten in der Schilderung ab und sieht<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> lange vor
+sich hin, bevor er die Augen zu ihm hebt: Wir haben zu viel Eifer in
+unsern Sitten gehabt und zu wenig Liebe! Und als ob auch das noch
+nicht richtig sei, nach einer Weile: Ich habe nun so viele Tage vor
+Gott gesessen; am Ende weiß er doch besser als wir, was vonnöten ist.
+Es ist da eine leere Stelle in mir geblieben, aber ich kann sie nicht
+mehr füllen! Er hat seine große Hand über das Herz gebreitet und
+nimmt sie auch nicht mehr fort. Als Heinrich Pestalozzi aus seiner
+Erschrockenheit aufblickt, sieht er die Spur einer Träne, die ihm über
+die hageren Backenknochen in den Mundwinkel geronnen ist.</p>
+
+<p>An einem Abend im Mai wird er zu ihm gerufen. Der alte Steinmetz —
+Menalk ist der zweitjüngste von neun Kindern, und die Mutter liegt seit
+drei Jahren auf dem Kirchhof — hat ihn noch einmal aus dem Bett ans
+Fenster tragen müssen, wo er im Kissen sitzt. Als ob er die Rechnung
+mit der Bitterkeit seines frühen Todes nun fertig gemacht habe, sieht
+er ihm befreit und heiter entgegen; spricht dann lange nichts, und
+als Heinrich Pestalozzi zögernd fragt, wie er sich befinde, hört er
+nicht darauf. Endlich scheint er die vorgefaßten Worte zu finden: Ich
+gehe sterben, sagt er und sieht auf seine Hände, die nebeneinander vor
+ihm liegen: du baust zuviel Pläne; die Menschen sind nicht so, wie du
+sie glaubst. Bescheide dich in einer stillen Laufbahn, und laß dich
+auf keine weitgehenden Unternehmungen ein ohne einen Ratgeber, der
+die Menschen und die Sachen kaltblütiger nimmt als du. — Es ist mein
+Testament, setzt er nach einigen Atemzügen hinzu, und der Schatten<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span>
+von einem wehmütigen Lächeln hängt an den Lippen, als ob er sich
+entschuldigte, daß es nur Worte wären. Als Heinrich Pestalozzi nach
+einer erschütternden Stille sprechen will, wehrt er ab: Geh jetzt, wir
+sehen uns noch!</p>
+
+<p>Am andern Mittag will er nach ihm sehen, da kommt ihm aus der Tür
+Anna Schultheß entgegen. Wie gehts? fragt er beklommen, weil sie die
+Tränen achtlos rinnen läßt. Sie vermag nichts zu antworten, hebt nur
+die Hände, als ob die allein noch sprechen könnten, und für einen
+Augenblick scheint es, wie wenn sie in einer Ohnmacht hinsinkend sich
+an ihm halten wolle; dann eilt sie fort. Ihre Augen, die vom Schrecken
+übergroß geweitet und glanzlos vom Weinen sind, verlassen ihn nicht,
+bis er in die Stube tritt. Da steht Lavater mit einigen Freunden; sie
+sehen schweigend auf den Sterbenden, der nicht mehr spricht, nur hastig
+atmet wie einer, der zu rasch gelaufen ist. Einmal macht er die Augen
+groß auf, doch sieht er keinen mehr in der Stube; nach langem tut er
+ein paar tiefe Atemzüge, als ob er endlich Luft genug in seine Lungen
+bekäme, dann scheint er sich erlöst zum Schlaf hinzulegen; aber es ist
+der Tod gewesen, und Lavater, der es am ersten sieht, drückt ihm mit
+behutsamen Händen die Augenlider zu.</p>
+
+<p>Die andern gehen danach fort; Heinrich Pestalozzi vermag es nicht, er
+fühlt, daß ihm mehr als ihnen gestorben ist. Aber als er stundenlang
+vor der Unbegreiflichkeit gesessen hat und, einer Regung folgend, dem
+Freund noch einmal die Hand geben will, ist sie schon kalt und nicht
+mehr menschlich; da fühlt er mit Grauen,<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> daß etwas Fremdes an seiner
+Stelle liegt. Darüber kommt Lavater, dessen Umsicht dem alten Vater die
+nötigen Besorgungen abnimmt, mit zwei Frauen wieder, die den Leichnam
+waschen und für den Sarg herrichten wollen; der führt ihn hinunter und
+geht, ohne ein Wort zu sagen, mit ihm vielmals am Wasser hin und her,
+wo die Maisonne ihre Wärme in das Wasser schüttet und die Schwäne den
+Blust ihrer Federn spreizen. Als sie sich trennen, verspricht er ihm
+eine Zeichnung von dem toten Freund.</p>
+
+<p>Ich habe so viele Tage vor Gott gesessen! Das Wort Menalks ist in ihm
+wie ein Stein geblieben, der immer tiefer sinkt; und je mehr er den
+Freund im Unbegreiflichen fühlt, weit fort von dem Leichnam, den fremde
+Frauen wuschen, um so inniger bildet er an seiner Gestalt, wie er da
+tagelang vor der letzten Entscheidung gesessen hat. Am andern Morgen
+bringt ihm Lavater die Zeichnung; er legt sie erschrocken fort, daß ihm
+das Bildnis des Toten die Erinnerung an den Lebendigen nicht störe, und
+während das Blatt unter seinen Blättern versteckt liegt, fangen seine
+Gedanken ein Denkmal an, das mehr als diese Zeichnung sein möchte.</p>
+
+<p>Er soll Träger sein, aber als die Glocken zum Begräbnis läuten, steht
+er noch immer mit dem Babeli im Eifer über seiner Kleidung. Bis er
+hinunter kommt, tragen sie den Sarg schon ohne ihn die Gasse hinauf. Er
+will sich verzweifelt durchdrängen, aber die Jünglinge und Männer, die
+da mit ernsten Gesichtern in der vorgeschriebenen Ordnung schreiten,
+lassen ihn nicht hinein. Unfähig, sich den letzten anzuschließen, irrt
+er<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span> fort — ein Überflüssiger auch hier — und findet sich aus seiner
+Beschämung erst am Kirchhof wieder, als die ersten schon heimkehren.
+Hinter Büschen versteckt, wartet er die letzten ab und sieht den
+Totengräber beschäftigt, dem Hügel mit der Schaufel die vorgeschriebene
+Form zu geben. Er wagt nicht eher, an das Grab zu gehen, bis auch der
+Mann fort ist. Was er dann vor sich hat, ist nichts als ein Stück
+Frühlingserde, vom Gärtner frisch zubereitet, das er bald wieder
+verläßt.</p>
+
+<p>Obwohl er den Totengräber beobachtet hat, wie der das Tor hinter sich
+zumachte, bedenkt er nicht, daß es geschlossen sein könnte; erst
+als er hinaus will, sieht er sich gefangen. Es ist kein zu großer
+Schrecken für ihn, und er hätte schon einen Schlupf gefunden; aber
+als seine Hände noch in der ersten Überraschung die Torstäbe halten,
+sieht er den Totengräber mit einer schwarzen Jungfrau zurückkommen,
+die einen Strauß Frühlingsblumen trägt. Er weiß auf den ersten Blick,
+daß es Anna Schultheß ist, die dem Grab des Freundes zunächst einen
+Gruß bringen will. Gern möchte er sich noch verstecken, aber die
+beiden haben ihn schon gesehen; so wartet er steif an dem Tor, bis
+es geöffnet wird. Der Mann ist mißtrauisch und augenscheinlich nicht
+gewillt, ihn durchzulassen, wenn er nicht vor seiner Begleiterin in der
+lächerlichsten Verwirrung den Hut gezogen hätte; so läßt er ihn laufen,
+der aus seiner Scham weder ein Wort noch eine Miene der Erklärung
+findet und fassungslos nach der Stadt hinunterstürmt.</p>
+
+<p>Er fühlt die Zweideutigkeit seiner Lage sofort: die Freundin kann
+nicht anders glauben, als daß ihn der<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> besondere Schmerz um den Menalk
+zurückgehalten habe; und soviel er in seiner Bestürzung von ihrem
+Gesicht wahrnahm, ist der Dank ihrer guten Meinung schon darin gewesen.
+Indem er fortrennt, statt ihr gleich tapfer die Umstände zu gestehen,
+hat er die Zweideutigkeit noch vermehrt; denn sie muß sich auch das
+noch auf einen Schmerz deuten, was nichts als die erbärmlichste
+Feigheit ist. So steht er am Grab des gemeinsamen Freundes in einer
+Schauspielerei vor ihr, die unaufgeklärt eine böse Lüge und aufgeklärt
+eine unerträgliche Beschämung bedeutet. Trotzdem er sich sogleich
+tapfer für die Beschämung entscheidet, liegt bis dahin die Lüge auf
+ihm; und das Gefühl davon saugt alles auf, was an selbstklägerischen
+Gedanken seiner wirren und fahrlässigen Jugend schon vorher in ihm
+gewesen ist, sodaß er an der alten Stadtmauer hin und gegen die
+Bollwerke rennt, als ob ihn diese Flucht vor sich selber retten könne.
+Als er sich ganz in das Mauerwerk verlaufen hat, wirft er sich hin, und
+niemals hat er so die Erschütterung zu weinen gespürt wie unter der
+blaßblauen Himmelsglocke dieses Frühlingstages.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>33.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi ist einundzwanzigjährig, als der Tod des
+gemeinsamen Freundes ihn der Anna Schultheß nähert und dem
+sehnsüchtigen Schwall seiner Jugend einen frühzeitigen Durchbruch
+ins Leben bringt. Seit der Begegnung an der Kirchhofstür geht sie
+schwarz gekleidet mit Frühlingsblumen durch seine Träume, und wo seine
+wachen Gedanken den Gestorbenen wehmütig<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> bekränzen. Er hat ihr eine
+offene Darstellung seiner Irrgänge am Begräbnistag gesandt und den
+flackernden Leichtsinn seiner Jugend nicht geschont, um das Gegenbild
+des toten Freundes hell vor die Dunkelheit zu stellen, wie der sein
+Jünglingsleben streng vollendete und von der Selbstüberwindung mit
+Heiterkeit gesegnet in den Tod einging.</p>
+
+<p>Die Kaufmannstochter im Pflug dankte ihm kühler, als er erwartete; er
+spürt aus ihren Schriftzügen und Sätzen, um wieviel gehaltener sie
+mit ihren neunundzwanzig Jahren zum Leben steht als er mit seinen
+einundzwanzig: aber weil ihn die heftigen Winde seiner Meinungen den
+Altersgenossen voraus in die Schwierigkeiten einer eigenen Berufswahl
+getrieben haben, indessen sie noch den behüteten Gang ihrer Studien
+gehen, lockt ihn das Ältliche an ihr erst recht. Er weiß es abzupassen,
+daß er sie bald danach auf einem Spaziergang trifft, und ruht nicht,
+als sie zu Besorgungen fort muß, bis sie ihm noch eine Stunde am selben
+Abend verspricht.</p>
+
+<p>Noch liegt für ihn selber das Eingeständnis einer andern als
+freundschaftlichen Neigung nicht zutage; obwohl lebhaft von den
+wechselnden Begebenheiten der Vaterstadt hingenommen und in hundert
+Anlässen geschäftig, die ihn eher vorlaut erscheinen lassen, ist er
+schüchtern, und er hätte aus sich selber kaum die Entschlossenheit, sie
+in der Dämmerung auf dem Lindenhof abzuwarten, wenn er nicht durch die
+schmerzliche Gemeinschaft um den toten Freund in eine so seltsame Nähe
+zu ihr gekommen wäre. Sie wiederum mag durch<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> Menalk viel Rühmliches
+von ihm gehört haben, auch ist sie durch ihre Brüder an Kameradschaften
+gewöhnt: aber als sie dann unter den Bäumen des Lindenhofs beieinander
+stehen — es ist diesmal noch zu hell, als daß die Sterne schon funkeln
+könnten — sind sie doch nur ein Menschenpaar, das, ungleich im Alter,
+den Zwang der Natur zu fühlen bekommt. Heinrich Pestalozzi spricht
+unablässig, von der Winternacht, wo er mit Bluntschli hier gestanden
+hat, von dessen bitteren Worten und ihrer gemeinsamen Beklommenheit
+nachher, auch von dem Vermächtnis des sterbenden Freundes am vorletzten
+Abend, nicht anders, als ob erst jetzt das gedämmte Gefühl einen
+Abfluß fände: aber er fühlt wohlig die innige Verbindung mit seiner
+schweigsamen Hörerin, und wieviel er dabei von sich selber in ihre
+Seele sprechen kann.</p>
+
+<p>Als sie sich trennen, erst leise dann dringend von ihr gemahnt, und sie
+ihm die Hand gibt, eine weitere heimliche Zusammenkunft nicht unbewegt,
+aber bestimmt ablehnend, vergißt er sich zu Tränen, sie darum zu
+bitten, und läßt in seiner Inbrunst ihre Hand nicht wieder los, bis sie
+sich selber freimacht und flüchtend von ihm fort eilt.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi beherrscht sich mühsam, ihr nicht zu folgen, aber
+er fühlt jeden Schritt ihrer Entfernung wie einen körperlichen Schmerz,
+und in der Frühe findet er sich, mit einem Seufzer aus sehnsüchtigen
+Morgenträumen aufgewacht, aufrecht im Bett sitzen. So sehr er sich
+selber zur Rede stellt und sich des schwärzesten Verrats an Menalk
+beschuldigt, daß er das Gedächtnis<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> an ihn für seine eigenen Gelüste
+mißbrauche: der Drang, sie zu sehen, ist so unbezwingbar, daß er
+unablässig Möglichkeiten aussinnt. Als es ihm am ersten Tag mißlingt,
+am zweiten und dritten auch, weil sie sich offenbar der gewohnten
+Gänge enthält, vermag er es am vierten nicht mehr und geht ihr mit
+einem Vorwand ins Haus. Er weiß, daß sie in der Handlung des Vaters an
+der Ladentheke bedient, und tritt um die stille Zeit nach Mittag ein.
+Von der Ladenschelle gerufen, findet sie ihn als Kundschaft, die sie
+bedienen muß; bis sie den zornig und fast mit Tränen verlangten Zucker
+für die Haushaltung der Mutter abgewogen und ihm hingelegt hat, ist sie
+gesammelt genug, ihn ernst zu bitten, das nicht mehr zu tun!</p>
+
+<p>Er kann kein anderes Wort vorbringen; doch hat er sie nun
+wiedergesehen, und als er dem Babeli den heimlich erworbenen
+Zuckervorrat in die Küche geschmuggelt hat, verhehlt er sich nichts
+mehr von seiner Leidenschaft und beginnt, seine Aussichten zu prüfen:
+Sie ist wohlhabend, und er ist arm; sie trägt ihr schönes Antlitz auf
+einer wohlgebildeten Gestalt, während er als der schwarze Pestaluz um
+seiner pockennarbigen und unordentlichen Erscheinung willen in den
+Gassen verhöhnt wird; sie ist auf zahlreichen Reisen in den Formen
+des Welttons gebildet und mit Geschmack sorgfältig gekleidet, also
+auch darin sein Gegenbild: aber sie steht auch mehr als jedes andere
+Mädchen, das er kennt, mit herzlicher und kluger Kenntnis in der Welt
+seiner Jugendideale und ist durch die gemeinsame Freundschaft mit
+Menalk seinem Herzen so nah wie sonst kein<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> Menschenkind in Zürich.
+Wenn — wie es heißt — Lebensgefährten einander ergänzen sollen,
+vermag er sich nichts Vollkommeneres zu denken als sie; und auch er
+hofft ihr — so sehr er in der Gegenwart seine Mängel fühlt — aus
+seinen Zukunftsplänen einige haltbare Wechsel bieten zu können. Ihr
+steht es frei, ihm nein zu sagen, nicht aber ihm, sie zu fragen.</p>
+
+<p>Um sich zu prüfen, schließt er sich vor der Schwester ein — die Mutter
+ist in Höngg, den kranken Großvater zu pflegen — und sagt dem Babeli,
+daß er krank wäre. Er wird auch wirklich krank in der Unruhe und Marter
+seiner Sehnsüchte und Hoffnungslosigkeiten, bis er nach hitzigen
+Fiebertagen einen Brief schreibt. Er sitzt den ganzen Tag daran, und es
+wird mehr eine Abrechnung mit sich selber, darin er auf der einen Seite
+die eigenen Mängel zu Bergen auftürmt, um auf der andern seine Neigung
+und seine Vorsätze dagegen zu stellen. Aber als er nach einer dadurch
+beruhigten Nacht den Brief noch einmal durchliest, erschrickt er selber
+über seine Maßlosigkeit und zerreißt ihn. Er beginnt dann von neuem,
+noch zweimal an dem Tag, auch diese Briefe wieder zerreißend; bis er,
+aufs tiefste entmutigt über sein Mißgeschick, den ersten Brief noch
+einmal in besonnener Form wiederholt und, um ein klares Ja oder Nein
+bittend, ihn auch endlich absendet.</p>
+
+<p>Sie läßt ihn zwei lange Tage und längere Nächte auf Antwort warten;
+und was sie ihm dann schreibt, ist nur eine Aufzählung der Gründe, die
+gegen ein innigeres Verhältnis sprechen, und der unverhohlene Wunsch,
+mit einem abgewiesenen Liebhaber nicht den<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> Freund zu verlieren. Aber
+Heinrich Pestalozzi ist nun ein abgeschossener Pfeil, der sein Ziel
+treffen oder verfehlen, nicht mehr zurück kann. Er schreibt ihr wieder,
+alle Gründe, namentlich den ihres verschiedenen Alters, mit einem
+Feuerwerk edler Worte widerlegend, und bittet sie aufs neue um eine
+Unterredung — die sie ihm zögernd gewährt. Diesmal treffen sie sich
+frühmorgens auf der Straße nach Höngg, wo die Morgenfrische ihr gegen
+seine brandige Leidenschaft hilft; doch muß sie ihm zugestehen, daß er
+ihr schreiben und sie manchmal auch sehen dürfe. Sie hält danach noch
+wochenlang an ihrer Bedingung fest, daß alles zwischen ihnen im Rahmen
+der Kameradschaft bleiben solle. Aber mit abendlichen Stelldicheins und
+morgendlichen Spaziergängen, mit langen Briefen und innigen Gesprächen
+nistet sich auch bei ihr die Liebe ein, und als der Sommer auf seiner
+Höhe ist, vermag Anna Schultheß dem Ansturm seiner Gefühle nicht
+mehr zu widerstehen. Es schreckt sie nicht mehr, daß ihre Mutter den
+schwarzen Pestaluz als einen unnützen und prahlerischen Schwarmgeist
+verabscheut und selbst ihr Bruder Kaspar ihn einen Knaben nennt,
+während der Zunftpfleger ihr zuliebe mit seinen sichtbaren Bedenken
+humoristisch zurückhält, es schreckt sie nicht einmal, daß sie selber
+an seinen Äußerlichkeiten Anstoß nimmt: sie hat in dem Schwarmgeist die
+Tiefe der Gesinnung und in dem Knaben die Weite der Seele gespürt, die
+sich freilich an allzu vielen Projekten begeistert, deren grenzenlose
+Kühnheit sie aber mit Stolz empfindet. Auch die rastlose Werbung tut
+das ihre, sie von der Unbeirrbarkeit seines Willens<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> zu überzeugen:
+als er wieder einmal vor ihr steht mit den dunklen Augen, aus denen
+seine Seele in wahren Strahlenkränzen zu leuchten scheint, beugt sie
+ihren Stolz der Kaufmannstochter, ihre weltklugen Erwägungen und die
+Einsicht der älteren Jahre vor dem Ungestüm seiner Jugend und legt sich
+— auf die mancher wohlhabende Geschäftsfreund ihres Vaters im stillen
+noch hofft — mit dem Gelöbnis unverbrüchlicher Treue in die Arme des
+einundzwanzigjährigen Jünglings Heinrich Pestalozzi.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span></p>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span></p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span></p>
+<h2 class="nobreak" id="Mittag">Mittag</h2>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>34.</h3>
+</div>
+
+<p>Der Drang seines frühreifen Schicksals will, daß Heinrich Pestalozzi
+das Glück heimlicher Liebesstunden nur kosten, nicht genießen darf.
+Um die Kaufmannstochter aus dem Pflug heim zu führen, kann er keinen
+Beruf gebrauchen, der ihn mit unbestimmten Hoffnungen hinhält; und
+mit den Entwürfen seiner Volksreden verbrennt er die hochmütigen
+Advokatenpläne. Irgendwo die Handgriffe der Landwirtschaft zu lernen
+und dann auf einem Gut zu üben, scheint ihm von allen Möglichkeiten die
+rascheste; nun, wo er mit der Braut auch den Berater gefunden hat, der
+durch Sachen- und Menschenkenntnis — wie Bluntschli sagte — seinen
+Traumsinn ergänzt, glaubt er den Schritt aus der Schulweisheit in
+das Bauerndasein wohl tun zu können, zumal Anna Schultheß ihn tapfer
+billigt. Daß es zunächst ein Bruch mit den Beglückungsplänen seiner
+Jugend ist, übersieht er nicht; aber auch hier beruhigt ihn ein Wort
+des Freundes, daß man von den schwachen und niederen Stauden keine
+Körbe voll Früchte ernten könne, der Baum müsse stark und groß sein, um
+Früchte zu tragen! Wenn er erst einmal frei und wohlhabend auf eigenem
+Boden sitzt, will er die vaterländischen Dinge schon nicht vergessen
+haben!</p>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span></p>
+<p>Unterdessen ist seine Mutter noch immer bei dem kranken Großvater in
+Höngg gewesen, während er mit der Schwester und dem alt gewordenen
+Babeli gewirtschaftet hat; nun kommt sie zurück, und er holt sie eines
+Nachmittags ab, freudig, ihr sein Glück mitzuteilen. Der Dekan geht
+kaum noch aus seiner Studierstube heraus; er hat Sterbegedanken und
+ist verdrießlich, daß ihm der Antistes noch einen Vikar aufdrängen
+will, statt seinen natürlichen Abgang abzuwarten. So kann Heinrich
+Pestalozzi ihm nichts sagen, und auch bei der Mutter kommt er erst auf
+dem Rückweg dazu, als hinter Wipkingen die Buben vom Tantli zurück
+gesprungen sind. Sie gehen an der selben Stelle, wo sie mit dem Knaben
+so bitterlich geweint hat, als er endlich Stimmung und Worte für seine
+Freudenbotschaft findet. Zunächst ist sie erschrocken, daß er zu
+den andern Torheiten seiner Jugend auch noch die einer überstürzten
+Heirat über sie bringen will; wie sie den Namen Anna Schultheß hört,
+steigt das Wetterglas auf schön, da sie die Vorzüge der Person und der
+äußerlichen Vorteile in eins übersieht. Eine Schar Tauben flattert
+aus dem Feld, und ihre Sorgen fliegen mit; es fehlt nicht viel, so
+wanderten sie auch diesmal Hand in Hand zur Niederdorfporte hinein.</p>
+
+<p>Am nächsten Sonntag steht Heinrich Pestalozzi am Fenster und sieht
+die Mutter aus der Predigt kommen, zögernden Schrittes, weil nicht
+allzuweit hinter ihr auch die Anna Schultheß ihr Gesangbuch heimträgt;
+er hätte der Mutter nicht soviel List zugetraut, wie sie dicht unter
+seinem Fenster eine Nachbarin anspricht — was sie<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> sonst niemals tut
+— nur damit die Jungfrau an ihr vorbei muß. Sie grüßen sich still
+nickend, aber er von seiner Warte nimmt den Blick, mit dem sich die
+beiden Frauen umfassen, wie einen priesterlichen Segen wahr.</p>
+
+<p>Weiter als bis zu solchen Blicken freilich kommt es zunächst nicht, da
+die Mutter Annas sich hartnäckig der Verbindung mit dem unansehnlichen
+und — wie sie sagt — kindsköpfigen Wundarztsohn widersetzt; bevor
+Heinrich Pestalozzi nicht vor der Welt etwas anderes vorstellt, kann er
+nicht auf ein öffentliches Verlöbnis hoffen. Er offenbart sich Lavater,
+weil der den Berner Chorschreiber Tschiffeli kennt, der mit seiner
+Musterwirtschaft in Kirchberg als der beste Landwirt der Schweiz gilt
+und namentlich die Zucht der Krappwurzel für die Rotfärberei als ein
+neues und einträgliches Bauerngewerbe treibt. Lavater schreibt um eine
+Lehrstelle, und rascher, als Heinrich Pestalozzi es gedacht hat, tut
+sich für ihn eine Schlupftür ins praktische Leben auf. So schmerzlich
+ihm die Trennung von Anna ist, der Drang, aus der Ungewißheit seiner
+gescheiterten Studien in eine rechtschaffene Stellung vor der Welt zu
+kommen, läßt ihn keinen Tag zögern.</p>
+
+<p>Den letzten Abend ist er bei ihr draußen in Wollishofen, wo ihre Eltern
+ein Gütchen besitzen; sie haben sich schon mehrmals da getroffen, aber
+nun drängt die Wehmut des Abschieds zum Genuß der Stunde. Heinrich
+Pestalozzi fühlt, daß er wie ein Baum im Frühling ist; obwohl sie beide
+das Heiligtum ihrer Liebe zu hüten wissen, verblaßt die Nacht schon in
+den frühen Tag, als er aus Tränen und ewigen Gelöbnissen losgerissen<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span>
+am See vorbei nach Zürich zurückwandert. Es sind noch die selben Wege,
+es ist die Stadt mit dem Getürm ihrer Tore und Kirchen, und überall in
+den verschlafenen Häusern erwacht die tägliche Arbeit; nur er selber
+irrt nicht mehr mit ziellosen Sehnsüchten darin umher: Liebe und Beruf
+führen ihn aus ihrem Wirrwarr in die Einfältigkeit eines natürlichen
+Daseins hinaus, darin sein ländliches Besitztum, von der Anna
+Schultheß als Stauffacherin verwaltet, durch Wohlstand und Wohltun den
+Mittelpunkt einer Bauernschaft abgeben soll. Um in seinem Glück nichts
+von den Vorsätzen seiner Jugend zu verlieren, sucht er noch einmal sein
+Leben danach ab, sich feierlich für jeden einzelnen verbürgend, sodaß
+er aus dieser in Liebe durchwachten Nacht mit Gelöbnissen beladen im
+Roten Gatter ankommt.</p>
+
+<p>Da fängt der Abschied noch einmal an, und es gilt mehr als eine
+Trennung auf Wiedersehen: hier packt er für immer ein. Trotzdem geht
+alles viel leichter als in Wollishofen, und er schämt sich fast, mit
+welchen Scherzen er das Nest seiner Jugend verläßt. Der Himmel seiner
+Zukunft ist blausonnig wie der Septembermorgen, der seine Federwölkchen
+nur zum Spiel aufsteigen läßt; und als er im Postwagen gegen Baden
+und Aarau fährt, geht nicht ein trüber Gedanke mit. Lavater hat ihm
+das Bild seiner Anna auf ein Papier gemalt, das hält er in Händen und
+merkt nicht, wie die Mitreisenden sich über ihn lustig machen: sie ist
+die Sonne, aus der alles Licht aufgeht, so sehr, daß ihm die Bäume
+und Wiesen draußen in Schatten zu fallen scheinen, wenn er das Blatt
+umdreht.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span></p>
+
+<h3>35.</h3>
+</div>
+
+<p>Die Fahrt nach Kirchberg dauert zwei Tage; es ist die erste wirkliche
+Reise, die Heinrich Pestalozzi macht. Sie geht das Limmattal hinunter
+über Baden nach Brugg und dann im breiten Aaretal hinauf über Aarau
+ins Berner Vorland hinein; die Landschaft wechselt aus der waldigen
+Enge seiner Zürcher Heimat in die breite bernische Behaglichkeit, und
+auch die Sprache macht diesen Wechsel mit: er nimmt davon so wenig
+wahr wie von den Mitreisenden. Wenn ihn etwas so bewegt, wie jetzt
+der Abschied und die kreisenden Gedanken um das Ziel, verlieren seine
+Sinne den Zugang zum Bewußtsein; er kann stundenlang sitzen und ihren
+Wahrnehmungen keine Aufmerksamkeit schenken, sodaß sie gleichsam an den
+Zäunen Wächterdienste tun, indessen seine Seele im Garten ihrer selber
+spazieren geht.</p>
+
+<p>Erst als sie am zweiten Nachmittag ins weite Emmental hinein fahren
+und einer beim Anblick der ersten Krappfelder den Namen Tschiffeli
+ausspricht, wacht er auf und möchte am liebsten gleich aus dem Wagen
+springen, die berühmte Kultur der Färberröte zu sehen. Er weiß, daß es
+nur die Wurzeln sind, die den Farbstoff enthalten, an mannshohe Stauden
+mit stachligen Blättern und Blüten hat er nicht gedacht; als nun ein
+leiser Wind hindurch rieselt, erschließt sich ihm die beglückende
+Aussicht, daß dieser Anbau die Schönheit ländlicher Arbeit nicht
+vermissen lasse: wie beim Korn, beim Flachs und in den Wiesen gibt sich
+auch hier das Wachstum der Natur als ein Segen, der dem Menschen<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> mit
+allen Wundern der Blüte und der schwellenden Frucht in die Hände wächst.</p>
+
+<p>Er findet Tschiffeli als einen gebräunten Mann anfangs der Fünfziger,
+der diesen Überschwall wogender Felder aus einer verwahrlosten Öde
+geschaffen hat und wie ihr leibhaftiger Gottvater darin umher geht.
+Als blutarmer Leute Kind verdankt er alles der eigenen Kraft, die
+seine neumodischen Einfälle gegen die guten Meinungen und Ratschläge
+der Gewohnheit durchgesetzt hat, bis er als erfolgreicher Mann vor
+seinem Vaterland dasteht. Das gibt seinem mannhaften Wesen eine
+andere Geltung, als die Zürcher Herren sie aus ihrer Herkunft oder
+Gelehrsamkeit besitzen; Heinrich Pestalozzi fühlt hier einen Teil von
+sich selber zur Vollendung gekommen, und wenn er ihn Vater nennt,
+wie es auf dem Gut Sitte ist, liegt für ihn ein besonderer Sinn
+darin. Tschiffeli wiederum freut sich dieses Zöglings, der garnicht
+das Stadtsöhnchen spielt, den ganzen Tag in Hemdärmeln arbeitet und
+abends noch lustig ist zu Tabellen und Berechnungen. Wenn seine
+Ungeschicklichkeit auch viel mit zerschnittenen Fingern und Beulen zu
+tun hat, so ist doch noch niemand da gewesen, der seinen Spekulationen
+so begeistert und mit Verständnis anhängt.</p>
+
+<p>Es wird ein reicher Herbst und Winter für Heinrich Pestalozzi, der mit
+seinen eigenen Plänen hier nicht verlacht wird, wie bei den Freunden
+in Zürich, sondern einen bereitwilligen Berater findet. Wenn er sieht,
+wie Tschiffeli für die fünf Gemeinden seiner Güter ein Wohltäter
+geworden ist, indem durch ihn Ordnung und Verdienst dahin kam, wo
+vorher Unordentlichkeit<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> und Armut waren, erkennt er freilich auch,
+daß es wirksamere Mittel zur Übung der Volkswohlfahrt gibt als die
+öffentliche Anklägerei der jugendlichen Patrioten: das Beispiel und
+der Antrieb zur Selbsthilfe. So wie Tschiffeli im bernischen Land will
+er einmal im Zürcher Gebiet dastehen als der Mittelpunkt einer in
+planvoller Gemeinsamkeit fröhlich schaffender Bauernsame. Er kann einen
+wahren Spott mit sich selber treiben, wenn er an Winterabenden bei
+den Berechnungen hilft — wieviel Jucharten für diese und jene Kultur
+einzurichten wären, um mit der mutmaßlichen Ernte den Abschlüssen
+gerecht zu werden — und dann an seine Jugendläuferei in Zürich denkt,
+an den Schwall seiner Freunde, Pläne und Sehnsüchte, und wie hier
+alles sich selber zufrieden macht; die Zürcher Stadtbürger haben den
+schwarzen Pestaluz sicher kaum kritischer betrachtet, als er es nun
+selber tut.</p>
+
+<p>Aber feierlich wie das große Himmelslicht jeden Morgen hinter den
+Emmentaler Bergen wärmend und segnend über der Arbeit Tschiffelis
+aufsteigt, so steht die Liebe über seinem Tageslauf: sie weckt ihn in
+der Frühe und sie bläst ihm abends die Kerze aus, nichts gerät ihm,
+ohne daß er die Stimme Annas zu hören glaubt, und nichts mißrät, ohne
+daß er ihre Augen mit dem scherzhaften Tadel darin fühlt. Er hat sich
+eine feste Ordnung gemacht, ihr seine Erlebnisse und Erfahrungen zu
+schreiben, und da sie ebenso pünktlich antwortet, flechten die hin und
+her reisenden Briefe aus ihren getrennten Lebensläufen einen Zopf,
+darin die Hoffnung mit lustigen Schleifen eingebunden ist.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span></p>
+
+<h3>36.</h3>
+</div>
+
+<p>Es sind fast neun Monate, die Heinrich Pestalozzi als Lehrling der
+Landwirtschaft zubringt; aus dem Zürcher Theologiestudenten wird ein
+bernischer Bauernknecht, der stolz auf seine vernarbten Hände ist und
+Sonntags in Hemdärmeln zur Kirche geht. So findet ihn seine Braut, als
+sie ein freundliches Geschick zu einem Besuch in Kirchberg ausnützen
+kann. Ihr Bruder Kaspar hat eine Pfarrstelle im Württembergischen
+bekommen, die nach alten Herkünften den Zürcher Herren untersteht; er
+führt nun befriedigt seine Susanna Judith Motta aus dem Traverser Tal
+heim, eine Herzensfreundin der Schwester und auch Heinrich Pestalozzi
+aus ihrem Zürcher Aufenthalt wohlbekannt. Anna holt ihn zur Hochzeit
+ab, da es über Kirchberg kein zu großer Umweg ist, und sieht mit
+eigenen Augen das gelobte Land ihres Freundes.</p>
+
+<p>Es wird ein Jubeltag für Heinrich Pestalozzi, wie er noch keinen
+erlebte, als er seinem Meister Tschiffeli und allen Leuten auf dem Gut
+ein so stattliches und feines Frauenzimmer als seine Braut vorweisen
+kann. Sie hingegen ist sichtlich bestürzt über die Verwahrlosung seiner
+Hände und Kleider, doch findet sie sich rasch und folgt ihm in die
+Gärten und Felder, die Schauplätze seiner Wochenberichte nun selber
+zu sehen. Am Abend hat Tschiffeli dem Gast zu Ehren Wein und Blumen
+auf den Tisch gestellt, und da er in ihrer Gegenwart den Eifer und das
+Geschick seines Lehrlings mit anerkennenden Worten belegt, kommt der
+Besuch zu einem fröhlichen Abschluß, sodaß Heinrich Pestalozzi der Tag<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span>
+nicht mehr fern scheint, wo er selber mit ihr als solch ein Gutsherr
+dasitzen wird.</p>
+
+<p>Als sie andern Morgens miteinander in den Wagen steigen, gegen
+Burgdorf und Aarberg aus dem ländlichen Bereich seiner Bekanntschaft
+hinauszufahren, sitzen ein paar Stutzer aus Neuenburg darin, die ihn
+belächeln. Heinrich Pestalozzi im Eifer, ihr noch im Abfahren jeden Weg
+und Hügel seiner Welt zu zeigen, merkt nichts davon; sie aber zupft ihm
+seine Kleidung zurecht und wird schweigsamer, je weiter sie ins welsche
+Land hineinfahren. Zum ersten Male erlebt er, wie ihn mit der Sprache
+auch die Heimat verläßt; je näher sie an den waldigen Jura heranfahren,
+je seltener trifft ein deutsches Wort sein Ohr. Das letzte ist der
+Abschiedsgruß einer alten Bäuerin aus Erlach, die von Aarberg bis Ins
+mitreist; dann fährt er mit Anna allein in die welsche Welt, und obwohl
+er im Schutzgebiet der Eidgenossenschaft bleibt und obwohl die Sprache
+Rousseaus seiner Seele mit mancher Wendung vertraut ist: der fremde
+Klang schlägt an seine Ohren, als ob er ins Wasser geworfen wäre.</p>
+
+<p>Das wird im Val Travers nicht besser, wo sie spät abends von ihrem
+Bruder Kaspar und seiner Braut abgeholt werden; in Zürich hat die
+Judith Motta nicht anders als deutsch gesprochen, hier in ihrer Heimat
+ist sie welsch, und Heinrich Pestalozzi erleidet ein Gefühl, als ob ihm
+Anna von einer Strömung fortgerissen würde, wie sie nun selber in der
+fremden Flut untergeht. Als sie sich im Eifer vergißt und ihn selber
+in den welschen Lauten etwas fragt, vermag er ihr nicht zu<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> antworten,
+so schnürt ihm der Schrecken die Kehle zu. Er muß sich zwar am selben
+Abend doch dazu bequemen, weil die Verwandten — die im übrigen
+freundliche Leute sind — nur französisch sprechen; es macht ihm aber
+Mühe, dem ungewohnten Schwall zu folgen, und er spürt grimmig, wie
+seine Zunge über die fremden Silben stolpert.</p>
+
+<p>Er übersteht die Hochzeit indessen tapfer, und weil er neben einer
+ältlichen Tante aus Môtier sitzt, die für Rousseau schwärmt und ihn
+vielmals gesehen hat, als er noch selber mit seiner Therese da wohnte,
+vermag er sogar seine Scheu vor den welschen Worten zu überwinden.
+Sie bleiben aber ungeschickt auf seiner Zunge und geben Anlaß zu
+manchem Gelächter; namentlich die beiden Stutzer aus Neuenburg, die
+unvermutet auch Hochzeitsgäste sind und an seiner Kleidung wie an
+seinem bäuerlichen Wesen Anstoß nehmen, fangen an, ihren Spott mit ihm
+zu treiben, gegen den er sich um so weniger wehren kann, als er die
+Andeutungen in der fremden Sprache meist garnicht versteht. Da überdies
+die Verwandten der Anna ihr Mitleid nicht verhehlen, als ältliche
+Jungfer noch an einen solchen Tölpel geraten zu sein, und da die
+Geltung in der Welt des guten Tons ihre Empfindlichkeit ist, sieht er
+sie danach mehrmals weinen und hitzig an ihm werden, bis ein Vorfall am
+dritten Hochzeitstag seiner gequälten Stimmung Luft macht.</p>
+
+<p>Er hat das Haus sehen wollen, wo Rousseau wohnte; die Tante lud ihn
+und die andern ein, und so schwärmt am Nachmittag die geputzte Schar
+nach Môtier hinunter.<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> Anna hat Freundinnen gefunden und plätschert in
+der welschen Lustigkeit, als ob es ihr angeborenes Element wäre; der
+eine Neuenburger hat sich als ihr Galan an sie gehängt, während der
+andere angeblich als krank zurückgeblieben ist. Wie sie dann gegen das
+Haus kommen, das ihm die andern in aufdringlicher Freundschaft schon
+von weitem zeigen, geht die Tür auf, und augenscheinlich nach einem
+Kupferstich des berühmten Mannes zurechtgemacht, tritt eine Gestalt im
+Kaftan mit ausgebreiteten Armen heraus: Ob sie ihm sein Früchtchen,
+den Emil, wieder mitgebracht hätten? Bevor Heinrich Pestalozzi die
+Hänselei begreift, hat die Gestalt ihn gerührt ans Herz gezogen und ihm
+von hinten her eine Zipfelkappe aufgestülpt, worüber sich dann alle
+totlachen wollen. Er hört ihr Gelächter, als ob rundum Hunde bellten
+— auch Anna, so meint er, ist darunter — aber ehe sich der Komödiant
+dessen versieht, hat er ihn an der Gurgel, und als er unter dem Turban
+das fade Gesicht des andern Neuenburgers erkennt, schlägt er zu, daß
+dem die blutende Nase den Kaftan bemalt. Die andern springen abwehrend
+herzu, und der hämische Scherz ginge mit einer bösen Prügelei aus,
+wenn nicht Anna ihrem Freund die Hand von der Gurgel löste und ihn aus
+dem Rudel zöge. Vor ihrer Bestimmtheit weichen die andern zurück; ohne
+ihrer weiter zu achten, führt sie ihn ins Haus der Tante, deren Tür sie
+hinter sich verschließt.</p>
+
+<p>Das gute Wesen hat einen festlichen Kaffeetisch gedeckt und erlebt
+nun erschrocken, wie sich die andern drohend auf der Straße sammeln
+und mit Fäusten gegen<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> die Tür trommeln. Als ein Stein durchs Fenster
+herein fliegt, nimmt Anna ihren Verlobten wieder bei der Hand, führt
+ihn rasch durch den Garten gegen den Wald hinauf und auf einsamen Wegen
+zu den Verwandten zurück. Heinrich Pestalozzi ist noch lange erregt und
+will ihr nicht folgen auf dieser Flucht; aber mehr noch als der Zwang
+der festen Hand hält ihn der Klang ihrer Stimme. Sie spricht wieder
+die vertraute Sprache, und nach dem welschen Geschrei ist es ihm, wie
+wenn die Heimat selber in ihren Worten mit ihm spräche. Es war nur ein
+Scherz von ihnen, und ich hätte nicht aufbegehren sollen! sagt Heinrich
+Pestalozzi zuletzt und bleibt vor ihr stehen, als ob er sie beruhigen
+müsse; sie aber schüttelt den Kopf und wendet sich bittend von ihm
+ab: Daß du aufbegehrtest, war recht und ich hab dich lieb darum; aber
+wir hätten nicht herkommen sollen! Und dann nach einer Pause wieder
+gewaltsam lächelnd in ihrer schelmischen Art: Du mußt denken, daß die
+Traverser dem Rousseau auch die Fenster eingeworfen haben, bevor er auf
+die Flucht ging nach der Petersinsel.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>37.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat auch die Frühjahrsbehandlung der Krappkultur
+erlebt, und seine Lehrzeit geht zu Ende; aber noch immer fehlt ihm
+das Jawort aus dem Pflug, sodaß er von dem zukünftigen Gut nicht mehr
+als den Hausschlüssel der Liebe in den Händen hält. Um ihren Eltern
+einen andern Begriff von dem schwarzen Pestaluz zu geben, schreibt
+er der Anna eine<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> für fremde Augen geeignete Darlegung seiner Pläne
+mit scharfsinnigen Berechnungen der Rentabilität, wie er gleich
+seinem Lehrer Tschiffeli Ödland ankaufen und zur Krappkultur instand
+setzen wolle; nur zwanzig Jucharte, davon fünfzehn dem Krapp und fünf
+der Gärtnerei dienten. Artischoken, Spargel, Cardiviol und anderes
+Feingemüse im großen zu gewinnen und teilweise erst im Frühjahr — nach
+einer neuen Art der Überwinterung — mit doppeltem Abtrag zu verkaufen,
+dagegen keine Wiese, keine Äcker, keine Reben und wenig Vieh zu haben:
+das solle die nährende Grundlage seiner Landwirtschaft sein, daraus er
+genügenden Unterhalt zu finden glaube!</p>
+
+<p>Es ist alles wie für eine Doktorarbeit durchgedacht; aber die
+praktischen Eltern im Pflug sehen den Scharfsinn auf die Mitgift ihrer
+Tochter gegründet und sind weniger als je geneigt, damit in ungewisse
+Projekte einzutreten; sie halten in den Dingen des Erwerbs praktische
+Hände für wichtiger als Ideen und finden in solchen Projekten nur
+den Bessermacher aus dem Roten Gatter, dem sie die Mitgift mit einem
+glatten Nein zudecken, in der Hoffnung, daß ihnen dann auch die Tochter
+bliebe.</p>
+
+<p>So kommt Heinrich Pestalozzi im Frühsommer als ein von Sonne und Regen
+gebräunter Landwirt ohne Land nach Zürich zurück; auch seine Hoffnungen
+auf die wohlhabende Tante Weber in Leipzig erfüllen sich nicht; der
+Doktor Hirzel verschafft ihm zwar die Aussicht, das Pachtgut der
+Johanniter in Bubikon zu übernehmen, doch geht ein so weitschichtiger
+Betrieb über<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> seine Kräfte. Verdrießlich an dieser Ungewißheit und weil
+es regnet, steht er eines Tages unter den Lauben, als ihm jemand die
+Hand auflegt; wie er umsieht, ist es der Pfarrer Rengger aus Gebistorf
+bei Brugg, den er aus seiner Kollegienzeit kennt. Der fragt ihn aus
+nach seiner Lehrzeit bei Tschiffeli, und als dabei der Grund seiner
+Verdrießlichkeit zutage kommt, spricht er scherzend von dem Birrfeld
+bei Brugg; dort habe man vor kurzem noch steinichte Äcker umsonst
+ausgeboten: wenn er etwa bei dem Hexenmeister in Kirchberg die Kunst
+gelernt habe, aus Steinen Brot zu machen, fände er dort Feld genug.</p>
+
+<p>Er hat nur einen spöttischen Scherz machen wollen; aber Heinrich
+Pestalozzi nimmt den Vorschlag ernst und ist gleich eifrig dabei,
+Näheres zu wissen. Da dem andern nicht mehr als der allgemeine
+Verruf des Birrfeldes bekannt ist, führt er ihn von der Gasse weg
+ins Weiße Rößli am See, wo er sich — um einer geistlichen Tagung
+willen in Zürich anwesend — mit dem Pfarrer Fröhlich aus Birr und
+andern Kollegen abgesprochen habe. Der weiß genauer zu berichten:
+daß im ganzen fünf Gemeinden an dem Birrfeld teil hätten, daß es
+vielleicht mehr als andere Gegenden an der Mißwirtschaft des Weidganges
+leide, aber durchaus nicht nur ein wüstes Heideland sei, wie es
+verschrien wäre. Er rät Heinrich Pestalozzi, als er seine Absichten
+hört, ernsthaft zu einer Besichtigung, und da ihn nun auch Rengger
+freundschaftlich einlädt, springt er mit beiden Füßen in den Plan ein;
+um so mehr, als der Pfarrer Fröhlich von einem burgähnlichen Gebäude
+in<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> Müligen an der Reuß spricht, seit altersher der Turm genannt, das
+mit Scheune, Stall und Garten zu mieten wäre.</p>
+
+<p>Noch in derselben Woche ist er nach Gebistorf unterwegs; er findet das
+Birrfeld als eine stundenweite Hochfläche, die zur Reuß mit steilen
+Waldhängen abfällt und sich in steinichten Halden gegen das Kalkgebirge
+des Kestenbergs hebt, auf dem das alte Schloß Brunegg steht. Von einem
+mit Kiesgeröll gemischten Moder bedeckt und an vielen Stellen sumpfig
+wie ein altes Seebecken, ist sie mit Wacholder und kleinen Tännchen
+bestanden und bietet den Anblick einer Heide, obwohl sie da, wo sie
+wirklich bebaut ist, garnicht so üble Felder zeigt. Namentlich aber
+gefällt ihm die Wohnung in Müligen; mit Efeu dicht berankt und unter
+Bäumen am Hügelabhang sonnig gelegen, scheint sie ihm wohl geeignet als
+Nest für sein kommendes Glück. Sie gehört einer begüterten Familie in
+Brugg, und er beeilt sich, sie für vierzig Gulden jährlich zu mieten.
+Der heimlichen Liebsten kann er nur in Briefen blühende Schilderungen
+davon machen; aber seine Mutter kommt bald auf einem Wagen, das Nest
+mit einem Bett und dem nötigsten Hausrat einzurichten. Es wird anders
+mit ihren Söhnen, als sie gehofft hat: der eine tut als Kaufmann nicht
+gut, und der andere hat mehr als ein Dutzend Jahre die Schulbänke
+gedrückt, um die Weltverlassenheit dieser Bauernschaft als sein Glück
+zu preisen. Sie vermag bei seinen Freudensprüngen nicht mehr zu lächeln
+und sieht über die Stundenweite des Birrfeldes mit einer trostlosen
+Wehmut hin. Dies wird<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> einmal ein einziges Gartenfeld sein! sagt
+Heinrich Pestalozzi und begreift die ärmlichen Dörfer des Landes in
+einer großmächtigen Armbewegung. Sie zieht das schwarze Witwentuch um
+ihre schmächtige Gestalt, als ob sie fröre; doch als er sie dann fast
+knabentrotzig fragt, ob sie es nicht glaube? weht ihr ein Lächeln alles
+Trübe fort aus dem blassen Gesicht: Wie soll eine Mutter anders als
+gläubig zu ihren Kindern sein!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>38.</h3>
+</div>
+
+<p>Jeden Morgen steigt Heinrich Pestalozzi den steinichten Hügelweg
+hinauf, das Birrfeld wie ein Eroberer zu durchqueren; die Mutter hat
+ihm einen Rest des väterlichen Vermögens mitgebracht, den sie zur Not
+entbehren kann, und so kann er auf eigenen Landerwerb ausgehen. Er
+findet die besten Plätze bald in den Hummeläckern, die ziemlich mitten
+im Birrfeld liegen und zu der Gemeinde Lupfig gehören. Die Üppigkeit
+einiger Kirschbäume gibt ihm Gewißheit, daß der verwahrloste Boden mit
+guter Düngung bald ertragreich zu machen wäre, und rasch entschlossen
+wendet er siebenundfünfzig Gulden an, sich vier bis fünf Jucharte davon
+zu kaufen, die er mit allem Eifer seiner gelernten Künste aus einem
+Mergellager am Kestenberg aufbessern will. Darüber aber kommt er bei
+den Leuten der Gemeinde auch schon ins Gespräch als Herrenbauer, und
+mehr als einer hört die ungewohnte Geldquelle gegen seine Äcker rinnen.
+Als er darauf mit weiteren Ankäufen zögert, fangen die bäuerlichen
+Listen an, sich mit Wegerechten, Weidgang und andern Vorwänden drückend
+zu machen, sodaß<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> er wohl oder übel zu höheren Preisen kaufen muß.</p>
+
+<p>In diesen Schwierigkeiten, die ihn allein befallen, weil seine Mutter
+wieder nach Höngg zum kranken Großvater gerufen ist, geht er eines
+Nachmittags verdrießlich nach seinem Turm zurück, als ihn ein Mann
+mit seinen Wägelchen einholt und aufsteigen heißt, da er gleichfalls
+nach Müligen führe. Er hat den Mann auf seinen Gängen schon mehrmals
+angetroffen, und weil ihn die Mißlichkeiten müde und unlustig zum Gehen
+gemacht haben, nimmt er das Angebot gern an. Unterwegs holt ihn der
+andere beiläufig aus, ob er auf seinem Hummelacker zu bauen gedächte,
+und als er das bejaht: ob er denn Wasser habe? Warum er nicht weiter
+aus dem Birrfeld hinaus, etwa da oben in den Letten baue? Da habe er
+Quellen genug, brauche sich mit keinem Anlieger herumzuschlagen und sei
+Herr auf seinem Boden. Billiger als da unten sei das Land sicher, wo
+auch sonst die Lupfiger keine günstige Nachbarschaft wären.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi weiß, daß der Mann, den er von seinen Gängen her
+als einen Metzger und Wirt aus Birr mit Namen Märki kennt, wohlhabend
+und durch seine Geschäfte bewandert in allen Verhältnissen der Gegend
+ist. Irgendwie fällt ihm das Wort Bluntschlis von dem Ratgeber ein, und
+da ihn der Mann im Sprechen auffällig an seinen Lehrmeister Tschiffeli
+erinnert, nur daß er genau so drastisch in seinen Ausdrücken wie
+jener vorsichtig ist, sieht er ihn prüfend von der Seite an und nicht
+unlustig, seine Dinge mit ihm zu besprechen. Der aber scheint von dem
+Gespräch genug<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> zu haben, kutschiert gleichmütig darauf los, bald hier
+bald dort mit dem Peitschenstiel auf eine Merkwürdigkeit deutend, sodaß
+Heinrich Pestalozzi fast bedauert, als sie hart bremsend den letzten
+gewundenen Abstieg nach Müligen hinunter fahren. Eine Einladung, bei
+ihm für einen Augenblick abzusteigen, nimmt der Mann nicht an, da er es
+wegen der Dunkelheit eilig habe. Bald sieht er ihn denn auch wieder den
+Weg hinauf kutschieren, rüstig zu Fuß, das Pferd am Zügel führend.</p>
+
+<p>Schon am andern Tag macht er einen Weg in die Letten hinauf; er findet
+den Boden mit vermodertem Kalkgestein durchsetzt, das vielfach auch
+mit einem beinernen Glanz zutage liegt: Hier ist wirklich Ödland, aber
+wo der Hang ins ebene Feld ausläuft, doch wieder guter Boden, vor
+allem aber ist reichlich Wasser da, und die abseitige Lage lockt ihn
+besonders. Als er bis an den Waldrand hinaufgegangen ist und von da
+unter einem Nußbaum über das stundenweite Birrfeld hinsieht — stärker
+als je in dem Traum, es von hier aus stückweise zu erobern und ein
+Gartenmeer daraus zu machen, das Wohlstand in all die ärmlichen Dörfer
+rundum verbreiten soll — hört er hinter sich seinen Namen rufen, und
+als er umsieht, steht der Märki dort und winkt ihm. Augenscheinlich
+will er nicht gesehen werden, und so steigt Heinrich Pestalozzi zu
+ihm hinauf in den Wald. Der selbe Mann, der gestern gleichmütig war,
+scheint heute wütend: falls er etwa die Absicht habe, hier zu kaufen,
+so möge er sich selber das Geschäft nicht verderben, indem er hellen
+Tags hier herumlaufe!<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> Bauern seien Bauern: wenn er, der Märki, etwa
+hinginge und ihnen bares Geld für einen Acker brächte, wären sie
+noch so froh; so aber der Herrenbauer käme, glaube jeder gleich das
+große Los zu spielen. Er wolle sich mit diesem Beispiel nicht etwa
+aufdrängen, er habe hier nur zufällig einer Klafter Kleinholz nachgehen
+wollen, die überm Winter vergessen worden sei. Da er ihm aber nun
+einmal den Rat gegeben habe, möge er natürlich nicht, daß er dabei zu
+Schaden käme und ihm schließlich noch Vorwürfe mache!</p>
+
+<p>Nichts für ungut, sagt er dann wieder höflich, als er das alles mit
+rotem Kopf mehr geschimpft als gesprochen hat, lüpft an seiner Kappe
+und geht davon, gefolgt von einem Metzgerhund, der sich faul aus der
+Sonne aufhebt. Heinrich Pestalozzi bleibt wie ein gescholtener Schüler
+zurück, doch ist er dem Mann dankbar; wenn er an die Tagelöhner in
+Lupfig denkt, daß nie einer ein richtiges Wort aus den Zähnen läßt und
+jeder an seinem Mißtrauen würgt, irgend einen Vorteil zu verlieren, so
+ist dies doch von der Leber gesprochen. Er folgt seiner Weisung, geht
+nicht über Birr, sondern im Bogen durch den Wald gegen die Hummeläcker,
+wo ihm nun nichts mehr gefällt, sodaß er seine Pläne umdenkend nach
+Müligen heimkehrt. Noch am selben Abend schickt er dem Märki eine
+Botschaft nach Birr hinauf, und nun wird es rasch ein anderes Geschäft
+für ihn: in knapp acht Tagen hat er durch den gewandten Unterhändler
+zehn weitere Jucharte dazu gekauft, nicht übles Land, noch in der
+Ebene gegen den Letten gelegen, sodaß er einen guten Platz für sein
+Haus, einen Brunnen<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> dazu und Land genug besitzt, um seine Plantage
+zu beginnen. Daß die nun in zwei Stücken auseinander liegt, die
+Hummeläcker mitten im Birrfeld und das andere eine gute halbe Stunde
+weiter hinauf am Letten, beunruhigt ihn ebensowenig wie der doppelte
+Preis: auch Tschiffeli hat so zerstreut Boden fassen müssen, und
+schließlich ist doch alles ein großer Besitz geworden. Seitdem er den
+Metzger Märki als Ratgeber hat, fehlt es ihm nicht mehr an Zutrauen,
+daß auch sein Traum gelingt. Denn daß er selber in die Hände eines
+Mannes geraten ist, der vieles zu sich heranbiegt, um daraus nichts als
+seinen Nutzen zu haben — was unter Kaufleuten die einzige Moral ist —
+während er sich selber einen Nutzen immer nur erträumt, um eine Quelle
+des Wohlstandes für die andern zu sein: das soll er noch erst erfahren.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>39.</h3>
+</div>
+
+<p>Über dem ist der Herbst gekommen und weht Heinrich Pestalozzi die
+dürren Blätter vor die Haustür; die Singvögel ziehen der scheidenden
+Sonne nach, und abends steigen die Nebel kalt aus der Waldschlucht,
+darin die Reuß ihr spärlich gewordenes Wasser der Aare zuführt: nach
+dem Sommer mit der sonnigen Fülle seiner langen Tage kommt der Winter,
+der die Menschen in den Kreis der Lampe drängt. An der seinen war das
+Messing blank, als Anna sie schenkte: aber ihre Hände sind nicht da,
+es zu putzen. Nicht einmal ein Stück Vieh steht im Stall, und Heinrich
+Pestalozzi, der doch ein Stadtkind und gewohnt ist, über seine Dinge zu
+sprechen,<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> sitzt Abend für Abend allein in seinem Turm. Die Mutter kann
+nicht mehr kommen, weil der Großvater sie wieder nach Höngg gefordert
+hat; und dem Bärbel war es bald zu grauslich zwischen Wald und Wasser.
+Seit seinem heimlichen Verlöbnis ist mehr als ein Jahr verstrichen,
+Anna hat im Sommer schon ihren dreißigsten Geburtstag erlebt, und immer
+noch steht die Weigerung der Eltern vor der gemeinsamen Zukunft. Die
+Melancholie der Einsamkeit läßt ihren bitteren Saft in seine Stunden
+fließen, und andere Briefe flattern nach Zürich, als sie aus Kirchberg
+gingen. Einigemal reist er selber hin, auch nach Brugg kommt er
+Samstags, die Schaffhäuser Zeitung zu lesen: aber es ist eine tote Zeit
+für Heinrich Pestalozzi, da er zum erstenmal den einsamen Winter des
+Landmanns wirklich zu spüren bekommt.</p>
+
+<p>Noch im Spätherbst haben auf einer Spazierreise zu Pferd einige Freunde
+aus Zürich bei ihm angeklopft, um sich den Scherz eines Besuchs bei
+dem Einsiedler von Müligen zu machen; sie waren überrascht, alles
+so heimelig bei ihm zu finden — das Bärbel war gerade da — und
+namentlich der Johannes Schultheß aus dem Gewundenen Schwert, dessen
+Vater Bankgeschäfte macht, zeigte für seinen Plan viel Aufmerksamkeit.
+Er hat ihm unterdessen mehrmals geschrieben und ist tatsächlich auch
+bei seinem Vater nicht untätig geblieben; als endlich das letzte
+Schneewasser mit hundert Bächen die Reuß braun färbt und die ersten
+vorwitzigen Singvögel den Sonnenschein prüfen, geht Heinrich Pestalozzi
+in der Entschlossenheit eines Verschwörers nach Zürich, mit dem
+Bankherrn in eine Geschäftsverbindung zu<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> kommen. Es dauert zwar noch
+ziemlich eine Woche, und er muß sich manche Laune des aufbrausenden
+alten Herrn gefallen lassen; aber der Sohn läßt nicht locker, und
+schließlich kommt eine Abmachung zustande, daß der Bankiers mit einem
+Einsatz von fünfzehntausend Gulden allmählich in seine Pflanzung
+eintreten will und ihm gleich ein Drittel dieser Summe als Kredit
+eröffnet.</p>
+
+<p>Damit steht Heinrich Pestalozzi vor den Kaufmannsleuten im Pflug als
+einer ihresgleichen da, und als er aus dem Gewundenen Schwert an die
+Limmat hinaustritt, seinen Kreditbrief in der Hand, wagt er damit
+auch den zweiten Gang. Er findet aber niemand zu Haus als den Bruder
+Salomon, da die Eltern mit Anna nach Wollishofen hinaus gegangen
+sind; das ist ein bequemer und weichlicher Mensch, der mit seinem
+Doktorstudium nicht fertig wird und den Schwarmgeist aus dem Roten
+Gatter wie eine Brummfliege haßt: er steht nicht einmal auf von der
+Polsterbank, und als ihm Heinrich Pestalozzi seinen Kreditbrief zeigt,
+spöttelt er, die Schwester sei ihnen kostbarer als solch ein Stück
+Papier. Auch Anna, die er am Abend für eine Stunde sieht, vermag ihm
+keine bessere Hoffnung zu geben, da die Mutter unversöhnlich sei und
+der Vater nichts gegen sie vermöchte. So muß er andern Nachmittags doch
+wieder ohne Braut in das Limmatschiff steigen.</p>
+
+<p>Vorher ist er noch einmal nach Höngg hinaufgegangen, wo sein Freund
+Wüst als Vikar das Pfarramt versieht, dessen Würden der Großvater
+nur noch in seiner Studierstube zu tragen vermag. Er ist mit seinen
+sechsundsiebzig Jahren ganz wunderlich geworden, schüttelt zu<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> allem,
+was er ihm sagt, nur den leeren Kopf, als ob er genug von den Dingen
+der Erde gehört habe. Erst wie er Abschied nehmen will und die zittrige
+Geisterhand in die seine nimmt, hebt er den anderen Zeigefinger, ihn zu
+vermahnen, läßt aber gleich wieder ab und schüttelt von neuem den Kopf,
+sodaß Heinrich Pestalozzi nichts vermag, als weinend seinen Mund auf
+die kraftlosen Hände zu legen.</p>
+
+<p>Im Juli danach ist er tot; Heinrich Pestalozzi erhält die Nachricht
+so spät, daß er das Leichenbegängnis nicht mehr erreicht; wie er
+nach der langen Postfahrt den Berg hinauf hastet, kommt ihm auf der
+Straße still weinend Anna Schultheß entgegen, die außer dem Willen
+ihrer Eltern mit auf den Kirchhof gegangen ist und nun nach Hause
+will. Ihr so unvermutet auf dem Berg seiner Jugend zu begegnen, das
+reißt ihn hin; und auch sie ist durch das Ereignis so bewegt, daß die
+beiden sich aller Augen zum Trotz weinend in die Arme fliegen. Nachher
+gehen sie Hand in Hand nach Höngg zurück, wo unter den leidtragenden
+Amtsgenossen des verstorbenen Dekans noch die Mutter mit dem Bärbel
+ist. Heinrich Pestalozzi läßt auch da die Hand der Geliebten nicht
+los, und sie sträubt sich nicht, sodaß sie wie zwei Kinder an den
+frischen Grabhügel kommen. Beide entsinnen sich da des Grabes, das
+ihre Freundschaft zusammen führte; aber während er sie nun losläßt und
+weinend niederkniet, bleibt sie aufrecht und verharrend bei ihm stehen,
+bis sein Blick sie wiederfindet. Dann gibt sie ihm die Hand zurück,
+und weil er seiner Füße nicht geachtet hat, kommt es so, daß sie<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> zu
+beiden Seiten des Grabes stehen, über dem ihre Hände sich für immer
+geschlossen halten.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>40.</h3>
+</div>
+
+<p>Seit dieser Begegnung in Höngg müssen die Kaufmannsleute im Pflug
+einsehen, daß nichts mehr ihre Tochter vor dem schwarzen Pestaluz
+bewahren kann. Als nacheinander seine Freunde Füeßli und Lavater —
+der nun schon Diakonus ist — sich um die Liebenden bemühen, als der
+wohlhabende und angesehene Doktor Hotz von Richterswil als Freiwerber
+für seinen Neffen erscheint und mit dem Antistes Wirz selbst der
+Bürgermeister Heidegger ein Wort für die Heirat findet, schickt sich
+die Mutter grollend in die Gewalt und gibt die Tochter frei; jedoch nur
+sie selber, ohne Aussteuer, allein die Kleider, ihren Sparhafen und
+das Klavier darf sie mitnehmen. Heinrich Pestalozzi kommt mit einem
+Wagen von Brugg, sie abzuholen; er hat sich den Tag anders gedacht, als
+daß er sie gleich einer Verstoßenen wegführen müsse. Der Zunftpfleger
+ist aus dem Hause gegangen, den Auftritt nicht zu erleben; die Mutter
+empfängt ihn ohne Gruß wie einen Landfahrenden und gibt der Tochter den
+zornigen Spruch mit, daß sie bei ihm noch einmal mit Brot und Wasser
+zufrieden sein müsse! Aber Anna verhält sich tapfer und schön; sie
+fühlt nun andere Mächte über sich als die elterliche Gewalt, und obwohl
+sie ihr Gesicht blaß geweint hat, steht keine andere Sorge darin, als
+der Mutter nicht hart zu begegnen.</p>
+
+<p>Es fällt ein leichter Frühregen, wie sie durch die Sihlporte<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> hinaus
+auf der Straße nach Alstetten ihren Auszug beginnen; Heinrich
+Pestalozzi hat die Geliebte eben noch in der Wohlhabenheit ihres
+Hauses gesehen, die nun fröstelnd in der kühlen Nässe neben ihm auf
+dem ärmlichen Fuhrwerk sitzt: so überkommt ihn die Wehmut, wie traurig
+es für sie sein müsse, die Heimat so zu verlassen und mit ihm ins
+Ungewisse zu fahren. Sie aber, die alles schon durchlebt hat, was
+bitter daran ist, sieht nicht ein einziges Mal zurück; sie nimmt nur,
+als sie seine Gedanken fühlt, mit einem tapferen Lächeln seine Hand
+— die nun ihre Heimat sei — und in ihren Augen, die nicht dunkel
+und voll Unruhe wie die seinen, sondern hell und ruhig sind, steht
+der geklärte Entschluß aus harten Monaten, treu zu beharren bei ihrem
+Herzen und dem Schicksal alles zu bezahlen, was es für die späte Liebe
+fordert. So Hand in Hand beieinander auf ihren Siebensachen sitzend,
+fahren sie durch den Herbsttag hin, der schon bei Alstetten zwischen
+aufgeregtem Gewölk ein blaues Auge zeigt und gegen Baden die Sonne
+zärtlich scheinen läßt.</p>
+
+<p>Bis zur Hochzeit bleibt Anna Schultheß bei dem Pfarrer Rengger in
+Gebistorf, der auch der Freund ihres Bruders ist; dort in der alten
+Dorfkirche werden sie am letzten September getraut. Nachher gehen
+sie miteinander nach Müligen, wo ihnen das Babeli ein einfaches Mahl
+bereitet hat und mit einem bäuerlichen Spruch für die junge Frau unter
+der bekränzten Haustür wartet. Anna dankt dem treuen alten Wesen mit
+einem Kuß auf die runzelige Stirn und heißt es mit in ihrer Reihe
+sitzen, wie sie Heinrich Pestalozzi leise sagt, als Ehrengast.<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> Der
+sieht die Braut allein von ihrer Sippe in der Mitte der Seinigen, als
+wäre er noch immer zu Haus; aber es sind andere Räume, und unmerklich
+ist in seinem Leben die Anna Schultheß an die Stelle der Mutter
+gerückt. Sie sitzen nebeneinander, die ihn geboren hat und die ihm
+Kinder bringen soll; es scheint ihm, als wären sie Schwestern, so
+ähnlich sind sie. Das ist so stark, daß ihm die beiden auf einmal
+entfremdet scheinen, weil er die eine nur als Mutter gekannt hat
+und staunend fühlt, wie unbekannt ihm ihre Frauenwelt war; in diese
+Frauenwelt aber ist die andere nun durch ihn eingefordert worden.
+Da fühlt er tief, daß menschliches Glück nicht in der Erfüllung der
+eigenen Wünsche bestehen könne, weil ein Mensch mit seinen Wünschen im
+Gefängnis einsamer Dinge bliebe. Nur, wessen Seele in andere Seelen
+einginge, könne aus der Enge seines zufälligen Daseins ins Leben kommen!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>41.</h3>
+</div>
+
+<p>Als Heinrich Pestalozzi Anna Schultheß aus ihrem wohlhabenden
+Stadtbürgertum in seine bäuerliche Einsamkeit holt, ist sein Besitz auf
+neununddreißig Jucharte angewachsen, die meist im steinichten Letten
+am Fuß und Abgang des Kestenbergs liegen. An die geplante Gärtnerei
+kann er nicht denken, solange er selber noch so weit entfernt von
+seinen zerstreuten Ländereien in Müligen wohnt; so beginnt er auf dem
+Hummelacker wie auf den unteren Feldern im Letten seine Krappkultur und
+sät die minderen Flächen vorerst mit Esparsette an, weil er weiß, daß
+dieser Futterklee auch<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> auf steinichtem Boden gerät und das Land für
+anderen Anbau fruchtbar macht: das eifrigste seiner Geschäfte aber ist
+der Plan eines eigenen Wohnhauses, das den zerstreuten Besitz erst zu
+einem Gut machen muß, und mancher glückliche Herbstgang mit der tapfer
+erkämpften Lebensgefährtin gilt der Bestimmung des Platzes, wo sie als
+Hausfrau seiner Besitzung walten soll.</p>
+
+<p>Auch was hierbei wehmütig ihre Schritte begleitet, daß ihr das eigene
+Elternhaus feindlich versperrt sei, erfährt bald eine unvermutete
+Wendung: ihrem Vater, dem Zunftpfleger zur Saffran, ist augenscheinlich
+die Trennung von seiner einzigen Tochter das eigentliche Ärgernis an
+ihren Heiratsplänen gewesen — um so mehr, als er mit den Söhnen nicht
+aufs beste steht und oft Verdruß mit ihnen hat — und auch die Mutter
+sieht nach der Trennung ein, daß es besser sei, eine Frau Pestalozzi
+als gar keine Tochter mehr zu haben. Nicht länger als zwei Monate hält
+ihr gekränkter Bürgerstolz der Sehnsucht stand, dann kommen Briefe nach
+Müligen, die deutlich nach einer Aussöhnung verlangen; und eben will
+der Winter das einsame Paar einschneien, als eine Einladung erscheint,
+den vorenthaltenen elterlichen Segen zu holen, damit Weihnachten keinen
+Unfrieden mehr in der Familie fände. Mitte Dezember schließen sie
+frühmorgens in dunkler Kälte die Haustür in Müligen ab und sind abends
+miteinander im Pflug, wo die Rührung des Wiedersehens die verlegene
+Erinnerung an die lange Zwietracht im ersten Augenblick zudeckt und
+danach rasch ein so erträgliches Verhältnis entsteht, daß sie statt
+der gewollten drei Tage<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> bis über Weihnachten bleiben. Es kommt nun
+doch noch zu den verwandtschaftlichen Besuchen; die Mutter Pestalozzi
+erscheint im Pflug, und die Zunftpflegersleute bemühen sich zum Essen
+ins Rote Gatter, wo die geborene Hotzin sie mit den Formen ihrer
+Jugend empfängt. Auch sonst gehen die jungen Leute den Fäden ihrer
+Freundschaften nach, und der heilige Abend kommt als der Schlußpunkt
+fröhlicher Festwochen. Um den Übermut zu vollenden, erscheint der Oheim
+Hotz von Richterswil mit aller Behaglichkeit seines Alters und nimmt
+sie mit auf eine Schlittenfahrt nach Hegi und Winterthur. Als sie
+endlich, diesmal im Schiff, aus dem winterlichen Zürich heimfahren,
+sind sie beschüttet von Segenswünschen und Versicherungen herzlicher
+Freundschaft; denn der Heinrich Pestalozzi, im Pflug als Tochtermann
+angenommen, steht anders vor der Welt da als der Wundarztsohn, der mit
+der Tochter im Unfrieden auf einem Bauernfuhrwerk davongefahren ist.</p>
+
+<p>So hätten sie Anlaß, fröhlich auf dem Wasser zu sein, das von der
+winterlichen Mittagssonne dampft, und Anna sagt es auch, noch von dem
+Übermut des Abschieds voll: daß dies erst ihre rechte Hochzeitsfahrt
+sei. Aber ihre Fröhlichkeit schwimmt nur noch wie das Schiff auf dem
+dunklen Wasser; und als ihr Heinrich Pestalozzi ins Auge sieht, traurig
+fragend mit diesem Blick, wie sie das meine, kommt sie unvermutet ein
+tiefes Weinen an, das er viel eher als den Übermut versteht. Ihm ist
+aus dem Lärm dieses Mittags schon vorher die Wehmut aufgestiegen,
+daß sie auf ihrem Wagen damals, den er selber durch den regnerischen
+Herbsttag<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> lenkte, einander näher gewesen seien, und mehr als dies,
+daß sie näher am Herzen Gottes gehangen hätten als jetzt auf dieser
+schaukelnden Schiffahrt, wo sich ihre Hände aus der Zerstreuung so
+vieler Tage nicht zu finden vermögen.</p>
+
+<p>Erst als sie von Turgi noch unter der mondhellen Sternennacht den
+langen Weg nach Müligen wandern und kein Wort sprechen, verliert sich
+Klang und Schaum der überfüllten Tage bis auf den letzten erdigen Rest,
+der ihnen bitter schmeckt — bis sich noch vor der Haustür Hand und
+Mund zum innigen Gelöbnis finden.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>42.</h3>
+</div>
+
+<p>Andern Morgens im Frühdunkel verläßt Heinrich Pestalozzi das Haus, um
+noch einmal nach den Feldern zu sehen, darüber er am selben Vormittag
+in Königsfelden vor dem Landvogt den Kaufvertrag machen will. Auf dem
+einen steht der breite Nußbaum, unter dem er oft mit seiner jungen
+Frau gestanden und das zukünftige Besitztum überblickt hat; da soll
+dann ein schattiger Sitzplatz sein. Es ist kaum hell, als er hinkommt;
+um so mehr erstaunt er, als Anschläge klingen und gleich darauf ein
+schwerer Baum krachend niederstürzt; wie er Böses ahnend zuläuft,
+liegt der Nußbaum auf der Erde, und der ihn gefällt hat, ist der Mann,
+von dem er den steinichten Acker um dieses Nußbaums willen nicht eben
+billig kaufen will. Es ist, wie er weiß, ein Tanner — so nennen sie
+die Tagelöhner im Birrfeld — dem es mit sieben Kindern übel geht und
+dem er deshalb auf Zureden Märkis auch den geforderten Kaufpreis<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> ohne
+Abrede zugestanden hat. Da er nur zufällig noch auf den Acker gekommen
+ist und ihn andernfalls gekauft und bezahlt hätte, macht ihn die
+Niedertracht des Mannes wütend, sodaß er schimpfend gegen ihn anläuft.
+Der aber ist selber so im Zorn, daß er die Axt gegen ihn hebt; und
+als er seinem Frevel dann mit Worten beikommen will — nun kaufe er
+den Acker überhaupt nicht oder nur um die Hälfte des Kaufpreises —
+schlägt der Mann die Axt in den Stamm, daß es zischt: das sei ihm beim
+Leibhaftigen gleich, und nur der Märki habe den Schaden davon! Seine
+Wirtsschulden würden ihm doch falsch angekreidet, und er bekäme keinen
+Kreuzer von dem Kaufgeld. Den Baum habe er als Knabe selber gepflanzt
+und er solle auch keinem andern gehören!</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat schon mehrmals solche Dinge von dem Märki
+vernommen, und von dem Pfarrer weiß er, daß die Leute um seiner
+Verbindung mit dem Metzger willen gehässig gegen ihn sind; aber daß der
+ihn betrügt wie hier, wo er sich den höheren Kaufpreis in seine eigene
+Tasche gehandelt hat, das ist ihm eine bittere Erfahrung. Er geht
+traurig von dem Platz fort und läßt dem Märki durch einen Boten sagen:
+er könne nicht mit ihm fahren, würde aber pünktlich in Königsfelden
+sein. Als er dann nach einer verstimmten und nicht gradlinigen
+Wanderung den großspurigen Mann sieht, der auch unter Menschen immer
+dasteht, wie wenn er gleich zu metzgen anfangen möchte, hat er nicht
+den Mut, ihm den Handel auf den Kopf zuzusagen, unterschreibt auch
+den Kaufvertrag trotz dem gefällten Nußbaum<span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span> — da der Märki die
+Vollmacht des Tanners vorweist — und ist erschrocken über soviel
+Verschlagenheit. Nur auf seinen Wagen steigt er auch diesmal nicht,
+und erst, als der andere ihn augenscheinlich um seiner Verstimmung
+willen in allerlei Gesprächen aufhält, sagt er ihm sein Erlebnis aus
+der Morgenfrühe ins Gesicht und läßt ihn stehen. Er hört ihn noch über
+das Tannerpack schimpfen, als er mit langen Beinen aus seinem Bereich
+eilt; und kaum ist er eine Viertelstunde unterwegs, da rollt der Wagen
+schon hinter ihm her. Er denkt nicht anders, als daß der Metzger sein
+Pferd zornig an ihm vorbeipeitschen würde; aber der läßt es in Schritt
+fallen, immer neben ihm heran. Ob der Herr Pestalozzi dem versoffenen
+Lumpenkerl vielleicht auch noch glaube? Dann möge er sich jemand anders
+für seine Geschäfte suchen: er habe sich weder aufgedrängt noch sei er
+versessen darauf, für ihn mit aller Welt in Händel zu geraten!</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi kann nicht antworten, so widerlich ist ihm nun Art
+und Stimme des Mannes. Er tritt in den Graben und will ihn vorfahren
+lassen; der Märki aber hält sein Pferd an, wie wenn er ihn anders
+verstanden habe: er wolle also doch noch aufsteigen? Da merkt er, daß
+ihn der Metzger nicht loslassen will, und läuft querfeld über den
+gefrorenen Acker davon, wo ihm das Fuhrwerk nicht folgen kann. Noch von
+weitem hört er das höhnische Gelächter, und es hallt ihm noch in den
+Ohren, als er verbittert über sich und seine Händel zum Mittag durch
+die Haustür in Müligen eingeht. Da will es sein Unglück, daß auch Anna
+Ärger<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> mit ihrer aufsässigen Magd gehabt hat, sodaß sie beide gereizt
+am Tisch sitzen. Er will ihr nichts sagen, aber sie fragt, bis seine
+kargen Antworten ihr doch den Handel verraten. Da legt sie freilich den
+Löffel hin: ob er den Kauf wirklich gemacht habe? Und als er, nun schon
+trotzig, ja sagt, entfährt ihr ein hartes Wort. Sofort flammt auch sein
+Jähzorn auf, und obwohl er innerlich verzweifelt vor ihr kniet, daß
+sie ihm die Sätze nicht nachtragen möge, bleibt sein hitziges Blut im
+bösen Streit mit ihr, bis er vom Tisch aufspringt und gegen die Reuß
+hinunterläuft.</p>
+
+<p>Vor dem emsigen Zorn der Wellen findet er sich wieder, und schon zur
+Vesper sind sie nach bitteren Tränen der Reue wieder ausgesöhnt: doch
+bleibt das Weh seiner Scham, daß er sterben möchte und sich danach
+auch wirklich bis zur Krankheit in die Selbstanklagen vergrübelt.
+Sylvester feiern sie noch miteinander auf die vorbedachte Art, indem
+sie an die Armen von Müligen einen Korb Brot verteilen — was als ein
+Anfang seiner Wohltätigkeit gedacht war, scheint ihm nun ein kläglicher
+Rest seiner Beglückungspläne — dann legt er sich hin und bleibt fast
+eine Woche lang im Bett, unfähig vor Fieber und Mutlosigkeit. Es ist
+längst nicht mehr der böse Tag allein, was ihn quält; es ist die erste
+Abrechnung mit seinen Plänen und mit sich selber, dem hochmütigen
+Plänemacher. Die Sehnsucht seiner Jugend hebt sich auf und steht ratlos
+vor dem Schwall seiner Handlungen in diesem letzten Jahr. Er weiß
+nicht, wo seine Füße anders hätten gehen sollen; nur daß sie falsch
+gehen, das fühlt er genau. Gleich<span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span> Trompeten schreit eine Stimme in
+ihm, daß er die Forderungen seiner Natur betäubt habe: Was bin ich,
+und was wird aus mir werden? schreibt er ins Tagebuch seiner Frau, das
+immer offen vor dem Bett liegt, obwohl sie sich selber darin nicht
+schont. Und alles, was er als Antwort findet, ist die Verzweiflung, in
+Irrtum und Unrecht unwichtiger und falscher Dinge verstrickt zu sein;
+nicht anders, als ob er selber mit der Peitsche im Metzgerwagen des
+Märki säße und seine Seele über die hartgefrorenen Felder angstvoll
+davonliefe.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>43.</h3>
+</div>
+
+<p>Als Heinrich Pestalozzi wieder aufsteht von seiner Krankheit, ist kein
+Entschluß aus seinen bitteren Gedanken gekommen; sie sind vergangen,
+wie nach Unwetter tagelang die Wolken auf den Bergen lasten, als ob sie
+sich nie wieder heben wollten, und eines Morgens scheint doch die Sonne
+in eine blanke Welt. Er kann wieder mit Freude an seine Unternehmungen
+denken, und alle verzweifelten Gedanken daran kommen ihm als bequeme
+Mutlosigkeiten und als Rückfälle in die unstete Natur seiner
+Knabenjahre vor; er weiß, daß er in diesem Jahr Vater werden soll, und
+schämt sich der Unmännlichkeit, die nicht für das Kind und seine Mutter
+die selbstgewählte Pflicht erfüllt.</p>
+
+<p>Der erste, an dem er sich erprobt, ist Märki; der kommt, das vorgelegte
+Kaufgeld einzufordern, und ist wieder der schlau beherrschte Mann, der
+Nachsicht mit den Launen seines Schützlings hat und ihn, wo er sich
+auflehnen will, die Überlegenheit an Alter und Erfahrung<span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span> fühlen läßt.
+Heinrich Pestalozzi begreift sich selber nicht mehr, wie er ihm damals
+ausweichen konnte: er sagt ihm unverhohlen und ohne Zorn, daß er das
+andere anweisen, jedoch die Kaufsumme für den Acker um den geschlagenen
+Nußbaum kürzen müsse, da er ihn hierbei in einer Täuschung gehalten
+habe. Der Märki will aufbrausen, aber er verweist ihm das gleich
+so bestimmt, daß der den andern Wind merkt und sich nach mehreren
+Seitensprüngen um der Freundschaft willen, wie er sagt, zu der Sache
+bequemt.</p>
+
+<p>Nach einigen Tagen bringt der Baumeister den Plan des Wohnhauses,
+wie es nach seinen eigenen Angaben sein soll: etwa dreißig Schritt
+im Geviert mit einem Zeltdach und ganz aus Steinen gebaut; es soll
+unten am Letten stehen, wo der angeschwemmte Boden als Gartenland
+geeignet ist, und Neuhof heißen. Der Baumeister hat neben den Aufrissen
+auch eine Ansicht des Hauses in Farben gemacht; es sieht mehr einer
+italienischen Villa gleich als einem schweizerischen Bauernhaus,
+aber gerade das gefällt ihm. Er scherzt, daß er selber ein Italiener
+wäre, und so oft er das hübsche Bild ansieht, wird der Traum seiner
+landwirtschaftlichen Existenz daran lebendig: wie er mit seiner
+Stauffacherin da aus und ein gehen wird, wie unter den Bäumen — die
+bis jetzt nur auf dem Papier grün sind — Kinder spielen und auf den
+Feldern rundum fleißige Tanner lohnende Arbeit finden, wie die breit
+gewölbten Keller sich mit Feldfrüchten füllen, und wie er als ein
+neuer Tschiffeli der Mißwirtschaft des Birrfeldes aufhielt durch sein
+Beispiel planvoller Arbeit!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p>
+
+<p>Auch der Baumeister Daniel Vogel, den er sich als fachmännischen
+Berater aus Zürich holt, billigt den Plan; der setzt im
+freundschaftlichen Vertrauen die Berechnungen fest und macht die
+Akkorde mit den Handwerkern unter genauen Abmachungen über das Material
+und die Ausführung. Es ist ein sicherer Gang der Ordnung, wie ihn
+Heinrich Pestalozzi bisher noch nicht in seinen Dingen gespürt hat;
+als ob ihm neue Hände gewachsen wären, seitdem in den abwartenden
+Verdruß des Winters ein wirkliches Geschäft gekommen ist, so gibt sich
+eins ins andere und bringt die Fröhlichkeit zweckbewußter Arbeit mit.
+Als erst der Boden ausgehoben, Steine gebrochen und die Fundamente
+gelegt werden, ist er von früh bis spät dabei und scheut das nasse
+Schneewasser nicht, selber jede Art von Arbeit mitzutun. Daß morgens
+die Leute kommen, Tag für Tag, zum Teil stundenweit und sichtlich froh,
+gute Beschäftigung zu haben, gibt ihm ein Vorbild, wie es einmal auf
+Neuhof sein soll; und wenn er sie Sonntags entlöhnt, ist sein Traum
+schon Wirklichkeit: daß er als der Mittelpunkt einer Unternehmung
+dasteht, daraus die ersten Quellen aller Wohlhabenheit, der sichere
+Verdienst einer regelmäßigen Arbeit, ins magere Birrfeld fließen.</p>
+
+<p>Nachdem Ende Januar unerwartet ein Wechsel aus dem Pflug nach Müligen
+geflattert ist für das Laufende, kommen nacheinander die Brüder,
+am längsten der Doktor Salomon, der die warmen Frühlingstage schon
+zum Angeln — seiner Lieblingsbeschäftigung — geeignet glaubt. Sie
+mögen Bericht nach Zürich gegeben haben;<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> denn an dem Mittag, da sie
+abreisen wollen, steht unvermutet die alte Schultheßin mit dem jüngsten
+Bruder gerade vor der Haustür, als sie hinaustreten. Nun bleiben
+alle bis zum andern Tag, und weil die Aprilsonne scheint, wird noch
+am Nachmittag ein fröhlicher Spaziergang durch die Felder und auf
+den Bauplatz gemacht, wo die Fundamente schon kniehoch aus der Erde
+sind und eingewölbt werden sollen. Auch auf den Hang kommen sie, wo
+der Nußbaum niedergebrochen ist; sein Stamm reicht allen zum Sitz,
+sodaß einer den Scherz macht, sie weiheten die Bank ein, bevor das
+Holz dazu geschnitten wäre. Von unten klappert das Gewerk der Maurer,
+und einer, der den Mörtel in der großen Pfanne rührt, singt das alte
+Grenchenlied mit dem spöttischen Hohoho als Schlußreim, in den die
+andern einfallen. Auch die Schultheßin, die mit unverhohlenem Mißtrauen
+den ausgespreiteten Mergel auf den Kleefeldern für weißen Schutt
+gehalten hat, vermag die fröhliche Luft nicht einzuatmen, ohne daß auch
+ihr etwas davon ins gallige Blut geht. Die Scherze der Brüder sorgen
+dafür, daß die Ausgelassenheit auch den Rückweg im sinkenden Nachmittag
+besteht, durch den sie, nun selber das Grenchenlied singend, über die
+Kante des Birrfeldes nach Müligen hinunter kommen.</p>
+
+<p>Andern Morgens nehmen sie Anna für ein paar Tage mit nach Zürich, wo
+sie das Rote Gatter ebenso überraschen will, wie sie selber überrascht
+worden sei. Heinrich Pestalozzi gibt ihnen das Geleit bis Baden; der
+laute Abschied erinnert ihn an die wehmütige Winterschiffahrt, und daß
+ihm die Brüder mit ihrer Ausgelassenheit<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> die Geliebte für ein paar
+Tage entführen, ist ihm auch nicht recht; doch läßt sie ihm ein inniges
+Wort zurück, das er feierlich durch den Morgen nach Hause trägt: Ich
+will deiner Mutter meine Hoffnung sagen!</p>
+
+<p>Er ist noch keine Viertelstunde unterwegs, als er den übrigen Schwall
+schon vergessen hat und nur noch an das Glück denkt, das sie bei der
+Mutter mit ihrem Geständnis einbringen wird. Dabei lallt er die sieben
+Worte immerzu; sie bilden eine Perlschnur, an der die beiden Frauen
+als die letzten angereiht sind — bald werden sie eins weiter gerückt
+und in die Kette eingereiht sein — ihm aber ist sie mit der Sorge in
+die Hand gelegt, daß die Perlen bei dem Wechsel der Vergangenheit in
+die Zukunft keinen Schaden nähmen. Was bin ich, und was wird aus mir
+werden? hat er ins Tagebuch seiner Frau eingeschrieben; aber auf die
+Anklage seines Leichtsinns hat das Gefühl der Vorsehung einen Segen
+gelegt, den er glücklich in den Lerchenmorgen hinein trägt: Was er ist,
+darauf haben die beiden Frauen in unübersehbaren Stunden Schätze der
+Liebe gehäuft. Und wenn er ein sinnloser Verschwender damit würde, es
+kann ihm nicht gelingen bis in den Tod, sie auszugeben! Als ihn kurz
+vor Brugg ein Bettler um Geld anspricht, bietet er ihm alles, was er in
+seiner Tasche findet, und geht glücklich weiter, ihm für eine Stunde um
+keinen Kreuzer voraus zu sein.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>44.</h3>
+</div>
+
+<p>Es ist auf lange Zeit der letzte reine Morgen für Heinrich Pestalozzi;
+denn noch am Nachmittag erfährt<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> er, daß über seine Unternehmung die
+absprechendsten Gerüchte in Umlauf sind, sodaß der unvermutete Besuch
+der Schwiegermutter nachträglich eine unfreundliche Bedeutung erhält.
+Nicht lange danach, daß Anna wieder von Zürich zurück ist, erscheint
+auch der Bankier Schultheß im eigenen Reisewagen mit zwei Söhnen und
+einem Bedienten, die Grundlage seines Darlehens zu prüfen. Er will
+jedes Feld und die Art der Besserung sehen, das Haus mißt er selber mit
+dem Maßstab in den Fundamenten aus: er hat dabei eine Art, zornig den
+Kopf zu schütteln, aber das ist nur eine Angewohnheit des alten Herrn,
+und am Ende geht es wie mit der Schultheßin: die Stimmung bessert sich,
+und wie damals Anna fährt nun Heinrich Pestalozzi mit dem Besuch nach
+Zürich zurück.</p>
+
+<p>Sie sind kaum fort, als Anna hört, daß der Bediente unterdessen seine
+eigenen Wege im Birrfeld gegangen ist, überall die Meinung aushorchend;
+auch bei dem Märki ist er gewesen: nach seinen boshaften Bemerkungen
+mit dem kläglichsten Ergebnis. Sie nimmt sich vor, es zu verschweigen,
+aber als Heinrich Pestalozzi nach einigen Tagen von Zürich zurückkommt,
+weiß er schon alles und wie das Urteil dieses Bedienten die Stimmung im
+Gewundenen Schwert macht. Noch am gleichen Tage gehen sie miteinander
+in den Letten hinauf, sich selber zu vergewissern, ob der tüchtige
+Stand der Felder doch nur eine Selbsttäuschung wäre. Sie finden die
+Esparsette auf den steinichten Ackern gut angesetzt, und auch die
+Krappflanzen lassen sich nicht übel an; aber die boshaften Worte
+des Bedienten werden damit nicht ausgewischt,<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> und als Heinrich
+Pestalozzi gegen die Baustelle seines stolzen Hauses kommt, faßt ihn
+der Unwille so, daß er sich abwendet; gerade das ist von dem Bankherrn
+zu kostspielig gefunden worden. Schlimmer aber als alles ist ihm das
+Unkraut der Feindschaft, das der Bediente aus den Dörfern ans Licht
+getragen hat. Er schreibt zwar noch eine lange Darlegung an den
+Geldgeber, aber als Antwort kommt nach drei Tagen die unumwundene
+Mitteilung, daß er die Unternehmung als ruiniert ansehe.</p>
+
+<p>Es ist Anfang Mai, als das geschieht, und für den Sommer trägt Anna
+ein Kind unter dem Herzen; die frohe Hoffnung seiner Geburt vermehrt
+nun die Sorgen dieser Tage. Es kommen zwar noch der Junker Meis und
+der Pfarrer Schinz als Sachverständige zur Prüfung; sie finden, daß
+mehr als eigentliches Mißgeschick die allgemeine Unkenntnis der bei
+Tschiffeli erlernten Neuerungen den vorwitzigen Herrenbauer bei den
+Leuten ins Gespött gebracht hat, und daß der Haß sich eher gegen s
+einen Ratgeber Märki als ihn selber richtet. Auch treten sie ihm mit
+Wärme bei in ihrem Gutachten; aber der Bankherr will wie alle Geldgeber
+das Gold wachsen sehen, Mitte Mai kündigt er die Gemeinschaft, und
+bevor Heinrich Pestalozzi seine Dinge ins Gehen bringen kann, sind
+ihnen die Beine schon abgeschnitten.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>45.</h3>
+</div>
+
+<p>Das Kind wird im August geboren; es ist ein Knabe, den sie Hans
+Jakob nennen. Obwohl der Bankherr noch einmal begütigt worden ist,
+weiß Heinrich Pestalozzi,<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> daß sein Mißtrauen nur auf den günstigen
+Augenblick wartet, sich ganz zurückzuziehen. Die Sorgen und Kämpfe
+um die Rettung seiner Existenz haben ihn so täglich beansprucht,
+daß er mit Scham und Schrecken vor den Richterstuhl des Ereignisses
+kommt. Seine Mutter ist zur Pflege da; sie legt ihm das kleine Wesen,
+das aus dem Schoß der Geliebten ans Licht gebracht worden ist und
+erschrocken von dieser Reise mit seinem dünnen Stimmchen schreit, mit
+einem wissenden Lächeln in die Hände. Er vermag der Erschütterung
+nicht standzuhalten, gibt ihr in einer abergläubischen Furcht das
+Kissenbündel zurück und läuft in den sinkenden Sommertag hinaus. Seit
+seinem Unglück mit dem Bankherrn ist ihm zumute, als ob alles mißraten
+müsse, was seine Hände anfassen, und dies ist eine lebendige Seele.</p>
+
+<p>Doch irrt er noch im Schatten seiner Bäume, als ihm eine Stimme aus dem
+Ungewissen Halt ruft: Ob er das Kind in seine Hände nimmt oder nicht,
+es bleibt sein Sohn, mit dem er gegen Gott und die Welt in eine neue
+Verantwortung getreten ist. Da gilt es andere Eigenschaften, als in
+feigem Aberglauben davon zu laufen. Indem er sich beschämt nach dem
+Haus zurück wendet, darin er sein Kind, seine Frau und seine Mutter
+in der Heiligkeit einer Menschengeburt verlassen hat, und in einem
+einzigen Aufblick die ewige Verantwortung seiner Vaterschaft fühlt,
+erkennt er auch, wie kläglich seine Sorgen und Kämpfe in den Monaten
+zuvor am Vergänglichen gehangen haben: Ein stolz gebautes Wohnhaus und
+blühende Kleefelder, Darlehen und<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> Kaufbriefe sind keine Dinge, die vor
+Gott wichtig stehen; er ist ein Narr der Täglichkeiten geworden wie
+tausend andere und hat keine Zeit mehr für seine Seele gehabt, die sich
+darum furchtsam verkriechen wollte, wo etwas anderes als Geschäfte an
+sie kam.</p>
+
+<p>Die Frauen fürchten sich fast, als er wieder zu ihnen in die Kammer
+tritt, so sehr ist sein Gesicht von Tränen überströmt; auch verstehen
+sie seine Gebärde nicht, wie er das Kind aus der Wiege nimmt. Er macht
+es nicht recht, und seine Mutter springt ihm bei, daß er kein Unheil
+anrichte mit den kleinen Gliedern; dann aber muß sie lächeln, wie er
+in seiner Ungeschicklichkeit dasteht, die beiden Arme vorgestreckt,
+das Kissen zu halten, darauf das Neugeborene mit seinem struppigen
+Kopf liegt. Er läßt sich ehrfürchtig nieder mit einem Knie, wie wenn
+er es darbringen wollte, steht auch nicht auf, als ihm die Mutter das
+Bündel vorsichtig wieder abnimmt und in die Wiege legt. Darin hast du
+auch gelegen, sagt sie scherzend, um ihn nicht zu erzürnen, und bringt
+die Wiege leise tuschelnd in Gang, weil das Knäbchen schon wieder
+weinen will. Heinrich Pestalozzi, den die Scham fast tötet, als Kind,
+Mann und Vater im Geheimnis der Zeugung entblößt zwischen den Frauen
+dazustehen, hört es nicht; erst als Anna ihn ängstlich bei Namen ruft,
+hebt er die Augen wieder in die Welt und sinkt weinend zu ihr hin, wie
+wenn er ihr ein Unrecht angetan hätte, daß er sie aus ihrer einsamen
+Jungfrauenschaft zu einer Mannesfrau und Mutter machte. Sie aber, die
+nur das Glück der Erlösung darin empfindet, streichelt ihm vielmals
+die<span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span> schwarzen Haare, als ob er ihr Neugeborener wäre: Heiri, sagt sie,
+und ihre Stimme geht auf dem süßesten Grat der Liebe, nun muß unser
+Haus bald fertig sein!</p>
+
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>46.</h3>
+</div>
+
+
+<p>Die Größe und Kostspieligkeit des Wohnhauses ist von den Ratgebern
+des Bankherrn am meisten getadelt worden; aber Heinrich Pestalozzi
+hat nicht an ein notdürftiges Dasein gedacht, als er mit seinen
+landwirtschaftlichen Zukunftsplänen aufs Birrfeld kam. Nun er auf
+weitere Gelder nicht mehr rechnen kann, nimmt er dem Haus das obere
+Stockwerk fort und läßt das flache Zeltdach gleich auf die Steinmauern
+des Erdgeschosses stellen; es wird zwar etwas anderes als eine
+italienische Villa daraus, aber es kann noch vor dem Winter gedeckt Und
+zum Frühjahr eingerichtet werden.</p>
+
+<p>Das unsichere Verhältnis mit dem Gewundenen Schwert schleppt sich
+indessen unter Mißtrauen und Vertröstungen über den Herbst hin, bis
+seine Freunde in Zürich ein Abkommen zustande bringen, wobei der
+Bankherr ein Ende mit Verlust dem Verlust ohne Ende vorzieht und
+angesichts der Schädigung, die sein Teilhaber durch diesen Rücktritt
+erleidet, unter Zurücklassung von fünftausend Gulden auf das Geschäft
+verzichtet. Das ist für Heinrich Pestalozzi, der seinen Dingen noch
+immer ihren Wert beimißt, zunächst kein übler Schluß der mißlichen
+Angelegenheit; aber aus den berittenen Plänen seiner Musterwirtschaft
+werden simple Fußgänger, er kann nicht mehr über Jahre zielen und muß
+aus der Hand in den Mund leben wie die andern auch.<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> Für die Krappzucht
+hat sich der Boden als zu rauh gezeigt, dagegen steht die Esparsette
+ausnehmend gut und könnte Futter für manches Stück Vieh liefern; seine
+Freunde raten zur Sennerei, und er müßte weniger Federkraft haben, um
+nicht gleich mit beiden Füßen in das neue Arbeitsfeld hineinzuspringen.
+Noch über den Winter werden neben der Scheune die Stallungen angebaut,
+und als er zum Frühjahr auf Neuhof einzieht, brüllen schon die ersten
+Kühe darin.</p>
+
+<p>Es ist ein verdrießliches Regenwetter, als sie den Umzug machen,
+und einmal bleibt der Wagen mit dem Hausrat so in dem aufgeweichten
+Landwege stecken, daß sie ihn mitten im Birrfeld bei schneeigem
+Schlagregen abladen müssen, wobei ein jedes Stück seine Himmelswäsche
+mitbekommt. Dafür ist es auch zum letztenmal, daß wir umziehen, sagt
+er zu Anna, die unterdessen mit dem Kind im Pfarrhaus Obdach gehabt
+hat, als er sie nachher abholt und ihr das Mißgeschick schildert. Sie
+lächelt wehmütig dazu, als ob sie dieser Sicherheit nicht traue. Doch
+geht sie tapfer mit, das Kind in Tüchern eingewickelt auf dem Arm,
+den Einzug auf Neuhof zu halten. Er schreitet sorglich nebenher und
+hält ihren Regenschirm, den sie in den Mädchentagen von einer Reise
+mitgebracht hat, über sie und das Kind. Er ist für die Bauern in Birr,
+die nur ihre Regentücher kennen, ein so absonderliches Gerät wie die
+ganze Landwirtschaft dieses Züricher Stadtherrn: so stehen sie in den
+Türen, wie die drei daherkommen; einige Buben laufen ihnen durch die
+Nässe nach, und weil ein Witzbold unter den Alten das Wort aufgebracht<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span>
+haben mag, rufen sie es zum Schimpf hinter ihm her. Heinrich Pestalozzi
+hört nicht darauf, weil ihn der Gang sehr bewegt; doch als sie schon
+das Dach vom Neuhof im Regen glänzen sehen, hält ihn Anna am Arm zurück
+und hat ein seliges Lächeln in den Augen: Achtest du denn gar nicht,
+was sie sagen? Sie rufen: die heilige Familie mit dem Regenschirm!</p>
+
+<p>Er versteht ihre lächelnden Augen lange nicht und erschrickt, als
+er den Sinn erkennt, wie über eine Lästerung, sodaß auch ihr das
+Lächeln in den Augen untersinkt. Als sie das letzte Stück dann
+schweigend gegangen sind und vor das Haus treten, das er für sie und
+sich, auch für den Knaben auf ihrem Arm aus kühnen Hoffnungen in
+Sorgen hineingebaut hat, vermag sie nicht freudig über die Schwelle
+hineinzugehen und beugt sich mit dem Kind weinend an seine Brust, als
+ob dort eine bessere Heimat sei als in der Ungewißheit dieser Steine.
+Nun aber hat sich ihr Lächeln in ihm zur Glut entzündet; gleich einem
+Wanderstab hält er den zusammengeklappten Regenschirm in der Hand und
+ist noch einmal Jüngling seiner rauschhaften Stunden: Die Knaben haben
+recht; es mag wohl sein, daß wir dies bald verlassen müssen wie Joseph
+und Maria auf der Flucht. Drum laß uns, Liebe, nur zur Rast eintreten,
+weil es doch regnet. Vielleicht, daß morgen schon wieder die Sonne auf
+unsere Wanderung scheint!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>47.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi beginnt seine eigene Wirtschaft auf dem Neuhof
+mit ungefähr hundert Jucharten; doch<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> liegen die einzeln gekauften
+Acker nicht beieinander; er muß vielfach über fremde Felder fahren,
+wenn er zu den eigenen will, und wiederum andere Bauern fahren ihm
+über die seinen. Das macht Verdrießlichkeiten, weil er sich nicht an
+ihre Dreifelderwirtschaft binden und die vorgeschriebenen Zeiten der
+Zelgenwege einhalten kann. So muß er darauf sehen, sein zerstreutes
+Gut durch Tausch und Kauf einheitlich abzurunden, Und ist bald in
+hundert Händeln. Der Metzger Märki spielt darin immer noch die
+Hauptfigur, er hat die nötigsten Stücke an sich gebracht, wie er sagt,
+um der Preistreiberei der Bauern zuvorzukommen; aber darum sind seine
+Forderungen nicht weniger gesalzen, und als es ihm gelingt, das gute
+Land in den Hummeläckern gegen ein steinichtes Feld in den Letten zu
+tauschen, das Heinrich Pestalozzi für sein Wegrecht nötig braucht, ohne
+Nachzahlung, obwohl es nur halb so groß ist: wird dieser Handel zum
+Wirtshausgespött im ganzen Birrfeld, um so mehr, als der Märki selber
+mit dem Gelächter hausieren geht.</p>
+
+<p>Nachher wird dem schlauen Händler freilich die Haustür im Neuhof
+zugemacht; aber weil er wirtet und das halbe Dorf in der Fron hält mit
+Trinkschulden — wie den Tanner, der den Nußbaum fällte — hat Heinrich
+Pestalozzi einen gefährlichen Feind an ihm. Gleich nach seinem Einzug
+auf Neuhof ist er schon mit der Dorfgemeinde Birr in Streit gekommen um
+einen Pfad nach Brunegg, den sie ihm mitten über seine Äcker laufen. Es
+führt zwar auch ein Fahrweg gegen den Wald hinauf, aber in den Zeiten,
+da die Felder meist unbebaut<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> gelegen haben, ist der schnurgerade
+Pfad eine Gewohnheit geworden, deren Beseitigung sie dem Herrenbauer
+verübeln. Er versucht es mit Dornruten und Verhauen: aber was für
+Hindernisse er auch am Tag baut, in dunkler Nacht werden sie hartnäckig
+wieder zerstört, bis er den Weg durch den Pfarrer ins Verbot legen
+läßt. Damit bringt er endlich sein Recht zur Geltung, aber die Gemeinde
+ist ihm seitdem übel gesinnt, und als er auch den Weidegang auf seinen
+Feldern öffentlich und rechtlich untersagen läßt, beruft sich die
+Bauernsame von Birr auf ihr besonderes Weidrecht und fordert auch die
+von Lupfig auf, dem neumodischen Herrenbauer auf Neuhof den Prozeß
+anzusagen. Obwohl die Lupfiger sich dessen weigern, gibt es einen
+langen Rechtshandel, der ihn die bäuerliche Verbissenheit in täglichen
+Molesten spüren läßt.</p>
+
+<p>Endlich wird zwar durch obrigkeitliche Entscheidung das Weidgangsrecht
+auf seinen Feldern gegen einen jährlichen Bodenzins von einem Neutaler
+aufgehoben: aber gerade das setzt in den Köpfen der armen Tanner,
+die keine eigenen Matten haben und auf den Weidgang angewiesen sind,
+das Gefühl eines Unrechts fest, das ihnen von dem neuerungssüchtigen
+Herrenbauer angetan wird. Was durch seine anfängliche
+Handelsgemeinschaft mit dem Märki begonnen wurde, das wird nun durch
+dessen hinterhältige Feindschaft vollendet: die Armen, denen zu helfen
+die heimliche Hoffnung seiner Bauernschaft gewesen ist, hassen ihn
+als einen neuen Ausbeuter ihrer Not. Und da der Neuhof kein einsames
+Bauernhaus ist, sondern oft städtischen Besuch erhält,<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> da namentlich
+Anna einen freundschaftlichen Verkehr mit den Frauen der umwohnenden
+Herrenleute unterhält, ist Heinrich Pestalozzi selber in die Rolle
+eines der Stadtherren gekommen, wie er sie in seiner hitzigen Jugend
+zu Höngg verabscheute; denn was für Sorgen und Nöte er unterdessen mit
+seiner Besitzung hat, das sehen die Armen bei ihm so wenig, wie er es
+damals sah.</p>
+
+<p>Eines Nachmittags muß er eine Bekannte seiner Frau zum Pfarrer nach
+Birr zurück begleiten, wo sie auf Besuch ist. Sie kommt aus Zürich
+und ist mit dem Aufwand der städtischen Mode derart geputzt, daß die
+Kinder aus den Häusern kommen und einige ihr nachlaufen. Gleich hat sie
+einige Batzen zur Hand, die sie zum Spaß hinwirft: nicht anders, als
+ob Hühner nach hingestreutem Futter sprängen, sind sie augenblicklich
+in einer Balgerei, die gleich einem Ball von Staub und Geschrei über
+den Weg rollt. Andere laufen neugierig herzu, und da die Zürcherin
+sich den Spaß noch ein paar Batzen kosten läßt, vergrößert sich der
+balgende Knäuel, indessen die herzlose Person vor Lachen wie toll
+auf ihren zierlichen Stiefelchen herum springt. Bisher hat Heinrich
+Pestalozzi alles für unbedachten Übermut gehalten, aber als sie ihm
+mit schadenfrohen Augen entgegen tritt — da haben Sie Ihr Volk, Herr
+Pestalozzi — und lachend gegen das Pfarrhaus davonläuft, erkennt
+er, daß der unwürdige Auftritt sein Gespräch mit ihr beantworten und
+verhöhnen soll.</p>
+
+<p>Der Zorn über ihre Herzlosigkeit macht ihn wild:<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> Dann gehöre ich
+auch dazu! schreit er ihr nach und fährt mitten in die Balgerei. Das
+erste, was er ergreift, ist der Schopf eines stakigen Mädchens, das
+gerade über einen Vierjährigen herfällt, ihm seinen Batzen aus der Hand
+zu reißen. Ehe er noch selber weiß warum, hat er sie und ein halbes
+Dutzend der andren verwalkt und ihnen, soviel sie kratzen und beißen,
+die Batzen abgenommen. Einigen gelingt es, mit ihrer Beute davon zu
+laufen; die nichts haben, bleiben stehen, und als er das eroberte
+Geld überzählt, braucht er nur drei Batzen aus seiner Tasche hinzu zu
+legen und er hat für jeden einen: Hier ging Gewalt vor Recht, sagte
+er, nun aber steht Recht vor Gewalt! zählt jedem seinen Batzen aus,
+vom Kleinsten angefangen, und heißt sie heimlaufen. Die nichts gerafft
+hatten, denen ist es recht, die andern aber — die ihr erobertes
+Eigentum aus seinen Händen verteilt sehen — rufen mit mörderlichem
+Geschrei die Ihrigen zur Hilfe, sodaß Heinrich Pestalozzi froh ist,
+als er den letzten Batzen verteilt hat und sich heim wenden kann.
+Doch hängt sich das schreiende Gefolge an ihn, und einige Mütter,
+von ihren Kindern aufgeklärt, fordern drohend den Raub zurück. Unter
+Schimpfreden und Steinwürfen kommt er gegen den Neuhof, wo ihn Anna mit
+dem Knaben an der Hand erschrocken empfängt; denn nun erst nimmt er
+wahr, daß er im Gesicht und an den Händen von Kratzwunden blutet und
+mit seinen Kleidern durch den Staub gewälzt ist. In der folgenden Nacht
+geschieht es zum ersten Mal, daß ihm einige von seinen blitzblanken
+Fensterscheiben eingeworfen werden.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span></p>
+
+<h3>48.</h3>
+</div>
+
+<p>Das Ergebnis dieser mißglückten Ausgleichung erschüttert Heinrich
+Pestalozzi ebenso tief wie der höhnische Anlaß, und tagelang vermag
+er nicht mehr an seine Dinge zu gehen, so mutlos wird er. Es ist nun
+schon das sechste Jahr, daß er sich müht mit der Landwirtschaft, und es
+ist nichts dabei heraus gekommen, als daß er sich und andere in Sorgen
+und Verluste gebracht hat; er sieht kein Ende, danach es anders werden
+könnte. Indessen gibt es solche Stadtfräuleins und solche Bettelbuben,
+als ob sie in der Welt sein müßten wie alles Gute auch, und aus allen
+seinen Plänen geschieht nichts, was etwas daran ändern könnte; denn
+selbst, wenn er zum Wohlstand seiner Träume käme: die Unfeinheit
+der einen und die häßliche Habgier der andern wäre damit doch nicht
+geändert. Wieder einmal erkennt er die Quellen allen Übels in der
+Natur des Einzelnen; und furchtsam sieht er auf seinen Knaben, der nun
+ins vierte Jahr geht und die ersten Anzeichen seiner Persönlichkeit
+nicht mehr verbirgt. Es ist sein Sohn, und schon meint er die eigenen
+Fehler an ihm zu sehen, seine Zerstreutheit, Unordnung und den unsteten
+Eigensinn. Namentlich die listigen Versuche des kindlichen Eigensinns
+besorgen ihn; es ist nicht anders, als ob der kleine Geist unausgesetzt
+eine Machtprobe gegen die Erwachsenen mache.</p>
+
+<p>Unvermutet kommt Heinrich Pestalozzi in Eifer, an seinem Jaköbli
+den Schlichen und Trotzproben dieser kindlichen Willenskraft mit
+Experimenten nachzugehen, immer bemüht, die störenden Blätter beiseite
+zu biegen,<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> damit der Kern aus sich selber wachsen könne. Er sieht
+erstaunt und betroffen zugleich, wieviel Schleichwege der kindliche
+Geist schon kennt, der Erziehung auszuweichen, und wievieler Strenge
+es bedarf, ihn dieser Schleichwege zu entwöhnen. Die Erinnerung an
+die eigene Jugendzeit macht seine Besorgnisse nicht geringer; denn
+nun meint er zu sehen, warum er selber solch ein im Wind der Gefühle
+schwankendes und von dem Rankenwerk wirrer Einfälle behangenes
+Gewächs geworden ist. Anna versucht ihm zu wehren, wo er dem Kleinen
+zu arg zusetzt; aber als der Winter gekommen ist, scheint es seinem
+entzündeten Eifer schon, als gäbe es nichts Dringlicheres für ihn und
+andere in der Welt, als diese Dinge in unausgesetzten Versuchen klar zu
+stellen; denn alles, was mit einem Menschen später auch geschähe: seine
+Kindheit bliebe die Wurzel seines Schicksals; wie die ins Erdreich
+finde, so wüchse es.</p>
+
+<p>Als das Schwierigste erkennt er bald, die Wartung der kleinen Seele
+so zu halten, daß sie den Mut und die Freude nicht verliert; und es
+ist sein Knecht, der ihn auf diese Weisheit bringt. Denn als der das
+Jaköbli einmal in seiner Gegenwart einige Weisheiten sagen läßt, die
+er draußen am Bach mit ihm gelernt hat, und mit Vaterstolz fragt: ob
+der Knabe nicht ein gutes Gedächtnis habe? schüttelt der Knecht, der
+mit der kindlichen Munterkeit auf einem andern Fuß steht, traurig
+den Kopf: Das wohl, jedoch Ihr übertreibt es mit ihm! Und als er ihm
+betroffen sagt, das könne nicht wohl sein, weil das Jaköbli sonst
+sicher die Freude verlöre und furchtsam würde; dann hieße es natürlich,
+vorsichtig<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> seinem Geist nachzugehen — da richtet sich der Klaus von
+seinem Holzscheit auf, daraus er einen Schwengel schnitzen will, und
+die Freude steigt ihm ins ehrliche Gesicht: Ihr achtet also des Mutes
+und der Freude! Eben das hatte ich gefürchtet, daß Ihrs vergessen
+würdet!</p>
+
+<p>O, Klaus, sagt Heinrich Pestalozzi da zu seinem Knecht, und der
+Schrecken mischt sich mit dem Glück über das Wort: alles Lernen wäre
+nicht einen Heller wert, wenn Mut und Freude dabei verloren gingen!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>49.</h3>
+</div>
+
+<p>Es ist zum erstenmal, daß Heinrich Pestalozzi sich selber als
+Entdecker fühlt; was er bis dahin auch getrieben hat, von seiner
+Jünglingsschriftstellerei bis zur Landwirtschaft, immer hat ein anderer
+das Tor aufgeschlossen: hier aber hält er den Schlüssel selbst in der
+Hand, und so scheint ihm auch die nebensächlichste Erfahrung seiner
+Erziehungsversuche wichtig genug, sie in einem besonderen Tagebuch
+wortwörtlich aufzuzeichnen.</p>
+
+<p>Mit diesen Aufzeichnungen tritt er aber auch den Gedanken seiner
+Jugend wieder näher, und als im Frühjahr die Helvetische Gesellschaft
+ihre vierzehnte Tagung in Schinznach abhält, pilgert er hinüber, zum
+erstenmal im Kreis dieser Männer zu sein, die aus dem herrschsüchtigen
+Kantonsgeist wieder einer Eidgenossenschaft im Sinn der Väter
+zustreben. Da sieht er den greisen Ratschreiber Iselin aus Basel,
+dessen Gestalt als ein neuer Stauffacher in der jungen Schweiz ein
+sagenhaftes Vorbild ist, und all die andern Träger würdiger Namen.
+Er meint fast, noch einmal in der Gerwe zu<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> sein, so werden die
+spartanischen Vorbilder seiner Jünglingszeit in einem Vortrag wach, den
+der Landvogt Tscharner von Wildenstein hält; aber während der Mann die
+Abhärtung des Körpers und der Seele als Losung gegen den weichlichen
+Luxus der Zeit ausgibt, fängt es in ihm selber anders an zu brennen: er
+denkt an die Scharen der Bettelkinder, und daß keinem Tanner auf dem
+Birrfeld mit einer solchen Losung gedient sei, die für die Herrenkinder
+und Stadtbürgersöhne allein gedacht ist. Er sieht die gepflegten
+Gesichter der Zuhörer, die aus der Sicherheit ihres Standes tapfer und
+begeistert sind, gegen den Luxus zu kämpfen, und kommt sich plötzlich
+als ein Fremdling der Armut unter ihnen vor: Es ist eine ältere
+Generation! will er sich trösten; aber als er am andern Nachmittag
+allein auf der Höhe bei Brunegg steht, wo der Blick zurück auf das
+saubere Bad Schinznach trifft, aber vor ihm in die armselige Breite
+des Birrfeldes geht, fühlt er die Scheidung der Menschlichkeit in arm
+und reich wie zwei feindliche Heerlager, dazwischen er selber als
+heimatloser Überläufer im Zwiespalt geblieben ist. Sein Jaköbli bekommt
+zwar danach manches von den spartanischen Vorschlägen des Landvogts zu
+spüren, aber ihn selber treibt sein Gefühl in andere Notwendigkeiten.</p>
+
+<p>Unterdessen machen ein böses Frühjahr und ein trockener Sommer auch
+die Hoffnungen seiner Sennerei zunichte. Die ersten Viehkäufe hat ihm
+der Märki noch besorgt, und es sind nicht einmal die schlechtesten
+gewesen; als er sich selber in die Untiefen der Märkte wagt, stellt
+er oft genug den Dummen dar, den die Händler suchen.<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> Auch hat die
+kostspielige Einrichtung Schulden auf ihn gelegt, deren Zins ihn schon
+in guten Zeiten drückte; nun selbst die Bauern mit fetteren Ländereien
+in Futternot geraten, sitzt er auf seinem steinichten Neuhof bald in
+der Dürre da. Ein Stück Vieh nach dem andern geht ihm fort, bis der
+Rest den Aufwand seiner Sennerei nicht mehr ertragen kann. Da er mit
+den Zinsen in Rückstand bleibt, werden die Gläubiger besorgt; als erst
+einer sein Kapital gekündigt hat, folgen die andern dem Beispiel, und
+so steht eines Tages Heinrich Pestalozzi zum zweitenmal vor der Not,
+daß ihm seine Besitzung versteigert wird.</p>
+
+<p>Es liegen fünfzehntausend Gulden Schulden darauf, und diesmal ist kein
+Bankherr als Teilhaber da, der sich mit einem Verlust herauszieht. So
+bitter und demütigend es für Heinrich Pestalozzi ist, nun können nur
+noch die Erbhoffnungen seiner Frau den Neuhof retten. Sie einigt sich
+mit ihren Brüdern — und hat nicht einmal Tränen gegen ihren Spott —
+daß sie die dringendsten Schulden für einen entsprechenden Verzicht
+auf ihre Erbschaft übernehmen. Nur glauben die nicht mehr an seine
+Landwirtschaft und richten ihm einen Baumwollenhandel ein, wo sie nach
+Zürcher Art den Rohstoff liefern, den er im Birrfeld zum Spinnen und
+Weben in die Häuser geben muß, sodaß er nichts als den karg bezahlten
+Aufseher ihrer Geschäfte vorstellt. Als endlich stürzende Herbstfluten
+den dürren Sommer auslöschen, ist von dem Traum seines Lebenskreises,
+der Wohlstand und Segen in der ärmlichen Landschaft verbreiten soll,
+nichts geblieben, als daß er im Dienst städtischer Fabrikherren<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span>
+die Not des Bauernvolks ausnützen hilft; und es bedürfte nicht der
+Erinnerung an den Ernst Luginbühl im Webstuhl und an den Großvater mit
+seiner Verachtung dieser ins bäuerliche Leben einfressenden Industrie,
+um ihm sein zertretenes Dasein zur Qual zu machen.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>50.</h3>
+</div>
+
+<p>Es sind nicht immer die eigenen Kinder der Bauern und Tanner,
+die Heinrich Pestalozzi in den Baumwollstühlen das Elend ihrer
+verwahrlosten Jugend weben sieht, sehr häufig sind es Waisen, von der
+Gemeinde ausgedungen, die ihren Pflegern das harte Brot verdienen
+müssen. So schneidend traurig es für ihn ist, daß er Anna und ihren
+Knaben mit in den Zusammenbruch seiner Traumgebäude gerissen hat,
+schlimmer greift es ihn an, Helfershelfer dieser Ausnützung zu sein.
+Sein Herz zittert, wenn er in die Häuser muß, und das früh verblaßte
+Gesicht Ernst Luginbühls kommt wieder in seine Träume. Immer deutlicher
+fühlt er die Hand des Schicksals, die ihm alles zerbricht, was er
+selbstgefällig in seine Hand nimmt; und tagelang kann er verscheucht
+im Neuhof sitzen, über seine Schuld an diesem Schicksal zu grübeln.
+Zuletzt empfindet es sein verscheuchter Geist fast als Milderung, daß
+die Teuerung ihm noch schlimmeres Elend vor den Neuhof treibt.</p>
+
+<p>Denn die an den Webstühlen sitzen, haben immer noch Bett und
+Brot, während ihrer viele von der Hungersnot in den Straßenbettel
+getrieben werden, daß sie wie herrenlose Hunde die Häuser der Reichen
+umlagern und<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> auf den Abfall der Haushaltung warten. Auch vor den
+Neuhof kommen sie scharenweis, und Heinrich Pestalozzi, der ihre Hudeln
+und die von der Krätze entstellten Hände, ihre Frechheit und die
+Verkommenheit der jungen Gesichter sieht, kann Tränen der Bitterkeit
+weinen, wenn er bei diesem Anblick an den Vortrag des Landvogts
+Scharner denkt; solange es Luxus und dieses grausame Elend gleichzeitig
+gibt, sind alle patriotischen Träume leichtsinnige Spielereien. Es
+treibt ihn, sich ganz zu den Enterbten zu schlagen, und oftmals nimmt
+er ihrer einige ins Haus, mehr als das Brot mit ihnen zu teilen; er
+sieht, wie unmenschlich sie schon geworden sind, gierig und in aller
+Heimtücke der Verstellung geschickt: aber er wendet unermüdlich die
+Erzieherklugheiten an, die er an seinem Jaköbli erfahren und geübt
+hat und immer sicherer wird es ihm, daß er damit an ein Zaubermittel
+rührt, ihrer Verkommenheit statt von außen von innen zu begegnen.
+Was sonst in Stadt und Land sich als Wohltätigkeit breitmacht, setzt
+eine Weltordnung voraus, dazu die hilflose Verkommenheit der Armut
+so unabänderlich gehört wie der Überfluß des Reichtums, während —
+das wird ihm sicherer mit jedem Tag — in jedem dieser Bettelkinder
+der natürliche Keim zu einem rechtschaffenen Menschen steckt, nur
+daß keiner daran denkt, den zu bilden und also der Armut von innen
+beizukommen.</p>
+
+<p>Was in andern Zeiten für Heinrich Pestalozzi nur eine hitzige Erfahrung
+gewesen wäre, das ergreift seine gedemütigte Natur nun zur Rettung, und
+eines Tages löst die Verzweiflung dieser Zeit die tiefe Erkenntnis<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span>
+seines Schicksals aus: Ich mußte arm werden aus meinem Hochmut der
+Wohlhabenheit; denn wie soll einer dem Armen helfen können, der mit
+den Sorgen seines Besitztums belastet ist? Wohlstand und Reichtum
+sind Zwangsherren; was für Umstände und Vorsichten braucht es, sie zu
+erhalten? Der Reiche kann nicht der Bruder des Armen sein; denn Geben
+und Nehmen scheidet ihre Seelen. Darum steht im Evangelium geschrieben:
+verkaufe, was du hast, und gibs den Armen!</p>
+
+<p>Seine Frau erschrickt, wie sie die Botschaft hört; sie fühlt sofort,
+daß dies eine neue Prüfung wird; doch kennt sie ihre Sendung, das
+Senkblei seiner Stürme zu sein, und obwohl sie um ihren Knaben zittert
+— der durch all die neuen Worte des Vaters nicht gestört worden
+ist, aus seinen Brettchen ein Haus zu bauen, und der sie ungestüm an
+der Hand herbei holt — nickt sie dem Mann erst zu, bevor sie das
+Wunderwerk des Knaben bestaunt. Es ist einer wie der andere, denkt sie
+und sieht die Spalten zwischen den Brettern, die trotzdem ein Dach
+bedeuten sollen: aber es sind Männer und sie wollen bauen, während wir
+Frauen wohnen möchten.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat nichts von ihrer Bewegung gemerkt, er ist
+hinausgegangen in den Abend, wo der verspätete Herbstregen schon wieder
+in Strömen fließt, und läuft dem Sturz seiner Gedanken nach bis in die
+Dunkelheit. Und während die Täglichkeit danach auf dem Birrfeld ihre
+Herbstarbeiten macht und mancher Blick mit Mitleid das niedrige Dach
+des Neuhofs streift, wo die Sorgen — wie jeder weiß — dem vorwitzigen
+Herrenbauer aus Zürich ans Fundament seines<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> Daseins gegangen sind,
+sitzt Heinrich Pestalozzi glücklich bei seinem Knaben und baut Häuser,
+Brettchen auf Brettchen, ob sie zusammenstürzen, unermüdlich aufs
+Neue, bis der Plan seiner Armenkinderanstalt fertig ist: Ich habe ein
+zu großes Haus, sie haben keins; mir fehlen die Hände, die Felder zu
+bestellen, und ihnen mangelt die Arbeit! Was gilts, wenn wir Armen
+uns zusammentun, sind wir reich! Sie sollen mir spinnen für ihren
+Unterhalt, und ich will sie lehren. Ich will sie säubern von ihrem
+Schmutz und will selber rein werden von den Geschäften, für die ich
+nicht geschaffen bin. Ich habe mein Haus Neuhof genannt, als ob es eine
+Neuigkeit wäre, noch ein Haus wie tausend andere dahin zu stellen; nun
+aber soll es ein Neuhof sein, wie keiner vordem war: ein Neuhof, wo die
+Armut sich selber durch Arbeit und Lehre zur Menschlichkeit verhilft,
+die sonst in Faulheit und Laster betteln geht. Jetzt weiß ich, warum
+ich auf dieses steinichte Birrfeld mußte; und wenn weiter Sorgen und
+Not kommen, will ich sie gern tragen, weil es die Sorgennot der armen
+Menschheit, nicht mehr die meine ist!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>51.</h3>
+</div>
+
+<p>Das Jahr ist noch nicht zu Ende, als Heinrich Pestalozzi schon die
+ersten Bettelkinder im Hause hat. Er kalkuliert, daß der Abtrag ihrer
+Arbeit die Kosten einer einfachen Erziehung bestreiten müsse, und gibt
+sich zuversichtlich daran, die Sennerei in einen Raum zum Spinnen
+umzuwandeln, den er seine Fabrik nennt. Die Schwäger in Zürich, die mit
+seinen Baumwollgeschäften<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> schon unzufrieden waren, lamentieren über
+den neuen Plan und beschwören Anna, daß sie ihn davon abhalten möge.
+Ihnen, die seine Lage kennen, darf er sein Herz nicht öffnen, er muß
+ihnen vorrechnen, daß es für ihn selber eine Rettung aus seinen Nöten
+sei; es fällt ihrer Geschäftsgewandtheit nicht schwer, ihm die Irrtümer
+seiner Kalkulation mit spöttischen Fragezeichen anzumalen; aber weil
+Anna mit Standhaftigkeit die Mutterschaft seines Armenkinderhauses
+antritt, schlägt er den Widerstand nicht an.</p>
+
+<p>Für Anna ist es ein Opfer, sie fängt schon an zu kränkeln, auch
+stehen ihr als Stadtherrnkind die Hände nicht danach, verwahrlosten
+Bettelkindern die Läuse abzulesen. So schlimm es ihr erging in den
+Kämpfen dieser Jahre, in den Stuben ist die Ordnung und Reinlichkeit
+ihrer Gewohnheit geblieben, Freunde sind auf Besuch gekommen, und
+wenn Abends die Messinglampe brannte, senkte sich doch ein Stück
+Gottesfrieden in ihren warmen Schein: nun geht das alles hin wie
+ein schöner Traum; als ob sie selber mit ihrem Knaben ins Armenhaus
+gekommen wäre, dringt der Geruch der Hudeln und das Geschrei der
+Verwahrlosung durch ihre behüteten Räume. Aus sich selber hätte sie
+dergleichen niemals vermocht, obwohl es ihrem Herzen nicht an Edelmut
+fehlt; der gierigen Tatensucht ihres Gatten vermag sie um so weniger zu
+widerstreben, als sie das Glück sieht, das nach der mutlosen Dumpfheit
+so vieler Jahre über ihn gekommen ist. Sie hat ihn nun wieder, wie er
+als Jüngling werbend vor ihr gestanden hat, trotzig bereit, sich die
+Adern aufzuschneiden, wenn<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> sein Blut für etwas Edles fließen müßte;
+und da es dieser rauschhafte Edelmut ist, um dessentwillen sie ihn
+andern Männern von soliderer Daseinsfestigkeit vorgezogen hat, nimmt
+sie — zum wenigsten im Anfang — auch dieses Los gern auf sich, das
+ums Vielfache schwerer als das ihres Mannes ist: weil ihr Teil allein
+die Aufopferung ist, wo er den Genuß seiner Idee und die Befriedigung
+seiner Natur hat.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi weiß von Anfang an, daß es mehr gilt als seine
+eigene Anstalt, und daß er wohl die Menschenfreunde des Landes anrufen
+darf, ihm beizustehen; wenn erst sein Versuch gerät, ist allerorten
+ein Beispiel gegeben, auf menschlichere und gründlichere Art mit der
+Bettlerplage aufzuräumen als durch Landreiter: das Wort des Großvaters
+in Höngg, daß er andere Mittel wüßte als die monatliche Betteljagd der
+gestrengen Herren, liegt ihm dabei wie ein Vermächtnis im Sinn. So
+scheut er sich nicht, selber die Betteltrommel für sein Werk zu rühren
+und mit einem Flugblatt an den Türen der reichen Häuser in Basel, Bern
+und Zürich anzuklopfen. Es ist zum erstenmal seit jener jugendlichen
+Mitarbeit am Erinnerer, daß er die Feder in die Hand nimmt; er ist
+unterdessen ein Jahrzehnt älter geworden und steht mitten in den Nöten
+des Lebens, dem sein Jünglingseifer mit römischen und griechischen
+Schulideen zu Leibe wollte. So wird es eine andere Rede, als er sie
+damals aus Demosthenes übersetzte, ein Quell wirklicher Nothilfe fließt
+darin und rührt an die Herzen, daß vielerorten Gutwillige, von der
+Neuheit des Planes wie von seiner hinreißenden Darstellung<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> gewonnen,
+dem Urheber auch das Vertrauen schenken, ihn auszuführen. Was er sich
+in seiner Lernzeit als Lebensberuf gedacht hat, ein Fürsprech des
+niederen Volks zu sein, das ist er damit unvermutet doch noch geworden,
+und die Besten im Lande lohnen ihm seine erste Rede mit freudigem Opfer.</p>
+
+<p>Geschwellt von diesem Beifall wächst sich der Plan bald aus. Anna
+Pestalozzi mit zwei Mägden leitet die Mädchen in allen Arbeiten der
+Küche und des Haushalts an, sie lernen waschen, nähen, flicken, auch
+die einfache Gartenarbeit, während die Knaben mit den Knechten auf die
+Felder, in die Ställe und in die Scheune gehen: sie sollen für kein
+anderes Leben aufgezogen werden als das der ländlichen Arbeit, wie
+es ihrer wartet, und bei allem zugreifen lernen, was die gemeinsame
+Haushaltung ihnen unter die Hände bringt. Daneben müssen sie spinnen
+und weben, und hierfür hat Heinrich Pestalozzi das Glück, in der
+Jungfer Madlon Spindler aus Straßburg eine vortreffliche Lehrmeisterin
+zu finden, die bald als das Spinner-Anneli im ganzen Birrfeld bekannt
+ist. Er selber gibt den Kindern Unterricht; denn wenn sie auch zu
+keinem andern Leben als dem der Armut abgerichtet werden sollen, die
+Wurzel seines Planes bleibt doch, Menschen aus ihnen zu machen, die
+das Bewußtsein ihrer menschlichen Würde nicht mehr verlören und auch
+dem schlimmsten Los die Unverlierbarkeit ihrer Seele entgegenzustellen
+vermöchten. So lehrt er sie nicht nur das Abc, sondern versucht in
+die zufälligen Wahrnehmungen ihrer Sinne die Ordnung einer bewußten
+Anschauung zu bringen, indem<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> er sie anleitet, über das Gefühl des
+Augenblicks das Urteil ihrer eigenen Erfahrung Meister werden zu
+lassen. Was er selber in den Gesprächen mit dem Jaköbli erfahren hat,
+wendet er nun an, und ob er oft einsehen muß, daß ihm viel zu einem
+Schulmeister fehlt, weil er zu hitzig und zu blind in seinem eigenen
+Eifer wird, sodaß er leicht mit einem Gedanken schon ans Ende gelaufen
+ist, während sie noch begossen vom Schwall seiner Worte den Anfang
+garnicht gefunden haben: so verliert er doch hierin den Mut nicht,
+schließlich die rechten Kunstmittel zu finden, um auch im Blödesten
+noch den Keim zu wecken.</p>
+
+<p>Über allem aber steht wie eine himmelhohe Rauchsäule das Glück, als
+Dreißigjähriger endlich dem Leben zu dienen, statt sich im Erwerb der
+Lebensmittel aufzureiben. Als der Ratsschreiber Iselin eine Zeitschrift
+nur für die Fragen der Volkswohlfahrt gründet, die er die Ephemeriden
+nennt, glaubt Heinrich Pestalozzi wirklich wieder in den Zeiten der
+Gerwe zu leben; nur, was damals Überschwall jugendlicher Ideen gewesen
+ist, das lebt nun als Tat und Wirklichkeit, und er steht mitten drin.
+Kein Geringerer als der Landvogt Tscharner auf Wildenstein tut ihm die
+Ehre an, in siebzehn Briefen über Armenanstalten auf dem Lande seine
+Pläne zu erörtern; und wie er ihm darauf mit eigenen Briefen in den
+Ephemeriden antworten, seine Ansichten und Bedenken, seine Hoffnungen,
+Erfolge und Enttäuschungen vor den Gebildeten seines Landes darlegen
+darf, in der Gewißheit, man achtet seiner und horcht auf ihn: da steht
+Heinrich Pestalozzi endlich da, wohin<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> sein Traum in zwei Jahrzehnten
+gegangen ist. Nicht zu genießen, sondern zu wirken ist der Trieb
+seines Lebens; als er mit der Landwirtschaft sein Dasein auf die
+eigene Wohlfahrt gründen wollte, hatte ihn das Schicksal gedemütigt,
+bis er die Hand darin erkannte; nun liegt die Landwirtschaft und die
+Collegienzeit hinter ihm als bittere Lebensschule, die Sehnsucht seiner
+Jugend ist keine Täuschung gewesen, der Traum wurde doch Wahrheit; und
+so mühsam, so aufreibend in hundert Hindernissen sein Dasein geworden
+ist, ein gepeitschtes Wasser, darauf der Kahn seiner Häuslichkeit ohne
+Segel und Ruder verlassen schwimmt: die Tage seines Glücks sind da,
+weil nichts mehr zwischen seinem Gewissen und seinen Geschäften steht.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>52.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi merkt lange den Zwiespalt nicht, an dem sein Glück
+scheitern muß. So überzeugend seine Zahlen auf dem Papier stehen, daß
+die Anstalt sich aus sich selber zu halten vermöge: als die Armenkinder
+wirklich da sind, kommt es zwingender als früher darauf an, die
+vergrößerte Haushaltung wirtschaftlich zu halten; denn die Zuschüsse
+der Menschenfreunde, so tapfer sie auf seine Bitte eingehen, decken
+nicht einmal die erste Einrichtung. Um das Exempel aus dem Papier in
+die Praxis zu bringen, bedarf es anderer Finanzkünste, als sie Heinrich
+Pestalozzi geläufig sind; seine Geschäftsführung kommt schließlich
+doch wieder auf die alte Torheit hinaus, die kleinen Löcher aus einem
+großen Loch zu flicken, und wenn das zu bedenklich wird, mit<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> einem
+phantastischen Lappen die Blöße zu decken. An Einfällen hierzu fehlt es
+ihm nicht; nach Jahresfrist ist aus seiner Anstalt schon eine wirkliche
+Fabrik geworden, indem er die Baumwolle nicht nur spinnen und weben,
+sondern die gewebten Stoffe auch färben und bedrucken läßt, und eines
+Tages erleben die Zurzacher den Spaß, daß der Armennarr vom Neuhof —
+wie er nun schon im ganzen Aargau heißt — selber seinen Stand auf
+ihrer Messe aufgeschlagen hat, gefärbte und bedruckte Baumwollentücher
+zu verkaufen.</p>
+
+<p>Irgend ein Spaßvogel bringt die Absprache auf, daß er sich eine
+reichliche Bestellung abmessen läßt; wie aber Heinrich Pestalozzi
+glücklich seine Elle geschwungen hat und schwitzend hinter dem Berg
+seiner entrollten Ware steht, entdeckt der angebliche Käufer soviel
+Fehler, daß er ihm scheltend alles hinwirft und unter dem Gelächter der
+andern verschwindet. Erst als ihm das zum drittenmal begegnet, merkt
+seine Harmlosigkeit, daß es die Rache der Händler für die unerbetene
+Konkurrenz ist. Er läßt sich von seinem Zorn hinreißen, mit seiner Elle
+dem Mann nachzuspringen, weil aber der halbe Markt mit Hetzgeschrei
+hinter ihm herläuft, bleibt er doch der Gefoppte. Als er am dritten Tag
+entmutigt abführt, hängt hinten an seinem Wagen — ohne daß er es merkt
+— ein freches Schild: Hier wird um Gotteswillen schlechte Ware für
+gute verkauft!</p>
+
+<p>Der Spott trifft ihn tief, weil seine Ware wirklich nicht gut ist
+und es auch gar nicht sein kann. Die Kinder, zum Teil mit Zwang in
+seine Arbeit gebracht, sind viel zu sehr ans Bettelgeläuf gewöhnt,
+um die strenge<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> Arbeitszucht zu ertragen; wenn sie den ersten Hunger
+gesättigt haben und in sauberen Kleidern stecken, jammern sie nach
+ihrem ungebundenen Elend. Immer wieder geht eins in der Sonntagnacht
+mit den guten Kleidern davon, und es wiederzuholen ist schwierig,
+weil die Bauern — denen er die billigen Arbeitskräfte der Kinder
+fortgenommen hat — ihm feindlicher sind als je und auch die Behörden
+der neumodischen Gesinnung im Neuhof argwöhnisch mißtrauen. Selbst die
+Gutwilligen bleiben selten länger, als ihre Zwangszeit ist, und darum
+hat sein klug ausgerechneter Plan, mit dem Verdienst der Zöglinge die
+Anstalt zu erhalten, das böse Loch, daß er nur die fehlerhafte Ware von
+Anfängern liefern kann.</p>
+
+<p>Zu alledem muß Heinrich Pestalozzi immer bitterer bemerken, daß
+er selbst für die Schulmeisterei weder geeignet noch geübt ist;
+unausgesetzt beschäftigt, die richtige Lehrart zu finden — sodaß
+eigentlich nur er allein bei seinem Unterricht etwas lernt — ist er
+ganz unfähig, drei Dutzend solcher Kinder in Disziplin zu halten. Im
+Augenblick überfließende Liebe und im nächsten maßloser Zorn, steht er
+machtlos inmitten ihrer Tücke, die sich vor seinen Schlägen fürchtet
+und bei seiner Liebe heuchelt; um beides zu verhöhnen, wenn er den
+Rücken gewandt hat.</p>
+
+<p>Niemand fühlt diese Mängel tiefer als seine Frau, die nun den Schmerz
+erlebt, den Geliebten auch in den Dingen seiner Neigung unfähig wie
+im praktischen Erwerb zu sehen; bald hat sie statt seiner die Leitung
+der Anstalt in der Hand, während er unruhig von einem<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> zum andern
+läuft, mehr verwirrend als fördernd. Durch einige Jahre erhält sie
+mit unmenschlichem Kampf den äußeren Bestand der Dinge, dann wird
+sie krank, und kaum hat sie einige Wochen gelegen, als auch schon
+die Unbotmäßigkeit zur Überschwemmung anschwillt, darauf Heinrich
+Pestalozzi mit seinem unsteten Willen wie ein Kork schwimmt. Ein
+paarmal rafft sich die Tapfere noch auf, die Sache zu retten; aber mit
+ihren vierzig Jahren ist sie für die stündlichen Aufregungen nicht mehr
+stark genug. Auf einem verzweifelten Besuch bei ihrer Freundin, der
+Frau von Hallwyl, kommt sie ernsthaft zu liegen und kehrt nicht mehr
+auf ihren Posten zurück.</p>
+
+<p>Die Anstalt ist unterdessen mit den Bedienten auf fünfzig Mäuler
+angewachsen, deren Ernährer Heinrich Pestalozzi sein soll, schon drohen
+die Gläubiger mit der Vergantung, während er immer nach neuen Plänen
+rudert, die alten zu retten: Seit zwei Jahren ist das Bärbel mit dem
+Kaufmann Groß in Leipzig verheiratet, wo sie schon an Kindesstelle
+bei der verwitweten Tante Weber gewohnt hat. Ihr Mann führt die
+Geschäfte des Hauses Weber, sodaß die Schwester als die eigentliche
+Erbin im Wohlstand lebt; Heinrich Pestalozzi hat sich in seiner Not
+an sie um ein Darlehen gewandt, und wirklich erscheint eines Tages
+im November sein Bruder Johann Baptista, der nach wechselnden Jahren
+einer verunglückten Kaufmannschaft wieder in Zürich lebt, als ihr
+Mittelsmann, den letzten Versuch einer Rettung zu machen. Es kommt ein
+Vertrag zustande, worin die Scheune mit zwanzig Jucharten um den Preis
+von<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> fünftausend und etlichen Gulden verkauft wird, um damit Deckung
+für die dringendsten Schulden zu gewinnen.</p>
+
+<p>Eifrig wandert Heinrich Pestalozzi eines Morgens nach Hallwyl hinaus,
+seiner kranken Frau die glückliche Wendung anzusagen, und schon malt
+er sich den Traum einer Kolonie aus, wo Anna mit dem Knaben wieder auf
+dem Neuhof ihr ruhiges Heim haben soll, während die Zöglinge rundum
+mit einzelnen Hausvätern in besonderen Gebäuden wohnen; aber als er
+heimkommt, ist Johann Baptista mit dem Geld unterwegs, sich in Amerika
+eine Farm zu kaufen, wie er ihm in einem Abschiedsbrief hinterläßt.
+So steht er mitten in seinem Unglück auch noch vor dem Zwang, für die
+Mutter und vor der Welt seinen ehrlichen Namen zu retten. Er muß zum
+andernmal nach Hallwyl, und nun wächst kein Traum einer Gartenkolonie
+mehr in seiner verdüsterten Seele; er geht noch am selben Tag, und
+weil es Abend geworden ist, den größten Teil des langen Weges in der
+Dunkelheit. Hinter Lenzburg verirrt er sich und findet die Brücke nicht
+über die Aa, bis er durch das kalte Wasser hindurch watet. Ein paarmal
+ist der Gedanke in ihm, daß die Verirrung dauernd werden möchte, dann
+hilft ihm der aufgehende Mond mit seinem ungewissen Licht auf die
+Straße zurück, die ihn mit eisnassen Strümpfen nach Schloß Hallwyl
+bringt. Da wartet er in der Dunkelheit des Morgens wie ein Bettler am
+Tor, bevor er einen Knecht herausgeklopft hat.</p>
+
+<p>Nun muß Anna Schultheß noch einmal die Taschen ihrer wohlhabenden
+Herkunft absuchen; ihr Vater, auch Freunde helfen schließlich, den
+Schlund notdürftig zuzustopfen<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> — wie sie den Neuhof nennen —
+nur wird ihm unbarmherzig die Bedingung auferlegt, die Anstalt zu
+schließen. Und damit es keinen Ausweg gibt, wird ein neuer Verkauf
+gemacht, worin Johann Heinrich Schultheß die Fabrik und den größten
+Teil des Landes übernimmt, um einen Pächter einzusetzen.</p>
+
+<p>So kommt nach fünf Jahren der Tag, da Heinrich Pestalozzi seine
+Dienstleute entlassen und die Kinder wieder in die Bettelarmut
+zurückgeben muß, daraus er sie in seinen Neuhof geholt hat. Er findet
+noch die Tapferkeit, ihnen allen mit einer Abschiedsansprache ans
+Herz zu gehen, und es sind nun doch viele Hände, die sich nach ihrem
+Vater strecken. Dann aber, als auch dieser Vorfrühlingstag im ewigen
+Kreislauf der Gezeiten dunkel wird, bleibt er allein in den verlassenen
+Stuben zurück. Die Messinglampe ist noch da, die ihm so manchen Abend
+seiner einsamen Jungmannszeit in Müligen erleuchtet hat; er steckt
+sie nicht an, obwohl unter dem bedeckten Himmel kein Stern aufkommen
+will; es tut ihm wohl, daß seine Augen nichts mehr von allem zu sehen
+brauchen, das nun sinnlos geworden ist. Die ganze Nacht hindurch sitzt
+er wach in seinem Stuhl; erst als der Morgen kommen will, legt ihm der
+Schlaf seine Hand auf die Augen, daß er das Gespenst des leeren Hauses
+nicht in der Todestraurigkeit der ersten Morgenfrühe sähe.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>53.</h3>
+</div>
+
+<p>Am Nachmittag des andern Tages schließt Heinrich Pestalozzi die Tür
+am Neuhof zu, die dritte einsame<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> Wanderung dieser Tage anzutreten.
+Bis Brugg weiß er noch nicht, wohin sie führen soll, dann ist es der
+Ratsschreiber Iselin in Basel, an den sein inneres Gefühl sich wendet;
+er sieht die klargütigen Augen des Mannes und hört seine Stimme, als
+ob er schon vor ihm stände: von allen Freunden seiner Jugendheimat
+weiß er keinen seiner Not so nah wie diesen ihm wesensfremden Basler,
+zu dem er nun über den Jura wandert. Er kommt an dem Tag nur noch bis
+Frick und als er da eine Herberge suchen will, merkt er, daß er ohne
+Geld wegging. Es scheint ihm fast recht, denn mehr als ein Bettler
+kommt er sich kaum vor; müde sitzt er am Wegrain und denkt schon,
+sich um Gotteswillen ein Obdach zu erbitten, da treibt ein Ziegenhirt
+seine Herde an ihm vorbei, lustig auf einer Holzpfeife blasend, die
+er aus jungem Saftholz geschnitten hat. Er selber hätte ihn garnicht
+erkannt, aber der Bursche hält gleich mit dem Stecken sein meckerndes
+Volk zurück und ruft ihn an, höflich den alten Hut lüftend. Es ist ein
+Zögling, der vor einigen Jahren als Waisenkind kurz bei ihm war und nun
+in Frick die Ziegen hütet. Treuherzig von ihm eingeladen, geht Heinrich
+Pestalozzi mit auf den Hof, wo er bei einem rechtschaffenen Bauer
+— der durch den Burschen Gutes von ihm weiß — ein sauberes Lager
+angeboten erhält, bevor er darum zu bitten braucht.</p>
+
+<p>Der freundliche Zufall gibt ihm eine bessere Stimmung in den andern
+Morgen, da er nach dankbarem Abschied seine Wanderung fortsetzt; und
+eben läuten die Basler Glocken den Mittag ein, als er gegen Sankt<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span>
+Albanstor kommt. Da hat sich ein Blinder an den Weg gesetzt, seinen
+Hut vorzustrecken, so oft er Schritte hört. Heinrich Pestalozzi vermag
+nicht, an ihm vorbeizugehen, und weil er nichts anderes schenken kann,
+löst er die silbernen Schnallen von seinen Schuhen und wirft sie in
+den Hut. Er fühlt, daß es unnütz ist, aber in seinem Zustand tut es
+ihm zornig wohl, das Letzte freiwillig hinzuschenken, wo ihm soviel
+gewaltsam genommen ist. Doch vermag er ohne die Schnallen nicht zu
+gehen, und so flicht er aus Binsengras ein paar dünne Riemchen, mit
+denen er die Schuhe zur Not bindet.</p>
+
+<p>Mehr als einer in den geläufigen Gassen sieht verwundert nach seinen
+Füßen, und auch der Ratsschreiber, als er den unvermuteten Gast selber
+an der Tür abnimmt, vermag seine Blicke nicht zu behüten. Da Heinrich
+Pestalozzi nicht mit der Unwahrheit vor ihm stehen will, als fehle es
+ihm schon derart am nötigsten, erzählt er ihm den Vorfall, worauf ihn
+Iselin, der im Alter sein Vater sein könnte, kopfschüttelnd und nassen
+Auges über soviel Einfalt in die Arme schließt. Nach diesem Empfang
+ist es ihm nicht mehr schwer, die letzten Stationen des Leidensweges
+seinem Patron bekannt zu geben, der sich mehr als ein andrer in den
+Ephemeriden und sonst für ihn eingesetzt hat. Er ist bis ins einzelne
+vorbereitet und hat auch schon eine Antwort zurecht, die mehr als ein
+leerer Trost ist: die Anstalt sei ein Experiment gewesen, und wer in
+der Wissenschaft gearbeitet habe, wisse wohl, daß es auf die Resultate
+ankomme. Freilich bliebe es für ihn ein Schicksalsschlag, daß er das
+Vermögen seiner Frau dabei verloren habe;<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> aber er sei jung und besäße
+in seinem Neuhof immer noch ein gutes Dach über dem Kopf. Am Ende
+wäre alles für ihn nur die Grundlage einer anregenden und fruchtbaren
+Schriftstellerei gewesen. Ob an dem Emil etwas schlechter würde, wenn
+Rousseau selber etwa mit einem solchen Erziehungsversuch gescheitert
+wäre? Man könne freilich mit derartigen Dingen keine goldenen Berge
+erwerben, aber eine bescheidene Ernährung solle sich eine so starke
+Feder wie die seine schon erzwingen können. Da wäre zum Beispiel das
+Preisausschreiben der Basler Aufmunterungsgesellschaft: Wieweit es
+schicklich sei, dem Aufwand der Bürger Schranken zu setzen? Ob er es
+nicht einmal um die zwanzig Dukaten versuchen wolle?</p>
+
+<p>Iselin spricht das alles noch vor seinem Stuhl stehend, und reicht
+ihm die Nummer der Ephemeriden hin, als ob es nur noch an ihm läge,
+die zwanzig Dukaten einzuheimsen; dann geht er hinaus, den Gast zum
+Essen einzumelden. Der sitzt mit dem Blatt in den Händen und vermag
+keinen Buchstaben zu lesen; die Stimme des Ratsschreibers ist wie ein
+Frühlingsregen auf seine verstaubte Stimmung gerieselt; auch hat er
+die Worte nicht alle verstanden, nur wohlig den herrlichen Ton der
+Gesinnung und den unbeugsamen Willen gespürt. Warum bin ich nicht mit
+meinem Werk in der Nähe dieses Mannes gewesen statt in der Daseinsluft
+des Metzgers Märki? denkt er immerfort, und die Tränen rinnen ihm auf
+den Rock. Er ißt mit ihm, und als der Ratsschreiber — der gerade
+Strohwitwer ist — mit einem Scherz das Glas gegen das seine hebt,
+vermag er schon wehmütig<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> wieder zu lächeln. Er läßt sich danach drei
+Tage lang von ihm betreuen, auch seine Schnallen bekommt er wieder,
+weil der Ratsschreiber sie heimlich bei dem blinden Stammgast vor St.
+Alban eingelöst hat, und als er in der vierten Frühe die Rückwanderung
+antreten will, hat ihm der väterliche Iselin einen Platz bei der Post
+bezahlt. So kann er dem Ziegenhirt hinter Frick nur von fern zuwinken,
+nicht einmal sicher, ob der auf ihn rät. Ihm ist er auf dieser traurig
+begonnenen Wanderfahrt fast so wert gewesen wie der Ratsschreiber, und
+noch während die Post in den breiten Talkessel von Brugg einrollt,
+denkt er, daß sein Traum einer menschlichen Gemeinschaft trotz aller
+Verschiedenheit der Stände, geeinigt durch ein sittliches Bewußtsein,
+doch nicht von den Sternen wäre.</p>
+
+<p>Trotzdem wird es ihm schwer, von Brugg aus den Weg in das Trümmerfeld
+seiner Wirksamkeit zu gehen, wo viele ihm ohne Gruß begegnen und einige
+Buben ihm höhnisch nachrufen. Aber als er gegen den Neuhof kommt, sieht
+er einen Knaben emsig am Brunnen spielen, der, als er ihn erkennt,
+jubelnd in seine Arme läuft. Es ist das Jaköbli, und die Mutter — der
+er Nachricht von Basel gegeben hat — ist auch da; sie sitzt, noch
+schwach von ihrer Krankheit, auf einem Baumstamm in der Sonne und hält
+tapfer lächelnd den Regenschirm in der Hand: Wir dachten, es möchte
+regnen; aber, Lieber, die Sonne scheint! Und erst als sie beide, den
+Kleinen an den Händen zwischen sich, hinein gegangen sind und die
+verlassene Stube mit ihrer Gemeinschaft füllen, daß die Leere durchs
+Fenster entweicht, tritt auch<span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span> die Frau von Hallwyl zu ihnen, die
+unterdessen beiseit gegangen war.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>54.</h3>
+</div>
+
+<p>So unsicher die Aussicht auf die zwanzig Dukaten der
+Aufmunterungsgesellschaft und die anderen Schriftstellereinnahmen für
+Heinrich Pestalozzi vorläufig ist, so bestimmt stehen die Schildwachen
+der Bedrängnis rund um den Neuhof. Es fehlt am Nötigsten, und für
+Anna ist die Zeit gekommen, die ihre Mutter prophezeite, ja selbst
+das Brot ist nicht immer da. So sieht sich Heinrich Pestalozzi als
+Schriftsteller in der lächerlichen Bedrängnis, nicht einmal das
+notwendige Papier zu haben. In dieser Not fällt ihm ein alter Erbkoffer
+ein, der mit anderem Haushalt von der Mutter bei der Einrichtung in
+Müligen herübergekommen ist und seit Jahren vergessen auf dem Speicher
+steht. Irgendein Vorfahr hat sein Leben lang in der Lotterie gespielt,
+und zwar in der Meinung, daß sich das Glück in Tabellen nachrechnen und
+erlisten ließe. Für diese Tabellen hat er sich dann Bogen mit roten
+Linien herstellen lassen, die Berechnungszahlen einzutragen. Damit ist
+der ganze eisenschwere Koffer gefüllt, durch den nun der gewinnsüchtige
+Vorfahr seinem Erben einen späten Liebesdienst leistet; denn selbst
+da, wo schon Zahlen eingeschrieben sind, lassen sich die Bogen noch
+benutzen, und Hunderte sind ganz frei.</p>
+
+<p>In diese rote Linienwelt schreibt Heinrich Pestalozzi das erste
+Resultat seiner Erfahrungen nieder, und es scheint fast, als ob die
+Tabellenfächer die äußere Form<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> bestimmten: es werden lauter einzelne
+Sprüche daraus, deren Weisheit in den roten Linien wie der Honig
+in Bienenzellen voneinander abgetrennt ist; aber ihr Geschmack ist
+bitterer Wermut. Er nennt sein Schriftstück die »Abendstunde eines
+Einsiedlers« und schickt es Iselin nach Basel, der es auch sogleich in
+die Ephemeriden gibt. Dadurch ermutigt, macht Heinrich Pestalozzi sich
+auch an die Preisaufgabe der Aufmunterungsgesellschaft.</p>
+
+<p>Es liegt nicht an der roten Liniatur, daß sein Eifer bei der zweiten
+Schrift erlahmt; so reich die Gedanken drängen, so schwer fließen ihm
+die Sätze dazu, auch mit den Forderungen der Schriftsprache kommt er
+nur seufzend zurecht. Er muß Bogen vollschreiben, um einige brauchbare
+Zeilen zu gewinnen, und die scheinen ihm wie gepreßte Pflanzen. Sich
+und die Seinigen zu ernähren — das sieht er bald — ist es kein
+Geschäft. Um andere Wege zu versuchen, nimmt er zum zweitenmal den
+Stecken, diesmal nach Zürich, wo die meisten seiner Freunde wohnen.
+Wieder geht er zu Fuß; es ist nur ein kleiner Tagesmarsch, und schon am
+Nachmittag kommt er zur Sihlporte herein. Eben will er über den Rennweg
+gegen das Fraumünster hin, als ihm einer der Schulgenossen begegnet,
+mit denen er damals nach Wollishofen hinaus gerudert ist, er hat ihn
+seither oft gesehen, zuletzt bei der lustigen Gesellschaft, die ihn
+nach seinem ersten Weihnachtsbesuch im Pflug ans Schiff brachte. Er
+freut sich, gleich einem Bekannten zu begegnen, aber ehe er noch bei
+ihm ist, entweicht der andre in eine Nebengasse.</p>
+
+<p>Als er nachher das Erlebnis dem Buchhändler Füeßli<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> erzählt, der
+von allen Zürchern am treuesten zu ihm steht, obwohl er nicht zart
+mit Worten ist, läuft der nach seiner Gewohnheit einigemal in der
+Schreibstube hin und her, wirft zornig ein Bündel Papier aufs andre,
+bis die Schriften in einem rechten Durcheinander sein müssen, und
+sagt ihm dann mitten ins flehende Gesicht: soviel sollte er doch die
+Zürcher kennen, daß sie ihn nur noch fürs Armenhaus oder das Spital
+kalkulierten; in einem Jahrdutzend eine vermögende Frau arm zu machen
+und wer weiß wen geschäftlich zu schädigen, das ginge ihnen über das
+bürgerliche Maß. Wenn er ehrlich sein wolle, müsse er ihm schon sagen,
+daß ihn seine Mitbürger für einen bösartigen Narren hielten! Dabei
+wirft er sein Kontobuch, das er gerade ergriffen hat, mit einem solchen
+Zorn in die Papiere, daß sein Tintenfaß erschrocken aufspringt und die
+Umgebung mit mehreren Klexen bespritzt. Er schüttelt ihm dann zwar
+freundlich die Hand, aber immer noch hat sein Zorn einen Hinterhalt:
+Was er denn meine, daß ihm Lavater gesagt habe? Er solle ihm einen
+einzigen Satz von Heinrich Pestalozzi beibringen, der sauber und ohne
+Fehler geschrieben wäre, dann wolle er ihn auch sonst noch für eine
+Sache im Leben brauchbar halten! Aber das unterschreibe er, der Hans
+Heinrich Füeßli, nicht; wenn er nur erst von seiner Narrheit abkäme,
+andern helfen zu wollen, bevor er sich selber geholfen habe, so würde
+sich schon etwas für ihn finden!</p>
+
+<p>Das hat der Gekreuzigte auch hören müssen, sagt Heinrich Pestalozzi,
+den der Zorn des andern angesteckt hat, und fegt nun auch hin und her,
+sodaß es für einen<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> Dritten, der in die Stube gekommen wäre, ausgesehen
+hätte, als machten die beiden ihre schlimmsten Händel aus. Dann
+überkommt ihn die Verzweiflung: Und wenn ich Perücken strählen müßte,
+ich würde es um der Meinigen willen tun! sagt er schmerzlich und läuft
+aus der Stube, weil ihm die Tränen fließen.</p>
+
+<p>Im Roten Gatter findet er auch keinen Trost; die Mutter, nun schon
+sechzigjährig, sieht ihn augenscheinlich in den Fußspuren seines
+Bruders, und das Babeli, eisgrau und wunderlich geworden in der
+Einsamkeit mit der verhärmten Frau, redet mit ihm, als ob sie ihn am
+liebsten noch einmal verwalke. Er muß von seinen Dingen günstiger
+sprechen, als sie sind, und vermag nicht über Nacht zu bleiben. Noch
+vor dem Abend geht er unter dem Vorwand dringender Geschäfte fort und
+auf Umwegen aus der Stadt; er ist in den letzten Monaten in eine wahre
+Gier gekommen, nachts zu wandern. An der Sihlporte fallen ihn die
+Wächter mit scharfen Fragen an; wo ehemals ausgediente Stadtknechte ihr
+Altersbrot hatten, stehen jetzt in aufgeputzten Uniformen stattliche
+Burschen, als ob sie für die Fremden zur Zier dahingestellt wären.
+In seiner Stimmung ärgert ihn die Neuerung, und während er in die
+sinkende Dunkelheit hinein läuft, verbeißt er sich in einen Zorn,
+daß solcherweise die Fortschritte wären, für die das Geld blindlings
+geopfert würde. Er fühlt wohl, daß der Anlaß seinem Zorn nicht
+entspricht, und um sich selber zu begegnen, übertreibt er den Vorfall,
+bis eine Schnurre daraus geworden ist, über die er selber mitten in die
+Nacht hinein lachen muß.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span></p>
+
+<p>Er kommt damit bis Baden; und wenn ihn dann seine Müdigkeit und die
+Nähe des Neuhofs wieder in seine Melancholie bringen, sodaß er sich die
+letzten Stunden nur noch in einer tonlosen Traurigkeit hinschleppt:
+am andern Morgen ist doch noch so viel von der höhnischen Lustigkeit
+dieser Nacht in seinem Bett, daß er bis in den Mittag darin liegen
+bleibt und von neuem an der Schnurre formt. Nachher nimmt er sich
+einige von den stockfleckigen Lotteriebogen vor und hängt seine
+Einfälle in die roten Linien hinein; ohne Sorgen, wie die Sätze werden,
+nur daß er seinen Zorn noch einmal so närrisch losbekäme. Um dem treuen
+Füeßli den Beweis seiner vollkommenen Narretei zu geben, wie er in
+einem Begleitbrief schreibt, schickt er ihm die Bogen zu; dann begibt
+er sich ingrimmig wieder an seine Preisaufgabe.</p>
+
+<p>Er ist noch dabei, aus dem Wust mit Ändern und Streichen die endgültige
+Fassung zu gewinnen, als er eines Nachmittags eine saubere Weibsperson
+mit einem Bündel kommen sieht, die bestimmten Schrittes auf den
+Neuhof zugeht und die er danach im Hausflur mit seiner Frau sprechen
+hört. Es scheint ihm, daß er sie kennt, und als er, von dem Jaköbli
+gerufen, hinzukommt, ist es die Lisabeth Näf aus Kappel, die vordem bei
+seinem verstorbenen Onkel, dem Doktor Hotze, als Dienstmagd gewesen
+und, soviel er weiß, von dessen Sohn — seinem Vetter — übernommen
+worden ist. Sie wolle bei ihnen in Dienst treten, erklärt ihm Anna,
+die augenscheinlich mit der resoluten Jungfer nicht fertig wird. Das
+würde schwer gehen, sagt er, sie seien arm<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> und könnten keine Dienste
+bezahlen! — Eben deshalb käme sie; sie wolle keinen Lohn; solange
+Frau Pestalozzi noch nicht gesund sei, müsse ihr jemand an die Hand
+gehen. Auch habe sie von dem Undank seiner Zöglinge gehört, daß sie
+ihm alle davon gelaufen wären, und da sie sich in Richterswyl nach dem
+Tod des alten Herrn entbehrlich oder gar überflüssig fühle, wolle sie
+versuchen, ihre Nahrung, mehr nicht, bei ihnen zu verdienen.</p>
+
+<p>Während Heinrich Pestalozzi noch zweifelnd erst seine Frau, dann
+wieder das Wunder ansieht, das aufrecht gewachsen und geraden Blickes
+da vor ihm steht, bittet sie schon wieder die Hausfrau, ihr ein Lager
+zu weisen, da sie heute jedenfalls nicht mehr zurück könne. In kaum
+einer Viertelstunde ist sie schon emsig im Hause, und andern Morgens
+denkt keiner daran, sie wieder fortzuschicken; nach einer Woche ist
+es so, als ob sie immer dagewesen wäre, so unbemerkt weiß sie sich in
+den gedrückten Haushalt zu schicken. Es sei fast zu spät, den Garten
+zu bestellen, sagte sie, ist aber schon dabei, ihn umzugraben; und
+bald merkt Heinrich Pestalozzi, daß in seinem verworrenen Hauswesen
+wieder der sichere Tageslauf der Sonne ist: Schritt für Schritt wird
+die Unordnung des Untergangs beseitigt und aus dem weiten Bereich des
+verwüsteten Gutes der saubere Umkreis des Hauses abgetrennt. Und als
+ob die eine tätige Hand ihren Takt auch in die andern brächte, fängt
+das gestörte Uhrwerk des Hauslebens wieder an, zu gehen. Selbst bis in
+seine roten Tabellen dringt ihre Sicherheit, sodaß er seine Preisarbeit
+bald zu Ende bringen<span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span> und die Reinschrift der Aufmunterungsgesellschaft
+in Basel nicht ohne Vertrauen auf ihren Wert zusenden kann. Daß man
+dem Aufwand der Bürger äußere Schranken setzen müsse, ist freilich
+nicht seine Meinung: Hier wie überall käme es nicht auf die Landreiter,
+sondern auf die Menschenbildung an.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>55.</h3>
+</div>
+
+<p>Unterdessen hat seine Schnurre über die Umwandlung der ungekämmten und
+krummen Stadtwächter in gerade und gekämmte in Zürich eine Art Glück
+gemacht. Auf der Durchreise von Italien nach London ist der ehemalige
+Freund Lavaters, der Maler Füeßli einen Tag lang bei seinem Vetter
+gewesen; er hat die Schnurre zufällig gelesen, und zwar mit so viel
+Spaß, daß er nicht begreifen will, wie es einem Mann mit einer solchen
+Begabung schlecht gehen könne: sein Talent als Schriftsteller sei
+derart, daß ihm der Erfolg nachlaufen müsse!</p>
+
+<p>So kann ich meine Perücke wieder mitnehmen, scherzt Füeßli, als sie
+in Baden eine rasche Zusammenkunft haben, das Ereignis zu besprechen:
+ich hatte sie schon zum Strählen mitgebracht! Aber Heinrich Pestalozzi
+ist es nicht zum Lachen, umsoweniger, als der andre augenscheinlich
+kaum etwas andres als einen Sack voll solcher Schnurren im Sinn hat.
+Er dämpft die Begeisterung des Buchhändlers sauersüß, ist noch ein
+paar Stunden gern in der Luft einer Freundschaft, denkt aber nicht
+daran, ihm zu folgen; bis er heimkommt und die moralischen Erzählungen
+des Franzosen Marmontel noch<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> aufgeschlagen auf dem Tisch seiner
+Frau findet. Er liest darin, und unversehens überlegt er doch schon,
+dergleichen besser zu machen; um statt weichlicher Rührung gute
+Gedanken ins Volk zu bringen.</p>
+
+<p>Gleich andern Tags versucht er nun das Dichterhandwerk, angebliche
+Menschen als Gestalten seiner Absichten in eine Handlung zu stellen.
+Es gelingt ihm leichter, als er erwartete, und am Abend ist das
+erste Ding schon rund gebracht; aber als er es dann überliest und
+mit dem Vorbild vergleicht, findet er wohl, daß seine Gestalten sich
+ernsthafter unterhalten als bei Marmontel, doch ist die Unterhaltung
+so sehr die Hauptsache, daß es wenig Zweck hat, sie mit den Armen und
+Beinen der Personen zu umgeben; auch haben sie für gemeine Bürgersleute
+eine Art zu predigen, die ihnen nicht ansteht. Aber nun ist einmal
+sein Eifer geweckt, und schon am nächsten Tage läßt er ein neues Paar
+anmarschieren. Diesmal sind es zwei Bauern, ein alter und ein junger,
+die sich über die neumodische Landwirtschaft erhitzen; haben die Bürger
+gepredigt, so verkniffeln sich die Bauern wie zwei Advokaten, und da
+auch hier wieder die Reden des Verfassers die Hauptsache sind, hätten
+die Personen ebensowohl daheim bleiben können. Noch drei- oder viermal
+versucht er es, um immer bedenklicher einzusehen, daß er kein richtiges
+Bauernmundwerk aufs Papier bringt. Soviel er auch an den Tannern im
+Birrfeld erlebt hat, nun merkt er, daß er sie garnicht kennt; und wie
+er das Abc erst an seinem Knaben studiert hat, beginnt er nun, mit
+ihnen seine heimlichen Experimente anzustellen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span></p>
+
+<p>Die Leute von Lupfig und Birr machen sich verdächtige Zeichen, als der
+Herrenbauer vom Neuhof anfängt, in ihren Wirtschaften herumzusitzen;
+sie wissen aus Erfahrung, wie dies das Ende solcher Existenzen ist,
+und weil er kaum etwas trinkt, deuten sie hämisch auf seine leere
+Tasche. Er dagegen merkt bald, daß sie mit ihm anders als unter sich
+sprechen, so hält er sich abseits, in einem Wettergespräch oder sonst
+mit dem Wirt, während sie bei ihren Karten oder um irgend einen Handel
+untereinander sind. Wenn ihm dabei eins seiner eigenen Bauerngespräche
+beifällt, kommt ihm alles darin so papieren vor, daß er manchmal im
+Eifer mitanfängt zu fuchteln, als ob er damit die richtigen Worte
+festhalten könnte.</p>
+
+<p>Darüber fangen sie an, ihn vollends für übergeschnappt zu halten, und
+legen sich aufs Hänseln; aber nun reitet ihn schon der Teufel seiner
+Leidenschaft, auch um andrer Dinge als seiner Schriftstellerei willen
+tiefer in ihre Wirtshauswelt hinein zu kommen. Er sieht, wieviele
+Dinge hier ihren Anlaß und ihre Stärkung haben, wieviel aus der Bahn
+geworfene Existenzen am Wirtshaustisch ihr Schicksal absitzen, und
+wie nicht der Schnaps und der Wein allein sie dahin ziehen, sondern
+der Trieb unnützer Buben, mit Hänseleien und großmäuligen Prahlereien
+beieinander zu hocken. Hier müßte zu Hause sein, sagt er sich oft,
+wer eine Armenanstalt aufmachen will; hier ist der Lebensboden aller
+Laster, die in einem Menschen allein garnicht wachsen können, weil
+immer nur mehrere zusammen das Ungetüm ausmachen, das den einzelnen
+mit Haut und Haaren frißt;<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> was nachher dann aus dem Wirtshaus nach
+Hause geht, ist nur noch ein Stück von diesem Ungetüm, dem es natürlich
+nirgend mehr wohl sein kann als bei sich zu Hause, nämlich auf der
+Wirtshausbank, wo es zu fressen und zu saufen bekommt.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat schließlich ein System von Listen, das Ungetüm
+lebendig zu sehen, indem er sich selber anscheinend mit auffressen
+läßt oder unter einem Vorwand nebenan in der Küche lauscht. Als er
+eines Nachmittags in Mellingen eintritt, weil er schätzt, daß ihrer da
+mehrere vom Viehmarkt sitzen würden, findet er das Zimmer noch leer,
+und da der Wirt augenscheinlich auch noch unterwegs ist, juckt ihn
+der Vorwitz so, daß er in eine große Futterkiste klettert, die in der
+dunklen Ecke neben dem Ofen als Truhe dient und deren offener Deckel
+ihn wie eine Wand verbirgt. Er hört auch bald ihrer zwei hereinkommen
+und über den Metzger Märki in Birr schimpfen, der ihnen beim Handel
+die Flöhe abgesucht hat, wie sie sagen. Weil das Gespräch einmal den
+Lauf genommen hat, bleibt es auch dabei, als andere eintreten, und
+so bekommt Heinrich Pestalozzi unvermutet eine Predigt über seinen
+ehemaligen Ratgeber zu hören, wie sie nicht in seine Tabellen gegangen
+wäre. Aber als sich das Ungetüm so recht wieder aneinander gewachsen
+hat und groß tut mit Fäusten und Flüchen, wird es still von einem
+Schritt, der durch die Tür hereinkommt und nach einem brummigen Gruß
+mitten im Zimmer stehen bleibt. Heinrich Pestalozzi hinter seiner
+Wand hört das Ungetüm schnaufen, bis einer den Märki — denn niemand
+anders ist es — nach den Hummeläckern<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> fragt und gleich das Gelächter
+über die Anspielung losbrüllt. Aber so ist der Metzger nicht, daß
+er sich abtrumpfen läßt: im Nu ist er mit ihnen aneinander in einem
+Maulgefecht; und wollten sie ihn um den ausgezogenen Herrenbauer im
+Neuhof hänseln, so gibt er ihnen sein Kunststück mit frecher Prahlerei
+preis: warum sie es nicht selber gemacht hätten, wenn es so leicht
+gewesen wäre? Jedenfalls habe er das Kalb abgestochen; sie könntens ja
+mit ihm auch einmal versuchen: er würde ihnen schon dartun, wer der
+Meister wäre, wie er es diesem Herrn Pestalozzi auch dargetan habe!</p>
+
+<p>Die Abfertigung scheint dem Ungetüm plausibel, denn es schweigt; aber
+als der Märki sich abseits von ihnen auf seinen Trumpf setzen will,
+findet er keinen besseren Platz als die Futterkiste; er klappt den
+Deckel zu, merkt garnicht, daß ein Widerstand da ist, und will sich
+gerade noch einmal auslachen, als es unter ihm mit Faustschlägen
+rumort. Wenn der Teufel selber aus dem Kasten gestiegen wäre, hätte
+die Wirkung nicht anders sein können als nun, da das abgestochene Kalb
+seiner Prahlerei heraus springt. Auch das verdutzte Ungetüm muß sich
+einen Augenblick am Wirtstisch festhalten, und es ist noch nicht zu
+sich gekommen, als Heinrich Pestalozzi durch die Tür dem gemeinsamen
+Gelächter entgeht.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>56.</h3>
+</div>
+
+<p>Die Bauern auf dem Birrfeld sagen, daß dem Märki die schwarze Pestilenz
+als Teufel aus der Futterkiste erschienen wäre; aber so sehr sie dem
+Metzger den<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> Schrecken gönnen, die Narrheit bleibt doch an Heinrich
+Pestalozzi hängen; und wie sie ihn danach bei Sonnenschein und Regen
+draußen herumlaufen sehen, bestätigt ihnen nur, daß ihm sein Unglück
+mit dem Neuhof und der Armenanstalt auf den Verstand geschlagen sei.</p>
+
+<p>Er ist aber nur in eine Auseinandersetzung mit dem Ungetüm geraten, das
+nicht — wie es scheint — vom Überfluß, sondern von Mühsal und Armut
+lebt; denn die ihm zu fressen geben, sind die Schwachen, Leichtfertigen
+und Verzweifelten, die, irgendwie von der Bank unverdrossener Arbeit
+abgerutscht, ihr Letztes in Trunk und Geschwätz vertun, während der
+Wirt die ärmlichen Groschen einsammelt und also von dem Ungetüm lebt
+wie ein Savoyardenknabe von seinem Murmeltier. Er will es zum Helden
+einer Geschichte machen; und ob er somit den Kampf mit dem Ungetüm
+nur auf dem Tabellenpapier seines Erbahnen aufnehmen kann: mit einer
+Handlung, einfach und drastisch genug in alle Köpfe einzugehen, wird
+seine Feder, so hofft er, ihm doch eine gefährliche Waffe werden.</p>
+
+<p>Diese Handlung aber vermag er lange nicht zu finden, weil er immer noch
+nicht von sich selber loskommt und sich stets wieder als vorwitziger
+Advokat allein auf der Bühne redend findet. Da hilft ihm unvermutet
+die tapfere Lisabeth aus der Not; als er sie eines Tages wieder bei
+ihrer Unverdrossenheit beobachtet hat, wie sie den Kreis der Ordnung
+Tag für Tag um ihren Mittelpunkt vergrößert, als er sich ausmalt, wie
+sie einem Mann anders als die meisten Bauernweiber an die Hand zu
+gehen vermöchte, von dem Ungetüm los<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> zu kommen: da hat er endlich
+den Gegenspieler seiner Handlung gefunden, um dem hundertköpfigen
+Tier nicht mit den Mitteln fremder Hilfe, sondern mit den Waffen der
+Armut selber beizukommen. Er braucht der tapferen Person nur einen
+leichtfertigen Mann und Kinder anzudichten, wofür sie kämpft, und
+schon ist der Aufbau einer Handlung gegeben, die sich anders als die
+moralischen Erzählungen Marmontels in die Wirklichkeit einstellen soll.</p>
+
+<p>Als ihm dann noch der Märki als Vogt und Wirt in seine Handlung kommt
+und er ihm um der Hummeläcker willen den Namen Hummel gibt, macht er
+eine Gertrud aus ihr, die als die Frau eines Maurers namens Lienhard
+den Kampf mit dem Vogt beginnt und schließlich das ganze Dorf von ihm
+und dem Ungetüm befreit. Er hat sich dessen nie für fähig gehalten:
+wie die Gestalten seiner Handlung von allen Seiten zulaufen, wie sich
+Gespräch und Tat verflechten, und wie aus der geplanten Belehrung
+eine Darstellung des Schicksals wird, die ihn selber oft genug zum
+Weinen erschüttert. In wenigen Wochen stehen die hundert Kapitel
+seines Buches da, als wären sie nicht erfunden, sondern ein Bericht
+aus dem Leben, wie es sich wirklich abgespielt hätte. Da weiß er, daß
+die Schriftstellerei mehr vermöge, als müßigen Leuten die Langeweile
+zu vertreiben, daß sie eine geheimnisvolle Gabe sein könne, die
+Erfahrungen des Lebens zu verdichten und Hunderten von Lesern die Wege
+des Schicksals aufzuzeigen, wo sie selber nur heitere oder traurige
+Vorfälle sehen.</p>
+
+<p>Ehe er es gedacht hat, ist er nach Zürich unterwegs<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> mit seinem Schatz,
+der diesmal ein handgreifliches Päckchen statt einem geträumten
+Luftschloß ist, obwohl Anna, an den Zusammenbruch so mancher mit
+Worten aufgebauten Hoffnung bitter gewöhnt, nur wehmütig über seine
+Begeisterung gelächelt hat. Füeßli ist nicht der Mann dazu, in Rauch
+und Feuer aufzugehen, auch sieht dies anders aus als die Schnurre
+von den ungekämmten Nachtwächtern; er weist ihn an den gemeinsamen
+Freund Pfenniger, der in den Dingen des literarischen Geschmacks
+sachverständig wäre. An die Literatur hat Heinrich Pestalozzi freilich
+nicht gedacht, als er schrieb, und erst garnicht an den gebildeten
+Geschmack, der, statt den geistigen Dingen zu dienen, mit anmaßenden
+Forderungen vor ihnen steht. Pfenniger findet die drei oder vier ersten
+Bogen, die er ihm vorliest, nicht übel, aber so voll unerträglicher
+Verstöße gegen den literarischen Geschmack, daß er ihm dringend die
+Umarbeitung des Buches durch einen Menschen von schriftstellerischer
+Übung empfiehlt und auch gleich einen theologischen Studenten nennt,
+der das literarische Handwerk ebenso beherrsche, wie es ihm fehle. Das
+Wort Lavaters von seiner Unfähigkeit, einen einzigen Satz richtig zu
+schreiben, hat er noch nicht vergessen, und kleinlaut überläßt er sein
+Buch den Ordentlichen, daß sie es für ihren Gebrauch zurecht machen:
+Ich will nur abwarten, sagt er bitter, ob es mir Unordentlichem einmal
+gelingt, ohne Euch richtig zu sterben!</p>
+
+<p>Doch vermag er nicht, sich ganz von seinem Buch zu trennen; er
+läßt ihnen nur die ersten drei Bogen, damit er die Bearbeitung
+erst sähe, und geht für ein paar<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> Tage nach Richterswyl hinaus, wo
+sein Vetter, der Doktor Johannes Hotze, die Praxis des Vaters mit
+Klugheit verwaltet, während der jüngere Bruder mit dem Federhut
+richtig unter die Soldaten gegangen und bei den Österreichern schon
+General geworden ist. Er weilt gern dort, weil der Doktor Hotze ein
+Philanthrop von Einsicht und Willenskraft ist; aber als er ihm mit
+Andeutungen seines Buches begegnet, hält der es anscheinend für einen
+neuen Seitensprung und wehrt warnend ab. So kommt er demütig zu
+Pfenniger, seine Handschrift wie einen vom Lehrer verbesserten Aufsatz
+zurück zu erhalten; aber als er sein Naturgemälde des bäuerlichen
+Schicksals unter dem frömmelnden Firnis dieses Theologen wiedersieht
+und angesichts der steifen Schulmeistersprache, die seine Bauern darin
+reden, an seine Entdeckungsfahrten denkt, fällt die Demut erschrocken
+ab: Dann wolle er doch lieber mit Beulen und steifen Gelenken ein
+ungekämmter Stadtwächter sein, als ein derart gekämmter, sagt er zu
+Füeßli, der zugegen ist, läßt dem Pfenniger die gesäuberte Umarbeitung
+und macht sich auf den Heimweg mit seiner ungesäuberten Handschrift,
+die anscheinend ebensowenig in die ordentliche Welt paßt wie er selber!</p>
+
+<p>Er ist schon in Baden, als er es nicht vermag, mit diesem Ergebnis
+heimzukehren, und entschlossen seine Reise nach Basel fortsetzt, um
+auch bei Iselin sein Glück zu versuchen, bevor er selber an seinem
+Buch zweifelt. Er darf ihm und seiner Gattin noch am Abend seiner
+Ankunft einige Kapitel daraus vorlesen; so inbrünstig seine Hoffnung
+insgeheim um ein günstiges Urteil gefleht<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> hat, auf einen solchen
+Erfolg rechnete sie nicht. Die Frau Ratsschreiber weint vor Rührung,
+und der Ratsschreiber selber geht mit erregten Schritten im Zimmer auf
+und ab, bis er ihm die Handschrift aus den Händen nimmt, als ob er sich
+vergewissern müßte, daß dies alles auch wirklich dastände. Er lachte
+herzhaft auf, als er die Schrift in den roten Tabellen hängen sieht;
+und auch als er dann liest, schüttelt er immer wieder den Kopf: es sei
+nicht zu glauben, wie einer so etwas Herrliches ausdenken und zugleich
+solche Sprach- und Schreibfehler machen könne! So wie es dastände,
+wäre es allerdings ein ungekämmter Stadtwächter, aber den zu strählen,
+brauche es keinen Theologen, sondern einen Setzer, der deutsch könne.
+Er müsse freilich das Buch erst ganz lesen, aber nach dem, was er bis
+jetzt gehört habe, wüßte er nicht seinesgleichen.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi bleibt drei Tage lang in Basel, und es ist eine
+Zeit für ihn, als ob Schlaf und Wachen ein einziger Traum geworden
+wären; so erlöst ihn der Beifall dieser klugen und herzlichen Menschen
+aus dem Gefühl seiner Unbrauchbarkeit. Die Schreibfehler in der
+Handschrift verspricht Iselin selber zu beseitigen; auch schickt er
+gleich einen Brief an den Verleger Decker in Berlin, ob er das Buch
+herausbringen wolle? Um ihm aber zu den vielen Tauben auf dem Dache
+doch einen Spatz in die Hand zu geben, offenbart er ihm zum Abschied,
+als er bis Liestal mit ihm gegangen ist und da auf die Post wartend im
+Ochsen noch ein Glas Wein trinkt, daß die Aufmunterungsgesellschaft
+zwar nicht ihm allein, aber doch ihm zu gleichen Teilen mit dem<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span>
+Professor Meister in Zürich den Preis von zwanzig Dukaten zuerkannt
+habe.</p>
+
+<p>Es geht mir wie dem Mann, sagt Heinrich Pestalozzi, der am Sonntag zehn
+Louisdor verloren hatte und sich am Montag freute, weil er drei Kreuzer
+fand.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>57.</h3>
+</div>
+
+<p>Schon Anfang September erhält Heinrich Pestalozzi Nachricht, daß der
+Verleger Decker aus Berlin in Basel gewesen sei und ihm für jeden
+Druckbogen einen Louisdor als Honorar bewilligt habe. Das wäre vormals
+nicht viel gewesen, jetzt aber bedeutet es für den ausgeplünderten
+Neuhof eine Quelle, die bei sparsamer Verwendung seine Insassen auf
+eine gute Zeit vor Nahrungssorgen schützt und Heinrich Pestalozzi mutig
+macht, auch noch den Rest seines Tabellenpapiers vollzuschreiben. An
+eine neue Erzählung vermag er nicht zu denken, so voll sind ihm noch
+Kopf und Herz von dieser. So beginnt er noch im Herbst, bevor das Buch
+gedruckt ist, eine Erläuterung dazu zu schreiben, die er »Christoph
+und Else« nennt! In einer angeblichen Bauernhaushaltung läßt er abends
+seine Geschichte von Lienhard und Gertrud lesen und besprechen, wobei
+er dann wieder selber auf der Bühne erscheinen und den Vorgängen der
+Handlung seine Nutzanwendung mitgeben kann: So sind die Leiden und
+Schäden des Landvolks, so sind die Wurzeln seiner Kraft und Urkraft,
+und so kann der Verwilderung geholfen werden! Aus der Abendstunde eines
+Einsiedlers werden Abendstunden einer gutwilligen Gemeinschaft.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span></p>
+
+<p>Er ist noch mitten in dieser Arbeit, als der Tod in der Familie seiner
+Frau vorspricht und sich die kränkelnde Mutter, gebotene Holzlaub,
+heimholt. Dem alten Zunftpfleger, dem der braune Bart längst weiß
+geworden ist, wird es danach unheimlich im Pflug, wo seine Söhne
+eigenwillig schalten; er zieht der einzigen Tochter nach, an der immer
+sein Herz gehangen hat. So wird der Haushalt um einen Greis vermehrt,
+dem das Leben die Augen zur Freundlichkeit und Milde geöffnet hat,
+obwohl er von Haus aus zornig war. Von seinem Vermögen ist nur noch ein
+bescheidener Altersteil in seinen Händen; aber auch damit bringt er
+eine Sicherung in den Neuhof, die wohlig empfunden wird und das Gefühl
+einer vorsichtigen Wiederherstellung verstärkt. Als dann zur Ostermesse
+endlich »Lienhard und Gertrud« erscheint und seine Wirkung macht,
+sodaß vieler Augen sich auf den Neuhof richten, finden sie nicht mehr
+die Trümmerstätte selbstverschuldeter Armut, als die er den Bauern im
+Birrfeld und dem selbstgerechten Bürgersinn der Zürcher gegolten hat.</p>
+
+<p>Der erste, der ihm Gutes berichtet, ist Iselin, der zwar bescheiden die
+dankbare Widmung aus dem Buch beseitigt hat, aber stolz und beglückt
+durch den Erfolg zu seinem Schützling steht. Er gibt Nachricht von
+dem Beifall der Zeitungen in Deutschland und wie man dort nach dem
+ungenannten Verfasser des Dorfromans riete; auch sammelt er, was
+Rühmens in den Schweizerblättern steht, und hat einen fröhlichen Eifer
+damit, ihm nach den ersten spärlichen Posten ganze Stöße von gedruckter
+Anerkennung in den Neuhof zu schicken.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span></p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi, dem die Mißachtung einen bösen Bannkreis um seine
+Einsamkeit gezogen hatte, sieht sich in die Beleuchtung eines rasch
+wachsenden Ruhmes gestellt, in den nun mancher wieder hineinlärmt,
+der sich vorher still beiseite getan hat; denn ob sein Name nicht auf
+dem Deckel des Buches steht, dafür sorgen die fleißigen Gerüchte, daß
+überall, wo die Gestalten von Lienhard und Gertrud in ein Schweizerhaus
+eintreten, auch der Armennarr von Neuhof als ihr Pate gilt. So ist es
+kaum noch nötig, daß Iselin den Namen des Verfassers in den Ephemeriden
+bekannt gibt; wohl aber scheint es ein Signal zu sein für die Kutscher
+und Postillone, die nun fast täglich Besucher nach dem Neuhof bringen.
+Sie finden da einen freundlichen Greis, der sich über den Ruhm seines
+Schwiegersohnes um seiner verhärmten Tochter willen freut und gern
+ein Wort spricht; einen elfjährigen Knaben, der als das Jaköbli mit
+den Bauern auf einem vertraulichen Spielfuß steht und augenscheinlich
+beliebter bei ihnen ist als sein Vater; eine Frau von dreiundvierzig
+Jahren, die sich dem Schwall nach Möglichkeit entzieht; endlich ihn
+selber, dem das braune Gesicht mit Rünzelchen verkritzelt ist, als
+ob er sechzig statt erst fünfunddreißig wäre, der aber alle fröhlich
+willkommen heißt, nicht eitel, doch sichtbar glücklich, daß er nun
+endlich Macht über die Menschen gewonnen hat, wie er sie für seine
+Dinge jahrelang vergeblich erflehte. Als eines Morgens der Wagen des
+Herrn von Effinger mit zwei galonierten Dienern vor dem Neuhof hält,
+ihn nach Schloß Wildegg als Ehrengast zum Essen abzuholen, und als
+noch am<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> selben Tag von der Ökonomischen Gesellschaft in Bern fünfzig
+Dukaten mit einer goldenen Denkmünze ankommen, da scheint es zu Ende
+mit seiner angeblichen Unbrauchbarkeit, da ist Heinrich Pestalozzi, der
+gescheiterte Landwirt und Armennarr auf Neuhof, ein Schweizerbürger
+geworden, auf den die Augen seines Volks mit Stolz sehen. Und nun
+endlich kann auch die Stunde nicht mehr fern sein, wo aus Reichen
+und Armen, Klugen und Törichten, Herrschaften und Beherrschten die
+Volksgemeinschaft wird, darin die Menschenbruderschaft des Evangeliums
+aus der Sonntagspredigt in die wirklichen Wohnungen und Geschäfte
+der Menschen kommt. Er ist auf der Höhe seines Lebens, als er diesen
+Glückstraum erlebt; die Gier und Sehnsucht seiner Jugend, die Radbrüche
+seiner ersten Fahrten und der grausame Unfall gelten ihm nun nichts
+mehr, da er sich durch die Hand des Schicksals, die er in einem
+tieferen Sinn als die Sonntagsgläubigen und Kirchenbeter Gott nennt, in
+Schuld und Sorgen zu solcher Erfüllung geführt sieht.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>58.</h3>
+</div>
+
+<p>Könnte Heinrich Pestalozzi die siebzehn einsamen Wartejahre danach
+voraussehen, darin er die Kräfte seiner Mannesjahre aufreiben soll,
+bis ihn das Schicksal an die Dinge selber statt an die Worte läßt, so
+würden ihm die Knospen kaum so schwellen, wie nun, wo er im Rausch des
+Erfolges noch einmal die stürmischen Säfte seiner Jugend fühlt. Er
+hat im Vorwort seines Buches angekündigt, daß die Erzählung aus dem
+angeblichen Dorf Bonnal nur die Grundlage eines Versuchs<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> wäre, dem
+Volk mit einigen Wahrheiten in den Kopf und ans Herz zu gehen. Auf
+alles, was als Tugend oder Laster an seinen Gestalten sichtbar wird,
+Heuchelei und Tapferkeit, Hoffart und Sparsamkeit, Freiheitsliebe
+und Tyrannei, auf alles läßt er nun Christoph und Else in ihren
+Abendstunden mit dem Zeigestock hinweisen, und er selber gibt die
+feurige Lehre seiner in tausend Nöten durchglühten Erfahrung dazu, um
+die Quellen der Bosheit und des Elends in den Zuständen und in der
+Gesetzgebung Europas darzustellen.</p>
+
+<p>Ein Drittel seines Buches hat er so erklärt, als ihn der Eifer drängt,
+näher mit dem Volk zu sprechen; Iselin redet ihm zu, und so gründet er
+sich selber eine Wochenschrift, die er »Ein Schweizerblatt« nennt. So
+hitzig ist er in seinem Eifer, daß er fast alles selber darin schreibt;
+er wird wieder der Marktschreier der Zurzacher Messe, aber diesmal sind
+es nicht Baumwollentücher, sondern Einsichten und Weisheiten, die er
+unablässig, mit Witz und hinreißender Gläubigkeit gemischt, anpreist:
+»Himmel und Erde sind schön, aber die Menschenseele, die sich über den
+Staub erhebt, ist schöner als Himmel und Erde!«</p>
+
+<p>Mitten in seinem Glück hört er schon wieder den Tod an die Tür klopfen,
+und an einem Julitag fährt er im Innersten bewegt nach Basel, Iselin,
+der ihm fast ein Vater war, zu begraben. Durch ein Gewitter erreicht
+er die Post nicht mehr, und er ist gerade dabei, sich in Brugg auf
+eigene Hand einen Wagen zu heuern, als Füeßli mit dem Doktor Hirzel
+durchfährt. Die nehmen ihn mit, und so wird es eine Freundesfahrt der
+Lebendigen<span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span> zu dem Toten; denn auch die andern haben Iselin geliebt,
+wenn sie auch nicht soviel Freundschaft von ihm erfahren konnten wie
+er. Während sie so durch die grünen Täler hinfahren, manchmal im
+Schritt, weil es scharf bergan geht, dann wieder trabend, will Füeßli
+wissen, was er jetzt schreibe. Und weil Heinrich Pestalozzi durch den
+Tod Iselins erst recht in seinem Eifer entzündet ist, jeder Stunde zu
+achten, damit von seinem Leben ein Nutzen für das arme Volk bleibe,
+spricht er von seinen Abendstunden und merkt lange nicht, daß die
+beiden schweigen und ihn fast traurig ansehen.</p>
+
+<p>Ich dachte, sagte Füeßli endlich und kollert vor Zorn, daß du jetzt
+dein Metier gefunden habest und wenigstens im Schwabenalter vernünftig
+würdest, aber dich reitet die Bessermacherei, bis sie dich ganz vom
+Neuhof ins Spital verschupfen! Über die bösen Worte ist Heinrich
+Pestalozzi so erschrocken, daß er ihn fragt, wie er das meine. Er sehe
+doch, wie die Menschen durch sein Buch gerührt würden, warum er die
+dargebrachte Rührung nicht für die Menschlichkeit ausnützen solle! —
+Als ob die Leser dem Verfasser jemals ihre Rührung gäben, antwortet
+Füeßli und ist nun selber bitter geworden. Sie erwarten und nehmen sie
+als Genuß von ihm für ihr ausgelegtes Geld, gleich einem Kirschwasser
+oder einem Schweinebraten auch!</p>
+
+<p>Sie begraben danach den Ratsschreiber in Basel; es ist ein Sarg, wie
+Füeßli grausam vor Trauer sagt, darin der Hummelvogt den selben Platz
+gehabt hätte. Für Heinrich Pestalozzi wird alles zum Verhängnis seit
+dem bösen Wort im Wagen. Er hat es längst gespürt, daß<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> er mit seinem
+Buch nichts als ein Menschenmaler geworden ist, von dem man nun weitere
+Bilder verlangt. Wenn die Bauern im Birrfeld sich hämisch freuen,
+daß er es seinem Widersacher Märki gut gegeben habe, oder wenn die
+literarischen Blätter die Vortrefflichkeit seiner Charakterschilderung
+rühmen: es ist das Gleiche, daß sie ihn als ihren Spaß- oder Rührmacher
+halten, nicht aber ihm redlich ins Menschliche folgen wollen. Er
+vermag nicht, mit den beiden wieder heimzufahren, tut sich vor der
+zudringlichen Begrüßung des berühmten Verfassers scheu zur Seite und
+wandert frühmorgens heimlich aus Basel fort. Unterwegs gelüstet es ihn,
+das bäuerliche Paar in Frick aufzusuchen, das ihn damals so freundlich
+genächtigt hat, in der Sehnsucht, von ihm andere Botschaft des Volkes
+zu hören als von den Gebildeten.</p>
+
+<p>Er trifft sie auch und bleibt zum zweitenmal bei ihnen zur Nacht, nicht
+anders aufgenommen als beim erstenmal, obwohl der Ziegenhirt nicht mehr
+da ist. Aber als er enttäuscht, daß sie nicht selber davon sprechen,
+zuletzt nach ihrer Meinung über sein Buch fragt, haben beide zwar
+einiges davon gehört, jedoch nichts daraus gelesen. Wir sind Bauern,
+Herr Pestalozzi, sagt der Mann treuherzig, und seine Frau nickt ihm
+zu: wir haben unser Tagwerk; was soll in einem Buch von unserm eigenen
+Leben stehen, daß wir nicht selber wüßten? Und unsere Nachbarn? Wir
+reden selber nicht schlecht von ihnen, warum sollen wir lesen, wie das
+ein anderer tut!</p>
+
+<p>Es sind zwei Grabschriften, die Heinrich Pestalozzi von dem Begräbnis
+seines väterlichen Freundes mitbringt<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> und die nun in den Gärten
+seiner Hoffnungen stehen. Er schreibt zwar danach noch tapfer sein
+Schweizerblatt, Woche für Woche; aber daß es eigentlich keine Leser
+hat, das nimmt er nun erst wahr. Als die ersten dreißig Abendstunden
+von Christoph und Else erscheinen, die wie ein Katechismus des
+bäuerlichen Lebens in alle Strohhütten gehen sollen, ist die Wirkung
+so schwach, daß der Verleger das Buch nicht weiter drucken will.
+Unterdessen singen die Blätter das Lob von Lienhard und Gertrud
+unablässig weiter, bis der kleinste Kalender davon voll ist. Ich habe
+das Pferd vorn und hinten eingespannt, denkt Heinrich Pestalozzi; und
+da auch der Verleger um eine Fortsetzung seines Romans drängt, gibt er
+sich tapfer daran, seine Pläne an dem Dorf Bonnal seiner Dichtung zu
+versuchen und statt Ermahnungen und Vorschlägen die Darstellung einer
+angeblichen Besserung zu geben. Ehe er es hofft, ist ein zweiter Band
+von Lienhard und Gertrud fertig, aus dem nun der Ratsschreiber Iselin
+die dankbare Widmung an seinen Schatten nicht mehr ausstreichen kann.
+Die Neugier hilft, daß er diesmal noch gelesen wird; aber die den
+ersten Band gepriesen haben, sind an dem zweiten enttäuscht und finden,
+daß der Verfasser sich wiederhole und in der langen Jugendgeschichte
+des Hummelvogtes nur eine überflüssige Nachrede brächte. Es ist mit
+dem Ruhm und der Wirkung seiner Schriftstellerei wie mit einem der
+Bäche im Kalkgebirge, die irgendwo stark aus dem Boden brechen, eine
+Zeitlang trügerisch in der Sonne fließen und dann wieder im Gestein
+verschwinden.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span></p>
+
+<h3>59.</h3>
+</div>
+
+<p>Daß Heinrich Pestalozzi durch den Pfarrer seines Buches die
+Jugendgeschichte des Hummelvogtes so ausführlich erzählen läßt, kommt
+nicht von ungefähr. Das Jaköbli ist nicht nach seinen Hoffnungen
+geraten; in den sechs Jahren der Armenanstalt ist es als Sohn der
+Hausmutter vor dem Gesinde und den Zöglingen von selber der Prinz
+geworden, an dem die einzelnen sich ein Wohlwollen verdienen wollen;
+im wechselnden Drang der häuslichen Umstände danach zwischen die
+überlieferten Erziehungsansichten der Mutter und die neumodischen
+Absichten seines Vaters gestellt, hat seine Natur nicht die Ruhe an
+den Wurzeln gehabt, die Kindern das Nötigste von aller Wartung ist.
+So ist er mit zwölf Jahren wohl ein großer Knabe geworden, aber ohne
+Festigkeit und geplagt von dem Eigensinn seiner reizbaren Art, die
+zwischen der Heftigkeit des Vaters und der zärtlichen Liebe der Mutter
+ihre Hinterhalte hat.</p>
+
+<p>Was an Abhärtung getan werden konnte, um der Weichlichkeit seiner Natur
+zu begegnen, das hat Heinrich Pestalozzi spartanisch an ihm geübt, auch
+ist er mit List und Stärke dabei gewesen, seinen kindlichen Eigensinn
+zu brechen — bis der gefährliche Untergrund dieser Eigenschaften
+im Ausbruch seiner Krankheit herzschneidend zutage kommt. Es ist in
+der Zeit, da die Stimme anfängt zu wechseln; er hat einen Korb mit
+Pflanzkartoffeln aus dem Keller holen sollen und kommt nicht wieder.
+Als Heinrich Pestalozzi heftig hinunterläuft, sitzt er verträumt vor
+einem Spinnennetz; die<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> Überraschung mag zu jäh gekommen sein: ehe
+Heinrich Pestalozzi bei ihm ist, tut der Knabe einen Schrei und fällt
+hin wie ein Toter. Doch hat er ihn kaum an der Schulter gefaßt, als
+das Leben mit unheimlichen Zuckungen wieder anfängt. Das fallende Weh
+rast in ihm und Heinrich Pestalozzi, der als eifernder Vater zu hadern
+gekommen ist, sieht sein armes Kind in dem fahlen Kellerlicht Mächten
+überliefert, die seiner Strenge wie seiner Liebe spotten. Erst als
+alles vorüber ist und der Knabe aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht,
+wagt er die Lisabeth zu rufen.</p>
+
+<p>Seine Hoffnung, daß es ein einzelner Anfall gewesen sein möge, wird
+nicht erfüllt; die Krankheit kommt zurück und steht seitdem warnend
+hinter jedem ärgerlichen Wort, das er dem Knaben sagen will. Das Grauen
+nimmt ihm für lange den Mut; denn deutlicher als jemals sieht er, wie
+das Schicksal des Menschen als einer Kreatur nicht an eigene oder
+fremde Verschuldung allein gebunden ist, wie Glück und Unglück aus den
+Naturgründen des Lebens kommen und alle sittliche Sorgfalt zu verhöhnen
+scheinen. Lange versucht er, das Unheil Anna zu verheimlichen, die
+bei dem ersten Anfall in Hallwyl war; als sie es eines Tages doch
+erlebt — sie sind in den Letten hinaus spaziert und müssen ihn da in
+den rotblühenden Klee legen — meint er in dem entsetzten Blick der
+Mutter einen Vorwurf zu spüren, der ihm lange nachgeht und bald darauf
+eine peinliche Ergänzung findet. Er hört, daß die Leute in Birr der
+unvernünftigen Abhärtung — den Knaben von kleinauf, auch im Winter,
+im eiskalten Brunnenwasser zu waschen —<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> die Erkrankung zuschreiben.
+Die Gewohnheit behält immer recht! sagt er bitter, aber ein grausamer
+Rest ihrer Schadenfreude bleibt zurück und quält ihn mit Zweifeln, ob
+er dem Knaben ein rechter Vater gewesen sei. Er sieht nun erst, daß der
+Jakob kaum lesen und schreiben kann und auch sonst gegen die Kinder
+seines Alters zurück ist. Am Ende kommt er mit Anna überein, ihn für
+ein Jahr oder zwei nach Mülhausen in eine Erziehungsanstalt zu geben,
+die ihm durch seinen Vetter, den Doktor Hotze in Richterswyl, empfohlen
+ist; die zage Hoffnung auf seine Heilung muß ihnen über den schweren
+Abschied forthelfen.</p>
+
+<p>Auf der Rückreise sucht er einen Herrn Battier in Basel auf, der
+ihm noch durch Iselin bekannt geworden ist; ein Kaufmann, der
+fest im Sattel seiner zahlreichen Geschäfte sitzt, aber allen
+menschenfreundlichen Dingen mit der Kraft seiner unabhängigen und
+kühnen Natur zugewandt blieb; der will den Jakob nachher in die Lehre
+nehmen. Vorläufig aber hat er von all den kläglichen Nöten gehört,
+in denen der berühmte Verfasser von Lienhard und Gertrud immer noch
+lebt, und setzt ihm hartnäckig zu, eine Liste seiner Schulden und
+Verpflichtungen aufzustellen. Es wird eine quälende Stunde für Heinrich
+Pestalozzi, in dem blitzsauberen Kontor und vor dem schneeweißen
+Halstuch dieses Kaufmanns seine verzwickte Lage zu offenbaren; auch
+vermag er aus der Erinnerung unmöglich durch den Urwald seiner
+Bedrängnisse hindurch zu kommen. Er weicht ihm schließlich aus mit dem
+Verspruch, ein genaues Verzeichnis seiner Güter und ihrer Belastung
+aufzuschreiben;<span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span> aber der Kaufmann ist nicht für Ausflüchte: dann wolle
+er sich, wenn es ihm recht sei, den Neuhof einmal selber ansehen, und
+zwar gleich andern Tags, da er doch in Geschäften nach Zürich müsse!</p>
+
+<p>So kommt Heinrich Pestalozzi am nächsten Morgen nicht bescheiden
+mit der Post aus Basel fort, wie er gedacht hat, sondern in dem
+blitzblanken Reisewagen des Kaufmanns Battier mit zwei Apfelschimmeln,
+die den Postwagen schellenklingelnd überholen und auch weiterhin nicht
+wie die Postgäule bei jeder Steigung aus dem Trab fallen. Mein Leben
+hat zwei Straßen, sagt er seinem unternehmenden Begleiter, als er
+Stück für Stück der wohlbekannten Landschaft flinker als sonst nahen
+sieht: auf einer bin ich von Zürich gekommen und die andre bringt
+mich zeitweils nach Basel; es will mir scheinen, daß die Basler mir
+allmählich geläufiger wird! Das ließe sich ändern, sagt Battier und
+legt ihm von hinten — als ob er ihn umarmen wolle — die Hand auf die
+Schulter: Wenn Sie selber nach Basel zögen, wäre es wieder nur die eine
+Straße, auf der Sie gekommen sind, und zu Ihrem Sohn hätten Sie es
+näher!</p>
+
+<p>Es zeigt sich bald, daß dies nicht nur eine Augenblicksrede war; denn
+als der Kaufherr noch am selben Nachmittag stundenlang unermüdlich
+gewesen ist, jeden Acker in Augenschein zu nehmen, mit vielen Scherzen,
+als ob das alles nur ein Spaß dem schönen Wetter zuliebe wäre, und
+als sie danach bei einem Glas Landwein in der Stube sitzen, holt er
+aus seiner Tasche ein Bündel Papiere heraus, die längst schon in
+der saubersten Ordnung enthalten, was er soeben gesehen hat: jeden<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span>
+Acker nach seinem Tageswert abgeschätzt, und daneben das Verzeichnis
+aller noch ungelöschten Schulden und Verbindlichkeiten in einer
+Vollständigkeit, daß Heinrich Pestalozzi erstaunt und erschrocken
+zugleich ist; denn wenn es vor den Augen eines nicht einmal übel
+gesinnten Geschäftsmannes so mit ihm steht, brauchte nur das Soll mit
+dem Haben vertauscht zu werden und die Rechnung ginge so auf, daß
+er in der Mitte mit nichts übrig bliebe. Er muß an den Bankier aus
+dem Geschwundenen Schwert in Zürich denken, der damals auch so im
+Handumdrehen seinen Besitz beaugenscheinigte; nur daß der Basler sich
+den Bericht des Bedienten anscheinend schon vorher verschafft hat. Aber
+dann kommt statt der Enttäuschung von damals die Überraschung: das sei
+der Vermögensstand von heute; aber wie die Felder ständen und wie sie
+durch resolute Behandlung werden könnten, in dieser Differenz läge ein
+möglicher Zukunftsgewinn für einen praktischen Mann, der den Neuhof
+heute zu dem gültigen Satz übernähme. Dieser Käufer wolle er selber
+sein und ihm also schon jetzt die Zinsen des zukünftigen Wertes als
+eine Rente zahlen, die ihn und die Seinen mit einem Schlag sorgenlos
+mache und ihm erlaube, ungehindert seiner Schriftstellerei zu leben!</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi spürt die herzliche Absicht in dem Vorschlag; er
+sieht, wie der Mann glüht, ihm wohlzutun: aber er ist den schmerzlichen
+Blick noch nicht los, mit dem er seinen Knaben in der Franzosenstadt
+im Elsaß gelassen hat. Es ist ein blauer Himmel, der sich da nach
+Gewitter und Nebelschwaden auftut; nur<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> würde er seinem Sohn das
+Erbe ableben, wenn er den Vorschlag annähme! Auch wäre es für ihn
+selber ein Verrat an seinen Plänen, die er heimlich viel ernsthafter
+trägt, als der Basler ahnen kann, der schließlich wie die andern auch
+nur den Schriftsteller in ihm sieht. Er nimmt die angebotene Frist
+bis zur Rückkehr aus Zürich an, lässt den Kaufmann mit fröhlichem
+Peitschenknall gegen Abend nach Baden fahren und steht winkend an der
+Straße. Aber als Battier nach drei Tagen wiederkommt, ist er mit Anna
+tapfer entschlossen, nicht die verlockende Fahnenflucht zu machen,
+sondern nach soviel überstandenen Bedrängnissen auszuharren und, sei es
+selbst durch bittere Nöte, dem Sohn das Hoferbe zu erhalten.</p>
+
+<p>Battier nimmt die Absage seines edel gesinnten Vorschlags zunächst als
+Eigensinn, und er sagt das auch in der ersten Verstimmung, sodaß es
+diesmal einen unbewinkten Abschied gibt. Aber schon nach drei Tagen ist
+ein fröhlicher Brief von ihm da, als ob nichts anderes im Vorschlag
+gewesen wäre: er wolle die drängenden Schulden auf sich nehmen ohne
+Kauf und Verzinsung, nur gegen eine bestimmte Anerkennungsgebühr. Jetzt
+braucht es also nur, sagt die Lisabeth, der er den Brief zeigt, daß ich
+fleißig bin und daß der Herr Pestalozzi nicht über jeden Bettler mit
+einem Gulden herfällt!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>60.</h3>
+</div>
+
+<p>Unterdessen geht Heinrich Pestalozzi schon gegen die Vierzig; es
+kann ihm geschehen, daß er wie ein uralter Rabe dasitzt und über die
+Trümmerfelder seiner Mannesjahre<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span> wehmütig in die ferne Jugend denkt.
+Die erste Neugier um den Einsiedler auf Neuhof hat sich längst gelegt,
+und es ist selten, daß ein Wanderer oder gar ein Wagen den Weg zu ihm
+aufs Birrfeld findet. Solange der Knabe noch dagewesen ist mit seinen
+Spielen und Gesprächen, hat die Einsamkeit nur zum Besuch kommen
+dürfen; nun wohnt sie in seiner verlassenen Kammer und macht sich
+täglich breiter im Haus. Die einzige Verbindung mit den Vorfällen der
+Welt besorgt die Schaffhauser Zeitung, die Heinrich Pestalozzi Samstags
+im Gasthof zum Sternen in Brugg liest. Da ihm der Weg dahin allmählich
+zu mühsam wird, namentlich bei schlechtem Wetter, hat er sich angewöhnt
+zu reiten. Sein struppiges Pferdchen ist, wie die Bauern sagen, genau
+solch eine Vogelscheuche wie die Pestilenz selber, und da er immer
+noch die Gewohnheit seiner Jugend hat, das Tier mit dem Zügel im Trab
+zu halten, gibt er einen merkwürdigen Reiter ab, dem die vornehmen
+Kurgäste aus Baden oder Schinznach mit spöttischem Vergnügen begegnen.</p>
+
+<p>Als er so eines Samstags sein Pferd am Sternen angebunden hat und
+drinnen bei einem Kirschwasser die Schaffhauser Zeitung liest, ist ein
+Fremder da, der ihn ungeduldig abwartet, ihn dann aber klug in ein
+Gespräch verwickelt, daß Heinrich Pestalozzi bald merkt, einen Mann
+von Kenntnissen vor sich zu haben, der auch seine Schriften und Taten
+genau kennt, obwohl er sonst wie ein Handelsmann aussieht. Ehe er noch
+eine Absicht des Mannes merkt, hat der ihm beigebracht, daß seine wie
+alle ähnlichen Mißerfolge nur von der<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Vereinsamung der einzelnen
+Menschenfreunde kämen, die wie die Prediger in der Wüste lebten und auf
+die zufälligen Bekanntschaften angewiesen wären. Wenn die sich etwa an
+den Jesuiten ein Beispiel nehmen und sich zu einer Gemeinschaft der
+Heiligen zusammen tun wollten, würde der Einzelne mit einem Schlag eine
+Macht bedeuten. Nur dürfe es keine öffentliche Gesellschaft mit dem
+Ehrgeiz der Führer und der Scheu der einzelnen Mitglieder sein: Wie
+zum Beispiel der Geheimorden der Illuminaten Hunderte von Mitgliedern
+hätte, deren keins das andere persönlich kenne, weil jedes nur mit
+einem selbstgewählten Namen geführt würde, aber unter diesem Decknamen
+mit jedem einzelnen korrespondieren könne, und zwar mit vermögenden und
+hochstehenden Persönlichkeiten.</p>
+
+<p>Das Gespräch dauert bis in die Dunkelheit, und Heinrich Pestalozzi
+hätte es gern noch fortgesetzt, so beglückt ihn diese geheimnisvolle
+Möglichkeit, seine Ideen bei Ministern und Fürsten anbringen zu können.
+Aber der Fremde, der seinen Stand und Namen nicht einmal andeutet, muß
+mit der Post nach Baden zurück, von wo er gekommen ist. Er sagt ihm
+noch, daß eine Nachricht von Augsburg kommen würde, die er an die selbe
+Stelle beantworten möge, und läßt ihn in einem Schwall von Hoffnungen
+zurück, mit denen er nachher in einem gespenstischen Galopp durchs
+nächtliche Birrfeld reitet.</p>
+
+<p>Durch diese Begegnung ist der Docht seiner Pläne wieder ins Glimmen
+gebracht; tiefer als jeder andere glaubt er die Not des Volkes zu
+kennen; während die Wohltätigkeit vergeblich an den bösesten Löchern
+flickt<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> und, wie er sagt, die Gerechtigkeit in der Mistgrube der Gnade
+verscharrt, hält er die Menschenbildung als Heilmittel in der Hand.
+Er hat von dem Herzog von Württemberg gehört, der mit den Seinen als
+einfacher Landmann lebt; nun spürte er in der Rede des seltsamen
+Fremden einen Hauch dieses Geistes aus Deutschland herüber wehen,
+und als die angekündigte Schrift aus Augsburg kommt, tritt er mit
+weitgreifenden Hoffnungen in den Bund der Illuminaten ein, obwohl ihm
+die Geheimniskrämerei daran von Anfang an mißbehagt.</p>
+
+<p>Er legt sich nach dem sagenhaften König der Angelsachsen den Namen
+Alfred zu und ist mit fiebrigem Eifer dabei, ein Memorial nach dem
+andern in den namenlosen Bereich des Ordens hineinzusenden, wie ein
+geschäftiger Apotheker sein Heilmittel anpreisend. Es gelingt ihm auch
+bald, über seine Vorschläge zur Menschenbildung mit einflußreichen
+Persönlichkeiten in einen direkten Briefwechsel zu kommen, unter denen
+der Herzog von Toskana und Graf Zinzendorf, der Minister Josefs II. in
+Wien, die wichtigsten sind. Von allen Zeiten seines Lebens ist diese
+nun die seltsamste, wo er sich in der bäuerlichen Verborgenheit des
+Neuhofs allmählich seinen Landsleuten aus dem Augenkreis verschwinden
+und den Ruhm seiner Schriftstellerei nach jedem neuen Buch mehr
+versiegen sieht, während er mit Ungestüm an das Gewissen von Ministern
+und Fürsten klopft. Den ersten Teil von Lienhard und Gertrud hat er
+noch im Angesicht des Birrfeldes geschrieben, und die Abendstunden
+von Christoph und Else haben als Katechismus in die Strohhütten
+gesollt: nun wachsen<span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span> sich die beiden letzten Bände von Lienhard und
+Gertrud immer mehr in Gesetzesvorschläge hinein; aus dem Ungetüm der
+Wirtshäuser wird das Ungetüm der Verwahrlosung überhaupt, und an die
+Regierenden in Europa geht sein Aufruf, es mit dem Heilmittel der
+allgemeinen Menschenbildung zu bekämpfen.</p>
+
+<p>Er ist acht Jahre älter geworden seit dem ersten Band, als er den
+vierten hinaussendet, und er stapft schon mit einem Fuß auf die
+Fünfziger zu; die Straßen nach Basel und Zürich geht er nun gleich
+wenig, wohl aber studiert er auf der Karte die Reise nach Wien, wo
+Zinzendorf sich immer mehr für seine Dinge erwärmt und wo der Glanz
+des Kaisers seine Hoffnungen anlockt. Für die Bauern im Birrfeld
+bleibt er die Pestilenz, die sie nun schon wie etwas Zugehöriges über
+die Straßen reiten oder Sonntags in der Kirche nach seiner Gewohnheit
+am Halstuchzipfel lutschen sehen; für die weitere Heimat ist er die
+Vogelscheuche seines Ruhms geworden, die immer noch den unnützen
+Phantastereien seiner Jugend nachhängt und sich den letzten Ausweg zum
+Wohlstand als Schriftsteller mit dem angeborenen Ungeschick verbastelt
+hat.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>61.</h3>
+</div>
+
+<p>Lisabeth, die Magd, ist in den Jahren fleißig und sparsam gewesen, wie
+sie Heinrich Pestalozzi versprochen hat; sie hält die verkleinerte
+Wirtschaft über Wasser, bis der Jakob sie übernehmen kann. Der ist
+aus Mülhausen durch den tapfer sorgenden Battier in seine Handlung
+in Basel übernommen worden, um einmal<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> besser als sein Vater für die
+geschäftliche Führung gerüstet zu sein. Doch läßt ihn seine Krankheit
+nicht mehr los; als er wieder auf den Neuhof kommt, ist es auf den
+ersten Blick ein großer und starker Jüngling, aber für Heinrich
+Pestalozzi stehen ihm die Spuren seines Zustandes zu grausam im
+Gesicht, als daß er seiner froh werden könnte.</p>
+
+<p>Er ist ein Vierteljahr da, als der Vater Annas in seinem fröhlichen
+Greisentum kränkelt; der Tod nimmt ihn weg, bevor ein längeres Siechtum
+ihn mißmutig machen könnte. Sie begraben ihn an einem harten Wintertag
+hinter dem kleinen Schulhaus in Birr; auch die Brüder Annas sind da,
+und einer entäußert sich des gemeinsamen Verdrusses, daß sie nun ihren
+Vater, der doch ein Zürcher Bürger und Zunftpfleger gewesen sei, auf
+dem bäuerlichen Kirchhof im fremden Aargau begraben müßten, alles
+um der Projekte seines Schwiegersohnes willen! Heinrich Pestalozzi
+weiß, daß ihn viel mehr die Unstimmigkeiten mit den Söhnen auf den
+landfremden Altenteil getrieben haben — wodurch ihm die eigene Mutter
+scheu in der Einsamkeit des Roten Gatters geblieben ist — er hört aus
+den Worten des Schwagers schon die Entscheidungen heraus, die nachher
+kommen sollen, als es gilt, den Rest der Erbschaft aus dem Pflug zu
+teilen; denn so fern die Geschwister Schultheß allem stehen, was nach
+einem Erbstreit aussehen könnte, so wenig verhehlen sie ihre Besorgnis,
+daß auch der letzte Teil Annas in neuen Plänen verschwinden möge. Es
+findet sich auch eine Klausel im Testament, und ehe sich Heinrich
+Pestalozzi dessen versieht,<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span> ist er in endlose und manchmal hitzige
+Verhandlungen verwickelt, in denen sein eigener Sohn den Prozeßgegner
+vorstellt. Es wird schließlich ein Pakt gemacht, laut welchem er seinem
+minderjährigen Sohn Jakob den Neuhof für sechszehntausend Bernergulden
+verkauft; doch erhält er dieses Geld nicht, sondern es werden damit die
+Brüder Annas und andere Gläubiger abgelöst.</p>
+
+<p>Es ist eine klare Regelung, und Heinrich Pestalozzi kann mit dem
+Ergebnis zufrieden sein, da es den Neuhof für seinen Sohn sichert, wie
+er es selber gewollt hat; auch werden die Beratungen mit dem Respekt
+geführt, den man dem berühmten Verfasser von Lienhard und Gertrud
+schuldig zu sein glaubt: aber das mildert nur wenig an der Grausamkeit,
+mit fünfundvierzig Jahren schon ausgezogen und auf die freiwillige
+Unterhaltung durch seinen Sohn gesetzt zu sein! Und bitterer noch
+als dieses Ergebnis sind die Bedenken, die dahin führten und die ihn
+— so sehr es auch verklausuliert wird — gleich einem Verschwender
+entmündigten.</p>
+
+<p>So bin ich denn lebendig begraben! spottet Heinrich Pestalozzi grausam,
+als er seinen Namen unter den Vertrag gesetzt hat und unter dem
+Vorwand, in Bern mit dem Herrn von Fellenberg unterhandeln zu müssen,
+nicht mit Anna auf den Neuhof zurückgeht. Er kommt an dem Tag nur bis
+Kirchberg; denn als er da gegen Abend mit der Post durchfahren will,
+erschüttert ihn der Anblick der bekannten Fluren so, daß er aussteigt
+und sich in wehmütige Erinnerungen verliert. Es sind mehr als zwei
+Jahrzehnte vergangen, seitdem er hier<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> gelernt hat, und da der Vater
+Tschiffeli seit zehn Jahren in der Erde liegt, stehen die Felder längst
+nicht mehr von ihm bereitet da. Die Krappkultur ist auch hier bis auf
+spärliche Reste eingegangen, und wo damals junge Alleen führten, hängen
+jetzt vereinzelte Bäume verwildert im roten Laub: Ich bin Landwirt
+geworden, sagte er, wie ein Brot in den Backofen sollte; da haben sie
+mich vergessen, und ich bin in den Krusten vertrocknet!</p>
+
+<p>Es fällt ihm ein, wie er hier mit Anna umher gegangen ist, mehr sie den
+Leuten, als ihr die Dinge zeigend; und weil sie damals einen Ausflug
+nach Burgdorf und seinem ragenden Schloß gemacht haben, läuft er noch
+am selben Abend durch den Mondschein dahin. Er kommt erst in der Nacht
+an und sieht nur noch im Unterdorf Licht in einer kleinen Wirtschaft,
+weil eine Kuh kalbt. Da findet er zwar ein Lager, aber er schläft
+nicht bis in die Frühe, und als dann endlich die bleierne Ermüdung auf
+seine rastlosen Gedanken gefallen ist, wird er bald wieder aus dem
+Morgenschlaf geweckt. Er träumt, daß er noch eine Armenanstalt habe
+und sich eifrig mit den Kindern plage; aber wie er wach wird, ist es
+die Hintersassenschule nebenan mit ihrem Lärm. Es lockt ihn nachher,
+als er mit der Morgensuppe fortgeht, die Schultür zu öffnen und in
+den Raum hinein zu sehen, wo immer noch wie damals in der Hausschule
+zu Zürich der Lehrer mit einem Stock schreiend in der Klasse herum
+wandert. Der Mann bemerkt ihn gleich und läuft unwirsch auf ihn zu: was
+er wünsche? Heinrich Pestalozzi sieht an seiner Schürze, daß es ein
+Schuhmacher ist, und die Bitterkeit schießt ihm auf, daß in der Schule<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span>
+das gleiche Elend geblieben ist durch vier Jahrzehnte: Ich wünsche, daß
+dies anders werden möchte! sagt er und geht fort, während der verdutzte
+Schulmeister in der Tür steht und dem Landstreicher nachsieht.</p>
+
+<p>Von Burgdorf nach Bern sind es fünf Stunden; er braucht den ganzen Tag
+dazu. Ich komme doch überall Zu früh, sagt er doppelsinnig zu sich
+selber, indem er bald hier, bald dort seinen Einfällen nachgeht und
+so schließlich erst gegen Abend vor dem Stadttor steht, bestaubt von
+der Straße und auch sonst unansehnlich genug. Zufällig sieht ihn da
+der Offizier der Wache, dem er verdächtig scheint; er fragt ihn nach
+seinem Namen, den er nicht weiter kennt, und da der Wanderer an seinem
+Halstuch lutschend ihm blöd vorkommt, läßt er ihn ohne weiteres als
+einen Landstreicher abführen. So kommt Heinrich Pestalozzi statt zu dem
+Ratsherrn von Fellenberg ins Fremdenarmenhaus, und seine Stimmung ist
+so, daß er sich nicht einmal ungern dahin abführen läßt; es ist ihm
+oft genug von den Züricher Freunden als sein sicheres Ziel prophezeit
+worden. Meines Besitzes ledig, ohne Amt oder Beruf, auf nichts als auf
+die Einfälle meiner Feder gestellt und auch damit längst nicht mehr
+willkommen: was bin ich vor ihrer bürgerlichen Ordnung anders als ein
+Bettler!</p>
+
+<p>Als er seine Suppe und nachher ein Bett erhält, die eine wohlschmeckend
+und das andere sauber, vergeht sogar seine düstere Stimmung: er findet
+sich besser aufgehoben als zur vergangenen Nacht in Burgdorf, und
+die Freude, daß für die anwandernden Armen in Bern so gut gesorgt
+ist, macht ihn fast fröhlich. Er schläft gut,<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> ißt andern Morgens
+in der Frühe wieder seine Suppe und macht sich Freund mit seinen
+Leidensgenossen. Ich habe eine Frau, ein Gut und einen Sohn gehabt, es
+ist ein Strudel von Sorgen und Aufregungen um mich gewesen, ich bin
+berühmt geworden mit einem Buch und wieder vergessen mit einem andern:
+aber alles das war mein Leben nicht! Ich hätte arm sein und bleiben
+sollen wie einer von diesen; das andere hat mich vom Notwendigen
+abgebracht und in tausend Alltäglichkeiten verstrickt, die nicht die
+Atemzüge wert waren, die ich dran wandte!</p>
+
+<p>Er bleibt noch bis gegen Mittag da; erst, als er nachher eine Weile
+spazieren will, merkt er, daß sie ihn gefangen halten, und schickt dem
+Herrn von Fellenberg einen Zettel. Es dauert nicht eine halbe Stunde,
+so kommt der Ratsherr selber angeritten, und der Aufseher kann sich
+nicht genug verwundern, wie er vom Pferd springt und dem angeblichen
+Landstreicher um den Hals fällt. Hernach scheint er gereizt genug,
+sie alle um das Versehen anzufahren; aber Heinrich Pestalozzi legt
+ihm sogleich die Hand auf den Arm und lächelt ihn listig an mit allen
+Runzeln seines Gesichtes: Ich wollte doch nur sehen, wie ihr mit Betten
+und Suppen für die Landarmen sorgt!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>62.</h3>
+</div>
+
+<p>Erst als er mit dem Ratsherrn, der sein Pferd am Zügel führt, durch
+die Straßen von Bern geht, gesteht sich Heinrich Pestalozzi den Zweck
+seiner Reise ein: Fellenberg hat ihn dem Grafen Zinzendorf empfohlen;
+nun<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> will er seinen Rat und andere Weisungen für Wien holen, denn
+nichts anderes als eine Wanderung dahin hat er im Sinn. In den Neuhof
+zurückzukehren, scheint seinem Trotz unmöglich, und sonst gibt es in
+der Schweiz nichts mehr für ihn zu tun; in Zürich, Basel und Bern,
+überall ist er der lästige Projektemacher. Zinzendorf war ziemlich
+der einzige, der ihm über den vierten Teil von Lienhard und Gertrud
+begeistert geschrieben hat; wenn er ihm unter die Augen träte — er
+hat sich den Augenblick hundertmal ausgemalt — könnte es garnicht
+fehlen, daß der Minister auch eine Stelle fände, sein Heilmittel der
+allgemeinen Menschenbildung zu versuchen!</p>
+
+<p>Fellenberg scheint diesen Reiseeinfall zunächst für einen Witz zu
+halten; er fitzt ein paarmal mit der Reitgerte durch die Luft und lacht
+dazu, als sie nachher miteinander auf einer Fensterbank sitzen: Das
+wäre allerdings keine üble Szene, wenn er in Wien als Wunderdoktor
+aufträte! Aber als Heinrich Pestalozzi mit einem Freudenruf aufspringt
+und redend ins Zimmer läuft, wie wenn er schon vor dem Grafen stände,
+wobei er sich freilich in einen Teppich verfängt und stolpert, fällt
+der Ratsherr ihm in den Arm, setzt sich aber gleich hin, ingrimmig
+lachend und den Kopf abermals schüttelnd wie einer, der mit seinem
+Verstande zu Ende ist. Je mehr sich Heinrich Pestalozzi in die
+Einzelheiten seines phantastischen Plans hinein redet — wie er als
+dramatischer Dichter versuchen will, dem ganzen Hof ins Gewissen zu
+reden — je schweigsamer wird der andere; bis beide schweigen und
+Fellenberg sich mit aller Gewandtheit seiner Diplomatie daran gibt,
+das Schaukelbrett wegzuziehen,<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span> darauf die Pläne seines Gastes gebaut
+sind: Der Wiener Hof und der Graf Zinzendorf hätten zur Zeit andere
+Dinge zu bedenken; der Kaiser Josef, durch dessen Eifer alle Mühlen
+in Österreich so eifrig am Mahlen gewesen wären, läge sterbenskrank
+darnieder, verbittert am Widerstand seiner Zeit. Er würde ihn wohl kaum
+noch lebend finden, wenn er in Wien ankäme; und so große Hoffnungen
+auch auf seinen Bruder Leopold, den Herzog von Toskana, als seinen
+Nachfolger zu setzen wären — Heinrich Pestalozzi habe ihm ja immediat
+schreiben dürfen und besitze sicher einen Gönner in ihm — er würde den
+Staat in einer Verfassung finden, die fürs erste auf andere Dinge als
+noch mehr Reformen ginge! Und was er sich sonst unter Wien und seinem
+Hof vorstelle? Es könne ihm passieren, daß er, einmal versehentlich
+ins Armenhaus gebracht, nicht so leicht wieder herauskäme wie hier.
+Jedenfalls würde ihn der Graf Zinzendorf kaum selber herausholen!</p>
+
+<p>Es hilft nichts, daß Heinrich Pestalozzi seine Gegengründe mit den
+Armen heran bringt, diese Dinge kennt der Ratsherr besser als er; und
+da der ihm weder in Bern noch sonst in der Schweiz einen Platz für
+seine Experimente weiß, tritt er nach drei Tagen, gedemütigter als
+er gekommen ist — trotz aller ehrenden Sorge des Ratsherrn — seine
+Rückreise nach dem Neuhof an. Da es sein muß, vermag er den Weg nicht
+durch eine neuerliche Wanderung in die Länge zu ziehen; er fährt mit
+der Post und langt nach einer durchrumpelten Tagesfahrt nachmittags in
+Lenzburg an, von da über den Berg zu laufen. Er will sich im »Löwen«
+noch stärken für<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> den Marsch, als ihm sein Sohn aus der Tür mit einem
+Mädchen entgegentritt, das er nach der ersten Überraschung als eine
+Brugger Tochter namens Fröhlich erkennt, die auch schon einigemal
+im Neuhof gewesen ist. Die beiden haben sich, wie sie abwechselnd
+errötend sagen, zufällig hier in Lenzburg auf dem Markt getroffen und
+wollen mit ihren Eltern im Wagen nach Brugg heimkehren. Da er ablehnt,
+mitzufahren, und der Wagen schon wartet, treten sie garnicht mehr mit
+ihm ein; so kommt er trotz der Begegnung allein mit dem Abend ins
+Birrfeld hinunter, nun völlig sicher, daß kein Platz mehr für ihn und
+seine Pläne auf dem Neuhof ist.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>63.</h3>
+</div>
+
+<p>Es geschieht so, wie Fellenberg prophezeit hat; nach einigen Monaten
+liest Heinrich Pestalozzi in der Schaffhauser Zeitung, daß der
+edle Kaiser Josef im neunundfünfzigsten Jahr seines Lebens und im
+fünfundzwanzigsten Jahr seiner Regierung gebrochenen Herzens gestorben
+sei. Damit ist der Rest seiner heimlichen Hoffnungen allein auf seinen
+Nachfolger Leopold gestellt, und im Herbst wagt er es, ihm mit einer
+Schrift durch den Grafen Zinzendorf seine Dienste anzubieten. Aber
+auch damit hat Fellenberg recht gehabt, der Brief bringt ihm nie eine
+Antwort ein, und während er nach Trostgründen sucht, stirbt der neue
+Kaiser seinem Bruder rasch hinterher.</p>
+
+<p>Unterdessen ihm die Weltgeschichte diese Striche durch seine
+phantastische Rechnung macht, beeilt sich sein Sohn Jakob mit der
+Anna Magdalena Fröhlich von Brugg;<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> im einundzwanzigsten Jahr macht
+er Hochzeit, und seitdem sitzt Heinrich Pestalozzi wirklich auf dem
+Altenteil im Neuhof. Seine Frau ist nun fast immer bei ihrer Freundin
+auf Schloß Hallwyl, und ihn treibt seine einsame Ruhelosigkeit nach
+Zürich, wo er den Rest seiner Freunde gelegentlich um neue vermehrt.
+Noch immer ist es die gelobte Stadt schwärmerischer Jünglinge,
+denen die Lage am See, der Ausblick ins Gebirge, dazu die gastliche
+Geselligkeit ihrer reichgewordenen Bürger und nicht zuletzt das durch
+Bodmer — den auch nun längst gestorbenen — begründete literarische
+Leben einen Zauber von freier Schönheit vortäuschen. Obwohl seine
+Schriften weder im Einklang mit dem Wesen der Stadt noch mit ihrem Ruf
+stehen, ist der Verfasser von Lienhard und Gertrud doch für manchen der
+fremden Jünglinge eine Bekanntschaft, die ihnen zugehörig scheint; und
+das Angenehmste, was Heinrich Pestalozzi von seinem Ruhm erlebt, wird
+ihm von ihnen gelegentlich in Zürich zuteil.</p>
+
+<p>So trifft er einmal einen jungen Holsteiner namens Nicolovius, der
+mit dem Grafen Stolberg nach Zürich gekommen ist und sich — wie er
+Heinrich Pestalozzi sagt — seit Beginn der Reise darauf gefreut hat,
+ihn zu sehen. Die norddeutsche Kühle des jungen Mannes entspricht
+wenig dieser warmen Versicherung, und er erwartet eigentlich nicht
+viel, als er ihn einlädt, ihn einmal auf dem Neuhof zu besuchen. Wie
+er dann aber kommt, ist er ohne seinen Grafen viel weniger steif, und
+als sie erst einen Spaziergang miteinander machen übers Birrfeld und
+Müligen nach der Reuß hinunter, erschließt<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> er ihm bald sein Herz. Der
+Jüngling hat all seine Schriften mit glühendem Eifer gelesen und den
+Plan seines eigenen Lebens darauf gebaut. So erlebt Heinrich Pestalozzi
+ganz unvermutet an ihm das Glück einer wirklichen Jüngerschaft; in der
+Gedrücktheit seiner Lage wird das ein berauschendes Erlebnis für ihn,
+und wie er trotz Iselin und Battier niemals zu einem der Schweizer
+Freunde hat sprechen dürfen, so öffnet er diesem Jüngling sein Herz.
+Er kommt fröhlicher als seit langem heim, und darum fällt ihm die
+Traurigkeit so schneidend ins Herz, als um einer Besorgung willen sein
+Sohn ins Zimmer tritt und die beiden nebeneinander stehen, ziemlich
+gleich groß im Bau, aber der eine stumpf und von der Verbitterung
+seiner Krankheit mißmutig, trotzdem er das fröhlichste Frauenzimmer
+der Welt sein eigen nennt, der andere hell, klug und voll Schwung,
+ein junger Bach, in den er alle Trübheit seines Alters gießen könnte,
+ohne die gläserne Helligkeit zu trüben. Ach wäre es mein Sohn! schreit
+eine Stimme in ihm auf, wieviel leichter stände ich in der Welt, einen
+solchen Erben meiner Wünsche für die Menschheit zu haben! Und um nicht
+weinend über diesen Zwiespalt dazustehen, läuft er hinaus gegen den
+Wald, mit stürzenden Tränen wie in seiner Jugend.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>64.</h3>
+</div>
+
+<p>Nicht lange danach macht Heinrich Pestalozzi die erste größere Reise
+seines Lebens; die Tante Weber in Leipzig ist gestorben, und weil er
+am ehesten abkömmlich ist — wie ihm der Vetter Hotze in Richterswyl
+nicht<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> ohne Spott beibringt — reist er als Erbbevollmächtigter seiner
+mütterlichen Familie hin. Er reist gern, weil er sich freut, das Bärbel
+wiederzusehen, das ihm in den fünfzehn Jahren als Frau Groß nicht
+untreu geworden ist und aus seinen Briefen von allem Schicksal weiß.
+Dahinter aber lockt die Hoffnung, daß er nun selber in dieses große
+Deutschland fährt, aus dem ihm immer noch das stärkste Echo gekommen
+ist. Vielleicht, daß er doch einen Reichsfürsten für seine Pläne findet!</p>
+
+<p>Die Fahrt geht noch im nassen März über Schaffhausen, Ulm, Nürnberg,
+Bamberg; aber diese Städte sind nur die größeren Nachtpausen in der
+endlosen Fahrt, die durch ein Gewirr von waldigen Hügeln, Wiesentälern
+und Ackerfeldern unaufhörlich über neue Grenzen in immer fremdere
+Gebiete führt. Wie es heißt, sind deutsche Heere nach Frankreich
+gezogen, den gefangenen König zu befreien, und überall begegnet
+er den Spuren dieses Feldzugs, sodaß er froh ist, nach einer fast
+vierzehntägigen Reise endlich in Leipzig zu sein. Er findet seine
+Schwester, die als Mädchen fortging, als eine stattliche Matrone
+wieder an der Seite eines Mannes, der vom ersten bis zum letzten
+Augenblick des Tages keinen andern Gedanken hat als sein Geschäft. Die
+Förmlichkeiten der Erbschaft denkt er bald zu erledigen und danach
+den eigenen Sachen nachzugehen; aber eine Eingabe zieht die andere
+nach sich und ein Anwalt den andern; schon nach acht Tagen sitzt er
+vor einem Berg von Akten, und jedes Papier hat die Sache schwieriger
+gemacht. Dabei ist er ein Schweizer unter lauter Sachsen, und so
+komisch er ihre Sprache findet,<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> sie können das Lachen nicht verhalten
+vor der seinen. Selbst wenn er jemand für seine Sache eifrig gemacht
+hat, zerstört ein Gespräch mehr, als drei Briefe Nutzen brachten. Ist
+er in der Schweiz mit seinen Taten der Narr der Leute gewesen, so wird
+er es hier mit seiner Erscheinung; er vermag schließlich nur noch
+ängstlich über die Straßen zu gehen, weil immer wieder die Buben mit
+Gelächter hinter ihm drein laufen.</p>
+
+<p>Sein geheimer Plan, nach Weimar oder sonst an einen Fürstenhof zu
+fahren, verdrückt sich dadurch; verschüchtert und ingrimmig über die
+langwierigen Termine und die Ergebnislosigkeit seiner Reise fängt
+er bald an, Heimweh nach seiner Schweiz zu kriegen, und eher, als
+er gedacht hat, ist er auf der Rückfahrt. Nicht einem Menschen hat
+er ernstlich von seinen Dingen sprechen können, aber mit seinen
+Luftschlössern im Ausland ist er trotzdem fertig. Er hat gesehen,
+daß Zürich und Leipzig für ihn dasselbe ist; hier wie dort gibt es
+Stadtbürger, deren Namen einem gefüllten Geldsack den Klang verdankt;
+hier wie dort sind diejenigen weiße Raben, die mehr als ihren Vorteil
+wollen, nur daß er die weißen Raben daheim allmählich kennt und zu
+beurteilen weiß, während er dort nicht einmal zu einer oberflächlichen
+Kenntnis kommt! Auch auf der Heimreise sieht er nichts von den Ländern,
+durch die sein Postwagen fährt. Überall Postmeister, Stadtsoldaten
+und Zöllner, Schlagbäume und mürrisch geöffnete Stadttore. Ohne ein
+eigentliches Erlebnis kommt er gedemütigt wieder an und nicht geneigt,
+mehr als seinen geschäftlichen Bericht von der Reise zu geben. Daß er<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span>
+zweimal dicht am Rheinfall vorüber gefahren ist, erfährt er erst, als
+man ihn danach fragt.</p>
+
+<p>Das einzige, was er mitbringt, sind die ungeheuren Vorgänge in Paris,
+von denen täglich neue Blutberichte nach Leipzig kamen. Noch lebt der
+König, aber schon weiß man, daß er kaum mehr als ein Gefangener der
+Empörer ist. Auch sonst scheint die Weltordnung einzustürzen; das Elend
+und die Verzweiflung der Armut stehen auf, wie Heinrich Pestalozzi
+es längst befürchtete, und da er das Heilmittel angepriesen hat, die
+Regierungen mit ihren Völkern übereins zu bringen, kommt er sich wie
+ein Prophet vor, auf den niemand hören wollte. Aber als bis in den
+Hochsommer hinein sich die Schreckensnachrichten häufen, sodaß es
+scheint, als ob Paris den Untergang Jerusalems noch einmal erleben
+solle, bekommt er die Nachricht, daß ihm die Nationalversammlung
+der Empörer in Paris das Ehrenbürgerrecht des französischen Volkes
+verliehen habe. Achtzehn Ausländern ist es zugesprochen worden, und
+neben den weltberühmten Namen Washington, Klopstock und Schiller sieht
+er den seinigen geehrt, wie er es niemals geträumt hätte.</p>
+
+<p>Er ist wieder einmal mit Hans Heinrich Füeßli zusammen — den sie
+unterdessen in Zürich auf den Lehrstuhl für vaterländische Geschichte
+am Collegium Carolinum berufen haben — als die Nachricht eintrifft:
+Das ist was Rechtes, spottet der, um seine Freude zu verbergen,
+Ehrenbürger einer Räuber- und Mörderbande zu sein! Aber in seinem
+Kopf haben alle Gedanken schon eine neue Windrichtung angenommen:<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span>
+Wo Heinrich Pestalozzi Ehrenbürger wird, sagt er fest, und bleibt in
+seiner Gläubigkeit allem Hochmut fern, ist etwas Gutes im Wege! Für
+eine Räuberbande könnten sie landauf, landab schon andere Leute finden,
+auch in Zürich.</p>
+
+<p>Trotzdem, ein Ehrenbürger des Aufruhrs bleibst du, sagt Füeßli nun
+gleichfalls ernst und setzt seinen Hut auf, weil er doch gehen will!
+Da gibt ihm Heinrich Pestalozzi die Hand, und jedes Rünzelchen seines
+braunen Gesichts scheint einzeln zu lächeln: Du meinst, weil ich selber
+ein Aufrührer sei? Ich hätte freilich gern euren Brei gerührt, er war
+zu zäh für meine Holzlöffel, die mir nacheinander zerbrochen sind. Was
+gilts, die haben eiserne Löffel, und ihr werdet daraus essen müssen!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>65.</h3>
+</div>
+
+<p>Seit diesem Tag ist ein Schein in der Welt, der Heinrich Pestalozzi
+das Blut unruhig macht; er fühlt, daß es die Sache der Menschheit
+ist, die in Paris verhandelt wird, und soviel Greuel da mit Greueln
+totgeschlagen werden: er wartet aus der wilden Mordnacht getrost auf
+ein Morgenlicht, das auch seinen Dingen scheinen soll. Für ihn bedeutet
+die Verkündigung der Menschenrechte auch die der Menschenpflichten;
+während die Franzosen ihrem König den Kopf abschlagen, schreibt er in
+einer glühenden Schrift sein klares »Ja oder Nein« zu dem Aufruhr der
+verwahrlosten Menschennatur; und weil er sieht, wie nun das Christentum
+von denen zur Hilfe gerufen wird, die es bisher nicht brauchten,
+scheut er sich nicht, die Übereinstimmung<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span> der christlichen Lehre mit
+den sozialen Forderungen der Revolution in einer zweiten Flugschrift
+darzulegen. Aber er findet keinen Drucker in der Schweiz für diese
+Kühnheiten, und seine Freunde sind erlöst, daß er sie ins Schubfach
+legt.</p>
+
+<p>Indessen Heinrich Pestalozzi so die flackernden Brände der
+Zeitgeschichte in den Spiegel seiner Ideen nimmt, sitzt er selber noch
+überflüssig auf dem Neuhof im Altenteil; so kommt ihm eine Anfrage
+seines Vetters, des Doktors Hotze, recht: Der will eine längere Reise
+nach Deutschland machen, wo seine Tochter einen Herrn von Neufville
+in Frankfurt heiratet, und er soll ihm über den Winter das Haus in
+Richterswyl hüten. Er sieht sich als stellvertretender Hausherr in die
+Sorglosigkeit eines wohlhabenden Hauses am See verpflanzt, den Freunden
+in Zürich mit einer nicht zu umständlichen Schiffahrt erreichbar und
+mitten in einer Landschaft, die ihn mit den letzten Gesängen der
+Weinernte umfängt und gegen das rauhe Birrfeld ein einziger Garten ist.
+Zum erstenmal in seinem unrastigen Mannesleben weicht die Täglichkeit
+der Sorgen von ihm zurück, und während er in den ersten Tagen sein
+zeitweises Besitztum abschreitet, gegen den See hinunter und bis an den
+Wald hinauf, kommt es ihm vor, als habe er in seinem Leben noch keinen
+Spaziergang gemacht.</p>
+
+<p>Wie er nun eines Tages unten am See sitzt und sich von der letzten
+Wärme der Herbstsonne durchschauern läßt — es ist dieselbe Stelle, wo
+ihn die Mutter damals auf den Armen ins Haus holte — muß er an den
+Knaben im Federhut denken, der es unterdessen bei<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> den Kaiserlichen
+zum General gebracht hat. Wo sind meine Taten? fragt er da in die
+blausonnige Seewelt hinaus, und alles, was er an großen Dingen
+versuchte, erst mit seinen mißlungenen Gründungen, danach mit seiner
+Feder, scheint ihm ärmlich und zerstreut. Wohl hat er mit Lienhard
+und Gertrud einen Plan aufgebaut, wie der verwahrlosten Menschheit
+zu helfen wäre, aber der Plan ist auf das Herrenrecht gegründet
+gewesen, das er nun überall wanken sieht. Er ist nicht auf den Grund
+der Menschennatur gegangen, er hat seine Vorschläge an Verhältnisse
+geklebt, die sich vor der großen Abrechnung, die nun kommt, nicht
+halten können, und so bröckeln sie mit ihnen hin. Nichts scheint ihm
+fest in dieser Zeit, als der Gedanke der menschlichen Verpflichtung,
+der sich im Schicksal der Tage aufringt und aus dem allein die Ordnung
+der Zukunft kommen kann.</p>
+
+<p>Er sitzt noch mitten in dieser Rechnung, als er drei Männer vom Haus
+herunter an den See kommen sieht, von einer Magd zu ihm gewiesen:
+Landfremde, die er aus Zürich kennt, zwei Deutsche und der dänische
+Dichter Baggesen; der eine Deutsche aber, namens Fichte, hat die
+Tochter einer Freundin in Zürich geheiratet und ist ihm dadurch wie
+durch den Steilflug seiner Gedanken vertrauter geworden. Wie die
+drei gerade in dieser Stunde daher kommen, wird ihm alttestamentlich
+zumut, so wohl tut ihm ihre Gegenwart. Noch sind sie keine Stunde
+da, als er schon tief im Gespräch ist, wie nichts nötiger sei als
+eine Nachforschung über den Gang der Natur in der Entwicklung des
+Menschengeschlechts. Die Abrechnung mit der alten Zeit ist da, und
+allein aus der<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> Natur kann die Formel für die neue gefunden werden. Er
+hat ein Gefühl, als ob ihm in der Tiefe ein Strom aufgebrochen wäre,
+daraus seine Rede zur Sprache des Lebens selber würde. Und da es Männer
+sind, die wie er diese Zeit im Innersten erleben, die nicht wie die
+Regierenden und Besitzenden händeringend um die bedrohte Macht und
+ihren Reichtum dastehen, sondern in sich die Seele und das Schicksal
+ihres Volkes und der Menschheit fühlen, spricht er nicht rauben Ohren.
+Der Tag geht hin und die halbe Nacht; und obwohl sie kaum Wein dazu
+trinken, ist ein Rausch in ihnen, daß sie sich aller Dinge kraft ihres
+Geistes mächtig fühlen.</p>
+
+<p>Als gegen Mitternacht der Mond aufgeht, treten sie noch einmal hinaus,
+wo eine alte Linde ihre Äste über den Hof senkt. Das ist unser
+Freiheitsbaum, sagt Heinrich Pestalozzi und faßt die Hände seiner
+Nachbarn: seine Wurzeln im Saft der Erde halten die Krone im Wind;
+kein dürrer Steckling, sondern eine gewachsene Kreatur! Ehe sie es
+selber merken, hat sich auch Fichte als der vierte eingefaßt, sodaß
+sie in einem Ring um den Lindenbaum dastehen. Aber der Stamm ist so
+dick in den Wurzeln, daß sie sich alle vier ihm dicht zuneigen müssen
+und mehr in einer Umarmung als zum Reigen dastehen: Es ist nichts
+mit dem Tanzen, sagt Heinrich Pestalozzi, jetzt weiß ich, warum die
+Freiheitsbäume der Franzosen so dünn sind!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>66.</h3>
+</div>
+
+<p>Danach fühlt Heinrich Pestalozzi, wie alles in seinem Leben der
+Auflösung entgegengeht. Nach dem Winter<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> in Richterswyl findet er
+sich nicht mehr in den Neuhof zurück; wohl hält er sich auch danach
+noch wochenlang dort auf, aber seitdem seinem Sohn eine Tochter
+Marianne geboren ist, die ihn zum Großvater macht, sitzt et nur noch
+wie ein Zuschauer dabei, wenn sie sich abends im Lichtkreis um den
+Tisch sammeln — es ist immer noch die Messinglampe, die ihm schon in
+Müligen geleuchtet hat und bis auf den Tag das Staatsstück des Hauses
+vorstellt. Er ist nun wieder viel und gern bei seiner Mutter, die noch
+einmal nach der kleinen Stadt hinübergezogen ist, wo sie mit einer
+Aufwärterin in zwei Stuben ihr einsames Wesen hat; denn auch das Babeli
+liegt bei St. Leonhard begraben nach seinem tapferen Leben. Sie ist
+nun in der Mitte der Siebziger, schlohweiß und eingeschrumpft; doch
+weiß sie noch immer, daß sie eine geborene Hotzin ist, und Heinrich
+Pestalozzi erfährt manchen Tadel, weil er nicht acht gibt auf ihre
+Ordnung und Reputation. Am liebsten hat sie, wenn er vom Bärbel und
+seinem Besuch in Leipzig erzählt und wie da alles in den Glanz des
+bürgerlichen Lebens gekommen ist, den sie entbehren mußte; es gibt
+Fragen, die sie schon hundertmal gestellt hat und deren Antwort sie
+doch immer mit der gleichen glücklichen Neugier abwartet. Auch ein paar
+dunkle Stellen sind da um den andern Sohn, wo sie den Kopf schüttelt
+und am Boden wie auf einer Landkarte den Verschollenen sucht; doch
+kennt Heinrich Pestalozzi die Brücken, um sie rasch hinüberzubringen in
+die sicheren Umstände ihrer Täglichkeit.</p>
+
+<p>Eines Tages im März wacht sie nicht mehr auf aus ihrem
+Mittagsschläfchen; aber als er sie findet, liegt<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> abgegriffen und
+weich, kaum noch wie ein Papier, der letzte Brief ihres Johann Baptista
+unter der Schürze, als ob sie ihn auch noch vor dem Tod ängstlich
+verstecken wolle.</p>
+
+<p>Nun stehen wir vorn, sagt Heinrich Pestalozzi zu seiner Frau, als
+sie von dem Kirchhof bei St. Anna zurückkommen und abgesondert von
+den Leidtragenden in die leere Wohnung der Mutter gehen: wir beide
+sollten nun hier wohnen und auf den Herold mit der Sense warten! Aber
+Anna Schultheß, die auch schon achtundfünfzigjährig und eine rechte
+Großmutter ist, hat in den dreißig Jahren gelernt, daß nichts weniger
+als abwarten seine Sache ist: Wer weiß, sagt sie und lächelt ihn mit
+der Güte an, die über alles Schicksal ihr edles Teil für ihn geblieben
+ist: wer weiß, auf welchen Wegen wir noch gehen und den Herold abholen
+müssen!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span></p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span></p>
+<h2 class="nobreak" id="Abend">Abend</h2>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>67.</h3>
+</div>
+
+<p>Als Heinrich Pestalozzi und seine Frau Anna ein paar Stunden lang still
+miteinander in den Stuben geblieben sind, daraus sie morgens seine
+Mutter als die letzte von den vier Eltern ihrer Ehe auf den Kirchhof
+getragen haben, trennen sich ihre Wege für lange Zeit. Nicht, daß sie
+unfriedlich auseinander gingen; ihre Seelen sind selten so im Rätsel
+der Vertrautheit gewesen wie an diesem Nachmittag, wo sie im Vorhof
+des Todes und also im Allerheiligsten des Lebens ihre Hände und Augen
+ineinander legen und das Naheste ihres Lebenskreises, ihr Fleisch
+und Blut im Neuhof und dahinter die Herzensfreunde nur noch wie eine
+fremde Ferne fühlen. Aber Abmachungen vom Morgen rufen Anna zu ihren
+Brüdern im Pflug, wo noch am Abend ein Wagen sie zu einer Freundschaft
+abholen soll. Er mag weder zum einen noch zum andern: Es sind deine
+Sachen, sagt er, wie meine Mutter allein die meine ist; ich will noch
+ein paar Tage ihr Sohn gewesen sein, weil nun der Faden meiner Kindheit
+abgeschnitten wurde.</p>
+
+<p>Es schlägt fünf Uhr, und der Märztag geht rötlich dem Ende zu, als er
+sie auf die Straße bringt. Wir sind im Nachmittag, sagt er, und weil
+am Morgen und Mittag alles kam, wie es geschehen mußte, wird auch<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span> der
+Abend unseres Lebenstages nicht anders sein! Danach geht er hinauf und
+sitzt zum Abend schon tief in den Gedanken, die seit Wochen und Monaten
+das Selbstgericht seines Daseins sind: »Ich will wissen, was der Gang
+meines Lebens, wie es war, aus mir gemacht hat; ich will wissen, was
+der Gang des Lebens, wie es ist, aus dem Menschengeschlecht macht!« Das
+sind seine Nachforschungen aus Richterswyl, und er verläßt die Stuben
+seiner Mutter nicht eher, als bis er die Schrift vollendet hat, an der
+er nun schon im dritten Jahr seine Denkkraft versucht. Er schreibt
+sie nicht für sich und nicht um seinetwillen, er sieht sich in der
+Menschheit und die Menschheit in sich, er will der wirren Zeit einen
+sicheren Maßstab und Weiser ihrer Taten geben. Dies aber ist ihm im
+Einzelnen wie in Allen der gleiche Gang der Natur: aus dem tierischen
+Paradies der Jugend in die gesellschaftliche Verpflichtung als Bürger,
+als Teil der Familie, der Gemeinde, des Staates, als Erfüller eines
+Berufes; doch kann für ihn dieses Dasein des brauchbaren Bürgers nicht
+Sinn und Ziel des Lebens sein: das Ziel ist allein der Mensch als
+sittlicher Zustand, der sich jenseits von allem bürgerlichen Zweck in
+das Weltwesen einordnet, wie es der Weisheit des Alters vorbehalten
+scheint. Die selige Unschuld der Jugend kann er mit dem Bewußtsein
+des Alters nicht wieder erreichen, aber doch die Unfreiheit des
+gesellschaftlichen Menschen überwinden und als letzte Einsicht die
+Einheit der Kreatur mit dem Schöpfer wieder gewinnen, die das Tier in
+seiner paradiesischen Unschuld nicht verliert.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p>
+
+<p>Es ist der Abschied von seinen Mannesjahren, den Heinrich Pestalozzi
+einsam feiert, als er über dieser Schrift wochenlang mit dem hitzigen
+Eifer seiner Jünglingsjahre sitzt. Daß er sie in der Stube seiner
+Mutter niederschreibt, bringt ihm auch sonst die Stimmung der Zeiten
+zurück, da er den spartanischen König Agis in die Zürcher Verhältnisse
+beschwor. Wie damals hätte er gern einen Kreis Gleichgesinnter gehabt,
+ihnen die gelungensten Stücke aus seiner Schrift vorzulesen; aber es
+gibt keine Gerwe mehr, Bodmer liegt seit dreizehn Jahren in der Erde,
+und statt seiner heiteren Menschlichkeit herrschen die Humanisten über
+die Zürcher Jugend. Gleichwohl, als er zu Ende ist mit seiner Schrift
+und im Gefühl tiefer Dankbarkeit aufatmet nach der fiebrigen Anspannung
+dieser Wochen, treibt es ihn, einen Kreis alter Freunde zu suchen,
+denen er die Hauptstücke seiner Nachforschungen vorlesen darf. Die
+meisten sind unterdessen Großvater geworden gleich ihm, und der Beruf
+hat nicht allen Zeit gelassen, den Lebensfragen so nahe zu bleiben wie
+er; aber die Feuersbrunst von Westen hat so viele Brandflocken in die
+Schweiz herüber geworfen, daß auch die Zurückhaltenden die Unruhe der
+Zeit fühlen; und schließlich ist Heinrich Pestalozzi nicht mehr allein
+der Armennarr von Neuhof, sondern auch der berühmte Verfasser von
+Lienhard und Gertrud und schweizerischer Ehrenbürger der französischen
+Republik.</p>
+
+<p>So kommt es zu einem Frühsommerabend, wo er wieder wie als Jüngling mit
+dem Agis nun mit seinen Nachforschungen über den Gang der Natur dasitzt
+und<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> seine zitternde Stimme Wege in ihre Herzen suchen läßt. Er weiß,
+dies ist für ihn mehr als eine Schrift, es ist die Grundlage alles
+dessen, was er in Taten und Worten versucht hat, die Rechtfertigung
+seines im bürgerlichen Sinn gescheiterten Daseins und zugleich ein
+Religionsbuch der Zeit, wie er keines kennt. Aber die Freunde haben
+etwas anderes von dem Ehrenbürger der Franzosen erwartet, etwas, darin
+der Brand der Zeit ist; sie sehen sich wieder einmal enttäuscht durch
+ihn, und obwohl sie betreten schweigen und vor seinen zitternden Worten
+stumm bleiben, mag in allen das gleiche Gefühl sein: daß in diesem
+Menschen eine krankhafte Sprunghaftigkeit sei; nun er als Figur für die
+Öffentlichkeit feststeht und sein Weg durch die Erfolge vorgezeichnet
+ist, verfällt er auf philosophische Spekulationen, zu denen es ihm —
+so scheint es ihnen — durchaus an der Bildung fehlt. Der Abend geht
+peinlich in eine betretene Stimmung aus; nur ein alter Landpfarrer
+vom See, der ihn schon mehrmals im Neuhof besucht hat, ein ehrlich
+gesinnter Menschenfreund, ist erregt von dem Abend. Er begleitet ihn
+nach der kleinen Stadt hinüber, und Heinrich Pestalozzi scheint es, als
+ob er auf der mondlichten Brücke und nachher in dem Schattengewinkel
+der Gassen ein paarmal tief vom Herzen seufze. Erst vor seiner Tür
+findet der Mann die Worte zu seiner Bewegung, indem er die Kappe
+abnimmt und ein paarmal über sein weißes Haar streicht: er müsse
+Abschied von ihm nehmen; er könne sich nun einmal sein Christentum
+nicht als einen Kirschbaum denken, den sich die Menschen selber in
+ihren Garten gepflanzt hätten!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span></p>
+
+<p>In seine Milde ist ihm unvermutet der pfarrerliche Zorn gefahren; ehe
+Heinrich Pestalozzi — der mehr den Zorn als die Worte versteht —
+aus seiner Bestürzung antworten könnte, ist der alte Mann schon im
+Schlagschatten der nächsten Quergasse verschwunden. Sie wollen alle
+das Beste, sagt er bitter, als er im Dunkeln die enge Stiege allein
+hinauf tappt, aber sie fürchten das Gute. Noch in derselben Nacht aber
+schreibt er sich selber eine bittere Grabrede als Nachwort zu seiner
+Schrift: »Und die Welt zerschlug ihn mit ihrem eisernen Hammer, wie
+die Maurer einen unbrauchbaren Stein zum Lückenfüller zwischen den
+schlechtesten Brocken!«</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>68.</h3>
+</div>
+
+<p>Es geht Heinrich Pestalozzi mit seinen Nachforschungen in der großen
+Welt nicht anders als in der Enge seiner Zürcher Freunde; trotz seinem
+flehentlichen Schlußwort kommt kein Echo, und wenn alles ein blasser
+Unsinn gewesen wäre, könnte die Stille nicht peinlicher sein. Aber
+nun ist es zu Ende mit der Einsiedlerschaft und der Wartezeit seiner
+einsamen Mannesjahre: die Stube der Mutter hat ihn wieder in seine
+Vaterstadt gebracht, und von den Signalen seiner Jünglingszeit erfüllt,
+nimmt er teil an dem Handel mit dem aufrührerischen Stäfa, der auch den
+Gestrengen Herren in Zürich die Schicksalsstunde läutet.</p>
+
+<p>Er hat den Anfang schon in dem Winter erlebt, als er seinem Vetter
+Hotze das Haus in Richterswyl hütete. Auch durch die Dörfer am See ist
+der Sturmwind der Menschenrechte geweht und hat in dem unterdrückten<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span>
+Landvolk die Erinnerung an alte Gerechtigkeiten geweckt, an den
+Kappeler Brief und den Waldmannischen Spruch. Als die Urkunden sich in
+der Gemeindelade zu Küsnacht wirklich fanden, haben die Seebauern zu
+Küsnacht, Horgen und Stäfa, ein Memorial an die Gestrengen Herren in
+Zürich gesandt, ob diese Briefe noch zu Recht beständen? Das allein
+aber hat den Rädelsführern schon den Kopf kosten sollen, und nur der
+hinreißenden Beredtsamkeit Lavaters ist es gelungen, Bluturteile zu
+verhindern. Seitdem sitzen ihrer zwei aus den drei Orten gefangen im
+Wellenberg, und über dem Haupt des Ältesten, eines siebzigjährigen
+Greises aus Stäfa, namens Bodmer, ist auf offenem Markt das Schwert des
+Henkers geschwungen worden, zum Zeichen, daß sein Leben den Zürcher
+Herren verfallen sei.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat damals selber im Verdacht gestanden, das
+Memorial verfaßt zu haben; als nun der Handel in einen Bürgerkrieg
+auszugehen scheint, indem das erbitterte Landvolk — von den
+Sturmnachrichten aus Frankreich mutig gemacht — die Aufhebung des
+ungerechten Urteils und die Freigabe der Eingekerkerten unter Androhung
+offener Gewalt verlangt, sodaß die Revolution in der Schweiz hier
+ihren Ausgang nehmen will: ist er der einzige Zürcher, der es wagen
+darf, in das empörte Stäfa zu gehen, um mit der Geltung seines Namens
+den blutigen Ereignissen entgegenzuarbeiten. Er hat es unterdessen
+auf sonderbare Weise noch einmal zum Fabrikanten gebracht: eine
+Seidenfirma Notz richtet auf der Platte in Zürich eine Fabrik ein
+und braucht einen Zürcher Bürger als Inhaber, um die Erlaubnis<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> der
+Niederlassung zu erhalten; weil, wie er selber spottet, sein Name in
+den zweiundfünfzig Jahren das einzig Brauchbare an ihm geblieben ist,
+läßt Heinrich Pestalozzi sich den abkaufen. So führt er bürgerlich
+nur noch ein Schattendasein; aber mit Sendschriften und Flugblättern
+flackert sein landfahrender Menschengeist durch den wilden Handel. Zum
+erstenmal seit seiner Jünglingszeit kommt er dabei wieder mit Lavater
+überein, der — wie er in den Seegemeinden — in Zürich die Regierung
+von gewaltsamen Schritten abhält. Überall liegen die Waffen zur offenen
+Empörung bereit, Blut soll die verweigerte Gerechtigkeit auslösen, und
+die Verhandlungen zwischen den feindlichen Mächten sind abgebrochen:
+da überbringt Heinrich Pestalozzi einen offenen Brief Lavaters an
+den redlichsten Mann in Stäfa, in dem eine friedliche Freilassung
+der Verurteilten aufs bestimmteste in Aussicht gestellt wird. Und so
+ehrlich ist das Vertrauen der Landbürger auf die beiden Männer, daß die
+Waffen noch einmal ruhen.</p>
+
+<p>Umso aufrührerischer aber tut das zugelaufene Volk, das sich eine
+Gelegenheit entschwinden sieht. Seitdem es sich herumgesprochen hat,
+daß in Stäfa der Handel des unterdrückten Landvolks mit den hochmütigen
+Stadtherren zum Austrag kommen soll, ist dort alles zusammengeströmt,
+was in der Zürcher Herrschaft und in den Kantonen rundum auf den Tag
+der Abrechnung wartet, sodaß die Wirtschaften und Scheunen in Stäfa
+voll sind von einer braunen wilden Menge: ehrlich Verbitterte, die
+auf Vergeltung lauern, und gewalttätiges Bettelvolk, das schon von
+einer Plünderung der reichen Zürichstadt<span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span> träumt, alte Kriegläufer,
+die in der neuen Ordnung keinen Platz mehr gefunden haben. Sie haben
+ihr Hauptlager in einer leeren Scheune, wo sie die Zürcher Herren mit
+wilden Flüchen nach dem Pariser Vorbild an die Laternen hängen, obwohl
+sie vorläufig weder Laternen noch Zürcher dahaben. Im Vertrauen auf
+seine Geltung wagt sich Heinrich Pestalozzi mit dem Brief Lavaters
+auch dahinein; aber da wissen sie nichts von Lienhard und Gertrud und
+seinem Ehrenbürgertum, ihnen ist er nichts als ein Zürcher Spion, und
+so empfängt ihn in der halbhellen Scheune eine Schweigsamkeit, die nur
+höhnisch lachen, nicht mehr sprechen kann. Zu arglos in seinem Eifer
+fängt er an, gutmütig scheltend auf sie einzureden; aber als er schon
+denkt, sie zu rühren — so still ist es um ihn — tut einer einen Ruf,
+und gleich ist es, als ob sich rundum ihre Hörner senkten. Er hat noch
+ein Stück seiner Rede im Mund, da heben sie ihn wie eine Strohpuppe an
+den Beinen hoch und tragen ihn, die Marseillaise heulend, durch den
+Raum. Noch immer täuscht sich Heinrich Pestalozzi über die Gefahr und
+versucht, auf sie einzureden; aber je mehr er dabei in ihren Fäusten
+zappelt, umso höhnischer wird das Hetzgeschrei — bis ein Schuß fällt.
+Einer hat den Zürcher abschießen wollen wie einen Schützenvogel, aber
+gefehlt, und die Kugel zischt ins Gebälk. In der Verwirrung kommt er
+wieder auf den Boden; aber es wäre keine Rettung für ihn gewesen, wenn
+sich nicht ein stakiger Kerl mit einem alten Soldatenhut vorgedrängt
+hätte, der ihm gleich beim Eintritt durch das von feurigen Narben
+entstellte Gesicht und um einer Ähnlichkeit willen aufgefallen<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> wäre:
+Heißt der Mann nicht Pestalozzi? Und als einige verblüffte die barsche
+Frage bejahen: Dann Brand und Pest, wer ihn anrührt! Er gehört mir, wir
+haben noch etwas miteinander auszumachen! Dabei hat er schon seinen
+alten Reitersäbel blank, und Heinrich Pestalozzi meint, sein Arm müsse
+unter dem Griff zerbrechen, wie er ihn durch das Gedränge schiebt und
+mit dem Fuß das klappernde Tor aufstößt: So, Heiri, sagt er, als er ihn
+draußen hat — und Heinrich Pestalozzi aus dem verwüsteten Gesicht den
+Ernst Luginbühl erkennt — jetzt schau, daß du weiterkommst!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>69.</h3>
+</div>
+
+<p>Mit diesem Vorspiel in der Scheune ist das Kriegstheater in Stäfa schon
+wieder aus; bereits am dritten Tag danach kommt der Bürgermeister
+Wyß, durch einen dringenden Brief Lavaters aus der Tagsatzung in
+Aarau gerufen, zu einer Sitzung der Rate und Bürger, die den Wünschen
+des Landvolks nachgibt. Heinrich Pestalozzi ist dabei, wie sie unter
+Glockengeläut und Freudenschüssen die Befreiten in geschmückten Wagen
+heimholen, und an der Grenze von Zollikon spricht er dem ehrwürdigen
+Bodmer einen Zuruf, dem diesmal die Freude lauter nachschreit, als die
+Wut in der Scheune. Den Luginbühl findet er nicht mehr, der gehört zu
+denen, die sich der neuen Lage mißtrauend davon gemacht haben, an einem
+andern Ort die Abrechnung zu erwarten; denn daß die alte Zeit stürmisch
+zu Ende geht, fühlt jeder in der Schweiz, seitdem der General Bonaparte
+von seinem siegreichen Feldzug in Italien nach Rastatt selbstherrlich<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span>
+durchs Land gereist ist, Gunst und Ungunst wie ein Herrscher verteilend.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi vermag die Stunde nun doch nicht in Zürich zu
+erwarten; in der Seidenfabrik auf der Platte ist nur sein Name nötig,
+er selber geht noch einmal auf das Birrfeld zurück. Vorher läßt er die
+Stuben seiner Mutter ausräumen und fährt so nach dreißig Jahren zum
+andernmal auf einem Wagen mit Hausrat aus der Sihlporte hinaus. Es ist
+ein graulicher Wintertag, und er kommt im Dunkeln auf dem Neuhof an, wo
+ihm seine Schwiegertochter unterdessen ein zweites Enkelkind geboren
+hat, sein Sohn Jakob aber schon viele Monate gelähmt daliegt. Es war
+noch zu früh, sagte er der Lisabeth, die noch im Mondlicht mit einem
+schweren Korb aus der Scheune kommt und ihn vor Erstaunen hinsetzt: ich
+muß ein kleines warten, bis sie mich brauchen; meinen Namen hab ich
+dahinten gelassen; er ist in Zürich Fabrikant!</p>
+
+<p>Es ist wirklich nur noch ein kleines; fünfmal kommt er noch
+Sonntags auf seinem Pferdchen nach Brugg, im Gasthof zum Sternen
+die Schaffhauser Zeitung zu lesen, und jedesmal sind es der
+Sturmnachrichten mehr: Im Waadtland fängt es an mit der lemanischen
+Republik; wohl rufen die Berner den Landsturm auf gegen die
+eindringenden Franzosen, und Tausende folgen den Sturmglocken, aber
+die Kräfte sind verzettelt; als es dem tapferen Oberst von Grafenried
+gelingt, die Welschen im Sensetal blutig zu schlagen, ist der Sieg
+umsonst, weil unterdessen der General Schauenburg nach dem Gefecht
+bei Fraubrunnen an einem Märzmittag<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> in Bern eingezogen ist und der
+unbesiegten Stadtherrlichkeit eines Jahrtausends ein unrühmliches Ende
+gemacht bat.</p>
+
+<p>Wie Heinrich Pestalozzi zum sechstenmal geritten kommt, steht
+von eilfertigen Patrioten aufgerichtet auch schon in Brugg der
+Freiheitsbaum: es ist vorüber mit der alten Eidgenossenschaft der
+Landstände; die Tagsatzung in Aarau muß im Zwang der französischen
+Waffen die Helvetische Republik proklamieren. Obwohl der Baum ihm immer
+noch zu dünn und ohne Wurzeln ist, steigt er ab von seinem Tier und
+tauscht den Bruderkuß. Im Sternen will man ihn deshalb hänseln, er aber
+fährt sie zornig an: Die alte Welt konnte von Heinrich Pestalozzi nur
+noch den Namen gebrauchen, vielleicht, ihr Herren, daß in der neuen
+Platz für mich selber ist!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>70.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi weiß wie wenige im Land, daß die Freiheit eines
+Volkes andere Dinge verlangt, als daß ihm die Ketten einer ungerechten
+Verfassung abgenommen werden: der Baum, den sie im Wald abschneiden und
+ohne Wurzeln in die Straße pflanzen, scheint ihm ein passendes Sinnbild
+solcher Freiheit. Er aber ist auf seinem Neuhof der Armennarr geworden,
+weil er einen Freiheitsbaum mit Wurzeln wollte: Ein Volk, das sind
+tausend und viele tausend Einzelne; jeder Einzelne aber bringt eine
+lebendige Menschenseele mit auf die Erde, und wer diesen Seelen ein
+Gärtner ist, daß sie in der Jugend Wurzeln schlagen können zu einer<span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span>
+wirklichen Anschauung der Weltzusammenhänge, tut mehr für die Freiheit,
+als wer einen neuen Zaun mit prahlenden Fähnchen an den Toren um den
+Garten zieht. Von allen Figuren um Lienhard und Gertrud steht ihm der
+Leutnant Glüphi am nächsten, der sich kein besseres Los auf der Welt
+findet, als den Dorfkindern in Bonnal ein Schulmeister zu sein; und
+seit dem Tag, da die Helvetische Republik Raum für solche Dinge gibt,
+brennt Heinrich Pestalozzi vor Begierde, es seinem Leutnant gleich zu
+tun.</p>
+
+<p>Gleich in den Frühlingstagen der jungen Republik geht er hinüber nach
+Aarau, sich dem Vaterland anzubieten. Er findet es ungünstig, indem der
+zuständige Minister, an den er durch Lavater dringend empfohlen ist,
+noch in Paris weilt. Trotzdem spürt er gleich, daß die Lebensluft der
+neuen Verhältnisse ihm günstiger weht; sein Name schließt Türen auf, an
+die er bisher vergeblich klopfte, und als er einen Brief hinterläßt,
+weiß er sicher, daß in den Aktenfächern kein Stockfisch daraus wird.</p>
+
+<p>Der neugebackene Minister der Künste und Wissenschaften Albert Stapfer
+ist vordem Professor der Philosophie in Bern gewesen; er kann Heinrich
+Pestalozzi nicht freundlicher gesinnt sein, als es Iselin und Battier
+vor ihm gewesen sind, aber seine Ministerhände greifen breiter als die
+ihrigen; auch kehrt die neue Regierung noch scharf als neuer Besen, und
+unter den Männern in der Schweiz ist keiner, der aufrichtiger dabei
+helfen will, als der Einsiedler und Armennarr vom Neuhof. Stapfer
+ist kaum aus Paris zurück, als ihn die Bürger<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> von Aarau schon fast
+täglich mit Heinrich Pestalozzi unterwegs sehen. Er lutscht noch immer
+an seinem Halstuchzipfel und stellt auch sonst neben dem feinen und
+gewandten Stapfer einen altmodischen Großvater vom Land vor; aber
+hier kennen und ehren ihn viele, die ihm nun die lange Schicksalszeit
+auf Neuhof als ein Martyrium der neuen Herrlichkeit anrechnen; denn
+in Aarau als Vorort ist man mit der Helvetischen Republik nicht übel
+zufrieden.</p>
+
+<p>Stapfer, der voll eigener Ideen ist, will zuerst der allgemeinen
+Schulnot des Landes durch ein Lehrerseminar abhelfen, durch das
+endlich andere Männer als Schneider und Schuster in die Dorfschulen
+kämen; er tritt eines Tages auf der Straße mit dem Einfall auf ihn
+zu, daß er die Leitung übernehme. Aber Heinrich Pestalozzi hat gerade
+Kindern zugehört, die in einem schattigen Winkel Schule spielen und
+sich mit dem Prügelstock und Geschrei den Katechismus abhören; die
+ganze Sinnlosigkeit dieses Betriebes ist ihm aufgegangen als ein
+Handwerk, das weder Werkzeug noch Fertigkeiten hat, und wehmütig
+lächelnd entgegnet er dem Minister: Wie soll man etwas lehren können,
+was noch keiner kann? Es hilft nichts, Bürger Minister, ich muß erst
+Schulmeister werden!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>71.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat dem Minister den Plan einer Armenschule
+eingereicht; der ist genehmigt worden, und er wartet auf die Anweisung,
+wo er beginnen könne, als der neue Besen der Regierung schon im
+Stiel zu<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> wackeln beginnt. Im Juni soll der Helvetischen Republik
+der Huldigungseid geleistet werden; aber die Urkantone, die unter
+dem tapferen Reding den unerbetenen Geburtshelfern aus Frankreich
+bis zuletzt blutigen Widerstand geleistet und bei Morgarten dem
+Schlachtenruhm der Väter ein neues Blatt beigefügt haben, bleiben
+halsstarrig. Sie werden von den französischen Heerhaufen überwältigt,
+aber sie geben ihr Herz nicht aus der Hand. Ehe Heinrich Pestalozzi
+es merkt, sieht er sich dem Uhrwerk in Aarau eingefügt, das solchem
+Widerstand zum Trotz die neue Schweizerzeit einlaufen soll: es gilt,
+Aufrufe zu schreiben, redlich und einleuchtend genug, zum wenigsten
+die Gutwilligen für die neue Ordnung zu gewinnen. Es sind keine
+Nachforschungen mehr, was er schreibt, es sind die quellenden Worte
+eines Fürsprech, der das Schicksal des Angeklagten in die Macht seiner
+Rede gelegt sieht. Für ihn ist die Sache Frankreichs die Entscheidung
+der Menschheit; wenn sich die Schweiz ihr abwendet, ist sie für lange
+verloren: »Ihr tretet jetzt hin, die Sache der Telle und Winkelriede
+gegen alle Geßler, die Sache der Völker gegen alle Unterdrücker — die
+Sache der Kirchen und Schulen, der Vernunft und des Fleißes gegen die
+Barbarei Dummheit, Bettelei und das Elend zu verteidigen!« Wieder wie
+in Stäfa steht er mit der Macht seiner Rede im Kampf, aber diesmal geht
+sie ans ganze Schweizervolk; ihm zuliebe hat er Fürsprech werden wollen
+aus den Griechenträumen seiner Jünglingszeit, nun ist es zum zweitenmal
+Wahrheit geworden.</p>
+
+<p>Als auch die Gewalt zu Aarau es mit einem Regierungsblatt<span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span> versucht,
+den guten Willen und die Einsicht ihrer Machthaber in alle Köpfe zu
+predigen, ist Heinrich Pestalozzi der Mann des Schicksals, es zu
+leiten: statt in eine Armenschule sieht er sich in die Redaktion des
+Helvetischen Volksblattes gesetzt, das vom Herbst ab wöchentlich
+erscheinen soll. Es wiederholt sich alles, denkt er, der es vordem mit
+seinem Schweizerblatt schon auf eigene Hand versucht hat. Aber die
+eigene Hand ist besser daran gewesen, sie hat schreiben können, was sie
+wollte; hier kommen andere mit ihren Schriftstücken: er ist schließlich
+nichts als ein Sekretär, der sich mit dem guten Willen und der Torheit
+seiner Vorgesetzten herumschlägt. Auch was er selber schreibt, wird ihm
+diktiert, und da er nichts ohne sein Herz vermag, steigert er sich in
+einen blinden Glauben hinein, aus dem er redet und schreibt, als ob das
+alles sein Herzblut wäre.</p>
+
+<p>Am 8. September endlich erscheint die erste Nummer, tags darauf aber
+tut das Schicksal einen Schlag auf seinen Redaktionstisch, daß ihm die
+Spreu seiner politischen Leitartikel für immer durcheinanderfliegt.
+Er ist unterdessen mit der Regierung als ihr unlösbares Anhängsel
+nach Luzern gezogen, der neuen Hauptstadt der Helvetischen Republik,
+wo ihm die Berge der Telle und Winkelriede, von denen er geschrieben
+hat, täglich vor Augen stehen. Auch fährt er eines Tages mit Legrand
+von Basel und anderen Räten aus dem Direktorium über den grünblauen
+See in die enge Bucht von Stansstad, wo sie unter freiem Himmel eine
+Besprechung mit den aufständischen Nidwaldern haben, die der Republik
+den verlangten Eid verweigern. Er ist den Bollwerken<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> der heimatlichen
+Unabhängigkeit noch nicht so nahe gewesen, und als er aus dem Kahn ans
+Ufer tritt, möchte er sich vor Ehrfurcht hinwerfen, den heiligen Boden
+zu küssen. Er sieht aber auch den Husarenkapuziner, wie sie ihn nennen,
+den Pater Paul Styger, den roten Zünder der fanatischen Volksbewegung;
+in Todesfeindschaft stehen sie auf dem geheiligten Boden gegeneinander,
+die in beiden Lagern doch Schweizer und um der selben Heimat willen
+voller Feindschaft sind. Wie leicht ist der Haß der Menschen aufzurufen
+und wie schwer die Güte! denkt er und fühlt mit einem schaudernden
+Blick in sein Leben, daß er nun selber Partei ist: mit anderen, aber
+nicht besseren Gründen als diese Männer aus Nidwalden auch, die alle
+ihre Hände wie zum Schwur übereinandergelegt halten und gleich den
+Stieren ihres Landes dastehen, die vermeintliche Freiheit der Väter zu
+verteidigen.</p>
+
+<p>Da die Nidwaldener es nicht bei ihrer Weigerung belassen, sondern
+sich zu zweitausend waffenfähigen Männern um den Husarenkapuziner
+scharen, die von Uri und Schwyz Zuzug erhalten und so dicht vor
+den Toren der Hauptstadt Luzern eine böse Gefahr für die junge
+Republik bedeuten, zumal die katholischen Luzerner selbst mehr zu den
+Nidwaldenern als zu der ketzerischen Regierung halten: ruft die den
+General Schauenburg zu Hilfe. Der rückt mit sechzehntausend Franzosen
+an, das Ländchen zum Gehorsam zu zwingen; drei Tage brauchen sie nach
+den ersten Schüssen, bis sie vor Stans aneinander kommen, aber dann
+ist es kein Soldatenkrieg mehr: Frauen und Kinder, alles, was einen
+alten<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> Morgenstern, ein Beil oder eine Sense tragen kann, ist dabei,
+und als die Franzosen am Sonntag mittag mit dem Glockenschlag zwölf
+in Stans einrücken, gilt es nicht den Sieg, sondern den Anfang einer
+grausamen Metzelei. Es ist den Nidwaldern eingeredet worden, daß
+es um den Glauben gehe, drum wollen sie lieber sterben, als in die
+Hände der Ketzer fallen. Jedes Haus wird eine Opferstätte verrückter
+Menschlichkeit, tief in die Nacht geht der wahnsinnige Kampf, und am
+Morgen ist das blühende Stans ein rauchendes Ruinenfeld, darin die
+Leichen wie geerntete Feldfrüchte liegen. Nur der Husarenkapuziner, der
+ihnen unverwundbare Leiber und Engelscharen versprochen hat, ist über
+die Berge davon.</p>
+
+<p>Hunderte von Luzernern sind — weil es Sonntag ist — auf die
+unteren Abhänge des Pilatus und auf den Bürgenstock gestiegen, um
+dem schrecklichen Schauspiel wie einem Manöver zuzusehen. Heinrich
+Pestalozzi war nicht unter ihnen, aber er hat in Luzern die fernen
+Kanonenschläge gehört und noch in der Nacht Nachricht von dem Greuel
+des Tages erhalten. Drei Tage später fährt er hinüber und sieht den
+rauchenden Kirchhof, wo die Luft nach den verbrannten Leichen riecht
+und die schwälenden Rauchsäulen der erstickten Brände den Gefallenen
+die Totenwacht halten. Lebendiges scheint außer den französischen
+Soldaten, die mit verbitterten Gesichtern noch immer Totengräberarbeit
+tun, niemand mehr in Stans zu sein; was die Franzosen nicht
+niedergemacht haben, ist in die Berge geflohen; nur ein Trüppchen
+Kinder sieht er, das sich in seiner Verzweiflung unter der Kirchmauer
+geschart hat und, von einigen<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> Soldaten bewacht, kaum anders aussieht
+als ein Haufe jungen Schlachtviehs. Er hat im Ranzen Nahrung für sich
+selber mitgebracht, die teilt er ihnen aus, und was er an Geld bei sich
+hat, gibt er eilig den Soldaten, daß sie ihm Brot holen unten am See,
+wo schon Kähne mit Nahrungsmitteln angekommen sind. Auch spricht er mit
+den Kindern und läßt sichs nicht angehen, daß kaum eines eine Antwort
+gibt; er vergißt Zeit und Ort um ihrer Not willen und ruht nicht, bis
+er sie alle in der Klosterscheune gebettet hat, weil im Kloster selber
+die verwundeten Soldaten bis in den Gängen liegen; erst, als er sie
+endlich schlafend weiß, sucht er sich selber ein Lager.</p>
+
+<p>So bleibt er drei Tage lang mit ihnen und ist glücklich bewegt, als
+sich das Trüppchen mehrt; am vierten Mittag findet ihn ein dringender
+Bote aus Luzern um der fälligen Nummer des Helvetischen Volksblattes
+willen. Er braucht lange, bis er sich in die Papierwelt seines letzten
+Daseins zurückbesonnen hat; er schüttelt den Mann, der ihm folgt,
+jähzornig ab und wäre so ein Armer unter den Ärmsten geblieben, wenn er
+nicht dem Minister Rengger in die Arme gelaufen wäre, der auch diese
+Ernte der neuen Regierung besichtigen und einen Bericht machen will:
+Sollen wir nicht ein paar Tausend Volksblätter kommen lassen, sagt er
+ingrimmig zu ihm, und die Tränen quellen ihm aus allen Rinnen seines
+Gesichtes, das Elend einzuwickeln?</p>
+
+<p>Ein Waisenhaus wäre nötiger, sagt Rengger und stellt sich hart wider
+ihn. Da ist Heinrich Pestalozzi schon am Nachmittag wieder in Luzern,
+um keine Stunde zu versäumen, das zu erreichen.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span></p>
+
+<h3>72.</h3>
+</div>
+
+<p>Es dauert drei lange Monate, bis die Regierungsherren in Luzern sich
+einigen, Heinrich Pestalozzi nach Stans zu lassen. Es ist die letzte
+Wartezeit, doch wird das Vierteljahr ihm länger als Jahre vorher, so
+drängt die Ungeduld, endlich aus dem Stauwasser seiner Schriften in
+Fluß zu kommen. Er würde in den höchsten Alpen, ohne Feuer und Wasser,
+anfangen, wenn man ihn nur einmal anfangen ließe.</p>
+
+<p>Endlich im Dezember beschließt das Direktorium der Helvetischen
+Republik, dem Bürger Pestalozzi die Einrichtung und Leitung eines
+Waisenhauses in Stans zu übertragen; er wartet die Ausfertigung nicht
+ab und fährt schon am zweiten Tag danach über den nebeligen See, um
+bei der Baueinrichtung dabei zu sein. Die Anstalt soll in einem Flügel
+des Frauenklosters eingerichtet werden, und der Baumeister Schmidt
+aus Luzern geht mit hinüber, die notwendigen Veränderungen zu machen.
+Da schon im Herbst eine scharfe Kälte eingefallen ist, sodaß den
+Bauern die Erdäpfel in den Feldern erfroren sind, hat der Hunger die
+Bettelwaisen aus ihren Schlupflöchern in die Häuser gejagt, wo ohnehin
+schon zuviel hungrige Mäuler warten. Längst schon, bevor er Betten
+und die sonstige Einrichtung hat, fängt Heinrich Pestalozzi an, Brot
+zu verteilen und dabei seine Zöglinge zu suchen; als er Mitte Januar
+die ersten Waisen bei sich hat, kann er zunächst an keinen Unterricht
+denken, so verelendet sind sie.</p>
+
+<p>Es ist nur eine Stube fertig, sie aufzunehmen, und überall in
+den Gängen werkeln die Bauleute noch mit<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> Staub und Lärm. Tiere
+könnten nicht so verwahrlost sein wie diese Menschenkinder, die mit
+eingewurzelter Krätze und aufgebrochenen Köpfen, viele wie ausgezehrte
+Gerippe, gelb, grinsend, mit Augen voll Angst und Mißtrauen von den
+Verwandten oder auch vom Landjäger in den Kreis seiner Liebe gebracht
+werden. Es ist anfangs kein Platz da, außer einer Haushälterin in der
+Küche irgendwen zur Hilfe unterzubringen; auch wenn es ginge, Heinrich
+Pestalozzi möchte es nicht. Damals in den rauchenden Trümmern hat das
+Mitleid sein Herz hineingerissen; jetzt aber gilt es das Experiment
+seiner Lehre: daß auch in dem niedrigsten Opfer der menschlichen
+Verwahrlosung noch ein Keim läge, der zum Dasein einer sittlichen und
+freien Menschlichkeit gepflegt werden könne. Er weiß, daß der Zwang
+einer äußeren Ordnung, Ermahnungen oder gar Strafen die Herzen nur
+verhärten würden, aus denen er dem Keim die erste Nahrung geben will;
+nur die Liebe vermag ihn zu wecken, und was diese Liebe von ihm zu tun
+verlangt, das vermöchte ihm kein anderer: er schält sie selber aus
+ihren Lumpen heraus, er wäscht ihnen die Geschwüre und die Krusten der
+Verwahrlosung ab, als ob er eine Tiermutter wäre in dem Winterlager,
+wohin sie die Not und Kälte aus der verschneiten Bergwelt getrieben
+hätten. Er ißt und schläft mit ihnen, er weint mit ihren Leiden und
+lächelt zu ihren kleinen Freuden, sie sind außer der Welt und außer
+Stans, sie sind bei ihm, als ob sie wieder in den Ausgang ihres
+Lebens zurückgekehrt wären, um hier den Mut zu finden, nach so vieler
+Bitterkeit das Dasein noch einmal zu versuchen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span></p>
+
+<p>In kaum einem Monat sind es siebzig Waisen, und obwohl allmählich mehr
+Stuben fertig werden und auch schon fünfzig Betten dastehen, sodaß
+er ihrer nur zwanzig am Abend heimschicken muß, die tagsüber kommen,
+ist er immer noch allein unter ihnen. Der Pfarrer Businger, den die
+Regierung an Stelle des entwichenen nach Stans gesandt hat, und der
+Bezirksvorsteher Truttmann — beides wohlgesinnte Männer, die tapfer zu
+ihm stehen — drängen darauf, daß er sich Hilfe nähme. Er fände keinen,
+der ohne Schaden zwischen ihn und die verscheuchten Seelen seiner
+Zöglinge treten könnte.</p>
+
+<p>Als die Frühlingssonne den Schnee wegschmilzt, daß sich die grünen
+Matten immer höher hinauf in die weißen Berge heben, ist in der
+verwahrlosten Schar die Menschlichkeit schon äußerlich zu Hause; die
+älteren Kinder helfen ihm, daß sich die kleineren sauber halten, die
+ordentliche Nahrung hat vielen die Backen gerötet, und nun wartet er,
+daß die Frühlingssonne sie bräune. Einige lockt ihr Straßenblut, und
+manchmal geschieht es, daß eins in der Dämmerung entwischt, andere
+kommen dafür wieder: es ist ein wenig wie ein Bienenstock, wenn die
+Wärme drängt. Er läßt es sich nicht verdrießen, so sehr ihn der Undank
+und die Untreue schmerzen; denn nun ist er längst in den Dingen mit
+ihnen, die ihm mehr gelten als ordentliches Essen und saubere Kleidung.
+Der Seelenfänger hat ihnen die Schlingen gelegt, und ob ihn das
+Mitgefühl hinreißt, wo ein Schmerz oder eine Freude an sie kommt, ob
+er mit seinen Großvaterbeinen treppauf und -ab rennen<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> muß und zwanzig
+Hände zu wenig wären, alles das zu tun, was auf ihn wartet: es sind nur
+die Spinnfäden seiner Absicht, die er unermüdlich um ihre Seelen legt;
+er selber sitzt still mitten im Nest und wartet auf die Stunden, wo er
+seine Lehre an ihnen versuchen darf.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>73.</h3>
+</div>
+
+<p>Längst hat Heinrich Pestalozzi angefangen zu unterrichten; anfangs ist
+er sich vorgekommen wie der alte Lehrer, zu dem ihn das Babeli brachte;
+auch so mit der Ungeduld seines Alters im Gedränge ihrer Wünsche
+und Fragen: wo es schwer wäre, mit einem Frager fertig zu werden,
+sind es Dutzende, und dabei sitzen die Trägen noch immer abseits in
+ihrer Untätigkeit. Doch merken sie bald, wenn er sich laut sprechend
+hinstellt, daß sie alle nur sein einziger Zuhörer sind. Er lehrt sie,
+seine Sätze im Chor zu wiederholen, und lockt Antworten heraus, die sie
+gemeinsam sagen können; täglich gewitzter in dieser Kunst, die auch die
+Unaufmerksamen in seinen Sprachkreis zieht, entdeckt er das Geheimnis
+der Klasse, die aus dem Vielerlei von Schülern ein Wesen macht, sodaß
+es gleich ist, ob ihrer drei oder dreißig dasitzen. Dabei nimmt er sich
+ängstlich in acht, etwas Fremdes in sie hineinzusprechen; immer lauert
+er, wo ihre Sinne und Gedanken sind, um sie für sich einzufangen.
+Irgendwo ist ein Riß in der Wand, der wie ein seltsames Tier aussieht,
+einen langen Schnabel wie eine Ente, aber Füße wie ein Maikäfer hat; ob
+sie wollen oder nicht, wenn ihre Blicke durch den Raum gehen, hängen
+sie daran fest: er fängt ihnen das Ungeheuer<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> ein in Sätze, die sie
+willig nachsprechen, weil sie von ihnen selber gefunden sind.</p>
+
+<p>Einige haben Bücher, und ein paar können sogar ein weniges lesen; er
+zeigt den andern, wo diese Hexenmeisterkunst ihre Herkunft hat. Er
+läßt sie in den Worten die tönenden und zischenden Laute finden und
+macht ein lustiges Spiel daraus, ihrer zwei miteinander zu verbinden,
+jeden einzelnen durchs Abc hindurch; dabei schont er sich nicht,
+unermüdlich das ba, be, bi, bo mitzusprechen, bis ihm die Stimme in
+der Brust schartig wird; manchmal kommt er sich vor wie ein Hahn, wenn
+er schwitzend dasteht und mit ihnen kräht. Bis eine Stunde mit Minuten
+und ein Tag mit Stunden abgelaufen ist, läßt sich viel hineinfüllen,
+und Tag für Tag geht es verzwickter zu, vom bal, bel, bil, bol, bul zum
+balk, belk, bilk: immer anders marschieren die Soldaten aus ihrem Mund
+auf, bis ihnen alle Übungen, rechts- und linksum, kehrt und vorwärts
+marsch gleich geläufig sind. Und eines Tages läßt er für die Augen
+sichtbar werden, was solange nur durch Mund und Ohren ging.</p>
+
+<p>Er hat ihnen keine Fibeln mitgebracht, nur einen Korb mit Täfelchen,
+darauf die Buchstaben einzeln mit ihren Häkchen und Schnörkeln wie
+Vögel mit ihren Schwanzfedern prahlen, und rastet nicht, bis jeder
+seinen Laut als Namen hat, sodaß er ihn nur zu zeigen braucht, und
+schon gibt ihm die ganze Klasse Antwort. Sie wissen nun längst,
+daß keiner die siebzig Einzelnen verstehen kann, wenn jeder nach
+seinem Einfall losschreit, und warten das Zeichen ab, das ihnen sein
+Finger gibt. Sie sind dann wirklich eine Klasse, ein<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> Wesen, das
+hundertvierzig Ohren und Augen, aber nur einen Takt und darum nur
+einen Mund hat. Und manche Nacht, während sie schlafen und er allein
+in der Schlaflosigkeit des Alters wach unter ihnen liegt, bildet
+sich traumdünn die Ahnung einer Lehrmethode: daß es wie mit den
+Buchstaben mit allen andern Kenntnissen des Menschen sei, daß sie sich
+bauen ließen, Steinchen um Steinchen, bis eine Wand, ein Zimmer und
+schließlich das Haus einer Wissenschaft dastände.</p>
+
+<p>Kühner aber, als jemals sein Kopf ein Gespinst machte, scheint ihm
+dies: daß auch alles andere, was einen Menschengeist mitsamt der
+Seele ausmache, seine Denkkraft, seine Fertigkeiten, sein Wille,
+seine Wünsche, seine Absichten, sein Glauben wie seine Taten, in
+einem solchen Takt einzufangen sei, und daß, wenn einer erst den
+Taktstock dazu finde, ihn hundert andere gebrauchen könnten, um
+überall die wildaufwachsenden Menschenseelen in den Wohlklang der
+Ordnung einzuführen. Er kann sich dann ein Zukunftsbild austräumen,
+daß es zwar reich und arm, jedoch nicht mehr die häßliche Anwendung
+davon gäbe, wo die Habsucht und Willkür des Reichen den Armen
+unterdrücke und ausnütze; denn das einzige Mittel dieser Geldherrschaft
+sei die Unwissenheit des Armen: erst einmal im Besitz seiner
+entwickelten Seelen- und Geisteskräfte, könne er nicht mehr das Opfer
+herrschsüchtiger Ausbeutung sein! Was jetzt allerorten geschähe, daß
+Reiche den Armen helfen wollten durch Wohltätigkeit, sei Täuschung
+und Selbstbetrug: der Reiche könne dem Armen garnicht helfen, er habe
+nichts als sein Geld, das auch im Wohltun das<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> Zwangmittel ungerechter
+Herrschaft bliebe; erst wo Gerechtigkeit regiere, könne eine
+brüderliche Hilfe von Herzen wohltätig sein!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>74.</h3>
+</div>
+
+<p>Während Heinrich Pestalozzi so mit seinen Waisen auf der Wanderung
+nach einer neuen Menschlichkeit ist, wächst das Dickicht der alten ihm
+rundum die Wege mit Unkraut und Brennesseln zu. Noch immer zieht der
+Haß seine Schwaden durch die Täler des Nidwaldener Landes; der Aufruhr
+wurde in Blut und Brand erstickt, aber was ihn heraustrieb, blieb mit
+tausend Wurzeln lebendig. Für die Stanser ist Heinrich Pestalozzi
+ein Ketzer, von der Revolutionsregierung gesandt, ihre Waisen und
+Armenkinder im Unglauben der neuen Zeit abzurichten, sie den Sitten
+der Väter und dem Glauben der Heimat mit Teufelslisten zu entfremden.
+Sie sehen seine verwahrloste Kleidung und achten ihn für einen
+Landstreicher, der bei der neuen Herrschaft der Lumpen und Schelme
+untergeschlupft ist.</p>
+
+<p>Aber auch die Freunde fangen an zu zweifeln; sie verstehen nicht,
+warum er sich allein mit siebzig Kindern abplagt, eigensinnig ihr
+Lehrmeister, Aufseher, Hausknecht und Dienstmagd in einem und dabei
+selber zum Erbarmen verwahrlost ist. Sie raten und drängen, doch
+Gehilfen zu nehmen, damit er endlich aus seiner Anstalt ein richtiges
+Waisenhaus mache, und sind verstimmt, weil er sich unter Ausflüchten
+weigert. Er scheint ihnen vom Eigensinn des Alters wie von einem
+Fieber befallen, und vertrauliche Briefe gehen an die Minister,<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> daß
+man dem alten Mann mit Gewalt aus diesem Zustand helfen möge. Stapfer
+aber hält treu und weitsichtig zu ihm, weil er das Experiment fühlt
+und daß Heinrich Pestalozzi erst zu Resultaten gekommen sein muß,
+bevor er Hilfe brauchen kann. Er ermuntert ihn auch im Mai, als warme
+Sonnenbläue die Täler füllt und der See rund an den Ufern in einem
+Blust von Blumen zu schäumen scheint, mit seinen Zöglingen einen
+Ausflug nach Luzern zu machen.</p>
+
+<p>Es ist Sonntag, und sie gehen die drei Stunden zu Fuß, bei Stansstad in
+Kähnen hinüber nach Hergiswyl und dann zwischen Pilatus und dem See bis
+Horw, wo sie den weiten Talboden der Allmend von Luzern erreichen. In
+Horw rasten sie, und da sie früh aufbrachen, sehen sie da erst, wie die
+Sonne überm Rigi hochschießt; ein jedes hat Brot im Sack, und Wasser
+fließt überall aus den Brunnenrohren. Die älteren haben gesorgt, daß
+sie alle sauber sind; nur auf ihren Schuhen liegt der Staub wie Mehl,
+als sie singend über die alte Kapellbrücke in Luzern gehen und die
+vielgetürmte trutzige Stadt bestaunen. Es ist Sonntag, und viele Leute
+spazieren auf den Straßen, die den seltsamen Zug und den seltsameren
+Mann davor belächeln. Einige kennen ihn von seinem Luzerner Aufenthalt
+und lüpfen den Hut, um ihm kopfschüttelnd nachzusehen. Aber Stapfer,
+der Minister, hat gesorgt, daß die Stanser Waisen nicht unbegrüßt in
+der Landeshauptstadt sind: auf dem alten Kornmarkt vor dem Rathaus
+steht einer in blanker Uniform mit einem Leinenbeutel, darin rasseln
+lauter nagelneue Zehnbatzenstücke der Helvetischen<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> Republik, und
+jedes Kind bekommt eins zum Andenken in seinen Sack. Sie singen ein
+Schweizerlied zum Dank, und Heinrich Pestalozzi, dem nichts so fern
+liegt wie Musik, kräht mit vor Rührung; garnicht merkend, wie falsch er
+die Töne nimmt, bis alles hinter ihm lacht.</p>
+
+<p>Auch sonst geschieht den Kindern der Nidwaldener Gutes in dem
+katholischen Luzern, und wie ein siegreicher Heerhaufe ziehen sie
+am Nachmittag wieder hinaus. Aber nun hat die Sonne ihre strahlende
+Bahn durch den Himmel gezogen und aus dem Weltall Glut auf die Erde
+geschüttet. Die Kinder werden müde, und er muß nun hinter ihnen gehen,
+die letzten anzutreiben. Dabei ist ihm selber schwül und nicht froh
+zumut; er hat in Luzern von dem Lauf der Dinge gehört, die für Monate
+außer ihm gewesen sind: der Krieg ist wieder im Land, überall bläst
+der Wind hitziger Zeitläufte den Zunder an, und es gilt schon als
+ausgemacht, daß die Regierung der Helvetischen Republik nach Bern
+übersiedeln wird, wo ihr der Boden sicherer scheint als hier in der
+Aufsässigkeit der Urkantone. Am Gotthard schlagen sich die Franzosen
+mit den Österreichern herum, und viel wird gesprochen von den Taten
+seines Vetters Hotze, der als kaiserlicher General über den Bodensee
+bis Zürich ins Land gedrungen ist; es kann in einigen Wochen wieder aus
+sein mit der republikanischen Herrlichkeit. Zu diesen Sorgen tut ihm
+die Brust weh, und er merkt, wie ihm die Monate zugesetzt haben. Der
+Pilatus zieht verdächtige Wolken an, und als ob über eine ferne Brücke
+Lastwagen rollten, grollt ein Gewitter in der Luft: er kann sonst über
+Ahnungen lachen, aber<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> nun ist ein Gefühl da, daß es ihn treffen wird.
+Gerade gehen sie von Steinrüti gegen Hergiswyl am See hin, der dick und
+still daliegt, da wird ihm süßlich im Mund, und das Licht tanzt ihm wie
+Mücken vor den Augen; er will einem Buben, der vor Müdigkeit weint, die
+Hand geben, da fühlt er sich tiefer zu ihm hinsinken, als es nötig ist,
+und sieht noch für einen Augenblick die erschrockenen Augen über sich.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi meint, er sei gleich wieder aufgewacht, aber es
+muß wohl länger gewesen sein; nebenan steht ein Wagen, der vorher
+nicht da war, und im Kreis der Kinder bemühen sich Leute in Hemdärmeln
+um ihn. Tiefer als im Schlaf war er aus allem fort, nun er die Augen
+aufschlägt, nimmt sein Bewußtsein mit einem Blick den Kreis seines
+Daseins auf, darin er Kind, Mann und Greis zugleich ist. Rund um
+diesen Kreis sieht er die Berge spukhaft in den gewitterlichen Dunst
+des Himmels ragen und fühlt, daß so die Schwierigkeiten um ihn stehen,
+denen er nichts als die Willenskraft seiner zu Boden geworfenen Natur
+entgegenstellen kann. Im gleichen Augenblick setzt er sich auf, von dem
+ungebeugten Willen kommandiert; da merkt er, daß Blut in seinem Mund
+ist.</p>
+
+<p>Darüber erschrickt er tief und läßt sich nun willig in den Wagen heben.
+Die von den Kleinen am müdesten sind, müssen zu ihm, und so im Schritt
+vor seiner Schar her geht es heim. Einer hat sich neben den Knecht
+gesetzt, und der läßt ihm die Zügel, weil er den Gaul kennt. Heinrich
+Pestalozzi muß wehmütig an den Tag denken, wo er mit dem Großvater
+nach Höngg fuhr und auch<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> so unablässig an den Zügeln rupfte, wie nun
+der Knabe vor ihm: Ich habe mirs nicht abgewöhnt bis heute, lächelt
+er bitter, wo ich selber ein Großvater bin, und alles, was ich in die
+Hand nehme, ist so geblieben! Wenn mir jedes so in Ordnung ginge, wie
+hier dem Gaul und dem Knecht, ich würde auch die Zügel gleichmütig
+hängen lassen; aber nun bin ich dreiundfünfzig und über meine Jahre
+gealtert, gar noch krank, und habe erst den Anfang vom Weg gefunden.
+Ich müßte wohl den Gaul für ein paar Wochen in den Stall tun; doch ist
+er unabkömmlich, weil ich noch weit mit dem Abend muß!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>75.</h3>
+</div>
+
+<p>Die zweite Woche seit seiner Wallfahrt nach Luzern ist noch nicht
+ins Land gegangen, als Heinrich Pestalozzi eines Mittags durch
+Trommelwirbel aufgeschreckt wird. Wie er ans Fenster läuft, rücken die
+schweizerischen Soldaten, die gegen Engelberg und Seelisberg hinauf als
+Rückendeckung der Franzosen ausgestellt sind, eilig in Stans ein: die
+Österreicher kommen, heißt es und die im Uri geschlagenen Franzosen
+seien über den See zurück. Die Panik des Krieges ist wieder in Stans,
+bevor ein Schuß in den Nidwaldener Bergen fiel; wer noch bewegliche
+Habe hat, flüchtet sie in die Sennhütten hinauf, händeringende
+Weiber und trotzige Männer kommen, ihre Kinder zu fordern, und
+Heinrich Pestalozzi vermag nicht, sie zu halten. Als ob eine Mure
+vom Stanserhorn niederginge, läßt er die andern ihre Bündel raffen,
+zur Flucht bereit zu sein. Gerade hat er sie<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span> um sich versammelt im
+Arbeitssaal, da fällt ein Schuß; die Kinder schreien, einige laufen ihm
+zu, viele aber auch hinaus auf die Gasse, sich noch in die Berge zu
+retten.</p>
+
+<p>Als danach alles still bleibt — die Alarmnachrichten waren falsch,
+und auch der Schuß ist nur einem hitzigen Sennbuben losgegangen —
+sitzt kaum noch die Hälfte seiner Kinder da. Zwar kommen im Nachmittag
+noch einige wieder, auch finden sie andere weinend irren, als sie
+gegen Abend den Ort absuchen: aber die Besorgnis bleibt über ihnen
+wie die schwarze Wolkendecke, die sich mit dem Abend vom Entlebuch
+herüberdrängt. Die Kinder schlafen sich schließlich in angstvolle
+Träume ein; Heinrich Pestalozzi bleibt wach: seit seiner Ohnmacht
+fühlt er, daß es in Stans zu Ende geht. Mit einer Kerze in der Hand
+wandert er um Mitternacht von Bett zu Bett; einigen, die sich stöhnend
+wälzen, legt er seine Hand auf die Stirn, daß sie, erwachend, ins Licht
+blinzeln und vor seinem Gesicht mit einem erlösten Lächeln um die
+Lippen einschlafen. Nachher sitzt er noch, bis das Licht niedergebrannt
+ist, streicht in seiner Liste die Schäflein an, die ihm fehlen, und
+denkt den einzelnen nach, wo sie wohl seien. Bald aber wandern die
+bekümmerten Gedanken auf einsamen Höhen, wo er mit seinem Werk allein
+ist. Was auch mit den Kindern geschieht, für keins — das fühlt er
+sicher — ist die Zeit vergebens gewesen: aber sein Werk, wenn er
+es jetzt abbrechen muß, ist verloren. Es ist ihm zumut wie einem
+Kundschafter im weglosen Dickicht; er hat sich durchgearbeitet, bis er
+eine getretene Fußspur fand, die ihn zum Weg<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> führen muß: da reißt ein
+Bergbach die Schlucht vor ihm auf, und ob er drüben die Spur deutlich
+weiter gehen sieht, er kann nicht hinüber.</p>
+
+<p>Andern Tags ist alles vorbei, als ob es nur böse Träume gewesen wären;
+die Bauern sind wieder bei ihrer Arbeit, und die Soldaten in den
+Quartieren singen Schweizerlieder. Die Sonne geht ihren strahlenden
+Lauf, als wolle sie es diesmal zwingen, über die Ermattung des Mittags
+fort in den unendlichen Himmel hinein zu steigen. Noch ein paar Kinder
+wagen sich unsicher wieder herzu, und als nach diesem Tag noch ein
+zweiter und dritter die weißen Sommervögel durch sein dickes Blau
+schwimmen läßt, fängt auch Heinrich Pestalozzi an, den Nacken zu heben.
+Am dritten Abend sitzt er scherzend und fragend mit ihnen bei der
+Hafersuppe, da ruft ihn ein Bote eilig zu dem Regierungsstatthalter
+Zschocke.</p>
+
+<p>Der empfängt ihn mit einem Blatt in der Hand. Er habe Stafette
+bekommen, daß am frühen Morgen der General Lecourbe einrücken würde;
+er müsse Platz besorgen für einige tausend Mann und ein Hospital für
+die Verwundeten und Kranken herrichten, dazu habe er keinen andern
+Platz als das Waisenhaus. Obwohl Heinrich Pestalozzi beim ersten
+Wort weiß, daß ihm nun das Brett unter den Füßen fortgezogen wird,
+damit er noch über den Bergbach zu kommen hoffte, kämpft er wie ein
+aufgescheuchtes Tier für sein Nest und seine Brut. Aber nun ist er mit
+allem Ruhm seiner Bücher und mit der ewigen Absicht seines Werkes nur
+der Bürger Pestalozzi, der andere aber steht als Regierungsgewalt da
+und löst das Waisenhaus auf. Weil er nicht<span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span> wie die Nidwaldener kämpfen
+und sterben kann, sondern dem Federstrich gehorchen muß, erfüllt er
+bitteren Herzens den Rest seiner Pflicht. Er teilt jedem Kind doppelte
+Kleidung, Wäsche und einiges Geld aus für das Notwendigste, rechnet mit
+dem Statthalter ab und übergibt ihm von den sechstausend Franken, die
+ihm das Direktorium bewilligt hat, den Rest mit dreitausend Franken —
+mehr hat er nicht gebraucht in den fünf Monaten mit all den Kindern.
+Noch eine Nacht geht er in seiner schlafenden Herde ruhelos umher,
+nimmt in der Frühe weinenden Abschied von ihnen allen, deren Vater
+er durch seine Liebesgewalt geworden ist, und am Nachmittag, als die
+ersten Franzosen einrücken, fährt er nach Stansstad hinunter mit dem,
+was er für bessere Zeiten retten will. Wieder einmal sitzt er auf
+einem bepackten Wagen, diesmal auf Säcken neben einem Knecht, der ihn
+gleichmütig in sein ungewisses Schicksal hinaus kutschiert; es ist ein
+Appenzeller, der den Pferden mit der Peitsche die Fliegen vertreibt und
+dazu mit halber Kehle seine heimatlichen Jodler singt, als ob es eine
+Lustfahrt wäre. Er fühlt die Schmerzen in seiner Brust heftiger und die
+brennende Angst fährt mit ihm, daß er nun sterben muß: dann ist alles
+umsonst gewesen, was er Unmenschliches in diesen Monaten ertrug; denn
+er allein weiß, daß er in Stans den Weg zur Befreiung der Menschheit
+entdeckt hat, kein anderer kann fortsetzen, was für ihn selber ein
+tastend beschrittener Anfang, aber darum doch das Ergebnis vieler
+Tausend fiebernd benützter Stunden ist.</p>
+
+<p>Immer noch läuft eine letzte Hoffnung hinter dem<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> Wagen her, daß die
+Luzerner Freunde mächtiger sein könnten als der Regierungsstatthalter;
+als er ankommt in der vieltürmigen Stadt, muß er erfahren, daß die
+Regierung der in tausend Nöten gefährdeten Helvetischen Regierung nach
+Bern ausgeflogen ist.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>76.</h3>
+</div>
+
+<p>Es ist ein heißer Julitag, als Heinrich Pestalozzi durch das breite
+Entlebuch ins waldige Emmental hinüber und durch seine reichen Dörfer
+nach Bern hinunter fährt. Die Fahrt über die holprigen Bergstraßen
+bekommt ihm schlecht, und als er spät abends anlangt, fühlt er sich
+sterbenselend. Bis zum Schluß sind immer noch die Bauleute im Kloster
+zu Stans gewesen, und wenn er hustet, meint er noch den scharfen
+Kalkstaub in der Lunge zu spüren. Trotzdem ist er am andern Morgen
+schon früh bei dem Minister Stapfer. Der erschrickt, wie er ihn sieht,
+und rät ihm, den ungewollten Urlaub vor allem zu einer Kur zu benutzen,
+damit er wieder zur Arbeit fähig sei, wenn nach dem Krieg die Anstalt
+neu eingerichtet würde. Da er selber zu einer Sitzung muß, übergibt er
+ihn seinem Kanzleivorsteher Fischer, einem ehemaligen Theologen, der
+auch schon in Stans war.</p>
+
+<p>Der bietet ihm willfährig seine Begleitung an, wohin er auch wolle,
+und ehe Heinrich Pestalozzi sich beiseite tun kann, hat er ihn auch
+schon eingefangen mit klugen und ehrlichen Fragen. Es findet sich, daß
+sie Leidensgenossen sind, indem auch er den Traum seines Lebens an die
+Schule gehängt hat. Er ist Schüler bei<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> dem Philanthropen Salzmann in
+Schnepfental gewesen und will nun in Burgdorf eine Musterschule, wenn
+es erreichbar ist, ein Lehrerseminar einrichten. Es ist immer noch
+das Lehrerseminar, das Stapfer ihm selber in Aarau angeboten hat, und
+obwohl sich Heinrich Pestalozzi im stillen wundert, wie unbekümmert
+sein Nachfolger die Schwierigkeiten übersieht, die ihm fast das Leben
+kosten, ist er ihm doch dankbar, weil er die Lauterkeit in seinem
+Wesen spürt. Er bleibt ziemlich den ganzen Tag mit ihm zusammen und
+erwirbt durch ihn eine Bekanntschaft, die in seine gehetzten Tage eine
+breite Pause bringt: Noch am selben Abend sitzen sie zu einem Mann
+aus Bad Gurnigel, namens Zehender, der seine Schriften liebt und sein
+Märtyrertum in Stans glühend bewundert; der lädt ihn ein, einige Wochen
+bei ihm da oben in der reinen Gebirgsluft zu wohnen und von der Quelle
+zu trinken. Stapfer und Fischer reden ihm dringend zu, und da der Mann
+mit seinem Wagen andern Tags zurück muß, kommt Heinrich Pestalozzi
+schon am Abend mit ihm auf dem Gurnigelberg an.</p>
+
+<p>Ein verrauschtes Gewitter hat ihnen einen Regen nachgeschickt, der die
+Talweite unter ihnen mit Nebelschwaden bedeckt; auch wirft ihn sein
+Elend nun ganz hin, sodaß sie ihn fast aus dem Wagen ins Haus tragen
+müssen. Den andern Tag läßt ihn sein Gastfreund nicht aus dem Bett,
+auch den zweiten nicht: da es draußen doch noch regne! Am dritten
+Morgen liegt er schon lange wach und wartet mit Sehnsucht auf den Tag;
+als die Fensterscheiben in der Morgenröte warm werden, springt er mit
+beiden Füßen aus dem Bett und<span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span> reißt ein Fenster auf, seine Faulheit
+zu lüften. Er tritt erschrocken zurück vor der unendlichen Weite; in
+einer überirdischen Bläue sieht er das Tal zu seinen Füßen liegen,
+unermeßlich und schön; er hat noch nie eine so weite Aussicht gesehen,
+und das Glück davon überwältigt ihn so, daß er die Hände wie ein Kind
+danach ausbreitet. Fast ängstigt ihn die Höhe, aber als er nach rechts
+und links äugt, sieht er die hohen Baumgruppen; er fühlt den Wald und
+den Berg hinter sich als sicheres Ufer, von dem aus er über das Meer
+der morgendlichen Erde tief unter sich hinschaut. Und ehe sich noch
+die Worte dazu bilden, ist ein Gefühl in ihm, wie wenn da unten sein
+eigenes Leben läge: aus den blauen Seeweiten der Kindheit durch die
+ruhelose Brandung seiner Mannesjahre bis auf die Bergkanzel dieser
+Stunde hinauf.</p>
+
+<p>Aber wie er sich umwendet, ist sein niedriges Menschenzimmer wie ein
+Kästchen ganz getäfelt und auf dem runden Birnenholztisch liegt ein
+Buch, das ihm bekannt scheint: »Nachforschungen über den Gang der Natur
+in der Entwicklung des Menschengeschlechts« steht auf dem Titel. Er
+weiß nicht, warum ihn die Erschütterung hindert, es in die Hand zu
+nehmen; er sieht sich wieder in dem Sterbezimmer seiner Mutter daran
+schreiben — als ob es gestern oder vor hundert Jahren gewesen wäre, so
+nah und so fern — fast meint er, es wäre dasselbe Zimmer, aber seine
+Augen suchen vergebens in den fremden Sachen. Er ist wieder mitten
+drin im hochmütigen Elend jener Tage; die Brandung spritzt, und er
+fühlt sich versinken in die Tatenlosigkeit der endlosen Mannesjahre: da
+weiß er, es ist kein Ufer, an dem er<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> gesichert steht, es ist nur eine
+Insel, ein Stein im Meer, darauf ihn die Brandung geworfen hat.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>77.</h3>
+</div>
+
+<p>Sechs Wochen lang ist Heinrich Pestalozzi auf dem Gurnigel, von lieben
+Menschen treu gepflegt. Die reine Höhenluft heilt in seiner Lunge aus,
+was Kalkstaub und Abc-Geschrei darin verwüstet haben. Es sind noch
+andere Kranke oben, auch Gesunde, die vor der herrlichen Natur in
+Schwärmerei vergehen. Seit seinem ersten Morgen vermag er nicht mehr in
+die blaue Talweite hinunter zu blicken, ohne an sein verlassenes Werk
+zu denken. Er sieht unter allen Dächern die Wohnungen der Menschen und
+weiß, von wieviel Verwahrlosung jede Wohlhabenheit da unten umgeben
+ist. »Meine Natur ist der Mensch,« sagt er den Schwärmern, und eines
+Morgens ist er mit seinem Stock und Ranzen nach Bern unterwegs. Er hat
+keinen Wagen gewollt; es tut ihm wohl, so bergab schreitend den Takt
+seines fröhlichen Marsches zu fühlen: alle lebendigen Dinge gehen im
+Zweischritt, hat er dem besorgten Zehender zum Abschied gesagt, nur das
+Leblose und Kranke rollt auf Rädern.</p>
+
+<p>Zum Mittag hat er die sechs Stunden bis Bern hinter sich, und als
+Rengger und Stapfer, die beiden Minister, aus einer gemeinsamen Sitzung
+noch etwas zu besprechen haben, das sich auf dem Heimweg besser als
+im Betrieb der kommenden und gehenden Posten erledigen läßt, läuft er
+ihnen buchstäblich in die Arme und lacht mit seinem Runzelgesicht wie
+ein Knabe, der aus den Ferien<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> wiederkommt. Er will Kinder haben, es
+ist ihm gleich wo, an denen er seine Versuche fortsetzen kann, bis
+sein Waisenhaus in Stans wieder kriegsfrei ist; und noch in derselben
+Viertelstunde schlägt ihm Stapfer vor, nach Burgdorf zu gehen, wo auch
+Fischer seit einem Monat sei und an dem Statthalter Schnell wie an
+dem Doktor Grimm einsichtige Helfer habe. Als Heinrich Pestalozzi das
+Wort hört, fährt ihm eine halbvergessene Erinnerung auf, wie ihn der
+Vorwitz eines Morgens dort in die Hintersassenschule brachte; er nimmt
+es als eine Fügung, auch scheint es ihm eine Erleichterung, in Burgdorf
+nicht wieder einsam zu sein. In seiner Fröhlichkeit sagt er gleich zu,
+so kann Stapfer die Eingabe ans Direktorium vorbereiten, er selber
+macht sich am andern Morgen gleich unterwegs, sein neues Arbeitsfeld
+abzuschreiten.</p>
+
+<p>Über Nacht gibt es Regen, und er muß die Post nehmen; ein guter Zufall
+setzt ihm den Statthalter Schnell aus Burgdorf in denselben Wagen. Der
+kennt ihn, hat am Abend vorher schon durch Stapfer von seinen Absichten
+gehört und ist begeistert, dem berühmten Verfasser von Lienhard und
+Gertrud gefällig sein zu können. Die Fahrt wird in Gesprächen kurz, und
+in Burgdorf muß Heinrich Pestalozzi sein Gast sein; auch der Doktor
+Grimm wird Hals über Kopf zu Tisch geladen, und es ist eine wahre
+Verschwörung, wie sie ihm alles einrichten wollen. Sie wundern sich,
+daß er gerade an der Hintersassenschule lehren will, und wollen ihm
+das ärmliche Lokal erst zeigen. Er erzählt ihnen von dem Morgen, wo er
+vorwitzig hinein sah, und ist fast<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span> ausgelassen vor Erwartung. Gegen
+den Abend, als der Regen endlich nachläßt, macht er noch einen Gang zum
+Schloß hinauf, das eine kleine Festung vorstellt, aber augenscheinlich
+seit langem verwahrlost ist. Das äußere Tor hängt offen in den Angeln,
+und an dem innern läutet er so lange vergebens, bis er merkt, daß
+die Schlupftür geöffnet ist. Die Kiesel im Schloßhof sind vom Gras
+überwachsen, hinten steht eine Linde, und als er bis an die Mauer geht,
+fällt der Berg da fast senkrecht in die schäumende Emme, die ihn im
+Bogen umfließt. Es nisselt immer noch, und sein Rock ist längst feucht;
+er merkt es nicht, er hat zuviel gesprochen bei den Männern da unten,
+und nun sind die Gedanken wie eine Krähenschar, die nicht zur Ruhe
+kommt:</p>
+
+<p>Er hat es Mord genannt, wie die Kinder bis ins fünfte Jahr im
+sinnlichen Genuß der Natur bleiben, wie sie sehen, sprechen und ihre
+andern Sinne gebrauchen lernen, und sich von selber eine natürliche
+Anschauung der Welt in ihrer Seele aufbauen: wie sie dann aber gleich
+Schafen zusammengedrängt in eine stinkende Stube geworfen würden, um
+der fremden, sinnlosen Buchstabenwelt ausgeliefert zu sein! Nun denkt
+er, wie auch die Moral und das Gesetz, selbst die Religion und ihre
+Tugenden von hier aus der jungen Menschenseele aufgenötigt würden
+und dadurch leicht das bittere Beigefühl lebensfeindlicher Mächte
+behielten; sodaß, was dem Leben des Menschen einen höheren Sinn geben
+solle, im Gefühl der Armen als Mittel der Unterdrückung bliebe. Seine
+Gedanken können es noch nicht greifen, aber er fühlt sie dicht daran:
+daß er alles, was<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> nur aus dem Buchstaben gelernt würde, als fremd und
+gleichgültig in seinem Unterricht ausscheiden, daß er den Naturgang
+der ersten fünf Lebensjahre weiterführen möchte; nicht, um es den
+Kindern bequemer zu machen, sondern um die Unnatur aus dem Wachstum des
+Menschen zu nehmen.</p>
+
+<p>Er ist so versessen in diese Gedanken, daß er garnicht hört, wie jemand
+von hinten zu ihm kommt und die Hand auf die Schulter legt. Als er sich
+umkehrt, ist es Fischer, der ihn zufällig aus seinem Fenster gesehen
+hat: Wir sind die einzigen Menschenseelen in dem ganzen Gebäude, sagt
+er erklärend zu ihm; aber Heinrich Pestalozzi ist noch viel zu sehr
+bei den Reitversuchen seiner stolzen Gedanken, um ihn wörtlich zu
+verstehen: Dann müssen wir jeden Tag den Berg hinunter traben, sagt
+er und muß hellauf wie ein Knabe lachen, so rasch springt ihm aus
+der abendlichen Grübelei ein Scherz auf: Zwei Narren in einem leeren
+Schloß mit einem Steckenpferd, das wird ein schönes Rittertum, wenn wir
+ausreiten.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>78.</h3>
+</div>
+
+<p>Nach acht Tagen kommt Heinrich zum zweitenmal aus Bern; diesmal in
+einem heiteren Wolkenwetter zu Fuß; die Verwaltungskammer hat ihm im
+Schloß ein Zimmer als Wohnung eingeräumt und für die Hintersassenschule
+die Lehrerlaubnis erteilt. Der Schulmeister Samuel Dysli muß ihm
+einen Teil von seinen dreiundsiebzig Schülern überlassen; weil aber
+nur eine Stube da ist, vereinbaren sie einen Strich, der die Klassen<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span>
+trennt: auf der einen Seite stellt sich Heinrich Pestalozzi auf und
+fängt wieder tapfer an, aus der Sprache die Buchstabenlaute abzulösen;
+auf der andern wandert der Schuhmacher von Bank zu Bank und behört
+den Heidelberger Katechismus. Er kann es nicht verwinden, daß man
+ihm den alten Landstreicher in die Schulstube schickt, die doch mit
+dem Haus sein angeerbtes Eigentum ist, und wenn er in der Folge das
+unaufhörliche Geschrei hört, wie der andere die Kinder abrichtet, im
+Chor zu sprechen, wobei er selber mitkräht, wenn er sieht, wie sie
+keine Bücher und Schreibhefte, nur eine Schiefertafel haben — nie hat
+er solch ein Schreibzeug gekannt — darauf sie mit dem Griffel allerlei
+Winkel und Figuren kritzeln: glaubt er einem Tollhäusler zuzusehen.
+Er versucht, ihm zur Beschämung, mit seiner Schar die gewohnten Dinge
+zu treiben, aber auch die ist von dem seltsamen Wesen angesteckt, hat
+Augen und Ohren auf der andern Seite; und weil er sich scheut, vor den
+Augen dieses Narren wie sonst mit dem Stock drein zu fahren, frißt ihm
+der Ingrimm über die Vergewaltigung Stunden und Tage auf. Er sieht
+bald, daß einer von ihnen beiden hier unmöglich wird, und da es seine
+eigene Werkstatt ist, aus der er sich hinterlistig verdrängt sieht,
+richtet er sich auf den Krieg ein.</p>
+
+<p>Wenn Heinrich Pestalozzi, der ihn im Eifer meist ganz vergißt, ihn
+kollegialisch ansprechen will, stellt er den gekränkten Stolz seiner
+Bildung zwischen sich und ihn; denn er hat bald gemerkt, daß der
+andere den Firlefanz nur treibt, weil er weder den Katechismus noch
+sonst etwas nach der Vorschrift kann. Der Wurm<span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span> der Kränkung will ihm
+unterdessen das Herz abfressen, und schließlich geht er zum Pfarrer.
+Dem ist es verdächtig, sich in diesen Handel zu mischen, weil er die
+Hintermänner kennt; doch gibt er ihm Lienhard und Gertrud mit, damit
+er sehe, was für ein Wundertier dieser Mann vorstelle. Samuel Dysli
+hat schon gehört, daß es ein Romanschreiber sei, doch macht es ihm zu
+viel Mühe, so dicke Bücher zu lesen; er blättert nur höhnisch darin
+herum, und so findet er die Stelle, wie es dem alten Schulmeister in
+Bonnal übel geht und wie sich der stelzbeinige Leutnant mit allerlei
+Schleicherkünsten an seiner Stelle einnistet. Nun weiß er Bescheid,
+und während Heinrich Pestalozzi schon wieder besessen von seiner
+Absicht ist und gleich einem Specht an der Anschauungskraft der Kinder
+herumklopft, bearbeitet Samuel Dysli die Väter, und eines Sonntags
+halten die Burgdorfer Hintersassen eine Art Landesgemeinde in seiner
+Werkstube ab: Wenn die Bürger und Herren schon ihre Narrheit mit der
+neumodischen Lehrart hätten, möchten sie die Probe auch an den eigenen
+Kindern machen!</p>
+
+<p>So aufgereizt sind sie, daß sie es nicht bei dem Beschluß belassen; als
+Heinrich Pestalozzi am Montag danach um sieben Uhr in die Schulstube
+kommt, sitzen auf seiner Hälfte nur noch drei Kinder und heulen. In
+der ersten Bestürzung ist er töricht genug, den Dysli zu fragen; der
+läßt den Katechismus herunter schnurren, als ob er ihn extra für ihn
+aufgezogen hätte. Da merkt er, daß ihm einer das Uhrwerk abgestellt
+hat; doch kann er seinen Jähzorn noch meistern und geht hinaus. Und<span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span>
+nun meint er, daß der Schulmeister ihn wiederkennen müsse; denn wie
+damals an dem Morgen kommt er ihm nach bis in die offene Tür. Auch
+sonst stehen die Leute an den Fenstern und auf der Gasse; er sieht im
+Vorbeigehen, daß sie die Kinder hinter sich halten, als ob sie ihre
+Brut vor dem Wolf schützen müßten. Einige vermögen ihre Schadenfreude
+nicht zu meistern und rufen ihm nach; ein Flickschneider, der ein
+Schwager des Dysli ist, verfällt auf die Rache, laut zu buchstabieren:
+b u bu, b e be, b a ba! Die ganze Gasse ist begeistert davon, und so
+muß Heinrich Pestalozzi Spießruten laufen durch sein höhnisches Echo,
+das ihm noch nachkräht, als er schon im Oberdorf ist.</p>
+
+<p>Er will zu seinen Freunden, aber weder den Statthalter Schnell noch
+den Doktor Grimm trifft er zu Hause, und Fischer ist für ein paar
+Tage nach Bern gereist. So geht er kopfschüttelnd und trotz seiner
+Großvaterschaft dem Weinen nahe wie ein Knabe den steilen Schloßweg
+hinauf. Der Hof ist leer wie immer, und die Sonne malt die verzogenen
+Schatten der Dächer hinein, als ob auch die ihm Fratzen schneiden
+wollten. Es ist ihm für den Augenblick gleichgültig, wohin er geht,
+weil jeder Schritt zwecklos ist; so tritt er unter die Linde und starrt
+über die Mauer in die glitzernde Emme hinunter. Auch da unten sind noch
+Hütten der Hintersassen, denen er aus der hilflosen Armut helfen will,
+aber die bellen ihn an wie Hunde. Der Abend fällt ihm ein, wo er zum
+erstenmal hier stand und das von dem Steckenpferd sagte. Nun haben sie
+mir auch das fortgenommen, denkt er, und jetzt laufen ihm richtig die
+trotzigen Tränen<span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span> übers Gesicht, daß er ihre Schärfe in den Mundwinkeln
+schmeckt.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>79.</h3>
+</div>
+
+<p>Das Erlebnis geht Heinrich Pestalozzi so nah ans Herz, daß er an diesem
+und auch am folgenden Tag das Schloß nicht verläßt, obwohl er Hunger
+leidet. Dann kommt Fischer aus Bern zurück, hört schon im Stadthaus,
+wo er aus der Post steigt, von dem Aufruhr der Hintersassen, und
+nun erlebt der Geschlagene, was treue Freundschaft für ihn vermag:
+Grimm und Schnell helfen, und noch in derselben Woche steht Heinrich
+Pestalozzi in der Buchstabier- und Leseschule der Margarete Stähli, wo
+er seine Versuche ohne Widerstände fortsetzen kann. Da sind nur zwei
+Dutzend Kinder in einer hellen Stube, und die Jungfrau bescheidet sich,
+ihm eine Gehilfin zu sein. Er ist zwar im Anfang noch verscheucht, man
+möchte ihn noch einmal aus der Schulstube fortschicken, und hält sich
+ängstlich an die äußeren Vorschriften — täglich von acht bis sieben
+Uhr, die Mittagspause abgerechnet, steht er in seiner Klasse — aber
+indem er nun nicht mehr wie in Stans durch die wirtschaftlichen Sorgen
+als Hausvater belästigt und bedrückt wird, auch keine verwahrlosten
+Bettelkinder, sondern gepflegte Bürgertöchter vor sich hat, kann
+er sich ungehindert dem Abc der Anschauung widmen, das ihm als die
+Grundlage aller Kenntnisse und Fertigkeiten täglich geläufiger wird.
+Noch immer geht er von keinem vorgefaßten System aus; er verläßt sich
+auf seinen Instinkt, daß er für jeden Unterricht den natürlichen
+Anfang<span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span> finden wird. Namentlich im Rechnen versucht er nun, von den
+kindlichen Zählspielen ausgehend, zu den Schwierigkeiten der vier
+Spezies zu gelangen. Er ist wie ein Chemiker im Laboratorium, immer
+neue Mischungen versuchend, bis er die rechte Verbindung gefunden hat;
+und die Jungfrau Stähli geht ihm mit gemischter Verwunderung zur Hand.</p>
+
+<p>Unterdessen spielt das Kriegstheater auf Schweizerboden seine
+europäischen Stücke, und es sieht nicht aus, als ob er sobald wieder
+nach Stans käme: über den Gotthard drängen die Russen unter Suworow,
+und über Zürich ins Glarner- und Einsiedlerland die Österreicher
+unter seinem Vetter Hotze, der ein berühmter Kriegsheld geworden
+ist. Aber Hotze fällt bei Schänis, Masséna nimmt Zürich ein — wobei
+Lavater durch einen betrunkenen Grenadier schwer verwundet wird —
+und als Suworow die Franzosen nach dem mörderlichen Kampf um die
+Teufelsbrücke zurückgedrängt hat bis Flüelen, sind die Kaiserlichen
+überall geschlagen, und er muß sich seitwärts in böser Jahreszeit über
+den Kinzig-, den Pragel- und den wüsten Panixerpaß ins Vorderrheintal
+retten, wo er ohne Pferde und Geschütze ankommt und mit dem Rest
+seiner Scharen die Schweiz bald verläßt. Als Bonaparte, aus Ägypten
+heimkehrend, sich zum ersten Konsul der Franzosen macht, hat er die
+Eidgenossenschaft ganz in der Hand, und den Urkantonen vergeht die
+Hoffnung, daß ihnen fremde Hilfe aus der Helvetischen Republik in die
+alte Kantonsherrlichkeit zurück helfen könnte.</p>
+
+<p>Im Bernischen sind die Kriegsschläge nur von fern<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> hörbar gewesen, aber
+viele Heerhaufen rückten durch, und jeden Abend sank die Sonne in eine
+Nacht voll ungewisser Furcht. Heinrich Pestalozzi hat in Stans erlebt,
+was die ruhmvollen Taten der Kriegshelden in der Nähe bedeuten, wie
+aus einer blühenden Landschaft ein Schlachtfeld wird, darin die Dörfer
+brennen und die Verwundeten mit ihren Blutlachen zwischen Leichen auf
+den Straßen und in den Feldern liegen, während in den Bergställen und
+in Felsschlüften Frauen und Kinder schreckensbleich die Schießerei
+abwarten, bis der Hunger sie doch in das Unheil hineintreibt. Er kann
+nur auf den Tag warten, an dem dieser Kriegsbrand endlich gelöscht sein
+wird; es wird auch für ihn der Tag sein, wo er für sein Werk gerüstet
+dastehen muß.</p>
+
+<p>Darüber fallen auch die Blätter dieses Jahres und eines Tages im
+November, als der Regen schon eiselt, erfährt er, daß die Regierung ihn
+nicht nach Stans zurücklassen will. Er hat gewußt, daß sich Stapfer
+seit dem September vergebens darum bemühte, und ist gefaßt, daß ihm
+die Tür nicht wieder geöffnet werde, die der Krieg zuschlug; aber die
+Hoffnung hat doch jeden Abend auf seinem Bettrand gesessen, wenn er mit
+den Kleidern auch die Mühsale des Tages auf den Stuhl legte. Im äußeren
+Schloßhof steht noch ein Tretrad über dem tiefen Brunnen, der bis in
+den Talgrund reicht; er ist einmal vorwitzig hineingestiegen, das
+sonderbare Hand- und Beinwerk probieren; nun träumt er in der Nacht,
+der Strick mit dem Eimer sei abgerissen, während er in den Sprossen
+stände, sodaß er die Radtrommel, des Gegengewichtes beraubt, nur immer
+um sich<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> selber drehen müsse. Er tröstet sich zwar in der Folge, daß
+er für seine Versuche in der hellen Stube der Jungfrau Stähli besser
+aufgehoben sei als in dem Kalkstaub des Stanser Waisenhauses, aber der
+Lebensstrang seiner Arbeit ist ihm doch schmerzlich abgerissen, und
+unruhig fängt er an zu suchen, wo er ihn nach dieser Probierzeit wieder
+einhaken könne. So kommt es, daß er mit dem Ende des Jahres von neuem
+an seinen Neuhof denkt.</p>
+
+<p>Dieses Ende marschiert mit den Schritten der allgemeinen Not, wie
+keines vorher, als ob es die Leidensreste des vergehenden Jahrhunderts
+noch über der Schweiz ausgösse, die durch die Kriegszüge verwüstet und
+von den Franzosen mit Millionen von Kriegskosten ausgesogen ist. Als
+er für die Weihnachtstage nach dem Neuhof fährt, wandern Scharen von
+Bettlern über die winterlichen Straßen, sodaß er wehmütig an seine
+Flugblätter und das Helvetische Volksblatt denkt, darin er sich und
+dem Schweizervolk so herrlich viel von der neuen Ordnung der Dinge
+versprach.</p>
+
+<p>Er findet Anna, die er in Hallwyl abholt, mit eisengrauem Haar; sie hat
+die Sechzig hinter sich, und sie sind nun die Großvatersleute, die zum
+Besuch aufs Birrfeld kommen. Da schaltet die gebotene Fröhlich, und
+Lisabeth hilft ihr, auch die schlimmen Dinge tapfer zu überstehen; sie
+müssen den Hof allein halten; denn Jakob ist trotz seiner dreißig Jahre
+ein übellauniges Gebreste. Es wird trotzdem ein inniges Weihnachtsfest,
+die Großmutter hat aus Hallwyl den Enkelkindern viel Liebes
+mitgebracht, und die fünfjährige Marianne<span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span> vermag schon Christlieder
+zu singen, in die der dreijährige Gottlieb selbstbewußt einstimmt. Als
+danach die heiligen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr mit Rauhreif
+kommen, der in der Sonne mit Millionen Kristallen funkelt, ist es
+für Heinrich Pestalozzi mehr als die Insel auf dem Gurnigel, es ist
+die Küste, von der er ausfuhr, und fast scheint es ihm, dies sei die
+Heimkehr.</p>
+
+<p>Silvester, als sich die Kälte in einen näßlichen Nebel gewandelt
+hat, wandert er zufällig durch das Gehölz bis nach Brunegg auf den
+Waldkamm hinauf. Er weiß, das kleine Schloß steht seit der neuen
+Ordnung mit leeren Fenstern da, aber wie er hinzukommt, ist an der
+verschlossenen Tür ein vergilbter Zettel angeheftet, daß die Regierung
+den verlassenen Besitz mit sechzig Jucharten Wald und Weide zum Verkauf
+ausbietet. Er braucht garnicht zu überlegen, der Plan steht gleich wie
+eine Eingebung da: Schloß Brunegg zu erwerben und mit dem Neuhof zu
+vereinigen in einem Besitztum, auf dem sich ein helvetisches Waisenhaus
+wohl einrichten und halten ließe. Die Seinigen wissen nicht, warum er
+allein an dem Abend fröhlich ist, während ihre Wehmut dem scheidenden
+Jahrhundert die Totenwacht hält; nur Anna, die das Wetterglas seiner
+Stimmungen besser kennt als sie, merkt bald, daß er irgend etwas im
+Schilde führt. Wie dann die Standuhr auf dem Gang ihre zwölf Schläge
+mit dem gleichen schnarrenden Klang wie sonst getan hat, und sie alle,
+die im Schein der Lampe darauf warteten, sich den Menschenkuß geben,
+nimmt er sie wie in den jungen<span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span> Zeiten bei der Hand und führt sie aus
+dem Kreis der andern hinaus in die Nacht, die durch die Erschütterung
+der Glocken aus ihrer Stille aufgeschreckt und von Menschenlichtern
+nah und fern durchleuchtet mit ihren Geheimnissen in die Wälder
+zu flüchten scheint: So war die Nacht, wo ich mit Menalk auf dem
+Lindenhof stand, sagt er draußen zu ihr, als sie unsicher schreitend
+den Landweg nach Brunegg gehen: nur daß wir damals die Glocken in uns
+selber hatten, und draußen war es still. Das ist das Schicksal dieser
+Zeit gewesen, daß jeder in seinem Gehäuse saß; das einzige, was die
+Menschen miteinander verband, hießen sie ihre Bildung: ich heiße es
+ihre Ungläubigkeit. Das neunzehnte Jahrhundert der Christenheit wird
+wieder einen Glauben wie zu Zwinglis Zeiten haben, aber es wird das
+Jahrhundert der Menschlichkeit sein, wo die guten Werke nicht mehr für
+einen guten Platz im Himmel getan werden. Wer die ewige Seligkeit erst
+im Himmel anfangen will, hat sie schon versäumt. In Indien, heißt es,
+werden die Heiligen ihrer auf Erden teilhaftig, indem sie ihre Wünsche
+und Begierden Gott zum Opfer darbringen. Das heißen sie Nirwana oder in
+Gott ruhen; aber Gott hat auch unsere Wünsche und Begierden gemacht,
+nicht daß wir sie töten, sondern seinen Willen damit erfüllen. Wenn wir
+Gott selber in unsern Wünschen und Begierden haben, können sie kein
+Hindernis mehr sein. Ihre Seligkeit heißt, in Gott zu ruhen; unsere
+wird sein, Gott zu tun.</p>
+
+<p>Sie sind unter Brunegg stehen geblieben, weil es ihn angestrengt hat,
+im Steigen soviel zu sprechen; nun sagt<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> er ihr seinen Plan eines neuen
+Waisenhauses. So bist du der Alte geblieben? fragt sie, und er sieht in
+der ungewissen Helligkeit der Winternacht, wie sie selber die Antwort
+dazu lächelt. Ihm aber ist es auf einmal zumut, als ob er wieder in
+der Schule das Vaterunser sprechen müsse; er kann die Worte fast nicht
+herausbringen, so unbändig kichert seine Fröhlichkeit: Ja, Liebe, und
+darum wollte ich dich fragen, ob wir nicht Schloß Brunegg kaufen sollen!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>80.</h3>
+</div>
+
+<p>Seit dieser Nacht fühlt Heinrich Pestalozzi einen fremden Flügelschlag
+über seinen Dingen, sodaß er sich eilen muß, den Ereignissen zu folgen,
+statt sie mühsam anzuzetteln. Er macht zwar noch das Höchstgebot auf
+Brunegg und findet bei der aargauischen Regierung eine unerwartete
+Willfährigkeit, ihm bei der Einrichtung eines helvetischen Waisenhauses
+behilflich zu sein; aber das Schicksal verlegt ihm mit gütigen
+Wendungen den Rückweg aufs Birrfeld: Schon im November hat der Doktor
+Grimm sich erboten, einige Waisen aus dem Kriegsgebiet in sein Haus
+zu nehmen, andre Bürger sind ihm willig gefolgt, und da Fischer den
+Plan mit Feuer betreibt, kommen Ende Januar sechsundzwanzig Kinder in
+Burgdorf an, die der Pfarrer Steinmüller zu Gais im Appenzeller Land
+gesammelt hat. Heinrich Pestalozzi will gerade zum Schloß hinauf, als
+die Bürger ihnen entgegenleuchten; überall sind Betten und warme Suppen
+für die Zitternden bereit, es könnten ihrer hundert sein, soviel Hände
+strecken sich hilfreich<span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span> aus. Auch sein Herz wallt ihnen entgegen,
+und gleich ist er mitten in der Schar, mit scherzenden Fragen seinen
+Willkomm zu sagen; aber eins nach dem andern wird ihm eingefordert, und
+ehe er sichs versieht, steht er allein auf der Straße da. Meine Zeit
+ist noch nicht gekommen, sagt er kopfschüttelnd vor sich hin, als er in
+einer bestürzten Wehmut durch die Dunkelheit zum Schloß hinaufgeht.</p>
+
+<p>Aber unversehens fällt das, was andre begonnen haben, ihm in den Schoß,
+der die Seele solcher Taten ist: die Kinder sind durch einen jungen
+Dorfschulmeister namens Hermann Krüsi aus Gais gebracht worden, der
+als dritter ein Zimmer im Schloß erhält. Er ist ein lernbegieriger
+Mensch von vierundzwanzig Jahren, dem die Nähe des berühmten Verfassers
+von Lienhard und Gertrud eine Erhöhung seines Lebens bedeutet;
+für seine Appenzeller Kinder wird ihm eine besondere Schule im
+Ort eingerichtet, sodaß sie morgens miteinander in den Burgdorfer
+Schuldienst hinuntergehen. Obwohl Heinrich Pestalozzi sich mit seinen
+Menschheitsplänen in der Buchstabierschule der Jungfrau Stähli — wie
+er dem Krüsi sagt — allmählich gleich einem Seefahrer vorkommt, der
+seine Harpune verloren hat und mit der Angel probiert, Walfische zu
+fangen, bleibt er unverdrossen dabei, bis er im Frühjahr die Burgdorfer
+zu einer öffentlichen Prüfung einladen kann. Schon die Neugierde, in
+die seltsamen Karten des wunderlichen Fremdlings zu blicken, treibt sie
+zahlreich herzu; aber nun steht nicht mehr das Mitleid kopfschüttelnd
+da wie in Stans, es gibt eine wahre<span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span> Verblüffung über die Fertigkeiten
+so junger Schüler, und die Schulkommission stellt ihm ein öffentliches
+Zeugnis aus, dankbar, daß er gerade Burgdorf für seine Lehrversuche
+gewählt habe. Diese Anerkennung macht ihn zittrig vor Freude, weil
+er nun endlich die Weite für seine Dinge geöffnet sieht, sodaß er
+in seinem fünfundfünfzigsten Jahr trotz dem Ehrenbürgertum der
+französischen Republik wie ein belobter Schüler in die Ferien kommt und
+seiner Frau Anna das Zeugnis in den Schoß legt. Eigentlich bist du zu
+alt dazu, lächelt sie wehmütig mit dem Papier in der Hand: oder sollte
+die Zeit gekommen sein, wo die Großväter wieder zur Schule gehen? Aber
+er läßt sich sein Glück nicht erschüttern: »Man hat mir schon in meinen
+Knabenschuhen gepredigt, es sei eine heilige Sache um das von unten
+auf Dienen; ich achte es für die Krone meines Lebens, daß man mich mit
+grauen Haaren in der Schule von unten anfangen läßt!«</p>
+
+<p>Er hätte nötig, daß diese Ostertage Ferien für ihn würden, aber sein
+Sohn Jakob will sterben, und während draußen der Frühling schäumt,
+zerreißen die Schmerzen den hilflosen Mann, dem er den Neuhof als
+Erbschaft mühsam aufgespart hat. Zerstört von Nachtwachen kommt er
+wieder in Burgdorf an, wo Krüsi allein auf ihn wartet, weil Fischer
+enttäuscht und todkrank nach Bern zurückgegangen ist. Als Heinrich
+Pestalozzi spät abends den Steilweg aus dem Ort hinauf tastet, findet
+er den Appenzeller, der seitdem einsam und landfremd in den leeren
+Gebäuden haust, sehnsüchtig harrend am Tor. Mein Sohn stirbt, sagt er,
+als<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> sich der Jüngling ihm weinend in die Arme wirft: kommst du mir an
+Sohnes Statt?</p>
+
+<p>Danach gibt es einen Erntesommer für ihn, wie er noch keinen erlebte:
+die Bürger haben ihn dankbar zum Lehrer an der zweiten Knabenschule
+gemacht, darin er an die sechzig Knaben und Mädchen zu lehren hat;
+und kaum, daß er mit Krüsi überlegt, wie ihre Schulen sich vereinigen
+und, in Klassen eingeteilt, besser im Lehrplan einrichten ließen —
+nur an Raum fehlt es im Schulhaus, während im Schloß die schönsten
+Räumlichkeiten leer stehen — sind die Herren in Burgdorf und Bern
+gleich so diensteifrig, daß die Kinder schon zum Sommer auf dem Berg
+einrücken können. Als der Schloßhof von dem emsigen Gewirr ihrer
+Stimmen widerhallt, müssen die Knaben und Mädchen von der Linde ein
+Schweizerlied ins waldige Emmental hinunter singen, und diesmal stehen
+keine Luzerner da zum Lachen, weil er selber mit seiner alten Stimme
+fröhlich den Takt hineinkräht: Nun ist es kein leeres Schloß mehr,
+denkt er, und ich brauche morgens nicht auf einem Steckenpferd den
+Berg hinab zu reiten! Wie ein Feldherr einen Engpaß bezwungen hat,
+das bedrängte Land von den Feinden zu räumen, fühlt er sich längst
+über die ersten Buchstabier- und Rechenkünste hinaus und mächtig, in
+die entlegenen Gebiete der herkömmlichen Schulmeisterei den Gang der
+Natur zu tragen. Er hat zum Wort und zu der Zahl die Form der Dinge als
+drittes Element für seinen Unterricht gefunden und hält nun endlich
+das Geheimnis in der Hand: das Abc der Anschauung, daraus sich alle
+Fertigkeiten und Kenntnisse gewinnen lassen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span></p>
+
+<p>Mit dem Sommer fängt die Nachricht von der Wunderschule im Schloß
+zu Burgdorf an durchs Land zu gehen, und wie ehemals auf dem
+Neuhof, kommen Gläubige und Zweifelnde an, sich mit eigenen Augen
+zu überzeugen, was Wahres an dieser neuen Zeitung sei. Sie finden
+keinen Einsiedler mehr: Krüsi hat aus Basel seinen Freund Tobler
+geholt, der dort als Theologiestudent den Hauslehrer spielte; der
+wiederum bringt einen jungen Buchbinder namens Buß aus Tübingen mit,
+weil er sich trefflich aufs Zeichnen und die Musik versteht, welche
+Künste Heinrich Pestalozzi auch in den Anfängen versagt sind. Sie
+hausen zu vieren in dem Schloß und müssen manchmal selber lachen,
+was für einen seltsamen Verein sie bilden: ein Romanschreiber, ein
+Theologiestudent, ein Buchbinder und ein Dorfschulmeister. Ich bin
+nun wirklich ein Wundertier, scherzt Heinrich Pestalozzi oft, ich
+habe vier Köpfe und acht Hände. Er wird auch nicht müde, die Fremden
+durch die Klassen zu führen, wo im ersten Stock die Körbe mit den
+Buchstabentäfelchen stehen, daraus sich vor den Augen der Kinder die
+Silben und Wörter auswachsen; in der zweiten fangen die Schreibkünste
+auf den Schiefertafeln an — die meist als die größte Neuheit bestaunt
+und befühlt werden — und durchsichtige Hornblättchen mit eingeritzten
+Buchstaben sind die stummen Schulmeister in den Händen der Kinder,
+ihre Schriftzüge zu kontrollieren; der dritte Raum ist groß genug zu
+Marschübungen, und wenn den Besuchern schon aus den andern Stuben
+der Takt im Chorsprechen als das Erstaunlichste im Ohr geblieben
+ist, weil er die Vielheit der<span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span> Schüler mit einem Mund sprechen läßt,
+so sehen sie nun den selben Takt als Erscheinung lebendig werden,
+wenn die Kinder fröhlich singend oder deklamierend gleichen Schritt
+halten. Heinrich Pestalozzi weiß wohl, daß dies alles nur die
+Augenfälligkeiten seiner Lehrübungen sind, und es ficht ihn nicht an,
+wenn ein gelehrter Herr kopfschüttelnd über die Einfalt solcher Methode
+den Berg hinuntergeht. Sie suchen den Stein der Weisen, spöttelt er,
+aber es darf kein Stein sein, weil sie sonst nur an den Bach zu gehen
+brauchten! Auch meinen sie, ich plagte mich in meinen Großvaterjahren
+um neue Schulmeisterkünste, wo ich doch nur der Armut eine Treppe bauen
+will. Und als der sinnende Tübinger, dem es am schwersten fällt, sich
+einzuleben, ihn einmal am Abend fragt, wie er das meine? sagt er sein
+Beispiel von dem Haus des Unrechts.</p>
+
+<p>Sie sitzen auf der Mauer unterm Lindenbaum und sehen, wie die
+Sonnenröte die Alpen herrlich überschüttet, und auch die beiden anderen
+kommen horchend herzu, als er beginnt: Was meint ihr, daß einer im
+Keller unseres Schlosses von diesem Abend sähe! Die Luken im Gewölbe,
+zu hoch für die Augen, werden ihm nur einen bläßlichen Schein der Röte
+geben! Besser wird es in den Stuben des unteren Stockwerks sein; obwohl
+es nach außen kein Fenster hat, sieht man den Widerschein im Hof und
+ahnt die Herrlichkeit! Nur oben, wo die Fenster aus den Sälen nach
+allen Seiten den freien Ausblick gestatten, kann der Bewohner sich
+gemächlich in eine Nische setzen, den Anblick zu genießen! Nun denkt
+euch, Freunde, es gäbe keine Treppe in diesem<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span> Haus, sodaß die Herren
+in den Sälen die einzigen Genießer wären, die Bürger in den Stuben
+darunter könnten nicht hinauf, obwohl ihnen der Widerschein im Hof das
+Blut unruhig machte; das arme Volk aber in den Gewölben säße gefangen
+im fensterlosen Dunkel und hätte von Gottes Sonne nur die trübe Röte an
+der Luke!</p>
+
+<p>So, Freunde, ist das Haus des Unrechts um die Klassen der Gesellschaft
+gebaut. Drum hab ich mich gemüht mein Leben lang und bin ein Narr
+geworden vor ihren Augen, daß ich in dieses Haus des Unrechts die
+Treppe der Menschenbildung baute.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>81.</h3>
+</div>
+
+<p>Wenn die Morgenstunden seiner Schule zu Ende sind, geht Heinrich
+Pestalozzi bei gutem Wetter an die Emme hinunter, Steine zu suchen. Er
+kennt nur wenige Arten und wählt sie mehr wie ein Kind nach der schönen
+Farbe aus, doch schleppt er gern ein Taschentuch voll davon, wenn
+er zum Stadthauswirt Schläfli an den Mittagstisch kommt. Meist geht
+auch eins oder das andere der Appenzeller Kinder mit, und namentlich
+ein Knabe namens Ramsauer begleitet ihn gern. Wie er eines Tages mit
+dem im sonnigen Gestein sitzt — trotzdem ihm die Gehilfen tapfer
+beistehen, schmerzt ihn die Brust vom Sprechen — denkt er mit einer so
+traurigen Sehnsucht an sein verlassenes Waisenhaus in Stans, daß ihm
+die Tränen rinnen. Er weiß schon lange, daß ihn die Regierung nicht
+dahin zurücklassen will, aber er hat es nicht angeschlagen um seiner
+neuen Arbeit willen; nun läuft ihm die Bitterkeit der unbefriedigten<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span>
+Gedanken von allen Seiten zu. Es gerät ihm wie niemals vorher mit
+seiner Treppe der Menschenbildung, er hat den Schlüssel, alle
+Stockwerke zu öffnen, aber es sind doch nur die Bürgerkinder dieser
+wohlhabenden Kleinstadt, die davon Nutzen haben: Schlimmer als jemals
+ist die Not im Land, und ich habe in eitler Selbstgefälligkeit die
+Fremden durch meine Methode spazieren geführt. Als sie mich für einen
+Narren hielten, schrieb ich meine Schriften; jetzt, wo mir die Bürger
+gute Zeugnisse geben und ein Gehalt zahlen, bin ich Großvater wirklich
+ihr Narr geworden!</p>
+
+<p>Als er bedrückt von solchen Gedanken, diesmal ohne Steine im Sacktuch,
+in die Stadthauswirtschaft kommt, sieht er Tobler schon wieder mit zwei
+Fremden dasitzen, einem rotköpfigen Pfarrer und einem Tirolerknaben,
+die erfreut aufstehen, ihn zu begrüßen. Er kann seinen Groll zu
+keinem freundlichen Wort zwingen, macht augenblicklich kehrt und
+läßt sein Mittagsmahl im Stich, obwohl Tobler gleich hinter ihm her
+ruft. Unterwegs tut ihm die Torheit leid, aber wie er dann an seinem
+Sorgenplatz unter der Linde steht, kommen ihm die drei hartnäckig
+in den Schloßhof nach, und nun muß er selber lachen, weil der junge
+Pfarrer niemand anders als der Freund Toblers, Johannes Niederer aus
+Sennwald ist, mit dem er seit Monaten im herzlichsten Briefwechsel
+steht. Den Tirolerknaben, der auf eigene Faust sein Schüler werden
+will, hat er zufällig unterwegs getroffen. So geht mirs, klagt er und
+schließt sie beide in die Arme: vor Gleichgültigen mache ich meine
+Kapriolen, und wenn Freunde kommen, rennt der Hase fort!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span></p>
+
+<p>Er kehrt danach mit ihnen in das Stadtwirtshaus zurück, und es wird
+ein fröhlicheres Mittagsmahl, als er es seit Wochen hatte; denn seit
+dem Holsteiner Nicolovius ist ihm nicht mehr solche Liebe widerfahren,
+wie in den Feuerbriefen dieses kaum zwanzigjährigen Pfarrers aus
+Sennwald, der nun wie der Husarenkapuziner aus Stans neben ihm sitzt,
+so rotköpfig und so verbissen in seine Gedanken. Er ist zwar vorläufig
+nur zum Besuch gekommen, aber Heinrich Pestalozzi reißt wieder einmal
+gierig die Zukunft aus der Gegenwart los: Ihr seid die Jugend, die zu
+mir aufsteht, sagt er und halt ihnen sein Glas hin, als ob er alle Tage
+so schöppelte; nun will ich den Fischzug meines Lebens machen! Und weiß
+auf einmal garnicht, warum er sich bis zu diesem Tag geweigert hat,
+die Erbschaft Fischers ganz anzutreten: ein Schullehrerseminar, eine
+Musterschule und eine Pensionsanstalt hat der in Burgdorf gewollt, den
+nun in Bern der Rasen deckt, indessen er noch immer eigensinnig auf
+sein Waisenhaus in Stans wartet, als ob es diese oder jene Waisen und
+nicht die Treppe seiner Lehre gelte.</p>
+
+<p>Noch in den Tagen, da Niederer wie ein Spürhund durch die Klassen geht
+und jeden Fund verbellt, verhandelt er mit der Regierung in Bern. Er
+fühlt, daß sich die Summe seines Lebens einsetzen will: was er als
+Landwirt, Armennarr und Schriftsteller auf dem Neuhof, als Waisenvater
+in Stans und als Winkelschulmeister in Burgdorf an Erfahrungen
+einbrachte, soll nun Erscheinung werden. Zwar haben die politischen
+Hagelwetter seinen Freund Stapfer als Minister verdrängt,<span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span> aber
+noch in den letzten Wochen hat er ihm eine helvetische Gesellschaft
+von Freunden des Erziehungswesens gegründet, die ihm nun mit einem
+Aufruf an die Bürger aller Kantone beisteht. Zum andernmal nach einem
+Vierteljahrhundert rasselt seine Werbetrommel durch das Land, aber nun
+treten ihrer viele zu dem Bürger, dessen Ruhm im Ausland geklungen
+hat. Schon im November sind an die fünfzig Zöglinge im Schloß, nicht
+Bettelkinder wie im Neuhof, die ihren Unterhalt durch eigene Arbeit
+verdienen sollen, sondern Bürgersöhne und Töchter, deren Eltern den
+Aufenthalt mit gutem Geld bezahlen. Er löst die Burgdorfer Schule ab,
+und nur die von den Appenzeller Kindern bei ihm bleiben wollen, behält
+er um Gotteswillen; der Tiroler Schmidt ist auch darunter.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi staunt, wie rasch ihm dies alles ins Kraut
+geschossen ist, aber der Erfolg macht ihn fröhlich, sodaß er dem Herbst
+und Frühwinter die Tage wie die Blätter eines Märchenbuches abliest.
+Darüber kommt Weihnachten, und er kann diesmal nicht in Neuhof sein,
+weil einige Kinder mit den Gehilfen bleiben, denen er als Vater das
+Fest bereiten muß. Zum Neujahr deckt ein dicker Schnee alles mit runden
+Kappen zu, und der Weg vom Schloß hinunter bis in die Häuser ist
+eine steile Schlittenbahn. Selbst seine Burgdorfer Freunde schütteln
+mißbilligend den Kopf, als sie ihn da mit den Kindern schlitteln
+sehen, und der Doktor Grimm sagt ihm, daß dies kein Geschäft für einen
+Großvater sei; er aber, der nichts Schöneres auf der Welt kennt, als
+wenn verschüchterten Kindern die Augen fröhlich aufgehen,<span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span> nimmt
+einen Schneeball und wirft ihn, sodaß es — als die Knaben seinem
+Beispiel folgen — ein lustiges Gefecht um die Fröhlichkeit gibt, bei
+dem der Griesgram in die Flucht geschlagen wird: Das ist keine so
+einträgliche Schlacht für euch Doktoren, als wenn mit Bleikugeln auf
+Menschen geschossen wird, sagt er ihm einige Tage später, als er ihn
+bei Tauwetter wiedertrifft, aber sie macht rote Backen! Der Doktor
+schüttelt unwillig den Kopf: er habe ihm nur die Post mitgebracht, weil
+er doch zu dem Knaben müsse, der sich bei dem Spaß bös erkältet habe.</p>
+
+<p>Es ist nur ein zierlicher Brief, von Frauenhand mit dünnen Buchstaben
+adressiert; er öffnet ihn gleich und liest, daß ihm die Tochter
+Lavaters den Tod ihres Vaters meldet, der am zweiten Januar seiner
+Verwundung nach langem Siechtum erlegen sei. Von ihm selber aber liegt
+ein Zettel dabei, den er als Abschiedsgruß noch auf dem Sterbebett an
+ihn geschrieben hat:</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 1em;">»Einziger, oft Mißkannter, doch hochbewundert von vielen,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Schneller Versucher des, was vor dir niemand versuchte,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Schenke Gelingen dir Gott! und kröne dein Alter mit Ruhe!«</span><br>
+</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi ist so erschüttert, daß er den erstaunten Doktor
+ohne Wort auf der Straße stehen läßt und quer über die nassen
+Schneefelder zur schwarzen Rinne der Emme hinunterläuft. Dies ist genau
+so unvermutet wie in den Jünglingstagen, als Lavater ihm den »Emil« ins
+Rote Gatter brachte: Er war nicht mein Freund, überschlägt sein Gefühl,
+er hat mich nie recht gemocht, und nur ein paarmal hat uns das Leben
+nebeneinandergestellt; nun hat er wie Bluntschli vor<span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span> Gott gesessen
+mehr als ein Jahr, kaum, daß ich einmal an ihn dachte im Strudel meiner
+Dinge, und er schickt mir dieses Wort!</p>
+
+<p>Nur die treue Erinnerung hat er aus dem Zettel gelesen, kaum die
+Sätze; doch wagt er nicht, ihn noch einmal vor die Augen zu bringen,
+so ehrfürchtig ist ihm zumute, weil er von einem Toten kommt: Wie
+dieser Bach im Schnee übereilen wir unsern Weg, sagt er und läßt seine
+Augen mit den Glattwellen laufen, bis sie hinter den schwarzen Büschen
+verschwinden. Nur an unsern Ufern sehen wir die Dinge, alles nur einmal
+im Gedränge, und kein Augenblick kann gegen den Wellenschlag zurück.
+Wenn wir unten sind, ist dies unser Leben gewesen; aber unser Wasser
+war es nicht. Das Wasser gehört der Welt, der kein Tropfen an irgend
+wen verloren geht; unser Teil ist, daß wir fließen. Durch ein paar
+Mühlräder können wir laufen unterwegs, aber nicht mehr sehen, wieviel
+von Gottes Korn damit gemahlen wird.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>82.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat sich in dem nassen Schnee eine Erkältung
+geholt, die über Nacht fiebrig wird, sodaß ihn der Doktor Grimm für
+ein paar Tage zur Vergeltung ins Zimmer sperrt. Kröne dein Alter mit
+Ruhe! steht auf dem Zettel Lavaters, den er nun auswendig weiß; aber
+selten hat ihm ein Wort so viel Unruhe bereitet. Er weiß, wie dünn ihm
+die Kräfte geworden sind und daß ihn täglich die Gefährlichkeit seiner
+Jahre ankommen kann; aber keine drohende Krankheit vermöchte<span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span> ihn so zu
+schrecken wie die Sorge, lässig zu werden: Die Ruhe des Alters kommt
+denen zu Recht, die Glück mit ihrem Leben hatten; ich aber, dem alles
+unter den Händen zerbrach und der ich noch als Großvater in die Schule
+mußte, ich wäre damit einem Bauer gleich, der seine Felder und Gärten
+in Dürre und Kriegsnot bestellt hat und danach die Ernte versäumte.</p>
+
+<p>Diese Ernte aber wächst weder in Burgdorf noch in einer andern
+Anstalt allein, sie ist ihm auf den unübersehbaren Feldern seines
+Lebens gereift, und nur, wenn er eine alles umgreifende Darstellung
+seiner Lehre der Menschenbildung hinterläßt, hat er nicht umsonst
+gelebt. Unter den Gehilfen, die er nun wieder mit den Zöglingen
+Schneeballen werfen sieht — weil der Winter neuen Schnee auf den
+glatt gefrorenen Guß des Tauwetters gelegt hat — ist keiner, der
+von der Last seiner Erfahrungen und dem Gang der Methode mehr als
+die Anfänge wüßte; und was sie davon ausbrächten, wenn er stürbe,
+wäre nichts als eine notdürftig gebesserte Schulmeisterei. Schneller
+Versucher des, was vor dir niemand versuchte, schreibt er mit den
+Worten Lavaters auf das oberste der Blätter, die er gleich am ersten
+Tag seiner Stubenhaft herauskramt, um sein Lehrbuch der Menschenbildung
+zu beginnen. In seinen Nachforschungen über den Gang der Natur in
+der Entwicklung des Menschengeschlechts hat er versucht, seine Sache
+auf eine Weltanschauung zu gründen; nun will er den gleichen Gang
+der Natur in der Erziehung aufweisen. Aber als er gleich in diesen
+Januartagen anfängt zu schreiben, wird es zugleich ein Bekenntnisbuch
+seines fünfundfünfzigjährigen<span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span> Lebens: alle Einsichten, die er sich
+in mühseligen und schmerzenden Erfahrungen für die Volksbildung
+erkämpft hat, fließen ihm hin in zwölf angeblichen Briefen, von denen
+jeder eine Schrift für sich sein könnte. Es ist nun wirklich, als ob
+er die Früchte abnähme vom Baum seines Lebens, obwohl draußen erst
+das Frühjahr den Winter ablöst und sich von einem Strauch zum andern
+durchblüht in den grünen Sommer. Immer wieder füllen die Zöglinge den
+Hof mit ihrem fröhlichen Lärm, von den Gehilfen zum Spiel geführt, Tag
+für Tag steht er selber unter ihnen mit Zuspruch und Lehre, Eltern
+kommen, ihre Kinder zu bringen, und Freunde weither in Reisewagen,
+seine Schule zu sehen: was sonst der Sinn seines Tages war, ist nun
+eine bunte Füllung geworden, und erst abends, wenn Heinrich Pestalozzi
+wieder an seinen Blättern sitzt, blüht ihm die Seele im eigenen
+Herzschlag auf. Wer ganz bei sich ist, ist bei den andern! schreibt er
+einmal auf einen Zettel, als er sich selber zu eigensüchtig vorkommt
+inmitten der durch ihn bewegten Dinge.</p>
+
+<p>Das zwölfte Stück ist fertig, als ein Brief vom Neuhof anlangt, daß
+sein Sohn Jakob im einunddreißigsten Jahr seines schmerzvollen Lebens
+gestorben ist; seine Frau schreibt ihm die Nachricht und daß sie ihr
+Kind selber, von Zürich hingerufen, nur noch auf dem Totenbett gefunden
+habe. Es tut ihm einen Stich ins Herz, aber er vermag die Feder nicht
+hinzulegen, so sehr scheint ihm die Nachricht aus der Verwirrung seiner
+Gedanken aufzuquellen. Er ist mit seiner Arbeit in eine böse Stockung
+geraten: wie er die Uhrfeder der Sittlichkeit<span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span> in seine Methode
+einsetzen will, erkennt er, daß die sinnliche Befriedigung bei jedem
+Kind auf den Genuß geht und dem sittlichen Zwang feind ist. Soviel
+er denkt und deutelt, er vermag die Sittlichkeit auf kein Bedürfnis
+der Kindnatur zu gründen, und so muß er seiner Lehre selber die
+Natürlichkeit fortnehmen, als er sie damit krönen will: »Es ist hier,
+wo du das erste Mal der Natur nicht vertrauen, sondern alles tun mußt,
+die Leitung ihrer Blindheit aus der Hand zu reißen und in die Hand von
+Maßregeln und Kräften zu legen, die die Erfahrung von Jahrtausenden
+angegeben hat.« In diese Verwirrung fällt die Todesnachricht, die
+dadurch nicht gemildert wird, daß er sie für den Sohn als eine Erlösung
+empfindet. Er hat den Blick Annas nicht vergessen, als sie ihn damals
+ins Kleefeld legen mußten; irgendwie stürzt ihm das Gebäude seiner
+Lehre ein und er hört die Säulen krachend zerbrechen: Wenn jetzt seine
+Gläubigkeit nachläßt, wird ihm alles da entwertet, wo er es geheiligt
+sehen wollte.</p>
+
+<p>Die Schriftzüge seiner Frau retten ihn; er weiß, ihr ist es als Mutter
+schwerer geworden, die Nachricht mit einer Feder zu schreiben, als ihm,
+sie zu lesen; aber kein Wort steht anders als in der Ergebung da, die
+ihr heiliges Erbteil ist. So beugt er sich aus seinen Wirrsalen über
+das tiefe Geheimnis der Mutter, darin die sinnliche Befriedigung alles
+Daseins im Anfang beschlossen ist. Die Sitte der Appenzeller Frauen
+fällt ihm ein, dem Neugeborenen einen papierenen Vogel über die Wiege
+zu hängen, bunt bemalt, um so die ersten Sinneseindrücke des Säuglings
+in den menschlichen Bannkreis<span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span> zu zwingen. Die Mutter ist der Brunnen,
+darin Gott und Natur noch eins sind, aus ihr wächst die erste Nahrung
+des Kindes, wie es selber gewachsen ist, und alles, was sie ihm danach
+gibt, wird natürlich durch ihre Gabe, sie kann aus Gott das Brot des
+Lebens machen. Nachdem rastet Heinrich Pestalozzi nicht mehr, schreibt
+durch diese Nacht und noch tief in den Morgen, bis er die letzten
+Briefe seines Buches fertig hat, die nun ein Lobgesang auf die Mutter
+werden und auch den Titel des Buches bestimmen: »Wie Gertrud ihre
+Kinder lehrt«. Eine gehetzte Angst hat seinen Überschwall getragen, bis
+er am andern Mittag vor den Blättern — leergeflossen an ihrem Inhalt
+— auf dem Stuhl in einen bleiernen Schlaf sinkt.</p>
+
+<p>Am andern Morgen in der Frühe holt er den Stecken und den Ranzen vor,
+noch einmal aufs Birrfeld zu wandern, wo seine Frau das frische Grab
+des Sohnes hütet. Es wird ihm leichter zu gehen, als er gedacht hat;
+und als er schon tief im Aargau drin zwei Kinder bei einer Scheune
+trifft, die eine Leiter quer über einen Brunnentrog zu einer Schaukel
+gelegt haben, auf der sie abwechselnd mit glücklichen Augen in den
+Himmel fahren, ruht er sich rätselvoll bewegt bei ihnen aus. Gleich
+wird die Magd mit dem Eimer kommen, Wasser zu schöpfen, und der
+Knecht wird die Leiter brauchen; das Glück ihres Spiels bleibt ihnen
+trotzdem unangetastet: eine paar Steine auf dem Feld, eine Kuhherde
+auf der Weide werden ihnen vielleicht in einer Stunde noch höhere Lust
+bereiten, weil die nicht aus den Dingen — und also aus den Sinnen —
+sondern aus ihren<span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span> Seelen kommt. Es gibt keine bösen Lockungen der
+Sinne zum Genuß, es gibt nur eine Lust der Seele, die sich in ihrem
+Körper fühlt; sie ist das Leben selber und kann kein Hindernis der
+Bildung sein: gerade sie muß der Mutter das Leitseil werden, ihr Kind
+ins Gute zu führen. Die Hölle und das Paradies liegen gleichviel darin,
+oder fast nicht, weil Lust und Pein Feuer und Wasser sind, während jede
+Lust in ewige Seligkeit ausfließen will!</p>
+
+<p>Er trifft Anna, wie sie mit Gottlieb, dem Enkel, am Brunnen steht, als
+ob es noch ihr Knabe wäre. Die Rührung überströmt ihn, sodaß er ihr
+ins Ungewisse hinein die Hand hin hält, so hindern die Tränen ihn,
+ihr Gesicht zu sehen: Nun ist das Band fort, das von meinem zu deinem
+Leben ging! Aber als ob ein Schwamm ihm dreißig Jahre von seinem Leben
+auslöschte, wird er vom Klang ihrer Stimme berührt: Nein, Pestalozzi,
+es ist nur in die Ewigkeit gelegt!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>83.</h3>
+</div>
+
+<p>Im Oktober läßt Heinrich Pestalozzi das Buch erscheinen, und noch vor
+Weihnachten sieht er die Saat seiner Worte in den deutschen Blättern
+aufgehen; es können zunächst freilich auch nur Worte sein, aber die
+Namen der Schreiber sagen der aufhorchenden Schweiz, daß aus dem
+Armennarr im Neuhof eine geistige Macht geworden ist. Auch könnte
+ihm Füeßli nicht noch einmal mit seiner Rede von der Rührung und dem
+Kirschwasser kommen; denn alles an dem Buch ist Rede und Überredung,
+und jeder Beifall bedeutet eine Entscheidung<span class="pagenum" id="Seite_304">[S. 304]</span> für ihn, die irgendwie
+in Taten endigen muß. Indem sich danach die Zöglinge für seine Anstalt
+reichlicher melden, hilft das Buch auch seiner äußeren Lage, sodaß er
+diesmal zuversichtlicher als sonst das Frühjahr abwartet.</p>
+
+<p>Die geborene Fröhlich ist zu ihm gezogen mit der kleinen Marianne,
+die ein überzartes Kind von sechs Jahren ist und schon am Unterricht
+teilnehmen kann. Zum Fest kommt auch die Großmutter mit dem Gottlieb,
+sodaß sie bis auf Lisabeth, die den Neuhof hüten muß, in Burgdorf
+beisammen sind. Es befriedigt ihn, endlich einmal Anna seine Dinge
+in der neuen Gestalt zeigen zu können, wo er nicht selber mehr der
+Lehrling, sondern der Meister ist; und selbst damals, wo er sie auf dem
+Gut Tschiffelis umher führte, ist er nicht stolzer auf sie gewesen als
+nun, wo sie lächelnd über seinen Eifer mit ihm durch die Schulstuben
+und Schlafsäle der Anstalt geht. Die zweiunddreißig Jahre der Ehe
+haben ihm nichts von ihrer Schönheit ausgelöscht, und während sie den
+Gehilfen eine ehrfürchtig begrüßte Matrone vorstellt, ist ihm bräutlich
+zumut. Der Tod ihres einzigen Kindes geht noch mit ihr, und obwohl sie
+willig zu seinen Erklärungen nickt, bleibt der Schmerz in ihren Augen
+wie Glas, darin sich die Eindrücke dieser Dinge mit der Spiegelung
+schmerzhafter Erinnerungen mischen. Es wird ein stilles Fest, aber
+heilig für ihn; und als sich gleich nach Neujahr Tobler im Schloß
+trauen läßt, und Niederer zum zweitenmal nach Burgdorf kommt, seinem
+Freund die Traurede zu halten, sitzt er wirklich — wie Niederer sagt
+— als Erzvater dabei.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_305">[S. 305]</span></p>
+
+<p>Aber die Zeiten sind nicht testamentarisch; unversehens zieht noch
+einmal ein Kriegsjahr seine Unruhen und Bedrängnisse um die Anstalt.
+Schon im vergangenen Oktober haben die Föderalisten, wie sich die
+Anhänger der alten Kantonswirtschaft nennen, die helvetische Regierung
+in Bern gestürzt und eine andere gewählt, die dem Schwyzer Aloys
+Reding als Landammann untersteht. Da es der neuen Herrschaft aber wie
+der alten an Geld fehlt, um aus der Schuldenwirtschaft zu kommen,
+steigen im Frühjahr schon wieder die sogenannten Unitarier auf der
+Schaukel hoch. Dagegen erheben sich die Urkantone, die auch sonst
+überall die Mißvergnügten an der neumodischen Franzosenwirtschaft
+finden, und während für Europa endlich ein Friedensjahr gekommen
+ist, fangen die Schweizer unter sich Kriegshändel an. Obwohl sie es
+selber um der altmodischen Bewaffnung willen den Stecklikrieg nennen,
+muß die helvetische Regierung vor den Aufständischen aus Bern nach
+Lausanne flüchten, und gerade soll der Tanz im Waadtland losgehen,
+als zwischen den feindlichen Scharen der General Rapp sechsspännig
+vorfährt, den Einspruch Bonapartes zu bringen, dem ein nachrückendes
+Heer von vierzigtausend Franzosen ein unwiderstehliches Gewicht gibt:
+die einzelnen Kantone sollen ihm, statt diesen Bruderkrieg zu führen,
+Abgeordnete nach Paris schicken, um dort unter seiner Aufsicht eine
+neue Verfassung zu beraten. Es bleibt den hitzigen Schweizern nichts
+übrig, als ihr Waffenzeug heimzutragen und die Tagsatzung statt in
+Schwyz in Paris vorzubereiten, weil sie — wie ein Witzbold sagt
+— ihrem vielbeschäftigten Ehrenpräsidenten<span class="pagenum" id="Seite_306">[S. 306]</span> Bonaparte jetzt keine
+Schweizerreise zumuten dürften!</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat diese Händel als einen Streit von Bauleuten
+angesehen, die sich über den Plan ihres neuen Hauses nicht einigen
+können und dem alten nachjammern, obwohl sie es selber eingerissen
+haben; er ist zu der bitteren Einsicht gekommen, daß es bei solchen
+Parteikämpfen mehr um die Macht, zu regieren, als um das Volkswohl
+geht. Bevor noch das sechsspännige Fuhrwerk des Generals Rapp in
+die Schweiz eingefahren ist, hat er in einer Flugschrift die vier
+Eckpfeiler aufgestellt, mit denen das Haus einer helvetischen
+Verfassung besser als mit Flinten und Kanonen unter Dach zu bringen
+wäre: wirkliche Volksbildung, unbestechliches Gericht, allgemeine
+Militärpflicht und gerechte Finanzen. Der Grundstein aber müsse unter
+dem Pfeiler der Volksbildung eingesetzt werden; weil an die anderen
+Pfeiler ohne diesen ersten nicht zu denken wäre, sei er dem heutigen
+Geschlecht das einzig Erreichbare. Er hat die Schrift in wenigen Tagen
+hingeschrieben; sie stellt ihn auf den schmalen Grat, wo der Haß von
+beiden Seiten aufbrandet, aber als die Wahlen für die Tagung in Paris
+vorüber sind, ergibt sich, daß er an zwei Stellen, von den Bauern des
+Emmentals wie von dem Landvolk in Zürich, als Abgeordneter gewählt ist.</p>
+
+<p>Ich werde nicht sechsspännig fahren, scherzt er, mein Wagen geht auf
+zwei Beinen! Obwohl er dann um der unruhigen Zeiten und der Mühsale
+willen — auch geht es in den Winter — die Reise doch im Wagen machen
+muß, fährt er fröhlich und mit besonderen<span class="pagenum" id="Seite_307">[S. 307]</span> Hoffnungen für seine Sache
+ab. Seitdem er seine Anstalt in Burgdorf hält, haben drei französische
+Gesandte in Bern gewechselt, doch jedem sind seine Dinge mehr als
+einen flüchtigen Besuch wert gewesen; auch weilt Stapfer in Paris,
+der ihm die rechten Türklopfer in der Stadt zeigen kann, darin die
+Zukunft Europas zurechtgehämmert wird. Und seine Anstalt läßt er gut
+besorgt zurück, weil Anna sich tapfer entschließt, während seiner
+Abwesenheit das Hausregiment zu führen. Es ist seine zweite Reise und
+in der Strecke fast der Fahrt nach Leipzig gleich, die er vor zehn
+Jahren machte; auch werden die Tage wieder in die selbe Kette von
+Zollhäusern, Posthaltereien und Gasthöfen eingespannt, nur daß die
+Uniformen französisch sind. Doch als er am zwölften Nachmittag die
+Unermeßlichkeit der Stadt um den blinkenden Lauf der Seine daliegen
+sieht, ist es ein anderes Wesen als das Landstädtchen an der Elster. So
+hat sich auch sonst alles um mich geweitet, denkt er: damals kam ich um
+eine Familienerbschaft, heute schickt mich mein Volk für seine Zukunft;
+in Leipzig lief ich als Unbekannter die Türen kleinstädtischer Behörden
+ab, hier werde ich als Ehrenbürger der Franzosen vor ihren Konsul
+treten!</p>
+
+<p>Aber er bekommt den Machthaber nur einmal zu sehen, als Bonaparte
+unvermutet in ihren Saal tritt, anscheinend zufällig, als ob er nur
+den Durchgang benützte, aber eindrucksvoll mit seinem goldflirrenden
+Gefolge. Das letzte Wort der unterbrochenen Rede findet noch Zeit,
+in das Stuckwerk der Decke zu flattern, dann ist die starre Ruhe
+der Augen da, die alle auf den<span class="pagenum" id="Seite_308">[S. 308]</span> kleinen Mann blicken, der, im Alter
+der jüngste unter ihnen, Europa mit dem Ruhm seines Namens erfüllt
+hat. Er läßt sich kurz rapportieren, wobei er mehr durch die Augen
+als die Ohren zu hören scheint, schneidet mit der Handbewegung eines
+ungeduldigen Knaben die Rede ab und wendet sich mitten durch die
+Reihen, sie gleichsam überrumpelnd, einigen Köpfen zu, die ihm ins
+Auge fallen. Auch Heinrich Pestalozzi fährt unvermutet eine Frage ins
+Gesicht; er ist geistesgegenwärtig genug, eine Antwort zu finden, die
+den Machthaber festhält, sodaß der sich schon halb im Weitergehen noch
+einmal zu ihm wendet. Heinrich Pestalozzi merkt sofort, daß er mehr als
+ein Name für ihn ist, er umklammert ihn gleichsam mit Worten und sieht
+mit einer glücklichen Hoffnung, daß in dem kalt forschenden Blick etwas
+von ihm selber zu leben beginnt. Kein Zweifel, daß er den Konsul der
+Franzosen mehr als einer der Männer vor ihm interessiert; während die
+andern im Kreis zurückgetreten sind, weiß er auf die Zwischenfragen
+des blassen und verarbeiteten Gesichtes ebenso rasch zu antworten:
+Jetzt oder nie, denkt er, ist meine Stunde da! Auch noch, wie er in
+hastig abgerissenen Sätzen von der Volksbildung spricht — daß sie das
+Fundament jeder wirklichen Verfassung und ohne sie alles nur der Schein
+einer Gesetzgebung sei — hört der Konsul noch sichtbar nachdenklich
+zu, als ob er versuche, den Gedanken bei sich einzustellen. Irgendwie
+scheint ihm das nicht zu geraten; er klopft ein paarmal unwillig mit
+der Fußspitze, und während Heinrich Pestalozzi noch von Worten der
+Zukunft überströmt,<span class="pagenum" id="Seite_309">[S. 309]</span> ist er für den Mann der Gegenwart nur noch ein
+unangenehmer Greis, der ihm mit seinen haspelnden Armen an die Brust
+will: Ich kann mich nicht in euer Abc mischen, sagt er spöttisch und
+verläßt unverzüglich den Saal, als ob er versehentlich in eine Schule
+geraten wäre.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi bleibt in dem Kreis der schadenfrohen und
+bestürzten Gesichter, die wieder an ihre Plätze gerufen werden, und
+braucht lange, bis er seinen Stuhl findet; aber während die Verhandlung
+weiterstolpern will, kommt ihm alles wie eine leer laufende Mühle vor.
+Noch immer ist er mit dem blassen Mann allein in dem Saal: Wir beiden,
+denkt er — und tritt über Scham wie Hochmut hinweg in den Bereich des
+Menschengeistes, wo die Persönlichkeit aufgibt, sich selber zu gehören
+— wir beiden sind verschieden an dem Gefährt der Menschheit beteiligt:
+er will sein Lenker sein, und ich möchte haltbare Räder machen; er aber
+kanns nicht abwarten, weil er nur seine Stunde hat, drum knallt mir
+seine Peitsche um die Ohren.</p>
+
+<p>Herab mit dem Schild, wenn die Sache weg muß! sagt er zu seiner
+eigenen Erstaunung laut in die Verhandlung hinein und geht durch die
+Hinterpforte hinaus, wie der andere durch die Flügeltüren gegangen ist.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>84.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi merkt bald, daß der Pariser Wind der helvetischen
+Republik ungünstig weht. Die Franzosen haben genug Menschenrechte
+proklamiert, und Bonaparte hält wieder Hof in den Tuilerien; er
+braucht<span class="pagenum" id="Seite_310">[S. 310]</span> Glanz und Aufwand um sich, und die Aristokraten von Bern
+passen besser in seine Pläne als die hartnäckigen Unitarier. Bevor
+die Verhandlungen beginnen, ist die Schweiz durch sein Dekret schon
+wieder in neunzehn Kantone eingeteilt; was den Abgeordneten noch zu tun
+bleibt, sind nur die einzelnen Kantone, und es ist vorgesorgt, daß die
+Herren von Herkunft und Vermögen darin das Heft in Händen behalten.
+Heinrich Pestalozzi versucht es noch einmal mit einer schriftlichen
+Darlegung seiner Ansichten, aber er weiß nun schon, daß er Wasser in
+den Bach trägt. Selbst sein Ehrenbürgertum scheint bei den Franzosen
+des Konsulats schäbig geworden zu sein; er braucht nur zu sehen, wie
+die geputzten Herren und Damen seine Erscheinung belächeln, um sich
+aller Illusionen zu schämen: Sie müssen mich für ein großes Wundertier
+gehalten haben, wie ihren Cagliostro, spottet sein Grimm, nun bin
+ich bloß ein Mensch! Und wie es ihm mit seiner Kleidung und der Art,
+ihre Sprache zu sprechen, geht, so bleibt auch seine Methode mit all
+dem Umstand ihrer tiefen Begründung den Parisern eine belächelte
+Geheimniskrämerei; es brauchte nicht das unaufhörliche Geknatter ihrer
+Sprache in seinen Ohren zu sein, und die Nötigung, seine Herzensdinge
+dahinein zu sperren, um ihm seine Wesensfremdheit unter den Welschen
+bald unerträglich zu machen.</p>
+
+<p>So hält er es für zwecklos, das Ende der Händel abzuwarten; als Ende
+Januar die Hauptverhandlung ist, fährt er durch ein mildes Frostwetter,
+das die Wege trocken gemacht hat, im Sundgau schon auf Basel zu, und
+fünf Tage später holt ihn Anna am Stadthaus in<span class="pagenum" id="Seite_311">[S. 311]</span> Burgdorf aus der
+Post. Da hast du deinen Odysseus wieder! versucht er zu scherzen, um
+seiner Tränen Herr zu werden. Sie schafft ihm seinen Ranzen nach,
+den er vor Rührung vergessen hätte, und er meint das Lächeln um ihre
+schmerzensreichen Lippen zu sehen, als er ihre Stimme auf seinen Scherz
+eingehen hört: So bin ich mit fünfundsechzig Jahren gar deine Penelope?
+In Wahrheit, Pestalozzi, es war mir schwer, die Freier zu füttern; nun
+magst du wieder deinen Bogen spannen!</p>
+
+<p>Er findet aber alles aufs beste besorgt, und daß sie als Hausmutter in
+der Anstalt waltete, hat einen Segen hinein gegeben, der bisher fehlte;
+von den Kindern wie von den Gehilfen ehrfürchtig begrüßt, bringt sie
+eine ruhige Gangart in das Tagwerk. Der Bienenschwarm hat seine Königin
+erhalten! sagt Krüsi in seiner biederen Art, als Heinrich Pestalozzi
+sich verwundert, um wie weniger lärmend es bei den Mahlzeiten zugeht,
+nur weil sie still an ihrem Platz sitzt. Auch sonst hat sie der Anstalt
+wohlgetan: Briefe und Bücher sind in eine schöne Ordnung gebracht, und
+wenn er nun aus dem Trubel in seine Stube tritt, wohnt die Häuslichkeit
+darin. Daß es so bleiben könnte, denkt er jeden Tag; denn seitdem sie
+damals aus Hallwyl nicht wiederkam, ist seine Seite leer geblieben;
+und ob es bitter oder fröhlich mit seinen Plänen ging, daß ihre
+Abwesenheit ihm alles entkrönte, war immer die leise Trauer darin.
+Auch diesmal ist sie nur gekommen, an seiner Stelle das Hauswesen zu
+leiten, und mit heimlicher Sorge wacht er über ihre Schritte, ob sie
+nicht wieder zur Abreise rüsten werde. Doch läßt sie Wochen gleichmütig
+verstreichen, und er<span class="pagenum" id="Seite_312">[S. 312]</span> hofft schon, daß sie dauernd bliebe, als ihr mit
+den ersten Frühlingsblumen das Heimweh in die Säfte steigt. Sie ist
+im Winter schwer krank gewesen, nun kommt die Schwäche wieder über
+sie mit Todesahnungen: Ich möchte unsern See noch einmal sehen, klagt
+sie; aber als sie dann endlich nach Zürich zu ihren Brüdern reisen
+will, hat sie wohl seine erschrockenen Augen gesehen; denn andern Tags
+möchte sie wieder bleiben. Doch sieht er, daß die Unruhe in ihr nicht
+mehr rastet; ihr Ehrenplatz im Saal bleibt immer häufiger leer, da sie
+die Mahlzeiten allein nimmt: der Taubenschlag ist ihr zu laut, aber in
+ihrer Stube plagt sie die Einsamkeit.</p>
+
+<p>So steht sein Barometer mit ihr schon wieder auf veränderlich, als
+eines Tages ein Jüngling das Quecksilber rasch auf schön Wetter steigen
+läßt. Heinrich Pestalozzi bringt ihn aus Bern mit, aber er hat ihn
+nicht dort erst gefunden: Ich mußte nach Paris reisen, um meinen Jünger
+Johannes zu finden, scherzt er oft, so froh ist er selber, daß ihm
+der Thurgauer von Muralt dort in die Hände kam. Es fehlt ihm nicht
+mehr an Gehilfen, seitdem die dänische Regierung zwei junge Lehrer aus
+Kopenhagen sandte und die gebildete Welt Deutschlands von Burgdorf
+als einem Wallfahrtsort der Erziehung spricht; auch sind junge Leute
+von Geist darunter, aber alles Schwarmseelen und wie ihr Meister
+mehr auf stürmische Absichten als auf Sorgfalt gestellt, allmählich
+Burgdorf mit ihrer buntgewürfelten Absonderlichkeit erfüllend. Johannes
+von Muralt bringt nicht nur den Klang eines in der ganzen Schweiz
+bekannten Namens, sondern auch die Vorzüge einer guten Erziehung<span class="pagenum" id="Seite_313">[S. 313]</span> und
+gründlichen Bildung mit; als er zum erstenmal mit zu Tisch sitzt,
+sorgfältig gekleidet und frei von der hastigen Schüchternheit, die
+mit Empfindlichkeit gepaart das Erbteil einer durchgekämpften Jugend
+ist, schweigt Heinrich Pestalozzi und Anna spricht. Es sind freilich
+diesmal nicht die gewohnten Schuldinge; Johannes von Muralt ist durch
+drei Semester in Halle der Lieblingsschüler des Philosophen Friedrich
+August Wolf gewesen und hat in Paris mit dem Dichter Schlegel und
+seiner Gattin Dorothea freundschaftlich verkehrt: der Geist schöner
+Bildung lebt in seinen Gesprächen auf, der für Anna Schultheß seit der
+Erscheinung Klopstocks in ihrer Jugend die heimliche Liebe geblieben
+ist.</p>
+
+<p>So schließt sie den Jüngling mit einem Eifer ins Herz, der Heinrich
+Pestalozzi fast eifersüchtig macht, bis der Schalk in ihm den Vorteil
+erkennt. So schmerzlich er den Zwiespalt zum Vorschein kommen sieht,
+der seit Anfang zwischen seinen Absichten und ihren Neigungen bestand
+und schließlich zur Trennung ihrer äußeren Lebenswege führte — obwohl
+sie durch alle Schicksalsschläge treu zu ihm stand — das Leben hat ihn
+nicht so verwöhnt, daß er sich die Äpfel wie andere frank und frei von
+den Bäumen pflücken kann. Fast listig läßt er sie gewähren, da sie nun
+den See und ihre Abreise zu vergessen scheint: Wir Alten wollen die
+Kinder unseres Geistes haben, überlegt er, und da es uns beiden mit
+einem Sohn mißraten mußte, weil die Natur aus diesem Zwiespalt nichts
+machen konnte, müssen wir Ersatz für unsere ungesättigte Elternschaft<span class="pagenum" id="Seite_314">[S. 314]</span>
+suchen. Ich will ihr gern diesen Sohn gönnen, wenn sie mir damit die
+Mutter meines Hauses bleibt!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>85.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi lächelt fast hinterhaltig, als er Anna nicht
+lange danach den Johannes Niederer anbringt, der sein Pfarramt in
+Sennwald aufgegeben hat, um — wie er sagt — mit bei der Wiege der
+Menschenbildung zu sein: Nun habe auch ich wieder einen Sohn, und es
+ist seltsam, daß sie beide Johannes heißen, denkt er, als er neben
+dem schwarzen Muralt den roten Schopf Niederers sieht. Der hat auf
+seinem Dorf keine Zeit gehabt, sich an der Welt zu schleifen: mit
+neunzehn Jahren voreilig in den Pfarrdienst gekommen, hat er seit fünf
+Jahren in der Feldschlacht menschenfreundlicher Bemühungen gestanden
+und um Gottes willen seine wohlhabende Gemeinde im Appenzell mit dem
+armseligen Rheindorf Sennwald vertauscht; da haben andere Dinge als
+Bildungsformen gegolten, so sitzt er wie ein Glaubensstreiter aus
+dem Heerhaufen Zwinglis da. Heinrich Pestalozzi sieht, wie Anna fast
+erschrickt vor ihm, der mit seinen vierundzwanzig Jahren noch ein
+Jüngling wie Muralt, aber in Mannesgeschäften kantig geworden ist;
+Jakob und Esau, vergleicht er, in diesem fließt das stillere Blut von
+Anna, aber in jenem arbeitet mein Ungestüm!</p>
+
+<p>Als im selben Juli auch noch Tobler — mit einer eigenen
+Erziehungsanstalt am hochmütigen Widerstand der Basler gescheitert —
+zu ihm zurückkommt, ist Heinrich Pestalozzi mit diesen dreien, mit
+Krüsi, Buß und<span class="pagenum" id="Seite_315">[S. 315]</span> dem Zustrom von Gehilfen aus aller Welt, die nur kurz
+bei ihm lernen wollen, auch für die Burgdorfer kein Steckenpferdritter
+mehr, der morgens aus dem Schloß zu ihnen herunter reitet: Der Weg geht
+zu steil, sonst würde es von Wagen nicht leer werden im Schloßhof, die
+täglich neue Fremde nach Burgdorf bringen, das aus einem bäuerlichen
+Städtchen durch ihn ein Hauptort der Schweiz geworden scheint. Schon
+was die Zöglinge — längst über hundert — an Besuch von Eltern und
+Verwandten nachziehen, würde für die Gasthäuser und Fuhrleute etwas
+bedeuten, dazu die Pädagogen und Pfarrer aus aller Welt: das Schloß
+ist wirklich ein Taubenschlag geworden, und die Bürger bestaunen die
+fremden Vögel, die seiner Berühmtheit zufliegen.</p>
+
+<p>Längst schon denkt Anna nicht mehr daran, daß sie nur für die Zeit
+seiner Pariser Reise nach Burgdorf gekommen ist; sie sieht endlich die
+Erntewagen in die Scheune fahren, die weder seine Landwirtschaft noch
+alle Bemühung seines hingehetzten Lebens jemals zu ernten vermochte.
+Daß kein Gold daraus in seine Taschen fließt, weiß sie wohl; trotzdem
+die meisten Zöglinge zahlen — wenn auch nicht alle den vollen Preis
+— sind es doch viele Mäuler, die täglich auf Nahrung warten, und wenn
+die Haushaltungskünste der geborenen Fröhlich, ihrer schaffnerischen
+Schwiegertochter, nicht wären, würden die Sorgen sich manchmal dichter
+auf ihrem Schreibtisch sammeln; aber daß der angeblich unbrauchbare und
+vor der Zeit entmündigte Mann nun vor sich selber und vor dem Spott der
+Tüchtigen im Glanz eines Ruhmes dasteht, der alles für sie Erreichbare
+in<span class="pagenum" id="Seite_316">[S. 316]</span> den Schatten enger Bürgerlichkeit stellt: das ist für sie wie eine
+Abendsonne, die in der letzten Stunde doch noch über einen trübseligen
+Regentag gesiegt hat.</p>
+
+<p>So wird es ein bewegter Geburtstag für sie, als ihr die fünfundsechzig
+Jahre vollgezählt werden, und es ist unwirklich schön, daß er auf
+einen Sonntag fällt. Muralt und Niederer haben ihn als ein Sommerfest
+vorbereitet, das bei kühlsonnigem Augustwetter im Schloßhof gefeiert
+wird. Da sind Bänke und Tische aufgestellt, auch ist ein Boden
+aufgeschlagen, einen Tanz oder ein Spiel zu machen, und solange die
+Sonne in den Hof geschienen hat, mag sie nicht ein so buntes Getümmel
+darin gesehen haben wie an diesem Tag. Das Gemäuer rundum ist mit
+Laubgewinden und Schweizerfahnen aller Kantone geschmückt, und eine
+Musikkapelle — von den Zöglingen unter Bußens Leitung gestellt —
+sorgt, daß die Schweizerlieder auch Begleitung haben.</p>
+
+<p>Als dann die Röte sich aus dem Licht der Sonne ablöst und umso wärmer
+zu leuchten scheint, jemehr die Wärme versiegt, treten ihrer viele an
+die Mauer, nach den Bergen zu schauen, die langsam von der Glut voll zu
+laufen scheinen. Auch Heinrich Pestalozzi ist mit Muralt vorgegangen,
+und Mutter Pestalozzi, wie sie an diesem Tag mehr als hundertmal
+begrüßt worden ist, wird von Niederer in einem galanten Anfall am Arm
+herzu geleitet. Wie sie dastehen, mag über Tobler, der seit seinem
+Mißerfolg in Basel leicht wehmütig wird, der Schatten einer Eifersucht
+fallen, daß er nun sichtlich an die dritte Stelle geraten ist; als
+ob er den Meister<span class="pagenum" id="Seite_317">[S. 317]</span> in die gemeinsame Frühzeit zurück führen müsse,
+erinnert er ihn an den Abend, wo sie zu vieren hier standen und er
+sein Beispiel vom Haus des Unrechts sagte. Daß die andern davon nichts
+wissen, tut ihm sichtlich wohl, und als sie darum drängen, versucht
+er es mit eigenen Worten zu sagen, wie der Anteil an den Lebensgütern
+in drei Stockwerke geteilt wäre, darin die Wenigen, wenn sie wollten,
+Gottes Herrlichkeit aus allen Fenstern sähen, die Mehreren nur den
+Glanz an den Hofwänden, während die Vielen im Keller nicht einmal den
+trüben Schein in ihren Löchern zu deuten vermöchten.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi, der die Schwermut im Grund seiner Heiterkeit schon
+den ganzen Tag gefühlt hat, spürt den Schrecken bei der ersten Frage
+ans Herz klopfen; während der ahnungslose Erzähler vor den andern seine
+Erinnerung ausbreitet, quillt das schwarze Wasser der Trübnis in ihm
+auf, so überkommt ihn der Zwiespalt zwischen dem lauten Freudentag und
+der verschütteten Heimlichkeit seiner Absichten. Er wagt nicht, Annas
+Blick zu suchen, so wehmenschlich ist ihm zumut, legt Muralts Hand
+von seinem Arm weg auf den Mauerrand, und ehe die andern wissen, was
+ihn ankommt, läuft er durch ihre Reihen hinaus und über den unteren
+Hof vors Tor. Da breitet sich die abendliche Landschaft in ihrer
+Sommerfülle aus, und die Dächer der Bürgerhäuser stehen behäbig darin,
+sodaß ihm der Schritt auch hier gehemmt wird: Warum hab ich es nicht
+im Birrfeld vermocht? Ein Armenkinderhaus habe ich gewollt und die
+Pensionsanstalt sollte mir nur die Mittel dazu geben: nun sind die
+Mittel längst selber Zweck. Ich sitze<span class="pagenum" id="Seite_318">[S. 318]</span> als Glücksvogel hier auf dem
+Schloß und spreize das Rad meiner Federn; im Birrfeld, oder wo sonst
+die Not der Zeit ist, geht alles wie vor dreißig Jahren, nur diesem
+Bürgerort hab ich neues Fett gemästet!</p>
+
+<p>Er weiß nicht, daß er weint, aber als sich das Gesicht Annas zu ihm
+beugt, die ihm allein nachgegangen ist, vermag er ihre Augen vor Tränen
+nicht zu erkennen; auch quillt der Zorn noch so in ihm, daß er fast
+nach ihr schlägt. Du hast gesiegt! schreit er und schlägt den Kopf in
+beide Fäuste: der Armennarr ist tot! Ich hab verloren. Sie streichelt
+und tröstet ihn nicht, wie er fürchtet, sie setzt sich still gegenüber,
+wo ihr der andere Torstein einen Platz anbietet, und wartet ab, bis aus
+der Mure seiner Verzweiflung die gröbsten Blöcke ins Tal gefahren sind
+und endlich der zähe Schlamm seiner Verbitterung zum Stehen kommt. Sie
+hat ihn klug verstanden, daß es zwei Welten wären: ihre Stille, den
+Wohlstand herzugeben, und seine Unrast, ihn zu vertun; auch hat sie das
+böse Wort nicht überhört, warum Kampf sein müsse zwischen ihm und ihr,
+zwischen Mann und Frau durchs Leben? Aber als es dann still wird, weil
+nichts mehr fließt, und nur ein Wind vom Tal sie beide mild bestreicht,
+die in der sinkenden Dunkelheit am Tor dasitzen, als ob sie all das
+junge Leben dahinter bewachen müßten gegen die unheimlichen Gestalten
+der Nacht, fängt ihre Stimme an zu sprechen, daß nach dem Getöse seines
+Bergsturzes nun wieder ein Bach hörbar wird: Pestalozzi, sagt sie und
+wägt die Worte: ich dachte, daß wir vor Gott gleich wären, arm und
+reich! Warum willst du das Unrecht nach unten in der Menschenordnung<span class="pagenum" id="Seite_319">[S. 319]</span>
+mit Unrecht nach oben vergelten? Oder sollten Kinderseelen schon darum
+unwert sein, weil die Eltern Geld im Beutel haben? Was nötig ist, sind
+nicht die Waisenhäuser im Birrfeld oder hier, sondern daß du dein
+Vorbild und deine Lehre hinterläßt. Am Ende kommt es darauf an, was
+wir gewesen sind, hat dir der Menalk gesagt, als wir jung waren und
+er schon sterben mußte. Nun, wo wir vierzig Jahre älter geworden sind
+und alt an dem Tor dasitzen, will ich das Wort noch einmal sagen; doch
+hat es sich verändert: Am Ende, Pestalozzi, fragt Gott nicht, was wir
+gewesen sind, er rechnet, was aus uns werden möchte!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>86.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat seine Unternehmung im Namen der helvetischen
+Republik begonnen; seit der Tagsatzung in Paris gibt es aber nur
+noch einen Schweizer Bund mit neunzehn selbstherrlichen Kantonen:
+sein Landesherr ist nun die bernische Regierung, ihr gehört das
+Schloß Burgdorf, und er muß zuwarten, ob sie ihn darin wohnen läßt.
+Im vierspännigen Wagen, wie ein Landesfürst, kommt eines Tages der
+Regierungspräsident von Wattenwyl an, seine Anstalt zu besichtigen;
+obwohl es schwierig und steil geht, muß ihn der Kutscher bis in den
+Schloßhof fahren, und als ihn Heinrich Pestalozzi dann begrüßen
+darf, ist es kaum anders, als wenn ein Schloßherr sich von seinem
+Kastellan Aufwartung machen läßt. Er schnurrt durch alles hindurch
+mit einem deutlichen Mißbehagen an dem landfremden Zürcher, der sich
+hier eingenistet hat<span class="pagenum" id="Seite_320">[S. 320]</span> und der Regierung mit seiner Berühmtheit und
+dem intoleranten Heer der deutschen Geister lästig wird, dem sogar
+französische Gelehrte, Generale und Minister beistehen, sodaß selbst
+eine allmächtige Kantonsgewalt zuwarten muß. In einigen Stunden hat
+er nach der Art solcher Regierungsherren das Ergebnis einer Arbeit
+besichtigt, die Heinrich Pestalozzi ein Lebensalter mühsamer Kämpfe
+gekostet hat, und ist im Dampf seiner eigenen Bedeutung wieder
+abgefahren.</p>
+
+<p>Seine Haltung in den Verfassungshändeln hat ihn den Aristokraten, die
+nun wieder auf ihren alten Plätzen sitzen, mißliebig gemacht, und den
+Kirchlichen ist er immer mit seiner Religion ein Aufwiegler geblieben:
+nun, wo er sichtbar zu Paris in Ungnade und nicht mehr durch ein
+helvetisches Direktorium geschützt ist, fängt die Hetze an, und noch
+in dem Sommer muß sich Heinrich Pestalozzi durch eine Eingabe an den
+Kirchenrat wehren, als fehle es in seiner Anstalt — wie die Anklage
+lautet — an einem richtigen Religionsunterricht. Er überläßt die
+Verteidigung Niederer, dem Religionslehrer und ehemaligen Pfarrer,
+und zum erstenmal erhebt dieser Herold seine dröhnende Stimme für den
+Meister.</p>
+
+<p>Unterdessen ist aus dem Lehrerseminar wie aus der Waisenanstalt nichts
+geworden, und die Zuwendungen der Regierung sind ihm gestrichen; das
+einzige, was er von ihr noch hat, ist das Gebäude, und auch darin wird
+es unsicher: Mit der neuen Ordnung ist ein Oberamtmann nach Burgdorf
+gekommen, der zu seinem Ärger in einem Privathaus wohnen muß, während
+oben im<span class="pagenum" id="Seite_321">[S. 321]</span> Schloß sich das fahrende Volk der Abc-Schützen breit macht. Er
+fängt an, bei der Regierung in Bern um eine Änderung dieses krankenden
+Zustandes zu mahnen, und weist alle anderen Vorschläge als unpassend
+zurück; als es gegen Weihnachten geht, kann Heinrich Pestalozzi nicht
+mehr zweifeln, daß ihm zum Frühjahr die Räumlichkeiten gekündigt
+werden: »Es war das Haus der Herren und soll wieder das Haus der Herren
+werden,« schreibt er an einen Freund, »ich hoffe, mein Ei sei bald
+ausgebrütet, und dann achtet es auch der schlechteste Vogel nicht mehr,
+wenn ihm die Buben sein Nest vom Baum herabwerfen.«</p>
+
+<p>Doch kann die bernische Regierung angesichts der Schwärmerei, mit
+welcher die gelehrte Armee Deutschlands die Vorteile dieser Anstalt
+ausposaunt — wie der Herr von Wattenwyl in einem Gutachten schreibt —
+die Gefahr nicht herausfordern, mit diesem intoleranten Heer öffentlich
+in eine Fehde zu geraten: so bietet man ihm das leere Kloster
+Münchenbuchsee an, und im Januar fährt Heinrich Pestalozzi mit einer
+Abordnung hin, es zu besichtigen. Er findet ein niedriges Gebäude,
+das eine Zeitlang als Spital krätzischer und venerischer Soldaten
+gedient hat, seitdem verwahrlost in einer melancholischen Ebene dasteht
+und weder die grünen Hügel Burgdorfs noch sonst etwas von seinem
+malerischen Reichtum um sich sieht. Am liebsten möchte er, all dieser
+Dinge müde, seinen Stecken nehmen und in den Aargau zurückwandern;
+aber es ist unmöglich, jetzt aus dem Kreis der Zöglinge und Gehilfen
+fortzugehen; in den Möbeln, Betten und Lehrgegenständen stecken ihm
+schon<span class="pagenum" id="Seite_322">[S. 322]</span> wieder zwanzigtausend Schweizerfranken, die er nicht lassen
+kann, auch brennt der Abend an dem Tor immer noch in seiner Seele.
+Um Anna zu halten, nimmt er das Obdach an, das ihm schäbiger Weise
+zunächst bloß für ein Jahr instandgesetzt werden soll. Nur nicht wieder
+als ein Unbrauchbarer vor ihr dastehen, denkt er, als er die vorläufige
+Abmachung unterzeichnet, und ahnt nicht, daß diese Kränkung schon auf
+ihn wartet.</p>
+
+<p>So zieht dieses Frühjahr hin — es ist das fünfte seiner Burgdorfer
+Zeit — wie wenn das Jahr mit ihm erschrocken seinen Lauf einstellen
+wolle; denn ob das Emmental den Blumenteppich seiner Wiesengründe
+ausbreitet, und ob die Wälder täglich grüner werden: im Schloß fängt
+heimlich das Aufräumen an, die Möbel warten, daß sie von kräftigen
+Händen hinausgetragen werden — sie sind sich selber ihre Särge, sagt
+Heinrich Pestalozzi — und wie auch ein Änderungsgedanke auftaucht,
+gleich tritt ihm das Bedenken in den Weg, daß mit den Ferien der Auszug
+beginnen soll. Als der Tag da ist, werden die meisten Zöglinge in
+Trupps mit je einem Lehrer auf die Reise geschickt, meist ins sonnige
+Waadtland hinüber, und nur Freiwillige bleiben, den Umzug mitzumachen.
+Auch Anna geht nun auf ihre Reise an den Zürcher See: Ich bin das
+erste Möbel, das ihr fortschafft, scherzt sie, als er mit ihr in der
+Morgenfrühe zur Post hinuntergeht; denn sie selber hat tapfer dableiben
+und helfen wollen. Er hört ihre Worte garnicht, weil seine Gedanken in
+Sorgen sind, daß sie nicht wiederkommen möchte: Ich war ein halbes Jahr
+lang im Traum, sagt er, und stellt ihre Reisetasche hin,<span class="pagenum" id="Seite_323">[S. 323]</span> dem Gottlieb
+einen Klatschmohn abzunehmen, den der für die Großmutter anbringt:
+Jetzt habt ihr mich wach gemacht, und du gehst fort! Er will ihr die
+Blume geben, aber der fallen die roten Blätter ab, daß nur die grüne
+Fruchtkapsel mit dem Deckel bleibt. Das kann die Großmutter nicht mehr
+brauchen! klagt er zu dem Kleinen und will das Ding wegwerfen; sie aber
+nimmt ihm die Kapsel rasch aus der Hand und lächelt ihn fast listig an
+mit einem Schulmädchengesicht: Bis ich nach Münchenbuchsee komme, ist
+der Same reif, dann streuen der Gottlieb und ich ihn aus, damit wir
+doch ein Andenken vom Schloßberg haben!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>87.</h3>
+</div>
+
+<p>Am selben Tag, da Heinrich Pestalozzi von diesem Abschied fröhlich
+wird und den ernsthaften Niederer durch die Mitteilung in Verwirrung
+bringt, daß er in Münchenbuchsee wieder Landwirtschaft treiben und
+lauter Felder mit Klatschmohn anbauen wolle, erscheinen mittags zwei
+ländliche Männer im Schloß, die garnicht aussehen, wie die sonstigen
+Wallfahrer. Sie kommen aus Peterlingen im Waadtland und bringen einen
+Antrag der Stadt, mit seiner Anstalt dorthin zu kommen; sie wollen
+ihm ihr Schloß mit allen Gärten lebenslänglich zur Verfügung halten,
+ihm das Ehrenbürgerrecht mit einer Pension geben und jährlich ein
+bestimmtes Maß von Korn, Weizen, Wein und Holz. So bin ich immer noch
+im Traum, sagt er, und reicht den Männern gern die Hand; auch müssen
+sie zum Mittag bleiben, und es wird fast ein Fest, das er mit Niederer
+und<span class="pagenum" id="Seite_324">[S. 324]</span> Krüsi — den einzigen Gehilfen, die noch bei ihm sind, weil der
+Auszug schon begonnen hat — und den Bürgern von Peterlingen feiert.
+Wir werden einen Orden der neuen Menschlichkeit gründen und all die
+verlassenen Schlösser der Gewaltherren in der Schweiz mit neuem Leben
+bevölkern, schwärmt Niederer, der gern bei einem Glas ins Weite
+schweift. Aber Heinrich Pestalozzi, der die enttäuschten Gesichter
+der Männer sieht, lenkt schalkhaft ein: Zuerst müssen wir einmal nach
+Münchenbuchsee auswandern und sehen, ob es von da einen Fahrweg für
+unsere Möbelwagen nach Peterlingen gibt!</p>
+
+<p>Der Abschied hat danach seinen Stachel verloren; als andern Tages noch
+ein Herr von Türck aus Mecklenburg anreist, ein Päckchen neuer Liebe zu
+bringen, machen sie mit dem und den Burgdorfer Freunden, die wehmütig
+dabei sind, einen schwärmerischen Gang nach Kirchberg hinüber, bevor
+sie die letzte Nacht in Burgdorf schlafen — nun schon nicht mehr im
+leergeräumten Schloß, sondern beim Stadthauswirt — und andern Morgens
+mit der ersten Sonne nach Münchenbuchsee wandern, wo die Zöglinge mit
+Tobler sehnsüchtig ihren Vater erwarten.</p>
+
+<p>Es sind drei Stunden Wegs, und sie müssen an Hofwyl vorbei,
+wo Fellenberg, der Sohn des Ratsherrn, seit fünf Jahren eine
+landwirtschaftliche Musterwirtschaft als Grundlage seiner
+Erziehungsanstalt für alle Stände eingerichtet hat. Wir suchen die
+Goldkörner der Methode im Land, und er prägt die Goldstücke daraus,
+sagt Niederer sarkastisch, als sie in einiger Entfernung<span class="pagenum" id="Seite_325">[S. 325]</span> an der
+sauberen Erscheinung seiner Gebäude vorüberwandern und überall in
+den Feldern und Gärten die Zeichen der wohlhabenden Ordnung sehen.
+Aber Heinrich Pestalozzi verweist ihm den Spott; er weiß zwar, daß
+Fellenberg gleich mit einer Viertelmillion Franken das Gelände ankaufen
+und aus dem Vollen wirtschaften konnte — wo er sich notdürftig
+durchhalf und gerade noch in diesem Augenblick erstaunt ist, daß er
+mit Ehren aus den Burgdorfer Schulden kam — aber er weiß auch, daß
+der Sohn seines alten Freundes, des Ratsherrn in Verehrung zu ihm groß
+geworden ist, und daß diese Anstalten nur eine Frucht aus Lienhard und
+Gertrud sind: »Er deckt wenigstens das Elend nicht mit dem Mist der
+Gnade zu, wie es die andern machen!«</p>
+
+<p>Als sie dann aber gegen Münchenbuchsee kommen und die wenigen Zöglinge,
+die nicht in Ferien sind, unter Toblers Leitung mit einem Schweizerlied
+anmarschieren, hält seitwärts ein Reiter, als ob die kleine Truppe
+ein Vorposten seines Regiments wäre; es ist Fellenberg, der nach
+der jubelnden Begrüßung respektvoll herzu reitet: auch er habe den
+Nachbarn nicht unbegrüßt einziehen lassen wollen! Er bleibt nicht auf
+seinem stolzen Gaul sitzen, als er das sagt; aber gerade, wie er vom
+Pferd springt und seine hohe Gestalt beugt, ihn zu umarmen, wird der
+Unterschied zwischen dem gepflegten Aristokraten und dem ärmlichen
+Greis so deutlich, daß Niederer für seinen Meister gekränkt beiseite
+geht. Auch Heinrich Pestalozzi ist durch die Umstände dieser Begrüßung
+verstimmt: Wir sind zu nahe an den Schloßherrn<span class="pagenum" id="Seite_326">[S. 326]</span> von Hofwyl geraten,
+sagt er nachher zu Tobler, nun reitet er schon auf seinem Vorwerk herum!</p>
+
+<p>Er bemerkt nicht, daß Tobler betreten schweigt, so sehr bewegt ihn
+die Sorgfalt, mit der die geborene Fröhlich schon Ordnung in die
+neue Wirtschaft gebracht hat: Du bist die Schwalbenmutter, scherzt
+er zu ihr, wir sperren die hungrigen Schnäbel auf, und du hast immer
+etwas hineinzutun. Tobler schweigt zum zweitenmal; er weiß, daß ihre
+Haushaltungskünste allein es nicht vermocht hätten, der Anstalt einen
+so guten Abgang aus Burgdorf zu sichern, und daß die Sorge vor den
+Gläubigern manche Woche auf Pestalozzi gelegen hat, bevor sich alles
+unerwartet löste; er weiß auch, wie diese Lösung zustande kam, und er
+ist mit Muralt, seinem Mitverschworenen, fest entschlossen, den Meister
+endlich aus allen wirtschaftlichen Sorgen zu befreien. Noch muß er die
+Rückkehr des andern abwarten, aber als die kurzen Ferien vorüber sind
+und von allen Seiten die Vögel wieder zufliegen, der melancholischen
+Gegend zum Trotz in Münchenbuchsee ihr Geschwärm wieder zu beginnen,
+gehen die beiden entschlossen ans Werk: Wenn die Anstalt in Burgdorf
+zuletzt nur noch mit Mühe zu halten war, steht sie hier, wo sie sich
+ohne Zuschüsse der Regierung ganz aus sich selber erhalten muß, nur an
+der Schwelle neuer Schwierigkeiten. Sie haben die Ordnung in Hofwyl
+gesehen, und da sie die Verehrung Fellenbergs für den Verfasser von
+Lienhard und Gertrud kennen, ist es ihr Plan, die wirtschaftliche
+Leitung der Anstalt in die festen Hände dieses Mannes zu legen, um
+Heinrich Pestalozzi für seine wertvolleren<span class="pagenum" id="Seite_327">[S. 327]</span> Dinge unabhängig zu machen.
+Nichts als treue Liebe führt sie auf diesen Weg, an dem die Sorge, ihn
+nicht zu verletzen, die Meilensteine setzt.</p>
+
+<p>Mit vorsichtigen Andeutungen und Besuchen in Hofwyl, mit Besorgnissen
+über die ungewisse Zukunft, mit Mahnungen an sein Alter und was er
+der Methode noch schuldig sei, bringen sie ihn endlich zu einer
+Zusammenkunft mit Fellenberg. Sie findet, damit der Boden neutral sei,
+unter einer Linde statt, die ziemlich in der Mitte zwischen Hofwyl
+und Buchsee mit einer alten Steinbank steht. Fellenberg kommt diesmal
+nicht geritten, doch trägt er die Reitgerte in der Hand, und zwei Hunde
+kläffen ihm vorauf. Heinrich Pestalozzi hat um so weniger eigensinnig
+scheinen wollen, als Muralt und Tobler die Vertrauten Annas unter den
+Gehilfen sind; er sieht dem Mann mit der Reitgerte und den Hunden nicht
+einmal mißmutig entgegen, da er sich seiner Sache sicherer fühlt,
+als seine Harmlosigkeit merken läßt. Aber wie sie dann anfangen zu
+sprechen, sind es drei gegen ihn, und jedes Wort wird so sorgsam auf
+die Goldwage seiner Empfindlichkeit gelegt, daß er unmöglich hart und
+abweisend gegen soviel treue Vorsorglichkeit werden kann: Es ist ein
+Dachsfang, wo ich alter Kerl in die Sonne gelockt werden soll, denkt
+er und läßt sie sprechen, bis dem blassen Tobler die Schweißperlen
+auf der Stirn stehen und Muralt verzweifelt die Hände reibt. Nur der
+selbstsichere Fellenberg verliert die Zuversicht nicht und entfaltet
+ein Papier aus der Brusttasche: ob er ihm einmal den Entwurf einer
+Übereinkunft vorlesen dürfe? Heinrich Pestalozzi<span class="pagenum" id="Seite_328">[S. 328]</span> hat nie recht zuhören
+können, wenn einer etwas aus einer Schrift vorlas; er läßt die Worte
+fließen und fühlt fast, wie sie an seinem Rock heruntertropfen. Zum
+Schluß nimmt er die Handschrift, in keiner andern Absicht, als den
+dreien die Enttäuschung nicht zu fühlbar zu machen. Wie dann aber seine
+Augen, fast so taub wie vorher seine Ohren, über die Buchstaben laufen,
+tut es ihm unvermutet einen Stich zwischen die Rippen: Haben wir nicht
+heute den fünfzehnten Juli? fragt er und bringt den Zeigefinger nicht
+von dem Datum fort, das am Schluß steht. Beschlossen auf den ersten
+Juli 1804. Sie wollen ihm erklären, daß dies nur um des Semesters
+willen so zurückgeschrieben sei; aber seine Gedanken sind schon Milch
+auf dem Feuer: er reißt den Schriftsatz in zwei Fahnen und wirft sie
+den Hunden hin, die ihn sofort anbellen und ihm, als er die bestürzten
+Mienen und beruhigenden Worte abwehrend davon läuft, in die Hacken
+fahren, sodaß ihr Herr sie mit der Pfeife zurückholen muß.</p>
+
+<p>Sie haben mich verhandelt wie eine Kuh! schreit ihm sein Grimm in
+die Ohren, während er seitwärts in das Wäldchen läuft, sich da einen
+Schlupfwinkel zu suchen; aber erst, als er sich gegen das Gewässer
+verlaufen hat, das seine Binsenfelder vor ihm auftut und — wo seine
+Fläche durchblinkt — den langen Tierrücken des Jura spiegelt, merkt
+er, daß ihm der Stich ein Gift beibrachte: warum Muralt und Tobler
+und nicht die andern? Weil Anna dahinter steht? Er sieht sie wieder
+abfahren mit der Mohnkapsel, davon ihm die roten Blätter abgefallen
+sind, er hört ihr Wort und sieht ihr<span class="pagenum" id="Seite_329">[S. 329]</span> Lächeln: Ich dachte, klagt er
+laut in den Sommertag, ich wäre endlich etwas vor ihr gewesen! Nun war
+ich doch im Traum und bin erwacht in meine Unbrauchbarkeit!</p>
+
+<p>Weit in der Ferne tut es einen Schuß von einem verlorenen Donnerschlag,
+und über den Jura bläht sich ein Wölkchen grellweiß in den blauen
+Himmel. Daß es ein Gewitter würde und mich kalt machte, damit es
+endlich einmal ein Ende hätte mit diesem Strom von Irrtum und Unrecht,
+darin mein Leben geflossen ist! Es bleibt aber schön, und er geht
+stundenlang auf dem weichen Moosboden hin, bis die Frösche aus dem
+Röhricht quaken. Sie werdens auch schon wissen! zürnt er noch einmal,
+dann überläßt er sich willig der dämmrigen Traurigkeit, bis die leise
+Nacht kommt und ihn doch noch den Heimweg finden läßt: Bist du es, will
+er flüstern, als ihm ihre Gestalt zur Seite schreitet; sie nickt nur
+und sieht ihn kaum an; da merkt er, daß es die Jungfrau Anna Schultheß
+ist, die mit einem Strauß Frühlingsblumen an das Grab Menalks will.
+Sie haben mir das Tor zugemacht, weil ich zu spät gekommen bin! klagt
+er und staunt, wie weit sich der Weg über den Kirchhof zieht. Auch
+weiß er nicht, warum ein Licht auf dem Grab brennt. Bis Niederer ihm
+aus dem Schein entgegentritt und der Spuk verschwindet, weil er den
+Klostergiebel in Münchenbuchsee erkennt.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>88.</h3>
+</div>
+
+<p>Nach diesem Abend fühlt Heinrich Pestalozzi sein Dasein in
+Münchenbuchsee nur noch wie einen Krug,<span class="pagenum" id="Seite_330">[S. 330]</span> der an einem Sprung leer
+läuft; er widerstrebt den Freunden nicht mehr und unterzeichnet den
+Dienstvertrag, wie Niederer das Schriftstück nennt. Wenn Fellenberg
+angeritten kommt und mit Sporen durch den Hof klirrt, schließt er
+sich in sein Zimmer ein, das er auch sonst wenig verläßt. Er hat
+Wandergedanken, aber er findet kein Ziel, bis eine Mahnung aus Ifferten
+kommt. Dort hat ihm der Stadtrat schon vor den Männern von Peterlingen
+das Schloß des Herzogs von Zähringen angeboten; er ist auch einmal im
+Frühjahr dort gewesen und hat das viertürmige Gebäude angesehen, aber
+er fürchtet sich vor dem welschen Land. Nun, wo die Stadt ihm schreibt,
+daß sie das Schloß von der Regierung angekauft habe und seine Wünsche
+vernehmen möchte, wie es einzurichten sei, kommt die Aufforderung
+seiner Sehnsucht recht, ganz aus dem Bereich seiner Enttäuschung
+fortzugehen. Abschied vermag er keinen zu nehmen; die Seinen denken,
+es gelte nur eine Fahrt, als sein Wagen in der Frühe gegen Aarberg
+davonrollt. Er wäre lieber gewandert, aber die Kräfte haben ihn
+verlassen, als ob nun das Alter mit einem Male käme.</p>
+
+<p>Die Stadtherren in dem verschlafenen Ifferten haben schon vernommen,
+daß der berühmte Volksfreund nur ein unscheinbarer Greis ist; sie
+finden seine Wünsche bescheiden und laden ihn zu einem Mahl ein, die
+Bekanntschaft festlich zu besiegeln. So kommt Heinrich Pestalozzi am
+dritten Abend, den er aus Münchenbuchsee fort ist, an eine Tafel mit
+ehrenfesten Bürgern, die beglückt sind, einen solchen Fang zu tun. Der
+schöne<span class="pagenum" id="Seite_331">[S. 331]</span> Wein mundet ihm, der sonst nur selten mehr als ein Kirschwasser
+nimmt, und die lebhaften Gespräche dieser weinfröhlichen Waadtländer
+helfen, ihm die Zunge zu lösen; gerade, daß sie französisch sprechen,
+läßt ihn auf ihre Worte hören, und daß er selber welschen muß, macht
+ihn unversehens lustig, sodaß die Stadthäupter zu ihrem Erstaunen den
+Greis mit dem Sorgengesicht lebhaften Geistes und schlagfertig finden.
+Ihn selber freilich stimmt der Abend, als er andern Tages erwacht,
+noch trauriger als zuvor; seit ihm die Verwirrung seiner Sinne an dem
+abendlichen Gewässer die Erscheinung Annas vorgetäuscht hat, fürchtet
+er, kindisch zu werden, und so nimmt er auch seine Fröhlichkeit
+nachträglich als einen Beweis dafür. Er bleibt aber fürs erste in
+Ifferten, weil ihm die Landschaft um das kleine Städtchen gefällt;
+namentlich in die Wiesen gegen den See geht er gern, wo in den hohen
+Bäumen auch bei der Hitze noch der Jurawind rieselt: Sie stehen wie
+müßige Greise da, und ich bin der müßigste unter ihnen!</p>
+
+<p>Unterdessen erreichen ihn Briefe Niederers, der als ein angeschossener
+Wolf in Münchenbuchsee geblieben ist; sie schildern ihm den Zustand der
+Anstalt nach seinem Weggang so wenig günstig, daß er in einigen Wochen
+noch einmal zurückgeht, seinen Abschied nachzuholen. Er bringt keine
+Ermutigung daraus mit; Fellenberg ist gereizt, daß er sich beiseite tun
+will, und droht, von der Übereinkunft zurückzutreten; als sie sich noch
+einmal an dem Wäldchen treffen — diesmal ist Niederer dabei — sieht
+sich Heinrich Pestalozzi von einer Flut böser Vorwürfe überschüttet,
+die er nur mit großen<span class="pagenum" id="Seite_332">[S. 332]</span> Augen anhören kann. Es kommt danach zwar noch
+eine Versöhnung zustande, die ihn seiner persönlichen Verpflichtungen
+entläßt, aber die Trennung ist nun sicher. Mit Buß und Krüsi und
+mit neun Zöglingen geht er zum andernmal nach Ifferten; er selber
+aber vermag es nun auch dort nicht mehr auszuhalten. Auf einer Fahrt
+nach Lausanne, um bei der waadtländischen Regierung den Gesetzen der
+Niederlassung zu genügen, verläßt ihn in Cossonay der Mut zur Rückkehr.
+Er hat dort nur übernachten wollen, aber am andern Morgen läßt er die
+Post fahren und bleibt in dem kleinen Ort, der zwischen Weinbergen
+auf einem Hügel liegt und ihn mit seinem Ausblick über die Talweite
+wehmütig an seinen verlorenen Schloßberg in Burgdorf erinnert. Da hockt
+er einsam und in den Gedanken seiner Schwermut verhangen, bis der
+biedere Krüsi ihn findet und wie ein Sohn um ihn sorgt. Nach Ifferten
+aber, wo Buß unterdessen die neue Anstalt einrichtet, folgt er ihm
+vorläufig nicht.</p>
+
+<p>Das Weinland der Waadt, in dem er lebt, ist die Heimat von Laharpe,
+dem ehemaligen Direktor der helvetischen Republik, der seiner Sache
+mit hoher Achtung zugetan ist. Als Erzieher des Kaisers Alexander
+von Rußland vermag er noch viel in Petersburg, und so kommt eines
+Tages in das kleine Cossonay eine kaiserlich russische Berufung an
+Heinrich Pestalozzi, das livländische Schulwesen von Dorpat aus nach
+seinen Vorschlägen einzurichten. So verdonnert ihn Krüsi ansieht,
+und so abenteuerlich der Plan ist, in seinem Alter noch nach Rußland
+auszuwandern, seine Stimmung hängt<span class="pagenum" id="Seite_333">[S. 333]</span> sich mit Leidenschaft daran. Er
+hat schon seine Bedingungen mitgeteilt und macht allen Abratungen zum
+Trotz Vorbereitungen für die Auswanderung, von der er nicht mehr zurück
+zu kommen hofft, als ihm ein zufälliges Erlebnis ein Loch in seine
+Schwermut reißt:</p>
+
+<p>Als er eines Tages nach Ifferten gefahren ist und am Abend mit Krüsi
+neben dem Wagen her gegen Cossonay hinauf geht, begegnen ihnen in
+der frühwinterlichen Dunkelheit einige leere Weinfuhren, die sie im
+Geräusch des eigenen Wagens nicht hören, bis Heinrich Pestalozzi dicht
+vor sich zwei Pferde spürt. Er glaubt, es seien Tiere von der Weide,
+und will zwischen ihnen durch; da wird er von der Deichsel getroffen,
+die ihn unter die Hufe der Pferde wirft: So jäh es ihn gefaßt hat,
+so schnell arbeitet sein Instinkt, daß er noch vor den Rädern gleich
+einer Katze unter den Pferden her auf allen Vieren seitwärts in den
+Graben springt und die beiden Wagen an sich vorüber rasseln läßt. Als
+Krüsi ihn findet, der seitlich gegangen war, ist er schon dabei, sich
+aufzurichten; die Kleider sind ihm bis auf den bloßen Leib zerrissen,
+aber ihm selber ist nichts geschehen, sodaß er — durch Gefahr und
+Rettung in einem Augenblick des Wunders hindurch gegangen — gegen den
+Berg schreitend wie vorher das Gasthaus erreichen kann.</p>
+
+<p>Er hat in diesem Herbst, wo er sich kindisch glaubte, oftmals zu
+sterben gewünscht, bevor er ganz dem Siechtum des Alters verfiele;
+nun ist er durch den Tod in einer Jünglingskraft hindurch gesprungen,
+die er sich längst verloren glaubte. Was er schon als Knabe erfuhr,<span class="pagenum" id="Seite_334">[S. 334]</span>
+als er bei Wollishofen aus dem Weidling in den See fiel, daß die
+heimliche Lust des Lebens durch nichts so sehr als durch das Grauen
+des Todes angeregt würde, das bewirkt nun eine Wiedergeburt in ihm,
+die ihn fast übermütig macht: Er glaubte schon sterben zu müssen wie
+Moses, ehe er einen Fußbreit von seinem Kanaan sah; nun fühlt er sich
+im ungeminderten Besitz von Kräften, die alle Nervenschwäche und die
+Müdigkeit seines vermeintlichen Siechtums als trübe Einbildungen von
+sich abfallen lassen. Die Kränkung durch Muralt und Tobler, der Streit
+mit Fellenberg und die Böswilligkeit der bernischen Regierung, die —
+wie er längst weiß — seine Anstalt in Münchenbuchsee als eine staats-
+und kirchengefährliche Unternehmung überwachen läßt: alles, was ihm den
+ängstlichen Geist in diesen Monaten ans Kreuz geschlagen hat, scheint
+ihm vor dem Gefühl, zu leben und seiner Kräfte noch mächtig zu sein, so
+nebensächlich, daß er seine Schwermut wie eine Torheit belächelt: Wo
+ich Kränkungen ohne Maßen sah, sehe ich nun die treue Liebe, sagt er
+glücklich, und niemals ist ihm das Bild seiner Lebensgefährtin klarer
+dagestanden als in diesen Tagen.</p>
+
+<p>Als bald danach der König von Dänemark ihm hundert Louisdor übersenden
+läßt als Anerkennung für die gastliche Aufnahme der dänischen Lehrer,
+ist er übermütig vor Glück: Schau, zweitausend Schweizerfranken, sagt
+er zu Krüsi, mit nichts als einer Idee und etwas Güte verdient! So
+bleibt es Monate lang, während er noch einmal an die Lehrbücher seiner
+Methode geht; und so voll fühlt er den Segen strömen,<span class="pagenum" id="Seite_335">[S. 335]</span> daß ihm das
+Wort Lavaters nun sein liebster Spruch wird: Ich war mürrisch, als
+ich die Ruhe des Alters für Müdigkeit hielt; sie ist die Sammlung auf
+der Lebensstraße, wo das Glück auf der Straße lag, indessen ich den
+Seifenblasen meiner Wünsche nachlief. Nun der Höchste mir mein Alter
+mit Ruhe gekrönt hat, sehe ich, daß es der Jungbrunnen ist, von dem die
+Väter sagten.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>89.</h3>
+</div>
+
+<p>Indessen Heinrich Pestalozzi sich so die Trennung zum Besten dienen
+läßt, sind die Nachrichten aus Münchenbuchsee immer mehr mit
+Enttäuschung beschwert. Muralt und Tobler haben nicht bedacht, daß
+sich Fellenberg mehr als Pädagoge denn als Landwirt fühlt und als
+solcher — wie Niederer sagt — die Drei- und Vierfelderwirtschaft auch
+auf die Zöglinge anwenden will; die Buchführung ist besser geworden,
+und die Ordnung wird streng gewahrt, aber die Luft steht stiller und
+kälter in den Räumen, die sonst auch an Nebeltagen immer noch von
+einem Sonnenstrahl väterlicher Liebe und menschlicher Laune belebt
+und erwärmt war. Daraus wächst Mißmut und — weil es Fellenberg auch
+nicht leicht hat mit Zöglingen und Gehilfen, die einen andern Meister
+schwärmerisch verehren — endlich der böse Streit.</p>
+
+<p>Niederer ist der erste, den es nach Ifferten zieht; er hat im Herbst
+ein schweres Nervenfieber durchgemacht und ist noch hohlwangig davon.
+Seit dem Sommer hat er gemeinsam mit Fellenberg und den andern<span class="pagenum" id="Seite_336">[S. 336]</span>
+Lehrern über dem Wortlaut einer Einladung an die Eltern Europas
+gesessen, ihre Kinder als Zöglinge nach Münchenbuchsee zu geben; Satz
+für Satz ist darin durchberaten worden, auch Heinrich Pestalozzi hat
+mitgeholfen, bis eine umfängliche Flugschrift seiner Methode fertig
+war. Als aber der Druck Weihnachten ankommt, hat Fellenberg ihn
+nachträglich mit eigenen Ankündigungen zum Teil großsprecherischer
+Art für seine besonderen Zwecke zurecht gemacht, was nun auch Muralt
+und Tobler gegen den eigenmächtigen Mann aufreizt. Das Frühjahr geht
+in einem unaufhörlichen Wechsel von Streit und Versöhnung hin, der
+seine Wellenschläge nach Ifferten hinüber tut. Heinrich Pestalozzi
+sucht aus dem Knäuel der Verstimmungen die Fäden der Liebe und der
+gemeinsamen Ideale herauszuziehen; am liebsten aber möchte er den
+Knäuel in den Bach werfen: er läßt sich nun nicht mehr beirren, daß die
+Anstalt im Umkreis seiner Absichten nur einen Versuch bedeutet, und
+ist weder für Münchenbuchsee noch für Ifferten aus dem Dachsbau seiner
+Schriftstellerarbeit herauszubringen, die der Welt andere Resultate als
+die zufälligen einer solchen Anstalt sichern soll.</p>
+
+<p>Doch wird er hier wie dort die Geister, die er rief, nicht los: er hat
+das Klostergebäude in Münchenbuchsee von der bernischen Regierung nur
+für ein Jahr erhalten und müßte zum Juli einen neuen Antrag um gnädige
+Überlassung für ein weiteres Jahr stellen; weil aber Fellenberg in
+einer Zuschrift an die Regierung die Leitung niedergelegt hat, sind
+die Hunde der Verdächtigung auf seine Sache losgelassen. Um nicht
+abzuwarten,<span class="pagenum" id="Seite_337">[S. 337]</span> daß er böswillig ausgeräumt wird, reicht er selber die
+Kündigung ein. Damit hat er nach einem halben Jahr der Trennung alles
+wieder, was ihm nun nicht mehr wie beim Abschied Glück und Unglück
+seines Lebens bedeutet; aber daß die Herde ihm sehnsüchtig nachfolgt
+und ihn durch diese Nachfolge anerkennt, tut ihm doch wohl, und um
+dieses Wohlgefühls willen tritt er tätiger in die Leitung ein, als er
+es nach seiner Rettung bei Cossonay für möglich gehalten hätte; auch
+reißen ihn die glücklich veränderten Umstände hin, und eine heimliche
+Hoffnung überredet den Widerstand:</p>
+
+<p>In Ifferten ist er nicht mehr wie in Burgdorf der zugewanderte Greis,
+der froh sein muß, eine Schulstube für seine Versuche zu finden; der
+Ruhm seiner Sache ist europäisch geworden und die Bürgerschaft setzt
+viel daran, davon zu profitieren. Sie hat ihm — um die Lockung nach
+Peterlingen zu schlagen — die weiten Räume des Zähringer Schlosses
+und die Gärten dazu unkündbar überlassen und richtet alles nach seinen
+Wünschen ein. Auch steht die Regierung im Kanton Waadt, aus dem
+dreihundertjährigen Zwang der bernischen Landvögte befreit, anders zu
+ihm, als die Aristokratenherrschaft in Bern; ihr ist er keiner staats-
+und kirchenfeindlichen Gesinnung verdächtig. Die Zöglinge, die von
+Anfang aus dem liberalen Waadtland am reichlichsten kamen, mehren
+sich rasch; als auch die geborene Fröhlich — die aus Münchenbuchsee
+bald fortgegangen war, einen wohlbegüterten Landwirt namens Kuster
+zu heiraten — den Haushalt von neuem in ihre unverdrossenen Hände
+nimmt, ist unvermutet der ganze<span class="pagenum" id="Seite_338">[S. 338]</span> Bienenstaat wieder um ihn versammelt,
+eifriger als je, den Honig einer neuen Menschenbildung einzutragen;
+nur noch die verscheuchte Königin fehlt, weil Heinrich Pestalozzi noch
+immer eine abergläubische Furcht hat, sie schon zu rufen.</p>
+
+<p>Als aber der Winter den Reichtum nicht vermindert und das Frühjahr
+den Ruhm der Anstalt in einen Erntesommer trägt, der ihm — wie er
+einem Freund bestürzt durch diese Wendung schreibt — das Geld zum
+Dach hinein regnet, bittet er sie frohen Mutes, wieder wie in Burgdorf
+seine Hausmutter zu sein! Sie kommt ihm mit einem Schiff über den See
+gefahren, und er wartet manche Stunde unruhig unter den alten Bäumen,
+die immer noch den Jurawind durch ihre Blätter rieseln lassen, bis
+gegen Abend das Boot anschwimmt.</p>
+
+<p>Schon von weitem sieht er ihre Gestalt still darin sitzen und meint
+fast, ihre Augen auf sich zu spüren, wie er unruhig am Ufer hin und
+her läuft. Sie ist alt geworden, und ihr kranker Fuß, an dem sie
+lange in Zürich gelegen hat, hindert sie noch immer beim Gehen, sodaß
+der Schiffsmann ihr über den Steg ans Land helfen muß: Das sind
+meine vier dicken Türme, sagt er mit glücklichen Augen und zeigt
+auf das Schloß, das zwischen dem Grün weißlich durchschimmert. Sie
+gibt keine Antwort und ist auch schweigsam, während sie das kurze
+Stück über die weichen Wiesen gehen, nur bringt sie die Lippen
+nicht so fest wie sonst aufeinander, weil die strengen Falten einem
+hinterhaltigen Lächeln nicht Meister werden. Erst als sie sich durch
+die stürmische und ehrfürchtige Begrüßung der Zöglinge und Lehrer<span class="pagenum" id="Seite_339">[S. 339]</span>
+— die haben sich im bekränzten Schloßhof aufgestellt und singen ihr
+ein Lied — hindurchgelächelt hat und endlich in ihrer Turmstube im
+Lehnstuhl sitzt, fragt sie: Hast du auch einen Garten? Er hört die
+Frage garnicht, weil er nun erst mit seinem vergessenen Blumenstrauß
+ankommt, den er ihr ans Ufer bringen wollte; sie aber fängt in ihrer
+perlenbestickten Reisetasche an zu kramen und holt ein Schächtelchen
+heraus, darin die Mohnkapsel winzig zusammengeschrumpft zwischen den
+schwarzen Samenkügelchen liegt. Das legt sie ihm behutsam mitten auf
+seine Blumen und lächelt sich die Tränen der Rührung fort: Wenn die
+Samen nur nicht überjährig geworden sind!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>90.</h3>
+</div>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi ist über sechzig und Anna Schultheß fast siebzig
+Jahre alt, als sie ihr gemeinsames Leben im Zähringer Schloß zu
+Ifferten beginnen; in Burgdorf war der Unterschied ihrer Jahre
+ausgelöscht, nun aber fängt sie an, ihr Leben abzurüsten, während er
+noch neue Segel einsetzt. Wenn sie miteinander in dem weitläufigen
+Gebäude, im Garten oder weiter hinaus gegen Clindy gehen, ist er im
+Eifer, ihr alles günstig zu zeigen, immer voraus, während sie oft
+still steht und am Stock nachkommend mehr ihm zuliebe als für sich
+ihre Augen auf seine Dinge richtet. Habe ich dirs nicht gleich gesagt,
+Pestalozzi, ich sei zu alt für dich! scherzt sie einmal, als er wie
+ein ungeduldiger Knabe am Bach nach ihr ruft, weil eine Ringelnatter
+fortschwimmt, bevor sie zur Stelle ist. Aber es gefällt ihr<span class="pagenum" id="Seite_340">[S. 340]</span> alles
+sichtbar wohl, und wenn sie mit ihrem Enkel Gottlieb durch die Straßen
+der ländlichen Kleinstadt geht, gern gegrüßt von den Leuten, sehen
+sie eine wirkliche Schloßherrin. Sie hat noch einmal geerbt von ihrem
+Bruder Jakob in Zürich und braucht in ihrer bescheidenen Wohlhabenheit
+nicht gleich zu sorgen, wenn es irgendwo eine Spalte in dem großen
+Hauswesen gibt.</p>
+
+<p>So treibt das unruhige Wasser seines Lebens mit dem letzten Stauwehr
+doch noch eine reiche Mühle, und er ist sicher, daß im Land kein
+besseres Korn gemahlen wird. Aber er denkt noch immer nicht daran,
+hier für lange den Müller zu spielen; sein Brot soll für die Armen
+gebacken werden. Nun es ihm mit dem andern herrlich geraten ist, nun
+er die Methode eines auf die Natur des Kindes gegründeten Unterrichts
+in Händen hat, nun ihm Hilfskräfte jeder Art verfügbar sind und er
+des Beistandes vieler für eine solche Unternehmung sicher sein kann:
+fängt die Armenkinderanstalt wieder an, das Ziel zu werden, mit dem er
+sein Leben krönen will. Der Schauplatz seiner letzten Tat aber soll
+nicht das welsche Waadtland, sondern der Kanton Aargau sein: wo er
+den Kampf um die allgemeine Menschenbildung begonnen hat, will er ihn
+auch enden. Das Schloß Brunegg hat unterdessen einen andern Besitzer
+gefunden, aber Wildenstein bei Schinznach steht noch leer, und mitten
+aus dem fröhlichen Gesumm seines wohlbestellten Hauses reicht er den
+Antrag um den Wildenstein bei der Regierung in Aarau ein. Die kommt
+ihm willig entgegen, und so steht er vor dem geöffneten Tor seiner
+letzten Ausfahrt, als die Zustände in Ifferten<span class="pagenum" id="Seite_341">[S. 341]</span> ihn nötigen, den Wagen
+vorläufig wieder abzuspannen.</p>
+
+<p>Als ob sie die Ansteckung aus Münchenbuchsee mitgebracht hätten, ist
+der Lehrerstreit da und reißt ihm einen Spalt mitten durch die Anstalt,
+den weder Anna mit ihrer Erbschaft noch er aus dem Faß seiner Liebe
+verstopfen kann. Den ersten Riß bringt eine Erholungsreise Niederers
+mit, die ihn nach einem Rückfall seines Nervenfiebers fast zwei
+Monate lang von Ifferten fernhält und gleichzeitig eine Studienreise
+sein soll für die Lebensgeschichte des Meisters, die er schreiben
+will. Von Anfang an hat er sich als Herold der Methode gefühlt, und
+Heinrich Pestalozzi, der wohl weiß, wie eigenwillig ihm selber in der
+Rede und Schreibe die Gedanken zulaufen, kann erstaunt zuhören, um
+wieviel gelehrter und selbstbewußter sie in dem Mund Niederers klingen.
+Selbst, wo ihm Zweifel überkommen, ob nicht im Strom dieser Worte
+fremdes mitfließt, steht er willig dafür ein, weil er der Einsicht und
+selbstlosen Begeisterung des Eiferers sicher ist. Er hat ihn immer als
+seine rechte Hand gehalten und ihm die Führung in Ifferten zugedacht,
+wenn er selber als Armenhausvater fortgehen wird: nun aber sieht er
+während seiner Abwesenheit gründlicher in die Mädchenanstalt hinein,
+die unter Niederers Leitung in einem besonderen Gebäude neben dem
+Schloß eingemietet ist, und nimmt eine Lässigkeit wahr, die sich mit
+keiner Liebe mehr zudecken läßt.</p>
+
+<p>Als Niederer danach heimkommt, geladen mit Eindrücken und
+schwärmerisch beglückt über sein gesammeltes Material zu der geplanten
+Lebensgeschichte, vermag<span class="pagenum" id="Seite_342">[S. 342]</span> Heinrich Pestalozzi keine Freude mehr an
+diesen Dingen zu gewinnen. Ihm ist in der Abwesenheit der rechten
+Hand die linke wichtiger geworden, und mit Eifersucht sieht der
+Ideenmensch Niederer an der andern Seite des Meisters den Realmenschen
+Schmid stehen, der in allem seinen Gegenspieler vorstellt. Es ist der
+Tirolerknabe, mit dem er damals nach Burgdorf kam, und der sich im Lauf
+der wenigen Jahre aus einem unwissenden, aber begabten Schüler zum
+glänzenden Lehrer der Anstalt durchgearbeitet hat: Wie er in seinem
+Fach der Zahl- und Raumlehre die Methode als Schulmeisterkunst ausübt,
+das wird von den andern Gehilfen immer williger anerkannt und von
+den Besuchern bestaunt; vor den glänzenden Leistungen seiner Klasse
+vollzieht sich meist die Bekehrung der Ungläubigen. Er ist zu einseitig
+gebildet, um die Niedererschen Gedankenflüge mitzumachen, auch liegt
+die Schwärmerei seiner Natur nicht: sonnengebräunt und fest wie das
+Gesicht ist sein Wesen und in Tüchtigkeit verbissen, die auf alle
+Unordnung und Faulheit in der Anstalt wie ein Raubvogel Jagd macht; für
+das geplante Armenkinderhaus ist er begeistert, er mag die wohlhabenden
+Zöglinge nicht und verachtet die Eltern, die ihre Kinder — wie er sagt
+— nur aus Bequemlichkeit in Erziehungsanstalten schicken.</p>
+
+<p>Ehe Heinrich Pestalozzi Augen für ihre Eifersucht hat, ist sie schon
+zur Feindschaft geschwollen, und er steht mitten darin: Ich bin wie
+eine Jungfer zwischen zwei Liebhabern, scherzt er zu Krüsi und glaubt
+noch lange, er könne den bösen Zustand mit launigen Zurechtweisungen<span class="pagenum" id="Seite_343">[S. 343]</span>
+lösen; aber weil beide ihren besonderen Anhang haben, sieht er zu
+seinem Schrecken die Anstalt in zwei feindliche Lager geteilt und wird
+mit seiner hülflos suchenden Liebe ein Fangball, den sie einander
+zuwerfen: der alte Vorwurf seiner Unbrauchbarkeit ist über Nacht aus
+dem Boden gewachsen, grausamer als sonst, weil er ihn diesmal aus allen
+Himmeln reißt. Um kein Trümmerfeld in Ifferten zu hinterlassen und Anna
+für immer zu verscheuchen, die sich jetzt schon verstimmt durch die
+Händel in ihrem Zimmer hält, muß er den Plan der Armenkinderanstalt in
+Wildenstein vertagen. So gießt ihm der Herbst des mit Siegesgedanken
+begonnenen Jahres Galle in seinen Jungbrunnen, und obwohl schließlich
+durch den vermittelnden Muralt eine Aussöhnung zustande kommt, sodaß
+sie Weihnachten in Frieden feiern, bleibt eine bittere Stimmung in ihm,
+die seiner gewohnten Neujahrsrede nicht günstig ist.</p>
+
+<p>Am letzten Nachmittag des Jahres kommt er zufällig mit einer Besorgung
+in die Werkstatt des Schreiners, der seit der Einrichtung die Arbeiten
+im Schloß hat. Sie nennen ihn in Ifferten den Heiden, und Heinrich
+Pestalozzi kennt unter andern Seltsamkeiten des alten Sonderlings
+auch diese, daß er sich für jedes Neujahr einen Sarg herrichtet, die
+erste Nacht des Jahres darin zu schlafen. Wie er nun bei ihm eintritt,
+stehen die fünf Bretter schon fertig genagelt da, und er ist gerade
+dabei, dem Deckel eine Hohlkante anzuhobeln. Den brauch ich vorläufig
+nicht, spöttelt er und bietet ihm eine Prise an, es ist nur wegen der
+Vollständigkeit! Und als Heinrich Pestalozzi, den der selbstgefällig
+lächelnde Greis neben<span class="pagenum" id="Seite_344">[S. 344]</span> dem Sarg verwirrt, ihn fragt, warum er sich
+jedes Jahr solch ein neues Bett mache, streicht der mit der Hand die
+Hobelkante ab und paßt den Deckel ein, wie einer, der das Schicksal
+pfiffig überlistet: Weil es mir noch keinmal geraten ist, ihn zu
+verwahren; schon im Frühjahr ist meist ein anderer Liebhaber da!</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi vermag keinen Geschmack an dieser
+Lebensversicherung zu finden, aber der gehobelte Sarg hat ihm das
+Herz bewegt, und als er draußen den Schmid trifft, wie er mit einigen
+Zöglingen einen Handwagen voll Tannenreisig aus dem Wald anbringt, die
+Schloßkapelle zu schmücken, übermannt es ihn so, daß er ihn gerührt
+in die Arme schließt. Ein hämischer Zufall will, daß Niederer seither
+dazu kommt, todblaß, weil er die Herzlichkeit gesehen hat. Sie gehen
+zu dreien miteinander vor dem Handwagen der Zöglinge her in einem
+verlegenen Gespräch, und Heinrich Pestalozzi in der Mitte will sich
+schon der Begegnung freuen, als die Worte zerbrechen und die Scherben
+im Streit umher fliegen. Er rafft die Zöglinge an den Händen fort, daß
+sie nicht Zeugen der Häßlichkeit würden; aber noch, als er drinnen auf
+dem oberen Treppenumgang steht, hört er die bellenden Stimmen durch die
+Mauern dringen.</p>
+
+<p>Er sieht an dem Abend niemand mehr und erlebt die Mitternacht allein
+und verdüstert in seiner Kammer: Ich Narr der Eitelkeit, jammert er,
+was soll die Welt mit meiner Lebensgeschichte, die ein Buch voller
+Grabreden ist! Als er in den Kleidern auf dem Bett liegend endlich
+einschläft, bleibt seine letzte Empfindung die mutlose Müdigkeit, daß
+es der Sarg des Schreiners<span class="pagenum" id="Seite_345">[S. 345]</span> sein möchte! Und noch, als die ersten
+Glocken den Morgen ansagen, quält er sich im Halbschlummer mit den
+engen Brettern. So trifft Heinrich Pestalozzi die Stunde, wo er als
+Hausvater vor den Seinen mit dem Bekenntnis des alten und dem Gelöbnis
+des neuen Jahres stehen soll.</p>
+
+<p>Er läßt durch zwei Zöglinge den Sarg des Schreiners holen und vor den
+Altar stellen; und ob er Anna bei dem Anblick die Kapelle verlassen
+sieht und aus all den fragenden Augen der andern das Entsetzen vor
+seinem Frevel spürt: nichts vermag ihn aus der Nötigung zu reißen, den
+Sarg als den seinen zu betrachten und statt einer Neujahrsansprache
+sich selber eine Grabrede zu halten. Niemand vermöchte seine
+Unbrauchbarkeit grausamer anzuschlagen, als er es nun selber tut, und
+fast ist es mit Gott gehadert, wie er ihm die Unfähigkeit seiner Natur
+vorhält und alle Schuld an dem Zerwürfnis auf sich selber legt. Aber so
+erschütternd seine Klagen durch die Kapelle irren und in manchem Herzen
+den Schrecken um seinen Verstand aufjagen: ihm selber ist es, als ob
+sein Körper damit ausfließe wie ein verunreinigtes Gefäß; bis er, von
+aller Verbitterung leer, die Brunnen der Demut in sich aufquellen
+fühlt. Da weiß er, daß seine Anklagen nur die Torheit eines Kindes
+sind, das sich durchtrotzen möchte und hundert Wohltaten vergißt, weil
+ihm eine verwehrt wird: Wie undankbar und eigensinnig ist es, gegen
+mein Schicksal zu hadern, das mich vor allen Menschen mit meinem Werk
+gesegnet hat! Sodaß Heinrich Pestalozzi die Kapelle in einem Gefühl der
+Begnadung<span class="pagenum" id="Seite_346">[S. 346]</span> verläßt, darin selbst die Beschämung über sein zorniges Tun
+ins Ferne verfliegt.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>91.</h3>
+</div>
+
+<p>Nach dem Gewitter dieser Neujahrsrede fängt die Sonne wieder an zu
+scheinen, und Heinrich Pestalozzi, der die schlimmen Dinge leichter
+als die guten vergißt, fühlt ihre Wärme über Ifferten, als ob erst
+Mittag wäre. Auch Anna, die lange gekränkelt hat, lebt wieder auf und
+braucht nicht mehr am Stock zu gehen: Ich mußte die alternde Frau in
+mir los werden, sagt sie einmal zu ihm, als sie dem bunten Getriebe der
+Zöglinge auf der Eisbahn zusehen: jetzt sind die Reste fort, und ich
+bin ganz eine Greisin; ich konnte nicht alt werden, nun ich es bin, ist
+alles wieder frei; ich möchte fast ein paar Eisschuhe antun, so leicht
+ist mir!</p>
+
+<p>So bin ich doch der Ältere von uns beiden, antwortet er und nimmt
+zärtlich ihre Hand; denn auch das habe ich dir vorgelebt: Nur das
+Gesicht und die Hände waren jung und werden alt, die Seele lebt als
+eine schwingende Schnur, die in der Mitte heftig schwirrt und am Ende
+— wie am Anfang — nur noch zittert, bis der andere Knoten kommt, wo
+sie an den Bogen ihres Erdendaseins gespannt ist!</p>
+
+<p>Er spricht auch sonst wieder viel mit ihr, fast wie damals auf ihren
+ersten Spaziergängen, und lächelt hinterhaltig, wenn er sich bei den
+Listen seiner Liebe ertappt. Als ob er noch einmal seine Mutter hätte,
+geht er behutsam mit ihren Wünschen um und verschweigt ihr die Unrast
+um sein Werk, die noch immer weit vom<span class="pagenum" id="Seite_347">[S. 347]</span> Knoten schwingt: Es ist nur mein
+Sterbeteil, denkt er oft, der bei ihr die heimlichen Schlupfwinkel
+seines Lebens hat; der Menschengeist in mir, dem die schwingende Seele
+die zitternde Spindel war, ist nicht an ihre Schnur gebunden; der
+trägt den Takt ihrer Bewegung fort ins Breite, wenn die Schnur längst
+still steht! Und deutlich fühlt Heinrich Pestalozzi die Unheimlichkeit
+dieser Trennung, wie die Seele sich zur Ruhe rüstet, indessen sein
+Menschengeist immer ferner auf Abenteuer reitet.</p>
+
+<p>Das Wort verläßt ihn nicht; der Zwiespalt seines Lebens wird
+ihm sinnbildlich darin, daß seine Seele für die Abenteuer des
+Menschengeistes einstehen mußte, der nicht den Seinigen, sondern dem
+Volk gehörte und von dem Gewissen der Menschheit in Pflicht genommen
+war. So hat die Seele daheim im Streit gelegen bis auf diese Stunden,
+wo er zurseite Annas gemächlich am See spaziert — unter den überhohen
+Bäumen, die ihre Blätter nur deshalb im Jurawind rieseln lassen können,
+weil ihre Wurzeln ihnen unablässig den Saft aus dem schwarzen Grund
+zubringen — indessen sein unruhiger Geist mehr als je in das Abenteuer
+der Menschenbildung verwickelt ist: nur daß er, anstatt auf eigene
+Faust zu kämpfen, längst ein Häuptling wurde mit einem Kriegslager,
+dahinein von fernher die Krieger reiten, sich Weisung zu holen.</p>
+
+<p>Denn Heinrich Pestalozzi — der Greis, wie ihn die Burgdorfer schon
+nannten — ist unversehens in Europa eine Macht geworden; nicht,
+weil er überall in den Regierungen Anhänger hat, die ihm Lehrlinge
+der Methode<span class="pagenum" id="Seite_348">[S. 348]</span> nach Ifferten schicken, das dadurch eine Hochschule
+der Erziehung wird, sondern weil nun die Weltgeschichte auch sonst
+seinen mißachteten Ideen nachkommt: Seitdem ihm der Konsul Bonaparte
+spöttisch den Rücken zukehrte, sodaß er mit dem verschmähten Sauerteig
+der allgemeinen Volksbildung von Paris heimkehren mußte, hat sich
+der korsische Advokatensohn zum Gewalthaber Europas gemacht, der
+Fürstentitel und Königskronen wie Kinderspielzeug verschenkt, den
+Papst nach Paris kommen läßt, ihn als Kaiser zu krönen, und der sich
+die habsburgische Kaisertochter als seine Frau einfordert. Nichts in
+der Welt scheint seiner Selbstherrlichkeit zu widerstehen; so ist
+ihm auch der Preußenstaat des großen Friedrich nur ein Hindernis auf
+seiner neuen Landkarte, das er mit einer kriegerischen Handbewegung bei
+Jena beseitigt, wobei er noch Zeit findet, dem Dichter der Deutschen
+das Kreuz der Ehrenlegion an die Weltbürgerbrust zu heften. Aber
+diese Handbewegung macht dem Totengräber seiner Schwertmacht, dem
+Menschengeist in Preußen, die Hände frei.</p>
+
+<p>Wie immer kehrt auch hier der eiserne Besen der Not die unfähigen
+Gewalthaber auf den Mist, und Männer treten in ihre Stellen ein,
+nach den Menschenrechten die Menschenpflichten zu proklamieren,
+in denen allein die Blutsaat der Revolution zu einer Volks- und
+Menschengemeinschaft aufgehen kann. Einer der ersten ist sein Freund
+aus den Tagen in Richterswyl Johann Gottlieb Sichte, der Schwiegersohn
+des Wagenmeisters Kahn in Zürich; in seinen Reden an die deutsche
+Nation, in denen er die sittlichen Mächte im deutschen Geist aufruft,<span class="pagenum" id="Seite_349">[S. 349]</span>
+setzt er Heinrich Pestalozzi und seine Idee der Menschenbildung in eine
+Beleuchtung, die keine Gegnerschaft mehr auslöschen kann. Als auch
+der Holsteiner Nicolovius in die Leitung des preußischen Schulwesens
+berufen wird, will der Traum in einem Land Europas Wirklichkeit werden;
+die besten Geister haben die Regierung des preußischen Staates in
+der Hand, und ihr Ziel ist das seine: Befreiung und Erneuerung des
+Volkes als einer sittlichen Gemeinschaft, und als Grundlage dieser
+Gemeinschaft die Erziehung aller mit den Mitteln, wie er sie in dem
+Naturgang seiner Methode gefunden hat. So ist Heinrich Pestalozzi
+aus einem einsamen Abenteurer des Menschengeistes doch ein anderer
+Heerführer geworden als sein Vetter Hotze mit dem Soldatenhut, von dem
+nur noch der verblaßte Ruhm übrig geblieben ist.</p>
+
+<p>So gut geht alles, daß auch die feindlichen Lager in Ifferten
+Gottesfrieden halten. Muralt hat vermocht, daß eine genaue Teilung
+der Pflichten Niederer und Schmid auseinander hält, und namentlich,
+seitdem Rosette Kasthofer aus Grandson das Töchterhaus in ihren
+jüngferlich festen Händen hält, während Niederer — der auch nicht
+mehr im Schloß wohnt — nur noch seine Pflichtstunden gibt und die
+schriftstellerischen Tagesbedürfnisse der Anstalt besorgt, ist die
+tägliche Verärgerung beseitigt. So kommt der letzte September des
+Jahres 1809, an dem es vierzig Jahre her ist, daß Heinrich Pestalozzi
+sich mit Anna Schultheß aus dem Pflug in der Dorfkirche zu Gebistorf
+trauen ließ, recht in die Zeit für ein Freudenfest: Nun haben wir es
+doch einmal beide nach unserem Herzen, sagt er neckend zu<span class="pagenum" id="Seite_350">[S. 350]</span> ihr, die
+fast bräutlich geschmückt im Lehnstuhl auf ihn wartet, wird aber gleich
+wieder ernst vor ihrem würdigen Gesicht: Unser Haus ist wohlbestellt
+unter einem großen Dach, wie ich dir den Neuhof bauen wollte, und mir
+ist sein Glanz keine Unruhe mehr, weil ich der Lebensströme sicher bin,
+die daraus fließen!</p>
+
+<p>Als sie dann miteinander in den geschmückten Saal treten und in das
+fröhliche Bienengesumm die Stille ihrer Gegenwart bringen, als Niederer
+seine Festrede aus der Brunnentiefe seiner gewaltigen Begeisterung
+holt und ihnen Kränze von innigen Worten auf die weißen Häupter legt,
+indessen sie Hand in Hand wie zwei Kinder im Augenblick hundertfacher
+Liebe dasitzen: sind alle Wechsel, die der Lehrling Tschiffelis an
+die Kaufmannstochter im Pflug sandte, so über alle damalige Geltung
+eingelöst wie im Märchen, wo auch die gehäuften Nöte auf einmal von dem
+vorbestimmten Glück abfallen. Nur ganz den feierlichen Ernst der Stunde
+zu ertragen vermag Heinrich Pestalozzi noch immer nicht; es ist auch
+hier ein wenig bei den hohen Worten, als ob er wieder nach dem Examen
+vor den andern Schülern das Vaterunser sprechen solle: so lächert es
+ihn durch seine Glückstränen. Kaum sind die Ströme der Feier über
+ihn hingeflossen, und die Frühlingsblumen dieser Herbstfröhlichkeit
+wollen in einem Tanz der Kinder aufblühen, da muß er ihnen zeigen,
+wie es damals zuging, als er noch der schwarze Pestaluz aus dem Roten
+Gatter und Anna Schultheß die scheu verehrte Muse der jungen Patrioten
+aus der Gerwe war: und übermütig, wie er es damals nicht vermocht<span class="pagenum" id="Seite_351">[S. 351]</span>
+hätte, schreitet Heinrich Pestalozzi, der Armennarr auf Neuhof, die
+Pestilenz des Birrfeldes, der Waisenvater in Stans und der Prophet
+der Menschenbildung in Burgdorf und Ifferten, mit seiner schlohweißen
+Gattin zu einer alten Weise den ersten Tanz.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>92.</h3>
+</div>
+
+<p>Wenn die Deutschen nach Ifferten kommen, meist über Basel und Bern
+oder auch über Zürich, geschieht es ihnen leicht, daß sie mit ihrer
+Begeisterung für Heinrich Pestalozzi an diesen Orten als närrische
+Wallfahrer aufgenommen werden, weil man da eine andere Ansicht
+von dem unruhigen Projektenmacher hat, sodaß sie kleinlauter in
+das viertürmige Schloß eintreten und dann nicht selten durch die
+unordentliche Erscheinung ihres Propheten abgeschreckt werden, als ob
+die achselzuckende Mißachtung des Mannes in seiner Heimat am Ende doch
+das Klügere sei. Sie haben erwartet — weil sie als Deutsche blindlings
+ans Gute glauben — daß sein Vaterland wie eine stolze Familie zu ihm
+stände, und finden ihn eher als verlorenen Sohn darin, zu dem sich
+nur die Tapferen ohne Vorbehalt bekennen. Je höher der Lichtschein
+seines Ruhmes draußen steigt, umso ängstlicher wird die Vorsicht,
+als Schweizer für seinesgleichen gehalten zu werden, als ob etwa die
+gesicherte Kultur Helvetiens noch seiner seltsamen Bildungsversuche
+bedürfe.</p>
+
+<p>In Basel und Zürich sind es die Humanisten, die seine Abc-Künste
+bespötteln, und in Bern die Aristokraten, die seine Anstalt als staats-
+und kirchengefährlich hassen,<span class="pagenum" id="Seite_352">[S. 352]</span> besonders seitdem er in dem abtrünnigen
+Waadtland haust. Und gerade während der Zeit, da in Preußen Humboldt,
+Stein und Fichte seine Grundmittel der Menschenbildung mit heiliger
+Überzeugung ergreifen, muß Heinrich Pestalozzi sich in der Heimat gegen
+böswillige Angriffe wehren. Um ihrer mit einem Mal Herr zu werden,
+stellt er der schweizerischen Tagsatzung in Freiburg das Ansinnen,
+seine Anstalt von Landeswegen zu prüfen, ob die Methode nicht auch
+in der Schweiz, wie in Preußen zum Vorteil des Vaterlandes allgemein
+eingeführt werden könne! Auch hat der Eifer Niederers vermocht, daß
+eine schweizerische Gesellschaft der Erziehung gegründet wird, die
+wie vormals die helvetische Gesellschaft in Schinznach so jährlich
+zum Sommer in Lenzburg tagen soll, und bevor noch die Dreimänner der
+Tagsatzung zur Prüfung der Methode nach Ifferten kommen, hält Heinrich
+Pestalozzi als Präsident der Gesellschaft eine Rede über seine Idee
+der Menschenbildung, mit der er noch einmal als ein Demosthenes
+seines Landes auf den Markt tritt: aber die ihn anhören, sind einige
+vierzig für seine Sache schon vorher bemühte Leute, nicht die neunzehn
+Kantonsregierungen des Schweizervolks, das in seinen Blättern manchen
+Spott lesen kann, ob eine solche Sache wohl berechtigt sei, ernsthafte
+und gelehrte Leute zu bemühen? Und als die nächste Tagsatzung den
+Bericht der Dreimänner bekannt gibt, ist es eine hämische Aufzeichnung
+der Mängel, die sie in der Anstalt gefunden haben, sodaß nun Niederer
+wieder mit einer Flugschrift auf dem Wall erscheint und den Gegnern der
+Anstalt mit Heroldsworten den Fehdehandschuh hinwirft.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_353">[S. 353]</span></p>
+
+<p>Bevor darauf die Angreifer aus allen Kantonen mit den entrollten
+Bannern der überkommenen Weltordnung anrücken, das Nest des Aufruhrs
+in Ifferten auszuheben, bricht es innen auseinander. Einem Dämon
+der Zwietracht gelingt es, die verhaltene Feindschaft Schmids und
+Niederers in das innerste Glas ihrer Männlichkeit zu gießen, wo sie
+zischend auseinander fahren muß. Seit einiger Zeit ist eine Lehrerin,
+namens Luise Segesser, in der Anstalt, ein schönes und herzlich
+verankertes Mädchen aus Luzern, um das sich beide mit der Leidenschaft
+ihrer fanatischen Seelen bemühen. Schmid, der gegen den rotköpfigen
+und schwächlichen Niederer ein starkes Mannsbild von unverkennbarem
+Tirolertum ist, glaubt sich schon als Katholik im Vorteil gegen
+den pfarrerlichen Protestanten, da die Segesser selber aus einem
+katholischen Hause kommt. Sie würde es bei ihrer Familie mit ihm ebenso
+leicht haben wie mit Niederer schwer, aber nach dem Instinkt solcher
+Frauen wählt sie das Schwere. Schmid ist immer noch erst ein Jüngling
+von dreiundzwanzig Jahren, ihm werden durch ihre Wahl stolze Bäume
+aus der Wurzel gerissen; er war bis auf diese Zeit der Liebling des
+Meisters und die sichtbare Stütze der Anstalt, selbst der hämische
+Bericht der Dreimänner hat seine Leistungen ausnehmen müssen: jetzt ist
+ihm alles unwert, weil ein Mädchen sich gegen ihn entschieden hat. Es
+fängt an, in seiner Galle zu wühlen, und nun ist es nicht mehr seine
+Feindschaft mit Niederer allein, nun hat ihn der Geist der Anstalt
+verraten, wo jeder — so scheint es ihm — vom kleinsten Zögling bis
+zum ältesten Lehrer das tut, was<span class="pagenum" id="Seite_354">[S. 354]</span> seiner Neigung bequem ist, und wo
+Heinrich Pestalozzi nur als Strohpuppe gehalten wird, mit der sie
+abwechselnd ihr Ränkespiel treiben: Er vermag nicht mehr, in der
+Gemeinschaft zu bleiben, deren fester Stundenschlag er mehr als jeder
+andere gewesen ist; eines Tages steht er tief vergrollt vor dem Meister
+und sagt ihm, daß er für immer fortgehen müsse!</p>
+
+<p>Es ist ein Frühlingsabend, und Heinrich Pestalozzi, dem das Alter
+den Rücken müde gemacht hat, liegt nach seiner Gewohnheit in den
+Kleidern auf dem Bett und diktiert, als er zu ihm tritt. Er kennt den
+Herzenslauf des Jünglings seit langem, und die Schadenfreude hat ihm
+zugetragen, an welches Ende es nun damit gekommen ist: Du nimmst meinem
+Dach den Firstbalken weg, sagt er zu ihm, als sie allein sind: und es
+ist kein anderer da, der ihn mir wieder aufrichtet; aber wenn dir alles
+im Blut verleidet ist, will ich dich nicht mit dem Wasser meiner Worte
+halten! Er greift ihm nach den Händen, und einen Augenblick ist es,
+als ob der andere ihm seinen Kopf an die Brust werfen und in Tränen
+aufgehen möchte; aber der Trotz hält ihn erschlossen gegen solche
+Weichheit, daß er die Hände zurücknimmt und bald mit hohen Schultern
+das Gemach verläßt.</p>
+
+<p>Der Wind hat die Tür hinter ihm wieder aufgedrückt, daß sie leidmütig
+in den Angeln knarrt. Heinrich Pestalozzi ruft nach Anna; sie scheint
+nach ihrer Gewohnheit hinuntergegangen zu sein in den Garten, wo die
+Vögel das junge Laub anschreien, daß ihm ein einziges Geschrill<span class="pagenum" id="Seite_355">[S. 355]</span>
+davon durchs offene Fenster kommt. Um nicht allein zu sein mit der
+Entscheidung, die unsichtbar in der Kammer auf ihn wartet, tappt er
+hinunter, sie zu suchen. Es ist die Stunde, da die Knaben unten am See
+unter den Bäumen spielen, und darum eine Stille auf den Gängen und
+Treppen, die ihn fast ängstlich macht. Bin ich auf einmal allein in der
+Welt, denkt er; als er aufatmend unten Schritte hört und, rasch über
+die Galerie gebeugt, Muralt mit einem Brief in der Hand quer durch den
+Hof zur Treppe gehen sieht. Den schickt mir der Himmel, hofft er und
+wartet still, während der andere auf seine schlanke Art heraufkommt;
+aber als er ihm seine Sache klagen und ihm sagen will, daß er der
+einzige sei, Schmid umzustimmen, wehrt Muralt gleich schmerzlich ab
+und reicht ihm seinen Brief. Es ist seine Berufung nach Petersburg,
+die schon seit Monaten schwebt: So wollt ihr mich alle verlassen, wie
+die Ratten das sinkende Schiff, schreit er im Zorn und will ihm das
+Papier an die Brust werfen. Aber es fliegt übers Geländer und tanzt im
+Zickzack in den Hof nieder, wo es wie eine Anklage seiner Heftigkeit
+liegen bleibt, bis Muralt nach einer Pause hinuntergeht und es aufhebt.
+Er kommt nicht zurück, schreitet mit gesenktem Gesicht aus dem Hof
+hinaus, sodaß Heinrich Pestalozzi wieder allein in dem leeren Gemäuer
+bleibt: ein Bettler im eigenen Haus, wie er bitter vor sich hindenkt,
+bevor er zurück in seine Kammer geht, wo die Vögel noch immer das junge
+Laub anschreien. Aber die Sonne ist fort, und aus den Ecken wachsen die
+grauen Gespinste, den letzten Tag zu verzehren.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_356">[S. 356]</span></p>
+
+<h3>93.</h3>
+</div>
+
+<p>Meine Anstalt ist ein Uhrwerk, klagt Heinrich Pestalozzi, als Schmid
+und Muralt nicht mehr in Ifferten sind, davon mir irgendwer den
+Stundenzeiger und das Schlagwerk fortgenommen hat: nun schnurren die
+Räder weiter, und der Minutenzeiger läuft unaufhörlich im Kreis herum,
+aber niemand weiß die Stunde! Umso eifriger ist Niederer; er hat nun
+endlich freie Hand, die Gewichte nach seiner Neigung aufzuziehen, und
+macht aus der Stunde siebzig Minuten, die Anstalt und die Methode vor
+den Angreifern zu retten.</p>
+
+<p>Bisher haben die Gegner ihren Zorn nur in den Kantonsblättern auslassen
+können; der Aristokratenprofessor von Haller in Bern macht ihnen
+endlich im Ausland auf eine Weise Luft, die auch die Anspruchsvolleren
+befriedigt. Unter dem schützenden Mantel der Gelehrsamkeit — darin
+seit je die Bosheit ihren geliebten Schlupf hat — tritt er in den
+Göttinger Gelehrten Anzeigen auf, um dem harmlosen Deutschland die
+Augen über die gefährliche Revolutionsschule in Ifferten zu öffnen.
+Da kann der Haß gegen den Unruhestifter einmal dick ausfließen, und
+fleißige Schaufelräder bemühen sich allerorten, ihn ins Land zu
+leiten. Niederer, für den nun endlich die Methode aus dem Staub der
+Schulklassen in das Feuer der geistigen Prüfung kommt, schlägt mit dem
+Schwert seines Eifergeistes in den Brei, bis er selber in einem Berg
+von Schaum dasteht. Aber schon meldet sich von Zürich der Humanismus,
+der seit Agis Zeiten noch eine Abrechnung mit dem vorlauten Patrioten
+aus der Gerwe hat: in der viel gelesenen<span class="pagenum" id="Seite_357">[S. 357]</span> Zürcher Freitagszeitung
+stellt der Chorherr Bremi drei Dutzend Zeitungsfragen, die sich mit
+gewandter Bosheit gegen den rasselnden Niederer richten, aber Heinrich
+Pestalozzi dem gebildeten Geschmack preisgeben. Er will nun selber
+antworten, aber weder die Zeitung in Zürich noch die in Bern nimmt
+seine Einsendungen auf, sodaß doch wieder Niederer das Wort nimmt,
+diesmal in einem zweibändigen Werk, das den Streit in den Untiefen der
+Dialektik entscheidet.</p>
+
+<p>Die Aufregungen dieser papierenen Kämpfe machen aus dem Zähringer
+Schloß in Ifferten mehr eine belagerte Festung als eine Schule.
+Manchmal genug muß Heinrich Pestalozzi an seine Kattunfabrik und
+die Zurzacher Messe denken, wenn er zusieht, wie sich bei Niederer
+die Pläne jagen, wie im Handumdrehen ein Verlagsgeschäft, eine
+Buchdruckerei und eine Buchhandlung im Schloß eingerichtet werden, um
+besser für diese Händel gerüstet zu sein; doch liegt er nun fast immer
+an seinem Rückgrat in Schmerzen auf dem Bett und läßt es geschehen, daß
+ihm der Zielpunkt seines Lebens täglich mehr auf die Seite geschoben
+wird, als ob er um solcher Klopffechterkünste willen gelebt hätte.</p>
+
+<p>Darüber kommt er durch einen törichten Unfall auch noch fast ans
+Sterben: als er eines Tages mit einer Stricknadel im Ohr bohrt,
+aber nicht recht aus dem Gehänge seiner Gedanken aufwacht, läuft er
+unversehens damit gegen den Kachelofen, so unglücklich, daß ihm die
+Nadel durch das innere Ohr in den Kopf hinein sticht. Trotzdem es ihm
+wehtut, scherzt er selber noch über sein täppisches Ungeschick, bis
+die Schmerzen nach einigen<span class="pagenum" id="Seite_358">[S. 358]</span> Tagen heftiger werden, Fieber dazu kommt
+und ihm wie den andern die Gefährlichkeit ankündigt. Krüsi begleitet
+ihn nach Lausanne, aber da lassen ihn die Ärzte nicht mehr fort, weil
+nun schon das Fieber mit den Schmerzen um sein Bewußtsein kämpft und
+der Tod an seine Bettstelle treten will. Vier Monate seines Lebens
+kostet ihn die falsche Anwendung dieser Stricknadel, und manche Woche
+irrt sein Geist in Delirien hin, darin die Kämpfe der letzten Zeit in
+den Spuk früher Kinderträume tauchen, wo die Feinde mit greulichen
+Gesichtern und langen Messern heran schleichen. Namentlich ein plumpes
+Tier peinigt ihn lange, das dicht über seinen Augen schwebt und ihn
+erdrücken wird, wenn es sich niederläßt. Als seine Sinne heller werden,
+weil die Sonne durchs Fenster scheint und mütterliche Hände um seine
+Wiege sind, ist es der bunte Papiervogel, von dem er geschrieben hat,
+daß ihn die Appenzeller Mütter ihren Kindern übers Bett hängten,
+damit der suchende Blick daran den ersten Anhalt aus dem Unbewußten
+in die Menschenwelt fände. Endlich an einem Nachmittag erwacht er
+wieder in seine Greisenwelt, Anna Schultheß lächelt ihn an mit ihrem
+Faltengesicht, und der Vogel ist fort: aber die Erinnerung an seine
+Farben bleibt in ihm, wie wenn er aus dem Paradies gewesen wäre. Und
+noch einmal wird Heinrich Pestalozzi überwältigt von dem tiefen Sinn
+dieses Volksgebrauches: Mir löscht das Bewußtsein meiner alten Tage den
+Traum bald wieder aus, denkt er und liegt noch immer wie ein Kind in
+der Wiege lächelnd mit gefalteten Händen da; aber das Kind, das sich
+die<span class="pagenum" id="Seite_359">[S. 359]</span> Welt mit seinen Sinnen erst aufbauen soll, sieht am Eingang den
+paradiesischen Vogel, und es wird immer diesen Kern von Wohllaut in dem
+Weltgebäude seiner Anschauung fühlen.</p>
+
+<p>Mitten in diese Gedanken hinein muß er so herzhaft lachen, daß
+sich Anna erschrocken — das Fieber möchte wiederkommen — zu ihm
+hinunterbeugt. Es dauert lange, bis er mit den schwerfälligen Worten
+dem blitzschnellen Lauf seiner Gedanken nachkommen kann: Er hat von dem
+Papiervogel aus an das Bergwerk gedacht, darin die Seele im Verlauf
+einer Jugend von den Erfahrungen der Sinne begraben wird, und an die
+unendliche Geduld seiner Methode, sie mit der Ordnung einer wirklichen
+Weltanschauung wieder ans Licht zu bringen, auf einmal ist aber noch
+Niederer dagewesen mit dem Papierberg seiner Wissenschaft: Weißt du
+noch, kichert er und malt ihr mit dem Finger einen Vogel auf die Hand,
+wie mich der Henning aus Preußen neulich nach der Stelle in meiner
+Lenzburger Rede fragte, aus der Niederer ein gedrucktes Buch gemacht
+hat? Es wäre mir auch zu tiefsinnig, was ich da gedacht hätte, sagte
+ich: er müsse Niederer fragen!</p>
+
+<p>Als aber Anna schon wieder in Ifferten ist und er noch immer geschwächt
+von seiner Krankheit daliegt, bleibt der mühsame Weg von dem
+Appenzeller Vogel bis zur Wortposaune der Lenzburger Rede der Strich,
+an dem er den Gang seiner Absichten auf der Bettdecke abtasten kann:
+Es geht schon arg über den Rand damit, sagt er kopfschüttelnd, und
+macht sich fast ein Spiel daraus, wie alles andre danach, der Professor
+Haller in<span class="pagenum" id="Seite_360">[S. 360]</span> den Gelehrten Anzeigen und der Chorherr Bremi mit den drei
+Dutzend Zeitungsfragen samt den Niedererschen Antwortschriften auf den
+Boden purzelt, wo sie das Turnier in ihrer eigenen Welt, nicht in der
+seinen abmachen.</p>
+
+<p>Endlich nach fast vier Monaten kann ihn Anna im Wagen wieder holen; er
+möchte — wie er wehmütig scherzt — den Umweg über Ifferten garnicht
+mehr machen, da es über Burgdorf näher nach dem Birrfeld wäre. Und bei
+Cossonay muß ihn der Kutscher ein Stück gegen den Berg hinauf fahren,
+damit er ihr die Stelle seiner Rettung unter den Pferden zeigen kann.
+Es ist seit Januar Anfang Mai geworden, und die sonnige Luft hat ihn
+heiter gemacht; aber wie sie nachher durch das Sumpftal der Orbe
+hinunter fahren, fängt er bitterlich an zu weinen. Er hat an das Glück
+der Ruhe damals gedacht, und wie anders dies jetzt ist, in das er
+hinein fährt: Wo ist mein Jungbrunnen geblieben? klagt er unaufhörlich,
+sodaß Anna, die nicht an den Boden seiner Trauer gelangen kann, schon
+bitter zweifelt, ob die Nadel seinem Kopf nicht doch geschadet habe.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>94.</h3>
+</div>
+
+<p>In den selben Maitagen, da Heinrich Pestalozzi so weichen Herzens
+von der überstandenen Krankheit nach Ifferten zurück fährt, reist
+Bonaparte seinem Heer nach, den Feldzug gegen Rußland zu wagen. Noch
+einmal versammelt er in Dresden die deutschen Könige und Fürsten als
+seine Vasallen um sich, bevor er dem Winter in den russischen Steppen
+entgegen zieht. Das Gepränge<span class="pagenum" id="Seite_361">[S. 361]</span> seines Ausmarsches, den auch Tausende
+von Schweizersöhnen mitmarschieren, ist kaum in die Einöde verklungen,
+und eben legt der erste Winterschnee dem Jurarücken seine Schutzdecke
+auf, als der Brand von Moskau sein blutiges Nordlicht leuchten läßt.
+Noch sind es Wenige, die den Schein zu deuten wagen; aber bald fliegen
+die Gerüchte an den Landstraßen hin, daß der Weltherrscher in einem
+Schlitten allein durch Deutschland zurück geflohen sei, indessen die
+Leichensaat der großen Armee in Rußland geblieben wäre. Während sich
+eine dumpfe Erwartung über die Menschen legt, fängt bei den preußischen
+Lehrern, die noch in Ifferten sind, die Unruhe an zu brennen;
+kaum fallen die ersten Eiszapfen von den Dachrändern, als sie dem
+Befreiungskrieg ihres Vaterlands zufliegen.</p>
+
+<p>Wenn der Krieg auch fürs erste der Schweiz fern bleibt, bekommt ihn die
+Anstalt doch zu spüren; schon mit den preußischen Lehrern sind Zöglinge
+heimgereist, und auch sonst holen besorgte Eltern ihre Kinder. Mit dem
+Frühjahr schmelzen die Einnahmen bedenklich hin, während die Ausgaben,
+von den Niedererschen Ideen gedüngt, üppig ins Kraut schießen. Es geht
+schon wieder wie mit der Fabrik im Neuhof, Heinrich Pestalozzi in
+seiner Bedrängnis stopft die kleinen Löcher aus einem großen Loch, und
+noch einmal muß Anna Schultheß aus ihrem Ererbten sechstausend Franken
+hergeben, den Bankrott abzuwehren. Sie ist fünfundsiebzigjährig, als
+sie den Pakt unterzeichnet, und ihr Enkel steht schon als Jüngling
+dabei; ihm den Rest des Vermögens zu sichern, wird ein Vertrag gemacht,
+der sie nun selber auch auf<span class="pagenum" id="Seite_362">[S. 362]</span> den Altenteil setzt, sodaß sie beide
+nichts mehr besitzen, als daß sie — wie die Lehrer auch — ihre
+Unterkunft in der Anstalt haben: Jetzt kann ich nicht mehr das Senkblei
+deiner Stürme sein, sagt sie zu ihm, jetzt bin ich leicht wie du!</p>
+
+<p>Während er so das Schneckenhaus seiner Gründung mühsam weiterschleppt,
+ist die Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen, und wie Bonaparte
+früher die Völkerscharen Europas gegen seine Feinde geführt hat, so
+drängen sie nun gegen ihn. Ehe die Schweiz sich dessen versieht, steht
+die Hauptarmee der Verbündeten in Basel, bereit, nach Frankreich
+einzudringen; die Tagsatzung beschließt eine vorsichtige Neutralität,
+aber nun gibt es zwischen Für und Wider keine Möglichkeit mehr, und
+hundertdreißigtausend Österreicher rücken ungefragt ins Schweizerland,
+den Heerweg zwischen Jura und den Alpen nach Genf zu nehmen. Ifferten
+liegt mitten in der Bahn, und als schon Tausende durchgerückt sind,
+reitet eines Tages ein Offizier mit dem Befehl in die Stadt, das Schloß
+für ein Lazarett zu räumen! Kommt mir alles wieder? denkt Heinrich
+Pestalozzi; aber nun ist er nicht mehr der hilflose Waisenvater in
+Stans, und als die Stadt zwei Abgeordnete nach Basel ins Hauptquartier
+schickt, das Übel noch abzuwenden, schließt er sich trotz seiner
+neunundsechzig Jahre den beiden an.</p>
+
+<p>Die modischen Stadtherren sind nicht erfreut, als ihnen der ungekämmte
+Sonderling auch noch in den Wagen gepackt wird, und wo sie Rast machen
+unterwegs, verleugnen sie ihn vorsichtig, um nicht für seinesgleichen
+zu gelten. Aber als sie nach Basel kommen, wo<span class="pagenum" id="Seite_363">[S. 363]</span> es von Federbüschen
+und goldbestickten Uniformen wimmelt und auf den Straßen die Karossen
+der Fürstlichkeiten drängen, sind die Türen der Heeresämter nicht
+so offen wie unterwegs die Gasthöfe; der Weltkrieg hat keine Zeit
+für die Wünsche kleiner Landstädte, und selbst die Abgeordneten der
+Tagsatzung zucken mit den Achseln; die Stadtherren von Ifferten müßten
+ungehört abfahren, wenn ihnen nicht der mißachtete Greis die Türen und
+Ohren aufmachte. Wie sie sich wieder nach ihm umsehen, ist er eine
+vielbegehrte Berühmtheit, und schon am dritten Tag dürfen sie ihm zur
+Audienz beim russischen Kaiser folgen.</p>
+
+<p>Der empfängt den runzeligen Alten inmitten seiner Würdenträger wie
+einen Zauberer, und schon sein erstes Wort entledigt die Stadtherren
+von Ifferten aller Sorgen. Nur wurmt es sie, daß Heinrich Pestalozzi
+sich nicht sogleich — wie es schicklich wäre — mit ehrfürchtigem
+Dank zurückzieht, sondern den Herrscher aller Russen wie ihresgleichen
+ins Gespräch nimmt; obwohl sie nicht hören, was er ihm alles sagt,
+weil der Kaiser schrittweise vor seiner Lebhaftigkeit zurückweicht,
+zittern sie um seiner Zudringlichkeit willen, und als er ihn nach
+einer Viertelstunde bis an die gegenseitige Tür gedrängt hat und
+immer noch nicht nachgibt, sogar die Hand hebt, um den Kaiser nach
+seiner Gewohnheit am Knopf zu fassen, möchten sie ihn an den Beinen
+hinausziehen. Doch scheint der Kaiser anderer Ansicht zu sein; sie
+wollen es nicht glauben, aber sie sehen es mit ihren Augen, wie er den
+alten Mann, dem im Eifer sein Strumpf gerutscht ist, gerührt in die
+Arme schließt,<span class="pagenum" id="Seite_364">[S. 364]</span> bevor er sich wieder zu den Staatsgeschäften seines
+Gefolges wendet.</p>
+
+<p>Bei der Rückfahrt möchten die beiden seinem Alter diensteifrig zu Hilfe
+sein; aber nun scheint dem Greis die letzte Vernunft zu entfahren: er
+fragt sie selber aus seinem Traum, ob alles in Ordnung sei? Heinrich
+Pestalozzi sind in diesen Basler Tagen andere Dinge wichtig geworden
+als Ifferten und seine Anstalt. Wohl hat er dem Kaiser der Russen
+vieles gesagt, wie der Mensch durch einen naturgemäßen Bildungsgang
+in die Menschheit eingeführt werden müsse; aber er fühlt, es müßten
+Monate, nicht Stunden der Predigt sein, um seiner Botschaft wirklich
+solch ein Herz zu wecken: Es sind nicht die Menschendinge, die den
+Mächtigen ans Herz gehen, sagt er zu den Stadtherren, die garnicht
+merken, daß er mit sich selber spricht, es gilt nicht die Menschheit
+und nicht einmal ihr Volk, es ist nur ihre Macht. Aber diese Macht
+allein kann nichts als Heere unterhalten und Länder mit Krieg
+überziehen; wenn danach der Friede kommt, ist sie wie eine Schelle
+ohne Klöppel. Ich wüßte Einem, der mir folgte, eine Macht in Europa zu
+gründen, die mächtiger als Bonaparte wäre; und ich sage euch, wer es am
+ersten mit mir hält, dem wird die Herrschaft in Europa zufallen!</p>
+
+<p>Er hat die beiden Stadtherren aus Ifferten nun wirklich an den
+Rockknöpfen gepackt, und obwohl sein Menschengeist kühner als jemals
+auf Abenteuer in die Zukunft reitet, murmelt er nur Worte, die sie
+nicht verstehen. Darum sind sie froh, als er endlich schweigt und sie
+losläßt; denn ob sie noch immer über die Geltung<span class="pagenum" id="Seite_365">[S. 365]</span> dieses unscheinbaren
+Greises betroffen sind, ihn in die Arme zu schließen vermöchten sie
+nicht, trotzdem es ihnen ein Kaiser vormachte.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>95.</h3>
+</div>
+
+<p>So zufällig der Anlaß dieser Reise nach Basel für Heinrich Pestalozzi
+gewesen ist, so bedeutend wird ihre Folge. Er fährt den Stadtherren
+zuliebe über Bern zurück, wo sie einen Tag lang bleiben wollen, noch
+ohne Ahnung, daß dies gefährlich sein könnte. Schon zwei Tage vor
+Weihnachten haben die Berner die napoleonische Verfassung abgeschafft
+und sich wieder nach der ehrwürdigen Ordnung der Väter eingerichtet,
+die ihnen von neuem die Zwingherrschaft über den Aargau und das
+Waadtland geben soll. Sie wissen, daß sie beim Fürsten Metternich für
+solche Gelüste Rückhalt finden und haben schon den österreichischen
+Oberst Bubna beauftragt, im Durchrücken die verhaßte liberale Regierung
+in Lausanne einzustecken. So ist jeder Waadtländer in Bern wieder ein
+Empörer wie zu Davels Zeiten, und als Heinrich Pestalozzi sich in der
+Frühe nach seinen Ratsherren umsieht, sind sie noch am Abend eilig
+wieder abgefahren.</p>
+
+<p>Es wird zwar noch nicht mit Musketen geschossen, und er kommt
+ungefährdet aus den finsteren Trutzgassen der alten Bärenstadt wieder
+hinaus; aber seine Schweizer Gedanken haben eine böse Erschütterung
+erfahren. Nun erst sieht er, was dieser Siegesmarsch der Verbündeten
+bedeutet: er soll der europäischen Welt die letzten zwanzig Jahre wie
+ein Geschwür ausschneiden, und<span class="pagenum" id="Seite_366">[S. 366]</span> dies begreift er sofort, daß seine
+Menschenbildung mit zu dem Geschwür gehört. Zwar wird er auf den Schutz
+des russischen Kaisers und der preußischen Regierung rechnen können,
+aber sein Werk wird in einer so kurierten Welt keine Lebensluft mehr
+haben. Er ist nun selber die Schelle ohne Klöppel, und so lustig er
+über die vorsichtigen Ratsherren gespottet hat: nun kommt er wie sie
+mit einem Gefühl der Gefahr in Ifferten an. Die ersten Zöglinge, denen
+er vor dem Ort begegnet — es sind die goldäugigen Zwillinge eines
+Pfarrers aus dem Traverser Tal — holt er zu sich in den Wagen und hält
+sie fest, als ob schon die Landreiter kämen.</p>
+
+<p>Er findet Anna und die geborene Fröhlich in einer Aufregung, die der
+seinen gewachsen ist: Niederer, den jedermann noch im Verhältnis
+mit der Segesser glaubte, hat sich mit Rosette Kasthofer verlobt,
+der Heinrich Pestalozzi im vergangenen November das Töchterhaus als
+Eigentum abgetreten hat, was den Frauen schon damals nicht recht
+gewesen ist. Auch ihm kommt die Nachricht unerwartet, aber länger als
+eine Minute vermag er nichts Ärgerliches daran zu finden: Wir müssen
+nun alle zusammen halten, sagt er aus seiner andern Welt, und erst als
+Anna, die schon Wunderdinge aus Basel gehört hat, ihn verdutzt fragt,
+ob es vielleicht doch anders gewesen sei, als das Freudengespräch durch
+Ifferten gehe: berichtet er von seiner Audienz, darüber sie für diesen
+Abend doch noch fröhlich miteinander sind.</p>
+
+<p>Am andern Morgen aber ist der Spuk wieder da und böser, als er ihn von
+Bern mitbrachte. So muß Noah zumute gewesen sein, denkt er, als er die
+Arche baute: und<span class="pagenum" id="Seite_367">[S. 367]</span> meine vier dicken Türme können nicht schwimmen, auch
+ist es gar die Zwingburg des Zähringers selber, darin ich sitze! Ich
+muß mein Testament schreiben, sagt er zu Anna, aber sie merkt bald,
+daß es nicht ihrem Enkel Gottlieb gilt: »An die Unschuld, den Ernst
+und den Edelmut meines Zeitalters und meines Vaterlandes« steht oben
+darüber, und wenn er jemals Worte für seine innere Beredtsamkeit fand,
+so gelingt es ihm diesmal. Er hat in Bern und schon in Basel sagen
+hören, daß es die alte Kultur herzustellen gelte: aber nun leuchtet
+er die gerühmte Zeit der Väter mit dem Lichtschein der Menschlichkeit
+ab und zeigt, daß ihre hitzigen Preiser nur den äußeren Glanz des
+gesellschaftlichen Lebens meinen. Kultur aber ist nur da — dies
+setzt er scharf ins Licht — wo das Gewissen des einzelnen sich zur
+sittlichen Persönlichkeit durchfindet und wo die Gesellschaft zur
+Gemeinschaft solcher Persönlichkeiten wird. Darum kann Kultur nicht
+durch eine Veränderung der äußeren Zustände herbeigeführt werden,
+ihr Boden ist allein der Mensch: Laßt uns Menschen werden, damit wir
+Bürger, damit wir Staaten werden können!</p>
+
+<p>Es schwinden ihm Wochen und Monate über dieser Schrift, und die
+Täglichkeit, so peinlich und verworren sie ihn bedrängt, wird eine
+ferne Unwirklichkeit. Mancherlei Freunde wollen der bankrotten Anstalt
+mit Neuerungen in der Verwaltung aufhelfen, und Anna kommt von einer
+Reise nach Zürich nicht zurück, weil sie der Besserung nicht im Wege
+stehen will; Niederer heiratet die Kasthofer und geht für Monate
+mit ihr auf die Hochzeitsreise: es wird abgerüstet, das ist das
+einzige,<span class="pagenum" id="Seite_368">[S. 368]</span> was er davon wahrnimmt, und das treibt ihn wieder in die
+Gedanken seiner Schrift zurück. Es geht an den Grund seiner ganzen
+Lebensarbeit, es geht an die Wurzeln der europäischen Menschheit,
+da ist das zufällige Schicksal seiner Anstalt nichts mehr als die
+verspritzte Welle eines rauschenden Stromes. Als die siegreichen
+Mächte auf dem Wiener Kongreß das Schicksal Europas bestimmen wollen,
+ist der Freiherr von Stein der erste, dem er die Schrift übersendet;
+ganz ahnungslos, daß der als Triebfeder der deutschen Befreiung schon
+wieder ausgeschaltet ist, weil es nur noch die gierige Verteilung der
+Länderbeute gilt.</p>
+
+<p>Es ist zum letzten Mal, daß der Menschengeist in Heinrich Pestalozzi
+auf ein europäisches Abenteuer reitet; seine Seele sitzt unterdessen
+in den Nöten seiner Anstalt zu Ifferten und wartet, wer ihr daraus zum
+Frieden helfe. Die Reise nach Basel hat nicht das benachbarte Grandson
+von den Lazaretten freihalten können; von dort aus verbreitet sich das
+Nervenfieber der österreichischen Soldaten doch nach Ifferten, und
+als der Herbstwind die gelben Blätter auf den Weg zu treiben beginnt,
+trifft es die geborene Fröhlich. Im siebenundvierzigsten Jahr ihres
+schaffnerischen Lebens legt ihr der Tod die Hände ineinander, die seit
+dreizehn Jahren das Hauswesen der Anstalt gehalten haben. Als sie den
+Sarg hinaus bringen, trägt Heinrich Pestalozzi keine Hoffnung mehr
+hinterher: Anna ist von Zürich auf den Neuhof gegangen; er möchte vom
+Kirchhof zu ihr laufen, statt in das verwahrloste Schloß zurück zu
+gehen, wo fremde Hände sein Geld und seine Worte ausgeben.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_369">[S. 369]</span></p>
+
+<p>In dieser Zeit nimmt Niederer sein Herz in die Hand; er hat schon
+auf der Hochzeitsreise seinen Gegner Schmid in Bregenz besucht,
+den alten Groll auszulöschen; nun setzt er viele Briefe daran, dem
+Trotzigen die Rückkehr abzubitten, weil er allein mit dem Ruf seiner
+Lehr- und Regierfähigkeit die Anstalt retten könne. Und während
+die eifersüchtig streitenden Mächte auf dem Wiener Kongreß wie
+eine gestörte Spatzenschar auffliegen, weil Bonaparte noch einmal
+das Glück der Weltgeschichte versucht, kommen kurz nacheinander
+zwei Wagen nach Ifferten gefahren, die Heinrich Pestalozzi seine
+siebenundsiebzigjährige Frau Anna mit der hart und grau gewordenen
+Lisabeth und den Tiroler Schmid wiederbringen. Beide werden auch von
+den andern jubelnd begrüßt, und Pfingsten ist noch nicht im Land, da
+zeigen Stundenzeiger und Uhrwerk wieder den festen Gang des Uhrwerks
+an. Das Geld regnet nicht noch einmal zum Dach herein, aber es fliegt
+auch nicht mehr hinaus, weil eiserne Sorgfalt es behütet.</p>
+
+<p>Heinrich Pestalozzi hat schon nicht mehr gedacht, noch einmal sorgenlos
+unter den hoben Seebäumen spazieren zu können; aber so sehr er die
+Erlösung aus den täglichen Nöten fühlt, die Landschaft ist taub für
+ihn geworden, und es kann ihm begegnen, wenn er Anna zuliebe vor dem
+Gelärm der Zöglinge beiseite geht, daß er sich selber erleichtert
+fühlt, das Gewühl ihrer Stimmen nicht mehr zu hören: er hat Sehnsucht
+nach der harten Stille des Birrfeldes, die Anstalt ist ihm verleidet,
+und er möchte sein Waisenhaus haben. Mit all seinem Ruhm — sogar den
+Wladimirorden hat ihm<span class="pagenum" id="Seite_370">[S. 370]</span> der russische Kaiser gesandt — mit dem fremden
+Zulauf in seine Anstalt kommt er sich vor wie ein Wagen, der mit den
+Achsen nach oben auf der Wiese steht und seine schnurrenden Räder
+nur noch als Spielzeug der Kinder hat: Solange ich nicht mit einem
+Armenkinderhaus gezeigt habe, wie der Armut aus sich selber geholfen
+werden kann, hat die Methode nur der Schule, nicht dem Leben gedient,
+und mein Werk ist nur halb getan! sagt er zu Schmid. Aber der schüttelt
+eisern den Kopf: Ehe er nicht ohne Verschuldung auf den Neuhof zurück
+könne, ließe er ihn nicht fort! Er brauche vielleicht nicht länger als
+ein Jahr, aber das müsse er aushalten!</p>
+
+<p>Wenn Heinrich Pestalozzi über solche Worte bei Anna klagt, obwohl
+er sich der Liebe darin freut, legt sie wohl seufzend ihr Buch aus
+der Hand und sieht ihn über die Brille wie ein Meerwunder an, daß er
+noch mit grauen Haaren solch ein Kind seiner Unrast sei. Sie liest
+nun ziemlich den ganzen Tag und spricht von den Dingen und Gestalten
+ihrer Bücher, als ob sie die Wirklichkeit wären. Von ihrer letzten
+Anwesenheit im Neuhof hat sie das Nibelungenlied mitgebracht, wie es
+der Stadttrompeterssohn und Patriot Müller aus der Gerwe zum ersten Mal
+in Druck gab; daraus ist es gekommen, daß sie Schmid den ingrimmigen
+aber treuen Hagen von Tronje nennt.</p>
+
+<p>Er mag das grausam heidnische Buch nicht, wie er es nennt, und
+er schmollt oft in einen Greisenzank, wenn sie schon wieder über
+Kriemhildens Klage weint; aber es tut ihm wohl wie alter Wein, daß sie
+so geruhsam am Fenster sitzt und zum wenigsten sein Werk in<span class="pagenum" id="Seite_371">[S. 371]</span> Ifferten
+nun als gesichert ansieht. Wenn ihn selber die Unruhe quält, schlüpft
+er gern für einige Minuten in das Behagen ihres beruhigten Alters ein;
+er weiß, daß sie einen gepreßten Klatschmohn im Buch liegen hat, den
+sie im Sommer aus dem Schloßgarten anbrachte, und das verblaßte Rot
+davon braucht nur aus den Blättern zu leuchten, so möchte er schnurren
+wie ein Kater in der Ofenwärme.</p>
+
+<p>So glüht ihnen das Jahr still zu Ende, das unerwartet das letzte ihres
+Lebens ist. Anfangs Dezember wird sie von heftigen Brustschmerzen
+überfallen, die sich nach einer fiebrigen Nacht in Schlafsucht lösen.
+Am dritten Nachmittag wacht sie auf und streicht ihr dünnes Haar
+zurecht wie ein Mädchen, das sich verschlafen hat: Siegfried hat
+wie Christus keinen Sohn gehabt, sagt sie aus ihrem Traum und muß
+noch lächelnd weinen, weil sie an ihren Jakob denkt. Als sie dann
+kopfschüttelnd über ihre Verwirrung aufgestanden ist und auf dem Sofa
+sitzt, hebt sie die beiden Hände vor die Brust und sieht ihn aus einer
+tiefen Verwunderung an: Wie seltsam ist dies, Pestalozzi, in Schlaf
+zu fallen und wieder zu erwachen! Er hört nicht recht darauf, weil er
+ihr die Schuhe holen will; auch fällt ihm ein, daß nun bald wieder
+Weihnachten und Neujahr ist, wo er in der Kapelle sein Haus ansprechen
+muß, und wie er diesmal eher ein Brot, aus Gottes Korn gebacken,
+mitbringen könne als einen Sarg! Weil solche Einfälle in ihm ihr
+eigenwilliges Leben haben, ist er gleich eifrig dabei, Gedanken daran
+zu schnüren, indessen sie — nicht anders glaubt er — die Hände sinken
+läßt, noch einmal in<span class="pagenum" id="Seite_372">[S. 372]</span> ihren Schlaf zu fallen. Aber wie es darüber
+dunkel in der Stube wird und er die Messinglampe holt, die auch den Weg
+vom Neuhof hierher gefunden hat, sieht er, daß sie zu dreien im Zimmer
+gewesen sind, von denen zwei ihm unbemerkt weggingen.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>96.</h3>
+</div>
+
+<p>Als Anna Schultheß begraben wird, die für Heinrich Pestalozzi durch
+achtundvierzig Jahre das Senkblei seiner Stürme gewesen ist, gibt
+es eine Trauerfeier für Ifferten, als ob wirklich die Schloßherrin
+gestorben wäre. Eilfertige Liebe hat bei der Regierung in Lausanne
+bewirkt, daß ihr Sarg im Schloßgarten beigesetzt werden darf, unter
+zwei alten Nußbäumen, die sie gern hatte; und für Heinrich Pestalozzi
+ist schon der Platz daneben bereit. Irgendwer heftet ihm den
+Wladimirorden an den Rock, und auch sonst ist soviel Sorgfalt um die
+feierliche Stimmung des Tages bemüht, daß er sich als die willenlose
+Hauptfigur dieser Handlung umher geschoben fühlt und erlöst ist,
+endlich aus dem Schwall von Glockengeläut und feierlichen Mienen in
+seine Stube zu können. Er hat noch immer für das Frühjahr heimliche
+Pläne mit dem Neuhof gehabt, und es sollte eine gemeinsame Heimkehr
+aus der welschen Fremde sein. Nun hat er keine Heimat mehr; denn Anna
+liegt hier in der fremden Erde und wartet auf ihn. Ob seine ruhelosen
+Gedanken auf den Wegen der Vergangenheit mit Vorwürfen und Klagen
+seiner Unbeständigkeit nach ihr suchen, diese Qual steht unbeweglich in
+ihm: Nun bin ich schiffbrüchig, klagt<span class="pagenum" id="Seite_373">[S. 373]</span> er, und niemand kann mir wieder
+ans Land zurück helfen!</p>
+
+<p>So erlebt er seinen siebzigsten Geburtstag einsam und düster, und auch
+die Zustände in der Anstalt sind nicht mehr so, daß sie ihn aufheitern
+könnten. Als ob er nur den Tod der Hausmutter abgewartet hätte, ist
+der Lehrerstreit heftiger als je ausgebrochen; die Kränze liegen noch
+auf ihrem Grabhügel, da sind die Hände, die sie banden, schon wieder
+in Feindschaft geballt. Sie haben den Tiroler gerufen, daß er Ordnung
+in die Verwahrlosung brächte, nun er Unmenschliches leistet, die
+Anstalt zu retten, nehmen sie Anstoß an seinen Mitteln: Obwohl nur noch
+achtundsiebzig Zöglinge da waren, als er kam, lebten zweiundzwanzig
+Lehrer von den Einnahmen; er kündigte den Entbehrlichen und kürzte das
+Gehalt der andern, er sorgte für einen Stundenplan, der die Lehrkräfte
+ausnützte, und sah unbeugsam darauf, daß er eingehalten wurde; er
+richtete eine Buchführung ein, darin kein Rappen seitwärts ging, und
+räumte mit den Niedererschen Verlagsgeschäften, der Buchhandlung und
+Druckerei auf. Auch kann ihm niemand nachsagen, daß er den eigenen
+Vorteil suche, weil er am ersten Tag seine mühsamen Ersparnisse ohne
+Schein und Zins in das Loch der Verschuldung hineingeworfen hat. So ist
+er in Wahrheit der unabänderliche Stundenschlag, der alles bedrängt,
+was faul und sorglos ist.</p>
+
+<p>Der, den es am ärgsten trifft, ist Niederer; er war die rechte Hand
+und soll nun gehorchen, wo die linke kommandiert. Mehr als je hält
+er sich für den Herold der Methode und verachtet den unwissenden
+Rechenmeister:<span class="pagenum" id="Seite_374">[S. 374]</span> so wird er die Brandstelle für die Verstimmung der
+andern. Verbittert durch den Undank, und daß sie ihm mit ihrem Streit
+diese Zeit entweihen, stellt sich Heinrich Pestalozzi selber vor ihren
+Groll, Schmid zu schützen; um zu erfahren, daß sich seit den Tagen
+Steinbrüchels nichts für ihn geändert hat: kein Lehrer damals hat ihm
+seine Mängel grausamer vorgehalten, als es nun die eigenen Gehilfen
+tun, und namentlich Niederer führt eine Sprache, als ob er nur das
+verunreinigte Gefäß von Ideen wäre, die in seinem Feuer viel reiner und
+mächtiger brennten. Ach, daß ich einmal gerade und einfach meine Straße
+gehen könnte, klagt Heinrich Pestalozzi, statt immer auf die Folter
+meiner Unfähigkeit gespannt zu sein!</p>
+
+<p>Darüber wird es Pfingsten, und die Konfirmanden der Anstalt sollen
+durch Niederer in die Christengemeinschaft aufgenommen werden; um
+der besonderen Feierlichkeit willen sind auch viele Einwohner in der
+Schloßkapelle, als er die Kanzel besteigt. Vorher haben die Zöglinge
+eine Kantate aufgeführt, und wie draußen im jungen Grün ist in den
+Herzen drinnen die Stimmung des Festes, das so seltsam dem Geist in der
+Menschheit gewidmet ist, dem Heiligen Geist, der nach dem apostolischen
+Glaubensbekenntnis sogar gleich dem Vater und Sohn als göttlich verehrt
+wird. Das merkwürdige Mädchenwort seiner sterbenden Frau von Siegfried
+und Christus ist Heinrich Pestalozzi noch nicht so aufgeblüht wie an
+diesem Pfingstmorgen, wo es ihm wunderlich an die Schläfen klopft,
+um wieviel heller und siegfriedhafter die Gestalt Christi in dieser
+Erscheinung geworden<span class="pagenum" id="Seite_375">[S. 375]</span> ist als in seinem ganzen Leben von Bethlehem
+bis Golgatha. Der Geist macht lebendig, sagt er glückselig vor sich
+hin, indessen der Brustton Niederers mit wahren Wortschauern über
+die Versammlung regnet. Und merkt erst, daß etwas geschieht, als die
+Worte, die eben noch so rauschend flossen, gehackt und heiser in die
+Stille fallen, die sich ihnen erschrocken entgegenstellt. Und auch
+dann muß er seine verstörte Seele lange an der Schulter rütteln, daß
+es Wirklichkeit sei, wie Niederer sich auf der Kanzel mit hadernden
+Worten von ihm lossagt und ihm am Pfingstfest vor der Gemeinde sein Amt
+hinwirft.</p>
+
+<p>Der Zorn faßt ihn augenblicklich, und er hört seine Löwenstimme
+durch den Raum schallen, ihm den Frevel zu verweisen, bevor er die
+Worte bedenken kann. Der rote Niederer bringt danach seine Rede
+zu Ende und spricht auch das Gebet zum Schluß wie sonst; es ist
+Heinrich Pestalozzi, als müsse ein Wasser einbrechen und sie alle
+hinausschwemmen, die statt einer Pfingsterbauung nur die Häßlichkeit
+dieser Zänkerei in der Seele haben. Er spricht mit keinem, als sie
+hinausgehen, senkt seine Augen vor den Zöglingen und flüchtet in sein
+Zimmer wie ein Gerichteter: Es ist mein Haus, in dem das geschah, und
+es ist mein Werk, das zu diesem Ende zielte!</p>
+
+<p>Andern Tags erhält er von Niederer einen Brief; er zittert, daß eine
+Abbitte des Frevels darin sein möchte; als er ihn öffnet, ist es eine
+Aufrechnung seines Stundengeldes. Unter allen Mißlichkeiten seiner
+Lebenserfahrung ist ihm keine so verhaßt wie die, immer<span class="pagenum" id="Seite_376">[S. 376]</span> wieder an
+den Punkt zu kommen, wo die menschlichen Verhältnisse mit Franken
+und Rappen bezahlt werden. Er fürchtet, daß der Streit hierin noch
+häßlicher auslaufen möchte, schickt ihm am selben Tag das Geld und
+zugleich für die geborene Kasthofer eine Generalquittung, daß er auf
+alle Ansprüche aus dem Mädchenheim verzichte, sich aber bereit erkläre,
+was sie noch etwa zu fordern habe, als gültig anzunehmen und zu
+bezahlen. Nur endlich fort in eine reinliche Welt, fleht er, als er die
+Quittung fortschickt; und die Gewißheit, zum wenigsten in Geldsachen
+durch das Ordnungswerk Schmids nicht mehr unfähig zu sein, gibt dem
+Abschied eine grimmige Tröstung bei.</p>
+
+<p>Unterdessen hat der Austritt Niederers dessen Freundschaft mitgerissen;
+in den nächsten Tagen kündigen ihm andere Lehrer den Dienst, sodaß er
+zum guten Teil mit Schmid allein in der Anstalt bleibt, die dadurch in
+der Wurzel angeschnitten wird. Und als er sich durch diese Kündigung
+doch wieder in das Elend des Streites zurückgeworfen sieht, den er mit
+der Quittung aus dem Haus senden wollte; kommt ihm das Papier selber
+höhnisch zurück. Niederer und seine Gattin erkennen die Quittung nicht
+an; sie glauben, selber viel höhere Forderungen an ihn zu haben, deren
+er sich dadurch mit einer böswilligen Unterstellung entledigen wolle,
+und melden den Streit beim Friedensrichter an.</p>
+
+<p>Es ist schon dämmerig, als er diese Nachricht erhält in Worten,
+die ihn als einen Satan von Bosheit und hinterlistiger Berechnung
+hinstellen. Und nun erst erlebt er, wie die äußere Ruhe dieser Tage
+eine Selbsttäuschung<span class="pagenum" id="Seite_377">[S. 377]</span> gewesen ist, wie das Erlebnis in der Kirche noch
+garnicht auf den Grund seiner Seele gekommen war: jetzt schlägt es den
+Bodensatz seiner Verbitterung auf; daß er meint, in Verzweiflung und
+Galle ausfließen zu müssen. Warum lebe ich noch! jammert er und irrt
+hinaus in den Abend, um aus der Welt seiner Unfähigkeit fort zu laufen.
+Die Sonne des Frühsommertages hat nicht alle Helligkeit mitnehmen
+können hinter die Juraberge; nur unter den hohen Bäumen hat der Abend
+seine Schatten eingesetzt, über dem See und auf den Wiesen an seinem
+Ufer liegt das vergessene Licht bis hinauf in den unwirklich hellen
+Himmel: Es ist der Dämmerungsspuk meines übriggebliebenen Daseins,
+fühlt er, indem er schwer gegen das aufrauschende Wasser vor seinen
+Füßen angeht, es will nicht Nacht werden und ist doch kein Tag mehr!</p>
+
+<p>Als es Mitternacht schlägt, findet er sich in nassen Kleidern unter den
+Nußbäumen im Schloßgarten wieder. Sie haben ihr einen gemeißelten Stein
+aufs Grab gesetzt und auch da schon Raum gelassen für seinen Namen.
+Ach, daß ich darunter läge, weint seine verzweifelte Seele; gleich
+aber jagt sein Zorn auf, daß es der Boden seiner Feinde sei, darin er
+liegen soll. Sie haben mir schon lebendig den Grabstein aufgesetzt,
+schreit etwas in ihm, und als ob alle Feindschaft dieser Tage gegen
+ihn stände in diesem Stein, springt er ihn an und rüttelt an seiner
+Unbeweglichkeit und rast mit Wahnsinnskräften, bis er ihn wanken fühlt.
+Und obgleich Orgelstimmen in ihm aufquellen, ihn zu warnen: er vermag
+die Raserei nicht aus den Händen zu bringen,<span class="pagenum" id="Seite_378">[S. 378]</span> bis der Steinklotz sich
+hintenüberneigt und dumpf ins Erdreich schlägt. Da erst sieht er, daß
+seine Füße auf dem Grab und den zerstampften Blumen stehen; der Bann
+weicht von ihm, und mit einem wehen Aufschrei wirft er sich hin.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>97.</h3>
+</div>
+
+<p>Noch lange danach, wenn Heinrich Pestalozzi an diese Nacht denkt,
+fürchtet er, den Verstand von neuem zu verlieren, so fürchterlich
+ist seiner Seele der Einbruch sinnloser Wut noch in der Erinnerung.
+Schmid hat ihn andern Tages nach Bulet auf den Jura gebracht, wo ihn
+der Bergwind und die Stille in eine starke Kur nehmen. Soviel er kann,
+kommt Schmid abends die drei Wegstunden noch zu ihm herauf; aber er mag
+nichts mehr von Ifferten hören, fast abergläubisch ist seine Furcht,
+noch einmal in die Hölle der Feindschaft hinunter zu müssen. Ich bin
+wieder auf dem Gurnigelstein, sagt er bitter, diesmal endgültig, weil
+mich die Welt nicht brauchen kann!</p>
+
+<p>Aber Schmid hat ein Heilmittel bereit, das ihn aus der Wüste wieder zu
+den fließenden Brunnen seines Lebens bringt. Schon vor dem schlimmen
+Pfingstfest ist er nach Stuttgart zu dem Verleger Cotta gefahren, um
+einer Gesamtausgabe der Schriften willen; er hat auch einen Vertrag
+zustande gebracht, aber wie günstig dessen Bedingungen sind, zeigt sich
+nun erst, als die Vorausbestellungen anfangen, einzulaufen. Der Kaiser
+von Rußland steht mit fünftausend Rubel an der Spitze, und gegen den
+Herbst kann Heinrich Pestalozzi aus<span class="pagenum" id="Seite_379">[S. 379]</span> seinem Anteil mit einer Einnahme
+von fünfzigtausend Franken rechnen. Das ist ein Erfolg, den er auch
+in hoffnungsvollen Stunden nicht erträumte; nun kommt der Segen in
+die Entmutigung. Also bin ich den Leuten doch nur ein Buchschreiber
+geblieben, sagt er zuerst noch grollend und will auch nichts mehr von
+seinen Schriften wissen. Als er sie endlich zur Hand nimmt, in seiner
+Bergstille zu prüfen, was die bittere Erfahrung dieser Jahre daran
+geändert habe, packt ihn allmählich doch der Eifer, das Veraltete darin
+neu zu sagen. Damit wird er, sich selber unbemerkt, auf die Heerstraße
+seines Lebens zurück geführt; er sieht wieder, in wieviel Abenteuer
+er für die Befreiung der Menschheit gezogen ist, und wird Blatt für
+Blatt aufs neue begeistert für den Sinn seiner Sendung: die Treppe der
+Bildung in das Haus des Unrechts zu bauen.</p>
+
+<p>Selbst, was die Geißel seines Lebens gewesen ist, die eigene
+Unbrauchbarkeit, die er — in seiner Krankheit nichtswürdig vollendet
+— aus dem Seeboden herauf brachte in die Juraluft, hört auf, ihn zu
+lähmen: Ich sollte nicht anders sein, als ich da bin; Gott hat meine
+Seele gemacht, nicht ich; er wird wissen, warum sie solch ein unreines,
+undichtes und verbeultes Gefäß sein mußte! Vielleicht, oder gewiß, daß
+ich anders dem Menschengeist untauglich gewesen wäre, weil es doch
+soviel saubere und glatte Kannen gibt, darin nur Selbstgefälligkeit
+ist. Und darf ich wohl klagen, daß es mir übel ging, wo es meine
+Begnadung war, um der Menschheit willen aus Schuld Und Irrtum zu lernen?</p>
+
+<p>Wenn er in solchen Gedanken von der sonnigen<span class="pagenum" id="Seite_380">[S. 380]</span> Bergweide hinunter
+sieht über den See, der von hier oben betrachtet mit seinem Becken
+tief in die Berge gezwängt ist wie das Tal unterm Gurnigel, kann es
+ihm geschehen, daß ihn schon wieder ein Lächeln anfliegt, weil er das
+großmächtige Dach des Zähringer Schlosses klein wie ein Spielzeug
+sieht: Es waren nicht seine vier dicken Türme, die mich ängstigten —
+sie sind garnicht dick, ein Finger vor meinen Augen hält sie alle vier
+zu — es war der babylonische Turm meiner Erziehungsanstalten. Was
+mir nur ein Mittel sein sollte, meine Methode klar zu machen und mir
+das Geld für mein Armenkinderhaus zu bringen, das ist mir in Wahrheit
+über den Kopf gewachsen, so hoch, daß ich vom Himmel nur noch das
+Viereck über meinem Gemäuer sah. Hätte ich Waisenvater in Stans bleiben
+können, wäre meine Welt klar und einfach und übersichtlich für meinen
+Verstand geblieben. Ich hätte es schwerer gehabt, gleichviel, ich wäre
+glücklicher gewesen! Und Heinrich Pestalozzi freut sich wie ein Knabe,
+als er auf der Kuhweide in Bulet ein Wort findet, das ihm alle Qual der
+letzten Monate in einen bittersüßen Scherz umkehrt: Weil ich es leicht
+hatte, weil ich es mir zu leicht machte, nur darum bin ich unglücklich
+geworden! Und jedesmal — wie ein Sennbub wettend die Hand hinhält —
+steht hinter dem Wort und dem Gedanken sein Mut schon wieder auf beiden
+Beinen da: Topp, was gilts? Mein Leben hat noch Raum, glücklich zu
+werden!</p>
+
+<p>Als er im Herbst von seinem Berg herunter kommt, nußbraun von der
+Sonne, daß seine Augen wie zwei Porzellanschilder darin stehen — hat
+ihm Schmid in<span class="pagenum" id="Seite_381">[S. 381]</span> die Hand versprochen, daß er den Traum seiner Seele,
+sein Armenkinderhaus, sogleich versuchen darf.</p>
+
+<p>Er findet ein Gebäude dafür in dem benachbarten Clindy; denn nun hat er
+keine Fluchtgedanken mehr: meine Welt ist überall! sagt er, der sich
+mit den Einnahmen aus seinen Schriften fürstlich genug vorkommt, die
+Heimat des Werkes selbst zu wählen. Auch Gottlieb, der Enkel, der von
+den Frauen einem Gerber in die Lehre gegeben war — damit er einmal
+fester als sein Großvater im Leben stände — und der ihm zu Neujahr
+fröhlich wiederkommt, will gern hier bleiben, wo seine Mutter und die
+Großmutter begraben liegen. Ich habe meinen Jungbrunnen wieder! sagt
+Heinrich Pestalozzi, und als er in sein dreiundsiebzigstes Jahr tritt,
+liest er den Seinen zum Geburtstag eine Rede vor, die ihnen und der
+Welt ein Testament seiner befreiten Stimmung sein soll; sie schreitet
+Schritt für Schritt noch einmal die Absichten seines Lebens ab, um mit
+dem letzten in Clindy am Ziel zu sein. Gleich für den Neuhof hat er die
+Betteltrommel rühren müssen, und bis ins Alter sind ihm die Geldsorgen
+auf den Fersen geblieben: jetzt endlich einmal steht er selber als
+Stifter da, und keine Stunde in seinem Dasein ist er so stolz im Glück
+gewesen wie nun, da er die fünfzigtausend Franken als ewiges Kapital
+für seine Anstalt in Clindy stiftet.</p>
+
+<p>Es ist die Höhe seines Lebens, die er nun in der dünnen Luft seines
+Alters doch noch erreicht. Als ich auszog, war ich Einer; jetzt sind
+es Tausende in der Welt, die meinem Gedanken diese Hülfe bringen! Aus<span class="pagenum" id="Seite_382">[S. 382]</span>
+dem Einsiedler im Neuhof ist eine Gemeinde in Europa geworden; mein
+letztes Werk in Clindy soll dem Menschengeist in Europa eine andere
+Stunde der Befreiung einläuten als das Jakobinertum der Revolution!
+In Stans, wo ich meine Schulmeisterschaft begann, ist auch die Heimat
+von Winkelried, der in der Schlacht bei Sempach dem Vaterland mit
+seiner Brust eine Gasse durch die Lanzen machte: mir hat es die Brust
+zerstochen gleich ihm, aber nun ich sterben gehe, schallt Sieg um mich,
+weil ich die Gasse der Menschenbildung gebrochen habe!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>98.</h3>
+</div>
+
+<p>Es sind die Sturmtage mit jagenden Regen- und Hagelschauern, die
+das schönste Abendrot auftun und die Berge mit den Wolken in eine
+Herrlichkeit verklären. Aber leicht ist dann noch hinter den Bergen
+ein Hinterhalt der kalten Winde, die den Nachthimmel doch wieder mit
+schwarzem Sturmgewölk bedecken, als ob der Aufruhr nun in die hohen
+Lüfte gekommen wäre, indessen die Nacht sich ruhig in die Täler der
+Erde legt. So brennt die Abendröte Heinrich Pestalozzis in die letzte
+Täuschung hinein: er hat die fünfzigtausend Franken aus den Händen
+gegeben, ehe sie darin waren; erst nach drei Jahren kommt eine Rate
+von zehntausend Franken an; so kann er die Anstalt auftun, aber nicht
+halten. Niederer hat den Streit um Mein und Dein zu einem Prozeß
+gemacht. Demütigung und Trotz, Zorn und Verzweiflung, Liebe und Verrat:
+alles jagen die kalten Winde aus dem Hinterhalt der Berge in den
+Sturmhimmel der sinkenden Nacht.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_383">[S. 383]</span></p>
+
+<p>Noch sechs lange Jahre bleibt Heinrich Pestalozzi in Ifferten, und
+immer mehr entsinken die Zügel seiner zitternden Hand; wohl hält
+Schmid die Peitsche, die Pferde doch noch in den Stall zu bringen,
+aber längst schon ist es kein fröhlicher Trab mehr, den sie laufen;
+sie sind vom Weg gekommen, und ihre Beine stapfen im Moor, das die
+Räder versinken läßt, bis keine Hoffnung bleibt, den Wagen zu retten:
+sie müssen abspannen vor der Nacht und mit den Pferden den Heimweg
+nach dem einsamen Licht suchen, das aus der Ferne leuchtet. Es kommt
+vom Birrfeld, wohin sein Enkel Gottlieb mit der Schwester Schmids, als
+seiner jungen Frau, ihnen voraus gegangen ist, den dritten Hausstand im
+Neuhof zu versuchen. Am letzten Februar seines achtzigsten Jahres nimmt
+Heinrich Pestalozzi Abschied von dem Grabstein unter den Nußbäumen;
+seine Hände sind nicht mehr stark genug, daran zu rütteln, und in
+seiner Seele rast kein Zorn mehr: Ich muß heim, Anna, klagt er, du
+bleibst unter deinem gemeißelten Stein; ich armer Müdling gehe bei den
+Enkelkindern im Birrfeld eine Zuflucht suchen. Aus Reichtum und Armut
+kamen unsere Wege zusammen, nun scheidet sich der meine in die Armut
+zurück; dich lasse ich im Schloß, als dessen Herrin sie dich begruben!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>99.</h3>
+</div>
+
+<p>Der Schnee vergeht im Tauwind, und die Wasserrinnen ziehen schwarze
+Striche hindurch, als Heinrich Pestalozzi nach siebenundfünfzig Jahren
+zum zweitenmal auf das Birrfeld kommt: Es gibt keinen Punkt<span class="pagenum" id="Seite_384">[S. 384]</span> auf
+diesem meilengroßen Kirchhof, sagt er zu Schmid, darauf ich nicht eine
+Erinnerung als Grabstein stellen könnte! Aber wie sie gegen den Neuhof
+fahren, steht Lisabeth da, die fast ein halbes Jahrhundert lang seine
+Schaffnerin gewesen ist, und hängt Kinderwäsche in den Wind. So bin ich
+auch noch Urgroßvater geworden! will er sagen, aber der Boden seines
+Lebens bricht durch, daß Anna und Jakob, sein Enkel Gottlieb mit seiner
+Frau nichts mehr als die Erinnerung eines fremden Romans in seiner
+Seele sind. Ich habe mich verspätet, Babeli, ruft er und will aus dem
+Wagen zu ihr hinspringen; doch sind ihm die Beine steif von der langen
+Fahrt, und ehe er an die Gartentür kommt, steht Lisabeth statt ihrer
+vor ihm und nimmt ihn an der Hand: Wir haben erst für morgen auf Euch
+gerechnet, Herr Pestalozzi, aber die Suppe wird bald gerichtet sein! Er
+sieht ihr hartes, treues Gesicht und findet das Babeli nicht; als ob er
+sich verirrt hätte, tritt er in das Haus. Auch als sie ihm den Urenkel
+darbringen, betrachtet er das eigene Geschlecht kopfschüttelnd wie
+ein fremdes und beugt sein braunes Runzelgesicht über das Kissen, als
+ob er sich vor ihm entschuldigen müsse: Ich will hier nur den andern
+Wagen abwarten, sagt er und merkt nicht, daß seine Tränen dem Säugling
+ins Gesicht tropfen, bis der ein Geschrei anhebt und in die Kammer
+zurückgebracht wird.</p>
+
+<p>Als danach die letzten Leintücher des Winters aus dem Birrfeld
+verschwinden und die Quellen wieder klar fließen, geht er viel um den
+Neuhof herum, die Obstbäume zu suchen, die noch aus seiner Zeit stehen
+geblieben<span class="pagenum" id="Seite_385">[S. 385]</span> sind — es ist mancher ein Krüppel geworden, den er noch als
+schwankes Stämmchen kannte — da drängen sich die Grabsteine seiner
+Erinnerung am dichtesten, und je nachdem sie lustig oder ärgerlich
+sind, kann er zornig brummen oder lachen. Wenn ihn die Birrer so sehen,
+wie er mit dem Halstuchzipfel im Mund seine ewige Unterhaltung hat,
+sagen sie, er sei kindisch geworden; aber die Alten, die ihn noch
+kennen, wehren ab: so sei er immer gewesen, im Streit mit den eigenen
+Gedanken. Daß sie ihn die schwarze Pestilenz nannten, will keiner so
+recht mehr wissen; alle aber wundern sich, wie er mit seinen achtzig
+Jahren noch rüstig zu Fuß ist und weder einen Gang nach Brugg oder
+hinauf nach Brunegg anschlägt, wo die Frau Hünerwadl — ehemals seine
+Schülerin zu Ifferten — ihm noch immer wie eine Tochter anhängt.
+Wenn ihm der Berg zuviel geworden ist in der Maisonne, fordert er
+sich von ihr ein Ruhebett, ein Stündchen friedlich zu schlafen. So
+lebt er den ersten Frühling, als ob er nur auf den Tod warte und von
+der Rastlosigkeit seines langen Lebens allein noch seine schrulligen
+Gewohnheiten hätte.</p>
+
+<p>Wie dann aber die Maienblust auch im Birrfeld ihre weißen Fahnen weht
+mit Wolken und Blühebäumen und in Schinznach wieder die Helvetische
+Gesellschaft tagt, in der er vor einundfünfzig Jahren den Vortrag des
+Landvogts Tscharrner hörte, läßt er sich hinüber fahren und erscheint
+unter den Jungleuten, die da im Geist ihrer Väter und Großväter raten.
+Es lebt keiner mehr aus jenen Tagen, und so steht er erschüttert am<span class="pagenum" id="Seite_386">[S. 386]</span>
+selben Ort und in der selben Stube unter den fremden Gesichtern einer
+neuen Zeit; aber es sind wenige da, die ihn nicht kennen, und auch
+diese Wenigen schätzen es als ein Glück, den Greis zu sehen, der wie
+eine ehrwürdige Gestalt der Vorzeit in ihre Gegenwart eintritt. Und
+so erlebt Heinrich Pestalozzi noch einmal, daß es außer den Zürcher
+Humanisten und den Berner Aristokraten doch andere Schweizer gibt,
+die ihm innig anhängen; und daß es die besten seines Volkes sind, die
+sich hier treffen, weiß er aus seinen Tagen. Es wird ein Jubel ohne
+gleichen, als sie ihn zu ihrem Präsidenten wählen; und wenn er sich wie
+ein dürres Eichblatt vorkam, als er eintrat, vom Wind in ihr junges
+Grün geweht: so geht er andern Tags fort in dem Gewühl eines Baumes,
+der seine Blätter rauschen hört.</p>
+
+<p>Seit diesem Maitag drängen die Säfte noch einmal hoch, die ihm selber
+in der Vereinsamung und Enttäuschung der letzten Jahre eingetrocknet
+schienen. Seine Wurzeln haben die Heimat wiedergefunden; aber es ist
+nicht das Birrfeld, es ist das ganze Schweizerland, darin er sich
+gewachsen fühlt, indessen zu Ifferten nur das Gezänk von Lehrern und
+Zöglingen war. Nun braucht ihn niemand mehr an die noch ausstehenden
+Bände seiner Gesammelten Werke zu mahnen; eher müssen die Seinen
+aufpassen, daß er sich nicht zuviel zumute. Sie haben ihm einen
+Mann gefunden, der sein Diener und Schreiber in einem ist, einen
+ordentlichen Glarner, namens Steinmann; der hat nun manchmal bis
+tief in die Nacht zu schreiben, während Heinrich Pestalozzi nach
+der Gewohnheit seines müden Rückens<span class="pagenum" id="Seite_387">[S. 387]</span> in den Kleidern auf dem Bett
+liegt und unermüdlich das Band seiner Gedanken abwickelt. Ehe er es
+selber gedacht hat, ist er mitten darin, noch einmal die Lehre seiner
+Menschenbildung darzustellen. Er nennt es seinen Schwanengesang,
+und der treue Steinmann muß oft genug anhören, wieviel Wehmut und
+Schelmerei sich in dem Titel mischen; denn als er noch einmal mit dem
+Eifer seines Alters das Ziel und die Mittel seiner Lehre durchgegangen
+ist, als ob er behend eine Leiter hinauf liefe, die er sich Sprosse
+für Sprosse selber mit dem Schnitzmesser machen mußte: kommt er wieder
+an das Fragezeichen, das ihm seine Lebenserfahrung als Fähnchen oben
+hingesteckt hat: Warum, wenn dies alles so klar und notwendig ist,
+warum bin ich selber mit meinen Versuchen immer wieder gescheitert und
+als ein Unbrauchbarer auf den Neuhof zurückgekehrt?</p>
+
+<p>Noch einmal zieht er die Lehre aus seinem Leben, die ihm die harte
+Juraluft in Bulet gab, daß er ein unreines und verbeultes Gefäß für
+seine Lehre gewesen sei; und der selbe Bekennerdrang, der ihm den
+Sarg in die Kapelle stellte, läßt ihn nun nach den Mängeln seiner
+Natur und ihrer Erziehung suchen. Sich selber unerwartet schreibt
+er mit achtzig Jahren seine Lebensgeschichte; aber es ist weder
+Altersgeschwätzigkeit noch Eitelkeit oder Jugendwehmut darin, es wird
+die Schicksalsgeschichte seiner Fehler und Schwächen. Und er ist tapfer
+genug, vor Ifferten nicht Halt zu machen; obwohl ihm doch wieder
+Bitterkeit und Zorn einfließen, daß er oft genug an den Bodensatz
+seiner Verzweiflung kommt, läßt er nicht nach, bis er<span class="pagenum" id="Seite_388">[S. 388]</span> auch da seine
+Lehre und ihre Gültigkeit von seiner eigenen Unbrauchbarkeit gereinigt
+hat.</p>
+
+<p>Der Sommer weht ihm darüber hin wie kaum einer in seinem Leben; es wird
+Herbst und Winter, ehe er es weiß, und erst, als wieder Frühjahr um
+ihn ist — es sind nur einundachtzig Lenze, denkt er, man könnte sie
+in einer Minute zählen, wenn sie neben- statt hintereinander ständen;
+und nur, weil man immer eins durchs andere sieht, scheint es wie eine
+Unendlichkeit — kann er die Druckbogen absenden. Es ist unterdessen
+noch einmal bunt um ihn geworden; seitdem er sich so unvermutet in
+Schinznach zeigte, wissen viele, daß er wieder im Land ist; und mancher
+erinnert sich seiner als eines Ideals der eigenen Jugend, das er über
+den toten Jahren zu Ifferten fast vergessen hat, als ob Heinrich
+Pestalozzi längst gestorben wäre: nun ist er für den Aargau von den
+Toten auferstanden, und es vergeht selten ein Tag, der ihm nicht einen
+Dank zubrächte, ein Stück seines Menschengeistes, das irgendwo zum
+eigenen Leben kam und sich seines Schöpfers erinnert. Er hat sich noch
+einmal durch den Groll schreiben müssen: es waren die Reste des alten
+Mannes in mir, denkt er nun oft mit den Worten Annas; seitdem ich den
+los bin, ist mir frei und leicht.</p>
+
+<p>So geht er zum andernmal in die Helvetische Gesellschaft, diesmal
+nach Langental als ihr Präsident; und was im vergangenen Jahr eine
+Überraschung gewesen ist, fällt nun als Springbrunnen des Segens auf
+ihn zurück. Er fühlt es und sagt es auch: dies ist der Dank meines
+Landes! und alle bitteren Jahrzehnte wiegen<span class="pagenum" id="Seite_389">[S. 389]</span> nun die eine Stunde
+nicht auf, da er sich im Kreis dieser Männer und Jungmänner als eine
+Lebensquelle fühlt, die immer noch über den Rand zu fließen vermag. Er
+kommt beschüttet vom Glück und mit der seligen Wehmut heim, daß es sein
+letzter Tag in ihrem Kreis gewesen sei, weil er ein Nocheinmal nicht
+ertrüge.</p>
+
+<p>Im Spätsommer ist er immer noch rüstig genug, mit Schmid — der seit
+Ifferten ein Unsteter geworden ist und nun nach Paris will, um dort
+eine französische Ausgabe der gesammelten Werke einzurichten — bis
+Basel zu reisen; in die Stadt, die ihn, das weiß er, bis auf den Tag
+verachtet in dem Hochmut ihrer gesicherten Kultur, und die ihm doch
+zweimal durch einen ihrer Bürger zur Rettung geworden ist. Ich hätte
+nicht her kommen sollen, klagt er; es stimmt ihn wehmütig, die Gassen
+und Häuser wieder zu sehen, die einmal lebendig um sein Leben standen
+und jetzt für ihn gestorben sind. Doch läßt er sich durch Schmid
+verleiten, im Wagen nach Beuggen hinaus zu fahren, wo Zeller ein
+Waisenhaus in seinem Sinn führt. Da hat sich die Anstalt seit Tagen
+gerüstet, den Vater der Waisen zu empfangen, und die Kinder treten ihm
+mit Gesang entgegen. Er weiß beim ersten Ton: das hätte ich mir nicht
+antun dürfen, meinem versagten Herzenswunsch das Bild eines fremden
+Gelingens zu zeigen. Sie wollen ihm einen Kranz überreichen, aber er
+wehrt ihn ab und wankt vor ihnen in den Saal, wo ein Ehrenpult steht,
+daß er zu den Kindern spräche. Vorher singen sie noch einmal:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_390">[S. 390]</span></p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 1em;">»Der du von dem Himmel bist,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">alles Leid und Schmerzen stillest,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">den der doppelt elend ist,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">doppelt mit Erquickung füllest,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">ach! ich bin des Treibens müde!</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Was soll all der Schmerz und Lust!</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Süßer Friede,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">komm, ach komm in meine Brust!«</span><br>
+</p>
+
+<p>Hat ihm schon draußen der Gesang an sein tiefstes Leid gerührt,
+so reißt er ihn nun zu Tränen hin, daß er meint zu ersticken. Die
+Goetheschen Verse, die ihm schon in Lienhard und Gertrud klangen, wie
+wenn irgendwo in der Welt eine Quelle der Liebe unerschöpflich quölle,
+ergreifen ihn nun in ihrer überirdischen Schönheit; er vermag vor den
+Augen dieser Waisen, die alle mit fragender Neugier an seinem Schmerz
+hängen, nichts als aus der Tiefe seines Herzens zu schluchzen, wie
+vielleicht in seiner ersten Jugend, aber nie mehr in seinem bitter
+gesegneten Leben.</p>
+
+<p>Der Tag hat ihm in seine Heiterkeit einen Schnitt gemacht, der nicht
+wieder heilt. Obwohl sein Verstand kopfschüttelnd dabei steht, er
+vermag seiner Seele nicht Halt zu gebieten, die nun ihre Sehnsucht
+immer nach der gleichen Seite fließen läßt, bis sein Enkel Gottlieb ihm
+nachgiebt und neben dem Neuhof noch den Bau eines Armenkinderhauses
+beginnt. Er weiß es genau und sagt es sich immer wieder, daß er nicht
+mehr hineinkommt, daß es aus seinem Leben in die Nachwelt gebaut wird;
+aber er kann seine Hände nicht davon lassen, und wieder wie damals am
+Neuhof steht er unter den Bauleuten, ihnen übereifrig Handreichung<span class="pagenum" id="Seite_391">[S. 391]</span> zu
+tun, obwohl es nasser Schnee ist, darin seine Füße kalt werden.</p>
+
+<p>Unterdessen ist sein Schwanengesang erschienen; aus seiner
+Lebensgeschichte hat ihm der Verleger die Jahre in Ifferten
+herausgenommen, er hat sich aber nicht abhalten lassen, daraus eine
+besondere Schrift zu machen, die er »Meine Lebensschicksale« nannte.
+Lobendes und Tadelndes kommt ihm darüber zu, es ist ihm nicht mehr
+wichtig, seitdem er in Beuggen war: Ich bin auf dem Altenteil der
+Seele, sagt er dem Steinmann, der Menschengeist muß sehen, wie er
+allein in der Welt zurecht kommt! Aber im Spätwinter fällt ihm die
+Antwort aus Ifferten wie ein Stein auf den Tisch; Niederer hat ihn
+geworfen, jedoch nicht die Tapferkeit gehabt, dafür einzustehen, sodaß
+nun ein junger Lehrer an der Mädchenschule mit dem Namen Biber die
+Schrift decken muß. Als Heinrich Pestalozzi die Anklage liest, die ein
+ziemliches Buch ist, hat er ein Gefühl, als ob er noch immer lebe, aber
+die Welt um ihn hätte ihren Lauf eingestellt. Vor einem halben Jahr
+würde er es verwunden haben, sich aus dem eigenen Haus als Lügenvater
+und als Wahnsinniger beschimpft zu sehen; jetzt nach dem Tag in Beuggen
+trifft ihn der Dolchstich, daß er hinstürzt.</p>
+
+<p>Mitten aus seiner hartnäckigen Gesundheit haben sie nun im Neuhof einen
+Kranken zu pflegen, dem das Fieber aus der Seele in den Körper zu
+rasen scheint. Schon liegt er von Schmerzen zerrissen auf dem Bett, da
+will er noch die Antwort schreiben, und er fleht den Arzt an, ihm ein
+paar ärmliche Wochen zu schenken,<span class="pagenum" id="Seite_392">[S. 392]</span> da er vorher doch so sinnlos lange
+gelebt habe! Nicht mehr wie sonst vermag er zu diktieren, er muß die
+Feder selber führen, und es ist grausig für den getreuen Steinmann, daß
+er ihn vielmals ohne Tinte schreiben sieht: Tupfen, Herr Pestalozzi,
+tupfen! sagt er ihm immer wieder; aber die gequälte Seele sieht nicht
+mehr, was sie tut.</p>
+
+<p>Die Schmerzen werden bald so stark — es sind Harnbeschwerden — daß
+der Arzt ihn nach Brugg haben möchte, um besser nach ihm zu sehen.
+Noch liegt dicker Schnee, als sie ihn mit Kissen und Decken in einen
+Schlitten packen. Das ist mein Wagen, diesmal der letzte, sagt er zu
+seinem Urenkel, den sie ihm aus der Wiege anbringen müssen, daß er den
+fiebrigen Kopf über ihn neige; auch den andern gibt er mit tapferen
+Worten die Hand, nur als sie an den halbfertigen Mauern des Armenhauses
+vorbeifahren, hält er sich die weinenden Augen zu.</p>
+
+<p>Im Gasthaus zum Roten Haus in Brugg wartet die Sorgfalt auf ihn und
+Steinmann ist da, ihn zu pflegen. Noch eine Woche lang strömt ihm
+die besorgte Liebe seiner Freunde aus dem Aargau zu, und er ist wach
+genug, sie zu empfinden; nur der Glarner, der ihn nun besser kennt
+als irgend einer, sieht durch Tränen, wie er die Hände nicht mehr zu
+halten vermag, die Hände und die Lippen, als ob er unablässig aus einem
+niederstürzenden Schutt die Worte ausscharren müsse.</p>
+
+<p>Als es stiller damit wird, weiß der treue Diener zuerst, wer die Ruhe
+bringt; und während die andern an seiner Heiterkeit wieder auf Genesung
+zu hoffen wagen<span class="pagenum" id="Seite_393">[S. 393]</span> und mit ihm sprechen, als ob dies nur ein unpäßlicher
+Aufenthalt auf einer Poststation sei, geht Steinmann in blinder Trauer
+um seinen erwürgten Herrn beiseite. Bis mit dem Abend die Heiterkeit
+aus den Augen Heinrich Pestalozzis auch in die Sprache kommt, daß
+sie hell und frei wird wie bei einem Knaben, und endlich sich ein
+überirdisches Lächeln um die Greisenlippen legt, dem nur die Augen
+nicht standhalten, weil sie im Anblick der jenseitigen Welt erstarren
+und für diese leblos aufgerissen sind: da schließt seine Dienerhand die
+beiden Fensterläden, die zwischen dieses und jenes Leben von Anbeginn
+der Menschheit gelegt sind.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_395">[S. 395]</span></p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_397">[S. 397]</span></p>
+<h2 class="nobreak" id="Nacht">Nacht</h2>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h3>100.</h3>
+</div>
+
+<p>Selten sind über das Birrfeld solche Schneemassen niedergegangen wie
+in der Februarnacht, da der Glarner im Roten Haus zu Brugg Heinrich
+Pestalozzi die erste Totenwacht hält; und erst am andern Nachmittag
+ist soviel Bahn gemacht, daß sie ihn mühselig genug im Schlitten nach
+dem Neuhof holen können. Da wird er bei Kerzenlicht in der Kammer
+aufgebahrt, wo die stummen Dinge seiner Gewohnheit eine Woche lang
+auf ihn gewartet haben; als ob er aus tiefem Schlaf erwachen wolle,
+liegt er im Sarg, und das Lächeln glücklicher Träume scheint sich in
+den Runzelfalten seines verwelkten Gesichtes zu verstecken. So ist er
+über Nacht geworden, erklärt Steinmann dem Pfarrer und gibt auch seine
+Dienerweisheit dazu: Der Körper freut sich, endlich die unruhige Seele
+los zu sein!</p>
+
+<p>Am andern Vormittag begraben sie ihn auf dem verschneiten Dorfkirchhof;
+der Wind fegt eisig über das Birrfeld, und die Wege zwischen den
+Dörfern sind wie Maulwurfsgänge durch den meterhohen Schnee gegraben:
+aber die Schulkinder aus der ganzen Kirchgemeinde kommen, ihm ein Lied
+ins Grab zu singen, und die Schulmeister tragen den Sarg. Damit sie auf
+dem Kirchhof stehen können, haben die Bauern dem<span class="pagenum" id="Seite_398">[S. 398]</span> Küster helfen müssen,
+einen Hof aus dem Schnee zu schaufeln, und die gefrorenen Erdschollen
+poltern gleich Steinen auf die Bretter: es ist ein anderes Begräbnis
+als vor elf Jahren, da sie Anna Schultheß im Schloßgarten zu Ifferten
+begraben. Das bäuerliche Dasein, aus dem er mit seiner Bitte an
+Menschenfreunde hervortrat, hat seinen Leib zurück gefordert, und bevor
+die Freunde im Land Und draußen seinen Tod erfahren, verweht der eisige
+Wind den einsamen Grabhügel schon mit neuem Schnee. Als ihrer dann
+einige mit dem Frühjahr kommen, staunen sie, wie das Mißgeschick ihm
+bis auf den Kirchhof folgte: er ist mit seinem Sarg unter die Traufe
+des Schulhauses geraten; der Regen, den das Dach von den Dorfkindern
+abhält, gießt auf seinen Hügel. Statt des Rosenstockes, der darauf
+steht, möchten sie ihm einen Stein setzen; aber der Enkel im Neuhof
+zeigt ihnen ein vergilbtes Blatt, darauf er sich selber den Grabschmuck
+wünschte.</p>
+
+<p>Der Stock trägt weiße Rosen und wird mit den Jahren ein Busch, der
+im Frühsommer als ein schäumender Ball vor dem kleinen Schulhaus
+steht. Selten kommt dann ein Fremder, der sich nicht eine Blüte davon
+mitnähme; und an diesen Wallfahrten zu seinem Rosenstock merken die
+Birrfelder, daß etwas von Heinrich Pestalozzi lebendig geblieben sein
+muß.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Sein Sterbeteil ist längst vermodert, und die Seele Heinrich
+Pestalozzis ruht im Zeughaus des Lebens aus von der Ruhelosigkeit
+ihrer Tage; nur der Menschengeist,<span class="pagenum" id="Seite_399">[S. 399]</span> dem sie die schwingende Unruhe
+war, reitet sein Abenteuer in die Unsterblichkeit. Die Zeiten sind
+nicht danach, seinen Wahlspruch, Freiheit durch Bildung, beliebt
+zu machen, und das prophezeite Jahrhundert der Menschlichkeit will
+nicht anbrechen. Nach dem Traum der Befreiungskriege ist Europa
+wieder eingeschlafen, und die deutsche Jugend der schwarzrotgoldenen
+Burschenschaften wird hinter Gitterstäben von dem Traum kuriert.
+Überall hat sich der Geist der Väter auf die vergoldeten Stühle der
+alten Herrlichkeit gesetzt, und die Landreiter spähen, daß seine Hüte
+an den Stangen in der schuldigen Ehrfurcht gegrüßt werden. Darüber
+flackern die Menschenrechte, denen zuliebe soviel Köpfe abgeschlagen
+wurden, zum andernmal auf in einer Revolution, aber diesmal schlägt ein
+nasser Sack die Strohfeuer aus: Das Reich fällt noch einmal in einen
+bleiernen Morgenschlaf, und über den Ozean her leuchtet ein Morgenrot,
+dem die halbwachen Schläfer in Millionen zutaumeln.</p>
+
+<p>Indessen so von den Luftschlössern der Freiheit nichts übrig bleibt
+als die Schwärmerei für Ruinen — selbst der neue Napoleon begnügt
+sich, von Gottes Gnaden auf dem angestammten Kaiserthron zu sitzen —
+ist aus den Zeiten Steins in Preußen der Eckpfeiler der Volksschule
+durch alle Schwierigkeiten pietistischer Bedrängung stehen geblieben,
+und im preußischen Lehrerstand reitet der Menschengeist von Heinrich
+Pestalozzi sein Abenteuer in die kleinsten Dörfer. Längst ist die
+deutsche Frage ein Rattenkönig geworden, da tut es bei Königgrätz einen
+scharfen Schlag, der die Schwänze blutig<span class="pagenum" id="Seite_400">[S. 400]</span> auseinander reißt: Preußen
+marschiert und ein geflügeltes Wort kommt auf, daß der preußische
+Schulmeister die Schlacht an der Bistritz gewonnen habe. Dann
+schmiedet Bismarck das neue Reich aus Blut und Eisen, wie es in den
+Ruhmesblättern heißt; aber er selber schreibt aus Versailles an seine
+Frau, daß Deutschland dem gemeinen Soldaten mehr als den Generälen den
+Erfolg in Frankreich verdanke.</p>
+
+<p>Ich wüßte Einem, der mir folgte, eine Macht in Europa zu gründen, die
+mächtiger als Bonaparte wäre; und ich sage euch, wer es am ersten mit
+mir hält, dem wird die Herrschaft in Europa zufallen! hat Heinrich
+Pestalozzi zu den Stadtherren von Ifferten gesagt, als sie von der
+Audienz in Basel zurück fuhren: nun steht das Deutsche Reich mächtig in
+Europa da aus seiner Lehre.</p>
+
+<p>Aber wenn der Armennarr vom Neuhof, der den Rockknopf des russischen
+Kaisers nicht zu fassen kriegte, danach seine dritte Reise machte,
+diesmal fröhlicher nach Berlin als damals nach Paris: er würde das
+goldblinkende Dach des Reichstags staunend von außen betrachten und
+in die zweite Volksschule nur aus dem Zweifel gehen, ob die erste mit
+ihren sauberen Klassen und dem peinlich umzirkelten Lehrplan nicht ein
+Blendwerk der Schulbehörde gewesen sei; er würde nach den Wohnungen der
+Armen fragen und aus dem Prunk der Linden hinaus wandern in die trüben
+Straßen, wo die Kinder in engen Höfen spielen; und unverdrossen mit den
+ärmsten bis in die letzte Dachwohnung steigen: Ich<span class="pagenum" id="Seite_401">[S. 401]</span> will sehen, was die
+Treppe der Menschenbildung aus dem Haus des Unrechts gemacht hat!</p>
+
+<p>Wohl würde er schaudern vor dem Haß des Klassenkampfes, aber er würde
+sich tapfer zu seinem Anteil bekennen: daß der Arbeiterstand die
+Gerechtigkeit nicht im Mist der Gnade verscharrt haben wolle, sondern
+— durch Bildung frei gemacht — Macht gegen Macht einsetze, sie zu
+ertrotzen. Er würde vor den Gewerkschaftshäusern und Konsumanstalten
+beklommen vor Glück dastehen, daß aus der Masse von einzelnen Schwachen
+soviel Stärke im Ganzen möglich wäre, und er ließe sich nicht mit
+der Verdächtigung schrecken, daß da die vaterlandslosen Gesellen
+ihre Kriegslager des Umsturzes hätten: Er hat es zu sehr am eigenen
+Leib gespürt, wie rasch die herrschenden Mächte mit der bedrohten
+Moral bei der Hand sind, wenn ihnen einer um der Gerechtigkeit willen
+widerstrebt! Wie er dem Pfarrer Lavater einmal schrieb, daß er leicht
+nach oben milder und nach unten strenger sei, als es sein Herr Jesus
+Christus gehalten habe!</p>
+
+<p>Freilich, wenn Heinrich Pestalozzi, der es im Leben zu keinem Wohlstand
+brachte, der in schlechten Kleidern ging und auch so aß und wohnte, von
+seinen einsamen Gängen wieder in die Hauptstraßen zurück käme und den
+Aufwand der Schaufenster, die geputzten Menschen und die Marmorsäle
+sähe, die jeden Mittag und Abend gefüllt sind, als ob es ewig Feste
+zu feiern gäbe: er würde in einem tiefen Schrecken von neuem seitab
+irren in die dunkleren Straßen der unermeßlichen Steinwüste und den
+Plakaten folgend in eine der Versammlungen geraten, wo die Männer der
+Lohnarbeit einem jüdischen<span class="pagenum" id="Seite_402">[S. 402]</span> Redner zuhörten, der die Schlupfwinkel
+einer wirtschaftlichen Frage mit juristischer Dialektik ableuchtete.
+Sie würden erstaunt sein, wenn sich nachher der Greis mit dem
+blatternarbigen Runzelgesicht zum Wort meldete, und mißtrauisch seine
+seltsame Erscheinung betrachten, ob er ihnen nicht mit lächerlichen
+Einfällen Unfrieden stiften wolle? Auch bliebe Heinrich Pestalozzi
+selber im Anfang noch verschüchtert, wie wenn ihn der Schulmeister
+Dysli mit seinem Anhang unter den Hintersassen noch einmal aus der
+Stube schicken könnte; bald aber fände er in den feindlich abwartenden
+Augen eine Menschenseele, zu der er also spräche:</p>
+
+<p>Lieber Bruder und Genosse — wie ihr euch nennt — meiner Seele ist es
+gegangen wie deiner, sie fand sich in eine Ordnung gestellt, die aus
+dem Unrecht der Gesellschaft gewachsen war, und seit den Jünglingstagen
+wallte mein Herz wie ein Strom, die Quellen des Elends zu verstopfen,
+darin ich das niedere Volk um mich versunken sah: aber wie mir die
+Methode nur das Mittel und nicht das Ziel war, so auch die äußere
+Wohlfahrt. Darum habe ich zwei Dinge nicht gekannt, die mir in diesen
+Tagen mehr, als es gut ist, begegneten: den Neid und den Haß. Warum,
+Bruder und Genosse, willst du den Reichen hassen, und um was willst du
+ihn beneiden? Er hat ja selber nichts als sein Geld und was er sich für
+sein Geld kaufen kann? Ist es aber dies, warum wir zwischen Geburt und
+Tod unser rasches Leben haben, und kann es unser Glück sein, daß unsere
+Frauen sich putzen können mit kostbaren Kleidern, und daß wir die edlen
+Weine trinken und Kapaune essen?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_403">[S. 403]</span></p>
+
+<p>Ich weiß wohl und habe es bitter gefühlt wie du, daß ein Mindestes
+für jeden Menschen nötig ist: daß er im Winter nicht friere und im
+Sommer nicht hungrig sei, daß er Stunden haben möchte, wo er aus der
+harten Arbeit zu sich selber käme, und daß er um seines Lohnes willen
+niemandes Knecht zu sein braucht! Auch weiß ich wie du, daß dies
+abscheulich an unserer gesellschaftlichen Ordnung ist, wie sie am
+Geldsack hängt: aber geht nicht vieles, wie ihr es ändern wollt, geht
+es nicht auch nur im Gelüst auf jene Genüsse, die aus dem Geldsack
+kommen? Ist nicht in eurem Haß auf die besitzenden Klassen auch der
+Neid? Der Neid auf Güter, deren Genuß euch nicht weniger als der Mangel
+im Elend eines nichtigen Lebens ließe!</p>
+
+<p>Eine gute Verfassung ist zwar von einer schlechten wie ein guter Acker
+von einem schlechten verschieden; aber du weißt, es wächst dir weder
+auf dem guten noch auf dem schlechten Acker etwas aus dem Acker allein,
+sondern aus der Arbeit und dem Samen, die du darauf verwendest! Wie
+aber kann deine Arbeit wertvoll für dich und die andern sein, wenn du
+doch wieder das alte Unkraut säst? Wie anders haben wir es damals von
+den Welschen gelernt: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! nur laß es
+mich verdeutschen:</p>
+
+<p>Es gibt vielerlei <em class="gesperrt">Freiheit</em> auf der Welt: aber die Freiheit der
+Sau im Wald, die ihren Suhl hat, und die Freiheit des Reichen, der
+sich mit seinem Gold das Tischlein-deck-dich herzaubern kann, ist
+Knechtschaft der Begierden. Frei sein heißt nicht, tun dürfen, was du
+möchtest, sondern tun wollen, was du mußt; darum<span class="pagenum" id="Seite_404">[S. 404]</span> achte, daß du draußen
+wie drinnen keinen Herrn über dein Gewissen habest! Jesus Christus,
+der sich für die Mühseligen und Beladenen ans Kreuz schlagen ließ, war
+freier als Pontius Pilatus, der den Befehl dazu gab.</p>
+
+<p>Es gibt vielerlei <em class="gesperrt">Gleichheit</em>, aber willst du dem Schlechten
+und Geringen gleich sein oder dem Besten? Soviel dir einer voraus
+hat in Gütern, Wissen und Fertigkeiten, im Selbstgefühl kannst du
+dem Reichsten und Klügsten gewachsen sein trotz all seinem Geld,
+seinen Künsten und seiner Wissenschaft. Vor Gott gleich sein, wie die
+Frommen wissen, heißt etwas anderes, als nichts vor seiner Allmacht zu
+bedeuten; denn frage deine Seele, ob du dich als Sandkorn von Meer und
+Wind verweht fühlen oder selber Meer und Wind sein willst? Vor Gott
+gleich sein, heißt aus dem Ungewissen ins Gewissen der Welt, heißt in
+die Allmacht berufen sein.</p>
+
+<p>Es gibt vielerlei <em class="gesperrt">Brüderlichkeit</em>; aber daß der Reiche im Wagen
+dich mitnimmt hinter seine Pferde, in sein Haus und an seinen Tisch:
+dadurch wirst du nicht sein Bruder, sondern sein Knecht, der Wohltaten
+empfängt. Und wenn er all das Seine mit dir teilte, gutwillig und
+gerecht: er würde vielleicht dein Bruder sein, du aber nicht der seine;
+denn Brüderlichkeit ist ein Geschenk, das nur gegeben, nicht empfangen
+werden kann; du aber willst empfangen! Es gibt nur eine Brüderlichkeit,
+die ist vor Gott — und ich meine nicht die Stündlisbruderschaft — ihr
+sind die Güter der Erde wenig vor dem Gefühl der Seele, aus dem Rätsel
+in das Menschenschicksal geboren zu sein und wieder in das Rätsel
+der<span class="pagenum" id="Seite_405">[S. 405]</span> Welt hinein sterben zu müssen. Allein vermöchten wir das Grauen,
+aus dem ewigen Weltall durch unser menschliches Bewußtsein für eine
+flackernde Sekunde abgesondert zu sein, nicht auszuhalten, wir würden
+vor Schreck daran verdorren: nur weil wir gleich den Halmen im Feld
+dastehen, können wir miteinander auf den Schnitter warten und uns doch
+wiegen im Wind und wärmen in der Sonne und den Saft der Erde trinken
+für unsere Frucht!</p>
+
+<p>Wenn Heinrich Pestalozzi das gesagt hätte, würde er noch einmal in
+dem Saal dastehen, als ob er nach bestandenem Examen vor den andern
+Schülern das Vaterunser sprechen müsse, so zum Lachen würde ihn schon
+wieder eine Einsicht und ein Irrtum überraschen; und wie immer ginge
+auch diesmal seine Rede in einem Selbstgespräch zu Ende, das keiner
+der Männer in dem bleichen Gaslicht dieses Saales verstehen würde:
+Ich dachte, es wäre der Menschengeist von mir, der immer noch auf
+Abenteuer reitet, indessen sie meinen Körper unter die Dachtraufe und
+den Rosenstock legten! Nun muß ich sehen, daß er nur der Diener unserer
+Menschenbruderschaft und nicht das Leben selber ist, daß er die Worte
+setzt, damit eine Botschaft von meiner Seele in deine, Bruder und
+Genosse, käme; da beide sonst einsam im gemeinsamen Schicksal bleiben.
+Denn allein die Seelenkraft ist das Leben, darin wir alle eins und von
+Gott und also unverletzlich sind. Botschaft der Weltseele in unser
+irdisches Dasein zu bringen, ist das Abenteuer des Menschengeistes,
+dessen Tapferkeit sonst<span class="pagenum" id="Seite_406">[S. 406]</span> nur Ehrgeiz und Rauflust und vor der Ewigkeit
+ein windiger Spaß wäre, ein grausames Puppenspiel der Menschen für ihre
+Götter, wie es die Hoffnungslosigkeit der Alten dachte.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_407">[S. 407]</span></p>
+
+<h3>Berichtigung.</h3>
+</div>
+
+<p>Der letzte Band meiner Erzählenden Schriften mußte durch widrige
+Umstände ohne Korrektur gedruckt werden. Dadurch sind Druckfehler
+stehen geblieben, die nach meinem Willen schon in früheren Ausgaben
+beseitigt wären. Hierzu gehört auch, daß statt Tauner (Tagelöhner)
+durchgehend Tanner gedruckt wurde, was natürlich falsch ist.</p>
+
+<p class="r5">S.</p><br>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Erzaehlenden_Schriften_von_Wilhelm_Schaefer">Die Erzählenden Schriften von Wilhelm Schäfer</h2>
+</div>
+
+<div class="hang2">
+
+<div class="blockquot">
+
+<p><em class="gesperrt">Mannsleut</em>, Westerwälder Bauerngeschichten. Verlag Samuel Lukas,
+Elberfeld 1894 (vergriffen).</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Die Zehn Gebote</em>, Erzählungen des Kanzelfriedrich. Verlag
+Schuster &amp; Loeffler, Berlin 1897.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Gottlieb Mangold</em>, Der Mann in der Käseglocke. Verlag Schuster &amp;
+Loeffler, Berlin 1900.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Die Béarnaise</em>, eine Anekdote. Sonderdruck der Rheinlande
+Düsseldorf, 1901 (vergriffen).</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Rheinsagen</em>, mit Zeichnungen von Bernhard Wenig. Verlag Fischer
+&amp; Franke, Düsseldorf 1908 (vergriffen).</p>
+
+<p>— Neue Ausgabe für die Mitglieder des »Frauenbundes zur Ehrung
+rheinländischer Dichter«, umgearbeitet und ergänzt. 1913.</p>
+
+<p>— Dieselbe Ausgabe zweite Auflage, Verlag Georg Müller, München 1913.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Anekdoten</em> (erste bis dritte Auflage), Verlag der Rheinlande,
+Düsseldorf 1908.</p>
+
+<p>— seit der vierten Auflage Verlag Georg Müller, München 1911. Fünfte
+Auflage 1913.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Der verlorene Sarg</em> und andere Anekdoten, Verlag Georg Müller,
+München 1911.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Dreiunddreißig Anekdoten.</em> Verlag Georg Müller, München 1914.
+Vierte Auflage.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Die Mißgeschickten.</em> (Zuerst in der »Neuen Rundschau«, Januar
+1909.) Verlag Georg Müller, München 1909.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Die Halsbandgeschichte.</em> Verlag Georg Müller, München 1909,
+Zweite Auflage. (Zuerst in den »Rheinlanden« 1908.)</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Karl Stauffers Lebensgang</em>, eine Chronik der Leidenschaft.
+Verlag Georg Müller, München 1911. Sechste Auflage.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Die unterbrochene Rheinfahrt.</em> Verlag Georg Müller, München
+1912. (Zuerst in der Frankfurter Zeitung.)</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Lebenstag eines Menschenfreundes.</em> Verlag Georg Müller, München
+1915. Zehnte Auflage. (Zuerst in der »Deutschen Rundschau«. Okt. 1914
+bis April 1915.)</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Die begrabene Hand</em>, Sonderausgabe der neuen Anekdoten und
+Novellen, Verlag Georg Müller, München 1918.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Die Erzählenden Schriften.</em> Gesamtausgabe in vier Bänden. Verlag
+Georg Müller, München 1918.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Lebensabriß.</em> Verlag Georg Müller, München 1918.</p><br>
+</div>
+</div>
+<p class="center">Druck von Mänicke und Jahn in Rudolstadt</p>
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75169 ***</div>
+</body>
+</html>
+
diff --git a/75169-h/images/cover.jpg b/75169-h/images/cover.jpg
new file mode 100644
index 0000000..62dfce3
--- /dev/null
+++ b/75169-h/images/cover.jpg
Binary files differ
diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt
new file mode 100644
index 0000000..6312041
--- /dev/null
+++ b/LICENSE.txt
@@ -0,0 +1,11 @@
+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
+
+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
+
+No investigation has been made concerning possible copyrights in
+jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize
+this eBook outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
diff --git a/README.md b/README.md
new file mode 100644
index 0000000..e7c652c
--- /dev/null
+++ b/README.md
@@ -0,0 +1,2 @@
+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
+eBook #75169 (https://www.gutenberg.org/ebooks/75169)