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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-02-22 08:21:02 -0800 |
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Eine Liste der vorgenommenen +Änderungen findet sich am Ende des Textes. + +Worte in Antiqua sind +so gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~ + +======================================================================= + + + Venne Richerdes + + + Roman aus der Geschichte Goslars + + von + + Hermann Kassebaum + + + [Illustration] + + + Berlin 1925 + Verlag von Martin Warneck + + + Alle Rechte vorbehalten + + +Copyright 1925 by Martin Warneck, Berlin+ + + + Herrosé & Ziemsen GmbH., Wittenberg (Bez. Halle). + + + + + Meiner lieben Heimatstadt + Goslar + + + + + Erstes Buch + + + + +Die welschen Studenten nannten die beiden blonden Jünglinge insgemein +›+li gemini+‹, die Zwillinge. Halb war es Spott, halb Neid, der +aus diesem Beinamen erklang. Besser noch trafen es die Bologneser +Schönen, die den dritten, den braunlockigen Gottfried Kristaller, aus +dem Bistum Straßburg gebürtig, in ihren Scherz mit einschlossen und die +drei die ›Unzertrennlichen‹, ›+li inseparabili+‹, tauften. Hinter +dem vorgehaltenen Fächer, hinter dem wohlverwahrten Fenster klang +es immer wieder: ›+Li inseparabili+‹, wenn die drei Deutschen +auftauchten oder vorübergingen. + +Seit geraumer Zeit schon weilten sie auf Bolognas Hoher Schule, um dem +Studium der Rechte obzuliegen, das hier nach wie vor seine vornehmste +Pflegestätte hatte. Der Älteste von ihnen, Johannes Hardt, war der +Semester vier hier, sein Vetter Heinrich Achtermann, gleich ihm in +der alten Kaiserstadt Goslar am Fuße des Harzes daheim, kam vor mehr +als Jahresfrist über die Alpen gezogen, und der dritte, Gottfried +Kristaller, hielt die Mitte zwischen ihnen, was die Zeit des Studiums +an der welschen Universität betraf. + +Jetzt waren sie alle drei bereit, Bologna zu verlassen. Johannes +hatte sein Ziel erreicht, denn er war unlängst zum Doktor der Rechte +promoviert worden. Heinrich wollte mit ihm ziehen, weil es so geplant +war und weil ihm der Zweck seines Aufenthaltes im Auslande erreicht zu +sein schien, nämlich sich in der Welt umzusehen und sich dabei ein wenn +auch bescheidenes Maß von juristischen Kenntnissen anzueignen, das ihm +für die Ratsherrnstelle in Goslar, die ihm nach Geburt und Herkommen +sicher war, nicht schaden würde und ihm auch für seine demnächstige +Beschäftigung in dem umfangreichen Handelsgeschäfte seines Vaters, des +Rats- und Kaufherrn Heinrich Achtermann, nur förderlich sein konnte. +Und Gottfried endlich schied, weil er es ohne die Gesellen in Bologna +fürder nicht glaubte aushalten zu können. + +Die Abreise war beschlossen, der Tag dazu festgesetzt, der die +Unzertrennlichen scheiden würde. Die beiden Goslarer wollten den +kürzesten Weg in die Heimat einschlagen, den über den Brenner, während +Gottfried Kristaller die Reise über Mailand und den Gotthardt wählte, +um so gleichfalls möglichst schnell nach Straßburg zu gelangen. + +Das bessere Teil fiel dabei Heinrich und Johannes zu, denn ihnen +erblühte mit dem in Aussicht genommenen Wege das Glück, in anmutiger +Gesellschaft bis in die Heimat zusammenreisen zu können. Es waren die +Damen von Walldorf, des Feldobristen von Walldorf zu Braunschweig +Ehegemahl und seine liebreizende und lebensfrische Tochter Richenza. + +Man lernte die Damen in dem gastlichen Hause des Professors von +Wendelin kennen, der am +Collegium germanicum+ der welschen +Universität die Rechte lehrte. Bologna genoß, wie schon angedeutet, +dermalen noch den Ruf, die berühmteste Rechtsschule der Welt in seinen +Mauern zu beherbergen, und die meisten Nationen, so auch das Deutsche +Reich, unterhielten dort Akademien, die der Universität angeschlossen +waren. + +Professor Hieronymus von Wendelin weilte seit fast 30 Jahren als +berühmter Lehrer in Bologna, und zu seinen Füßen hatte Johannes seit +mehr als zwei Jahren gesessen. + +Auch die Freunde verdankten, was sie an geistiger Nahrung dort +genossen, in vornehmster Weise Wendelin. Viel war das freilich bei +Gottfried Kristaller nicht, und noch weniger hatte sich Heinrich +Achtermann mit der trockenen Rechtswissenschaft den Magen verdorben. +Er war Studierens halber in Italien, in Bologna seinetwegen, aber +das Studium beschränkte sich nach seiner Ansicht nicht darauf, den +spröden Stoff des römischen und kirchlichen Rechts zu zergliedern, +wie es Wendelin und andere gelehrte Herren versuchten, sondern für +ihn schloß es auch das Studieren von Land und Leuten in sich, und +unter diesen wieder nahmen die Frauen sein Hauptaugenmerk in Anspruch, +die ~schönen~, wie sich versteht. Und so beharrlich schaute er +den liebreizenden Bologneserinnen in die glänzenden Augen, bis die +Besitzerinnen, was freilich nicht oft geschah, verwirrt die dunklen +Wimpern über die leuchtenden Sterne herabsenkten oder er erforscht +zu haben glaubte, was auf ihrem tiefsten Grunde an Geheimnissen und +Seelenregungen geschrieben stand. + +Gottfried Kristaller, der leichtlebige, bewegliche Alemanne, suchte +es ihm darin gleichzutun. Was er an Wissen mit sich nahm, drückte ihn +gewiß nicht nieder; aber er hoffte, die Lücken in seinen Kenntnissen +daheim, in der gleichförmigen Ruhe des Vaterhauses bald ausfüllen zu +können. So ergab es sich, daß er und Heinrich Achtermann in Wahrheit +die Unzertrennlichen waren. Gemeinsam durchtollten sie die Nächte, +gemeinsam verübten sie ihre losen Streiche, von denen dieser oder +jener sie in nicht unbedenkliche Händel zu verwickeln drohte. Aber ihr +unverwüstlicher Frohsinn half ihnen über alle Schwierigkeiten hinweg, +und vor dem Freimut, mit dem sie ihre Sünden bekannten, glättete sich +auch die düsterste Stirn. + +Nur selten eilten Heinrichs Gedanken in die ferne Heimat. Und was vor +ihm alsdann auftauchte an altmodischer Tracht und Sitte im Vaterhause, +vermochte ihn nicht lange zu fesseln. Er kehrte immer wieder schnell +in die Wirklichkeit zurück, die ihn lachend und schmeichelnd umgab. +Daheim lebte ihm der würdige Vater, immer und allerorts bestrebt, +seiner Stellung als Ratsherr und Patrizier nichts zu vergeben, ihn, +den Sohn und Erben, schon jetzt immer ermahnend, auf seinen künftigen +Rang Rücksicht zu nehmen. Dort waltete die Mutter, die in ähnlicher +Fürsorge an ihm arbeitete. Dort war alles auf die Form, auf den Anstand +zugeschnitten, hier aber umgab ihn das lachende, sorglose Leben der +Italiener, die in heiterer Ungebundenheit jeder Regung des Herzens +unverhüllt und ungeschmält Ausdruck verleihen durften. Wäre es nach ihm +allein gegangen, er hätte das sonnige Land noch länger zu seiner Heimat +erwählt. + +Auch eine Schwester war ihm beschieden, nur wenig jünger als er und im +Wesen ihm nicht unähnlich. Aber die beiderseitige Lebhaftigkeit trug +nur dazu bei, daß sie sich nach Geschwisterart ständig in den Haaren +lagen, ohne daß eigentlich ernstliche Zerwürfnisse zwischen ihnen +vorkamen. Doch Heinrichs Bedürfnis, zu necken und zu hänseln, erregte +immer wieder den hellen Zorn des Schwesterleins, namentlich, wenn er es +sich einfallen ließ, in ihr Zimmer zu kommen, während Freundinnen zu +Besuch da waren. Drang er alsdann unbefugterweise ein, so konnte man +darauf wetten, daß sein Abzug zuletzt ein unfreiwilliger war, der unter +Schelten der Mädchen vor sich ging. Ihn aber focht das nicht weiter an, +und noch heute gedachte er mit Schmunzeln der mancherlei Szenen, die es +dabei gegeben hatte. Am lebhaftesten stand ihm die letzte vor Augen, +die sich kurz vor seiner Abreise abspielte. Und auch die Gestalt der +Freundin, um die es sich dabei handelte, war ihm in aller Lebendigkeit +gewärtig. + +Ein eigenartiges Mädchen, diese Venne Richerdes, wie sie ihm in der +Erinnerung vorschwebte, lang aufgeschossen und noch ohne jede Rundung +in den Formen. Weshalb gerade diese ihm besonders vor Augen stand, +hätte er selbst nicht zu sagen vermocht. Vielleicht entwickelte sich +das junge Ding noch einmal zu einer annehmbaren Mädchengestalt. Vorab +aber fiel sie nur auf durch ihr sprödes, zurückhaltendes Wesen, das +nicht selten sich in schroffen Meinungsäußerungen gefiel, besonders +wenn sie mit seinesgleichen zusammengeriet. + +Doch, eins hob sie aus dem Rahmen der übrigen hervor, das war die +unnachahmliche Haltung des Kopfes mit dem wundervollen Rund der Zöpfe, +die sich wie eine Krone um das Haupt legten, und dann das Spiel der +Augen. Diese Augen, in deren unergründlicher Tiefe jetzt verhaltene +Wehmut schlummerte, jetzt schalkhafte Teufelchen ihr Wesen zu treiben +schienen und die in Augenblicken der Erregung flimmernde Blitze zu +sprühen begannen. Ihm selbst war aus ihnen auch oft der Zornteufel +entgegengefahren, wenn er sich nach seiner Art mit irgendeiner ihrer +kleinen Eigenheiten beschäftigte. Selbst der Abschied von ihr verlief +als ein solches Gewitter. Ja, zum Abschiednehmen kam es eigentlich +gar nicht; denn als er sie am Tage vor seiner Abreise zufällig bei +der Schwester traf, trat die zornige Spannung in ihrem Gesicht von +Minute zu Minute deutlicher hervor. Die Schwester suchte ihn, wie so +oft schon, auf schickliche Weise, hinauszubugsieren; aber in seiner +behaglichen Dickfelligkeit pflanzte er sich nun erst recht breit in +einen Sessel. Als das Gespräch zwischen den beiden Mädchen einen +Augenblick stockte, suchte er es durch eine seiner gewöhnlichen +Neckereien wieder in Fluß zu bringen. Noch schwieg die kampfbereite +Venne, doch in ihren Augen wetterleuchtete es unheilverkündend, wie er +mit innerer Freude feststellte. Nun bedurfte es nur noch geringer Mühe: +hierhin einen kleinen Stich und dort einen Hieb, da war die Entladung +da. Noch ein Wort, und Venne sprang auf und eilte zur Tür, ohne ihn +eines Wortes zu würdigen; nur ein funkelnder Blick traf ihn dort noch, +vor dem er sich, wäre er weniger dickfellig gewesen, hätte verkriechen +sollen. + +Der Erfolg verblüffte selbst ihn: Teufel auch, war das eine hitzige +Kröte! Und nun setzte noch das Schmälen und Schelten der Schwester ein, +daß er alle ihre Freundinnen weggraule. Es endigte zuletzt damit, daß +sie ihn wutentbrannt aus dem Zimmer jagte. Er ging in dem nicht sehr +behaglichen Gefühl, daß er vielleicht doch etwas zu weit gegangen sei, +und es tat ihm halbwegs leid, daß sein Abschied von diesem Mädchen, das +ihn durch ihre Eigenart immer wieder anzog, sich in so unfreundlicher +Weise vollzogen hatte und daß sie seiner vielleicht mit Groll gedenke; +denn Heinrich Achtermann war ein durchaus gutmütiger Gesell, dem es +nicht entfernt beikam, einem Menschen absichtlich Unrecht zuzufügen. + +Heute freilich lächelte er in der Erinnerung an jene dramatische Szene: +Wetter noch einmal, hatte das Ding Temperament! -- Wie mochte sie sich +übrigens wohl inzwischen entwickelt haben? Ob sie seiner noch immer in +unauslöschlichem Groll gedachte! -- Da kehrten seine Gedanken in die +Umwelt zurück und fanden sogleich das Ziel seiner Sehnsucht und Wünsche +von heute, Richenza von Walldorf. + +Ja, die wenigen Wochen ihres Aufenthaltes im Hause der Wendelins und +der rege Verkehr mit den Damen hatte genügt, um sein Herz lichterloh +für die schöne Tochter des Obristen brennen zu lassen. Vergessen waren +die liebreizenden Bologneserinnen, verdrängt von der lebensfrischen, +sprudelnden Nichte des Professors. + +Sie war zur Zeit unbeschränkte Alleinherrscherin in seinem Herzen. Auch +die Freunde merkten seinen Gemütszustand und ließen es an harmlosen +Neckereien nicht fehlen. Daß die kluge Richenza allein die Verheerung +nicht erkannt hätte, die sie angerichtet, war kaum zu glauben. Sie +ließ sich die Huldigungen des stattlichen Jünglings gern gefallen. +Freilich besorgte sie nicht, daß er dauernd seinen Seelenfrieden an +sie verlieren werde; denn die gelegentlichen Äußerungen der Freunde +verrieten ihr, daß sie nicht die erste Rose sei, die er zu pflücken +begehre. Über ihre eigenen Gefühle war sie sich nicht ganz im klaren, +aber sie traute sich die Zurückhaltung zu, die gegebenenfalls, auch +während der engeren Berührung, wie sie die gemeinsame Heimreise +notwendig bringen mußte, eine Schranke festhalten würde, um ein allzu +ungestümes Werben zu verhindern. Jetzt sahen sie sich täglich, ja +die letzten Tage, seit die Studenten ihrer Verpflichtungen gegen +die Universität überhoben waren, mehrmals am Tage, nachmittags bei +gemeinsamen Spaziergängen, abends im Hause der Wendelins. + +Ein besonderer Anlaß hatte die Walldorfschen Damen nach Italien +geführt. Daheim lag das Brüderlein an langem Siechtum darnieder. +Keine ärztliche Kunst konnte ihm Heilung bringen. Da riet der ihnen +befreundete Prior eines Klosters der frommen Mutter, sie solle eine +Wallfahrt nach Rom unternehmen, um den Segen des Papstes und die +mächtige Fürbitte der Heiligen zu gewinnen. Der Vater, der rauhe +Kriegsmann, murrte und sprach von pfäffischem Firlefanz, aber die +Mutter ließ sich nicht beirren und brach mit der Tochter auf. + +Rom lag hinter ihnen, und ihre Herzen waren voll froher Hoffnung; denn +nicht nur hatten sie sich die Fürsprache im Himmel gesichert, sondern +sie brachten auch die Vorschriften eines berühmten Arztes mit, von +dessen Heilkunst sie in Rom erfuhren. Nach genauer Erkundigung über die +Art des Leidens gab er ihnen seinen ärztlichen Rat mit auf den Weg. + +Angesichts der Beschwerden der Reise war es für die Damen eine große +Erleichterung, daß sie in den Wendelins Verwandte fanden, die ihnen +auf der Hin-, wie auf der Rückreise gern Gastfreundschaft erwiesen. +Dieser Aufenthalt bei dem berühmten Rechtsgelehrten, den sie, besonders +Richenza, bisher kaum mehr als dem Namen nach gekannt hatten, bot ihnen +nicht nur willkommene Rast, sondern zwischen der Tochter des Hauses, +der lieblichen Gisela, und Richenza war eine aufrichtige Freundschaft +und eine fast schwesterliche Liebe aufgeblüht. + +Lag, als sie nach Rom wollten, noch die Sorge um den Sohn und +Bruder wie ein Druck auf ihnen, so gab sich Richenza jetzt mit der +ungebundenen Fröhlichkeit, die ein Grundzug ihres Wesens war. In den +jungen Deutschen, die im Hause Wendelin ein und aus gingen, fand sie +das willkommene Gegenstück zu ihrem eigenen Frohsinn, und Heinrich +Achtermann wie Gottfried Kristaller waren immer bereit, auf ihre +tausend Neckereien und Scherze einzugehen, während Johannes mehr zu der +stilleren Gisela stand. + +Die Aussicht, mit den beiden Goslarern die Heimreise antreten zu +können, erfüllte Richenza mit heller Freude; denn auf die Dauer war +von der frommen Mutter und dem bewährten Diener, den sie mitgebracht +hatten, nicht allzuviel Kurzweil zu erwarten. Man beredete alle +Einzelheiten der Fahrt, und der Tag der Abreise stand fest, da wurden +ihre Pläne noch im letzten Augenblick über den Haufen geworfen. + +Heinrich und Johannes wohnten in einem Hause der Karmelitergasse. +Die Verbindung mit der Heimat war während ihres Aufenthaltes in der +Fremde nicht allzu eng gewesen, ein Schreiben hin und her im Jahre oder +deren zwei, das erschien beiden Teilen ausreichend, um sich von dem +gegenseitigen Wohlergehen unterrichtet zu halten. Um so größer daher +das Staunen, als Heinrich Achtermann kurz vor der Abreise noch einen +Brief des Vaters ausgehändigt erhielt, der den letzten Teil seines +Weges, von Trient ab, sogar mit besonderem Boten befördert worden +war, da der Wagenzug der Kaufleute, die bis dahin den freundwilligen +Beförderer abgegeben hatten, linksab, ins Val Sugano, einbog, um nach +Venedig zu gelangen. Heinrich erbrach das Siegel voller Erregung, denn +er ahnte, daß in dem Briefe Ungewöhnliches stehen werde. Kaum hatte er +ihn durchflogen, da eilte er auch schon zu Johannes und pochte ungestüm +an das noch verschlossene Zimmer. + +»Auf, Langschläfer, mach' auf!« Und als der drinnen etwas von +»Ruhestörer« murrte, rief er noch dringlicher: »Eile Dich, wichtige +Nachricht von daheim!« + +Da öffnete Johannes, der erst notdürftig bekleidet war, die Tür, und +schon sprudelte ihm Heinrich die Neuigkeit entgegen. + +»So lies doch, Mensch, lies doch«, drängte er, fuchtelte dabei aber +mit dem Schreiben umher. Ruhig nahm es ihm Johannes aus der Hand und +schickte sich an zu lesen, doch schon unterbrach ihn der Freund +wieder: »Denk' doch, unser ganzer Reiseplan ist über den Haufen +geworfen; nach Mailand sollen wir, über den Gotthardt, mit dem Ernesti +ziehen!« + +Etwas unwillig wehrte ihn Johannes ab: »Soll ich nun lesen, oder willst +Du erzählen?« + +Da ließ jener von ihm ab, konnte sich aber nicht enthalten, über dem +Lesen immer wieder einen kleinen Fluch oder ein erregtes »Was sagst +Du dazu?« einzuschalten. Johannes ließ sich indes nicht beirren, +sondern las den Brief mit aller Gründlichkeit, und als er am Ende +war, begann er noch einmal. Aber wiederum vermochte er nichts anderes +herauszudeuten, als was er schon zum ersten Male gelesen. + +Also schrieb aber der Vater und Ratsherr Heinrich Achtermann zu Goslar +an seinen Sohn Heinrich: + +»... demnach wir darauff gefaßt seyn undt erwarten, daß Deine +Rückkehr, viellieber Sohn, sich noch umb mehreres verzögern werde, +wasmaßen wir wünschen müssen, daß Du, ohngeachtet der größeren +Strapazen undt Fatiguen, von Bologna den Weg uber Mediolanum, welches +man jetzo heyßet Maylant, undt weyter uber den Sankt Gotthardtsperg +wählen mögest, weyl Du in obgemeldeter Statt zum Anfang octobris den +wohledlen undt wohlachtbaren Herrn Henricus Ernesti würst treffen, als +welcher, nähmlich Herr Henricus Ernesti, dem hohen Rahte der Statt +Goslar günstige Bottschaft von der römischen Curia, auch des Papstes +Heyligkeyt zu erlangen beauftraget undt gewillt ist. + +Obzwar nun vorbemeldeter Herr Henricus Ernesti unß solche Bottschaft ++in persona+ zu uberbringen bereyt, auch gehalten ist, er unß +aber bittet, ihn vors erste davon zu befreyen, sintemalen er noch in +denen hollandtschen Stätten zu weylen obligieret sey, haben wir unß +dahin resolvieret, daß Du, viellieber Sohn, die obgemeldete Bottschaft +uns, +sigillo+ wohl verwahret, unversehret uberbringen mögest, +undt seyn wir gewärtig, daß Du Dich der hohen Ehre, so Dir damit +widerfähret, würst wohl gewachsen zeygen. Tun Dir auch zu wissen, daß +es des Herrn Doctor Rudolpfus Hardt, als des Vaters Deynes Freundes +undt Gesellen Johannes Hardt, Wille undt Befehl ist, selbiger möge Dir +das Geleyt geben auf der Reyse gen Maylant zum Herrn Henricus Ernesti. +Auch verhoffen wir, daß Ihr alle Fährlichkeyten der Fahrt möget wohl +bestehen undt bey unß in Gesundtheyt werdet eyntreffen ...« Also +schrieb der Ratsherr Achtermann an seinen Sohn Heinrich unter dem 25. +Juni des Jahres 1515. + +Johannes rieb sich die Stirn: Das warf ihre Reisepläne allerdings +gründlich über den Haufen! Ihm selbst machte es ja schließlich nicht +viel aus, ob er einige Monate früher oder später in Goslar eintraf, und +da ihm Gelegenheit geboten wurde, das mächtige Handelszentrum Mailand +zu sehen, wie die Schweiz und den Rhein, so sagte ihm die Änderung +von Minute zu Minute mehr zu. Aber er verstand den Groll Heinrichs +ebensosehr, kam dieser doch um die Möglichkeit, mit seiner neuen +Herzenskönigin, der schönen Richenza, noch länger zusammenzusein. + +Natürlich mußte auch Gottfried Kristaller sogleich von der veränderten +Lage unterrichtet werden! Sie fanden ihn beim Frühstück. Er gewann der +Sache sofort die beste Seite ab. »Aber das ist ja herrlich, prächtig, +ihr Leute«, rief er begeistert. »Da reisen wir ja zusammen, und ich +kann Euch unser altes, liebes Straßburg zeigen.« + +»Du hast gut reden«, murrte Heinrich. »Dir mag es gelegen kommen, aber +mir verdirbt es die ganze Rechnung.« + +»Ach ja, ich verstehe,« schaltete Gottfried gutmütig lachend ein, »Du +meinst, nun geht Dir das trauliche Zusammensein mit Richenza Walldorf +verloren. Herzliches Beileid! Aber ich schaffe Dir Ersatz in unsern +schönen Straßburgerinnen.« + +»Geh mir mit Deinen Dummheiten. Was gehen mich Deine Straßburger +Gänschen an!« grollte er. »Oho,« zürnte da Gottfried, dem der Schelm im +Nacken saß, »das laß nur mein Schwesterlein hören! Gerade ihr wollte +ich Dich präsentieren, von den noch schöneren Bäschen und Freundinnen +ganz zu schweigen. Doch wenn Du nicht willst, so habe ich noch ein +anderes Lockmittel: Unsern Wein wirst Du nicht verschmähen, und der +wird Deine Lebensgeister schon wieder heben. Erst wird gehörig Rast +im alten Straßburg gehalten, und dann mögt Ihr zu Euren Hyperboräern +heimziehen. Mich friert jetzt schon, denke ich nur an Eure Eiswüsten da +oben im Norden!« + +Da mischte sich Johannes ins Wort. »Nun gebt einmal Ruhe, Ihr +Streithähne, und laßt uns überlegen, was zunächst zu tun ist. Ich +meine, vor allem müssen wir die Walldorfschen Damen von der Neuigkeit +unterrichten.« Und das geschah denn auch. + +Man war natürlich im Hause Wendelin nicht weniger überrascht, und +besonders Richenza tat unzufrieden, daß die schönen Pläne ins Wasser +fielen. Aber es zeigte sich doch, daß die Wunde, die ihrem Herzen +geschlagen war, nicht allzu tief ging. Während die Mutter noch klagte, +daß sie nun der angenehmen Begleitung und des Schutzes verlustig +gingen, fand Richenza schon wieder ein munteres Wort. »Ei, so müssen +wir uns also des Wiedersehens daheim getrösten, in Goslar oder in +Braunschweig. Und nun wollen wir nicht länger Kopfhänger sein«, schloß +sie herzhaft. »Die Tage schwinden schnell dahin, die uns noch bleiben. +›+Carpe diem+‹, heißt's nicht so, Ihr gelehrten Herren? Ich +hörte es immer vom Oheim in Braunschweig, wenn ihm die Schaffnerin +noch heimlich eine Flasche des guten Weines holen mußte, ohne daß es +die Gattin sah. Also ans Werk, das heißt: Was wollen wir heute noch +unternehmen?« + +Die Auswahl war nicht groß in Bologna. Die dumpfen, glutheißen Straßen +der Stadt boten kaum des Abends Erholung, und die Elemente, welche sie +alsdann belebten, waren, wie andererorts, kein Anreiz für Damen. Es +blieben nur die Uferwaldungen am nahen Reno übrig, dessen schattige +Gänge man also am Spätnachmittage aufsuchen wollte. Der Fluß selbst +war, wie die meisten Wasserläufe, die der Apennin speist, jetzt zu +einem dünnen Rinnsal zusammengeschrumpft. + +Der Schicklichkeit halber begleitete Donna Wendelin, die Mutter +Giselas, die Ausflügler, obwohl diese lieber unter sich gewesen wären. +Dem guten Gottfried fiel die Ehre zu, die Dame zu führen. Er machte +zuerst ein etwas sauersüßes Gesicht, doch er fand sich bald mit Anstand +in seine Würde, zumal er wußte, daß er den Freunden, mindestens +Heinrich Achtermann, einen Gefallen erwies. Auch war Frau von Wendelin +noch eine sehr hübsche Frau zu nennen, der man die erwachsene Tochter +nicht ansah. Gottfried spielte seine Rolle als galanter Ritter so +anmutig und war so unerschöpflich in seinen drolligen Einfällen, daß +Frau von Wendelin aus dem Lachen nicht herauskam. + +Die beiden anderen Paare gingen bald langsamer, bald schneller +und beredeten, was ihnen am Herzen lag. Heinrichs Ungestüm drängte +immer wieder zu einem entscheidenden Wort, aber Richenza hielt ihn +mit ebensoviel Anmut wie Geschicklichkeit in Schranken. Als er dann +doch von seiner Liebe zu reden begann, unterbrach sie ihn schelmisch +lächelnd, wie wohl auch ihr bei seinen Worten ums Herz war. + +»Ich bitte Euch, sprecht nicht weiter. Wir wollen den Tag nicht durch +so ernste Dinge belasten. Ihr seid mir gut, das will ich glauben, +wenngleich ...« -- Heinrich wollte beteuern, da fuhr sie heiter fort: +»Um Gottes willen, nur nicht auch noch einen schweren Eid bei dieser +schrecklichen Hitze; ich will's Euch glauben, auch unbeschworen. Doch +im Ernst, wir wollen jetzt vernünftig sein. Laßt erst einmal die Reise +zwischen unserer jungen Freundschaft liegen, dann mag's sich erweisen. +Übrigens wird auch mein Herr Vater noch ein Wort mitreden wollen, +ein gar gestrenger Herr!« -- Die Schelmin wußte, daß sie den Vater +bisher immer noch dahin brachte, wohin sie ihn haben wollte, und sie +verschwieg auch, daß just in diesem Augenblick das hübsche Gesicht +eines Vetters von daheim vor ihr auftauchte, der ihr seine Neigung mit +noch heißeren Worten kundgetan hatte, ohne daß sie auch darüber gerade +ungehalten gewesen wäre. + +Seufzend ergab sich Heinrich in sein Schicksal und machte ein so +betrübtes Gesicht, daß die muntere Richenza hellauf lachte. »Um Gott, +nicht diese Leichenbittermiene. Ich verschwöre es ja nicht, Euch +später anzuhören, nur Geduld sollt Ihr haben. Vielleicht sehen wir uns +demnächst in Braunschweig wieder, und vielleicht müßt ihr mich dort im +edlen Wettbewerb mit andern zu erringen suchen, die auch mich garstige +Person ins Auge gefaßt haben. Ich freue mich schon jetzt auf die Rolle +der minniglichen Richterin über euch.« Das war wieder ganz der Schelm +Richenza, und nun fand sich auch Heinrich wieder. + +Währenddessen gingen Gisela und Johannes miteinander. Ihr Gespräch floß +nicht so leicht dahin wie das der Übrigen. Namentlich Gisela wollte +bisweilen, wie es schien, das Wort versagen. + +Sie waren in der langen Zeit, seit Johannes in Bologna weilte, in ein +fast kameradschaftliches Verhältnis zueinander gekommen. Als der junge +Student vor nunmehr mehr als zwei Jahren ankam, brachte er die Grüße +und Empfehlungen seines Vaters mit, der, jetzt ein gesuchter Arzt +in Goslar, einst mit dem Professor von Wendelin in Leipzig zusammen +studiert und Freundschaft gehalten hatte. Diese alte Bekanntschaft +öffnete Johannes sogleich das Haus der Wendelins, und er ging dort bald +wie ein Sohn ein und aus. + +Die Studenten des +Collegium germanicum+ hielten gleich denen der +andern Nationen eng zusammen, und die Professoren, zumeist Deutsche, +wie Herr von Wendelin, stützten diesen Zusammenschluß dadurch, daß sie +die jungen Leute an sich zogen, blieb ihnen doch selbst die Verbindung +mit der alten Heimat erhalten. + +Nicht alle die wilden Gesellen jener Zeit der Scholaren und Vaganten +vermochten sich im Zaum zu halten. Aber die Gutgearteten unter ihnen +und die aus gesitteten Familien waren doch froh, daß sich ihnen hier im +fernen Welschland ein Haus auftat, in dem deutsche Laute erklangen und +deutsche Art gepflegt wurde. Auch die rohen Elemente vergaßen selten +eine Wohltat, die ihnen von den Professoren erwiesen wurde. Und Herr +von Wendelin hatte sich in dieser Hinsicht in mehr als einem Herzen +ein Denkmal der Dankbarkeit gesetzt. + +Von all diesem sprach Johannes heute zu Gisela, und aus seinen Worten +erklang eine aufrichtige, ehrliche Dankbarkeit, daß es ihr warm ums +Herz wurde bei so viel Anerkennung ihres geliebten Vaters. Und dann kam +Johannes auf sie selbst zu sprechen und ihre Freundschaft, und er gab +ihr seinen heißen Dank zu erkennen, daß sie ihn dieser Freundschaft +gewürdigt habe. Einem Impulse folgend, ergriff er ihre Hände und +sprach, während er sich zu ihr neigte: »Habt Dank für alles, was Ihr +mir erwiesen. Ich weiß nicht, wie ich die Trennung von Euch und Euren +lieben Eltern werde ertragen können. In meinem Herzen bleibt Ihr für +immer. Bewahrt auch mir ein freundliches Gedenken.« + +Gisela war unter den Worten ihres Begleiters errötet und erblaßt. Sie +vermochte kein Wort zu sagen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Da +kam ihrer Verwirrung Gottfried zu Hilfe, der sich gerade näherte. Sie +suchte sich zu fassen und zwang sich sogar ein Lächeln ab, als jener +eine launige Bemerkung fallen ließ. Dann schickte man sich zur Rückkehr +an. + + * * * * * + +Dies war nun der letzte Abend, den die jungen Deutschen in Bologna +verlebten. Er beschloß die schönen Tage, welche dem Abschiede +vorhergingen, und fand sie, wie begreiflich, im Hause der Wendelins. + +Alle bemühten sich, den Scheidenden die Stunden so angenehm wie +möglich zu machen. Aber sie konnten es doch nicht verhindern, daß +ein Hauch leiser Wehmut über dem kleinen Kreise lag, je weiter die +Stunden vorrückten. Besonders Gisela zerdrückte mehr als einmal eine +stille Träne, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Dann glitt wohl +ein schneller, heimlicher Blick nach dem Platze, wo Johannes neben +der Mutter saß: Ach, er wußte ja nicht, wie ihm ihr junges Herz +entgegenschlug und wie schwer sie an dem Gedanken trug, ihn morgen +vielleicht für immer zu verlieren. + +Die Mutter ahnte nicht, welche Verwirrung der junge Deutsche im Herzen +ihres Töchterchens angerichtet hatte. Sie unterhielt sich mit ihm über +die ferne Heimat ihres Gatten und sah sie durch den Mund des Freundes +neu, in begeisterter Schilderung vor sich erstehen. Aber immer mehr +senkten sich, von den Augenblicken angeregter Rede abgesehen, die +Schatten wehmutsvoller Trauer herab. Noch einmal suchte die fröhliche +Richenza die Stimmung zu retten mit einem Appell an die Jugend, wobei +sie ihre Freundin Gisela besonders ins Auge faßte. + +»Euch ist wohl heute nachmittag der letzte Trost auf dem Reno +davongeschwommen, als wir an seinen Ufern uns ergingen. Laßt Euch +nicht an Seelenstärke von einem schwachen Mädchen, wie ich es bin, +übertreffen. Droht uns doch, meinem lieben Mütterlein, wie mir, in +gleicher Weise die Stunde des Abschieds von diesem gastlichsten aller +Häuser im Lande Italia. Ich aber habe mein Herz gewappnet gegen alle +Trübsal und helfe mir über die Wehmut des Augenblicks mit einem +herzhaften ›Auf Wiedersehen‹ hinweg.« + +»Mach' es wie ich,« wandte sie sich nunmehr direkt an ihre Base, die +liebliche Gisela, deren Gesicht sich bei den Worten der Freundin noch +mehr mit Trauer überschattet hatte, »verhärte dein Herzlein, daß die +Herren nicht meinen, sie hätten uns bezwungen.« + +Doch damit beschwor sie das Unheil erst recht herauf. Hatte sich +Gisela bis jetzt noch tapfer gehalten, so rannen ihr nunmehr die +Tränen unaufhörlich über die Wangen, und sie stürzte fluchtartig aus +dem Zimmer, um ihr Herzeleid den übrigen zu verbergen. Bestürzt sahen +diese ihr nach. Wohl hatten die Eltern bemerkt, daß eine Freundschaft +zwischen ihrem Töchterlein und dem jungen Deutschen sich entwickelte; +aber der unbefangene, fast kameradschaftliche Ton, in dem sie sich +äußerte, ließ sie nicht ahnen, daß die Herzensruhe ihres Lieblings +ernstlich gestört wurde. Nun schien dies dennoch der Fall. + +Die Mutter wie Richenza eilten der Entflohenen nach. Der Vater blieb +allein zurück mit den jungen Freunden. + +Auch die Männer blickten betroffen drein. Der Vater erkannte, daß sich +eben vor seinen Augen der Anfang eines Dramas abzuspielen begann, +dessen Ausgang im dunkeln lag. Aber bei der Gefühlstiefe, die er an +seinem Töchterchen als ein Erbteil seiner selbst zu jeder Zeit bezeugt +gesehen hatte, mußte er besorgen, daß ihr schwere Stunden bevorstanden. + +Heinrich Achtermann und Gottfried Kristaller waren am meisten +überrascht. Daß die Tränen nicht ihnen galten, wußten sie genau. Ihre +eigenen Angelegenheiten hatten sie immer so sehr in Anspruch genommen, +daß sie auf Johannes und Gisela nicht sonderlich achtgaben. Nun zeigte +es sich, daß die arme Gisela, die ihnen um ihrer anspruchslosen +Hilfsbereitschaft und Uneigennützigkeit willen ans Herz gewachsen +war, ein Kummer bedrückte, der sie nach ihrer Eigenart besonders +schwer treffen mußte. Sie schieden beide nur mit leichter Bürde auf +dem Herzen, wenn auch Heinrich im Augenblick meinte, ohne Richenza +nicht leben zu können. Doch ihm stand ja die Aussicht offen, sie in +Deutschland wiederzusehen, während für Gisela und Johannes morgen der +Abschied für immer bevorstand. Das tat ihm von Herzen leid. + +Johannes durchzuckte ein Gefühl, halb des Schreckens, halb der Freude, +als Gisela davoneilte. Hatte er bisher eine Art schwesterlichen +Empfindens für sich bei ihr vorausgesetzt, so war er zuerst hieran +irre geworden, als sie vor einigen Tagen am Reno ihre Gedanken über +seine bevorstehende Abreise austauschten. Er sah ihre seltsame Erregung +und Verwirrung und war geneigt, sie als eine Äußerung nicht nur rein +freundschaftlicher Zuneigung zu deuten. Worüber er sich selbst nie +zuvor klar geworden, was er für sich nie zu erhoffen gewagt hätte, +das schien in ihrem Herzen Wurzel geschlagen zu haben. Damals schon +durchzuckte ihn der Gedanke, sie könne ihn lieben, sie wolle ihm +angehören, mit einem heißen Glücksgefühl. Jetzt fand er bestätigt, was +er nicht auszudenken gewagt hatte. + +Dieses junge Menschenkind, über das eine gütige Fee alle Holdseligkeit +der Jugend ausgebreitet zu haben schien und das in seiner Brust +gleicherweise die edelsten Gefühle echter Weiblichkeit barg, war ihm +mehr als die Genossin frohseliger Jugendstunden, sie brachte ihm das +Geschenk einer ersten, keuschen, zarten Liebe dar. Aber zugleich +bestürmte ihn auch der Schmerz, daß er morgen schon verlieren sollte, +was er eben erst gewonnen hatte. Die Trauer griff ihm ans Herz, denn er +mußte sich bezwingen, um ihren Frieden nicht noch mehr zu stören, wie +er sich Zwang angetan hatte, seit er selbst erkannte, daß die Liebe zu +dem holdseligen Geschöpf seine Brust durchzittere. + +Inzwischen waren die Mutter und Richenza um Gisela bemüht. Da sie +argwöhnte, daß der junge Deutsche ihre Tochter durch seine Schuld um +ihre Herzensruhe gebracht habe, wallte zuerst der Unmut gegen jenen in +ihr auf. Aber beim ersten Wort, welches sie in dieser Hinsicht fallen +ließ, warf sich Gisela sofort zum Verteidiger des heimlich Geliebten +auf. + +»Er ist gewiß ganz unschuldig an der Sache, die Schuld habe ich dummes +Mädchen allein. Weshalb wußte ich meine Gefühle nicht besser zu +verbergen. Nun habe ich zu dem Schmerz auch noch den Spott, denn die +Freunde werden sich gewiß über mich einfältiges Ding lustig machen.« + +»Das werden sie nicht tun,« fiel ihr Richenza ins Wort, »dazu sind sie +viel zu ehrlich und anständig. Und Dein Johannes im besonderen, so darf +ich ihn hier doch wohl nennen, denkt zuletzt daran; denn ich müßte eine +schlechte Beobachterin sein, wenn nicht auch ihm der Abschied von Dir +recht naheginge.« + +Gisela wehrte unter Tränen lächelnd ab, doch die Freundin ließ sich +nicht beirren. »Ich weiß, was ich weiß. Übrigens kann ich ihn ja +erforschen, wenn Du es wünschest.« Erschrocken wehrte Gisela ab, +während tiefe Röte ihr Gesicht überflutete. + +»Daß Du Dich nicht unterstehst! Ich müßte mich ja zu Tode schämen; +denn gewiß würde er glauben, Du handeltest in meinem Auftrage, um ihn +auszuforschen.« + +Richenza versprach zu schweigen. »Nun aber auch wieder ein fröhliches +Gesicht aufgesteckt, daß die Herren sich nicht einbilden, Du habest um +sie Dein Tränenkrüglein gefüllt. Ich weiß zudem noch einen Trost für +Dein Leid. Es muß ja morgen nicht für immer geschieden sein. Wenn die +Eltern es erlauben, besuchst Du uns daheim in Braunschweig. Der Weg zu +uns ist nicht weiter als von uns zu Euch, und Du siehst, ich bin heil +hier angelangt und hoffe, auch unversehrt wieder im alten Braunschweig +einzutreffen. Von da nach Goslar ist's ein Katzensprung. Wollt Ihr +also, so gibt es im nächsten Jahr ein frohes Wiedersehn bei uns +daheim.« + +Gisela lächelte schwermütig zu den Zukunftsplänen der Base. »Du glaubst +ja selbst nicht, daß der Plan gelingen wird.« + +»Das tue ich allerdings; es hängt nur von Dir und Deinen Eltern ab, +ob und wann er in Erfüllung gehen soll. Ihr seht doch an mir und der +lieben Mutter, daß auch ein Frauenzimmer den Weg über die Alpen wagen +kann. Außerdem wirst Du immer reiche Gesellschaft finden, denn die +Straße über den Brenner ist so begangen, daß jede Gefahr ausgeschlossen +ist. Wenn Dich also nicht jedes Murmeltierchen schreckt, das ein +Steinchen zum Herabrollen bringt, so mach' Dich getrost auf die Reise. +An Kurzweil wird's Dir bei uns nicht fehlen. Nun aber laßt uns wieder +zu den Herren hineingehen, daß sie nicht auf falsche Gedanken geraten.« + +Auch die Mutter trieb dazu. Ihr Herz war von mehr Sorge erfüllt, als +sie zu erkennen gab; denn sie kannte ihr Kind zu genau, um nicht zu +wissen, daß die Wunde zu tief ging, um ohne ernsten Schaden geheilt +werden zu können. + +Im Zimmer ergriff Richenza sogleich wieder das Wort und suchte die +Situation zu klären. + +»Das sind die dummen Schwächen, unter denen wir Frauenzimmer leiden. +Kaum freut man sich einmal wirklich, ist auch gleich so eine Migräne +da, die uns bis zu Tränen niederzwingt. Aber, Herr Oheim, wir haben +indes schon ein Plänchen ausgeheckt, das unsere Gisela heilen wird. +Sie muß einmal heraus aus eurer Tropenluft hierzulande. Erlaubt, daß +sie uns besuche daheim im lieben Braunschweig, wo ja auch Eure Wiege +stand. Dann mögen Euch ihre roten Wänglein bei der Rückkehr verraten, +daß wir gute Pflege gegeben haben; und was dabei noch für Euch, Herr +Oheim, abfällt an lebendigen Erinnerungen an Eure liebe Heimatstadt, +das nehmt als gern gegebene Draufgabe. Also entscheidet Euch kurzerhand +und gebt die Erlaubnis. Ist's nicht für sogleich, so schenkt uns die +Gisela für das kommende Jahr. Und wenn es die Herren Studiosi und +Doctores gelüstet, uns zu besuchen, so wissen die Herren, daß es von +Goslar nur ein Ritt von wenigen Stunden ist. Herr Kristaller muß sich +allerdings schon von seinem fernen Straßburg herbemühen, will er, daß +der lustige Kreis von Bologna in Braunschweig aufs neue erstehen soll.« + +Der Vater war überrascht und suchte nach Einwendungen. Aber da er die +leuchtenden Augen seines Lieblings während der Worte Richenzas sah, +hielt er mit lauten Bedenken zurück und hoffte, daß die Zeit ihn der +Notwendigkeit überheben werde, die endgültige Zustimmung zu erteilen. +Doch nun legte sich auch Johannes für den Plan ins Zeug. Das war ja +die Erfüllung einer Hoffnung, die er selbst gar nicht zu hegen gewagt +hätte. Und den vereinten Anstrengungen gelang es, die endgültige Zusage +zu erhalten. Er ahnte nicht, daß die Ausführung unter viel trüberen +Umständen wirklich erfolgen sollte. + +Die Stunde des Abschieds war gekommen. Als Johannes sich über die +Hand Giselas neigte, flüsterte er ihr zu: »Ich weiß, daß wir uns +wiedersehen; das macht mir den Abschied leichter. Bewahrt mir bis dahin +ein Plätzchen in Eurem Herzen.« + +Ein lichtes Rot der Freude überflog das Gesichtchen Giselas, und eine +reizende Verwirrung ließ sie noch lieblicher erscheinen. Aufs neue +füllten Tränen ihre Augen, aber es waren Tränen seligen Glücks. Dann +schloß sich hinter den Freunden das Tor des alten Palazzo Faba, in dem +der Professor wohnte. + + + + +Als am andern Morgen die Glocken von San Giacomo Maggiore die Frühmette +einläuteten, traten Johannes und Heinrich, wie auch Gottfried, aus +ihrer Wohnung und bestiegen die schon bereitgehaltenen Pferde, denen +ihre Felleisen, das einzige Reisegepäck, welches sie persönlich mit +sich führten, sorgsam aufgeschnallt waren. + +Das Tor wurde gerade von dem halbverschlafenen Wächter geöffnet, als +sie die Stadt auf dem Wege verließen, der als die uralte Via Aemilia +vor dem Apennin entlang führt und nur jeweils in den Städten, die +sie durchkreuzt, sich eine Abweichung von der schnurgeraden Richtung +gefallen lassen muß, in der sie als ein endloses, weißes Band sich +dahinzieht. Mit ihnen ging noch ein Mönchlein aus der Stadt, das dort +wohl übernachtet hatte und nun in sein Kloster zurückkehren wollte. Es +hielt indes nur kurze Zeit Schritt mit den rüstig ausgreifenden Rossen, +und sie waren allein. Noch lag der Schatten des frühen Morgens mit +seiner Kühle auf der Straße, und ein Frösteln überflog ihre Glieder. +Aber munter ging es weiter. + +»Du sinnst wohl noch über den Abschied von der lieblichen Gisela nach?« +unterbrach Gottfried das Schweigen. Doch Johannes verspürte keine +Neigung auf den scherzhaften Ton einzugehen. »Laß die Geschichte; Du +tust mir weh mit dieser Art davon zu sprechen.« Da brach Gottfried das +Gespräch ab, und sie ritten schweigend fürbaß. Auch Heinrich Achtermann +zog wider seine sonstige Gewohnheit mürrisch und wortkarg dahin. + +Noch war nichts Lebendes auf der Straße zu sehen. Doch jetzt blitzte +es im Morgennebel vor ihnen, und trapp, trapp, trapp kam es zu ihnen +heran. Es waren Speerreiter des Podesta von Bologna, die ein paar +armselige Lumpen mit sich führten. Auf einer nächtlichen Streife im +Banngebiet der Stadt auf frischer Tat ertappt, trabten sie jetzt +trübselig hinter den Pferden drein, an deren Schweif sie kurzerhand +gebunden waren. Auch andere Frühaufsteher tauchten bald auf der Straße +auf, Landleute, die ihr Geschäft in die Stadt führte, Bauern mit +Ochsenkarren, welche Getreide und sonstige Früchte den Kaufleuten in +Bologna bringen wollten, junge, rüstige Dirnen und alte Weiber, die +Melonen und andere Früchte heimischen Fleißes am selben Ziel in Geld +umzusetzen hofften. + +Inzwischen war die Sonne hervorgebrochen und übergoß Land und Straße +mit ihren wärmenden Strahlen. + +Langes Schweigen war wider die Natur des lebhaften Gottfried. + +»Wißt ihr übrigens, daß wir in unserm Stumpfsinn auf +geschichtsschwangerem Boden dahinreiten? Hier erklang schon vor +anderthalbtausend Jahren der eherne Tritt römischer Legionen, die auf +Eroberung auszogen, und wieder um ein beträchtliches später zogen in +umgekehrter Richtung die Gewappneten der deutschen Kaiser sie entlang, +um in das Land Italia einzudringen?« + +Die lachende Septembersonne verscheuchte auch die Grübeleien, in die +Johannes versunken war, und die jugendliche Hoffnungsfreudigkeit siegte +über die Zweifel, die sich ihm aufgedrängt hatten: Es würde doch alles +gut werden, wie er es selbst gestern Gisela gesagt hatte. Und er konnte +auf den fröhlichen Ton des Freundes eingehen. + +»Da kennst Du unsern guten Magister Sutor schlecht -- den schlichten +›Schuster‹ vertrug seine Gelehrsamkeit schlecht, und wenn er uns einmal +aus Unachtsamkeit oder Bosheit über die Lippen glitt, saß uns der Bakel +schon auf dem Buckel. -- Er hat uns haarklein den Weg gezeigt, den der +große Cäsar mit seinen Heeren nahm, und die Tuben der Legionen des +Varus hörten wir schon erklingen, wenn sie noch diesseits der Alpen, +meinetwegen auf der alten Via Aemilia, ertönten, auf der wir jetzt +selbst dahintraben. Ich wollte nur, ich hätte gleich ihnen erst die +Alpen überschritten und zöge dem alten Goslar zu.« + +Unterdes war die Sonne höher und höher gestiegen und sandte ihre +Strahlen mit einer Glut auf die Reisenden herab, daß ihr Gespräch +wieder versiegte. Auf den Feldern arbeiteten Bauern mit ihrem +Ochsengespann, vor ihnen lag das weiße, schattenlose Band der Straße, +auf der sich kaum ein Lebewesen zeigte, denn alles floh vor der +sengenden Hitze. + +Die Freunde hatten sich als Ziel des Tages Parma gesetzt; aber als +sie Modena, etwa halbwegs zwischen Bologna und Parma, gegen Mittag +erreichten, fühlten sie doch, daß sie gut täten, den Pferden, wie +sich selbst nicht noch eine gleich große Wegstrecke zuzumuten, und +sie blieben dort bis zum nächsten Morgen. Nach zwei weiteren, gleich +ermüdenden Tagereisen trafen sie in Piacenza, der alten Brückenstadt am +Po, ein, wo ihre letzte Raststätte vor Mailand sein sollte. + +In Piacenza erfuhren sie in der Herberge von deutschen Landsleuten, die +von Genua angekommen waren, daß der Kaufherr Ernesti tags zuvor hier +eingetroffen, aber schon nach Mailand vorausgeeilt sei, weil er dort +noch Geschäfte zu erledigen habe. + +Unterwegs schon hatte Gottfried nach diesem Ernesti gefragt, aber +Heinrich wie Johannes vermochten ihm keinen Aufschluß über den +seltsamen Mann zu geben, der als einfacher Kaufmann mit den Mächtigsten +der Erde verhandelte, wie es sonst nur die Aufgabe kaiserlicher +Ambassaden war. Wohl hatten sie in Goslar den Namen des Mannes +aussprechen hören, doch nach Art der Jugend kümmerten sie sich wenig +um Dinge, die sie und ihre Jahre nicht berührten. Beide, besonders +Heinrich, fesselten viel mehr, da sie noch in der Münsterschule +zu Goslar saßen und unter dem Joch des gestrengen Magisters Sutor +seufzten, die Spiele mit den Altersgenossen und die Reigen mit den +hübschen Goslarer Bürgermädchen, besonders der Lange Tanz, ein Reigen +aus alter Zeit, welcher der Sage nach die immerwährenden Kämpfe +zwischen den einheimischen Sachsen und den zugewanderten fränkischen +Bergleuten beendet hatte. Alljährlich zur Fastnachtszeit fand er statt, +und selbst ein hochweiser und gestrenger Rat sah dem lustigen Treiben +wohlgefällig zu, das sich vor seinen Augen abspielte in dem anmutigen +Schreiten und Sichneigen und Hüpfen lieblicher Jungfräulein und +kühnstolzer Jünglinge, die jene geleiteten. + +Man konnte also die Wißbegier des Freundes hinsichtlich Ernestis nicht +befriedigen. Auch das, was die mitreisenden Kaufleute nächsten Tages +auf der Reise von Piacenza nach Mailand über ihn zu sagen wußten, +ließ noch vieles an diesem Manne im dunklen. Daß er ein seltsamer +Mensch sei, erhellte zur Genüge aus ihren Worten, aber auch, daß er +weltbefahren und über das gewöhnliche Maß hinaus angesehen und mächtig +sein müsse, blieb demnach nicht zweifelhaft. Seine Beziehungen reichten +von Italien bis Frankreich, und er war in den Handelsplätzen der +Niederlande gleich bekannt wie in der berühmten Stadt Nowgorod am +Ilmensee im fernen Reiche der reußischen Zaren. + +Daß Ernesti in besonders wichtiger Mission vom Rate der Stadt Goslar +zur Päpstlichen Kurie in Rom entsandt worden war, wußten sie aus dem +Briefe von daheim. Heinrich ließ darüber den Kaufleuten gegenüber +nichts verlauten, da er nicht wußte, ob das der Sache dienlich war, und +Johannes schwieg ebenso selbstverständlich. Die Kaufherren erzählten, +daß Ernesti als Heimweg von Rom nicht den Weg über die Abruzzen +gewählt habe, wiewohl dieser der kürzere war, sondern in einem kleinen +Küstenklipper nach Genua gefahren sei, um dort im Dogenpalast noch +etwas zu erledigen. -- Fürwahr, ein seltsamer, geheimnisvoller Mann, +dieser Ernesti, dachte auch Johannes, dessen Gedanken sich allmählich +mehr und mehr mit ihm beschäftigten, dem die Sache seiner Vaterstadt +anvertraut war und mit dem ihn das Leben wahrscheinlich auch künftig +noch mehr als einmal zusammenbringen würde, wenn er erst, wozu seine +Studien den Weg bereitet hatten und was sein Vater sehnlich wünschte, +im Rate der Stadt Goslar Sitz und Stimme hätte. + +Der Wagenzug war durch ein Hindernis ins Stocken geraten. Während die +Knechte unter der Aufsicht der Kaufherren noch mit der Beseitigung des +Hindernisses beschäftigt waren, ritt Johannes mit den Freunden langsam +voraus. Noch klangen in seinen Ohren die Worte der Mitreisenden über +Ernesti wieder, aber seine Gedanken blieben an der alten, wehrhaften +Stadt am Harz haften, die jenen gesandt hatte und durch ihn selbst von +dem Ausfalle des Auftrages Kunde erhalten würde. Wie mochte es dort +aussehen, was die Freunde und Gespielinnen treiben, von denen er nun +schon manches Jahr fern weilte; denn auch vor den Jahren, die er in +Bologna verlebte, sah ihn die Heimat nur selten, wenn er in den Ferien +von der Universität Wittenberg zu Besuch kam. Die seltenen Briefe +der Eltern gaben nur unvollkommen Auskunft über das, was gerade ihn +interessierte. + + * * * * * + +Sollte Heinrich die Wahrheit sagen, so war er von Ernesti enttäuscht, +als er ihn zum ersten Male im »Leuen« zu Mailand sah, und Johannes +schien dieselben Empfindungen zu haben. Der Fremde entsprach in seinem +Äußern durchaus nicht der Gestalt, die der junge Goslarer sich von +ihm gebildet hatte. Ein Mann von der Bedeutung Ernestis müsse, so +glaubte jener, neben der ragenden, gebietenden Größe, dem kühnen, +entschlossenen Gesicht, auch in Wort und Ton die Macht zum Ausdruck +bringen, die ihm eigne. Und nun trat ihm ein Mensch entgegen, der von +alledem wenig oder gar nichts an sich trug. Schon am Abend der Ankunft +in Mailand bekamen sie ihn zu Gesicht. Ein etwas mürrischer, wie es +schien, sehr verschlossener Mann kam herein. Von Gestalt war er nicht +mehr als mittelgroß; in dem fast alltäglichen Gesichte verriet nur das +Spiel der beweglichen, ein wenig stechenden Augen den Reichtum der +Gedanken, die sich hinter der hohen, kahlen Stirn bergen und kreuzen +mochten. + +Ernesti wandte sich alsbald mit einigen freundlichen, gleichgültigen +Worten an die jungen Leute. Auf den Hauptzweck ihres Zusammentreffens +hier ging er nur mit einer kurzen Bemerkung ein. + +»Es tut mir leid, daß ihr die Beschwerden der Reise in höherem Maße +auf euch nehmen müßt, als ohne den euch gewordenen Auftrag nötig wäre. +Aber ich selbst kann die Botschaft an den Rat eurer Vaterstadt nicht +persönlich überbringen, und sie verlangt eine zuverlässige Hand. Ich +bin überzeugt, daß er keine besseren Boten hätte finden können, und ihr +werdet euch des Vertrauens würdig erzeigen, das der Hochmögende Rat +euch bei eurer Jugend bezeugt. In Köln werde ich euch das Schriftstück +aushändigen. Ich hoffe, daß man in Goslar mit dem Inhalte wohl +zufrieden sein wird. Von Köln ab habt ihr Gelegenheit, mit einem Zuge +flandrischer Kaufleute, die nach Goslar wollen, um euer berühmtes +Kupfer zu holen, die Weiterreise fortzusetzen.« + +Das hieß mit anderen Worten, sie, Heinrich und Johannes, durften das +wichtige Schriftstück unter den Augen und dem Schutz anderer tragen, +von dem Inhalte erfuhren sie nichts. Einen Augenblick wollte etwas wie +Unmut in Heinrich aufsteigen, aber schnell überwand er die Anwandlung, +zumal in diesem Augenblick sein Freund Gottfried die Runde an seinem +Tische mit einem Scherze zu lustigem Gelächter verleitete. + +Am frühen Morgen des nächsten Tages ging die Reise nordwärts bis an +das Südufer des Langen Sees, den man in einem der plumpen Schiffe +hinauffuhr. Hier trat den Reisenden zuerst wieder die Majestät der +Alpen vor Augen, namentlich im nördlichen Teil des Sees, wo die +Felsenberge in jähem Absturz den engen See fast erdrücken durch +ihre Wucht. Aus der Ferne dräute in ernstem Weiß der schimmernde +Monte Leone, der nach dieser Seite hin die Vorhut bildet der noch +gewaltigeren Monte-Rosa-Gruppe und all der anderen Riesen der Walliser +Berge. In Locarno herrschte noch die fast sommerliche Glut des +italienischen Frühherbstes. An der Straße ungeschützt die Palmen. +Aus den laubdunklen Weingehegen lockten die schwellenden Trauben: +»Nimm mich, nimm mich!« Doch die Reisenden hatten nicht Zeit, die +Herrlichkeiten zu genießen, die ihnen das lachende Seegestade darbot. +Noch einmal wurden die Warenballen auf plumpe Karren geladen. +Aber das immer enger werdende Tessintal, in welchem die Fahrzeuge +dahinrumpelten, setzte dieser Art von Beförderung bald ein Ende. Bis +Biasca mühten sich die Zugtiere noch ab, die Wagen auf der holperigen, +oft von tiefen Schründen durchsetzten Straße, die doch keine solche +war, dahinzuzerren. Dann mußte man endgültig zu den Saumtieren seine +Zuflucht nehmen. + +Auch die menschlichen Siedlungen blieben immer mehr zurück und +verschwanden von der Wegseite. Hatten bis dahin die Augen an den auf +jähem Felsen wie ein Adlerhorst gebauten Schlössern und Burgen und den +einsamen Kirchlein, die in gleich trutziger Lage von dem frommen Sinn +des Erbauers zeugten, sich geweidet, so wurde nunmehr der Weg nur noch +von kahlen Felsen begleitet, die in grausigem Absturz das enge Tal zu +begraben drohten. Hier und da gab ein schmales Seitental den Einblick +in eine gleich furchtbare Einsamkeit frei. Nur einmal noch traf das +Auge der Reisenden auf menschliche Wesen, unweit Airolo, wo das wilde +Val Tremola, das ›Tal des Zitterns‹, den Weg freigibt zum Aufstieg auf +den St. Gotthardt. Es war ein Bild, das Johannes lange nicht vergessen +konnte: Unter dem lärmenden Zuruf der welschen Treiber kletterten die +Saumrosse das Tal empor. Da hockten am Wegesrande einige zerlumpte +Gestalten, unter ihnen ein Mädchen von madonnenhafter Schönheit. Die +Gesichter mehrerer von ihnen waren mit Lappen maskenartig verhüllt, +nur die schwarzen Augen funkelten durch Löcher, welche in jene Lappen +geschnitten waren. Von dem Rauschen des Gebirgsflusses halbverschlungen +klang ihr klägliches »+prego, prego+« Johannes entgegen, der ein +wenig der Karawane vorausritt. Doch schon eilten die welschen Treiber +mit drohend geschwungenen Knütteln herbei und verscheuchten die Ärmsten +in das nahe Seitental, aus dem sie gekommen sind und in dem sie, fernab +von allen anderen menschlichen Wesen, sich vor ihren Mitmenschen +bergen und einsam dem Tode entgegensiechen mochten. Ehe Johannes dazu +gekommen war, ihnen eine Gabe zuzuwerfen, waren sie schon ein Ende zur +Seite gewichen. »+Leprosi, Leprosi+«, heulten die Treiber noch +immer, als ob es gälte, wilde Bestien zu verscheuchen. Die Aussätzigen +hasteten weiter; aber Johannes fing noch einen Blick des schönen +Mädchens auf, so voller Schmerz und Verzweiflung, daß er den Gedanken +an das erschütternde Bild den ganzen Tag nicht los wurde. Er sah an +ihrer Stelle Gisela, verlassen, verfolgt, dem Elend preisgegeben, und +tiefstes Mitleid durchschnitt ihm das Herz. + +Über die Paßhöhe, das Urserntal hinab auf der Nordseite, wo die junge +Reuß ihre Kinderstube hat und längs des Saumpfades gischtet und tobt, +und dann stetig ihr folgend, stieg man hinab bis dahin, wo in der +Talsohle das flammende Rot der Edelkastanien das große Sterben in der +Natur ankündete. Über den Vierwaldstätter See brachte sie eine der +großen, sturm- und wettererprobten Nauen gen Luzern, und weiter ging +die Fahrt bis an den grünen Rhein, den man bei der alten Handelsstadt +Basel zuerst zu Gesicht bekam, aber nicht überschritt; denn die Fahrt +ging ins Elsaß hinein, geradewegs auf das alte Straßburg zu. + +Gottfried Kristaller hatte recht prophezeit, als er in Bologna verhieß, +Freund Heinrich werde über den schönen Augen der Straßburgerinnen den +alten Schmerz vergessen. Im lustigen Geplauder mit Gottfrieds Schwester +und ihren Freundinnen schwand der letzte Unmut aus seinem Herzen. Der +neue Tag fand ihn schon völlig eingebürgert in der neuen Umgebung, und +als man am Morgen des dritten Tages von dannen zog, war der Abschied +so warm und lebhaft, als ob eine alte Freundschaft ihre erste Trennung +erfahre. Johannes hielt die Hand Gottfrieds lange in der seinen. Er +war kein Mann überschwenglicher Gefühlsäußerungen, aber wer seine +Freundschaft erworben hatte, der konnte für immer auf ihn zählen, und +Gottfried war ihm ein Freund geworden in Bologna trotz aller äußeren +und inneren Verschiedenheiten. + +Nun ging die Fahrt zu Schiff den Rhein hinab im breiten Graben der +Oberrheinischen Tiefebene mit seiner melancholischen Weite. Sie +bot wenig Kurzweil; denn die Reihen der Kaufleute war in Luzern +wie in Basel und Straßburg bedenklich gelichtet worden, und die +übriggebliebenen, die vom Niederrhein und aus Westfalen, hatten mit +ihren eigenen Angelegenheiten so viel zu tun, daß sie sich um die +beiden Goslarer wenig kümmerten. Um so mehr war es anzuerkennen, daß +Herr Ernesti sich ihnen mehr zuwandte als bisher. Er hatte die drei +Gesellen auf der Reise von Mailand her im Auge behalten und sie nach +ihrer Eigenart zu bewerten Gelegenheit gehabt. So war es ihm nicht +zweifelhaft, daß der Stetigere, Zuverlässigere Johannes Hardt sei. An +ihn waren daher auch im Anfang zumeist seine Worte gerichtet. Heinrich +Achtermann war darob nicht böse; denn der Gesprächsstoff nahm ihn, der +gewohnt war, in seiner Umwelt zu leben, nicht immer gefangen. So kam +es, daß sich zwischen dem berühmten Kaufherrn und Agenten und Johannes +ein Verhältnis anbahnte, das mit jedem Tage freundschaftlicher wurde. +Diesem gegenüber ließ Ernesti seine sonstige Zurückhaltung fallen und +sprach mit ihm über seine Reisen und Erfahrungen. + +Auch den Mitreisenden fiel der enge Verkehr zwischen den beiden +auf, und sie gaben wohl gelegentlich ihrer Verwunderung Ausdruck. +»Euer Freund muß es ja dem Ernesti angetan haben, daß er so gegen +seine Gewohnheit redselig wird. Was besprechen denn die beiden nur +immer?« Heinrich bemerkte wohl, daß unbefriedigte Neugier aus ihren +Worten klang, und er gab nur eine allgemeine Antwort: »Das weiß ich +ebensowenig wie Ihr, denn Ihr seht ja, daß ich mich wenig daran +beteilige. Der Stoff ist mir zu langweilig.« + +Aber das änderte sich doch, als sich das Gespräch mehr und mehr +Goslar zuwandte. Ernesti selbst regte diesen Gegenstand immer wieder +an, und so konnte sich Heinrich nicht enthalten, etwas neugierig und +ungeschickt zu fragen: + +»Weshalb verfiel der Rat von Goslar gerade auf Euch mit der wichtigen +Sendung nach Rom? Ich sollte meinen, es hätte sich doch auch unter den +Bürgern der Stadt jemand finden lassen, der sich der Aufgabe unterzogen +hätte?« + +»Daß er jemand gefunden hätte, bezweifle ich nicht«, erwiderte Ernesti +mit einem leichten Lächeln. »Ob er aber auch Erfolg gehabt hätte, ist +eine andere Sache. Euer Rat wird sicher gewußt haben, weshalb er mich +wählte und nicht einen anderen. In Rom ist es mit dem Reden nicht +allein getan. Man muß zugleich alle Sinne angespannt halten, um nicht +ins Hintertreffen zu geraten. Das unscheinbarste Wort will auf seinen +besonderen Wert hin gedeutet, die harmloseste Miene auf ihre versteckte +Bedeutung hin geprüft und beobachtet sein. Ich bin im Verkehr mit +den Großen der Erde, wie Euch die Schwätzer und Neider unter meinen +Gefährten gewiß schon zugeraunt haben, nicht gerade unbeholfen; aber +über jeden kleinsten Erfolg, den ich im Lateran davontrage, bin ich +doppelt froh, und erkenne ich nachher, daß er nicht zu teuer erkauft, +um ein Mehrfaches. Bei dem Auftrage, den ich für Goslar auszurichten +hatte, will mir das scheinen, und ich gestehe Euch, daß mich das +besonders freut.« + +»So gestattet auch mir eine Frage, Herr Ernesti«, fügte Johannes hinzu. +»Weshalb nehmt Ihr an Goslar dieses besondere Interesse? Soviel ich +weiß, verbinden Euch doch nicht besondere Bande mit meiner +Heimatstadt!« + +»Gewiß,« entgegnete Ernesti, »ich verstehe Eure Verwunderung. +Vielleicht raunte man Euch auch zu, ich täte es um des blanken Goldes +willen.« Johannes wehrte ab, doch jener fuhr unbeirrt fort: »Ihr +braucht weder Euch noch jene zu verteidigen; denn natürlich erhalte ich +von Eurem Rat eine angemessene Entschädigung, wenn auch in anderer Art, +als Euch vorschwebt. Derartige kostspielige und nicht ungefährliche +Aufträge übernimmt ein guter Kaufmann und Familienvater nicht um +bloßen Gotteslohn. Aber ich würde mich doch bedacht haben, nach Rom zu +reisen, wenn ich nicht für Goslar ein absonderliches Interesse hegte. +Ihr seid schon zu lange von Goslar fort und seitdem nicht oft wieder +dort gewesen, um über meine Beziehungen zu Goslar unterrichtet zu sein. +Ich bin in der Tat nicht selten dagewesen, auch als Ihr selbst noch +dort weiltet; aber die Größe der Stadt -- Ihr werdet Euch inzwischen +ja selbst überzeugt haben, daß Goslar zu den ganz großen gehört -- und +Eure jugendliche Unbefangenheit hat mich Euch wohl verborgen gehalten. + +Ich komme gern nach Goslar und bedauere, daß es mir nicht vergönnt ist, +die römische Botschaft persönlich zu überbringen; es wäre mir eine +besondere Freude gewesen. Weshalb ich gern bei Euch weilte und weile? +-- Nun, einmal sind es verwandtschaftliche Beziehungen, die mich mit +Goslar verbinden. Meine Vorfahren lebten bis auf den Großvater in Eurer +Stadt. Das Geschlecht der von Ildehusen, das in der Geschichte Goslars +nicht unrühmlich bekannt ist, gab uns den Ursprung, und wir haben mehr +als einen Bürgermeister und Ratsmann gestellt, die am Aufbau Eurer +mächtigen Vaterstadt mithalfen. Den Großvater verschlug das Schicksal +nach der Stadt Soest am alten Hellweg. Übrigens haben wir noch heute +nicht alle Beziehungen zu Goslar verloren. Mir lebt dort ein Vetter +Richerdes, bei dem ich, weile ich im Harz, gern absteige.« + +»Ist das etwa der ehemalige Ratsherr oder Sechsmanne Richerdes von +der Gundemannstraße?« fragte Heinrich lebhaft. »Ganz recht«, lautete +die Antwort. »Ei, so kennt Ihr ja auch die Venne Richerdes, meines +Schwesterleins liebste Gespielin.« -- »Und vielleicht auch Euch selbst +nicht zuwider«, fiel ihm Ernesti lächelnd ins Wort. »Freilich kenne +ich sie, ist's doch mein liebes Niftel, das ich selbst aus der Taufe +gehoben habe, und über dessen prächtiges Gedeihen ich mich freue, wann +immer ich sie sehe.« + +»Da wundere ich mich nur um so mehr, daß ich Euch nie sah; freilich +Euer Name fiel wohl auch aus dem Munde der Venne, aber ich gab des +nicht acht.« + +»Also liegt die Schuld immer wieder bei Euch; denn ich pflege nicht den +Unsichtbaren zu spielen, wenn ich in Goslar bin. Doch Ihr hattet wohl +Wichtigeres zu tun, als Euch um den fremden Mann zu kümmern. Und -- Ihr +seid mir noch die Antwort schuldig -- was haltet Ihr selbst von der +Venne?« + +»Als ich Goslar verließ, verhieß sie, mit der Zeit vielleicht ein +schönes Mädchen zu werden. Ich habe sie oft bei uns gesehen, und als +Kinder haben wir auch bei ihnen, besonders in ihrem schönen Wallgarten, +unsere Spiele getrieben. Ich fürchte nur, daß ich bei ihr nicht in +dem Rufe unbedingter Ritterlichkeit stehe; denn wir Knaben waren arge +Rangen, und die Mädchen, auch Venne, haben unser Ungestüm oft zu büßen +gehabt. Von dem Abschied vollends wage ich gar nicht zu sprechen. Soll +also Eure Frage ergründen, ob ich bei ihr in besonderer Gunst stehe, so +kann ich das nur mit allem Vorbehalt zusagen.« + +»Gut reserviert«, lobt der andere. »Ich sehe, Ihr habt Eure Studien +nicht umsonst erledigt und werdet dermaleinst es verstehen, knifflige +Fallen zu meiden. Auf jeden Fall darf ich Euch aber, da Ihr Goslar +eher erreichen werdet als ich, bitten, den Richerdes meine Grüße +auszurichten. Vielleicht nimmt Euch dann mein Niftel ob dieses +Liebesdienstes wieder ganz zu Gnaden an.« + +Dann kehrte man wieder zu ernsteren Dingen zurück. »Ihr fragtet mich +nach dem Inhalt des Schreibens der römischen Kurie an den Rat zu +Goslar. Glaubt mir, Ihr jungen Freunde, es ist nicht Geheimniskrämerei, +die mir den Mund verschließt. Aber ich habe den Auftrag, Euch die +Botschaft verschlossen zu übergeben, und ich weiß, daß es zu Eurem +Besten ist, wenn Ihr ohne Kenntnis von dem Inhalte seid. Es sind +überall Späher, auch um uns herum, und ein unvorsichtiges Wort könnte +den ganzen Erfolg meiner Reise in Frage stellen; denn an der Auswirkung +ist nicht Goslar allein interessiert. + +Ihr seid stolz auf die machtvolle Stellung eurer Stadt, mit Recht. +Doch so viel werdet Ihr trotz Eurer Jugend auch schon gehört und +gesehen haben, daß Goslars Glanz und Vormachtstellung mit dem Silber +und Kupfer des Rammelsberges steht und fällt und daß als zweite +unerläßliche Vorbedingung für ein weiteres Blühen Eures Gemeinwesens +der ungestörte Besitz und die Nutzung der gewaltigen Forsten, welche +Goslar umgeben, ist. Von dem ersteren, der Bedeutung des Bergwerks +werdet Ihr in Köln aufs neue einen Beweis erhalten, wenn Ihr mit den +flandrischen Kaufleuten zusammentrefft. Sie sind auf dem Wege zu Euch, +um das ›+keuvre de Gosselaire+‹, das goslarsche Kupfer, zu holen, +um es in den Kupferschlägereien zu Dinant und in den anderen Städten +Flanderns und der Niederlande zu verwenden. Und kämet Ihr nach London +oder gen Nowgorod im Reußenlande, so würdet Ihr dort den Namen ›Goslar‹ +und ›goslarsches Silber oder Kupfer‹ mit derselben Geläufigkeit und +Häufigkeit nennen hören. Euer Reichtum und Eure Macht sind aller Welt +bekannt, es kennen ihn aber auch Eure Feinde und Neider, die Ihr zum +Teil nicht weit zu suchen habt. + +Es muß Eurem Rat nachgerühmt werden, daß er schon frühzeitig die Lage +erkannt und danach zu handeln bestrebt gewesen ist. Schon unter König +Wenzel, vor mehr als hundert Jahren, verstand es Goslar, sich eine +Reihe von Gnadenbriefen zu verschaffen, welche der Stadt den Genuß +ihrer Rechte auf Berg und Forst sicherten. Indes, wie Ihr wissen +werdet, haben auch die Braunschweiger Herzöge verbriefte Rechte und +Privilegien auf Berghoheit und den Zehnten. Zur Zeit sind diese Rechte +nach dem Rate von Goslar verpfändet, und die ewige Geldnot der Herzöge +hinderte sie bis jetzt, den Pfandschilling zu erstatten, aber laßt +sie nur zu Atem kommen und den Appetit sich regen, dann wird sich's +bald ändern. Ich fürchte, ich fürchte, die Anzeichen dazu sind schon +wahrzunehmen. + +Damals, als die Braunschweiger das Geld nahmen, wäre es ein leichtes +gewesen, ihnen ihre Rechte um ein billiges abzukaufen, statt sie +in Pfand zu nehmen; denn damals stand es schlecht um den Bergbau: +Wassereinbrüche, deren man nicht Herr werden konnte, leere Erzgänge +ließen das Ganze als wertlos erscheinen in den Augen Uneingeweihter. +Damals war es Zeit zum Zugriff, damals mußte Goslar das Ganze an sich +bringen, statt Pfandschillinge zu nehmen und eine Gewerkschaft zu +gründen mit Bürgern und fremden Herren. Nun rächt sich die Versäumnis +nach jeder Richtung hin. + +Ihr habt einmal einen großen Mann gehabt, der die Aufgabe Eurer Stadt +richtig erkannte. Hermann Werenberg hieß er und war Stadtkanzler; Ihr +werdet seinen Namen gehört haben. Glaubt mir, er war einer der ganz +Großen in der Geschichte Eurer Stadt. Was Goslar heute ist, verdankt +es in erster Linie diesem Manne. Er bewies eine Staatskunst, die ihn +auch befähigt hätte, ein größeres Staatswesen, als es Eure kleine +Stadtrepublik ist, auf die Höhe irdischer Macht zu bringen und dort +zu erhalten. Daß er dabei, wieder nach Art der wirklich Großen, alle +Mittel nutzte, um die Gerechtsame auf Berg und Forst in den Besitz der +Stadt zu bringen, wird ihm nur der kleine Geist als Schuld anrechnen. + +Die Bahn war frei, aber Werenbergs Leben ward ein Ziel gesetzt, ehe der +Erfolg im ganzen Umfange gesichert war. Er starb, und seine Nachfolger +verstanden nicht, das Erworbene festzuhalten und auszubauen. Sie +hätten die geldhungrigen Herzöge von Braunschweig abfinden, die +Gewerken, unter denen das Kloster Walkenried und das reiche Domstift +Simon und Juda in Goslar selbst zu nennen sind, aufkaufen sollen, ehe +das Bergwerk wieder das wurde, was es war und jetzt ist: eine ungeheure +Goldgrube für den, der es besitzt. Jetzt ist's zu spät, will mir +scheinen. Niemand wird noch seine Rechte an die Schatzkammer aufgeben +wollen, zu der er einen Schlüssel in der Hand hat, weder Kloster, noch +Fürst, noch Bürger; denn auch diese sitzen unter den Gewerken noch +heute. Es mag von geringem Sinn für das Wohl des Ganzen zeugen, daß sie +sich sperren, ihre Rechte in die Hand des Rates zu geben, aber es ist +so. Mein eigener Vetter, der Sechsmanne Richerdes, zählt ja auch zu +ihnen. + +Es ist zu spät, sage ich; denn wenn schon die eigenen Bürger nicht von +Euch veranlaßt werden können, ihren Eigennutz hinter das gemeine Wohl +zu stellen, so habt Ihr von den Fürsten erst recht nichts Gutes zu +erwarten. Wenn mich die Anzeichen nicht trügen, rüstet man im Schlosse +zu Wolfenbüttel bereits zu entscheidenden Schritten. Den Pfandschilling +aufzubringen, wird ihnen nicht schwer fallen, denn es sitzen der +Geldgeber genug in deutschen Landen, die auf ein so gutes Unterpfand +hin gern helfen werden. Dann hat Goslars Schicksalsstunde geschlagen.« + +Die Gesichter der Zuhörer verdüsterten sich unter den Worten Ernestis +sorgenvoll. So hatten sie allerdings das Geschick der Heimat nicht +gewertet, und so schien es auch niemand daheim einzuschätzen, alles war +auf Freude und Stolz an der Blüte eingestellt. + +»Ich sehe,« fuhr der andere fort, »daß Ihr bekümmert seid; aber es +tut nicht gut, mit verbundenen Augen in das Leben einzutreten. Doch +ich will Euch auch nicht ohne Trost lassen. Wie sehr und weshalb ich +an Goslar hänge, ist Euch bekannt, und was ich tun kann, um das Unheil +abzuwenden, wird geschehen. Mein Einfluß reicht weit, wie Ihr selbst +schon gemerkt habt. Holte ich Hilfe aus Rom für Euch, so werde ich auch +in der Nähe nützen können. Der Himmel hat dafür gesorgt, daß auch der +Stolz der Herzöge nicht zu sehr ins Kraut schießt. Ihre liebe Stadt +Braunschweig macht ihnen viel zu schaffen und wird, faßt man es richtig +an, Euch von größtem Nutzen sein. Aber in einem könnt Ihr, das sage ich +noch einmal, Euch nur allein helfen, das sind die Zustände in Goslar +selbst. + +Will man sich des Besitzes einer Sache ungestört erfreuen, so darf +sie nicht der Gegenstand des Neides anderer sein, wie ich Euch +schon sagte. Man muß sie im Urteil der Neidlustigen als minder +begehrenswert hinzustellen verstehen oder die Zeitläufte benutzen, +um die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken. Beides haben die Goslarer +vormals nicht versäumt. Als die große Bewegung der Kreuzzüge die Massen +durchzitterte und aller Augen nach dem Morgenlande gerichtet waren, +hat Goslar seine Position Schritt um Schritt verstärkt. Als dann die +öffentliche Meinung vom Bergwerke als einer verlorenen Sache sprach, +brachten sie die Gerechtsame des Berges an sich. Sehr schön, aber die +Nachfahren haben nicht zu nutzen verstanden, was die Väter schufen. +Jetzt ist's umgekehrt wie ehedem: Der Nachbar sieht dem Nächsten auf +den Bissen, die Großen beneiden die Größten, und der Kleinen Begehr +steht nach dem, worauf die Großen überlaut und unvorsichtig als ihr +Eigen pochen. + +Erst waren es die Gilden. Nachdem sich Gevatter Schneider und +Handschuhmacher durch das Aufblühen der Stadt den Beutel gefüllt +hatten, kam ihnen auch der Machtkitzel, und sie wollten mitregieren, +ob sie es auch nicht verstanden. Nun regieren sie mit, daß es Gott +erbarme. Und schon regt sich's abermalen machtlüstern und beutegierig. +Was dem Handwerker gelang, ließ auch die Masse des gemeinen Volkes +nicht ruhen. Kommt sie zur Macht, dann gnade Gott Euch Goslarern, +wie allen denen, wo die Plebs ihr Haupt siegreich erhebt. +Videant +consules!+ -- der Rat mag sehen, daß er Herr der Lage bleibt. Reicht +er der unvernünftigen Masse den kleinen Finger, so ist es um die ganze +Hand geschehen. Mit dem Volke ist es wie mit den Kindern: Was das Kind +hat, dünkt ihm nichts, sieht es in anderer Hand etwas, das es selbst +nicht besitzt. Man gebe ihm, worauf es vernünftigerweise ein Recht hat, +sonst ein hartes ›Nein‹. Euch fehlt ein Werenberg. Der würde wissen, +was den Kindern, will heißen der Masse, frommt und was man ihnen geben +darf, ohne daß sie sich den Magen überladen und das Gemeinwohl zu +Schaden kommt.« + +Das Schiff bog in den Rheingau ein. In der Ferne tauchten die Kuppeln +und Türme des heiligen Mainz auf, übergossen von dem goldigen Glast der +Abendsonne. Johannes stand an die Verschanzung gelehnt und nahm das +glänzende Bild in sich auf, das mählich aus den Fluten des Rheins, wie +es schien, aufstieg. Bald legte das Fahrzeug an, und das geschäftige +Leben, das mit der Ankunft eines jeden Schiffes verbunden ist, riß die +Reisenden auseinander. + +Wieder hatte sich die Zahl der Kaufleute gelichtet. Dafür fand sich +allerlei anderes Volk ein, Niedere wie Vornehme. Auch ein paar +Domherren waren darunter, die nach Köln wollten. Ernesti stand im +Gespräch mit ihnen. + +»Ihr seht,« flüsterte einer der alten Bekannten Heinrich zu, »Euer +Gönner hält es allerorten und immer mit dem Krummstab. Möchte wohl +wissen, was er alles an geheimen Gängen hinter sich hat, die wenigen +Stunden, die wir in Mainz waren und während wir uns einen ehrlichen +Trunk gönnten.« + +Eine Antwort wurde nicht erwartet, und Heinrich hätte sie auch nicht +gefunden, denn ein abfälliges Wort über den Mann zu sagen, der ihnen so +viel gegeben hatte, wäre ihm als schwarzer Undank vorgekommen. Übrigens +kam Ernesti in gewisser Weise selbst darauf zurück; er hatte wohl +gesehen, daß man über ihn sprach. + +»Ich hatte mit der Erzbischöflichen Kurie zu tun, in nicht unwichtigen +Fragen, wie Ihr Euch denken mögt. Mancher meint vielleicht, es sei +mir bei den vielerlei politischen Dingen, die durch mich Erledigung +oder Förderung finden, um das blanke Gold zu tun; ich lasse ihn reden, +wie seine Mitschwätzer. Eins aber sei Euch beiden als Erinnerung an +Mainz mit auf den Weg gegeben, und das sei die dritte und letzte der +langatmigen Mahnungen, die ich Euch gab: Verderbt es in Goslar nicht +ernstlich mit der Kirche. + +Wir leben in einer unruhvollen Zeit: Kampfstimmung überall, wohin Ihr +blickt, und nicht nur auf dem Gebiete weltlicher Machtkonflikte, auch +die Kirche, die Religion ist davon betroffen, und es sind dunkle Kräfte +am Werk, um ihre Grundpfeiler zu stürzen. Ich bin ein treuer Sohn der +Kirche. Das hindert mich nicht, die ernsten Schäden zu erkennen, die +ihr anhaften und wie böse Geschwüre an ihrer besten Kraft zehren. Das +Schisma, die Spaltung in der Nachfolge Petri, hat den Boden bereitet, +auf dem Blasphemie und Abtrünnigkeit ihre giftigen Blüten treiben +können; die Völlerei und Zuchtlosigkeit in den Klöstern und unter dem +Klerus haben gleicherweise dabei mitgeholfen. So finden die falschen +Apostel gläubige Ohren, wo immer sie ihr Unkraut unter die Menge +werfen. Auch in Niedersachsen blüht ihr Weizen, wie ich höre. Doch die +Kirche ist zu fest gegründet, als daß sie nicht der Widerwärtigkeiten +und Widerspenstigen Herr werden wird. Denn ihre Sache ist gut, und der +Brunnen nur verunreinigt, der die ewigen Heilswahrheiten birgt. Aber +nicht der Eifer des Zeloten und nicht der unreine Mund des Hetzers wird +die Gesundung bringen, sondern die stetige, von echter Frömmigkeit +und Liebe zur Mutter Kirche getragene Sorge, daß das Gefäß nicht +zertrümmert werde, das so kostbaren Inhalt birgt. Die Kirche wird über +alle Fährlichkeiten hinwegschreiten, weil sie siegen muß. Dann aber +wehe denen, durch die Ärgernis gekommen ist; wehe auch den Städten, die +als ungehorsame Töchter sich erwiesen, ihr Unglück ist besiegelt! + +Auch bei Euch in Goslar werden die Schwarmgeister am Werke sein. Störet +ihre Arbeit, wo und wie Ihr könnt; es ist zum Frommen der Stadt. Ihr +habt der Feinde und Neider schon genug, ladet Euch nicht auch noch die +Abgunst der Kirche auf; Ihr würdet sie nicht tragen können.« + +»Ich fürchte, daß Ihr nur zu recht habt mit allem, was Ihr betreffs +unserer Stadt sagtet«, antwortete Johannes dem Vielerfahrenen. »Sicher +trefft Ihr ins Schwarze mit der Vermutung, daß Goslar selbst zuletzt +den Schaden wird zu bezahlen haben. Die Klöster daheim, vornehmlich das +reiche und mächtige Domstift, sind der Stadt schon sehr gram, weil der +Rat manche ihrer Privilegien kürzte. Das Sankt-Jürgen-Kloster, wie die +Chorherren des Petersstiftes liegen dem Bischof von Hildesheim seit +langem in den Ohren ob angeblicher Mißachtung und Verletzung ihrer +Rechte und respektwidriger Verunglimpfung durch die Bürger. Der Bischof +selbst ist uns gram wegen unseres Verhaltens in der Stiftsfehde, die +Euch bekannt sein wird. Fänden alle diese Mißgünstigen sich zusammen, +diese offenen und geheimen Gegner, und einigten sie sich mit den +Herzögen, die uns jetzt schon zwicken und zwacken, wo sie können, so +wäre der Anfang vom Ende gekommen. Eure Mahnungen treffen also keine +tauben Ohren. Auch der Vater sprach wohl schon mit mir über diese +Dinge. Wir werden tun, was unsere Jugend zu leisten vermag, davon seid +überzeugt, wie auch von der Aufrichtigkeit unseres Dankes für Euren +freundlichen und weisen Rat.« + +Kalte Oktoberstürme brausten das Tal des Rheins entlang und drängten +die Wellen zuhauf, als wollten sie umkehren von dem Wege, den der +ihnen innewohnende Drang nach dem Meere vorschrieb. Die Wälder an +den Berghängen wurden des letzten Blättchens beraubt, das ihnen noch +geblieben war von dem sommerlichen Festgewande; alles wies auf Tod +und Sterben und Ruhe in der Natur. Langsam glitt das Schiff zu Tal. +Man hoffte, vor Einbruch der Nacht noch in Köln zu sein; aber fast +schien es, als solle man noch eine Nacht auf dem unwirtlichen Flusse +verbringen. Da gab endlich eine letzte Biegung den Blick auf die alte +Stadt mit ihren unzähligen Türmen und Zinnen frei. Sankt Severin, Sankt +Georg, Sankt Maria im Kapitol, Sankt Gereon, so tauchten sie aus dem +Grau des Abendhimmels auf, überragt von dem gewaltigen Bau des Doms, +der mit den ungefügen Stümpfen seiner Türme wie ein gefesselter Riese +die Hände gen Himmel hob. + +Dann kam der Abschied von Ernesti. Wie hatte sich das Verhältnis zu dem +fremden Manne seit der Abreise von Straßburg geändert! -- Der ernste, +zurückhaltende Mann war ihnen nahegerückt, als sei es ein lieber +Verwandter. In schier väterlicher Weise hatte er die Jünglinge an die +Hand genommen und in die Tiefen des politischen Lebens blicken lassen, +die ihnen ohne diese Hilfe gewiß erst viel später und mit schmerzlichen +Erfahrungen sich erschlossen hätten. Sie bereuten es nicht, den Umweg +über den Gotthardt gemacht zu haben. Der Händedruck, der den Abschied +besiegelte, trennte Freunde. Sorglich vermittelte Ernesti noch die +Bekanntschaft mit dem Führer der flandrischen Händler, mit denen +Heinrich und Johannes in die Heimat reisen sollten. + + + + + »+Bella gerant alii; tu, felix Austria, nube!+« + Kriege laß die andern führen; du, glückliches Österreich, freie! + + +Ein gewaltiges Gebäude war durch die Heiratspolitik der Habsburger +im 15. Jahrhundert aufgeführt worden, das noch ungeheuerlicher wurde +durch die Entdeckung Amerikas. Die Krone von fünfzehn Ländern ließ der +alternde Kaiser Maximilian, der ›Letzte Ritter‹, für die Häupter seiner +Enkel Karl und Ferdinand zurück. Doch in diesem Hause wohnte nicht +Glück und Eintracht beieinander, sondern Unfriede und Haß wucherten +überall wie üppige Giftblumen. Die Kirche war auf dem besten Wege, den +Rest ihres Ansehens zu verlieren. Sie trug selbst die Schuld daran, +aber es kam damit einer der Grundpfeiler aller bestehenden Ordnung ins +Wanken. Daß durch diese Ordnung der Dinge sich alles in eine völlige +Unordnung verkehrt hatte, war nur zu einem kleinen Teile der Kirche +als Schuld beizumessen. Ein Teil der Deutschen fühlte sich bei diesem +Zustande durchaus wohl, die Masse aber war in Elend versunken und +suchte sich, dem Ertrinkenden gleich, durch gewaltsame Anstrengungen +das Leben zu erhalten. + +Im Gegensatz zu Westeuropa war in Deutschland eine Vielzahl von +kleinen Machtzentren entstanden. Der Fürstentümer, Grafschaften und +Herrschaften war Legion, nicht zu rechnen die Freien Reichsstädte, +die hinter ihren trutzigen Mauern und festen Toren ungestört ihrem +Handel und Wandel nachgingen, Reichtum und Macht aufhäuften und sich +um Kaiser und Reich, um Fürsten und Große nur kümmerten, wenn es ihre +Belange forderten. Alle diese waren sich, die Großen wie die Kleinen, +in einem gleich: in dem Bestreben nämlich, die eigene Machtfülle zu +mehren, um die eigene Person mit Schimmer und Glanz zu umgeben. + +In den Städten lag die Herrschaft mit der Sicherheit des Erbes in +der Hand weniger Familien. Der Handwerker, in zielstrebigen Gilden +vereinigt, hatte Zeit gehabt, Kisten und Kasten zu füllen. Nun waren +sie auf dem Wege, auch die Ratssessel einzunehmen, getrieben von +eigenem Ehrgeiz und vielleicht auch auf das Drängen des Ehegesponses +und der Töchter, die so der strengen Kleiderordnung entgehen zu können +hofften und demnächst ein Fältel mehr am Gewande, eine Pelzverbrämung +mehr am winterdichten Mantel dem Neide der Nachbarinnen preisgeben +durften. + +Neben ihnen und unter ihnen, in den lichtlosen Hinterhäusern, in den +dumpfigen Hütten, die an die Stadtmauer sich schmiegten, wie die +Küchlein an die Henne, das städtische Proletariat, das von den Brosamen +seiner glücklichen Mitbürger lebte und die staunende, bewundernde +Masse abgeben durfte bei dem Gepränge des Rates, bei den Schauzügen +der Gilden. In ihr gor und glomm es, und es bedurfte nur des Funkens, +um die Flammen des Aufruhrs emporlodern zu lassen. Auf dem Lande aber, +unter der Botmäßigkeit des Herrn, ob Graf oder schlichter Edelmann, +seufzte der hörige Bauer in unerträglicher Frone, der geringsten +persönlichen Freiheit beraubt für sich, für Frau, Tochter und Sohn. +War der Herr vernünftig und zugänglich, so ließ er seinen Leibeigenen +wenigstens so viel vom sauer Erworbenen, daß die Arbeitslust und +Körperkraft nicht zu schnell sich abnutzte. Viele aber, sehr viele der +Gebieter sahen in ihren Bauern und deren Angehörigen nur das Material, +um ein bequemes Leben zu führen und der Wollust nach ihrem Belieben +bei ihren Töchtern die Zügel schießen zu lassen. Und allen endlich +lieferte er mit seinem Leibe das Rüstzeug, wenn es galt, Fehde und +Streitigkeiten mit anderen im Kampfe Mann gegen Mann auszutragen. + +Der Druck war unerträglich, und der Gegendruck aus der Masse der +Unterdrückten machte sich immer mehr wahrnehmbar; es gor und brodelte +unter ihnen und schuf sich Luft nach oben in schrecklichen Taten der +Verzweiflung, die wie die Blasen aus dem trüben Schlamm des Morastes +aufstiegen und doch zuletzt wirkungslos zerplatzten. Der ›Arme Konrad‹, +der ›Bundschuh‹ sind die Namensprägungen, unter denen sich die Bauern +zusammenschlossen. Ihr verworrener Zorn griff die verrottete Kirche +an, er stürmte an gegen die Gewalthaber jeglicher Art, er traf die +Städter, wo er sie treffen konnte. Die Organisation der Bauern war +eine wirre, unklare. Neben der großen Masse zogen sie in zahllosen +Einzelhaufen durch das Land. Sie fanden sich zusammen, wie der Wolf +sich zum Wolf gesellt, um gemeinsam auf Beute auszuziehen. Wen sie +trafen, den schlugen sie nieder und bemächtigten sich seines Besitzes, +und wer es konnte, der schlug sie tot wie tolle Hunde. Die Sicherheit +im Lande, auf den Straßen war wieder einmal im deutschen Lande geringer +denn je, und sie wurde noch verringert durch die adligen Schnapphähne, +die bei der Aufteilung der Machtbelange unter ihre mächtigeren und +einflußreicheren Standesgenossen übergangen waren. Sie lebten von der +Hand in den Mund und hungerten und lungerten auf ihren zerfallenen +Raubnestern, bis der Turmwärtel oder Spione das Herannahen einer Beute +meldeten. Dann stiegen sie hinab, lauerten den Ankommenden auf, suchten +die Beute zu erhaschen, schlugen, erschlugen oder wurden erschlagen. + +Das größte Risiko bei dieser Art adliger oder bäuerlicher Wegeaufsicht +trugen die Städter, wenn sie ihre festen Mauern verließen, um mit +gefüllter Geldkatze im Osten oder Süden, im Norden oder Westen +einzukaufen, oder wenn sie mit den erworbenen Warenballen oder +Gewürzsäcken heimkehrten. Wer nicht reisen mußte, hockte daheim hinter +dem Ofen; wen aber die Notwendigkeit veranlaßte, den Schutz der +Stadtmauer aufzugeben, der sah sich nach genügendem Schutz um, damit er +der Gefahr begegnen könne. + + * * * * * + +Auf dem Deutzer Ufer des Rheins lagerte und lungerte an einem der +letzten Oktobertage des Jahres 1515 ein bunter Haufen kriegerischer +Gestalten. Sie lagen und standen umher, wie es ihnen einfiel. Alle +blickten nach dem gegenüberliegenden Köln, da, wo das Frankentor gegen +den Strom zu den Austritt aus der Stadt freigab. Es waren deutsche +Knechte, die in Frankreich abgelohnt wurden, nachdem der Herzog von +Burgund mit dem jungen König Ludwig +XII.+ einen Vergleich +geschlossen hatte. Der Obrist konnte den rückständigen Sold nicht +zahlen, dieweil der Burgunder die Zahlung weigerte, nun er die fremden +Söldner nicht mehr gebrauchte. Die Truppe meuterte, der Hauptmann, der +zu vermitteln suchte, wurde erschlagen. Dann waren sie gegen Osten zu +gezogen, marodierend und schatzend, wo sie es konnten und wo sie es +wagen durften. In den Städten ließ man sie nicht ein; es waren zu wilde +Gäste, denen die eigenen Stadtsoldaten nicht gewachsen gewesen wären. +Auch das erzbischöfliche Köln hielt ihnen die Tore verschlossen. Sie +wurden unter geeigneter Bedeckung um die Stadt geleitet an den Rhein. +Dort überließ man sie sich, nachdem man unter gegenseitigem Grüßen, wie +»Pfaffenknecht« oder »Meuterer«, voneinander Abschied genommen hatte. +Von den Bastionen spähten die Stadtsoldaten mit brennender Lunte zu +ihnen herab, um einen Annäherungsversuch unfreundlich zurückzuweisen. +Der Fährmann mit seinen Knechten war seitens der Stadt gedungen, sie +unentgeltlich an das andere Ufer überzusetzen; so hoffte man, bald den +großen Strom zwischen der Stadt und den wilden Gesellen als schützenden +Wall zu haben. + +Vielleicht aber hätten die fremden Gäste sich doch nicht so mit der +Überfahrt beeilt, wenn ihnen nicht ein besonderes Angebot die Sache +annehmbar gemacht hätte. + +In Köln weilten zur Zeit die flandrischen und wallonischen Kaufherren +aus Gent, Antwerpen, Brügge, Dinant, und wo immer sonst das Kupfer +des alten Rammelsberges Verwendung finden mochte. Sie kamen mit +gespickten Geldkatzen und kostbaren Warenballen, um im Tausch für sie +das wertvolle Metall einzuhandeln oder die Erzeugnisse ihres eigenen +Gewerbfleißes zuvor in den Städten Westfalens und des Niedersächsischen +Kreises in Geld umzusetzen und dann mit dem Verdienten in Goslar das +Gewünschte zu erwerben. Ihre Gesichter wurden besorgter, je mehr sie +sich den Grenzen Deutschlands näherten; denn was sie über die Zustände +im Reiche hörten, mußte sie mit den größten Bedenken hinsichtlich +ihrer Person wie ihres Eigentums erfüllen. Sie zogen zwar unter dem +reisigen Geleit einer Anzahl Gewappneter dahin, aber diese boten +allenfalls Schutz gegen die landesübliche Unsicherheit einzelner Trupps +von Wegelagerern und adligen Strauchdieben. Im Kampfe mit großen Haufen +verzweifelter und verwilderter Bauern mußten sie erdrückt werden. + +Da kam einer der Wagenknechte, der, vor der Stadt sich ergehend, den +seltsamen Zug der Landsknechte gesehen und von ihrem Wegziel gehört +hatte, auf den guten Gedanken, dem Herrn diese wagemutigen Gesellen +als Geleit für den Weg vorzuschlagen. Sein Vorschlag fand Anklang, +wenn auch mancher der Kaufleute abriet, sich der wilden Soldateska +anzuvertrauen. Ein Versuch sollte wenigstens gemacht werden. So +wurde ein Unterhändler zu ihnen geschickt. Was er berichtete, klang +vertrauenerweckender, als man erwartet und gehofft hatte. Die meisten +Leute wollten nach Niedersachsen, woher sie stammten. Sie waren des +Kriegslebens müde und sehnten sich nach Ruhe, wenigstens zur Zeit. +Die Bewaffnung sei gut, der Webel, der die Führung habe, besitze +Gewalt über die Leute, und die Soldaten selbst machten keinen allzu +schlechten Eindruck. Gegen ein gutes Handgeld und entsprechende +Ablohnung nach Erfüllung des Auftrages seien sie bereit, den Schutz +des Zuges zu übernehmen, mit der Einschränkung allerdings, daß es dem +einzelnen freistehe, abzuschwenken, wenn die Heimat erreicht sei. Da +indes die meisten, wie erwähnt, aus den braunschweigischen Ländern und +noch darüber hinaus waren, so blieb bis in die Nähe von Goslar ein +wirkungsvolles Geleit gesichert. Das Handgeld war ausgezahlt, und die +Knechte warteten ihrer Schützlinge. + +Unter ihnen waren auch einige Blessierte und Schwerverletzte. Im +Hintergrunde hielt der Wagen der Marketenderin, eines kräftigen +Frauenzimmers. Immecke Rosenhagen hieß sie und stammte aus Salzwedel. +Den Eltern war sie vor nunmehr manchem Jahre davongelaufen mit einem +Gesellen des Vaters, der aus dem Stolz des eingeborenen Gildemeisters +heraus sich dagegen sträubte, die einzige Tochter einem zugereisten +Fremden zur Frau zu geben. Der Geliebte griff zur Hellebarde, sie +bestieg das Wägelchen, in welchem sie allerlei Trink- und Eßbares für +das Fähnlein mitführte. Übrigens hatte die beiden ein schnellbereiter +Feldkaplan in christlicher Ehe zu Mann und Frau gemacht. Des +Mägdeleins, das ihrer Liebe entsprossen, konnte sich der Vater nicht +allzulange erfreuen; eine Stückkugel zerriß ihm vor den Wällen von +Maastricht die Brust. + +Immecke und ihr Töchterlein Monika blieben dem Regiment treu und zogen +mit ihm von einem Kriegsschauplatz zum andern. Wo immer die Kartaunen +rasaunten und die Hakenbüchsen krachten, hielt ihr Wägelchen in der +Nähe. Manchen Verwundeten hatte sie gepflegt, manchem Sterbenden +die brechenden Augen zugedrückt. Und es war rührend, wie das rauhe +Soldatenvolk diese Treue vergalt. Wehe dem, der sich gegen Immecke oder +ihre Monika vergangen hätte. Die Mutter hatte zwar selbst einen allzeit +schlagfertigen Mund, um sich etwaiger Ungebührlichkeiten zu erwehren; +aber dazu wurde ihr kaum Gelegenheit gegeben; sie war Respektsperson im +ganzen Regiment und besonders des Fähnleins des Hauptmanns Hennecke, +unter dem ihr seliger Mann gedient hatte und dem sie sich infolgedessen +auch zugeschrieben erachtete. Selbst der Spitz, der unter dem Wagen +daherlief, war in diesen Schutz eingeschlossen. + +Immecke Rosenhagen gab mehr als einmal die Schlichterin bei bösen +Händeln ab, wie sie Würfelspiel, Trunkenheit oder die Dirnen des +Trosses wohl hervorriefen. Hätte sich eins dieser losen Weiber einmal +unehrbietig gegen Immecke oder ihr Töchterlein benommen, es wäre +ihm teuer zu stehen gekommen. Die Meuterei, bei welcher der wackere +Hauptmann Hennecke das Leben eingebüßt hatte, verzieh sie ihren +Kindern, wie sie ihre Soldaten zu nennen pflegte, lange nicht. Zwar war +der tödliche Streich nicht von einem Angehörigen des eigenen Fähnleins +geführt worden. Indes die Leute auch des Hauptmanns Hennecke hatten +sich an dem Aufruhr beteiligt. Sie selbst war zur Zeit der Tat auf +Einkauf fortgewesen und hörte erst bei der Rückkehr von dem Tumult. +Die Tat war geschehen, und den guten Hennecke rief niemand mehr ins +Leben zurück. Aber den Knechten seines Fähnleins wurde von Immecke eine +Predigt darob gehalten, die sie lange nicht vergaßen. + +»Ihr wollt ehrliche, deutsche Knechte sein? Eidbrüchige Schufte seid +Ihr, die mit Mordbuben gemeinsame Sache machen, wenn sie die paar ihnen +zustehenden Gulden nicht sogleich erhalten. Kann der Herr Obrist dafür, +wenn ihm der welsche Fürst das gegebene Versprechen nicht hält? Hat +der Hauptmann nicht allezeit wie ein rechter Vater für Euch gesorgt? +Nun liegt er erschlagen vor Euch, und daheim warten Frau und Kind +vergeblich auf die Wiederkehr. Pfui über Euch!« + +Die Knechte krauten sich verlegen hinter dem Ohr und schlichen beschämt +zur Seite. Seit dem Tage hatte Immecke sie noch fester in der Hand. +Sie war die eigentliche Führerin auf dem Marsche in die Heimat, wenn +auch der Weibel die äußere Leitung beibehielt. Alle waren kriegsmüde, +die Soldaten wie die Marketenderin. Wo sie ihr Haupt niederlegen würde, +wußte Immecke noch nicht. Aber sie wollte ihrer Monika eine Heimat +geben. + +Vor dem Wagen, auf dem sie hantierte, standen einige Knechte und +leerten den Becher mit Branntwein, der ihnen die Morgensuppe ersetzen +mußte. + +»Nun geht's zur Mutter, Immecke«, rief ihr Klaus Bolte zu, der in +Osterode am Harz zu Hause war. + +»Na, die wird sich recht freuen, wenn Du mit Deiner zerhackten Visage +vor ihr auftauchst. Sieh nur zu, daß wenigstens die Nase wieder etwas +ins Gerade gerückt wird, sonst läuft selbst der Kater mit Grauen +davon.« + +»Schadet nichts, Mutter Immecke«, erwiderte Klaus ungerührt. »Freuen +wird sie sich doch, denn zuletzt ist doch noch manches an dem Kerl +geblieben, was sich sehen lassen kann. Wird für den verlorenen Sohn +kein Kalb geschlachtet, so doch hoffentlich ein tüchtiges Stück +Schinken aus dem Rauchfange geholt. Und der Vater soll's nicht zu arg +machen. Dem Stöcklein sind wir mit der Zeit entwachsen; könnte uns +ansonst gleich wieder die Klinke in die Hand drücken. Neugierig bin ich +nur, wie wohl das Schwesterchen ausschaut, das ich vor Jahren als ein +kleines Hutzelchen verließ. Muß etwa so alt sein wie Eure Monika. Ob +sie freilich auch so schier und blank dareinschaut wie diese, weiß ich +nicht.« + +Da lief ein Schmunzeln über Immeckes Gesicht, und sie reichte Klaus +Bolte einen Becher Branntwein. »Da, nimm's und trink's auf ihr Wohl, so +verkühlst Du Dir den Magen nicht in diesem Schandwetter. Ansonst die +Mutter Dich mit Kamillentee zurechtpäppeln muß, statt des Schlegels +vom geschlachteten Kalbe.« Klaus lachte über das ganze Gesicht und +setzte den Becher an die ewig durstigen Lippen. + +Währenddessen war die Tochter, von der die Rede war, um einen +Schwerblessierten beschäftigt, der mit noch zwei anderen auf einem +Beiwagen im Stroh lag. Ihm war bei dem letzten Treffen das linke +Bein zerschmettert, und die Säge des Feldschers hatte ihm nur einen +armseligen Stumpf davon übriggelassen. + +»Nun, wie geht's mit der Wunde, habt Ihr noch arge Schmerzen?« fragte +das Mädchen mitleidig, während sie ihm das Strohkissen zurechtrückte, +daß er bequemer sitze. + +»Wie soll's anders sein,« murrte der alte Doppelsöldner, »natürlich +zwickt's noch höllisch; aber das ist's nicht, was mich niederdrückt. +Die Aussicht, den Bettelmann künftig zu spielen, als Lump hinter einer +Hecke zu verrecken, das ist es, was einen ehrlichen Kriegsmann wurmt +und auffrißt! Man hätte mich verbluten lassen und mit dem, was von mir +da hinten bei Nanzig blieb, beiroden sollen!« + +»Pfui doch, der garstigen Rede«, sagte Monika, während sie begütigend +über das struppige Haar strich. »Dankt vielmehr Eurem Gott, daß er Euch +das Leben ließ. Der wird auch weiter für Euch sorgen. Ihr habt doch +noch Leute zu Hause, die für Euch sorgen werden.« + +Der alte Veteran blickte gerührt zu ihr auf. »Du bist doch unser +Engelein, Monika! Hast recht, so ganz verlassen bin ich nicht. Noch +lebt mir das alte Mütterlein daheim; die freut sich, bringt ihm der +Sohn auch statt güldener Ketten und anderer Schätze, die er auszog zu +erwerben, nur ein Stelzbein mit. Und der Bruder, der das väterliche +Anwesen erbte und bewirtschaftet, war auch keiner der Schlechtesten. +Ist die Frau, die er inzwischen heimführte, von ähnlicher Gesinnung, so +mag auch bei ihnen ein Plätzchen hinter dem Ofen für mich bereit sein, +und den Kindswärtel kann ich zur Not auch noch spielen. Sag's nur der +Mutter nicht, in welcher Laune Du mich getroffen, sonst setzt es noch +ein Donnerwetter von ihr. Du weißt ja, wie sie ist.« + +Immecke war derweil mit einem andern ins Gespräch geraten, der eine +Binde über dem linken Auge trug. + +»Wohl bekomm's, Erdwin Scheffer«, wünschte sie dem Einäugigen zugleich +mit dem Becher, den sie ihm reichte. »Nun, freust Du Dich, daß wir +glücklich über den Rhein sind? Jetzt geht's mit Macht der Heimat zu. +Die Eltern werden sich freuen, wenn sie Dich wiederhaben.« + +Ein verbissenes Lachen war die Antwort. + +»Natürlich, die werden alle Türen bekränzen, wenn der Hansdampf +in allen Gassen flügellahm wiederkehrt, der ihnen ausriß, weil es +ihm daheim zu wohl war und weil er ihren gutgemeinten Plänen nicht +gehorsamen wollte. Und die Freunde erst und die Jüngferlein, wie werden +die sich um mich reißen, den Krüppel.« + +»Laß die Mutter aus dem Spiel bei Deinem gottlosen Reden«, widerriet +Immecke ernst und nachdrücklich. »Was weißt Du, was eine Mutter für ihr +Kind im Herzen trägt.« + +Sie kam nicht weiter mit ihrer Ermahnung, denn in diesem Augenblick +begann am jenseitigen Ufer vor sich zu gehen, worauf alles schon +wartete. Das Frankentor öffnete sich und ließ die Karren und Wagen +der flandrischen Kaufleute heraus. Sie rumpelten nacheinander das +abgeflachte Steinufer zur Fähre herab, die sie übersetzen sollte. +Man sah, wie die Pferde unruhig aufstiegen, als sie das schwankende +Gerüst betreten sollten. Dann kam die erste Last über den Strom und +landete nach langer Zeit am Deutzer Ufer. Einmal nach dem andern fuhr +der Fährmann mit seinen Knechten herüber und zurück, denn der Zug war +lang, und die Fähre trug nicht mehr als zwei Gefährte zugleich. Es ging +schon auf den Nachmittag, als der letzte Wagen den Uferrand bei Deutz +heraufrollte. + +Manches derbe Scherzwort fiel bei den Kriegsknechten über das Bild, das +sich vor ihnen abspielte. + +»Was mögen wohl die Ballen und Kisten an Kostbarkeiten bergen?« meinte +neugierig lüstern Abel Wüstemann aus Zerbst. »Das kann Dir gleich +sein«, fiel ihm Immecke ins Wort. »Für Dich ist's jedenfalls nicht +bestimmt. Laß also Deine Gedanken und Finger davon, das rate ich Dir.« + +»Nun, nun, man wird doch noch seinen Mund auftun dürfen«, brummte der +also Gemaßregelte. + +»Besser ist's schon, Du befolgst meinen Rat und behältst Deine Gedanken +für Dich; wir kennen uns doch von Arras her, wo ich Dich durch ein +gutes Wort vor dem Profosen rettete, als Du ein wenig von des Nächsten +Gut an Dich gebracht hattest. Ein zweites Mal wird Dir meine Fürsprache +fehlen. Wir wollen als ehrliche Leute in die Heimat ziehen.« Da schlich +er beschämt zur Seite. + +Verdrossen glitt der Blick Erdwin Scheffers über das Treiben am +Strande. Unschlüssig stand er da über seine Hellebarde gebeugt, in +seiner Lässigkeit doch die Kraft verratend, die in seiner schlanken, +sehnigen Gestalt gefesselt stak. Das hübsche Gesicht wurde nicht einmal +durch die schwarze Binde merklich entstellt. Die Hand glitt verloren +durch das Bärtchen, welches die Lippen zierte. Monikas Blick folgte dem +Abseitsstehenden. Sie wischte sich verstohlen die Augen, die ihr feucht +geworden waren im Gedanken an sein Unglück; was war aus dem lustigen +Gesellen geworden, der zu ständiger Kurzweil früher geneigt war. Ihr +selbst kaum bewußt, schlug ihm ihr junges, unschuldiges Herz entgegen. + +Erdwins Gedanken weilten indes weitab von ihr und vom Rhein. Die Berge +des Harzes stiegen vor ihm auf und die Stadt mit den vielen Türmen, +aus der er in trotzigem Übermut und Groll entwichen war. Wie mochte +es jetzt daheim aussehen, was die Mutter sagen und der Vater denken, +dessen starrer Sinn ihn beim eigenen Handwerk festhalten wollte, um +ihn durch die Hand der Nachbarstochter noch unlöslicher mit der Heimat +zu verbinden? Denn er kannte den unruhigen Sinn des Sohnes, der in die +Ferne strebte und in unklarer jugendlicher Abenteurerlust jenseits der +Berge die blaue Blume zu pflücken hoffte, von der die Mär erzählte. +Erdwin hatte längst eingesehen, daß diese Blume im Lande Nirgendwo +blühe und daß der ehrsame, gestrenge Vater zuletzt doch das Richtige +mit ihm im Sinn hatte. Aber Trotz und Scham hielten ihn davon ab, als +reuiger Sohn zurückzukehren, und auch die Aussicht, doch noch das +Opfer der väterlichen Heiratspläne zu werden. Die breithüftige Maria +Hellvogt, die man ihm zugedacht hatte, mit den guten, blauen Augen im +rundlich-dummen Gesicht, konnte ihn auch heute noch nicht locken, zumal +wenn er sie mit der zierlichen Monika verglich, die ihm in den Jahren +der gemeinsamen Kriegsfahrt mehr als ein guter Kamerad geworden war. +Nun kehrte er als ein Schiffbrüchiger heim, und er mußte vorliebnehmen, +was ihm von der Eltern Gnade übrigblieb, wenn sie ihm nicht gar ganz +die Tür verschlossen. + +Ingrimmig stampfte er mit der Waffe auf; da fiel sein Blick auf +einen der Männer, die ihre Rosse von der Fähre die Uferböschung +hinaufführten: Wenn's nicht gar so närrisch wäre, sollte man meinen, +das sei ein alter Bekannter von daheim. Noch einmal sah er hin und noch +einmal. Wahrhaftig, kein Zweifel, das war ja der Heinrich Achtermann, +des Ratsherrn Sohn, und der da neben ihm, war das nicht Johannes Hardt +von der Poppenbergstraße? Und schon klang es auch von seinen Lippen: +»Heinrich Achtermann, Johannes, Herr Johannes Hardt, bist Du es, seid +Ihr es wirklich?« + +Hallo, wer rief hier, in der Fremde, ihren Namen? Heinrich blickte sich +erstaunt um. + +Die Freude, einen Bekannten aus der alten Heimat, einen Jugendgespielen +unvermutet zu sehen, überwog bei Erdwin jedes andere Gefühl. Eilig trat +er näher. »Bei Gott, das nenn' ich eine Freude in all der Trübsal«, +sprudelte er hastig hervor. »Aber sagt, erkennt Ihr mich denn immer +noch nicht, den Erdwin Scheffer von Sankt Ägidien, mit dem Ihr so oft +in des Nachbars Garten auf Raub gezogen und der ebensooft vom Vater +den Buckel zerbleut bekam, weil er dem Stadtweibel eine Nase gedreht +oder die Zöpfe der dummen Mädel aneinander festgebunden hatte, daß sie +zeterten und schrien, als sei der Habicht unter die Hühner gestoßen?« + +Nun erkannten auch sie den Jugendgespielen, und die Freude war nicht +minder groß. Das gab ein Fragen hin und her. Über die Heimat wußten sie +freilich beide wenig Neues; im Vordergrunde standen die Erlebnisse in +der Fremde. + +»Was hast Du denn mit dem Auge?« fragte Johannes. + +»Das ist das traurigste Kapitel aus meiner Irrfahrt. Es ist dahin, und +nicht einmal im ehrlichen Kampfe vor dem Feinde verloren, sondern +ein eidbrüchiger Schuft stieß mir sein Messer hinein, als ich einen +ehrlichen Mann, unsern Hauptmann, aus den Krallen der meuterischen +Knechte befreien wollte. Er hat zwar seine Tat mit dem Leben gebüßt, +denn die Kameraden schlugen ihm gleich danach den Schädel ein, aber ich +bin ein Krüppel fürs Leben und weiß noch nicht, wie ich es trage und +vor die Eltern treten soll, denen ich im aufgeblähten Stolz vor mehr +als fünf Jahren davonrannte.« + +Man sprach ihm gut zu, und die düstere Falte auf der Stirn glättete +sich allmählich unter dem lebhaften Austausch von gemeinsamen +Erinnerungen und dem »Weißt Du noch?« »Besinnst Du Dich?« Niemand aber +war froher als das wackere Paar am Marketenderwagen, als sie sahen, daß +ihr Liebling wieder etwas frohmütiger dreinblickte, und Monika rechnete +es dem Heimatsgenossen als besonderes Verdienst an, daß ihm dies +gelungen war. + + + + +Der Zug der Kaufleute hatte das Bergische Land durchquert und war +in die Soester Börde hinabgestiegen, vorbei an mehr als einem der +Raubnester, die über den tiefen Taleinschnitt am Felsen klebten wie das +Nest der Mauerschwalbe. Manch begehrlicher Blick eilte ihnen von da +oben entgegen und geleitete sie im Vorbeiziehen, aber man wagte sich +nicht an die Fremden heran, die wie ein kleiner Heereszug stattlich und +sicher dahinzogen. Es waren der Kaufleute gar viele, die aus Flandern +und Frankreich solchergestalt ins Reich zogen, denn manche von ihnen +zogen noch über Goslar hinaus bis Leipzig, um dort auf den großen +Märkten, den Vorläufern der heutigen Messe, den Warenaustausch bis +nach dem fernen Osten hin zu vermitteln. Gemeinlich fand nur einmal im +Jahre ein solcher Zug aus dem Westen her statt. In Goslar hielt man +sich monatelang auf und handelte dort wie in Braunschweig und anderen +Städten der Nachbarschaft, bis die Ostgänger wieder zurück waren und +man nun mit dem begehrten Kupfer und anderen Schätzen die Rückreise +antreten konnte. + +In Goslar pflegten die Fremden bei ihren Geschäftsfreunden abzusteigen, +während die Knechte und Handlungsgehilfen in den Herbergen Unterkunft +fanden. Manche engen Beziehungen waren so entstanden zwischen Goslarer +Familien und Häusern in Brabant oder Nordfrankreich. Fäden liefen hin +und her, die nicht leicht zerrissen. Der bedächtige Kaufmann vertraute +seine Sachen nicht gern fremden Händen an, und erst wenn das Alter zu +sehr drückte oder der Sohn und Nachfolger Gewähr bot, daß die Geschäfte +mit gleicher Gewissenhaftigkeit erledigt werden würden, trat der Alte +zurück und überließ der jungen Kraft die Beschwerden der Reise. So +kam es, daß Heinrich und Johannes Hardt auch Bekannte unter ihnen +antrafen. Da war der weißhaarige Herr Jan Uytersprot aus Brügge, der +beim Nachbar Borchardt abzusteigen pflegte und sich so gern mit den +Kindern beschäftigte. Noch heute rechnete es ihm Heinrich hoch an, daß +er sein Versprechen, ihm einen richtigen Bogen mit Köcher aus Brabant +mitzubringen, getreulich gehalten hatte. Und Herr Gérard Dietvorst aus +Dinant und Felix Vandepere aus Löwen und noch andere, sie alle tauchten +vor ihm mit bekannten Gesichtern auf. Er selbst mußte sich freilich +ihnen erst wieder in Erinnerung bringen, denn seit der Kindheit war +manches Jahr dahingerauscht, und den aufwachsenden und in die Fremde +ziehenden Jüngling hatten sie aus dem Gesicht verloren. Von seinem +Auftrage war natürlich nicht die Rede, und ihre Geschäfte nahmen sie +mehr in Anspruch als der Gedanke, wie die jungen Goslarer hier in ihren +Zug kamen. + +In Soest fand Heinrich Achtermann Gelegenheit, die Grüße des Vaters im +Hause Ernestis zu bestellen und sich zu überzeugen, welches geschäftige +Leben in der alten Hansestadt pulsierte. Ernestis Wohnwesen stellte mit +seinen Höfen, Speichern und Stallungen eine Handelsburg für sich dar. +Der Mann mußte ein ganz Großer unter seinen Berufsgenossen sein! + +An der Weser gab es unerwünschten Aufenthalt, denn die Brücke bei +Höxter war wieder einmal abgetragen oder davongeschwemmt. Argwöhnisch +schielte man sich von beiden Ufern an: hier die kurmainzischen Mönche +von Corvey mit den erzbischöflichen Knechten in der Stadt, drüben die +Mannen des braunschweigischen Vogts. Also galt es, noch einmal auf der +Fähre den Fluß zu überqueren. + +In Köln hatte sich dem Zuge auch ein Händler Hans Römer aus Helmstedt +angeschlossen, der die günstige Gelegenheit zur Heimreise benutzen +wollte. Seine Gewandtheit und seine Kenntnis des Flämischen wie des +Französischen machte ihn zu einem willkommenen Begleiter für diesen +und jenen der Kaufleute, denen das Deutsch etwas polterig vom Munde +floß. Dabei war er am Rhein mit Land und Leuten ebenso vertraut wie in +Westfalen, und seine Beweglichkeit half manchen Zusammenstoß mit den +Landesbewohnern wie mit Behörden vermeiden. An Heinrich und Johannes +schien er einen besonderen Gefallen gefunden zu haben. Wo es nur +anging, hielt er sich in ihrer Nähe auf und verstand es auch meistens, +in derselben Herberge mit unterzuschlüpfen. Johannes vergalt diese +Freundlichkeit nicht mit gleichem Entgegenkommen. Es lag etwas im Wesen +des Mannes, was ihn abstieß; war es der unsichere Blick der ewig auf +der Wanderung befindlichen Augen oder die aufdringliche Zutraulichkeit; +er wußte es selbst nicht. Heinrich war weniger mißtrauisch. Seine +Vertrauensseligkeit hatte bisher noch keinen groben Stoß im Leben +erlitten. Einmal wurde allerdings auch sein Argwohn rege, als er +den Helmstedter im Morgengrauen, da alles noch schlief, bei seinen +Habseligkeiten fand. Römer war um eine Ausrede nicht verlegen, als +Heinrich ihn fragte, was er an seinen Sachen zu tun habe. Es lag +natürlich ein Versehen vor, das sich aus dem unsicheren Licht erklärte, +und tatsächlich befand sich das Bündel des Mannes dicht dabei, so daß +ein Irrtum möglich war. + +Der Argwohn erhielt aber neue Nahrung durch eine Mitteilung Erdwin +Scheffers, dem es Monika Rosenhagen sagte. Sie hatte Römer mehrere Male +im geheimen Gespräch mit einigen Landsknechten gesehen und dabei auch +den Namen »Achtermann« deutlich vernommen. Da jener Wüstemann dabei +gewesen war, dem die Mutter eine unreine Hand nachsagte, so nahmen sie +an, daß irgendein Schelmenstück geplant werde. Man konnte aber zunächst +nichts weiter tun, als die Augen offen halten. Und das taten Monika mit +ihrer Mutter wie Erdwin Scheffer und Johannes Hardt seitdem noch mehr +als Heinrich selbst. + +Die Zahl der Landsknechte verringerte sich inzwischen mählich, aber +stetig in dem Maße, wie die Heimat des einzelnen näher kam. Als man +sich dem Harz zuwandte, waren es nur noch ihrer dreißig. Man mußte +der wilden Schar nachrühmen, daß sie ihre Aufgabe auf der langen +Reise redlich erfüllt hatte. Freilich hatten die Kaufleute tüchtig in +den Beutel greifen müssen, aber die Vorsicht lohnte sich doch, und +man konnte hoffen, die Mehrkosten wiedereinzubringen, sei es durch +vorteilhafte Einkäufe in Goslar oder durch Aufschlag auf die Waren +daheim. Ein Jauchzen rang sich von den Lippen Heinrichs, als die Berge +des Harzes jenseits Gandersheim in der Ferne aufblauten. + +»Die Heimat, Kinder, die Heimat winkt uns«, rief er den Gesellen zu, +die in seiner Nähe gingen. + +»Für Dich ja, aber für mich?« erwiderte Erdwin traurig. »Auch für Dich, +guter Erdwin«, redete Johannes ihm tröstend zu. »Auch für Dich wird +sich noch alles zum besten wenden. Jetzt freue dich mit uns, daß wir +dem alten, lieben Goslar näher kommen.« + +Man kam durch Ildehausen, wo ehedem Ernestis Ahnen hausten. Vor ihnen +erhoben sich die Berge in immer machtvollerer Fülle, und dann zogen +sie in das kleine Städtchen Seesen ein, das die letzte Raststätte vor +Goslar sein sollte. + +In Seesen verließen noch einige Landsknechte die Gesellschaft. Da man +aber dem Ziel nahe war und die unsicheren Gebiete hinter sich wußte, +glaubte man das Endstück der Reise unter dem Schutze der eigenen +Bewaffneten und des Restes der Soldaten wohl zurücklegen zu können. + +In diesem Städtchen verschwand auch Römer, und man trauerte dem +unleidlichen Gesellen nicht nach. Erdwin Scheffer war noch immer nicht +ganz beruhigt. »Ich kann mir nicht denken, daß der Kerl irgendeinen +Plan hegte und nun ohne weiteres auf die Ausführung verzichtet, ohne +den ernstlichen Versuch zu seiner Ausführung unternommen zu haben.« +Aber Heinrich, wie jetzt auch Johannes, waren guten Mutes, und man +verließ anderen Morgens die kleine Stadt. Sie hofften, schon in den +frühen Stunden des Nachmittags in Goslar einzutreffen; doch ein +Radbruch beim Neuen Kruge gab unliebsamen Aufenthalt, und es sanken +schon die frühen Schatten des Novembertages herab, als man sich den +Goslarer Bergen näherte. + +Der Vogt des festen Hauses in Langelsheim, das den Braunschweigern +gehörte, gab mürrischen Dank auf den Gruß, den man ihm bot. + +»Wie seine Herren«, sagte Heinrich lachend, dessen frohe Ungeduld mit +jedem Schritt wuchs. Vor ihnen verließen ein paar Bewaffnete den Ort, +wahrscheinlich Knechte des Herzogs, die mit Botschaft nach Langelsheim +gekommen waren oder solche mit sich nahmen. Sie ritten, daß die Funken +stoben. »Die haben es eilig, daß sie unsere Gesellschaft meiden«, rief +Erdwin hinter ihnen her. + +Als man in den hohlen Fahrweg einbog, der das letzte Stück des Weges +vor Goslar bildete und etwas westwärts vom Kloster Riechenberg begann, +war die Dunkelheit völlig hereingebrochen. Der Weg führte in der tiefen +Rinne dahin, die vom Wasser in der Hauptsache gegraben war und ihm auch +weiter als Abflußrinne diente. Die Wagenknechte suchten fluchend die +Laternen hervor und hieben auf die müden Gäule ein. Da durchschnitt +plötzlich ein schriller Pfiff die Luft. An der Spitze des Zuges +krachten Schüsse, und alles geriet ins Stocken. Von der Höhe sprangen +Bewaffnete herab und schleuderten Feuerbrände in den Wirrwarr auf der +Talsohle. Die Pferde scheuten und suchten durchzubrechen. Überall +Kampfeslärm und Waffengeklirr. Man dachte zunächst nichts anderes, als +daß man zuletzt doch noch das Opfer eines Überfalls von Strauchdieben +geworden sei. + +Heinrich ritt mit Johannes ziemlich an der Spitze des Zuges; denn die +Ungeduld trieb sie voran. In ihrer Nähe war auch Erdwin Scheffer mit +noch anderen Knechten. Sie wollten umkehren, um die Wagen zu schützen; +aber da traten ihnen mehrere Bewaffnete entgegen. »Der da ist es«, rief +einer der Fremden mit einer Stimme, die Heinrich bekannt vorkam. Sie +warfen sich auf ihn und suchten ihn zu überwältigen. Heinrich wehrte +sich kräftig, doch die Überzahl war zu groß. Ihm schwanden die Sinne, +er merkte nur noch, daß ihm die Brusttasche entrissen wurde. Da kam +Hilfe von Erdwin und Johannes, die sich bis jetzt selbst ihrer Gegner +zu erwehren gehabt hatten. »Dachte ich's doch, daß der Schuft seine +Hand im Spiele habe.« Damit warf er sich auf die Angreifer und drang +bis zu Heinrich vor; denn er sah, daß der, den er meinte, es war der +Helmstedter, mit seiner Beute davonwollte. Da holte diesen ein Schlag +mit der Hellebarde herab. Mit gespaltenem Schädel sank er zu Boden. + +Mit dem Falle des Anstifters schwand auch die Angriffslust der +übrigen. Sie suchten nur noch ihren Rückzug zu decken und klommen +kämpfend den steilen Hang hinan. Erdwin, in dem die alte Kampfeslust +erwachte, drängte hitzig nach. Hier und da krachte noch ein Schuß, +zersplitterte noch ein Lanzenschaft. Noch ein Feuerstrahl zuckte aus +einer Hakenbüchse auf, er galt und traf Erdwin Scheffer. Als letzter im +Kampfe sank er dahin. »Die Tasche!« flüsterte er noch dem Nächsten zu, +dann brach er zusammen. Man hörte den Galopp von fortjagenden Reitern, +dann blieb die Nacht allein mit den Überfallenen zurück. Man suchte zu +ordnen, so gut das bei dem Wirrwarr und der Dunkelheit ging. Johannes +war um Heinrich Achtermann bemüht, den er für schwerverletzt hielt; +Erdwin Scheffer blieb zunächst sich selbst überlassen. + +Der nächtliche Kampf hatte leider nicht nur blutige Köpfe gekostet, +einige Knechte waren tot. Verwundete ächzten und riefen um Hilfe. +Herabgezerrte Warenballen sperrten den Weg. Angstvoll suchte Monika +im Hohlwege vorzudringen. Ihnen war nichts geschehen, der Angriff +hatte sich von vornherein auf die Stelle gerichtet, wo man Heinrich +Achtermann vermutete. Ihre Sorge galt Erdwin Scheffer, dem fröhlichen +Gesellen mancher kurzweiligen Stunde im Tumult des Krieges, dem +Geliebten ihres Herzens, wie sie in der Stunde der Gefahr mit +blendender Klarheit erkannte. Ihr Fuß strauchelte über Wurzeln, sie +versank in Rinnsale des Weges, aber sie ruhte nicht, bis sie ihn +gefunden hatte. Und als sie ihn vor sich liegen sah, mit wunder Brust, +aus dem der warme Strahl hervorsickerte, da sank sie mit einem +Aufschrei über ihn hin. + +»Erdwin, mein Erdwin, bleibe bei mir, verlaß mich nicht, Einziger Du!« +Irre, hilfesuchend blickten ihre Augen umher im Dunkel der Nacht. +War denn niemand da, der helfen konnte? Da kam die Mutter heran, die +Vielerfahrene. »Laß ihn mir, Monika. Wenn ihm zu helfen ist, bringe ich +ihm Rettung.« + + + + +Die steile Höhe des Erzweges hinauf, der vom Granetal über das Joch +zwischen Hessenkopf und Thomas-Martinsberg ins Tal der Gose führt, +erklangen die Glöckchen der Grautiere, die ihrer Last ledig waren, +welche sie auf dem geduldigen Rücken von den Gruben des Rammelsberges +zu den Erzrösten im Granetal geschleppt hatten. Rüstiger schritten +sie aus, als die Höhe erreicht war. Auf dem Rückwege drückte nur +leichte Bürde ihren Rücken: Kupferbarren, Bleibrote, der Gewinn aus +der umständlichen und unvollständigen Art der Verhüttung, waren ihnen +anvertraut. Vergnüglich klang das »I--ah« des Leitesels in die kühle +Novemberluft, als wolle er seiner Freude Ausdruck geben über den warmen +Stall und die gutgefüllte Krippe, die seiner harrten. + +Unten im Granetal verhallten die letzten Axtschläge der Holzfäller an +den Berghängen, die in den Waldungen der Silvanen, der Waldherren, das +Holz fällten, welches zum Rösten und Sintern des Erzes nötig war. Vom +Glockenbrunnen her, der das klare Wasser des Glockenberges dem Tage +wiedergibt, lagerten sich die dicken Schwaden schwefligen Rauches über +der Talsohle, wo die Rosthaufen des Erzes unter der Hut rußiger Wächter +schwelten. + +Zwei Männer verließen die Stätte und wandten sich ebenfalls dem Erzwege +zu. Mager und langstelzig der eine, kurz und rundbäuchig der andere. + +»Gemach, gemach, Nachbar Richerdes«, mahnte der kleine Dicke. »Wir +wollen kein Wettrennen veranstalten. Ihr kommt noch rechtzeitig in der +Bergstraße an, um Euch von der Eheliebsten den Abendtrunk kredenzen zu +lassen.« + +Der Lange verhielt etwas im Schritt, bis der Begleiter ihn wieder +eingeholt hatte. »Wollte hoffen, es wäre so«, sprach der Hagere +grämlich. »Aber Ihr wißt doch, daß die Frau seit Monaten siecht. Zu +Hause sehe ich schon lange kein fröhliches Gesicht mehr.« + +»Entschuldigt, Nachbar, es war nicht böse gemeint«, begütigte der +Waldherr Ludecke Bandelow. »Ihr habt aber doch wenigstens die Venne; +die muß Euch doch ein wahrer Augentrost sein in diesem Ungemach, Euch +und Eurer Frau.« + +»Ich will es nicht leugnen und danke Gott, daß er sie uns schenkte +für diese Zeit der Trübsal, doch lange wird ihr jugendlicher Frohsinn +auch nicht mehr vorhalten, fürchte ich. Die Mutter aufheitern und den +grämlichen Vater beruhigen, das ist nicht Jugendarbeit auf die Dauer. +Ihr seht, ich male mich selbst nicht schöner, als ich bin. Aber der +Henker soll auch die gute Laune behalten bei all dem Ärger mit dem +Berge und dem Rat.« + +»Wie steht Ihr denn jetzt mit ihm?« forschte Bandelow. + +»Das könnt Ihr Euch leicht vorstellen, solange Karsten Balder +regierender Bürgermeister ist. Ihr wißt ja, wie er es, offen und +versteckt, gegen mich hat, er wie seine Freunde. Sein Gelüste kenne +ich, ihm steht der Sinn nach meiner Gerechtsamen; die Ursachen liegen +tiefer: mich trifft er, aber eine andere will er treffen.« + +»Ich weiß, ich weiß, es gilt Eurer ...« + +»Wozu die Namen?« unterbrach ihn Richerdes, »das ändert nichts an der +bestehenden Gegnerschaft. Die Hauptsache ist, daß man den Gegner als +solchen kennt.« + +»Ja, das ist das schlimme, daß es möglich ist, ehrsamen und +pflichttreuen Bürgern das Leben schwer zu machen unter der Flagge +der Fürsorge für die Stadt. Eine nette Fürsorge das, die darauf +hinausläuft, einem das bißchen Eigentum zu nehmen. Das scheint ja +freilich im Zuge der Zeit zu liegen; denn wie man bestrebt ist, Euch +die Berg- und Grubengerechtsame abzujagen, so will man uns unsere +wohlerworbenen Anrechte auf die Forst abnehmen. Aber gebt nicht nach, +keinen Zoll breit. Mit uns hat es der wohlweise Rat ja ähnlich vor; +solange ich jedoch da bin, erhält er nichts.« + +»Nun, ›abjagen‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort,« fiel Richerdes +ein, »Ihr wißt ja, daß er mich und andere auskaufen will. Daß der Preis +nicht zu hoch gehalten ist, dafür sorgt aber schon der Regierende. Es +sei im Interesse der Stadt, der Allgemeinheit, so bemänteln sie es +gar schön. Aber ich kann und will das nicht einsehen. Weshalb soll +denn jetzt auf einmal verkehrt sein, was man vor nicht gar zu langer +Zeit selbst betrieb. Damals, als es hieß, Geld zu finden, Gewerke +zusammenzubringen, war mein Vater gut genug zur Hergabe des Geldes. Ich +weiß von ihm selbst, wie er sich gesperrt und gesträubt hat, ehe er +den Beutel zog. Damals drängte und mahnte der Rat, es sei eine Tat für +das Gemeinwohl; jeder Bürger, der es könne, müsse einspringen. Jetzt +wollen sie es nicht recht haben, jetzt, wo die Sache nach den vielen +Scherereien und Opfern sich als ergiebig zeigt.« + +»Das ist's, damit habt Ihr ins Schwarze getroffen: sie gönnen Euch den +Gewinn nicht, und da muß das Gemeinwohl herhalten. Bleibt nur fest wie +ich. Meinen Anteil an der Forst bekommen sie nicht, und wenn sie noch +so viel darum tun. Recht muß Recht bleiben.« + +So tauschten die beiden wackeren Bürger ihre Meinungen aus über den +habgierigen Rat, wie sie sein Vorgehen deuteten, und stiegen von +der Höhe herab, vorbei an der Ratsschiefergrube, die schon von den +Werkleuten verlassen wurde; denn die Schatten des Abends sanken +immer mehr herab. An der Gose entlang klapperten der Wassermühlen +unermüdliche Räder. + +An dem Stadtgraben trennten sie sich mit einem Handschlag, denn +Bandelow hoffte noch durch das Mauerpförtchen an der Frankenberger +Kirche Einlaß zu gewinnen, die ragend und dräuend von der Höhe durch +das Grau des Abends herabdämmerte. Richerdes aber folgte der Fahrstraße +zum Klaustor, die seiner Wohnung in der Bergstraße näher lag. + +Das Haus in der unteren Bergstraße war schon versperrt. In der +Dunkelheit des Abends konnte man von ihm nicht mehr erkennen als die +gewaltigen Umrisse, die in der engen Straße doppelt stark wirkten. +Ein großer Torweg zu oberst war schon verschlossen, wie Richerdes +feststellte; also mußte er den Klopfer des Haustores in Bewegung +setzen, daß ihm Einlaß wurde. Die Hausglocke schnepperte noch eine +Weile in immer mehr verklingenden Tönen nach, als er über den mit +Steinplatten abgedeckten Hausflur schritt, um noch einen Blick auf den +Hof und in die Stallungen zu werfen. + +»Ist Besonderes vorgekommen?« fragte er eine Magd, die ihm begegnete. +»Nein, nur die Frau hat des öfteren nach Euch gefragt.« Da gab er sein +Vorhaben auf und wandte sich sogleich der Wohnung zu, die um wenige +Stufen höher, zur Seite des Flures lag. In dem großen Wohnzimmer +sandten die Kerzen eines mehrarmigen Leuchters ihre Strahlen umher. +Sie scheiterten indes bei dem Versuch, bis in die dunkeln Ecken des +Gemaches zu dringen. So dunkel war es nach der Rückwand zu, daß man +kaum die Tür bemerkte, welche dort in die Schlafkammer führte. Sie +öffnete sich in diesem Augenblick, und Venne, die Tochter, trat heraus, +um den Vater zu begrüßen, da sie die Hausglocke gehört hatte. + +»Wie geht es der Mutter?« war die erste Frage. + +»Sie ist etwas unruhig, seit Ihr fort seid. Ich war froh, daß in Eurer +Abwesenheit Schwester Jutta vom Kloster Mariengarten hier war. Ihr +wißt ja, daß sie auf Mutter immer einen wohltätigen Einfluß ausübt. +Auch heute legte sich unter ihrem gütigen Zuspruch die Gespanntheit +der Nerven. 's ist eine gute Frau, diese Jutta; wir schulden ihr einen +Gotteslohn. Ist es nicht gerade, als ob unter ihrer kühlen Hand und dem +gütigen Trostwort alles Ungemach davonfliege?« + +»Ja, wir haben allen Anlaß, ihr dankbar zu sein in dieser schweren +Zeit«, antwortete der Vater. »Ich weiß nicht, wer durch diese treue +Freundschaft mehr geehrt wird, die Mutter, der die fromme Frau auch +unter dem Schleier noch die Zuneigung bewahrt, oder jene selbst, deren +edle Eigenschaften durch diese Pflege alter Beziehungen in ein um so +schöneres, helleres Licht gerückt werden. Aber jetzt geht es ihr doch +besser, der Armen, Leidgeprüften?« fragte er besorgt. + +»Sie schläft. Ich mußte sie über Euer langes Ausbleiben beruhigen, +wolltet Ihr doch schon am Nachmittage zurück sein.« + +»Wollte ich auch, und wäre ich auch, wenn ich nicht den Montanen, Herrn +Bandelow, getroffen hätte, mit dem es ein langes und breites über +Holzleistungen und -lieferungen zu besprechen gab, und auch sonst ist +noch manches zwischen uns beredet worden.« + +»Dachte ich's mir doch, daß Ihr einem Schwätzer wie dem in die Hände +gefallen wäret. Laßt Euch mit dem nur nicht zu sehr ein; ich werde die +Sorge nicht los, daß Euch und uns durch seine Einmischung zuletzt noch +Übles widerfährt«, hielt Venne dem Vater entgegen. + +In Richerdes' Augen war ein froher Glanz getreten, als er die Tochter +bei ihrem Eintritt ins Zimmer mit dem Blick umfaßte. Der ganze Mann +schien geändert, seitdem er das Zimmer betreten hatte; nichts mehr von +der düsteren, grämlichen Stimmung, die ihn im Gespräche mit Bandelow +beherrschte. Es war für ihn ein ungeschriebenes Gesetz, alles, was er +an Verärgerung draußen erlebte, nicht über die Schwelle des Hauses +dringen zu lassen. Nur über seine Gegensätze zu dem regierenden +Bürgermeister war die Tochter durch die Mutter unterrichtet. Darauf +bezogen sich auch wohl ihre besorgten Worte. So lautete auch die +Erwiderung auf Vennes letzte Worte mehr zärtlich freundlich als +abweisend: + +»Du gibst es ja Deinem alten Vater tüchtig, kleiner Schulmeister; doch +sei unbesorgt, was ich mit Bandelow besprochen habe, brauchte nicht +das Licht zu scheuen. Daß er den Mund gern etwas voll nimmt, weiß +ich besser als Du und richte mich von vornherein darnach. Aber das +Geschäftliche muß schon mit ihm beredet werden; und Du weißt ja, daß +er mein hauptsächlicher Holzlieferant ist. Die Verhältnisse im Berge +liegen leider so, daß ich mehr auf ihn angewiesen bin, als mir lieb +ist. Doch nun genug vom Geschäft und seinem Ärger.« + +Venne strich ihm zärtlich über das Haar. Es war ein großes, schlankes +Mädchen, das hier von dem gelben Lichte der Kerze übergossen wurde. + +Wer die Venne Richerdes nach dem Bilde sich vorstellte, welches +Heinrich Achtermann von ihr mit in die Fremde nahm, würde sie kaum +wiedererkannt haben. Nur die stolze Haltung des Köpfchens und die +seelenvollen Augen, über die im Augenblick noch ein Schatten der Trauer +um die kranke Mutter gebreitet lag, erinnerte an die Venne von ehemals. +Aus der unscheinbaren Puppe hatte sich ein glänzender Schmetterling +entwickelt. Nichts mehr gemahnte bei Venne an das eckige, unbeholfene +Ding, das vor Heinrich Achtermann davongelaufen war. + +Das lang herabwallende, faltige Hausgewand, das sich lose um die +königliche Gestalt schmiegte, ließ die edlen Formen des Körpers +erraten. Mit lässiger Anmut bewegte sie sich um den Vater, während sie +mit der klangvollen Stimme ihm Rede und Antwort stand auf seine Fragen. + +»Soll ich uns den Abendtisch decken lassen?« fragte sie weiter. In +diesem Augenblick erklang durch die angezogene Tür des Schlafgemaches +die Stimme der Kranken, die nach dem Vater fragte. Statt der Antwort +trat dieser sogleich zu ihr herein. Behutsam beugte er sich zu ihr +nieder, und alle Zartheit und Liebe, die er für diese Frau empfand, +klang aus seiner Stimme. Sie mußte ehedem eine schöne Frau gewesen +sein; jetzt lagen die Schatten der langen Krankheit auf ihrem blassen +Gesicht. In Venne stand ihr verjüngtes Ebenbild vor ihr. Nur ein +leichter, kritischer Zug um den Mund unterschied diese von der Mutter. +An der Kranken war, von dem leidenden Zug abgesehen, der seine Runen +in ihr Antlitz gegraben hatte, alles Weichheit, Hingabe, während Venne +über eine nicht alltägliche Entschlossenheit gebot, die ihr, dem +jungen Mädchen, den Gehorsam des Hauspersonals sicherte, vom letzten +Eseltreiber bis zur alten Katharina in der Küche, ihrer Kindsmagd, mit +der sonst niemand anzubinden wagte und von der selbst der gestrenge +Hausherr ein Wort mehr annahm, als er sonst von irgend jemand gelten +ließ. + +»Wie geht es Dir, Liebste? Ich höre von Venne, daß Du wieder besonders +mit Dir zu tun gehabt hast. Schwester Jutta hatte ja, wie so oft, ihr +Bestes an Dir getan, aber soll ich nicht doch noch den Doktor Henning +holen lassen?« + +»Nein, nein, ich bitte Dich. Mir ist jetzt nach dem kurzen Schlaf sehr +wohl. Es war auch weniger das Leiden, das mir zusetzte, als eine innere +Unruhe, die wuchs, je länger Du ausbliebest. Es lag auf mir wie die +Vorahnung von einem Unheil.« + +»Nun bekomme ich von Dir auch noch eine Strafpredigt,« scherzte +Richerdes gutlaunig. »Vorhin hat mich Venne schon ins Gebet genommen. +Wenn ich nun Besserung gelobe für die Zukunft, willst Du dann auch mein +braves Weib sein und Dich alsogleich völlig beruhigen?« + +Ihm zärtlich von ihrer Lagerstätte zunickend, ließ sie den Blick an +seiner hohen Gestalt emporgleiten. Ein leiser Seufzer entrang sich +ihrer Brust. »Was hast Du noch?« fragte er aufs neue besorgt. »Nichts, +es ist nur der Kummer, daß ich Euch das Leben mit meinem Siechtum +belaste. Ihr könnt das gar nicht auf die Dauer ertragen.« + +»Das ist mir das rechte Medikament«, rief der Gatte gutmütig polternd. +»Jetzt habe ich meine ganze ungeschlachte Liebenswürdigkeit an diese +eigensinnigste aller Frauen verschwendet, um nun zum Dank von ihr zu +hören, daß sie uns lästig falle. Nun sprich Du ein Machtwort, Venne; +vielleicht, daß Du Dir mehr Respekt verschaffst.« + +Venne umschlang die geliebte Mutter zärtlich behutsam und barg ihr +Gesicht an der Wange. »Ach, böses, liebes Mütterlein, der Vater hat +nur zu recht. Wie sollten wir unsere Liebe zu Euch besser zum Ausdruck +bringen, als daß wir Euch umhegen und umgeben mit unserer Pflege. Ihr +sollt uns ja bald gesund sein und werdet uns gesunden; aber, daß ich's +sage, Gott verzeihe mir die Sünde: ich wünschte nicht, daß Ihr krank +gewesen wäret oder je wieder würdet; doch desungeachtet möchte ich, +und der Vater gewiß mit mir, nicht diese Zeit missen, wo wir Euch Eure +Liebe wenigstens zu einem kleinen Teile vergelten konnten. Nun fügt +Euch nur noch eine kurze Zeit unserer strengen Vormundschaft, und dann +wird eines Tages mein Mütterlein wieder rüstig und flink durchs Haus +trippeln, und wir werden uns auf die Bärenhaut legen; gelt, Vater?« + +Gerührt blickte die Kranke auf ihr Mägdelein, und eine Träne rann über +die blasse Wange. + +Ach, wenn es doch so käme, wie Venne es ihr prophezeite! + +In diesem Augenblick wurden sie durch wirren Lärm von der Straße +aufgescheucht. Stimmen und Schreie erklangen durcheinander, und alsbald +erhob die Sturmglocke der benachbarten Marktkirche ihre wimmernde +Stimme. Angstvoll schrak die kranke Frau zusammen und griff nach dem +Herzen. Venne eilte ihr sogleich zu Hilfe. Auch ihr wie dem Vater war +sehr bange, denn man glaubte nicht anders, als im nächsten Augenblick +das gefürchtete »Feuerjo« draußen zu hören, welches verriet, daß der +schlimmste Feind der mittelalterlichen Städte sein rotes Banner auf +den Dächern der Stadt aufgepflanzt habe. Richerdes, der zu den Führern +der Feuerwehr gehörte, die pflichtmäßig alle nicht bresthaften Bürger +mit den ledernen Feuerlöscheimern zur sofortigen tätigen Hilfe bei +Ausbruch eines Brandes veranlaßte, stürzte nach einem kurzen, hastigen +Abschiedswort davon und ließ die Frauen in banger Spannung zurück. +Der Lärm draußen verlor sich bald, und auch das Gewimmer der Glocke +erstarb. Die Annahme, daß eine Feuersbrunst ausgebrochen war, schien +demnach irrig zu sein; wahrscheinlich handelte es sich um irgendeinen +Angriff oder Überfallversuch, wie die unruhigen Zeiten ihn nicht +selten brachten. In angstvoller Erwartung harrten die beiden Frauen +der Rückkehr des Vaters und Gatten. Endlich, viel zu spät für ihre +Ungeduld, ertönte der Klopfer, und Venne beeilte sich, zu öffnen, da +das Gesinde inzwischen zur Ruhe gegangen war. Der Überfall auf die +flandrischen Kaufleute bei Riechenberg hatte den Tumult veranlaßt. +Noch kannte man nicht alle Einzelheiten. Es sollte viele Tote und +Verwundete gegeben haben und Plünderung der Waren, wie das Gerücht +bei solchen Anlässen zu wüten pflegt. Die Kunde war von einem Knechte +überbracht worden, der auf schweißbedecktem Roß vor dem Sankt-Viti-Tor +in der Dunkelheit auftauchte und um eilige Hilfe und Schutz bat. Die +Stadtsoldaten unter ihrem Hauptmann und ein großer Haufen bewaffneter +Bürger waren sofort ausgezogen, und zur Stunde, so durfte man hoffen, +hatten die Bedrängten schon Hilfe gefunden, und sie selbst waren unter +sicherer Bedeckung im Anzuge gegen die Stadt. + +Richerdes kehrte nur zurück, um die Frauen zu unterrichten und sie zu +beruhigen. Er verließ bald darauf wieder das Haus, um den Ausgang +und weitere Aufklärung des Falles zu erfahren. Auch bei ihm sprach +seit Jahren einer der Kaufleute vor, der auch dieses Mal dabeisein +mußte. Noch mehr Grund also, zur Stelle zu sein, wenn die Überfallenen +ankamen, um dem alten Geschäftsfreunde zugleich hilfreich zur Seite zu +stehen, wenn er die Stadt betrat. + + + + +Im Kamin prasselte ein lustiges Feuer und verbreitete eine angenehme +Wärme über den Raum, in dem die Familie Richerdes am reichgedeckten +Frühstückstisch mit dem Gaste, Herrn Emile Delahaut aus Dinant, saß. +Das Gespräch drehte sich natürlich um den gestrigen Überfall. Er war +so weit geklärt, daß man wußte, das Stücklein ging, wie man gleich +vermutete, von dem berüchtigten Bandenführer Hermann Raßler aus, +der, wie jedermann bekannt war, im geheimen Dienste des Herzogs von +Braunschweig stand und die Goslarer schatzte, daß ihnen der Atem +auszugehen drohte. Zwei seiner Knechte, mit denen er den frechen +Überfall gewagt hatte, blieben verwundet in den Händen der Goslarer, +und aus ihrem Munde erfuhr man alle Einzelheiten. Demnach war der +eigentliche Urheber des verruchten Planes jener Händler aus Helmstedt, +der selbst bei der Tat seinen Lohn erhalten hatte. Er traf morgens in +aller Frühe in Riechenberg ein, wo man ihm den Schlupfwinkel Raßlers +anzeigte. Die Knechte, die beim Herannahen des Zuges in Langelsheim so +eilig Fersengeld gaben, waren Kundschafter, die melden sollten, wann +mit dem Eintreffen am Hohlwege zu rechnen sei. Es stellte sich nunmehr +als sicher heraus, daß der ganze Überfall nicht den Kaufleuten, sondern +Heinrich Achtermann gegolten hatte und jedenfalls dazu dienen sollte, +ihm das wichtige Dokument abzunehmen. Was unterwegs mit List nicht +gelungen, das wollte man zum Schluß mit Gewalt herbeiführen. + +Damit war auch der Auftraggeber ohne weiteres erkannt: es konnte +nur der Braunschweiger sein, dem an der Vernichtung des päpstlichen +Schreibens allein lag. Durch seine Spione in der Stadt mußte er +irgendwie von dem Auftrage und dem Wege der Heimreise Heinrichs Kunde +erhalten haben und hatte danach seine Maßnahmen getroffen. Sein +unmittelbarer Vorfahre, Heinrich der Ältere, hatte den besonderen +Schutz der Stadt Goslar noch für 400 Gulden im Jahre 1497 auf zehn +Jahre übernommen. Die Herzöge Philipp und Erich ließen sich noch vom +Jahre 1500 ab zehn Jahre lang für die gleiche Leistung 1200 Gulden +im voraus geben. Heinrich der Jüngere trat in diesen Vertrag ein. +Das hinderte ihn aber nicht, im geheimen seine Blut- und Beutehunde +gegen die Stadt loszulassen. Der Streich war mißglückt, doch man +wußte, wessen man sich in Goslar von dieser Seite zu versehen hatte +trotz aller Schutzbriefe. Da der Angriff auf herzoglichem Gebiete +erfolgte, der Nachweis geführt war, daß Raßler der Anstifter gewesen +und offenbar bei den dem Herzoge befreundeten Mönchen von Riechenberg +Unterstützung genossen hatte, ging ein geharnischter Protest des Rates +nach Wolfenbüttel ab, wo der Herzog residierte. Der Erfolg war freilich +vorauszusehen. Der Herzog lehnte mit der für diesen Fall gebotenen +Entrüstung jede Mitwissenschaft und Teilnahme ab. Die wirklich +Leidtragenden waren die beiden Schelme, die man gefangen hatte; sie +baumelten bald darauf am Galgen, der sein Gerüst auf dem Georgenberge +drohend ins Land reckte. + +Auch der Fremden wegen erhob man den Einspruch beim Herzoge, um ihnen +zu zeigen, daß man alles tue, um ihnen Genugtuung zu geben. Denn sie +führten natürlich auch ihrerseits, sei es auch nur, um ihr Geschäft +günstig zu beeinflussen, bewegliche Klage über die erlittene Unbill +und die Unsicherheit der Wege in unmittelbarer Nähe der Stadt; Schaden +an Eigentum war kaum erlitten, abgesehen von einigen Warenballen, +die von den Wagen gestürzt und etwas beschädigt waren. Dem Anschein +nach hatten die Raubgesellen, obwohl ihr Auftrag nur dahin ging, sich +des goslarschen Gesandten zu bemächtigen, doch ihrer oft bewiesenen +Beutelust nicht widerstehen können, zu nehmen, was sich ihnen bot. Der +steile Hang und der fluchtartige Rückzug hinderten sie dann aber an der +Mitnahme. + +Über der Besprechung des gestrigen Ereignisses vergaß man nicht, den +guten Sachen Ehre anzutun, die der Tisch bot. Venne ging ab und zu, um +nach der Mutter zu sehen und den Mägden eine Anweisung zu geben. Im +hellen Licht des Tages sah man erst, welch vollendete Schönheit sie +war. Die Anmut ihrer Bewegungen, der Wohllaut ihrer Stimme vereinigten +sich gleichermaßen, um den Fremden gefangenzunehmen. + +»Wetter noch einmal,« warf er dem Gastfreunde zu, als Venne sich auf +einen Augenblick entfernt hatte, »ist das ein Mädel geworden, seit ich +sie zuletzt sah! Wie das den Kopf trägt und sich bewegt! Wahrhaftig, +wenn ich nicht schon ein alter Knabe wäre, könnte mich Eure Venne noch +zu Abenteuern verleiten. Verwahrt den Schlüssel zu ihrem Herzen gut, +sonst fliegt sie Euch über Nacht davon. Lange werdet Ihr sie sowieso +nicht mehr halten, sonst müßten Eure Jungen hier Fischblut in den Adern +haben.« + +Richerdes lächelte behaglich zu dem Lobe der Tochter: »Vorläufig +scheint ihr selbst noch wenig an dem Ausfluge aus dem Elternhause zu +liegen, dazu hält sie die Pflege der kranken Mutter viel zu fest. +Findet sich aber einmal der Rechte, so werden wir sie nicht halten +wollen. Denn es ist der Eltern wie der Kinder Los, sich trennen zu +müssen, wenn sie des anderen Wert erkennen.« + +Man kam noch einmal auf das gestrige Abenteuer zu sprechen und auf +die Goslarer, die dabei zu Schaden gekommen, Heinrich Achtermann und +Erdwin Scheffer. Dieser, der Sohn eines achtbaren Mitgliedes der +Schustergilde, war am übelsten davongekommen, und man wußte nicht, ob +er am Leben bleiben werde. Heinrich Achtermann dagegen hatte, wie es +hieß, keinen ernsten Schaden erlitten. Durch das Würgen der Angreifer +und den Sturz auf einen Stein verlor er die Besinnung. Als die Hilfe +aus der Stadt kam, war er schon wieder zum Bewußtsein zurückgekehrt. + +Nach dem Frühstück gingen die Herren zum Geschäftlichen über. Da +schlüpfte Venne aus dem Hause, um sich in der Stadt umzuhören und bei +den Achtermanns vorzusprechen, die mit ihrer Familie befreundet waren. +Sie wurde beim Eintritt ins Haus von der Schwester Heinrichs begrüßt. +Von ihr vernahm sie, daß es dem Bruder schon wieder leidlich gehe, und +sie konnte sich selbst davon überzeugen, denn sie traf ihn im Zimmer, +wo er mit den Eltern und dem flandrischen Gastfreunde zusammen saß. +Die überstandene Gefahr hatte keine Spur zurückgelassen, außer einer +leichten Blässe im Gesicht. + +Als Venne ihn unvermutet vor sich sah, war sie einen Augenblick +befangen, denn die Stunde stand ihr vor Augen, als sie zuletzt die +Flucht vor ihm ergriff. Sogleich stieg auch der alte Trotz wieder in +ihr auf, und das herzliche Wort, das sie ihm zur Begrüßung gönnen +wollte, wurde zu einem kühlen Gruß. Heinrich glaubte seinen Augen +nicht trauen zu dürfen, als Venne eintrat, ja, er, der nie Verlegene, +starrte sie einen Augenblick wie entgeistert an: War denn dieses +Mädchen von vollendeter Schönheit das hagere, eckige Ding, das er +vor langem verlassen hatte? Und er wäre nicht der Mann mit dem für +Frauenschönheit empfänglichen Herzen gewesen, wenn nicht dieses holde +Menschenkind sogleich in ihm höchste Bewunderung mit der Regung jener +Sehnsucht gepaart hätte, die der Schönheit im eigenen Herzensschrein +einen Altar zu errichten gewillt ist. Er war bisher der Schmetterling, +der an allen Blüten naschte. Für die reizenden Bologneserinnen +schwärmte er, der lebensfrischen Richenza Walldorf flog sein Herz +entgegen, aber ihre Spur war verwischt, ausgelöscht vor dem wundersamen +Geschöpf, das da vor ihm stand. Wie ein Schlag durchzitterte es seine +Brust: Die hält Dein Schicksal in ihrer Hand, Venne Richerdes mußt Du +besitzen oder keine! + +So standen beide sich einen Augenblick verwirrt gegenüber. Venne +sah seine Blicke auf sich gerichtet, aber sie ahnte nicht, welche +Gefühle ihn durchzitterten. Da fand Heinrich zuerst das Wort. Um seine +Befangenheit zu meistern, griff er zu dem alten Mittel tändelnden +Scherzes und war dabei in Gefahr, alles schon im ersten Augenblick zu +verderben. + +»Euch trieb gewiß die Angst um mein Befinden hierher, aber Ihr seht ja, +Unkraut vergeht nicht.« Venne suchte sich sogleich mit ihrer ganzen +kühlen Unnahbarkeit zu wappnen. »Ihr irrt Euch; ich kam vor allem, um +Eure Schwester zu besuchen. Daß mich auch Sorge um Euch erfüllte, will +ich nicht leugnen; aber ich sehe ja, daß Ihr wohlauf seid, so will ich +Euch auch mit meiner Teilnahme nicht lästig fallen.« + +»Gut gegeben, Jungfer Dornenhag«, antwortete Heinrich munter lachend. +»Aber um Euch zu versöhnen, will ich Euch auch etwas Angenehmes sagen. +Ratet nur, was!« + +»Ich bin nicht allzu begierig darauf, denn ich versehe mich keiner +besonderen Schmeicheleien von Euren Lippen«, entgegnete Venne halb +ablehnend. + +»Eine Schmeichelei ist's auch nicht, aber ein schöner, herzlicher +Gruß von Eurem Oheim Ernesti. Eigentlich sollte ich auch den +dazugehörigen Kuß mit überbringen,« log er hinzu, »aber das habe ich +als lebensgefährlich abgelehnt.« Venne achtete auf die letzten Worte +kaum noch. »Vom Oheim Ernesti und der Muhme wahrscheinlich? Oh, das +ist schön. Erzählt doch nur gleich, wo Ihr ihn trafet und wie Ihr sie +fandet.« Und Heinrich berichtete ausführlich über sein Zusammensein mit +dem Oheim und seine Aufnahme in Soest. + +In diesem Augenblick trat Johannes Hardt ins Zimmer, der ebenfalls kam, +um sich nach dem Befinden des Freundes zu erkundigen. Der Ratsherr +forschte nach allen Einzelheiten der Reise und kam dann von Ernesti +und dem gestrigen Überfall auf die Zeitläufte zu sprechen. Da überließ +die Jugend die Alten ihren ernsten Gesprächen. Die Mädchen schlüpften +hinaus in das Zimmer der Schwester. Für heute erhielten auch Heinrich +und Johannes dort Zutritt, denn man war doch gar zu begierig, über ihre +Erlebnisse im Wunderlande Italien Einzelheiten zu erfahren. Und die +beiden Wanderer erzählten und erzählten, und ihre Zuhörerinnen wurden +nicht müde, ihnen zuzuhören. + +»Aber eins fällt uns auf,« warf Venne, zu Johannes gewendet, schalkhaft +ein. »Von den schönen Bologneserinnen haben wir bis jetzt gar nichts +vernommen. Sind sie ausgestorben, oder habt Ihr ihnen dauernd Eure +Gunst vorenthalten? Das wäre ja ein gräßliches Verbrechen.« Einen +Augenblick wollte der junge Mann erröten, aber schon kam ihm Heinrich +zu Hilfe: »Es gibt ihrer noch genug,« antwortete er, »sogar recht +liebreizende, aber unsere Beziehungen zu ihnen werden wir Euch erst +enthüllen, wenn Ihr uns verratet, in welchen Herzen Ihr Vernichtung +angerichtet habt.« + +»Da werde ich lange auf Eure Enthüllungen warten können, denn ich bin +mir nicht bewußt, irgendeinem Herzen Unglück zugefügt zu haben.« + +»Na, na,« warf da die Schwester lächelnd ein, »glaubt ihr nicht so +ohne weiteres. Sie ist eine Heimliche. Ich möchte die Seufzer nicht +auf meinem Herzen tragen, die ihr nachgeklungen sind. Und sie ist +auch selbst nicht unversehrt geblieben, will mir scheinen. Ich müßte +sonst die mancherlei Fragen mißdeuten, die sie immer wieder über einen +gewissen abwesenden jungen Herrn stellte. Soll ich Namen nennen, +Venne?« fragte sie neckend. + +»Daß Du Dich nicht unterstehst, du Garstige«, wehrte diese lachend ab, +während ein tiefes Rot über ihre Wangen flammte. Die Verwirrung erhöhte +noch ihre Lieblichkeit. »Zur Strafe für diese Verleumdung will ich +auch gleich aufbrechen.« Aber sie gab doch dem Widerspruch der anderen +nach; es hätte ja auch zu sehr nach einem Zugeständnis ausgesehen; und +man blieb noch eine kurze Zeit in traulichen Gesprächen beisammen. +Dann mußte sie Abschied nehmen, da die Mutter nicht lange ohne Wartung +bleiben durfte. Auch für Johannes war es an der Zeit, sich festlich +anzukleiden, denn er sollte mit Heinrich zusammen die besondere Ehre +genießen, dem Hohen Rat die Schrift des Papstes, die sie mit Gefahr +des Lebens verteidigt hatten, in der für die Mittagsstunde anberaumten +Sitzung überreichen zu dürfen. + +Die Mitglieder des Goslarer Rates hatten in feierlicher Amtstracht sich +im Sitzungsraum versammelt, und nun warteten sie des päpstlichen Boten +mit der Antwort auf ihr Begehren. + +Die Jünglinge wurden von dem Ratsboten hineingeführt, die Ratsherren +erhoben sich, und der regierende Bürgermeister, Karsten Balder, +begrüßte sie mit freundlichen Worten. + +»Ihr seid Träger der Botschaft vom Heiligen Vater, die uns Herr +Henricus Ernesti freundwillig vermittelt hat. Wir hören,« wandte er +sich dann im besonderen an Heinrich Achtermann, »daß Euch zuletzt noch +arges Ungemach getroffen hat. Empfangt mit unserem Bedauern über die +erlittene Unbill zugleich unseren Dank für den wichtigen Dienst, den +Ihr Goslar geleistet habt. + +Es geht um nichts Geringes in dem Schreiben, wie Ihr Euch denken könnt. +Ihr habt das Geheimnis treulich an Eurer Brust gewahrt und mit Eurem +Leibe verteidigt, so sollt Ihr und mit Euch Euer Freund auch der erste +sein, der außer uns von dem Inhalt Kenntnis erhält.« + +Damit öffnete der Bürgermeister und gab den Inhalt der päpstlichen +Bulle preis. + +Demnach versicherte Papst Leo X. seine fromme und getreue Stadt Goslar +mit seinem Segen zugleich seines Schutzes, bestätigte in Erneuerung der +Briefe des Königs Wenzel ihre ausschließlichen Vorrechte und Ansprüche +auf das Bergwerk und die Forsten, versprach ihr seinen Beistand und +drohte allen denen mit schweren Kirchenstrafen, welche sie im Genuß +dieser Rechte stören oder sie ihnen streitig zu machen versuchten. + +Das war ein voller Erfolg. Befriedigt sahen sich die Ratsherren an: +Dieses Schriftstück lohnte den Eingriff in den Stadtsäckel, den man +getan hatte, um Henricus Ernesti in den Stand zu setzen, sein Anliegen +nachdrücklich zu unterstützen. Nun mochten die Braunschweiger kommen; +diese Stunde machte die letzte Nichtswürdigkeit wett, deren man den +Herzog hier im Rate offen zieh. + +»Ihr habt Euch, Herr Heinrich Achtermann, und Ihr ingleichen, Herr +Dr. Johannes Hardt, als ehrenfeste, tapfere Männer gezeigt. Der +Stadt ist durch Eure Hilfe ein sehr wichtiger Dienst erwiesen, wie +Ihr soeben hörtet. Sie wird sich ihres Dankes gegen Euch geziemend +zu entledigen wissen. Ihr aber werdet, wie Euer Verhalten beweist, +treue, zuverlässige Bürger sein, auf die sie allezeit mit Zuversicht +zurückgreifen kann.« + +Rot und stolz vor Freude verließen die Freunde das Rathaus und kehrten +zu den Ihrigen zurück. + +An ihre Stelle trat bald darauf eine Abordnung der fremden Kaufleute, +um Beschwerde vorzubringen über den Unglimpf, der ihnen hart vor den +Mauern der Stadt widerfahren war. Der Rat wies nach, daß der Überfall +nicht auf Goslarer Gebiet vor sich gegangen sei, daß geharnischte +Beschwerde an den Herzog abgehen, die ergriffenen Übeltäter +hingerichtet werden würden und im übrigen er, der Rat, es als eine +selbstverständliche Pflicht übernehme, allen erlittenen Schaden zu +ersetzen. Daneben verhieß er tatkräftige Unterstützung bei dem Abschluß +ihrer Handelsgeschäfte, bei denen der Rat ja zu einem großen Teile +selbst in Frage kam. So zogen auch diese Männer befriedigt ab. + +Am Nachmittage besuchte Heinrich den armen Erdwin Scheffer, der +inzwischen von seiner tiefen Bewußtlosigkeit erwacht war, die, wie +anfangs zu befürchten schien, unmittelbar in den Tod überzuführen +drohte. Die Sonde des Arztes hatte das Geschoß gefunden und es mit +aller Sorgfalt entfernt. Unter den schmerzhaften Verrichtungen des +Arztes war er abermals in Ohnmacht gesunken; jetzt schlief er. Der +Doktor hatte zwar die Verwundung für sehr schwer erklärt, aber doch +nicht alle Hoffnung aufgegeben. Nun mußte es sich zeigen, ob der junge, +kräftige Körper dem Kranken zur Genesung verhelfen würde. Auch nach +Monika erkundigte er sich: der Vater war unwirsch über die Dirne, +die dem Sohne bis ins Haus nachlaufe. Sie sei schon am frühen Morgen +dagewesen und habe angstvoll nach dem Kranken gefragt. Auch die Mutter, +die in dem fremden Mädchen wenig mehr als eine fremde Landstreicherin +sah, war ihr ablehnend begegnet. Nur Maria, die Schwester, hatte sich +ihrer im Flur angenommen. Sie redete dem jungen Mädchen, das sich in +seiner Angst und Sorge keine Hilfe wußte, herzlich zu. + +»Ich werde Euch auf dem laufenden halten über die Entwicklung der +Krankheit«, sagte sie, indem sie Monika an sich zog. »Will's Gott, so +wird doch noch alles gut.« + +Bald darauf fand sich auch Gelegenheit, die gute Immecke aufzusuchen. +Sie hatte bei der Witwe eines ehrbaren Handwerksmeisters Wohnung +gefunden. Noch war sie sich nicht schlüssig, wohin sie ihre Schritte +lenken werde. Erst wollte sie abwarten, wie sich der Zustand Scheffers +gestaltete, denn Monika erklärte, daß sie nicht von Goslar weichen +werde, bis sie darüber im klaren sei. Die Wanderfahrt im Kriege hatte +der braven Marketenderin manchen Gulden eingebracht, und wenn sie den +Inhalt des Beutels wog, den sie wohlverwahrt hielt, war ihr um ihre und +der Tochter Zukunft nicht bange. + + * * * * * + +Die Herren aus Flandern und Frankreich prüften die goslarsche Ware und +fanden wenig auszusetzen. Die Stapel der erworbenen Metallbarren wurden +immer größer, die Geldkatze immer magerer. Hier und da erfuhr sie eine +vorübergehende Auffüllung durch günstigen Absatz der mitgebrachten +flandrischen Waren: Teppiche, Gewebe, feine Tuchstoffe, die in den +benachbarten Städten wie in Goslar selbst willige Käufer fanden. Neben +dem Erwerb des kostbaren Metalls war indessen die Aufmerksamkeit der +fremden Kaufleute noch auf ein anderes gerichtet. + +Als der Rat von Goslar zur Wiederbelebung des namentlich durch +Wassereinbrüche verunglückten Bergwerkes einen Zusammenschluß der +Berechtigungen in einer Form erstrebte und ins Werk setzte, die man +heute als Gewerkschaft bezeichnen würde, behielt er von vornherein +das Ziel im Auge, die Anteile später durch stillen Ankauf in seine +Hand zu bringen. Er wußte es daher mit Geschick zu erreichen, daß die +Mehrzahl der Anteile, soweit er sie nicht selbst besaß, in den Händen +von Bürgern blieb, von denen er sie später erwerben zu können hoffte. +Daß er dabei bei mehr als einem auf hartnäckigen Widerstand traf, +bewies der Montane Richerdes. Karsten Balder, derzeitiger regierender +Bürgermeister, war durchaus nicht von der Voreingenommenheit gegen +Richerdes beseelt, die dieser ihm unterschob. Zwar hatte er als +Jüngling der schönen Mathilde von Hagen, des Ratsherrn und Silvanen +von Hagen Tochter, gehuldigt, und sie als sein Eheweib heimzuführen, +war sein sehnlicher Wunsch gewesen. Aber er fand sich längst damit ab, +daß Richerdes ihm den Rang abgelaufen. Er lebte selbst in glücklicher, +mit Kindern gesegneter Ehe, und sein gerader, ehrliebender Charakter +hätte es nie zugelassen, seine Machtstellung in den Dienst der Willkür +zu stellen, um für vermeintlich oder wirklich erlittene Unbill +Vergeltung zu üben. Was er mit Richerdes wie mit anderen Berechtigten +verhandelte, was er von ihnen forderte, lag im wohlverstandenen +Interesse der Stadt. Er handelte schließlich nur als der Verwalter des +von Werenberg hinterlassenen Erbes, wenn er dessen Pläne zur Ausführung +zu bringen versuchte. Bei dem Argwohn, den ihm Richerdes von vornherein +entgegenzubringen sich bemühte und den er auch seinen Angehörigen +einzureden verstand, war es nicht zu verwundern, daß dieser in allem, +was von Balder ausging oder vom Rathause kam, eine Falle witterte und +daß der Verkehr mit dem Rate für ihn eine Quelle ständigen Ärgers war. + +Damals, als der Bergbau im argen lag und der Rat mit großen Kosten +fremde Techniker heranzog, wie Meister Nikolaus von Ryden, um des +Wassers Herr zu werden, war auch der Ertrag des Bergbaus sehr gering, +und statt eines Gewinnes hatten die Gewerke dauernd Zubußen zu zahlen. +Das goslarsche Kupfer, das sich den Weltmarkt zu erobern im Begriff +gewesen war, verschwand mehr und mehr, und sein Name erklang weniger +in den Kreisen derer, die darauf angewiesen waren. Jetzt aber bildete +es eine der Lebensnotwendigkeiten für den gewerbfleißigen Westen. Die +Zahl der Käufer wuchs von Jahr zu Jahr. Was Wunder, wenn den Flamen +und Holländern der Wunsch kam, die Quellen selbst mit ausschöpfen zu +können, Mitbesitzer des Bergwerks durch die Erwerbung von Anteilen zu +werden. Beim Rate hatte sie, wie sie bald merkten, auf Erfolg nicht zu +rechnen, da er in zielbewußter Verfolgung seiner Politik im Gegenteil +darauf aus war, alle Anteile in seiner Hand zu vereinigen. Aber auch +bei den Bürgern stießen sie auf Widerstand. Vergeblich bewiesen sie +dem Besitzer des Anteils, daß die aus dem Kapital sich ergebende Rente +besser sei als das in seiner Ergiebigkeit unsichere Recht. Je eifriger +sie zuredeten, desto größer wurde der Widerstand. + +Auch der Gast- und Geschäftsfreund des Bergherrn Richerdes, Herr Emile +Delahaut aus Dinant, suchte diesen zum Verkauf seiner Anteile oder +eines Teiles derselben zu bewegen, doch auch er wandte vergeblich seine +ganze Beredsamkeit auf. Richerdes wie die anderen Goslarer, deren +Ansprüche die Freunde erwerben wollten, wurden durch das eifrige Werben +nur um so mehr in ihrer Meinung von dem Werte ihrer Rechte bestärkt. +So gelang es den Ostgängern, die alljährlich nach Goslar kamen, kaum, +einen oder den anderen Anteil zu erwerben. Freilich waren Richerdes +wohl einmal leichte Zweifel an dem dauernden Werte seines Anrechtes +aufgestiegen, und letzthin hatten sie sich noch verstärkt. Wie er +Ludecke Bandelow auf dem Heimwege vom Granetal her klagte, befriedigte +der Erfolg seiner Grube seit längerer Zeit nur wenig; und einmal war er +wirklich einen Augenblick schwankend geworden, vor nicht langer Zeit +nämlich, als der Ratsherr Achtermann, ein Mann von großem Reichtum und +Ansehen, bei ihm vorsprach, um mit ihm noch einmal über den Verkauf +an die Stadt zu reden. Zunächst lehnte Richerdes, wie früher schon, +schroff ab, aber Achtermann, vor dessen Geschäftstüchtigkeit auch +jener große Achtung hatte, ließ sich nicht beirren. + +»Ich will Eure verstockte Voreingenommenheit gegen Karsten Balder, +die ich wohl kenne, einmal außer acht lassen; versucht Ihr dasselbe. +Ihr könnt ja zuletzt doch tun und lassen, was Ihr wollt. Daß uns viel +an dem Besitz liegt, wißt Ihr; weshalb, ist Euch ebenfalls bekannt, +wie endlich auch, daß wir ihn nicht geschenkt haben wollen. Wir +wissen beide, daß es mit dem Gewinn aus Euren Gruben nicht zum besten +aussieht, im Augenblick wenigstens nicht«, warf er auf eine ablehnende +Bewegung von Richerdes ein. »Sie kann wieder ergiebiger werden, die +Erzader kann sich aber auch ganz erschöpfen oder als taub ausweisen. +Was dann? Dann seid Ihr ein armer Mann. + +Damit Ihr seht, daß ich es wirklich ehrlich meine, will ich ganz offen +gegen Euch sein. Ihr habt eine hübsche Tochter, die Euch ans Herz +gewachsen, ich einen Sohn, dem sie, wie ich glaube, nicht gleichgültig +ist. Ich könnte mir vorstellen, daß hier etwas im Werden ist, das wir +durch entschlossenes Eingreifen stören, durch stilles Gewährenlassen +aber der Reife entgegenblühen sehen können. Ich will und werde mich +nicht in Liebesgeschichten meines Sohnes einmischen; handelt Ihr +ebenso, dann haben wir uns später nichts vorzuwerfen. Eure Venne ist +mir lieb und wert und ich würde mich, ungeachtet der Unterschiede in +unseren Verhältnissen, nicht bedenken, sie als Schwieger willkommen +zu heißen. Ich werde aber nie einwilligen, daß mein Sohn die Tochter +eines Bettlers heimführte. Entschuldigt das harte Wort, indes es muß +gesprochen werden, denn Offenheit, zumal bei diesem heiklen Punkte, +liebe ich vor allem.« + +Damit weckte aber Achtermann alles, was an Trotz und Widerspruchsgeist +in Richerdes schlummerte. »Ich dränge meine Tochter niemand auf, +jetzt nicht und niemals. Wenn Ihr also keine weiteren Gründe für Euer +Anliegen vorzubringen habt, so hättet Ihr Euch die Mühe ersparen +können.« + +»Nichts für ungut«, erwiderte Achtermann, ungerührt durch die +Heftigkeit seines Gegenübers. »Ich sehe gern klare Verhältnisse +vor mir.« Dann lenkte er, sich zum Aufbruch anschickend, mit einer +teilnehmenden Frage nach dem Befinden der kranken Hausfrau auf ein +anderes Gebiet über. + +»Ich hörte kürzlich in Braunschweig von einem neuen Mittel, das bei +Leiden der Art Wunder wirken soll. Ich habe es im Augenblick vergessen, +will mich aber, kann ich Euch damit einen Gefallen erweisen, gern +danach umtun. Im übrigen halte ich mich Eurer armen Frau Eheliebsten +bestens empfohlen, bitte, ihr auch von meiner Frau die besten Grüße mit +dem aufrichtigen Wunsch baldiger Genesung ausrichten zu wollen. Sie +hofft, bei guter Gelegenheit nächstens sich selbst nach ihr umsehen +zu können. Und nun,« damit schied der Einflußreiche und versetzte ihm +einen leichten Schlag auf die Schulter, »alter Murrkopf, einen schönen +Gruß auch dem Töchterlein!« Lächelnd schied er, und lächelnd gab ihm +Richerdes das Geleite. Dann kehrte er in die Stube zurück. + +Die Worte Heinrich Achtermanns gingen ihm durch den Kopf, und die Sorge +wurde damit nicht geringer. Wenn die Befürchtungen des Ratsherren +eintrafen, stand es allerdings schlecht mit ihm und den Seinen, und +er selbst war dann, wenn kein Bettler, doch ein armer Mann, dessen +Tochter zu freien, mancher sich scheuen würde. Was Achtermann von den +Beziehungen zwischen den Kindern sagte, war ihm neu. Er beschloß, mit +der treuen Lebensgefährtin auch dieses zu besprechen. Sie, die ihm so +manches Mal schon guten Rat gewußt hatte, würde gewiß auch dieses Mal +das Rechte treffen. Das Glück ihrer Venne stand beiden am höchsten, +und diesem Glück sollte auch sein Eigensinn und sein Widerwillen gegen +Karsten Balder nicht entgegenstehen; das nahm er sich vor. + + + + +Der Tribut des Alters an die Zeit ist Verblassen und Verblühen, ist +Schwinden von Schönheit und Kraft. Was im Werden und Vergehen des +Menschen gilt, hat auch im Leben der Städte nur allzuoft eine traurige +Bestätigung gefunden. Von der Herrlichkeit einer alten großen Zeit +zeugen heute nur noch kärgliche Reste, hier und da ein brüchiger Turm +oder die ins Leere starrenden Zinken einer Turmruine, ein Stückchen +Stadtmauer, eine hochragende Kirche, welche die Armseligkeit der sie +umlagernden Häuserzeilen nur um so greller hervortreten läßt. Das ist +das Schicksal so mancher Stadt geworden, die einst wohlgegürtet hinter +Wall und Mauer ihre Rechte verteidigte und mit Herzögen und Königen auf +der Stufe des Gleichberechtigten verhandelte. Das schien auch Goslars +Los zu sein. Von der Höhe seiner mittelalterlichen Macht war es durch +schlimme Kriegsläufe und, damit zusammenhängend, durch das Versiegen +seiner Geldquellen, des Bergwerkes und der endlosen Forsten, Stufe um +Stufe herabgeglitten. Was um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts +übrigblieb, wies alle Anzeichen eines schnellen unaufhaltsamen +Verfalles auf. Die Zahl der Einwohner war erschreckend gesunken, in +den weiten Mauern wohnte ein armseliges, müdes Geschlecht, das in +seinem Elend mit dem Erbe einer großen Vergangenheit nichts Besseres +anzufangen wußte, als daß es sich aus dem alten Gewande neue Stücke +schnitt, um seine Blöße zu verbergen. Es ist die böse Zeit, wo +die Brüderkirche niedergelegt, wo der ehrwürdige Dom auf Abbruch +verkauft wurde. Die Domkapelle, die allein von dem alten Münster noch +Zeugnis ablegt, läßt uns ahnen, was in jenen Jahren unwiederbringlich +verlorenging. Gar manches Kapitäl oder Gesims, an verlorener Stelle in +eine Gartenmauer eingefügt oder einem Speicher als Eintrittsschwelle +dienend, erinnert an diese schlimme Zeit, wo das sterbende Goslar sich +seines Schmuckes zu entkleiden begann, um als Bettler ins Grab zu +steigen. + +In dieser Zeit des Verfalles, und noch später, ist vieles dem +Unverstande wie der Not zum Opfer gefallen, auch von den ehemals +geschlossenen Festungsanlagen; aber vieles blieb doch auch erhalten +und legt noch heute Zeugnis ab von dem wehrhaften Sinn der Altvordern, +so die gewaltigen Tortürme, deren am Breiten Tore, die Stirn dem +Braunschweiger zugewandt, gleich ein ganzes Rudel auftritt. Sie ragen +noch heute ebenso trutzig wie zur Zeit ihrer Errichtung in die Lüfte. + +Die stattlichsten unter ihnen, der große Turm am Breiten Tor, der Dicke +Zwinger in der Nähe der Kaiserpfalz, dessen 24 Fuß starke Mauern noch +heute das Staunen der Besucher erregen, der Papenzwinger, sie verdanken +ihren Ursprung der Zeit, da unsere Geschichte spielt. Die Goslarer +wollten ihre Stadt zu einer uneinnehmbaren Festung ausbauen. Sie hatten +Anlaß dazu; denn die Zahl ihrer Feinde und Neider wurde größer in dem +Maße, wie der Wohlstand und die Macht der Stadt wuchs. Ernesti hatte +Johannes Hardt die Lage richtig geschildert, aber auch der Rat war sich +der Gefahr wohl bewußt und suchte ihr durch geeignete Maßnahmen zu +begegnen. + +Schon im Anfang des neuen Jahrhunderts war der Grundstein gelegt zu +einem weiteren, mächtigen Bollwerk. Um die Herstellung der Anlagen, +besonders der Zwinger, hatten sich jeweils einige Bürger verdient +gemacht; so war der Papenzwinger der Aufsicht des Worthalters der +Gemeinen, wie die Versammlung der Vertreter der Bürgerschaft hieß, Kips +anvertraut gewesen. Das neue Bauwerk, das am neuerbauten Rufzen- oder +Rosentor sich zu dessen Verstärkung erheben sollte, unterstand dem +Schutze des Ratsherrn Achtermann. Er war nicht nur um die Weiterführung +besorgt, sondern steuerte auch zu den Kosten einen erheblichen Teil +bei. Es entsprach daher nur einem Akt der Dankbarkeit, wenn man das +gewaltige Bauwerk ihm zu Ehren als ›Achtermann‹-Zwinger benannte. Es +ist der dicke, ungefüge Geselle, der dem Rosentor vorgelagert ist und +heute noch die Besucher Goslars beim Eintritt in die Stadt als erster +Zeuge seiner ehemaligen Wehrhaftigkeit begrüßt. + +Mehrere Jahre hatte der Bau gedauert, einige Male mußte er unterbrochen +werden. Jetzt stand er da, riesig und gewaltig, und das Ereignis der +Beendigung sollte durch ein Fest besonders gefeiert werden. Die untere +Halle, ein gewaltiger Rundraum, war mit Tannengrün festlich geschmückt. +Kerzenglanz erhellte den düsteren Raum und ließ einen Abglanz auf den +freudig erregten Gesichtern der Festteilnehmer. + +Ein üppiges Festmahl, ohne das in jener genußfreudigen Zeit ein Fest +schwer denkbar war, leitete die Feier ein. Der Wein floß in Strömen, +und die fremden Gäste, die flandrischen Kaufleute, die vertreten waren, +konnten sich von der Freigebigkeit ihrer Wirte überzeugen. Auch das +Volk draußen, welches den Turm umlagerte, erhielt seinen Anteil, und +nach der Stärke des Jubels und freudigen Lärms zu urteilen, mußte es +gleichfalls befriedigt sein. Der Rat saß zu oberst an besonderer Tafel. +Die Reden, welche gewechselt wurden, galten der Wichtigkeit des neuen +Bauwerks und dem Mann, dessen Tatkraft es in erster Linie zu verdanken +war. + +Achtermann, der im Mittelpunkte der Feier stand, ließ die vielen +Lobeserhebungen mit einem gewissen freudigen Gleichmut über sich +ergehen; er wußte, was er geschaffen und weshalb er es geschaffen. Das +neue Bollwerk bildete einen Markstein in der Befestigungskunst seiner +Stadt, der Stadt, die er liebte, weil sie seine Heimat war und ihn zu +Ehren und Ansehen gebracht hatte. Mit ihrer Wehrhaftigkeit, des war er +sich in all dem Trubel sehr wohl bewußt, erhöhte er aber nicht nur ihre +Sicherheit, sondern auch den Schutz des eigenen Besitzes, des Erbes der +Väter, das er gut verwaltet und vermehrt hatte, so daß er es seinerzeit +mit Stolz den Kindern überlassen konnte. + +Je länger die Feier dauerte, desto größer wurde die Ungeduld der +Jugend, die den langatmigen und gewichtigen Reden der Alten nur +wenig Geschmack abzugewinnen wußte. Hier und da hatten sie sich zu +Gruppen zusammengefunden, liebreizende, weißgekleidete Jungfrauen und +hübsche Jünglinge, denen das grüne oder schwarze Samtjäckchen mit +den Längspuffen und den lang herabwallenden Ärmelschlitzen trefflich +zu Gesicht stand, wie der Degen, auf dessen goldenen Knauf sie die +Linke stützten. Alte Bekannte hatten sich gefunden, Johannes Hardt, +der mit der Tochter des Bürgermeisters lebhaft plauderte und von +Heinrichs Schwester Maria geneckt wurde, Venne Richerdes, die wie eine +Lichtgestalt aus dem Schatten der Seitenwand mit Heinrich Achtermann +heraustrat, gleichfalls in ein angelegentliches Gespräch versunken. +Langsam schreitend kamen sie durch die Halle auf die anderen zu. In +Marias Augen blitzte es schalkhaft auf, während die Tochter Karsten +Balders verstimmt zur Seite blickte. Ihr Herz schlug dem schlanken +Jünglinge entgegen, der an Vennes Seite in anmutiger, jugendlicher +Kraft daherschritt. Bitter stieg es in ihr auf, als sie die beredten +Blicke sah, mit denen Heinrich Achtermann auf die blühende Gestalt an +seiner Seite blickte: Warum blieb ihr versagt, was jener mühelos, wie +es schien, zufiel? -- Oder spielte sie nur die Spröde, um ihn um so +sicherer an sich zu ketten? + +»Nun, Ihr Unzertrennlichen,« redete Maria sie mit liebenswürdigem Spott +an, »wollt Ihr uns auch einmal die Ehre schenken?« + +Auf Vennes Stirn zeigte sich eine Falte des Unmutes. »Maria«, sagte sie +nur vorwurfsvoll. + +»Nun ja, nur nicht gleich so empfindlich, Närrin«, fiel Maria ein. +»Ist's denn eine Beleidigung von mir oder eine Sünde von Euch, wenn +ich Euch nachsage, daß Ihr die letzten Male, da wir uns trafen, oft +zusammenhocktet?« + +»Von mir ging das ›Zusammenhocken‹ sicher nicht aus«, erwiderte Venne +empfindlich. + +»Die Jungfer Venne hat recht«, mischte sich da Heinrich Achtermann +ein. »Ihr kann niemand nachsagen, daß sie sich aufdrängt. Ich will +also reumütig alle Schuld auf mich nehmen; auch für heut bekenne ich +mich schuldig. Übrigens ist es kein Geheimnis, was wir verhandelten. +Ich möchte sogar Eure Hilfe in Anspruch nehmen, um ein unparteiliches +Urteil herbeizuführen.« + +»Wir geloben feierlich, unbestechlich zu sein, selbst wenn es auf +unsere, der Frauen, Kosten geht«, erklärte Maria übermütig, ehe noch +die anderen ein Wort sagen konnten. + +»Das ist gut,« entgegnete Heinrich Achtermann, »denn um sie handelte +es sich tatsächlich. Wir waren nämlich dabei, die hochwichtige Frage +zu lösen, ob wohl die hiesigen Jungfrauen den neuen französischen +Reigen, von dem Herr Dehard so begeistert sprach, nicht ebenso zierlich +aufführen möchten wie die Pariserinnen. Jungfer Venne bestreitet es; +ich plädiere dafür, daß sie es können.« + +»Natürlich können wir es«, rief Maria und andere junge Mädchen, die +noch zu dem Kreise getreten waren. »Gebt uns nur einen richtigen +Tanzmeister, dann werden wir es jenen schon gleichtun. Von Venne aber +ist's eine Ketzerei, uns so herabzusetzen.« + +»Ich bekenne mich schuldig,« rief sie lachend, »aber ich dachte dabei +nur an meine Ungeschicklichkeit.« + +»Ungeschicklichkeit, hört ihr's?« drohte Maria mit verstelltem Zorn, +»ungeschickt sie, die uns immer voranschreitet im Reigen. Aber sie +bekennet sich schuldig, und auf Schuld gehört Sühne. Wer nennt die +Buße?« + +»Einen Kuß«, rief der Chor. »Wem?« fragte eine andere. »Uns allen«, +hieß es von anderer Seite. »Nein, mir«, begehrte Achtermann kühn. »Also +ihm,« entschied Maria, »denn er hat die Beleidigung gehört.« + +»Laß die Scherze«, sagte Venne unmutig. Aber Maria, welche die beiden +zusammenbringen wollte, bestand darauf, auch daß die Buße heute abend +noch gezahlt werden müsse. Da legte sich Heinrich selbst ins Mittel. +»Ich schlage vor, daß wir den Ausgang abwarten. Zum Langen Tanz wird es +sich zeigen können. Dann aber bestehe ich auf meinen Schein.« + +»Ich für meinen Teil erlasse Euch die Strafe schon jetzt«, entgegnete +Venne spöttisch. + +Die Tafel war aufgehoben; die Jugend forderte nun ihr Recht. Die +Paare traten zum Reigen an. Zunächst erschienen auch die Alten mit +auf dem Plan. Wie die Ehre des Abends es gebot, führte den Reigen der +regierende Bürgermeister, Karsten Balder. Ihm zur Seite schritt, der +Auszeichnung sich wohl bewußt, die Frau des besonders zu Ehrenden, des +Ratsherrn Achtermann. + +Das stattliche Paar fesselte nach Gestalt wie Gewandung die +Aufmerksamkeit aller. Der strengen Kleiderordnung entsprechend, +deren Übertretung durch eine Puffe oder eine Verbrämung man streng +ahndete, durften nur diese vornehmsten der Frauen an sich zeigen, was +die Kleiderkünstler an Glanz und Pracht für die Umrahmung weiblicher +Schönheit oder Schwäche ersonnen. Gar stolz schritt die Patrizierin +einher, zierlich geführt von dem hochmögenden Partner. Die Linke hielt +den Überwurf, der auf der Unterseite blau abgefüttert war, zugleich mit +dem gleichfarbigen bauschigen Kleide gerafft empor, um ein Schreiten zu +gestatten. Goldene Sterne über das Ganze gesät, hoben sich leuchtend +von dem Untergrunde ab. + +Die Büste war durch ein goldenes Band wirkungsvoll abgegrenzt. Um den +weit ausladenden Halsausschnitt legte sich edles Geschmeide. Gleich +kostbare Ketten hingen von der weißen, mit Goldstreifen verzierten +Kappe herab, auf der ein goldener Bausch den stimmungsvollen Abschluß +bildete. + +Der Bürgermeister war angetan mit einem schweren, dunkelverbrämten +Samtmantel, mit breitem, umgelegtem Kragen seltensten Pelzwerkes. Die +Linke hielt den weiten Mantel über der Brust verschränkt, indes die +Rechte, auf deren Zeigefinger ein gewaltiger Siegelring im Flimmer der +Kerze strahlte, die Dame zierlich geleitete. + +Langsam und stattlich bewegten sie sich dahin im Reigen. In bedächtigen +Intervallen lud die Musik zum Schreiten, Sichneigen und Sichwenden, +langsam, viel zu langsam für die Ungeduld der Jugend, die in verbotenem +Übermut wohl das Kichern sich verbiß und sich heimlich stieß, in +abfälliger Kritik über dieses oder jenes Paar der Würdigen, deren +schlecht getragene Majestät der Bewegung ihre Lachlust reizte. Dann war +dem Brauch Genüge geschehen, und das Alter wie die Würde zogen sich +zurück zu der ihm besser anstehenden Art des Zuschauens. Die Herren +verschwanden auch wohl in einer Ecke, einen ungestörten Trunk zu tun +und in ernstem oder eifrigem Disput zu bereden, was ihnen am Herzen +lag; wieder andere hockten an herbeigeholten Tischen, auf denen das +Schachzabel aufgestellt wurde. + +Die Reigen, welche die Jugend aufführte, waren die alten, schönen +Tänze unserer Altvordern, die der Persönlichkeit freien Spielraum +ließen, sich im Rhythmus auszugeben. Ein Sichneigen, Sichheben und +Drehen mit der Anmut und Geschmeidigkeit der Jugend, ein Sichfinden +und Sichmeiden, das die Gefühle der jungen Herzen in liebreizendster +Weise verkörperte. Die Stadtzinkenisten bliesen, die Geigen seufzten +und jubilierten in einem Atem, die Flöten tirilierten, als wollten sie +zerspringen vor Lust über so viel Jugend und Anmut, die sich zu ihren +Füßen im Saal im Rhythmus durcheinanderwand. + +Immer höher stieg die Lust, immer kühner wurden die Blicke der +Jünglinge, hingebender die Bewegungen der Jungfräulein; Terpsichore +sank die Leier aus der Hand, Bacchus drohte die Herrschaft zu gewinnen, +da gab Karsten Balder das Zeichen zum Schluß des Festes. Ungestüm +bat und drängte die Jugend, man möge noch ein kleines verweilen; das +eigene Töchterchen Karsten Balders wurde zum Ansturm auf das väterliche +Herz vorgeschickt, aber der Angriff scheiterte an seinem Willen. Sein +unbeugsames »Nein« verhinderte, daß das schöne Fest wie so viele +seinesgleichen in jener Zeit wilden Genußlebens in eine Bacchanalie +ausartete. + +Sittsam brach man auf; die kalte Nachtluft verscheuchte die losen +Geister, die im Saale die Vernunft zu unterjochen drohten. Die +Jungherren geleiteten ihre Damen, die unter züchtig gesenktem Blick +das Verlangen verbargen, das eben noch in ihnen aufgewallt war. +Ehrbar klangen die Worte, die Ohren der begleitenden Eltern von +der Wohlanständigkeit des Begleiters überzeugend. Ein geflüstertes +Wörtchen, ein leise gehauchter und verstohlen gewährter Wunsch entging +trotzdem ihrer Aufmerksamkeit. + +Heinrich Achtermann schritt an der Seite Vennes. Der Vater war auf +eigenen Wunsch daheim geblieben bei der kranken Mutter, trotz des +Widerspruches Vennes. Sie sollte nicht um die Freuden der Jugend +betrogen werden, da sie schon mehr als ihre Freundinnen Entsagung üben +mußte durch die Pflege der geliebten Mutter. + +An dem stillen Abend, den der Mann am Lager der Kranken verbrachte, +kam manches zur Sprache. Auch der Besuch des Ratsherrn Achtermann +wurde erörtert und sein Hinweis auf ein enges Band zwischen den beiden +Familien. + +»Wir sollten dem Glück unserer Venne kein Hindernis in den Weg legen«, +meinte die Gattin. »Im Schoße des angesehenen Achtermanns ist sie +nach irdischer Voraussicht wohl aufgehoben, und wir können, wenn wir +abberufen werden, beruhigt die Augen schließen.« + +Richerdes sah das wohl ein; auch gegen die Person des Bewerbers ließ +sich nichts Ernstliches einwenden, wäre nur nicht die Bedingung des +Ratsherrn gewesen. Auch hier riet die Frau zur Nachgiebigkeit. »Du +hast doch selbst in letzter Zeit nicht selten über die zunehmende +Unergiebigkeit der Grube geklagt. Wie nun, wenn zuletzt doch +Achtermann recht behielte mit einem gänzlichen Zusammenbruch unserer +Erwerbsquelle?« + +»Aber Karsten Balder«, warf Richerdes ein. + +»Ja, Karsten Balder ist der störende Flecken in dem Bilde«, gab sie +zu. »Aber sein Triumph, wenn er's so auffaßt, sollte uns doch nicht +blind machen gegen den eigenen Vorteil. Und wer weiß, ob wir ihm +nicht doch zuletzt unrecht tun. Ich habe in stillen Nächten wohl +darüber nachgesonnen. Wir können ihm keinen greifbaren Beweis seines +Übelwollens nachweisen, und der Argwohn ist zuletzt ein schlechter +Berater. Soll ich ehrlich sein, so weiß ich mich aus der früheren +Zeit keines Zuges zu entsinnen, der auf Arglist oder Hinterhältigkeit +hindeutet.« + +»Daß er mich gern gemocht hat,« fügte sie mit einem errötenden +Lächeln hinzu, das ihr Gesicht seltsam verschönte, »ist doch keine +Todsünde, die ihm für immer vorbehalten bleiben müßte. Und über die +Enttäuschung wird ihm gewiß seine Stellung wie das Glück in der Familie +hinweggeholfen haben.« + +»Nun gehst Du auch mit fliegender Fahne in des Feindes Lager über«, +klagte Richerdes mit einer scherzhaften Resignation. »Da werde ich mich +wohl auf eine ehrenvolle Kapitulation einrichten müssen. Nun wollen wir +aber das schwerwiegende Gespräch abbrechen, das dich gewiß erregt. +Ich will's beschlafen, Mathilde. Zuvor aber gib mir noch ein Weilchen +Urlaub für den Schreibtisch. Die stille Stunde gibt mir erwünschte +Muße, über Geschäftliches nachzusinnen. Bis dahin kehrt wohl auch Venne +zurück.« + +Venne war in der Begleitung einer befreundeten Familie zu dem Fest +gegangen. Als man sich von ihr verabschiedet hatte, ging sie mit +Heinrich Achtermann allein auf der nachtstillen Straße dahin. + +»Könnt Ihr mir nicht sagen, Jungfer Venne, was Ihr gegen mich habt?« +unterbrach Heinrich das anfängliche Schweigen. Dieses Mal war die Frage +in einem Tone gestellt, dem alle leichte Neckerei fernlag. + +Venne hatte den ganzen Abend über auch unter den Wogen immer höher +gehender, jugendlicher Lust und Freude ihre herbe Sprödigkeit bewahrt, +trotz allen heißen Werbens von seiten Heinrich Achtermanns. Es war +ihre Natur, die Gefühle des Herzens in sich zu verschließen. Nur ein +flüchtiges Lächeln bei den Scherzen aus seinem oder fremdem Munde +huschte auch über ihre Züge. Hätte sie gewußt, wie entzückend dieses +Lächeln gerade ihr zu Gesicht stand und wäre sie eitel gewesen wie +manche ihrer Gefährtinnen, so hätte sie diesen freundlichen Schimmer +sich dauernd zu eigen gemacht. + +Venne war nicht kühl im Inneren, wie man ihr nachsagte und Heinrich +Achtermann es den ganzen Abend empfunden hatte; sie verbarg nur unter +dem Mantel jungfräulicher, spröder Ablehnung das warme Gefühl, um +es vor fremden Blicken nicht zu entweihen. Auch in ihr pulste das +Blut der Jugend, und sie hätte kein Weib sein müssen, wenn ihr nicht +die offen zur Schau gestellte Huldigung des stattlichen, schönen +Ratsherrensohnes geschmeichelt hätte. Und noch mehr regte sich in ihrem +Herzen für den hübschen Gesellen, als sie sich jetzt noch selbst in +ihrem Herzen zugestehen mochte. Sie standen vor ihrer Haustür. Die +Frage Heinrichs zwang zu einer Antwort, und so wappnete sie sich mit +doppelt kühler Zurückhaltung gegen eine unvorsichtige Äußerung. + +»Ihr fragt kühn und begehrt viel zu wissen, Junker Achtermann«, +suchte sie ihn zurückzuweisen. »Ließ ich mir irgendeine Unhöflichkeit +zuschulden kommen, so wäre mir's leid.« + +»Nein, daß muß Euch der Neid lassen, Jungfer Venne, darin laßt Ihr es +nicht an Euch fehlen. Aber mir wäre es lieber, Ihr vergäßet Euch ein +wenig und legtet einmal für einen Augenblick diese stolze Höflichkeit +ab, wenigstens mir gegenüber.« + +»Und weshalb soll ich gerade Euch gegenüber mich bezwingen und von +meiner Art lassen?« -- Kaum war die Frage dem Munde entflohen, als +sie ihre Worte auch gern zurückgenommen hätte, denn sie mußten den +Gefragten dazu bringen, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. + +»Weshalb fragt Ihr? Weil Ihr in meinem Herzen wohnt als die Göttin, der +ich diene, die ich anbete. Ahnt Ihr nicht, wie es in mir aussieht, wie +mein erster und mein letzter Gedanke Euch gilt?« + +Venne unterbrach ihn. Um nicht schwach zu werden, nahm sie zum Spott +ihre Zuflucht: »Die wievielte bin ich, der Ihr Eure Neigung gesteht?« + +»Venne,« erwiderte er mit nachdrücklichem Ernst, den die Leidenschaft +durchzitterte, »höhnt mich nicht noch, wollt Ihr mich nicht zur +Verzweiflung treiben. Wahr ist es, ich tändelte hier und da und +tauschte zärtliche Worte ohne tieferes Gefühl. Ihr seht, ich mache +mich nicht besser, als ich bin. Aber laßt mir auch Gerechtigkeit +widerfahren; ich bin zuletzt nicht schlechter als meine Freunde +und Altersgenossen. Was ich bisher trieb, war jugendlicher +Gefühlsüberschwang, leichte Tändelei. Bei Euch aber ist es anderes. +Glaubt es mir, glaube mir, Venne Richerdes, Du hast es in der Hand, +mich selig zu machen für immer oder mich zu verderben. Trage die +Verantwortung dafür, wenn Du kannst, stelle mich auf die Probe, prüfe, +aber weise mich nicht für immer zurück.« + +In Venne quoll es heiß empor unter der Glut seiner Worte; ein Gefühl +von Glückseligkeit durchschauerte sie. Es zog sie zu ihm. War das +die große, große Liebe, von der die Dichter sangen? Weich wurde ihr +Blick und senkte sich in seine Augen. Heinrich hatte ihre beiden Hände +ergriffen. Leidenschaftlich erregt beugte er sich vor. Venne schloß +die Augen, wie ein seliger Schwindel überflog es sie. Da ließ sich ein +Geräusch im Hause hören. Sie entzog ihm ihre Hände und bat ihn: »Geht, +daß man uns nicht sieht.« + +Leise öffnete sie die Tür, mit einem traurigen Blick wandte sich +Heinrich Achtermann ab. Da traf ein Flüsterton sein Ohr: »Geht, ich +warte, daß Ihr die Probe besteht!« und mit einem leisen Kichern huschte +sie ins Haus. + +Heinrich Achtermann zog beglückt von dannen. Um die Probe war ihm nicht +bang. Übers Jahr, so hoffte er, war Venne sein geliebtes Weib. + + + + +Im Schefferschen Hause am St.-Ägidien-Platz herrschte weiter drückende +Sorge über dem kleinen Kreise, denn noch vermochte auch der Arzt nicht +zu sagen, wie die schwere Verwundung Erdwins verlaufen würde. Die Lunge +war durch den Schuß gestreift, und die dicke Winterluft bereitete dem +schwer Atmenden große Pein. Langsam nur gewann er unter der liebevollen +Pflege von Mutter und Schwester die verlorenen Kräfte wieder. Tiefe +Blässe lag auf dem eingefallenen, einst so blühenden Gesicht. + +Der alte Arzt war mit dem Erfolge seiner Kur nicht zufrieden und +behauptete, es müsse noch etwas anderes, Seelisches sein, das die +Heilung verzögere. Aber er erhielt auf seine Andeutung keine Antwort, +denn den alten, ehrenfesten Handwerker mutete es, mochte er auch auf +die Erfüllung seines Lieblingsplanes betreffs der Heirat mit der +Nachbarstochter verzichten, wie ein ihm persönlich angetaner Schimpf +an, daß im Herzen seines Sohnes ein hergelaufenes Mädchen, die Tochter +einer fahrenden Frau, sich eingenistet habe. + +Die Mutter wurde unter einem inneren Zwiespalt hin und her gezerrt. Im +Herzen stand sie auf der Seite ihres Mannes; auch sie konnte sich von +dem übererbten Vorurteil nicht frei machen, obwohl Monikas bescheidenes +Wesen und der Liebreiz ihrer Erscheinung ihren Eindruck auf sie nicht +verfehlten. Auf der anderen Seite jammerte sie der Zustand des Sohnes, +der sich in Sehnsucht nach Monika verzehrte. Lange verbiß er den +Schmerz, aber zuletzt brach er sich doch in herben Worten Bahn. + +Von der Schwester hatte er vernommen, daß die Geliebte schon am ersten +Tage dagewesen sei. Was die Schwester ihm nicht sagte, die Abweisung +durch die Eltern, verriet ihm die Verlegenheit der Mutter, so oft er +das Gespräch auf sie brachte, sowie des Vaters verschlossenes Gesicht. +Wo Monika mit der Mutter Immecke lebte und wie sie hausten, konnte +ihm wieder die Schwester berichten, die sie ohne Vorwissen der Eltern +in der Badeleber Straße besucht hatte. Sie brachte die Grüße der +Frauen mit und ihre herzlichen Wünsche, aber sie konnte den Anblick +der Geliebten nicht ersetzen. Immer tiefer fraß sich die Sehnsucht in +sein Herz, und größer wurde der Groll gegen die, welche ihm sein Glück +vorenthielten. Zuletzt brach's sich über die Lippen Bahn der Mutter +gegenüber. + +»Eure Pflege ist zu nichts nutze. Laßt mich lieber schnell sterben, +als daß ich mich langsam zu Tode quäle. Ich liebe Monika und lasse +nicht von ihr. Glaubt doch nicht, daß Ihr mit Eurem Pfahlbürgerstolz +trennen könntet, was in jahrelanger, ehrlicher Freundschaft und Liebe +zusammengewachsen ist. Wollt Ihr sie weiter von mir getrennt halten, so +laßt mich lieber aus dem Hause schaffen zu mitleidigen Menschen, auch +auf die Gefahr hin, daß ich dabei mir den Tod hole. So ertrage ich's +nimmer lange.« + +Da griff der Mutter die Angst ans Herz, und sie versprach, mit dem +Vater zu reden. + +Der brave Meister Scheffer war höchst ungehalten über die Zumutung +seiner Lebensgefährtin, er solle die hergelaufene Dirne in seinem Hause +aufnehmen. Immer wieder wies er darauf hin, daß es Landstreichervolk +sei, dem sie die Tür öffnen wolle. Aber sie blieb fest, aus Angst um +das Leben des Sohnes, und sie erreichte endlich, daß er, wenn auch +ingrimmig und grollend, seine Zustimmung gab. »Aber mich laßt aus dem +Spiele«, entschied er unerbittlich. »Ich will mit der Narretei nichts +zu tun haben und gehe aus dem Hause, wenn das Mädchen kommt.« + +Monika kam. Meister Scheffer sah unbeobachtet durch ein Guckfenster, +das auf der hofwärts gelegenen Werkstatt den Überblick über die +Vorgänge auf der Hausdiele gestattete. Das Mädchen war nicht +übel, sein Auftreten bescheiden, und ohne den Groll im Herzen und +die Voreingenommenheit hätte er zuletzt wohl die eigenen Wünsche +zurückgestellt; aber der Gedanke, was die in gleich strengen +Anschauungen aufgewachsenen Nachbarn und Gildebrüder dazu sagen würden, +verscheuchte die weiche Regung, und er verließ durch die Hoftür das +Haus. + +Das Wiedersehen zwischen Monika und Erdwin gestaltete sich +erschütternd, obwohl die Schwester sie auf das Aussehen des Kranken +vorbereitet und sie dringend gebeten hatte, jeden Gefühlsausbruch zu +meiden. Als sie in das Zimmer trat und das bleiche Gesicht auf dem +Lager sah, das sich von den bunten Kissen doppelt gespenstig abhob, +sank sie mit einem Wehelaut am Lager des Geliebten nieder. + +»Mein Erdwin, mein Einziger«, war alles, was sie unter verhaltenem +Schluchzen hervorbringen konnte. Ein glückliches Lächeln huschte über +das Gesicht des Kranken, und er reichte ihr die abgezehrte Hand, die +sie mit Küssen bedeckte. Auch der Schwester rannen die Zähren über die +Wange, und selbst die Mutter wischte sich mit einem Zipfel der Schürze +die feucht gewordenen Augen. Sie sprachen nur wenig miteinander, aber +die Blicke sagten den anderen, wie tief die Liebe im eigenen Herzen +wurzele. + +Die Mutter trieb zuletzt zum Aufbruch, aus Sorge, die Aufregung möchte +dem Kranken schaden. Monika mußte versprechen, bald wiederzukommen. + +»Gern,« sagte sie mit einem rührenden Lächeln, »wenn Deine Eltern es +gestatten.« + +Die Mutter war schon halb gewonnen und wiederholte auch ihrerseits die +Einladung. Als der Vater heimkam, erzählte sie ihm von dem Wiedersehen +und riet ihm dringend zur Nachgiebigkeit, aber noch blieb er +halsstarrig und verstockt; es mußten noch andere Bundesgenossen kommen, +um ihn gefügig zu machen. + +Es waren einmal Heinrich Achtermann und Johannes Hardt, die des +Fahrtgesellen nicht vergaßen. + +Johannes fand Beschäftigung im Schreibzimmer des Oheims, der Pleban +an der St.-Jakobskirche und +Notarius publicus+ war. Er hoffte, +demnächst in die Kanzlei des Rates einzutreten. Die erfolgreichen +Studien wie der wichtige Dienst, den er der Stadt geleistet hatte, +waren eine Empfehlung, die ihm den Weg zu dem vom Vater gewünschten +Ziele bahnten. Er vergaß über den eigenen Plänen und Hoffnungen den +treuen Reisegefährten und Jugendfreund nicht. Wenn sich die Gelegenheit +bot, sprach er bei Scheffers vor und verbrachte ein Stündchen am Bette +des Verletzten. So war er über den Zwist wohl unterrichtet, und er, der +Monika selbst und ihre uneigennützige, selbstlose Liebe werten konnte, +half, wo er konnte, den Gegensatz auszugleichen. + +Neben der Angst um die Wiederherstellung, dem Gram um die Verirrung, +wie Meister Scheffer die Liebe des Sohnes zur Tochter der Immecke +Rosenhagen immer noch nannte, war es auch die Sorge um seine Zukunft, +wenn er gesundet sei. Daß Erdwin für das Handwerk nicht in Frage +kam, stand zu befürchten. Aber was sollte werden? Sollte er wieder +hinaus in das wilde Leben, zu dem ihm nunmehr auch die körperlichen +Vorbedingungen fehlten? + +Johannes suchte die Eltern über diesen Punkt zu beruhigen. Wozu seine +Bescheidenheit in eigener Sache nie ausgereicht hätte, das tat er +für den Freund gern und freimütig. Er war schon beim Rate vorstellig +geworden, man möge für den Verletzten, wenn er wiederhergestellt sei, +eine Verwendung im Dienste der Stadt vorsehen. + +Heinrich Achtermann hatte schon am Tage nach dem Überfall bei den +Scheffers vorgesprochen und mit herzlicher Teilnahme von der Schwere +der Verletzung gehört. Sein Mitleid galt nicht nur dem unerschrockenen +Helfer in der Not, sondern es rang hier ein Menschenkind mit dem Tode, +das ihm als lieber Jugendgespiele und Genosse tausend lustiger Streiche +besonders ans Herz gewachsen war. Der gutmütige und weichherzige +Heinrich sah keinen Abstand zwischen dem Sohn des Schuhmachers und +sich, dem Abkömmling eines alten Patriziergeschlechtes. Er war daher +bedacht, dem Kranken alle Hilfe zu verschaffen, die der Reichtum der +Eltern gestattete, und immer wieder wanderten Körbe mit stärkenden +Mitteln in das Haus am Ägidienplatz. Als sich die ersten Anzeichen der +Genesung einstellten, lag er dem Vater in den Ohren, dieser möge darauf +bedacht sein, für die Zukunft Erdwin Scheffers zu sorgen. + +Es hätte des lebhaften Mahnens gar nicht bedurft, denn auch der +Ratsherr war dem Burschen wohlgewogen, der seinem Einzigen so mannhaft +zur Seite gestanden hatte. So konnte es nicht fehlen, daß auch der +hochmögende Rat diesem Ansturm von verschiedenen Seiten ein geneigtes +Ohr lieh. + +Der regierende Bürgermeister, Karsten Balder, der überzeugt war, daß +man die Rettung des kostbaren Schriftstücks nicht zuletzt dem Mut +und der Umsicht Erdwin Scheffers verdanke, sprach selbst im Hause +des Meisters vor und teilte dem matt Aufhorchenden die Belobigung +und günstige Gesinnung des Rates mit. Aber trotz allem kam man nicht +weiter. Wohl hatte sich der Kranke inzwischen so weit erholt, daß er, +auf den Stock gestützt, vorsichtig im Hause umherwandeln konnte. Indes +das Rot der Gesundheit wollte noch immer nicht in die blassen Wangen +zurückkehren, und der alte Lebensmut fehlte nicht minder. + +Monika litt noch mehr unter der gedrückten Stimmung. Trotz aller +liebevollen Zärtlichkeit der Schwester Erdwins, obwohl auch die Mutter +allmählich den Widerstand schwinden ließ und sie freundlich begrüßte, +wenn sie, was nur selten geschah, kam, trug sie dennoch schwer an dem +Gefühl, daß sie im Hause des Geliebten nur geduldet sei. + +Die eigene Mutter litt mit ihr unter diesem schiefen Verhältnis, und +sie, die tatkräftige und entschlossene Frau, die durch einen langen und +ehrbaren Lebenswandel inmitten des rauhen und lockeren Kriegslebens +reichlich gesühnt hatte, was ihr etwa ihr eigenes Gewissen an +jugendlichem Leichtsinn vorwerfen konnte, trug doppelt schwer an der +Lage, die sie zur Rolle des untätig wartenden Zuschauers verurteilte. +Sie sah, daß das Gesichtchen Monikas täglich schmaler und blasser +wurde. Sie hörte nachts, wenn sie schlaflos auf ihrem Pfühle lag, die +Seufzer des geliebten Kindes. Das hielt sie nicht länger aus. + +Immecke Rosenhagen hatte das Fähnlein des erschlagenen Hauptmanns über +den Rhein und weiter bis Goslar begleitet. Sie war des unruhvollen +Kriegslebens mit seinen Bildern wilden Blutvergießens und roher Sitten +müde. Sie wollte ihre Ruhe haben auf ihre alten Tage, vor allem aber +sollte ihre Monika eine Heimat haben. Daß dies Goslar sein müsse, kam +ihr zunächst nicht in den Sinn. Aber ausruhen wollte sie hier von der +Mühsal des Marsches. Wohin sie alsdann ihren Stab setzen würde, war ihr +selbst noch verschlossen. In die Heimat, nach Salzwedel, zog sie nichts +Besonderes. Die Eltern waren längst tot, nähere Verwandte lebten ihr +dort nicht. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte sie dieses +nicht zur Rückkehr dorthin verlocken können. Denn was ihr die Tage in +Goslar verleidete, würde sie dort in der Beschränktheit der kleinen +Stadt, wo man ihre etwas abenteuerliche Jugendgeschichte kannte, +doppelt treffen. + +Immecke war entschlossen, Goslar zu verlassen, denn sie wollte +nicht länger untätig zuschauen, daß ihr Herzblatt sich abhärmte und +dahinschwand. Doch als sie Monika gegenüber eine Andeutung dieser Art +fallen ließ, traf sie auf einen so entschlossenen Widerstand, wie sie +ihn von der schüchternen Tochter nie erwartet hätte. + +»Ich weiche keinen Schritt von hier, ehe Erdwin nicht gänzlich +hergestellt ist, und trifft ihn das Schlimmste, so soll sein Grab von +meinen Tränen genetzt werden.« + +»Nun, dann weiß ich auch, was ich zu tun habe«, antwortete die Mutter +ebenso entschlossen. »Ich gehe selbst zu dem verdrehten und in seinem +Bürgerstolz überspannten Scheffer und halte ihm seine Sünden vor.« +Monika erschrak und bat die Mutter, davon abzusehen, aber alle Einrede +war vergeblich. + +Die Rosenhagens wohnten bei einer Witwe in der Badeleber Straße; von +dort machte sich Immecke an einem der nächsten Tage auf den Weg nach +St. Ägidien. Sie wollte zunächst im guten mit dem Scheffer reden, war +aber entschlossen, die Sache zu irgendeinem Ende zu bringen, und dann +sollte, scheiterte ihr Versuch, sie kein längerer Einspruch Monikas vom +Aufbruch von Goslar fernhalten. + +Es öffnete ihr die Schwester Erdwins, die sie von einem Besuch in +der Badeleber Straße her kannte. Die Mutter wurde gerufen und mit +ihr bekannt gemacht. Dann gingen sie zu Erdwin hinein. Es war das +erstemal, daß Immecke ihn seit dem Tage von Riechenberg wiedersah. Auch +sie erschrak, als sie ihn erblickte, obschon das Schlimmste längst +überstanden war. + +»Armer Schelm, wie haben sie Dir mitgespielt, aber nun heißt es +schnellstens gesund werden, ich will das Meinige dazu beitragen und mit +dem Vater sprechen.« + +Erdwin stimmte lebhaft zu, die Mutter widerriet ängstlich, doch Immecke +war entschlossen: »Ruft ihn also.« Aber die Mutter warnte, Erdwin der +Aufregung auszusetzen. + +»Gut, so suchen wir den Löwen in seiner Höhle auf«, sagte sie resolut +und ließ sich von der Frau den Weg zur Werkstatt zeigen, wo Meister +Scheffer wütend auf das Leder losklopfte, als solle es für alle +Widerwärtigkeiten büßen, die ihm widerfuhren. + +Sie klopfte, und ehe noch der Meister »Herein« gerufen hatte, stand sie +schon im Zimmer. »Guten Tag, Meister Scheffer.« Er tat sehr erstaunt, +aber sie hatte mit ihrem scharfen Auge wohl das Gesicht gesehen, das +sich vorhin bei ihrem Kommen an das Guckfenster preßte, und da die +Frau einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte, durfte sie annehmen, +daß er den Besuch kenne. + +»Wir kennen uns durch unsere Kinder,« ging sie auf die Sache los, »und +ihretwegen komme ich.« + +Meister Scheffer fühlte sich höchst unbehaglich unter dem scharfen, +prüfenden Blick der Frau, die da so mir nichts, dir nichts bei ihm +eindrang. Er hüstelte verlegen und suchte an ihr vorbeizublicken, als +suche er nach einem Bundesgenossen. Aber Immecke Rosenhagen kannte ihre +Leute und ließ ihn nicht aus den Augen. + +»Meister Scheffer, ich bin zu Euch gekommen, um von Euch zu hören, was +Ihr gegen mich und mein Kind habt. Daß ich sie Euch nicht aufdrängen +will, brauche ich nicht zu sagen. Indes, ich will nicht länger zusehen, +wie zwei Menschenkinder, die mir beide lieb sind, an Eurem Starrsinn +zugrunde gehen. So oder so will ich Klarheit schaffen.« + +»Ihr kommt einem arg grob«, meinte er ausweichend. »Was ich für Gründe +habe? Nun, es wären ihrer mehrere. Wir kennen uns zu wenig, und Ihr +seid nicht von hier.« + +»Ist das alles, so ist das kein Grund, Eure Zustimmung zu versagen. +Oder ist es bei Euch verboten, durch frisches Blut von draußen Eure +Stockfischigkeit zu bessern? Mir scheint das sogar sehr vonnöten, wie +Ihr selbst beweist«, fuhr sie in ihrer derben Offenheit fort. + +»Nun ja, das mag sein, aber es wäre da noch so manches ...« + +»Und unter dem ›Manchen‹ ist eines für Euch die Hauptsache, gesteht +es nur ruhig zu. Wer nicht seßhaft, gilt in Euren Augen als fahrendes +Volk, und ich im besonderen bin Euch wohl gar verdächtig wegen der +Herkunft meines Kindes. Seid unbesorgt, sie ist im Ehebett geboren so +gut wie Eure eigenen. Und hegt Ihr Zweifel, so lest hier den Trauschein +des ehrenwerten Feldkaplans Carolus Wintinger.« + +»Ja, ich sehe schon, da ist alles in Ordnung«, ächzte Meister Scheffer. +»Aber da wäre doch noch, ich meine, es gilt doch auch die eigene +Reputation; da sind zum Exempel die Nachbarn, was sollten sie, was +werden sie ...« Schneidend lachend fiel ihm Immecke ins Wort, indes die +Stirn sich vor Zorn rötete. + +»Da wäre doch noch, da ist zum Exempel,« höhnte sie, »da ist das +Marketenderweib, das sich erdreistet, vor Euch zu treten und den +vermessenen Gedanken zu haben, als wäre sie, als könnte sie ... Pfui +Teufel der Wohlanständigkeit, die ihr Genüge darin findet, braven +Leuten die Ehre zu kürzen. Aber nun beruhigt Euch, jetzt will ich +nicht. Macht's mit Euch und Eurem Gott ab, wenn Euer Sohn darüber +zugrunde geht. Doch über eines will ich Euch noch beruhigen. Ihr hättet +Eurer Ehre nichts vergeben mit meiner Monika. Mir haben mehr vornehme +Herren die Hand gedrückt und dankbar geküßt, als Euch vielleicht zu +Gesicht gekommen sind. + +Was wißt Ihr hier in Eurem satten Behagen von dem Leben und Nöten +draußen, den Nöten Eurer eigenen Kinder, die hinauslaufen, weil Ihr +ihnen die Enge hier zu unerträglich macht. + +Euer eigener Sohn rannte so davon vor Euch, Meister Pechdraht, weil Ihr +bange waret, sein Horizont möchte den eigenen überschreiten, könnte +über die Sicht Eurer Türme hinausreichen. So lief er davon wie so +mancher gute, deutsche, ehrliche Knabe, der in die Fremde ging, um auf +welschem Schlachtfelde für welsche Fürsten sein Herzblut zu +verspritzen. + +Ich habe sie gelehrt, daß es ein Vaterland gibt, ein Deutschland, dem +unsere Kraft gehören müsse, ich habe ihnen diese Sehnsucht in das Herz +gepflanzt. Ich habe sie in die Arme genommen, wenn das Heimweh sie +packte und schüttelte, ich habe ihre Wunden verbunden, die welsche +Waffen ihnen geschlagen; ich habe ihnen die Augen zugedrückt und sie in +welscher Erde betten helfen wie die Mutter ihr Kind, ich, die Deutsche +den Deutschen. Das ist die Marketenderin Immecke Rosenhagen vom +Regiment Holzendorf. Und nun lebt wohl, unsere Wege scheiden sich.« + +Sie war draußen, ehe sich der gute Meister Scheffer von seiner +Bestürzung und Beschämung erholt hatte. Die Haustür flog zu, daß die +Glocke ängstlich wimmerte. Grimmig lächelnd schritt Immecke dahin, der +Badeleber Straße zu. Nun war es zu Ende, und nun hieß es, einen Strich +unter die letzte Vergangenheit machen, für sich und für Monika. + +Als die Tochter sie ins Zimmer treten sah, wußte sie schon, wie +der Besuch verlaufen war. Sie brauchte gar nicht zu fragen, die +Mutter begann sogleich zu erzählen. Und sie schloß mit der barschen +Aufforderung: »So, nun ist's Schluß. Ich habe das Meinige getan. Nun +hat das Herz zu schweigen, und die Vernunft tritt an seine Stelle.« + +Monika war so verschüchtert, daß sie vorab keine Silbe zu antworten +wagte. Aber in der Nacht brach der Kummer sich Bahn, erst in einem +stillen Schluchzen, daß die Schultern erbebten, und dann, als die +Mutter sie ansprach, in lautem Weinen, so daß Immecke ihr doch ein +gutes, tröstendes Wort sagen mußte. Auch am anderen Tage stand indes +ihr Entschluß noch fest, Goslar zu verlassen. Denn: ein rascher, +fester Schnitt ist besser als ein langsames Sich-dahin-quälen, dachte +sie. Einen Augenblick kam ihr auch wohl der Gedanke, das alte Handwerk +wiederaufzunehmen; aber davon ging sie bald wieder ab, wenn sie Monikas +sich erinnerte. Da wurde sie in ihrem Vorhaben schwankend gemacht durch +Heinrich Achtermann, der bei Scheffers von Immeckes Besuch und ihrem +Mißerfolg gehört hatte. Er ging zu den Frauen und machte ihnen einen +Vorschlag, der sie in Goslar festhalten sollte. + +»Ich habe gehört, daß der >Goldene Adler< an der Gudemannstraße +zum Verkauf stehe. Es ist eine gutgehende, achtbare Herberge, die +ihren Mann ernährt. Wie ich Euch kenne, wäret Ihr wohl imstande, ihr +vorzustehen. Ihr könnt Euch ja einen Schaffner halten. Wie Ihr es mit +der Anzahlung halten wollt, weiß ich nicht, aber vielleicht ist da auch +manches zu machen durch Bürgschaft, die Euch von meinem Vater nicht +fehlen würde.« + +»Da seid ohne Sorge,« entgegnete Immecke, »ich bin nicht mittellos. Ich +habe einen guten Spargroschen, ehrlich verdientes Geld, das anzunehmen +sich kein Goslarer Bürger zu bedenken braucht. Auf jeden Fall danke +ich Euch für Euren guten Willen. Ich will mir's überlegen und Euch +Nachricht geben.« + + * * * * * + +Die Einbürgerung ortsfremder Personen, für welche die neue Zeit aus +parteipolitischen Gründen heraus alle Schwierigkeiten zu beseitigen +bestrebt ist, konnte früher nur schwer erreicht werden, und Immecke +Rosenhagen hätte mit ihnen nicht weniger, ja, vielleicht sogar noch +mehr zu kämpfen gehabt, als sie sich entschloß, den Vorschlag Johannes +Hardts anzunehmen. + +Wer das Bürgerrecht einer Stadt wie Goslar erhielt, gewann damit einen +Kranz von Rechten auch wirtschaftlicher Natur, die eine Auslese der +Zuwandernden als sehr berechtigt erscheinen lassen mußte, abgesehen +davon, daß man in jener unruhigen Zeit, die schon in der Masse der +eigenen Bürger Keime gärender Ungeduld und Mißstimmung auf vielen +Gebieten barg, sich hütete, noch fremde Schößlinge, deren Wesen nicht +genug zu erkennen war, in den eigenen Garten zu pflanzen. Der Nachweis +dieser »Würdigkeit« ist ein Erfordernis, das sich bis in unsere Tage +in der Stadt Goslar erhalten hat und beispielsweise heute noch von neu +anzustellenden Beamten verlangt wird. + +Diese »Würdigkeit« hatte also auch Immecke Rosenhagen zu erbringen, und +sie konnte das in einer Weise, die sich für sie zu einer glänzenden +Genugtuung gestalten sollte. Als sie zum Rathaus beordert wurde, mußte +sie sich dort zunächst einem Verhör in der Kanzlei unterziehen, das +durchaus nicht nach ihrem Geschmack war. Der Schreiber behandelte sie +mit einer ausgesprochenen Nichtachtung, und als sie dann selbst auf +sich aufmerksam machte, versuchte man sie in ein förmliches Kreuzverhör +zu nehmen. Aber da kannten sie Immecke Rosenhagen! + +»Euch Schreibersleute scheint die Neugier arg zu plagen, aber +befriedigt sie an einem anderen Objekt als bei mir. Ich habe Besseres +zu tun, als müßige Leute zu unterhalten. Ich will zum Bürgermeister +Karsten Balder, und wenn Ihr den Weg nicht wißt, suche ich ihn mir +selber.« + +Das war eine im Rathause geradezu unerhörte Art des Auftretens, noch +dazu von einem Frauenzimmer. Aber sie hatte durchschlagende Wirkung; +man wies sie zum Regierenden. Dort brachte sie unwillig sogleich ihre +Ansicht über diese Art von Behandlung vor, so daß auch Karsten Balder +sie erstaunt anblickte. + +»Ich soll also meine ›Würdigkeit‹ nachweisen,« hub sie dann an, »ich +denke, das soll heißen, ob ich nicht gestohlen oder betrogen oder sonst +eine Missetat auf dem Gewissen habe. Dieses hier wird Euch hoffentlich +darüber beruhigen.« + +Damit überreichte sie ihm zwei Schreiben, eines von dem Feldobristen +von Walsrode im Regiment Holzendorf und das andere von dem +Generallieutenant und Befehlshaber der gesamten deutschen Knechte in +burgundischen Diensten, Herrn Friedrich von Uslar. + +Beide bestätigten, daß Immecke Rosenhagen, Marketenderin im Regiment +Holzendorf, nicht nur ein braves, ehrliches und tapferes Frauenzimmer +sei, sondern sich auch besondere Verdienste um das Wohl und Wehe der +deutschen Knechte erworben und ihnen allzeit hilfreich zur Seite +gestanden habe. Sie verdiene höchste Achtung, und ihr Lebenswandel sei +ein untadeliger. + +Karsten Balder durchlas die Schreiben, dann trat er auf Immecke zu und +reichte ihr die Hand: + +»Immecke Rosenhagen, was die Herren hier von Euch schreiben, ehrt Euch +mehr, als viele Eures Geschlechtes von sich sagen können. Ihr seid +herzlich willkommen in Goslar. Ich wollte, wir hätten mehrere Eurer Art +in unseren Mauern. Mit diesem Handschlag begrüße ich Euch als Bürgerin +von Goslar. Nehmt es zugleich als einen Ausgleich für die kleine Unbill +von vorhin, für die Ihr ja aber selbst gleich Buße auferlegt habt«, +schloß er lächelnd. + +Freimütig blickte ihm Immecke in die Augen. »Ich danke Euch, Herr +Bürgermeister Karsten Balder, und ich hoffe, Ihr werdet Euer Wohlwollen +nicht zu bereuen haben.« + +So wurde die Marketenderin Immecke Rosenhagen Bürgerin der Freien +Reichsstadt Goslar und Besitzerin des ›Goldenen Adlers‹ in der +Gudemannstraße. Und es erweist sich noch, daß sie dem Bürgermeister +Karsten Balder nicht zuviel versprach. + + + + +Über die Berge des Harzes hielt der Winter noch seine eisenharte Faust +ausgestreckt, obwohl der Februar zu Ende war. Wohl brausten hin und +wieder die Stürme des herannahenden Frühlings durch den düsteren Tann +und nahmen den ragenden Waldbäumen die ungeduldig getragene Schneelast +ab, aber der nächste Tag verdarb, was sein Vorgänger gutzumachen +versuchte, und die gleichmäßige, weiße Kappe deckte wieder Wipfel und +Strauch. Im Dickicht lagerte das abgemagerte Wild, dem der Weg zu den +kärglichen Äsungsplätzen durch die hartgefrorene Eiskruste versperrt +war. Und manch edler Geweihte lag mitsamt den Gefährtinnen im Wundbett, +weil der nagende Hunger sie auf die Nahrungssuche getrieben und die +Läufe beim Durchschreiten der Schneekruste von dieser aufgerissen +waren. + +Das Raubzeug fand an ihnen willkommene Beute. Und dennoch war auch bei +diesen Schmalhans Küchenmeister. Nicht einmal ein Mäuslein lief dem +leise durch den Wald schliefenden Fuchs in den Weg. Das Eichkätzchen +saß ihm unerreichbar im warmen Kobel, und der Häslein gab es auch in +guten Zeiten nur wenige im wilden, rauhen Gebirge. + +Meister Reinekes größerer Bruder, der Wolf, stieg in die Ebene herab +und fiel an, was ihm in den Weg kam. Bis in die Landwehr drangen sie +vor, und, was seit Menschengedenken nicht vorgekommen, einmal verirrte +sich sogar einer von diesen frechen Gesellen durch ein Mauerpförtchen, +das über Mittag ein Viertelstündchen offen gestanden hatte, in die +Stadt. Dort fielen die Hunde ihn wütend an, und er büßte sein Leben +unter ihren Bissen ein trotz wilder Gegenwehr. Er war ein lebendiges +Zeichen dafür, wie groß auch die Not unter dem Getier des Waldes sein +mußte. + +Mit Sorgen sah der Jäger den Folgen dieses unbarmherzigen Winters +entgegen. Mit Sorgen blickte aber auch der Hausherr auf den ständig +sich mindernden Vorrat an Spaltholz, das der nimmersatte Kamin mit +gefräßiger Eile verlangte, wollte man nicht zähneklappernd im eigenen +Hause sich der Kälte überliefern. Schlimm für die Armen, die ansonst +auch im Winter ihren Bedarf an Leseholz sich im Walde sammeln konnten. +Schlimm für alle, welche ihr Beruf aus der Stadt heraustrieb, wie +die Erz- und Hüttenleute, welche im Granetal und anderen waldreichen +Flußtälern die Erzroste bedienten. Es gab keine Möglichkeit, in den +tiefverschneiten Forsten das nötige Holz zu fällen und zur Talsohle zu +schaffen. Sie alle froren unfreiwillig schon seit Monaten, und der +Hunger bleckte grimmig durch die kleinen Fensterscheiben ihrer Hütten. + +Am Rammelsberge wurde der Grubenbetrieb notdürftig aufrechterhalten, +denn seitdem das Pulver aufgekommen war, kam man immer mehr von dem +uralten Brauch ab, das Erzgestein, welches abgebaut werden sollte, +durch Feuer zu rösten und mürbe zu machen für den Angriff mit Spitzhaue +und Brechstange. Aber das gewonnene Erz konnte nicht verhüttet werden +und lag als lohnzehrendes, totes Material in Halden vor dem Berge. + +Nur ein Teil der Menschen, die unter dem harten Joche des Winters +litten, gewann ihm Freuden ab und wünschte, daß er noch länger sein +Regiment ausübe: die Kleinen. Wenn sie der strengen Zucht des Magisters +oder Schulmeisters entschlüpft waren, wenn sie der Aufsicht und den +Mahnungen der Mutter auf einen Augenblick entwischen konnten, ertönte +ihr Geschrei und Jubel auf der Straße. Wo immer ein Hang sich senkte, +wo eine gefrorene Pfütze blinkte, da sausten sie auf den flachkufigen +Bretterschlitten, auf umgekehrten Schemeln herab oder glitten auf des +Schusters Rappen über die blanke Fläche in endlosem Kreislauf, einer +den anderen anfeuernd und überschreiend. Mochte ein strenger und +wohlweiser Rat, dessen Verbote sonst immer Beachtung fanden, noch so +oft Erlasse gegen das Schlittern und Schlittenfahren in den Straßen +geben, die Stadtweibel ihnen nachspüren, die Rangen lachten ihrer aus +sicherer Entfernung und verschwanden nur um die Ecke, um an anderer +Stelle das gesetzwidrige Spiel wiederaufzunehmen. + +In den Häusern der Bürger war man des hartnäckigen Gesellen gleichfalls +überdrüssig, nicht nur, weil der Holzvorrat zu Ende ging und die +Erwerbsquellen vor den Toren für manche versiegt waren, auch die Jugend +sehnte sein Ende herbei. Der Winter brachte zwar für das gesellige +Leben in der reichen Stadt manche Gelegenheit, einander zu sehen und +zu sprechen, neben dem Verkehr in den Familien, aber nachdem die +Hauptfeier, das Festmahl des neugewählten Bürgermeisters, der mit dem +andern im Amte verbleibenden für das nächste Jahr regieren sollte, +begangen war, hatte der Winter für die Jugend, die flügge gewordene, +seine Reize verloren, und sie harrte ungeduldig ~ihres~ Festes, +des ›Langen Tanzes‹. + +Er ging in seinen Anfängen bis in den Anfang des vierzehnten +Jahrhunderts zurück und wurde um die Fastnacht gefeiert. + +In gewöhnlichen Jahren war er der Vorbote des Lenzes, auch in Goslar. +Heuer freilich sah es trübe aus, da der alte Griesgram Winter immer +noch sein hartes Zepter schwang. + +So gab er dieses Jahr auch nur ein klägliches Abbild der sonst dabei +herrschenden Lust und Freude, denn die Kälte war just an dem Tage, +auf den er fiel, grimmig. Die Jünglinge mochten ihr noch standhalten +in warmgefütterten Wämsen, die Mägdelein aber scheuten die Teilnahme; +denn welches Jungfräulein besitzt so viel Aufopferungsfreudigkeit, ein +blaugefrorenes Näslein der Spottlust der männlichen Jugend auszusetzen. +Gegen die Kälte konnte man sich auch schützen durch ein wärmendes +Kolett, das, um die Schultern gelegt, den zarten Hals und die Brust +schützte. Aber sollte man so das Geschmeide verdecken, das bestimmt +war, die Schönheit der Trägerin zu heben. Und die duftigen Gewänder, +die man sonst unter dem warmen Hauch der Frühlingssonne schon anzulegen +wagen durfte, sie schieden für dieses Mal gänzlich aus. + +Nur das geringere Volk, das nicht so empfindlich gegen die Unbilden der +Witterung war, ließ sich sein Recht nicht nehmen. An der Spitze gingen +die jungen Bergleute. Mit Zithern, Geigen und anderen Instrumenten +zogen sie musizierend durch die Stadt, aber gar oft setzte einer der +Musikanten aus, um die klamm gewordenen Hände zu wärmen. Auch die +Lieder klangen dünn durch die harte Winterluft. Natürlich fehlte das +alte Spottlied nicht, das auf die von Kaiser Karl +IV.+ vollzogene +Verpfändung Goslars an Graf Günther von Schwarzburg Bezug hatte: + + »Kaiser Karolus hochgeboren, + Der Goslar hät vom Rike einst verloren, + Der Rammelsbereg hät einen silbernen Fot, + Darummen tragen wir einen frischen Moht. + Mit düssen hübschen Jünferlein + Maken wir von Tannen ein Krenzelein + Wents thaun andern Jahre, + Sau tanzen wir mit twei Paare. + Wie wilt woll darup denken, + Wie wilt öhn dat wieder schenken.« + +Da die Töchter und Söhne der vornehmen Bürger sich vom ›Langen Tanz‹ +dieses Mal fernhielten, konnte auch der Streitfall zwischen Venne +Richerdes und Heinrich Achtermann nicht entschieden werden; aber man +hoffte, das Versäumte zum Maienfest nachzuholen. + + * * * * * + +Auch die Ostgänger aus Flandern waren dieses Mal durch den langen +Winter in Goslar festgehalten worden, sobald jedoch der erste +Lenzeshauch Wege und Stege von der winterlichen Sperre befreite, zogen +sie davon. Während aber in der Ebene schon die Boten des Frühlings +Einzug gehalten hatten, zeigten die Berge im Hintergrunde noch Reste +des winterlichen Schmuckes. Der Tann ragte düster starr gen Himmel, +der Frühlingswind wehte ungehemmt durch das kahle Geäst der Eichen im +Gosetal. + +Doch mählich regte sich's auch hier im Harzwalde. Überall rieselten +die Bächlein des Schmelzwassers geschäftig zu Tal. Wo die Sonne +lockte, wagte wohl ein Hälmlein sein duftiges Grün zu zeigen, hob ein +Buschwindröschen das zierliche Glöckchen, um es zum Frühlingsgeläut zu +stimmen. Die Meise hüpfte geschäftig durch das Gezweige des einsamen +Tanns. Das Eichkätzchen verließ sein Winterquartier, fand, daß es recht +mager geworden sei durch das lange Fasten. Es rasselte muckernd vom +Stamm herab, um zu sehen, ob nicht ein Tannenzapfen übriggeblieben, +um den nagenden Hunger zu stillen. Und wieder über ein kleines, da +steckten die Tannen und Fichten grüne Spitzen auf und rote Kerzen zu +Tausenden: Nun war der Lenz auch hier zur Macht und Herrschaft +gekommen. + +Maiengrün, Maienduft, welch unnennbarer Zauber umschließt das Wort. +In den Tälern zu Rudeln vereint, im düsteren Tannenforst einzeln sich +zum Lichte durchbrechend, grüßen die Birken von den Hängen mit ihrem +ersten duftenden, hellgrünen Laub. Lenzesboten, sie sind's auch heute +noch im winterharten Harz. Erst wenn die grünen Buschen und Bäume die +Straßen und Häuser schmückten, ist dem Harzer das Bewußtsein ins Herz +gepflanzt, daß der Frühling wirklich eingezogen ist. + +In Goslar schickte man sich an, das Fest der Maienkönigin zu begehen. +Draußen vor dem Tore, aber im Schutze der Landwehr, erhoben sich +lustige Zelte, mit Maien geschmückt und mit Teppichen behängt; von +ihrer Spitze flatterten lustig die schwarzgelben Wimpel. + +Am Nachmittage zog die Jugend aus, die Mägdelein im duftigen +Sommergewande. Die Jünglinge in prächtigen, enganliegenden Seidenwams, +das Federbarett kühnlich auf dem Haupte, boten zwar der strahlenden +Sonne ein willkommenes Objekt, aber kühn und zuversichtlich schritten +sie an der Seite ihrer Dame einher. Lustig ließen die Stadtmusikanten +ihre Weisen erklingen. Auf dem Plan vor dem Rufzentore sollte sich's +entscheiden, wem heuer die Krone der Anmut und Schönheit zuerkannt +werden würde. + +Die Alten, die Väter namentlich, zogen sich auf dem Festplatze +alsogleich in die Zelte zurück, in das eigene, das des Nachbarn oder in +die, welche zur öffentlichen Bewirtung der Gäste harrten. Die Jugend +aber bewies, nach Geschlechtern getrennt und im bunten Durcheinander +der Jünglinge und Mägdelein, daß der lange Winter die Geschmeidigkeit +der Glieder und die Anmut der Bewegung nicht hatte ertöten können. + +Die Reigen lösten einander ab, und auch der neue französische +Tanz wurde von einem kleinen auserlesenen Kreise vorgeführt. Ein +durchreisender Tanzmeister aus Paris war in Goslar angehalten worden +und hatte sein Bestes getan, um die Pariser Grazie auch im rauhen +Deutschland nicht ins Gegenteil verkehren zu lassen. Durfte man seinem +Urteil glauben, so tanzte die Goslarer Jugend dieses zierliche Menuett, +das, aus dem schönen Poitou stammend, in Paris eine veredelte Gestalt +erhalten hatte, trotz einem Pariser und einer Pariserin. + +Heinrich Achtermann war der Partner Vennes. Voller Entzücken hingen +seine Augen an ihr, die die verkörperte Lieblichkeit und Grazie +schien. Bei den Reprisen fand sich auch wohl Gelegenheit, ihr ein Wort +zuzuflüstern. Noch hielt sie ihn in Schranken mit einem unmerklichen, +aber unwilligen Schütteln des Kopfes oder leicht gerunzelter Stirn; +aber je höher die Wogen der Freude und Lust gingen, desto wärmer wurde +auch ihr ums Herz, und ein schneller, froher Blick streifte ihrerseits +den Gesellen. + +Als der Tanz zu Ende war, brach lauter Jubel los, und die umstehenden +Bürger beteiligten sich ebenfalls wacker an dem Beifall. + +»Ein hübsches Paar, unsere Kinder,« flüsterte der Ratsherr Achtermann +dem Bergherrn Richerdes zu. »Wie geschaffen füreinander. Und zum +Sichfinden scheint es bei den beiden auch nicht mehr weit zu sein. +Sollen wir abwiegeln oder helfen, Nachbar?« + +»Es schlüge den Tatsachen ins Gesicht, wollte ich Euch widersprechen, +Ratsherr, und dazu bin ich als Vater nicht bescheiden genug. Gewiß, +ein stattliches Paar, und was das andere anbetrifft, so wird unsere +Zustimmung den beiden sicher nicht ungelegen kommen. Aber da ist noch +manches zu reden.« + +»Gewiß,« fiel ihm Achtermann in die Rede, »doch ich hoffe, daß sich's +ausgleichen läßt.« + +»Nachbar,« sagte darauf Richerdes nicht ohne Ernst, »die Aufnahme +meiner Tochter in Eurem Hause ehrt mich. Aber auf eins laßt mich mit +allem Nachdruck hinweisen. Ihr seid reich, ich demgegenüber kaum +wohlhabend. Ich will nicht, daß meiner einzigen Tochter später aus +diesem Mißverhältnis Ärger erwächst. Könnt Ihr mir das versprechen, so +mag die Sache ihren Lauf haben.« + +»Ihr sprecht wie ein Mann, Richerdes, das ehrt Euch. Aber Ihr schickt +Eure Tochter ja nicht mit leeren Händen. Wäre Venne arm, so würde +ich aus demselben Grunde der Heirat widerraten; denn ist es schon +bedenklich, wenn ein reiches Mädchen einen armen Schlucker freit, so +taugt es niemalen und nimmer, wenn die Braut als Jungfer Habenichts +einem reichen Mann die Hand reicht. Darüber seid also beruhigt. Könntet +Ihr mich nur auch in diesem Augenblick befriedigen betreffs Eurer +Gruben.« + +»Ich habe mir auch die Sache inzwischen durch den Kopf gehen lassen«, +sagte Richerdes, »und finde, daß Ihr vielleicht nicht unrecht habt. +Doch da ist noch manches Beding zu erfüllen.« + +»Das ist vortrefflich, Nachbar, das freut mich,« antwortete Achtermann, +»das Weitere überlaßt nur mir. Sind wir über die Hauptsache im reinen, +werden wir über Kleinigkeiten nicht stolpern. Nun aber kommt, hier ist +unsere Arbeit getan. Wir wollen dem einen wie dem anderen einen edlen +Trunk weihen. Seid mein Gast, Schwäher.« + +Sie traten in das Zelt Achtermanns ein, und bald saßen sie hinter dem +Becher mit funkelndem Wein und pflegten freundschaftliche Zwiesprache. + +Auf dem Platze gingen die Reigen zu Ende. Noch war die Königin des +Festes zu küren. Es gab kein langes Beraten unter den Richtern, wem sie +den Preis zuerkennen sollten. + +»Venne Richerdes ist die Schönste, Venne Richerdes soll Maienkönigin +sein!« + +Ein Jubel ohnegleichen erhob sich bei diesem Urteilsspruch. Freudig +umdrängten sie die Freundinnen. Nur wenige standen mit einer Regung +des Neides beiseite. Zu ihnen gehörte auch Alheid Karsten, die Tochter +des Bürgermeisters. Nicht neidete sie Venne, daß sie die Schönste sein +sollte; auch sie hätte ihr den Preis zuerkannt. Aber alles vereinte +sich, um jene begehrenswert zu machen in den Augen der Männer, und +dieses Lob heute trug noch mehr dazu bei, den von ihr heimlich +Geliebten, Heinrich Achtermann, an sie zu ketten. + +In lieblicher Verwirrung hielt Venne dem Ansturm der Jünglinge und +Freundinnen stand. Heinrich Achtermann trat als letzter zu ihr heran. + +»Nun, Königin, seid Ihr zufrieden? Die Herrscherin seid Ihr im Reiche +der Schönheit, die Gebieterin im Bereiche der Grazie und Anmut. Nun +werdet Ihr's glauben müssen, und nun begehre ich mein Recht.« + +Venne tat überrascht. »Euer Recht? Wofür?« + +»Muß ich Euch mahnen an den Abend im neuen Turm am Rosentore? Da wurde +es abgemacht und von Euch zugestanden; würde das Menuett von Euch +getanzt, gleich einer Pariserin, so sollte ich mir die Buße von Euren +Lippen holen.« + +»Aber ich bin der Ansicht, daß der Richter irrte und falsch urteilte«, +widersprach sie errötend. + +»Nicht auf Euch kommt es an, Venne, Euer Urteil ist befangen, Ihr seid +Partei; ich halte mich an den öffentlichen Spruch und begehre mein +Recht!« Er trat einen Schritt näher, als ob es ihm ankomme, schon jetzt +sich die Buße einzulösen. Erschrocken wehrte Venne ab. »Aber Ihr wollt +doch nicht hier vor allen Leuten ...« + +»Nein, Venne, holde Venne«, flüsterte er ihr mit heißem Blick zu. »Wenn +ich Deinen süßen Mund küsse, soll kein neidischer Lauscher zugegen +sein. Heute aber, heute abend noch wird's geschehen!« + +Erschauernd hörte Venne ihm zu. In seliger Ohnmacht ließ sie seine +Worte über sich ergehen. Ja, sie wußte es, heute abend würde sie die +Seine werden! + +Immer höher gingen die Wogen der Freude. In den Zelten herrschte +Bacchus unumschränkt; seine Jünger hatten ihm geopfert, daß die Köpfe +zu zerspringen drohten. Auch die Jugend war in einen wilden Rausch des +Weines und der Freude gesunken. Die Besonnenen mahnten zum Aufbruch, +und als die Schatten des Abends herabsanken, zog der lange Zug in die +Stadt zurück in toller, ungebändigter Lust. + +Venne ging versonnen und schweigsam neben Heinrich, die Brust +geschwellt von süßen Schauern. Es war schon dunkel, als die Trennung +von Freund und Freundin auf dem Marktplatz vor sich ging. Nun +schritten Venne und Heinrich still nebeneinander dahin. Kein Laut +störte die laue, wunderbare Nacht. Als sie aber das Dunkel der +Bulkengasse aufnahm, da riß Heinrich die Holde an sich und raubte ihr +hundertfältig, was ihm doch nur einmal zustand. Selig seufzend ergab +sich Venne dem Liebessturm. + +»Venne, meine einzige Königin, meine holde geliebte Venne!« + +Da durchbrach auch die Liebe bei ihr die lange gezogene und mühsam +gehaltene Schranke. + +»Geliebter, mich dürstet nach Deinen Küssen!« + +In einem süßen Taumel vergingen die Minuten. Endlich löste sich Venne +aus seinen Armen. + +»Wir müssen scheiden«, flüsterte sie, aber Heinrich widersprach +ungestüm. »Habe ich so lange gedarbt, um Dich nach einem Augenblick +schon wieder zu verlieren!« Da warf sie sich ihm in die Arme: +»Heinrich, mein Einziger, ich liebe Dich, liebe Dich mehr, als Du +ahnst. Aber schwöre mir in dieser seligen Stunde, daß Du mich nie +verlassen willst; es bräche mir das Herz!« Ein heißer Kuß war die +Antwort. »Du siehst die Sterne da oben am Himmelszelt; eher werden sie +aus ihrer ewigen Bahn gerissen, als die Liebe zu Dir aus meiner Brust.« + +Aber dann kam doch der Abschied. In einem langen Kuß trank ihre +Sehnsucht sich satt; Venne schlüpfte ins Haus. Zum ersten Male seit +langem eilte sie an der Kammer der Mutter vorbei, ohne ihr noch gute +Nacht zu wünschen; ihr Herz war zum Zerspringen voll von dem, was sie +erlebt. Geräuschlos gewann sie ihr Stübchen. Doch eine wachte noch wie +immer im Hause und kam, um ihr beim Auskleiden zu helfen. Katharine war +es, die alte Magd, die sie als Kind schon gewartet hatte. Trotz des +Widerspruchs Vennes machte sie sich daran, die Bänder zu lösen und die +goldenen Schnallen der Schuhe zu öffnen. Versonnen lächelnd blickte +Venne in die Weite, die Hand auf das ungestüm pochende Herz gedrückt. + +»Du bist so seltsam heute«, unterbrach die alte Vertraute die Stille. +»Darf Deine alte Katharine nicht wissen, was Dich bewegt?« + +»Ach, Katharine, Du verstehst mich doch nicht, was soll ich Dir also +bekennen?« + +Da entgegnete die Alte unwillig: »Ich soll Dich nicht verstehen, da ich +doch Deine Regungen und Gefühle von Deinem ersten Tage an in Dir habe +entstehen und sich regen sehen? Meinst Du, ich bin blind? Also, hat er +endlich gesprochen, der Herr Heinrich?« + +Erschrocken blickte Venne sie an. »Aber woher weißt Du denn ...?« »Also +habe ich doch recht«, fuhr Katharine unbewegt fort. »Seine Wünsche +kenne ich von anderen, und was Du für ihn empfindest, war mir auch +längst bewußt. Aber er soll sich hüten,« fuhr sie fast drohend fort, +»sich Deiner unwert zu zeigen oder Dich zu kränken, dann komme ich über +ihn.« Lächelnd, voller Zuversicht wehrte Venne ab: »Wie kommst Du zu +solchem Argwohn, Katharine?« + +»Ich hatte einen bösen Traum. Aber es steht bei ihm, daß der Traum sich +nicht erfülle.« Damit verließ sie die Glückliche. + + + + + Zweites Buch + + + + +Vor den offenen Arkaden des +Collegio di Spagna+ lösten sich die +Sänften und Karossen der Bologneser in ununterbrochener Folge ab und +entleerten sich ihres lebendigen Inhalts. Schöne Frauen schlüpften +heraus in kostbarsten, duftigen Gewändern, das liebliche Antlitz +den gaffenden Zuschauern unter einem leichten Schleier verbergend. +Würdenträger schritten die Stufen hinan in ihrer reichen Amtstracht. +Würdige Gelehrte, Geistliche im schlichten dunklen Gewande, kühn +blickende Jünglinge in der modischen Tracht der Zeit, sie alle hatten +dasselbe Ziel: die Festgemächer in dem spanischen Kollegium der +Universität, in denen heute, wie alljährlich, der neue Dekan seinen +Amtsantritt festlich beging. + +Im Empfangssaale, dessen kristallene Kronleuchter das Gold der Decke +wie das Marmorgetäfel der Wände widerspiegelten, wartete der Hausherr +mit seiner Familie der Gäste und begrüßte sie, je nach Rang und Stand, +mit besonderer Höflichkeit oder freundlicher Herablassung, aber immer +mit der unnachahmlichen Zuvorkommenheit und Würde, die dem Spanier vor +anderen eignet. + +Ein lebhaftes Stimmengewirr in vielen Sprachen durchzog bald den Raum, +gedämpft indes durch die Rücksicht, die man sich und den anderen +schuldete, um nicht als unhöflich aufzufallen. + +Das Festmahl, das in einem herrlich geschmückten, großen Saale vor sich +ging, sah alles vertreten, was die alte Stadt an Anmut und Würde, +an Reichtum und Gelehrsamkeit in ihren Mauern barg. An der Tafel +wechselten die auserlesensten Gerichte, in den Kelchen funkelte edler +Wein. + +Wo die Jugend saß, ging die Unterhaltung am lebhaftesten vor sich. +Perlend flossen die Neckereien vom Munde der schönen Damen, mit +witziger Anmut übten die Herren die Gegenwehr aus. Ernster floß +der Rede Strom, wo Gelehrte über Fragen der Zeit das Wort führten. +Hier schwärmte ein Jünger im Apoll seiner Dame von der Schönheit +Petrarkischer Sonette vor, dort bewies ein Kriegsmann in glänzendem +Gewande, daß sein Beruf der allein des strebenden Menschen würdige sei. + +Gisela von Wendelin mit ihren Eltern zählte zu den Gästen. Ihr +Kavalier, der Sohn des Podesta, unterhielt sie lebhaft, aber sie +schenkte ihm nur zerstreut Gehör. Ihre Gedanken eilten über die Alpen +in die norddeutsche Stadt, wo der heimlich Geliebte, nie Vergessene nun +schon seit langem weilen mußte. Noch hatte sie kein Lebenszeichen von +ihm wieder erhalten. Und außerdem lastete es auf ihr wie ein Druck, +wie die Vorahnung kommenden Unheils, ohne daß sie sich Aufschluß über +ihre Gefühle zu geben vermochte. Ihre Blicke kreuzten sich mit dem des +Vaters, der ihr in einiger Entfernung gegenübersaß. Gütig lächelnd +nickte er ihr zu, da wuchs auch ihr wieder die Zuversicht. + +Die Freude des Abends stieg mit der Dauer des Festes; sie schimmerte +wieder in den glänzenden Augen der Damen, sie erklang aus den frohen +angeregten Gesprächen der Männer. Da ging noch ein letzter, einsamer +Gast in das Haus. Unhörbaren Schrittes und ungesehen schritt er an der +Reihe der Diener vorüber, ungesehen betrat er den Saal. + +Sein glühender Blick überflog die Gäste. Dann näherte er sich der +Festtafel. Hinter der schönsten der Damen hielt er an und beugte sich +zu ihr nieder. Sie erblich unter seinem Hauch, und der zarte Leib +erschauerte in Entsetzen. Und weiter ging der Gast. Dieses Mal war +ein würdiger Ritter sein Ziel. Der zuckte zusammen und griff nach dem +Herzen, aber er behielt sein Geheimnis für sich. Und weiter schritt der +Unheimliche und beugte sich hier und beugte sich da. Und wo immer sein +Hauch das Antlitz eines Gastes streifte, da erblichen die Wangen und +erlosch die Freude. Und dann ging der Fremde davon, wie er gekommen, +ungesehen und ungehört von den Dienern und nicht erkannt von der Menge +der Gaffer. Das Fest aber wurde abgebrochen, weil, unbegreiflich +und unerklärlich, ein Unwohlsein die Gäste befiel, die der Fremde +gezeichnet. Am nächsten Tage schon in der Frühe, da wisperte es in der +Stadt und raunte und ging in laute Wehklagen über: »Der Schwarze Tod +ist da, die Pest ist in der Stadt!« + +Wir nüchternen und klugen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts wissen, +wo diese Geißel des Menschengeschlechts ihre Heimat hat, wenn wir ihrer +auch noch nicht Herr geworden sind. Zwischen dem Tianschan-Gebirge +und dem Altai, im fernen Asien, im Osten auf das Sandmeer der Wüste +Gobi blickend, im Westen auf die Kirgisensteppe herabschauend, erhebt +sich der Tarbagatai, das Murmeltiergebirge, nach dem Tarbagan, dem +Murmeltier, benannt. Dieses Tierchen, das zu Millionen dort haust, ist +der Träger des Pestkeimes. Und wenn es selbst dieser Seuche erlegen, +wirkt noch sein kleiner Leichnam als Überträger an allem, was in seine +Nähe kommt, Tier und Mensch. Die Menschen fliehen aus ihren Siedlungen +und tragen den Krankheitsstoff zu ihren Nachbarn. Und alles muß der +Schrecklichen dienen, was Bewegung hat, Wind und Wasser, um ihre +Herrschaft auszubreiten. + +Unsere Vorfahren standen dem furchtbaren Würger in ohmächtigem Grausen +und Entsetzen gegenüber; nichts anderes wußten sie ihr entgegenzusetzen +als dumpfe Verzweiflung, wildes Wehklagen, brünstige Frömmigkeit oder +tierische Lust. Wehe dem Ort, den diese Geißel überfallen, wehe der +Stadt, in deren enge Gassen und dumpfe Häuser sie Einkehr hielt. + +Sie kam nicht ohne Vorzeichen, so wußte es das Volk: Geflügelte Rosse +am nächtlichen Himmel, mit seltsamen Reitern auf ihren Rücken, zogen +unter Horrido mit der Meute auf den Wolken dahin. Öffnete man einen +Rosenapfel, so entwich daraus wohl eine winzige Spinne. Dann war die +Pest nahe. Sie wurde von Teufeln und bösen Geistern in die Brunnen +gepflanzt; auch schlimme Menschen, Hirten, Hexen, Zigeuner und Juden +vergifteten das Wasser. + +Man suchte sie abzuwehren durch verdoppelte Frömmigkeit, Fürbitten der +Heiligen und Wallfahrten. Aber eines guten Tages war der unheimliche +Gast da. Wer es konnte, floh von der Stätte, wo sie einbrach, doch er +war seines Lebens darum nicht viel sicherer; denn die anderen draußen +erschlugen ihn, wenn sie erfuhren, daß er aus einem verseuchten Orte +kam, um mit dem Träger die Krankheit am Vordringen zu hindern. + +Wehe, dreimal wehe aber den Kranken selbst und den Häusern, in die der +Schwarze Tod Einzug gehalten! Sie wurden gezeichnet, versperrt, daß +niemand hinaus oder herein könne. Der Kranke mit seinen Angehörigen war +von aller Welt abgeschlossen, und sie konnten verhungern, wenn sich +nicht eine barmherzige Seele fand, die ihnen heimlich Nahrung zutrug. + +In Bologna wütete die Seuche wie nie zuvor. Anfangs kündeten noch die +Glocken, daß wieder ein Bewohner der Stadt ihr zum Opfer gefallen sei; +aber dann schwiegen auch sie, denn ihr klagendes Gewimmer hätte sonst +den Tag und die Nacht durchgellt. Die Stadt war tot. Vermummte Träger +durchzogen mit Bahren und Karren die Straßen und lasen die Toten auf, +die aus den Fenstern gestürzt wurden. Es lag auch wohl einmal einer +unter ihnen, aus dem noch nicht alles Leben entflohen war: sie achteten +des nicht, wer auf den Bahren und Karren lag, wanderte auch in die +großen, mit Kalk gefüllten Gruben vor den Toren. + +Die Pest, die wie ein hungriges Raubtier sich auf die unglückliche +Stadt gestürzt hatte, zog nach Monden wie ein satter Gläubiger davon, +der dem armen Schelm den Rest der Schuld stundet, bis es ihn gelüstet, +wiederzukehren, um sich auch das Letzte als verfallenes Pfand zu +holen. Verödet lagen die Häuser, verlassen die Straßen. Familien waren +ausgetilgt, Geschlechter erloschen. Noch wich der Nachbar dem Nachbarn +aus, wenn er ihn von fern sah. Aber leise, leise regte sich doch die +Hoffnung, daß der Würger gegangen, und langsam keimte die Freude, daß +der eigene Leib nicht von der Geißel geschlagen sei. + +Giselas Vater war einer der ersten gewesen, welche dem grausigen Gaste +auf seinen Wink folgten. Wenn das Wort nicht trügt, daß die Ängstlichen +der Krankheit am ersten verfallen, so bewahrheitete es sich auch an der +Mutter. Scheu hielt sie sich von dem einst so sehr geliebten Gatten +fern, und laut ertönte ihr Jammern, als die ersten Anzeichen der Seuche +sich auch bei ihr zeigten. + +»Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!« so gellte ihr +klagender Ruf durch das Haus. Aber vergeblich erklang ihr Flehen und +Wimmern, auch sie trugen die schwarzen Männer nach einigen Tagen davon. + +Nun war Gisela ganz allein in dem großen, leeren Hause. Sie hatte den +Vater gepflegt, und sein letzter, dankbarer und trauriger Blick galt +der treuen Tochter. Sie wich auch nicht vom Lager der Mutter, bis diese +die Augen schloß. Unheimlich war es in dem öden Hause. Die Diener +geflohen, die Mägde gestorben oder davongelaufen. Sie wäre verhungert, +hätte ihr nicht eine fromme Frau aus dem Kloster der Ursulinen, +erwiesener Guttaten eingedenk, heimlich Nahrung gebracht. Als die +Sperre von den Häusern genommen wurde, als die Tore sich öffneten, da +fand sie sich als eine einsame Waise unter Fremden; die Befreundeten +und Verwandten tot, die Bekannten, soweit sie lebten, an fernen Orten. +Hilflos, einsam wohnte sie im Hause der Eltern und hätte des Trostes +mitleidiger Menschen doch so sehr bedurft. + +Was hielt sie noch in dieser Stadt, die ihr fremd geworden, wo die +gespenstig leeren Häuser und Straßen ständig an das Unglück gemahnten, +das sie betroffen? -- Da stieg die Sehnsucht in ihr auf nach dem fernen +Deutschland, nach der liebevollen Base und die Erinnerung an den Mann +im selben Lande, dem ihr Herz noch in gleicher Liebe entgegenschlug wie +einst. Und sie faßte den Plan, der Freundin zu schreiben, sie um Obdach +zu bitten, und so kam dieser Plan zur Ausführung. + + + + +Nachdem das Gebirge die Oker aus der engen Haft entlassen hat, in der +sie sich, vom Bruchberge herabhüpfend, zwischen steilen Bergen und jäh +abstürzenden Felswänden dahinwand, lacht bei dem rauchigen Hüttenort +Oker die Freiheit. Fröhlich eilt sie in die lockende Weite, und über +dem Staunen ob der neuen, fremden Welt, entgleitet ihr alles, was sie +tändelnd und spielend an sich hielt, glattrunde Kiesel und feinkörniger +Kies. Denn die Wasserfrauen haben ihr ins Ohr geraunt, da draußen, +unter den Menschen, müsse man sich ehrbar und gesittet benehmen, wolle +man Achtung genießen. + +So wird aus dem wilden Gebirgskinde ein ruhig dahinziehendes Wasser. +Aber hat es die Wildheit abgetan, so ist ihm dafür die Eitelkeit in +die Glieder gefahren. Kokett sich drehend und windend, als wolle es +mit eigenen Augen die rückwegige Schönheit bewundern, durchmißt es das +Stück von Börßum bis nordwärts Braunschweig. So geht der Weg dahin +zwischen flachbordigen Talwangen, bis es weiter nordwärts in die Heide +kommt und nun sich vollends den Erwachsenen zurechnet. Unter dem +ernsten Heidevolke ist auch die Oker ein stilles, ernstes Gewässer +geworden. + +Doch bevor sie das beschauliche Dasein eines besinnlich und bedächtig +seines Weges schreitenden Alten erreichte, hatte sie schon zu jener +Zeit nützliche Arbeit unter den Augen der Menschen zu leisten. Vor der +Festung Wolfenbüttel wurde sie in viele Arme zerteilt, die das Schloß +der braunschweigischen Herzöge, wie die Festung selbst mit einem +schützenden Wassergraben umzogen oder in der Stadt die Mühlen trieben. + +Gleiche Dienste fielen ihr auch in der einige Wegstunden nordwärts +gelegenen Stadt Braunschweig zu. Suchte sich der Herzog gegen Angriffe +von seinesgleichen zu schützen, so trieb die Braunschweiger bei der +Sicherung ihrer Stadt, je länger, desto ausgesprochener, der Wille und +Wunsch, dem eigenen Landesherrn Trutz bieten zu können. Wenn der Welfe +auf die Höhe des Lechelnholzes ritt, eine halbe Stunde nordwärts seines +eigenen Schlosses, konnte er den Turm von St. Andreas in die Lüfte +ragen und die Stümpfe des Domes Sankt Blasius, wie das Heer der anderen +Kirchen sich erheben sehen. Dann wallte wohl in ihm der Groll auf über +die ungehorsame Tochter, die sich ihm verschloß und seine Gesandten +abschlägig beschied auf sein an den Rat gerichtetes Ansinnen oder sie +gar mit höhnischer Antwort heimschickte. + +Und dabei mußte er seinen Zorn in sich hineinwürgen, denn es gab +kein Mittel, um die Widerspenstige zu zähmen oder zu überwinden, im +Gegenteil, die Erfüllung dieses Wunsches rückte in immer größere +Fernen, je mehr die Macht der Stadt stieg. Übel lohnte sie es den +Nachfolgern Heinrichs des Löwen, der ihr die erste Befestigung gegeben +und den prächtigen Dom errichtet hatte, so mochte der Nachfolger selbst +urteilen. + +Aus der kleinen Siedlung, die der Herzog Bruno zur Zeit der +Karolinger gegründet haben sollte, war ein mächtiges und volkreiches +Menschenzentrum geworden. Die große Heerstraße, die nördlich des Harzes +und hart am Südrande der menschenleeren, unwirtlichen Lüneburger +Heide das Deutsche Reich von Westen nach Osten durchzog, wie die Wege +nordwärts zu den Handelsplätzen der Nord- und Ostsee schrieben ihr die +Rolle vor, die sie zu spielen berufen war. Der Anschluß an die Hansa, +deren Quartierstadt im niedersächsischen Kreise sie bald wurde, hob ihr +Ansehen und ihre Schönheit. + +Mit Goslar, zu dem es viele Handelsbeziehungen unterhielt, verbanden es +freundnachbarliche Bande, die um so enger wurden, je mehr der Ärger des +Herzogs auf sie selbst und sein Neid auf die reiche Stadt am Harz, ihr +Bergwerk und ihre Forsten offenbar wurde und gleiche Gefahr für beide +kündete. + +Der Reichtum seiner Bürger war fast sprichwörtlich geworden, und sie +steuerten davon gern und willig nach den Schatzungen ihres Rates, um +die Selbständigkeit der Stadt zu sichern. Wohl ausgestattete Arsenale, +eine stattliche Zahl von Söldnern unter kriegserprobten Offizieren, +denen im Falle der Not die wehrhafte Bürgerschaft sich noch zugesellte, +hatte sie befähigt, den Herzögen auch im offenen Felde mehr als einmal +standzuhalten. + +Groß war die Zahl seiner Einwohner, zu groß fast für die Enge der +Mauern und die Erwerbsmöglichkeit. Daher zogen viele seiner Söhne +hinaus in die Fremde, um als tapfere Landsknechte Beute und Reichtümer +zu erwerben. Ganze Fähnlein marschierten aus den Toren, unter +heimischen Hauptleuten. Viele gingen in den Wirren und Kämpfen auf den +Kriegsschauplätzen in aller Herren Länder zugrunde. Manche kehrten +zurück nach einem Leben der Wanderung und Mühsal, um in der Heimat, +fern dem Kampfeslärm, ihre Wunden zu heilen und der Ruhe zu pflegen; +wenige nur unter ihnen sahen ihre Träume erfüllt. + +Von den Offizieren stieg mancher zu hohem Ansehen. Der Name +›Braunschweigischer Hauptmann‹ hatte draußen einen guten Klang. Mehr +als einer von ihnen führte ein Regiment oder war gar zum General +aufgerückt. Verschlang sie nicht der Krieg, so kehrten sie wohl zuletzt +auch in die Heimatstadt zurück, um in behaglicher Ruhe von erkämpften +Siegen und gewonnenem Ruhm zu träumen. Zu ihnen gehörte auch der Obrist +von Walldorf, dessen Damen in Bologna den neugebackenen Doktor juris +Johannes Hardt von dem Hause Wendelin Abschied nehmen sahen. + +Die Walldorfs wohnten in einem behaglichen Patrizierhause an der +Echternstraße. Die Wallfahrt nach Rom hatte gute Dienste getan, und +Glück und Zufriedenheit herrschten in dem gastlichen Hause. Johannes +hatte einmal bei ihnen vorgesprochen. Er war schon seit Jahresfrist +in den Dienst seiner Stadt getreten, und der Rat schickte ihn, in +Erinnerung seiner bewiesenen Zuverlässigkeit, mit einem wichtigen +Schreiben an die Braunschweiger dorthin. + +Wenn Johannes gehofft hatte, bei dieser Gelegenheit etwas von Gisela zu +hören, so sah er sich in dieser Erwartung getäuscht, denn es war noch +kein Lebenszeichen von den Wendelins über die Alpen gekommen, seit die +Damen zurückkehrten. + +Trauer bemächtigte sich seiner, wenn er sah, wie die Erfüllung seiner +Hoffnungen in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt blieb, während +alle diejenigen daheim, denen er nahestand, dem Ziele ihrer Wünsche +nahegekommen oder es erreicht hatten. Venne Richerdes war dem Heinrich +Achtermann verlobt, und es schien nur noch eine Frage von kurzer Zeit, +daß die Hand des Priesters sie zusammengab. Erdwin Scheffer hatte seine +Monika heimgeführt und war wohlbestellter Weibel des Rates. Wenn +die Zeit es erlaubte und die Gäste im ›Goldenen Adler‹ sie nicht zu +sehr in Anspruch nahmen, schlüpfte Immecke Rosenhagen in die Wohnung +des jungen Paares, um sich des Glücks ihrer Kinder zu freuen und das +kleine Großtöchterchen auf ihren Armen zu wiegen, das das leibhafte +Ebenbild ihrer Monika zu werden versprach. Allen hatte das Glück +seine Tore geöffnet, nur ihm blieben sie verschlossen. Traurig und +niedergeschlagen kehrte Johannes nach Goslar zurück. + +Wenige Wochen darauf traf in Braunschweig der Brief Giselas mit der +erschütternden Kunde des Todes ihrer Eltern ein. Die Antwort, daß sie +bei den Walldorfs herzlich willkommen sei, ging sogleich nach Bologna +ab, aber es verlief doch der Winter, ehe sie selbst ankam. + +Richenza hielt es für selbstverständlich, an Johannes Hardt sogleich +Nachricht von der bevorstehenden Ankunft der Geliebten gelangen zu +lassen. Aber hieß es für ihn sich in Geduld fassen, bis der hoffentlich +nicht ferne Tag gekommen, wo er sie selbst von Angesicht zu Angesicht +schauen würde. Als dann der Ruf der Freundin kam, fand er ihn voller +Ungeduld. Dieses Mal wartete er keinen besonderen Auftrag des +Hochmögenden Rates ab, sondern er brach nach Braunschweig auf, sobald +es sich einrichten ließ. Bevor er abreiste, sprach er mit den Eltern +über seine Pläne und Wünsche. + +Des Vaters Absichten gingen andere Wege. Er hätte es lieber gesehen, +daß der Sohn eine Einheimische freite, aus alter Familie, deren Einfluß +und Ansehen dem Sohn gewiß auch für seine weitere Laufbahn förderlich +gewesen wäre. Aber sein Zureden scheiterte an der Entschlossenheit des +Sohnes, der erklärte, daß er Gisela zum Weibe wolle oder gar keine. +Mit einem Seufzer gab jener zuletzt nach. Ob er einen besonderen Wunsch +dabei zu Grabe trug, blieb Johannes verborgen. + +Noch war er freilich auch der Zusage Giselas selbst nicht sicher. +Wenn er aber des Abschieds in Bologna gedachte, schwanden alle +Zweifel. Zu offen hatte ihr Herz ihm damals entgegengeschlagen, und er +durfte hoffen, daß kein anderer inzwischen von ihm Besitz ergriffen +hatte, sonst hätte sie wohl kaum den Weg nach dem fernen Deutschland +eingeschlagen. + +Die Brust geschwellt von seliger Erwartung und im Herzen tiefes Mitleid +mit der vom Schicksal so Schwergeprüften, brach er nach der alten Stadt +an der Oker auf. + +Johannes war erschüttert, als er der Geliebten zuerst entgegentrat: +Was hatte die Zeit aus dem lebensfrohen, lieblichen Geschöpf gemacht, +das er vor einigen Jahren in Bologna verließ? Ein blasses Gesichtchen, +aus dem die dunkeln Augen von tiefen Schatten umlagert, Mitleid +heischend und hilfesuchend ihn anblickten, tauchte vor ihm auf. Als +sie den Langersehnten, immer Geliebten vor sich sah, den Zeugen ihrer +glücklichen Jugend im trauten Familienkreise, kamen ihr die Tränen aufs +neue. Ein stilles Schluchzen erschütterte ihren zarten Körper. Johannes +trat zu ihr und ergriff stumm ihre Hände. Aber als sie allein waren, da +fanden sie Worte. Vor ihm entrollte sich das furchtbare Bild der Seuche +in Bologna, und er vernahm aus ihrem Munde, wie grausig das Ende ihrer +Eltern gewesen war. Da hielt er nicht länger an sich. Sanft zog er sie +an sein Herz und träufelte ihr süßen Trost in die schmerzerfüllte +Brust. + +»Habe Vertrauen zu mir, Geliebte. Unter meinem Schutz wirst Du +vergessen lernen, und die Vergangenheit liegt bald wie ein böser +Traum hinter Dir. Mein Mütterchen wird Dich an ihr Herz schließen als +zweite Tochter, und in der Schwester gebe ich Dir eine Freundin, die +mir beistehen wird, den letzten Gram in Deiner Brust zu tilgen.« Da +lächelte sie ihn unter Tränen an. Doppelt liebreizend war sie in ihrer +rührenden Hilflosigkeit. Aber eine leise Röte der Zuversicht und Freude +stieg in die blassen Wangen. + +»Oh, wie danke ich dem Himmel, daß er Dich mir schenkte. Ich weiß +nicht, wie ich die furchtbare Bürde allein weiter hätte tragen sollen. +Habe Dank mein einzig Geliebter, habe Dank!« + +Innig drückte sie sich an ihn, und Johannes besiegelte seine Schwüre +mit einem heißen Kuß. + +Diesmal war der Abschied für ihn nicht so schwer. Er ließ die Geliebte +in treuer Hut zurück. Es galt nur noch, das Nest zu bereiten für ihr +Glück. Bald, so hoffte er und vertraute sie, hatte auch für sie die +Zeit der Trennung ein Ende für immer. + + + + +Neben den Beziehungen freundschaftlicher und politischer Art, die +zwischen den Städten Braunschweig und Goslar bestanden, liefen Fäden +hin und her vom Schlosse des Welfenherzogs zu Wolfenbüttel nach der +alten Reichsstadt am Fuße des Rammelsberges, von denen der Rat nichts +wußte oder die doch so geheim gesponnen wurden, daß er sie nicht +zerschneiden konnte. Nach Wolfenbüttel und noch nach einer anderen +Stätte hin reichten sie, die wiederum nur dem Herzog und seinem +Vertrauten und einigen wenigen bekannt waren. Die aber hüteten sich +weislich, mit ihrer Kenntnis hervorzutreten; denn es wäre ihnen nicht +nur eine angenehm fließende Geldquelle dadurch verschüttet worden, +sondern sie hätten sich auch der Gefahr ausgesetzt, daß sich Meister +Rotmantel ihrer annahm, der in jener Zeit, wie seine Berufsgenossen +andernorts, in Goslar sein gutgehendes Geschäft ausübte, darin +bestehend, daß er die Neugier eines wohlweisen Rates über ihre +Tätigkeit in Gegenwart von den Bevollmächtigten des Rats zu befriedigen +suchte, wobei er nur durch freundliches, aber dringendes Zureden zur +Antwort mahnte. + +Es gab da allerhand Mittel und Mittelchen, um auch die Schweigsamsten +zum Reden zu bringen, von den Daumenschrauben bis zum Strecken des +Körpers, wobei die Glieder allerdings aus ihren Gelenken gerissen +wurden. Und half das noch nichts, so griff man noch zu gröberen +Mitteln, die wir auszuführen Bedenken tragen, um nicht die nächtlichen +Träume leicht erregbarer Leserinnen mit allerhand fragwürdigen +Gestalten zu erfüllen. + +Im übrigen ging alles nach einer peinlich festgesetzten Ordnung, auch +das Bezahlen. Der Henker wußte genau, was er nach getaner Arbeit vom +Säckelmeister eines Hochmögendes Rates zu erwarten hatte oder was er, +nachdem das Erforderliche der Frau Eheliebsten abgeliefert war, in der +Herberge oder im Ratskeller aus dem angeketteten Becher sich zugute tun +durfte. + +Zu solchen Personen, welche ihre Tätigkeit vor der Neugier des Rates +ängstlich verbargen, gehörte zum Beispiel die Gittermannsche aus der +Dröwekenstraße, wie ihr Vetter, der Schäfer Hennecke Rennenstich, der +»Up den Ymminghove« Wohnung und Beschäftigung fand. + + * * * * * + +Von dem Nordabhang des Lindthalskopfes, der seine steile Stirnseite +dem tiefen Graben des Innerstetales zukehrt, hüpft eilenden Laufes der +Steimkerbach herab. Die Sonne bekommt dieser muntere Geselle erst zu +sehen, wenn er den Gebirgswald verläßt; denn bis dahin überschatten +ernste Tannen und laubdunkle Buchen und Eschen sein schmales +Bett. Verträumt blinzelt er auf und eilt dann, im vollen Lichte +des Tagesgestirns und doch ungesehen, unter Lattich und hängenden +Weidenbüschen durch die Wiesen dahin, bis unfern des Dorfes Lutter am +Barenberge er sich der Neile vermählt. + +Frei geboren und frei geblieben bis zu der Stelle, wo er seinen Lauf +beendet, darf das Wässerchen von sich rühmen; denn des Menschen Hand +hat ihm kein Joch auferlegt. Dasselbe gilt auch von dem Dolgerbach, der +in kurzem Lauf mit dem Kiefbach zusammen den Steimkerbach aufsucht. +Aber der Dolgerbach war nicht immer frei. Vor Jahrhunderten, als noch +das Dorf Dolgen stand, mußte er eine Mühle treiben, die unweit des +Dorfes gelegen war. + +Damals war das Tal des Steimkerbaches noch düsterer und finsterer als +heute. Urwaldartig deckte der Wald die Hänge und die Talsohle, und den +Eingang am Waldessaum versperrte dichtes Gestrüpp. Nur der Hirsch, +der zur Tränke zog, und der Eber, der in seinem Sumpf suhlte, störten +die Stille, welche das Tal füllte. Menschen verirrten sich nicht +dorthin, und selbst der herzogliche Jäger, der im Dorf Dolgen hauste, +mied die Stätte, denn es war dort nach seinen eigenen Wahrnehmungen +nicht geheuer. Wer Mut besaß, die Geister zu bestehen, die dort ihren +Spuk treiben sollten, der fand an diesem Tal eine Stätte, in die ihm +keines Fremden Neugier folgte. Und es gab solche Männer, die einen +Unterschlupf fanden, wenn ihnen der Boden draußen in der Ebene zu heiß +wurde, wilde Gestalten, denen das Wasser ein Feind und der Bartscherer +eine unbekannte Größe waren. + + * * * * * + +Man mußte wohl eine Stunde weit das Tal hinaufdringen und durfte ein +zerschundenes Gesicht nicht scheuen, wollte man an das seltsame Heim +dieser Menschen gelangen. Aber dann war man auch überrascht über das, +was die Wildnis bot. Unter einem überhängenden Felsen, etwas abgekehrt +vom Bache, erhob sich eine feste Hütte, aus Stämmen roh aufgeführt, die +Fugen mit Moos verstopft. + +Kleine Öffnungen, die verschlossen werden konnten, ließen etwas +Helligkeit in das Innere, aber man war unabhängig davon: Fackeln +und Kerzen ersetzten das Tageslicht, und wenn man nicht allzu große +Ansprüche stellte, konnte man es sogar wohnlich drinnen finden. Die +Wände waren mit Teppichen verhängt; mit Teppichen verschloß man auch +die Fensteröffnungen im Winter, noch hinter den vorgelegten Läden, um +die kalte Luft abzuwehren. An den Seiten liefen Bänke entlang, vor +denen festgefügte Tische standen. Ebenso rohgezimmerte Holzschemel +vervollständigten die Inneneinrichtung, abgesehen von einem offenen +Herde, in dessen Nähe eisernes Kochgeschirr, Bratpfannen und irdene +Näpfe verrieten, daß man ihn zu benutzen verstehe. + +Der Rauch suchte sich einen Ausweg nach oben, wo und wie es ihm +gefiel. Freiheit zu tun und zu lassen, was dem einzelnen beliebte, +war überhaupt oberster Grundsatz in dieser Behausung. Wer schlafen +wollte, erhob sich vom Tisch und suchte sein Lager auf Heu und Decken, +wo es ihm gefiel und wo ein Platz sich bot. Nur ein kleiner Verschlag +blieb davon ausgenommen, wo die Hausfrau ihr Lager aufschlug. Diesen +Raum wagte ohne besondere Erlaubnis keiner der Gesellen zu betreten, +denn die Eigentümerin war eine Respektsperson, selbst für diese wilden +Männer. + +Ein seltsames Frauenzimmer, das mit ihnen hier in der Wildnis +wirtschaftete. Mit Schönheit war die Frau nicht überladen. Aus +verrunzeltem Gesicht blickten schwarze, scharfspähende Augen den +Besucher an. Die beiden gelben langen Eckzähne, die ihr von dem +einstmaligen Reichtum geblieben, trugen auch nicht gerade zur Erhöhung +ihrer äußeren Reize bei. + +Hätte sie unter Menschen gelebt in einer Stadt, so wäre sie durch den +Leumund der lieben Nächsten gewiß schon der Hexerei geziehen und dem +hochnotpeinlichen Gericht wie dem Henker vorgeführt worden. Danach +trug sie aber kein Verlangen, denn sie war Meister Rotmantel schon +einmal überantwortet gewesen. Damals hatte man ihr allerlei Untugenden +vorgehalten, wie zum Exempel, daß sie es mit der Ehrbarkeit nicht allzu +genau nehme; sie war gestäupt und gebrannt worden, und man entließ sie +mit der ernstlichen Vermahnung, immer eine gewisse Entfernung zwischen +sich und der Stadt zu beobachten. + +Diesen Rat befolgte Luke Meyse ehrlich, denn ihr lag wenig daran, sich +bei Meister Rotmantel und seinen Knechten noch einmal in Behandlung zu +geben. + +Luke Meyse war wirklich einmal schön gewesen, sehr schön sogar, aber +die Schönheit wurde ihr zum Verderben. Sie stieg ihr so sehr zu Kopfe, +daß sie, ehrlicher, einfacher Leute Kind, meinte, sie sei zu etwas +Höherem geboren, als des Nachbars Sohn Tyle zu freien. Es kam auch +ein Höherer und nahm sich ihrer Schönheit an, ein richtiger Edelmann. +Aber als er sie genossen hatte, warf er sie beiseite. Nun war sie auch +Tyle nicht mehr schön genug, und sie ging mit ihrer Schande auf und +davon. Es fanden sich auch nachher noch Männer, denen die Reste ihrer +Schönheit zusagten, doch sie sank dabei immer mehr, bis der Henker ihr +das Mal aufbrannte. + +Nun lebte sie schon seit vielen Jahren in dieser Wildnis, und ihre +Gesellschaft waren Gesellen, die vor einer Berührung mit den Behörden +oder mit Meister Rotmantel nicht minder bescheiden zurückwichen. +Ihre Zahl schwankte je nach der Jahreszeit und ihren »Geschäften«. +Nur selten erlitt sie auch eine plötzliche Einbuße, weil einem +ihrer Genossen bei seinen »Geschäften« ein Stück Blei zwischen die +Rippen gefahren war oder er seine Widerstandsfähigkeit gegen einen +Hieb mit Schwert oder Hellebarde überschätzt hatte. Dann blieb sein +Platz unbesetzt, oder ein anderer rückte an seine Stelle. Lange +Gedächtnisreden wurden nicht gehalten. Ein Fluch über das Mißgeschick, +und die Sache war abgetan. Kehrte einer oder der andere mit einer Wunde +zurück oder litt er sonst an einer Gebreste, so brachte ihn Luke wieder +zuwege. + +Langeweile litt Luke Meyse nicht; denn einer oder der andere der +Gesellschaft war immer anwesend, mindestens der einarmige Brand +Cramer, dem sie bei einem Zusammentreffen mit Bauern dieses wertvolle +Körperglied zerschmettert hatten. Er war Schaffner des Hauses und +Stallmeister in einer Person. Denn auch Pferde fanden in einem an den +Felsen gelehnten Schuppen Unterkunft. + +Und dann gab es da noch ein junges Ding, Ylsebe genannt. Wie sie sonst +noch hieß, wußte niemand. Man hatte sie an der Straße aufgelesen, +wo sie neben der erschlagenen Mutter jämmerlich schrie. Sie war der +Liebling Luke Meyses und der Verzug der ganzen Bande. Wild und lustig, +mit krausem Haar und schwarzfunkelnden Augen, bildete sie das belebende +Element der Hütte. Übergriffe gegen sie wußte Luke kurz und bündig +abzuweisen. Wurde es Ylsebe zu langweilig im Steimkerbachtale, dann +eilte sie wohl auf einen Sprung und einige Stunden nach der Dolgermühle +zu ihrer Freundin, der roten Aleke Swarte, des Müllers Tochter, die ihr +an Wesen gleichkam. + +In der Dolgermühle traf sie sicher auch noch andere lustige +Gesellschaft, denn dort fand sich auch gemeinlich allerlei Volk +zusammen, ähnlich dem im Tale des Steimkerbaches. Die Mühle war +verwahrlost, die Bauern gingen mit ihrem Korn lieber zur entfernten +Pöbbeckenmühle, wo sie schneller und redlicher bedient wurden. Der +Müller zürnte ihnen deshalb nicht allzu sehr, denn an der Ausübung +seines Handwerks lag ihm wenig: Wozu sollte er die Mahlgänge bedienen, +nachts den Schlaf versäumen, wenn er auf andere Weise bequemer und +lustiger zu Gelde kam? Denn lustig ging es her bei ihm bei Essen und +Zechen und Würfeln. Die Besucher ließen sich nicht lumpen für die +schönen Sachen, die ihnen des Müllers Weib briet oder der Müller selbst +aus dem versteckten Keller hinter der Scheune vorsetzte. Aber das waren +nur die Nebeneinnahmen. + +Den Hauptteil warfen die »Geschäfte« ab, die mit den Besuchern von +ihm als vollgültigem Partner abgeschlossen wurden. Bei ihm wurde +nämlich alles geplant, was heranreifte oder was sich zufällig bot. +Wenn irgendwo in der Umgebung ein Überfall vor sich ging, ein Haus +in Flammen aufloderte, ein reicher Bauer in seinem Bett erschlagen +aufgefunden wurde, wenn die Städter mit ihren Herden in Seesen und +Goslar geschatzt, ihre Wagenzüge angehalten und überfallen wurden, so +war der Plan dazu sicher in der Dolgermühle ausgeheckt worden. + +Hin und wieder tauchte ein Mann auf, der ein besonderes Ansehen besaß. +Daß er unter den Gesellen eine bevorrechtete Stellung einnahm, ging +schon aus der Anrede hervor. Er wurde als »Herr Hermann«, auch »Herr +Raßler« angesprochen. Raßler war ein Mann von gedrungener Gestalt, +dem die wilde Entschlossenheit aus den Augen leuchtete. Das gebräunte +Gesicht wäre hübsch zu nennen gewesen ohne eine tiefe Narbe, welche +die Stirn fast wagerecht durchzog. Er besaß alle Eigenschaften eines +Führers: scharfes Urteil, schnelle Beobachtungsgabe und einen großen +Mut. + +Als Sohn eines Arztes in Hildesheim hatte er das juristische Studium +ausüben sollen, wurde aber durch viele böse Streiche anfangs schon +aus dieser Bahn herausgeschleudert und relegiert; doch er war kein +Verbrecher von gewöhnlichem Schlag wie seine Leute. Er sah in sich +ein Rachewerkzeug gegen die menschliche, verderbte Ordnung. Auf den +Erwerb von Beute und Reichtum legte er nur insoweit Wert, als sie ihn +befähigten, seinen Weg zu gehen. + +Deshalb, weil er nie einen besonderen Anteil beanspruchte und seine +Hilfsbereitschaft jederzeit sich äußerte, erkannten sie in ihm die +Führernatur, die ihnen Gewähr bot, daß die ausgeheckten Pläne meistens +ohne große Opfer durchgeführt werden konnten. + +Hermann Raßler war kein Wegelagerer gewöhnlichen Schlages. Das erwies +sich aus der Kühnheit seiner Pläne, wie der Art ihrer Durchführung. Er +selbst trat nur bei den großen und wichtigen Sachen in Tätigkeit, die +Kleinigkeiten überließ er seinen zahlreichen Helfershelfern. Wo sein +eigentlicher Wohnsitz war, wußten nur wenige Vertraute. Er kam und +verschwand, und niemand fragte, wo er bleibe. Daß er zur rechten Stunde +zur Stelle sein werde, war ihnen Gewähr genug. + +Die kleinen Untaten fielen nicht eigentlich auf sein Konto; er duldete +sie, weil er seine Leute bei Laune halten mußte. Meistens richteten +sie sich gegen Menschen, die sich durch Habsucht oder eine ähnliche +Untugend verhaßt gemacht hatten. Sie bedauerte er nicht; denn er gefiel +sich je länger desto mehr in der Rolle des Schicksalswalters, der +berufen war, über die Ungerechtigkeit der Welt zu Gericht zu sitzen. + +Raßler war ein weithin gefürchteter Bandenführer, und der Ruf seiner +kühnen Streiche veranlaßte mehr als einen der Großen, sich seiner +Dienste zu bedienen, um einem Gegner im geheimen Abbruch zu tun an +seinem Eigentum. Kleine Städte und reiche Dörfer sollten ihm, so hieß +es, um sich seiner Huld zu versichern, Tribut zahlen. + +Zu seinen »Kunden« zählte auch der Herzog von Braunschweig. Er bediente +sich seiner gegen die Stadt Braunschweig, namentlich aber gegen das +reiche Goslar, um die Bürger mürbe zu machen zur Annahme seines +fürstlichen Schutzes. Raßler übernahm diese Aufgabe besonders gern und +willig, denn mit dem Rate in Goslar hatte er ein Hühnchen zu rupfen. +Die Goslarer hatten ihm nicht nur, wie bei dem Treffen im Hohlwege bei +Riechenberg, wertvolle Leute erschlagen oder aufgeknüpft, sondern er +war ihnen besonders deshalb gram, weil bei einer dieser Gelegenheiten +auch sein einziger, wirklicher Freund, der gleich ihm aus der Bahn +geriet, in ihre Hände fiel und schimpflich gerichtet wurde. + +Im Schlosse zu Wolfenbüttel war Raßler keine unbekannte Persönlichkeit, +wenn er dort auch unter anderem Namen aus- und einging. Durch des +Herzogs Spione in Goslar, die zum Teil recht angesehene Bürger waren, +wie auch aus eigenen Quellen wurde Raßler über die Vorgänge in der +Stadt immer im voraus gut unterrichtet. In seiner Kühnheit hatte er +sich auch mehrmals selbst in die Höhle des Löwen gewagt, um an Ort und +Stelle Erkundigungen einzuziehen. Allerlei geschickte Verkleidungen +ermöglichten es ihm, ungefährdet und unerkannt in die Stadt zu +gelangen und aus ihr wieder zu entweichen. Verrat von der Seite seiner +Spießgesellen in Goslar brauchte er nicht zu fürchten, denn im Falle +der Entdeckung war ihr eigener Kopf auch verwirkt. + + + + +Um Magda Richerdes, die Ehefrau des Bergherren, stand es nicht gut. Auf +eine geringfügige Besserung, kurz nach Vennes Verlobung, folgte bald +eine Verschlimmerung ihres Zustandes. Der Arzt war ratlos, die Familie +nicht weniger. Venne ging mit verweintem Gesicht einher; auch der +Zuspruch ihres Verlobten vermochte sie nicht über die Angst und Sorge +um das Leben der Mutter wegzubringen. + +Die Kunst der Ärzte jener Zeit stand nicht hoch. Soweit sie sich über +den Rahmen bloßer Scharlatanerie erhob, reichte sie doch nicht im +geringsten aus, um durch eine von Sachkenntnis getragene Diagnose und +die danach anzusetzenden Mittel eine Krankheit zu bekämpfen, deren +Wesen nicht durch äußere Merkmale sich von selbst verriet. + +Die Reinigung des Blutes durch Purganzen aller Art galt als Mittel zur +Verhütung von Krankheiten, wie zur Erhaltung der Gesundheit. Schlimm +wurde es erst, wenn der Aberglaube im Verein mit der Dummheit auf der +Seite der Kranken diese einem der dunklen Kurpfuscher in die Hände +gab, die mit albernen Beschwörungsformeln und Mitteln aus pflanzlichen +und anderen Stoffen heilen wollten, deren Wirkung auf den Körper des +Menschen durchaus nicht feststand. + +Überall im Lande saßen die Männer und Frauen, die auf die +Unerfahrenheit und die Angst um die Erhaltung des Lebens ihrer +Nächsten spekulierten und ein Wissen ärztlicher Art vortäuschten, das +günstigstenfalls nichts nützte, oft aber die vielleicht noch heilbare +Krankheit in lebenslängliches Siechtum verwandelte oder gar den Tod +herbeiführte. Der Scharfrichter, die Schäfer, alte Weiber üblen Rufes, +denen man Umgang mit dem Bösen, auch übernatürliches Wissen nachsagte, +das waren die am meisten begehrten Berater der Kranken jener Zeit. + +Auch in Goslar gab es solche »Wissende«, und zu ihnen zählte die +Gittermannsche in der Fröweckenstraße, wie auch der Schäfer Hennecke +Rennenstich auf dem Ymminghove. Ihre Kunst und ihr Wissen gründeten +sich auf überkommene Sprüche und Tränke aller Art, zu denen sie +die Kräuter selbst suchten oder sich zu verschaffen wußten. Ihre +Hauptberaterin und Lieferantin war Luke Meyse vom Steimkerbach, die +einstmals von Goslar einen wenig befriedigenden Abschied nehmen mußte. + +Die Zeit hatte die Beziehungen zwischen ihr und der Gittermannschen +nie ganz zerstört, und die geheimen Boten, welche Goslar von Zeit zu +Zeit im Auftrage Hermann Raßlers aufsuchten, sorgten dafür, daß die +Fäden zwischen diesen beiden würdigen Frauenzimmern und Freundinnen +nicht zerrissen. Sie überbrachten auch jeweils Mittel, die von der +Gittermannschen bei ihren Gewaltkuren benutzt wurden. + +Venne wie den Vater bedrückte es über die Maßen, daß der Mutter nicht +geholfen werden konnte, und als der Arzt seine Ohnmacht erklärte, waren +sie bereit, wenigstens Venne, auch andere Mittel zu nehmen, wenn es +hülfe. Zunächst wurde Immecke Rosenhagen zu Rate gezogen, von deren +heilkundiger Hand sie von den Hardts gehört hatten. Immecke kam, besah +sich die Kranke, gab auch einige schmerzlindernde Mittel an, gestand +aber im übrigen, daß sie des Leidens nicht Herr werden könne. Da +verfiel die alte Katharina, die nächst Venne ihrer Herrin über alles +zugetan war, auf den Plan, die Gittermannsche zu befragen, die ihr von +guten Bekannten empfohlen wurde. + +Katharina mußte die Art der Krankheit genau beschreiben, doch erklärte +jene, es sei äußerst wichtig, daß sie die Kranke selbst sehe und +spreche. Da wurde die treue Alte vor dem eigenen Mut bange, denn sie +handelte ja ohne Ermächtigung ihrer Frauen. Doch die Liebe zu diesen +und der brennende Wunsch, der Kranken Heilung zu verschaffen, überwog +zuletzt die Bedenken. Was sie aber selbst noch an Mißtrauen gegen die +geheimnisvolle Frau hegte, verscheuchte sie durch die drohenden Worte: +»Das sage ich Euch, Gittermannsche, tut Ihr meiner Frau ein Leid an, so +habt Ihr es mit mir zu tun, und mit mir ist nicht zu spaßen.« + +Jene antwortete nur mit einem überlegenen Lächeln, als ob ihre Kunst +für sie außer Zweifel stehe. + +Venne schalt die alte Magd tüchtig, als sie von dem Besuche hörte, und +die Kranke weigerte sich, mit der Frau in Berührung gebracht zu werden, +die doch eine Hexe sei. Aber das Leiden wurde schlimmer, und Katharina +kam hartnäckig immer wieder auf die Sache zurück. Schließlich gaben die +beiden nach, und man einigte sich, daß zunächst Venne mit der Getreuen +-- im Dunkel des Abends natürlich -- die Gittermannsche aufsuchen +solle. + +Die alte Vettel war von einer überraschenden Liebenswürdigkeit, denn +ihr lag viel daran, in dem angesehenen Hause Zutritt zu erhalten. +Auf Venne wirkte indes gerade diese Art widerlich und abstoßend, +aber sie bezwang ihren Abscheu, um der Mutter zu helfen. Mit großer +Zungenfertigkeit pries die Gittermannsche ihre Kunst und zählte +tausend Mittel und Sprüche auf, die unfehlbar, schnell oder langsam +helfen müßten. + +Venne wirbelte der Kopf von all dem Gehörten, aber sie gewann doch +die Hoffnung, daß das Weib vielleicht die Heilung in der Hand habe. +Es wurde also verabredet, daß sie auf besondere Botschaft hin kommen +solle. Nun galt es noch, der Mutter endgültige Zustimmung zu erlangen. +Der Vater wurde nicht ins Vertrauen gezogen; man hoffte es so +einrichten zu können, daß er nichts von dem Besuche erfuhr. Später, +wenn, wie Venne hoffte, eine Besserung eingetreten war, sollte auch er +davon hören. + +Als die Gittermannsche an dem verabredeten Abend vorkam, hätte Venne +ihre Zusage am liebsten zurückgenommen, denn sie sah hier in der +sauberen Wohnung fast noch unheimlicher und schmutziger aus als in +ihrer Behausung. Die Mutter tat ihr doppelt leid, die sich von diesem +Geschöpf behorchen und befühlen lassen mußte. Aber die ließ alles so +teilnahmslos über sich ergehen, daß sie die Einzelheiten gar nicht +wahrzunehmen schien. + +Als die Megäre mit der Untersuchung fertig war, sann sie nach, wobei +sie den schmutzigbraunen Finger an die Nase legte. Venne sah ihr +angstvoll zu, als ob ihr eigenes Leben von dem Ausspruch abhänge. Dann +kramte jene ihre Weisheit aus. + +»Der Fall liegt schwer; doch ich hoffe, das Übel mit der Wurzel zu +fassen. Habt Ihr, Frau, etwa böse Neider oder eine Feindin, die Euch +das Übel angetan hat? Denn ohne Zweifel seid Ihr versehen worden.« + +Frau Richerdes antwortete, sie sei sich nicht bewußt, sich jemandes +Feindschaft zugezogen zu haben, auch wisse sie keinen Menschen, dem +sie so Böses zutrauen könnte. Da legte sich aber Katharina ins Wort. +»Ihr vergaßet das Zigeunermensch, das wir damals fortjagten, weil die +Frau, als sie, Euch wahrzusagen, sich in die Stube gedrängt hatte, es +verstand, sich ein seidenes Tuch anzueignen, das in ihrer Nähe lag. Ihr +waret gutmütig genug, sie straflos laufen zu lassen. Aber ich erinnere +mich noch genau des bösen Blickes, den sie auf Euch warf, und geheime +Worte murmelte sie auch im Weggehen.« + +»Dacht' ich mir's doch,« sagte die Gittermannsche. »Die Zigeunerinnen +verstehen sich besonders auf die Kunst des bösen Blickes, und einen +Zauberspruch wird sie Euch auch noch auf den Hals geschickt haben, +ohne daß Ihr es merktet. Da werden wir es gleich mit kräftigen Mitteln +versuchen müssen, um der Sache Herr zu werden. Und es soll mit dem +Teufel zugehen, wenn es uns nicht gelingt.« + +Bei dem Worte ›Teufel‹ fuhren die Frauen zusammen, und die ängstliche +Katharina erklärte energisch: »Wir sind gute Christen und wollen mit +dem Gottseibeiuns nichts zu tun haben.« + +»Ach, geht mir mit Euren Einwänden,« entgegnete die Gittermannsche. +»Meint Ihr, ~ich~ habe mit dem Teufel zu tun oder will Euch ihm +verschreiben? Aber was von ihm kommt, muß zu ihm zurück. Das werdet +Ihr doch auch wohl gelten lassen, oder wollt Ihr's für Euch behalten? +Ich werde Euch eine Brühe kochen, mit der Ihr Eure Schwelle besprengt. +Daneben reibt Ihr der Kranken die Herzgrube mit der Salbe, die Ihr +gleichfalls bekommen sollt. Die Salbe ist wunderlich zusammengesetzt, +und ihr Geheimnis behalte ich für mich. Die Brühe aber mögt Ihr selbst +kochen; also wisset, wie man's macht. + +Kauft in Gottes Namen eine Muskatnuß, ohne um den Preis zu feilschen, +schneidet sie durch und zerstoßt sie mit Buchenasche, die im Sommer +gewonnen ist. Kocht das Ganze in einem Eimer fließenden Wassers und +gießet es an einem Donnerstag in Gottes Namen auf Eure Schwelle, indem +Ihr also sprecht: + +›Dat et nu vorgae unde dem duvel nicht bestae. Im Namen des vaders +unde des sones unde des hilghen gheistes.‹ Handelt genau nach meiner +Vorschrift und wartet die Wirkung ab.« + +Eine Belohnung wollte die Gittermannsche nicht nehmen, nein, es war ihr +nur um die christliche Barmherzigkeit zu tun, und sie freue sich, einer +so ansehnlichen Frau zu helfen. Katharina aber sorgte dafür, daß ihre +Schürze in der Küche mit allen möglichen nützlichen und schönen Sachen +gefüllt wurde. + +So gewann die Gittermannsche Zutritt und Einfluß im Hause Richerdes. +Hätte die gute Katharina geahnt, welchem Unheil sie damit die Tür +öffnete, sie hätte jene nicht gerufen, selbst nicht um den Preis der +Wiederherstellung ihrer Frau. + + + + +Auf dem Vater Vennes lasteten noch mehr Sorgen als die Krankheit der +Frau. Was er damals dem Ratsherrn Achtermann zugesagt hatte, war in +Verhandlungen mit dem Rate der Stadt herangereift. Richerdes wollte +sein Grubenrecht um zweitausend Mark lötigen Silbers abtreten. Es +handelte sich noch darum, die genaue Abgrenzung seiner Gerechtsame im +Berge markscheiderisch festzulegen. Solange ging der Betrieb auf seine +Kosten weiter. + +Er konnte sich nicht verhehlen, daß der Ertrag immer geringer und +zweifelhafter wurde, und es fiel ihm schwerer und schwerer, die Löhne +und Gelder für Grubenholz aufzubringen. Der Silvane Bandelow, der ihm +so viel von Freundschaft und nachbarlicher Gesinnung vorgeredet hatte, +drohte mit der Einstellung der Holzlieferungen. Die Verhandlungen +mit dem Rat kamen ihm dabei als Ausrede sehr gelegen. »Er habe ja +abgeredet, zu verkaufen; ja, wenn Richerdes das Werk weiterbehalten +wolle, aber so ...« Es mußte also Geld beschafft werden. Die Bekannten +zeigten sich nicht geneigt, zu helfen; auch Achtermann gab unter +allerhand Ausreden nichts her. Da blieb kein anderer Weg offen, als +sich an die gewerbsmäßigen Herleiher zu wenden, wenn es auch vielleicht +unchristliche Zinsen kostete. + +Der Zuzug der Juden nach Goslar wurde von dem Rat immer von Fall zu +Fall und mit zweckdienlicher Zurückhaltung geregelt. Er hatte sich +dabei bislang immer durchaus als ein guter Geschäftsmann gezeigt, der +eine Leistung nicht tut ohne Gegenleistung. Das bedeutet für die +vielgejagten und verfolgten Kinder Israels nichts anderes, als daß sie +zahlen und nochmals zahlen mußten, um die Erlaubnis zur Ansiedlung zu +erlangen. Und da der Kaiser auch für seinen Schutz noch eine besondere +Steuer ihnen auferlegte, so ergab sich für diese Schutzjuden des +Rates und des Kaisers die Pflicht, zu zahlen und zu zahlen, um nur +ein Obdach zu haben. Was Wunder also, daß sie daraus für sich die +Erlaubnis ableiteten, zu nehmen, wo sich's ihnen bot, das heißt, ihren +christlichen Mitmenschen ihre Hilfe in Form von Darlehen um Zinsen zu +gewähren, bei denen jenen leicht der Atem ausgehen konnte. + +Das Ghetto der goslarschen Juden war die Hokenstraße. Dort hausten +sie zusammen, so viele oder so wenige ihrer in der großen Reichsstadt +wohnten, gemieden von den Einwohnern, nur sich selbst lebend und ihren +Geschäften. Verirrte sich ein Christ in diese enge, dunkle Straße, +so geschah es sicher nur, um die Hilfe der Hebräer in Geldsachen in +Anspruch zu nehmen. + +Es war dem ehrenfesten, angesehenen Bürger und Bergherrn Richerdes ein +hartes Angehen, den Weg zu dem Juden Asser anzutreten. Dieser wohnte +mit seinem Weibe Lusse in einem dunklen Hause nach dem Fleischscharren +zu. + +Er trat dem ernsten Mann, der da in der Dämmerung ins Haus trat, mit +all der unterwürfigen Geschmeidigkeit entgegen, die den Leuten seines +Stammes eignet im Verkehr mit anderen, vor deren Stellung und Person +sie sich noch eine Förderung oder Schädigung ihrer Interessen versehen. + +Auf dem Untergrunde seiner lebhaften, dunklen Augen glomm ein Schimmer +wilder Freude, daß wieder einer der Andersgläubigen den Weg zu ihm, +dem Verachteten, Geschmähten, fand in seiner Not und daß er auch in +dessen Schicksal werde eingreifen können, um, wenn die Stunde gekommen +war, den Anteil seiner Rache an dem verfluchten Christenvolk zu üben, +zu der die ein Leben lang getragene Schmach und der durch Jahrhunderte +vererbte Wunsch, den unauslöschlichen Haß zu löschen, trieben. Über die +mißliche Lage seines Gegenübers, den er mit vollendeter Höflichkeit auf +den Ehrenplatz nötigte, war er längst unterrichtet. + +Asser -- die Juden hatten zu jener Zeit noch nicht das Recht, sich +andere Namen zuzulegen -- hörte den Bergherrn ruhig an. Nur das nicht +bezwungene Spiel seiner Augen verriet, daß er bei der Sache war. +Richerdes schloß fast barsch: »Also, Jude, willst Du mir Geld leihen +oder nicht? -- Daß es Dein Schade nicht sein wird, weißt Du selbst am +besten.« + +Auf einmal war Asser ganz zurückhaltender, kühler Geschäftsmann, wenn +er auch in seinen Worten der geschmeidige, unterwürfige Jude blieb. + +»Herr, es ist mir eine große Ehre, die Ihr mir Unwürdigem wollt antun; +aber ich fürchte, ich werde Euch müssen enttäuschen. Jahve hat meiner +Hände Arbeit gesegnet, das ist wahr. Aber was Euch erzählt haben andere +Menschen von meinem Reichtum, ist Fabel. Gott der Gerechte soll mich +strafen an meinem Samen, wenn ich habe in Besitz, was Ihr begehrt. Ihr +wißt, daß der Hohe Rat, daß der Herr Kaiser in Wien haben auferlegt den +armen Juden, große, schwere Lasten zu tragen, als wie will heißen, daß +wir müssen zahlen große Summen, nur daß wir dürfen wohnen an solchem +Ort wie Goslar. Wie soll ich da kommen zu Geld, um es zu geben Ew. +Edelgeboren! + +Auch ist mir bekannt, wie ich habe gehört, daß Eure Sach' nicht stehet +zum besten, daß Euer Bergwerk nicht mehr lohnt die Kosten. Wie heißt +da Geschäft, wenn nichts ist da, als womit man kann sich assekurieren +gegen Verlust?« + +Richerdes schwoll die Ader über dieses Wort, die seine +Zahlungsfähigkeit in Frage stellte. + +»Glaubst Du, verfluchter Jude, ich wäre zu Dir gekommen, um Dich zu +betrügen?« + +»Gott soll mich bewahren, daß ich sollte haben solch schwarzen +Gedanken,« antwortete der andere geschmeidig, »aber man wird doch +dürfen sprechen vom Für und Wider, wenn es sich handelt um ein +Geschäft. So muß handeln ein ehrlicher Jud, der ich bin gewesen all +mein Leben lang, und so wird sprechen jeder Kaufmann, der etwas +versteht vom Geschäft. Mag sein, daß man mir hat geschildert viel zu +schwarz Eure Lage, aber ich muß rechnen, was spricht dafür und was +spricht dagegen. + +Doch ich will Euch helfen, beim Gotte Abrahams, was steht in meinen +Kräften. Wieviel wollt Ihr haben? Vielleicht, daß ich bringe zusammen +das Geld von Freunden unter unseren Leuten. Doch müßt Ihr Euch begnügen +mit weniger. Was wünschtet Ihr doch zu haben, günstiger Herr, daß ich's +noch mal höre?« + +»Hundert Mark Silber«, entgegnete Richerdes kurz, doch etwas +besänftigt. + +»Hundert Mark«, klagte der Jude. »Wo sollte ich hernehmen hundert Mark! +Sagen wir fünfzig, fünfzig Mark. Das ist eine ansehnliche, glatte +Summe, mit der Ihr werdet wirtschaften, bis daß es Euch geht besser +oder Ihr habt Euer Geld vom Hochweisen Rat.« + +»Was weißt Du, Jude, von meinen Verhandlungen mit dem Rat?« fragte der +Bergherr unangenehm überrascht. »Nun nichts für ungut, Ew. Gnaden«, +wandte Asser demütig ein. »Aber man hört ja dies und jenes; es braucht +ja nicht immer zu sein wahr, aber man weiß doch gern, was geht vor +sich.« + +»Also, dann her mit dem Geld«, begehrte Richerdes barsch. + +»Gott der Gerechte,« jammerte da der Jude, »wie soll ich kommen zu so +grausam viel Geld, und wenn ich wollte kehren um mein Haus vom Dach +bis zum Keller. Ich muß es mühselig mir selbst borgen zusammen. Kommt +also morgen oder übermorgen, es abzuholen. Und, daß es nicht werde +vergessen, der Ordnung halber, bringt auch gleich mit das Geschriebene, +daß ich mag ruhig schlafen.« + +»Es ist gut, Asser, ich werde morgen hier sein. Halte das Geld bereit, +der Pfandschein soll Dir nicht fehlen.« + + * * * * * + +Auch das Geld des Schutzjuden Asser vermochte den Lauf der Dinge nicht +aufzuhalten. Das Erzlager in der Richerdesschen Grube lief immer +spitzer zu, und es war der Tag abzusehen, wo sie gänzlich zum Erliegen +kommen würde. + +Mit dem geliehenen Gelde konnte der Bergherr noch einige verzweifelte +Versuche machen, durch Seitenschläge eine andere Erzader zu +erschließen; doch auch diese Anstrengungen verliefen erfolglos. Nun +drängte Richerdes selbst darauf, daß der Rat den Ankauf vollziehe, aber +die Ratsherren waren auch über die Sachlage unterrichtet und trugen +Bedenken, ein so unvorteilhaftes Geschäft für die Stadt abzuschließen. +Vergeblich wies Richerdes darauf hin, daß der Verkauf ohne Vorbehalt +hätte abgeschlossen werden sollen; vergebens auch bemühte er sich, +darzutun, daß in vielen anderen Fällen schon neben einem sich +totlaufenden Lager eine neue Ader gefunden sei, daß mindestens Aussicht +bestehe, auf einer tieferen Sohle zu finden, was auf der jetzigen +abgebaut sei; die Herren blieben bei ihrer Ansicht bestehen, daß der +Vertrag noch nicht abgeschlossen sei und also die daraus für Richerdes +erwachsenden Vorteile nicht gewährt zu werden brauchten. + +Was der Ratsherr Heinrich Achtermann ihm früher als drohendes Gespenst +vorgehalten hatte, um ihn zu einem Verkauf gefügig zu machen, das trat +jetzt trotz seiner Nachgiebigkeit ein: Richerdes, der angesehene Bürger +und Montane, war ruiniert, zahlungsunfähig. + +Das lauteste Geschrei erhob der Schutzjude Asser, der sich um sein Geld +sorgte. Jetzt, wo er glaubte, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen +auf den einst angesehenen Bürger und Christen, zeigte sich der ganze +aufgespeicherte Haß seines Volkes. Er raufte sich das Haar, nannte sich +den unglücklichsten aller Söhne Abrahams und schimpfte seinen Schuldner +einen abgefeimten Spitzbuben und Betrüger. Diese Tonart wurde ihm +allerdings bald verleidet durch eine Buße von mehreren Mark Silber, die +der Rat über ihn verhängte wegen Kränkung eines Christen und bis dahin +unbescholtenen Bürgers. + +Er erhielt auch sein Geld, und zwar zahlte ihn der Ratsherr Heinrich +Achtermann aus. Das geschah allerdings nicht aus christlicher +Barmherzigkeit; er tat es auch nicht der nahen verwandtschaftlichen +Beziehungen wegen, die durch das Verlöbnis nach der Anschauung jener +Zeit als damit bestehend angesehen wurden. Er zahlte, weil er nicht +wollte, daß der Vater der mit seinem Sohne verlobten Tochter in den +Schuldturm wandere. Über die weitere Entwicklung der Dinge war er sich +für seine Person völlig im klaren. Im übrigen sicherte er sich gegen +Verlust durch ein Pfand auf das Anwesen des Bergherren. + +Richerdes war durch das Unglück völlig niedergebrochen. In diesen +Tagen, da das Unheil wie eine schwere Wolke über dem Hause in der +Bergstraße lastete, zeigte sich Venne als eine wahre Heldin. Sie suchte +den Vater aufzurichten, und sie pflegte die Mutter, deren Zustand sich +infolge der Aufregungen immer mehr verschlimmerte. + +Venne hatte niemand, um ihm ihr übervolles Herz auszuschütten, als +die alte Vertraute ihrer Kindheit, die brave Katharina. Noch einmal +wurde die Gittermannsche zu Rate gezogen, noch einmal versuchte es +diese mit einer neuen Salbe, einem neuen kräftigen Spruch; aber das +Ende war nicht aufzuhalten. Als die Blätter im lustigen Todestanze zur +Erde wirbelten, schloß auch diese müde Erdenpilgerin die Augen für +immer. Und es war zu erkennen, daß der Vater, an dem die Schmach der +unschuldig erlittenen Verarmung und Erniedrigung zehrten, sie nicht +lange überleben würde. + +Auch die tapfere Venne drohte dem ungleichen Kampfe mit dem widrigen +Schicksal, in dem sie allein auf dem Plan stand, zu unterliegen. Die +einzige Wohltat, die ihr in dieser Zeit widerfuhr, war die treue +Freundschaft, welche ihr von den Hardts entgegengebracht wurde. + +Auch Immecke Rosenhagen bewies in diesen Tagen der Not, daß sie zur +Stelle sei, wenn man sie brauchen konnte. Sie hatte längst erkannt, daß +der Mutter nicht zu helfen war. Sie half mit einem stärkenden Trank, +mit einer schmerzstillenden Salbe. Was die Gittermannsche anpries, +war in ihren Augen und nach ihren Worten Schwindel. Sie redete den +Frauen auch ab, sich mit der Person einzulassen, da man daraus +Unannehmlichkeiten haben könne. Wenn Venne gegen ihren Rat handelte, so +geschah es aus dem heißen Wunsche heraus, das teure, schwindende Leben +so lange festzuhalten, wie sie konnte. + +Und wo blieb Heinrich Achtermann, der Verlobte Vennes? + +Seine Liebe war nicht geschwunden. Der Schmerz, der über dem süßen +Antlitz Vennes lagerte, je trostloser der Zustand der Mutter wurde, +machte sie ihm noch begehrenswerter. Doch die Pflege der Mutter nahm +sie so in Anspruch, daß sie nur selten Gelegenheit fand, ihn zu +sprechen. In heißem Mitleid schloß er sie dann in die Arme. + +»Mein armes Herz, was kann ich nur tun, um Dir die Last tragen zu +helfen, die Dich erdrücken muß? Laß mir doch den mir gebührenden Anteil +an Deinem Leid. Du weißt, geteilter Schmerz ist halber Schmerz.« + +Venne lächelte ihm dankbar unter Tränen zu. »Du kannst mir nicht +helfen, jetzt noch nicht. Wer weiß, ob es nicht noch schlimmer kommt. +Versprich mir nur das eine, daß Du mich nie verlassen wirst.« + +»Deine Worte verdienen eigentlich Strafe,« zürnte Heinrich. »Hältst +Du mich für einen solchen Schurken, daß ich Dich im Unglück aufgeben +könnte?« + +Beseligt nickte Venne ihm zu: Nein, sie war beruhigt, Heinrich +Achtermann war einer solchen Sünde wider göttliches und menschliches +Recht nicht fähig! + +Der junge Achtermann, dem die Ratsherrnwürde in der Reichsstadt Goslar +so sicher zufallen mußte wie das Erbe seines Vaters, war von der +Aufrichtigkeit seiner Worte selbst völlig durchdrungen. Er liebte Venne +mit all der Innigkeit und Glut, mit der er zuerst die Holde an sein +Herz gezogen hatte. Wer ihm gesagt hätte, er werde die Braut verlassen, +den würde er als persönlichen Feind behandelt haben. Aber er konnte +nicht hindern, daß der Vermögensverfall des Vaters seiner Venne auch +ihn in seine Kreise zog. Es fanden sich gute Freunde, die ihm unter +dem Mantel teilnehmender Worte das Gift ihres Hohnes einträufelten. +Manche vermeintliche oder wirkliche Kränkung, die ihnen von Venne in +der harmlosen Sieghaftigkeit ihrer jugendlichen Anmut unbewußt zugefügt +war, manche Zurücksetzung, die ihretwegen neidische Freundinnen +erfahren hatten, fanden jetzt Gelegenheit zu unschöner Vergeltung. + +Heinrich Achtermann widerstand tapfer; er wies alle Andeutungen, daß +er Venne aufgeben müsse, entrüstet zurück. Aber der Stachel blieb doch +sitzen, und die Überlegung in den stillen Stunden der Nacht konnte +jenen nicht unbedingt unrecht geben: Hatten sie nicht recht, war es +nicht eine sehr zweifelhafte Sache, die Tochter eines verarmten Mannes +zu freien, welcher der schimpflichen Schuldhaft nur durch die Hilfe +des Vaters entgangen war? Und würde es je gelingen, die Lästermäuler +zum Schweigen zu bringen? -- alles Gedanken, deren Gewicht er nicht +verkannte. Ein gewichtiger Helfer aber erwuchs denen, die aus Bosheit +oder Rachsucht das Band zwischen ihm und Venne Richerdes zu zerreißen +suchten, im Vater. + +Der Ratsherr Heinrich Achtermann hatte selbst den Freiwerber für seinen +Sohn gemacht, so hätte ihm Richerdes entgegenhalten können. Er zeigte +sich der Vereinigung geneigt, denn die hübsche Venne tat es auch ihm +mit ihrem Liebreiz an. Zwar war der Bergherr kein reicher Mann, aber +das brauchte bei der eigenen Vermögenslage kein Hindernis zu sein. An +Ansehen standen ihm die Richerdes nicht nach; auch ihre Familie hatte +der Stadt mehr als einen Ratsherrn und Bürgermeister gegeben. + +Das alles änderte sich indes, als der angehende Schwäher ein armer +Mann wurde mit all den unglückseligen Begleitumständen, die wir +kennen. Wandte er auch mit eigenem Gelde das Schlimmste von jenem ab, +so kam der Montane als Verwandter für ihn nicht mehr in Betracht. +Sein Patrizierstolz hätte es nie verwunden, daß man hinter der +Schwiegertochter, wenn auch im geheimen, herzischelte als der Tochter +eines fallit gewordenen Bürgers. + +Achtermann hoffte, daß der Sohn selbst so viel Einsicht haben +werde, das Band zu lösen; er, der Vater, wäre dann wohl auch noch +zu besonderen Opfern bereit gewesen, um die Angelegenheit möglichst +geräuschlos zu regeln. Als er aber zum ersten Male mit Heinrich darüber +sprach, brauste dieser auf und erklärte, er werde nun und nimmer +die Braut im Stich lassen. Der Vater ließ ihn ruhig reden, in der +Überzeugung, daß der Überschwang seiner Gefühle sich unter dem Einfluß +der Zeit schon ausgleichen werde. + +Es war dem Sohne, als ob die kühlen Worte des Vaters, der die Sache +wie ein Geschäft behandelte, Venne selbst in ihrer Abwesenheit +träfen, und er suchte noch am selben Abend Gelegenheit, die Geliebte +seiner unwandelbaren Treue zu versichern. Er fand sie nicht, denn +der Zustand des Vaters -- die Mutter hatte man wenige Wochen vorher +zu Grabe getragen -- erschien ihr gerade an diesem Abend besonders +besorgniserregend. Heinrich ging davon, etwas verstimmt, daß seine gute +Absicht nicht zur Ausführung kam. + +Auch Venne selbst war die Sorge gekommen, ob die Vereinigung mit dem +Geliebten werde zustande kommen; denn auch ihr blieben natürlich die +Demütigungen nicht erspart und versteckte Anspielungen, es sei ihre +Pflicht, den Ratsherrnsohn freizugeben. Es tauchte ihr auch wohl selbst +der Gedanke auf, das Opfer nicht anzunehmen, und herber Trotz gegen +alle Welt, auch gegen den Geliebten, ließ sie mit dem Gedanken spielen, +Verzicht zu leisten. Aber dann quoll die Angst um so heißer in ihr auf +und die Sehnsucht nach dem Geliebten. + +In diesem Widerspruch der Empfindungen traf sie eine Botschaft des +alten Achtermann ins Herz, der ihr zuraunen ließ, sie möge den Sohn +freigeben, er werde sich die Sorge um ihre Zukunft angelegen sein +lassen. Das wirkte wie ein Schlag ins Gesicht auf die stolze Venne. In +ungebändigtem Trotz ließ sie dem Ratsherrn sagen, sie werde sich dem +Sohn nicht an den Hals werfen; das Anerbieten aber, für sie sorgen zu +wollen, weise sie als eine besondere Kränkung zurück. Der Alte ließ +sich dadurch nicht beirren, »Mädchenüberschwang«, dachte er. »Das wird +sich schon zurechtgeben.« + +Heinrich, der Sohn, wußte von dem Vorgehen des Vaters nichts. Er +versuchte mehrmals die Geliebte zu sprechen, erfuhr aber durch +Katharina jedesmal eine mehr oder weniger mürrische Abweisung. Da +setzte er es einmal doch durch, daß er vorgelassen wurde. Venne empfing +ihn mit verweinten Augen. Auf seine Frage, was ihr sei, hielt sie +zunächst zurück. Doch dann durchbrach das aufgehäufte Weh und der Zorn +über die Demütigung die Schranken, und sie klagte mit bitteren Worten +den Vater an. Heinrich war erschrocken und empört, und er bat Venne, +ihm zu vertrauen. + +»Ich schwöre Dir bei allem, was mir heilig ist, daß ich von dieser +Niedertracht nichts weiß und nichts ahnte. Glaube mir doch, Geliebte, +ich stehe zu Dir, und wenn sich alles gegen Dich vereint.« + +Mit heißen Küssen besiegelte er seine Schwüre, und in Venne stieg ein +Gefühl des Glückes auf, blieb ihr doch wenigstens dies Allerschwerste +erspart! + +Zu Hause stellte Heinrich den Vater zur Rede. Der Ratsherr leugnete gar +nicht, daß er wirklich die Botschaft geschickt habe. + +»Wenn die Kinder die Vernunft verlieren, müssen die Eltern für sie +denken und handeln.« + +Heinrich begehrte auf und erklärte, daß er nie und nimmer von Venne +lassen werde, der Vater blieb ganz kühl und ruhig. + +»Vorläufig ist es bei uns noch Sitte und Gesetz, daß die Eltern +bestimmen, was aus ihren Kindern werden soll, und ich lasse mir dieses +Recht nicht schmälern.« + +»Und doch wirst Du mich nicht zwingen. Zuletzt steht mir der Weg in die +Welt offen, und ich werde mit Venne davongehen«, antwortete Heinrich um +so erregter. Da lachte der Vater spöttisch auf: »Das gäbe eine nette +Wandergesellschaft: Du ein Junker Habenichts und sie eine Jungfer +Bettlerin. Da werdet Ihr Euch allabendlich Euer Nest am Straßenrain +bereiten müssen. Aber wir wollen das Thema heute abbrechen, es führt im +Augenblick doch zu nichts.« -- Er wußte, daß die Zeit für ihn arbeiten +werde. + + + + +Das Leben des Bergherrn Richerdes war seit dem Hinscheiden seiner Frau +nur noch ein langsames Sich-zu-Tode-Quälen. Der schon in gesunden +Tagen hagere, große Mann war abgemagert zum Skelett. In gelblichen +Falten lagerte die Haut auf dem Gesicht, aus dem die spitze Nase +drohend hervorragte. Neuerdings litt er an Verfolgungsideen, in denen +der Jude Asser, Achtermann und Karsten Balder die Schreckgestalten +waren. Er weigerte sich, Nahrung zu nehmen, weil er seine Schulden +nicht vermehren wolle; dann wieder hielt ihn der Argwohn davon ab, +seine Feinde könnten Gift hineingetan haben. Die arme, tapfere Venne +durchlebte eine Zeit schlimmsten Martyriums. Endlich, ein halbes Jahr +fast nach dem Heimgange der Frau, glitt auch ihm der Pilgerstab aus den +müden Händen. In seinen letzten, lichten Augenblicken mahnte er noch +Venne, sie solle sein Recht dem Rat gegenüber nie vergessen. »Bedenke, +mein Kind, daß Du es meinem Andenken schuldig bist, dieses Recht zu +verfechten. Versprich es mir in die Hand, es nie aufzugeben, damit ich +ruhig sterben kann.« + +Nun war Venne ganz allein in ihrer Trostlosigkeit und dem Bewußtsein, +daß sie aus dem Kreise aller derer ausscheide, bei denen sie bis zu dem +Unglück ihres Vaters ein gern gesehener und umworbener Gast gewesen. + +Das alles hätte sie noch ertragen, wäre nicht die Angst und die +quälende, beschämende Sorge gewesen, daß auch Heinrich, der Verlobte, +ihr entgleite. Noch halten ihn seine Schwüre, noch kommt er, sie zu +sehen, noch ist er voller Liebe und Mitleid. Sie trinkt seine Küsse wie +eine Verdürstende, wenn er sie umschließt, und hängt an seinem Munde, +um von ihm immer wieder zu hören, daß er sie noch liebe. Begütigend, +tröstend, voll zarter Teilnahme streicht er über ihr Haar und +versichert sie seiner Treue. Und immer wieder drängt es sich aus ihrem +Munde: »Verlaß mich nicht, bleibe mir treu!« + +Und er schwört ihr mit neuem, heiligem Schwur, daß nichts sie trennen +soll, nicht der Vater, nicht die hämische, neidige Welt. Dann seufzt +sie glücklich, wie aus tiefster Seele befreit, auf, und sie schwört ihm +und sich selbst zu, Vertrauen zu haben. Aber kamen dann die dunklen +Stunden der Nacht, lag sie schlaflos auf ihrem Lager, dann stürzten +sich die Zweifel wie gierige Wölfe auf sie und zermarterten ihr armes +Herz. + +Seit dem Tode des Vaters hauste sie allein mit Katharina in dem großen, +leeren Hause. Die Mägde waren entlassen, die Knechte gegangen. Sie +fürchtete sich und hatte die alte Magd gebeten, bei ihr zu schlafen. +Katharina hörte, wie die von ihr über alles geliebte Herrin sich +ruhelos auf ihrem Lager wälzte, sie vernahm ihre Seufzer und ihr +stilles Schluchzen. Sie wäre für Venne in den Tod gegangen, hätte sie +ihr damit das Glück erkaufen können. Verzweifelt drängte sie in Venne, +ihr zu sagen, was sie bedrücke, Venne schwieg. + +»Ist Heinrich Achtermann auch von Dir abgefallen?« fragte sie mit +verbissenem Grimm. + +»Nein, nein, er ist mir treu und wird mich nicht verlassen, wenn man +ihn nicht dazu zwingt.« + +»Wie soll man ihn zwingen, wenn er selbst nicht will? Oder meinst Du, +man könne ihm im geheimen Zwang antun?« + +Venne antwortete nicht darauf, aber Katharina schloß daraus, daß diese +Befürchtung zutreffe. + +»So wird man unsererseits darauf sehen müssen, daß er nicht von Dir +lassen kann«, murmelte sie für sich. Und es ward ihr zur fixen Idee, +daß sie alles daransetzen müßte, um Heinrich bei ihrer Venne zu +halten. Dieser durfte sie von ihren Plänen nichts sagen, Venne würde +es ihr verbieten; aber sie wußte, was sie zu tun hatte. Klang ihr +nicht ein Wort der Gittermannschen in den Ohren: »Ich habe auch Mittel +anderer Art zu Gebote; gilt es zum Beispiel den ungetreuen Liebsten +zurückzubringen oder einen, den man begehrt, an sich zu fesseln, so ist +die Gittermannsche da mit ihrem Spruche.« + +Damals belächelte Katharina diese Anpreisung ihrer Kunst, sie, wie +Venne: Wie sollte sich für diese je die Notwendigkeit bieten, von der +Gittermannschen dunkler Kunst Gebrauch zu machen, da doch Venne auf +dem Gipfel der Glückseligkeit zu stehen und ein Sturz von dieser Höhe +unmöglich schien. + +Jetzt aber war es so weit, und sie suchte die verrufene Alte aufs neue +auf. Zunächst sperrte sie sich und redete von Undank und Gefahr, in die +man sie bringe, denn die alte Katharina hatte ihr, als ihre Mittel sich +bei Frau Richerdes doch nicht bewährten, mit drastischen Worten ihre +Meinung gesagt. Als sie indes vor den Augen der habgierigen Hexe ein +Stück Geld glänzen ließ, änderte sich Wort und Miene der Gekränkten. +Man verabredete die Einzelheiten. + +Natürlich müsse sie den Namen desjenigen wissen, dem das Mittel gelte. +Ungern nannte Katharina den Namen Heinrich Achtermanns, aber die +Gittermannsche bestand darauf. + +»Dachte ich's mir doch«, höhnte die Alte. »Solange das Täubchen im +Glück saß und sein Gefieder goldig schimmerte, war das Herrlein +begeistert; nun, da der Glanz erblichen ist, tritt er den Rückzug an.« + +»Ihr tut ihm vielleicht unrecht«, warf Katharina ein. »Nach dem, was +meine Venne meint, ist es vielmehr der Vater, der sie trennen will.« + +»Natürlich, der dickgeschwollene Protz fürchtet, daß sein Geldsack +eine Falte bekommt, wenn er dem armen Mädchen beisteht. Doch zum Glück +sind wir noch da, wir, die Gittermannsche, und wir wollen es ihm schon +zeigen. Also, die Sache ist so: was ich Euch geben werde, muß Eure +Venne dem Liebsten heimlich beibringen.« + +»O nein, o nein,« wehrte Katharina ab, »das ist schon gefehlt. Die +Venne bringe ich nie dazu, daß sie Heinrich Achtermann etwas eingibt, +um ihn zu fesseln. Das verbietet ihr der Stolz und auch ihr Trotz.« + +»Ei, ist die Schöne noch so wenig kirre?« höhnte das Weib. »Ja, da +wird wenig zu machen sein, wie ich's im Augenblick übersehe. Ich kenne +es bis jetzt nicht anders, als daß das Liebchen sich selbst der Sache +annimmt. Und ich begegnete auch bisher nie einem Widerstreben. Im +Gegenteil, keine hätte einem anderen anvertraut, was ihr selbst dienen +sollte.« + +»Sie ist auch nicht ›keine andere‹, sondern meine stolze Venne,« +entgegnete Katharina, »und was auf andere zutrifft, paßt auf sie noch +lange nicht. Also besinnt Euch, ob es nicht einen anderen Weg gibt, +sonst muß ich auf Euren Dienst verzichten.« Damit ließ sie das Geld in +ihrer Tasche verschwinden. + +Habgierig folgten die Augen der unholden Frau ihrer Bewegung. »Nun, +vielleicht geht's doch, laßt mir nur einen Augenblick Zeit zum +Nachdenken. -- Doch, so wird es sich machen lassen. Venne ist, so sagt +Ihr, dem Verlobten in heißer Liebe zugetan; ihre Gedanken bewegen +sich um ihn. Da kommt es darauf an, daß sie zu der Stunde, wo dem +Bräutigam mein Trank gegeben wird, all ihr Sinnen auf ihn richtet. +Vermögt Ihr das, indem Ihr selbst das Gespräch auf Heinrich Achtermann +bringt, so ist uns geholfen. Und dann bedarf es natürlich noch, was die +Hauptsache ist, einer zuverlässigen dritten Person, die jenem den Trank +verabreicht. Habt Ihr oder kennt Ihr jemand im Hause Achtermann, dem +wir das anvertrauen können?« + +»Daran habe ich schon gedacht, als ich zu Euch kam. Eine alte Bekannte +von mir lebt als Magd im Hause der Achtermanns. Wie ich die kenne, so +hat sie den Heinrich großgewartet. Ihr darf ich mich anvertrauen, und +sie wird sich bereit finden, ihm den Trank zu reichen, vorausgesetzt, +daß er nichts die Gesundheit Schädigendes enthält. Dann würde übrigens +auch ich dazu die Hand nicht bieten«, antwortete Katharina. + +»Meint Ihr, ich wolle mich selbst um den Hals bringen? Vielleicht setzt +es ein wenig Bauchgrimmen; aber auch das ist bei dem kräftigen Mann +nicht zu befürchten. Übrigens sollt Ihr, damit Ihr wißt, daß nichts +Giftiges hineinkommt, das Rezept erfahren, und Ihr mögt, wenn Ihr +wollt, den Trank selbst brauen. Also hört nun.« + +»Nicht doch,« rief Katharina erschrocken, »des vermäße ich mich nicht. +Meine alten Augen möchten mich trügen oder die Hände zittern bei dem +Zumessen der Sachen. Macht ihn nur fertig, ich will das Weitere schon +besorgen.« + +»Ach,« sagte die Gittermannsche, »stellt Euch nicht zimperlich an. +Wollt Ihr es nicht, so tue ich es. Sorgt dann aber, daß er auch von +dem Rechten genossen wird. Immerhin mögt Ihr wissen, was darinnen +sein wird. + +Ihr holt in der ersten Nacht des abnehmenden Mondes einen Eimer +fließenden Wassers, das über Steine floß, und kocht es über drei +Steinen, aus demselben fließenden Wasser genommen. Von dem kochenden +Wasser mischt Ihr, wenn es wieder kalt geworden ist, in etwas Bier, tut +dazu einiges von der Blume Fatur, nehmt auch neun Fliegen, Erde von dem +Kirchhofe und ein Stückchen von der Haut einer Natter, -- ich kann sie +Euch verschaffen. Diesen Trank laßt Ihr dem Bräutigam reichen. + +Da Eure Venne nicht selbst handelnd auftreten soll, so will ich den +Spruch so wählen, daß alles ohne ihr Zutun sich abspielen kann. In +der Nacht darauf, nachdem der Trank gekocht ist, soll ihn Heinrich +Achtermann vorgesetzt bekommen. Ihr aber geht in derselben Stunde unter +einen Ahornbaum und sprecht zugleich, während Ihr in einem von Euch +dort angemachten Feuer stochert, wobei Ihr an Heinrich Achtermann +denkt: + + ›Ahorn du blôte, ik bidde dik dorch dine sote, + Dat ik moge affbreken unde heime dragen + Sin barnede leve in Vennes Schragen.‹« + +Mit einem leisen Grauen hörte Katharina der Frau zu, die mit dumpfer +Stimme den Spruch hersagte. »Ist es auch wirklich nichts Böses, was +ich da tun soll? Und schadet es den beiden nicht?« fragte sie +ängstlich. + +Da fuhr sie jene zornig an: »Nun hört aber endlich auf mit Eurem +Gefasel von ›Schaden tun‹. Ich werde Euch den Trank geben, ob Ihr ihn +dann ausschüttet oder weitergebt, soll mir gleich sein, wenn ich nur +mein Geld bekomme.« + + + + +Venne Richerdes wußte nichts von dem, was die gute Katharina ersonnen, +um Heinrich Achtermann unauflöslich an sie zu ketten. Sie saß in ihren +Gram versenkt in dem düsteren Hause und nahm keinen Anteil an dem +Leben außerhalb desselben. Vom Vater hatte sie den verderblichen Hang +geerbt, im Unglück sich in sich zurückzuziehen, sich mit einer Regung +wollüstiger Gier in die Rolle des Märtyrers zu versenken, ohne ihn +wirklich spielen zu wollen. Sie vergaß, daß sie selbst es war, die +eine Mauer um sich aufbaute durch ihr herbes Sichabschließen gegen die +Nächsten. + +Die Mitmenschen, die gutherzigen, sind wohl geneigt, uns mit ihrem +Trost beizustehen. Nur wenige von ihnen aber geben sich die Mühe, +hinter dem Wall verbitterten Stolzes das wunde Herz aufzusuchen, es in +die Hand zu nehmen und ihm in gütiger Geduld Heilung zu bringen. Sie +urteilen nach dem Schein: Sie will nichts von uns wissen, also mag sie +für sich bleiben! + +Zum Glück für Venne Richerdes lebten ihr aber wahre Freunde in der +Stadt, die sich durch ihre Herbheit nicht abschrecken ließen, sondern +zu ihr durchdrangen und sie, je nach ihrer Gemütsart, durch ruhigen, +sanften Zuspruch oder durch herzhaftes Zugreifen aus ihrem Trübsinn +herauszureißen versuchten. Da war zum Beispiel die gute Immecke +Rosenhagen. Wem die einmal ihr Herz geöffnet hatte, der behielt seinen +Platz darinnen, und die Scheelsucht und Schmähsucht der Welt steigerte +höchstens noch ihre Zuneigung zu dem Mädchen, das es ihr mit seiner +Schönheit, vor allem aber mit seinem freimütigen, gar nicht stolzen +Wesen ihr gegenüber angetan hatte. Jetzt mußte sie ihre Zeit teilen +zwischen dem ›Goldenen Adler‹, wie den unbändigen Enkelkindern und der +einsamen Frau in der Bergstraße. + +Ihr gutes Herz erkannte Venne den Löwenanteil zu. Jeden Tag hockte sie +in dem Hause, das jetzt so still dalag, und suchte Venne aufzuheitern +mit drastischem Zuspruch und weichem, lindem Trost. Merkwürdig, selbst +ihre barschen Worte, wenn sie einmal ungeduldig mahnte, jene solle +nun endlich das Kopfhängen lassen, erreichten mehr als vielleicht +die mitleidig klingende Äußerung eines anderen, der aber nach Vennes +Argwohn die innere Wahrheit fehlte. + +Bei der alten Dienerin erkundigte sie sich nach vielen Einzelheiten, um +den Schlüssel zu der abgrundtiefen Verzweiflung zu finden, in die Venne +versunken war. Katharina verhehlte ihr nicht, daß ihr Verhältnis zu dem +Verlobten wohl der Hauptanlaß sei, und es entschlüpfte ihr auch wider +Willen eine Andeutung über ihr Vorhaben, zu dem die Gittermannsche +die Hand bot. Immecke war erschrocken und riet dringend ab: »Von der +Frau kommt nichts Gutes. Und was sie Euch vorredet von ihrer schwarzen +Kunst, ist eitel Geschwätz. Ihr nützt nichts, richtet aber vielleicht +großes Unheil an.« + +Da wurde Katharina wieder schwankend, denn sie hielt von dem Urteil der +weitgereisten und weltklugen Immecke Rosenhagen viel. Als dann indes +die unheimliche Frau mit ihrem Trank kam, ließ sie sich doch überreden, +ihn ihrer guten Freundin im Hause Achtermann zu geben. + +Aber Immecke war nicht die einzige, die sich der armen Venne annahm. +Auch das Haus Hardt bewies ihr in diesen Tagen, wessen wahre +Freundschaft fähig ist. + +Seit Jahresfrist weilte auch Gisela von Wendelin in der Stadt am +Harz. Sie hatte liebevollste Aufnahme gefunden im Schoße der Familie +Hardt. Auch der Vater, der Arzt, erschloß ihr bald sein ganzes Herz, +nachdem er kurze Zeit die Fremde, die aus weiter Ferne her, gegen +das Herkommen, Einlaß in die goslarsche Gemeinschaft heischte, etwas +zurückhaltend beobachtet hatte. ›Heischte‹ hieß ihr übrigens unrecht +tun; denn sie kam, obwohl die Liebe ihres Johannes sie umhegte, wie ein +schüchternes, verscheuchtes Vöglein, das sein Nest verloren hat. Gerade +diese hilflose Schüchternheit, die sich der Anmut nicht bewußt war, in +die sie gekleidet, gewann ihr die Herzen im Fluge. + +Als Gisela in Goslar eintraf, war im Hause Richerdes noch das Glück +zu Gaste. Zwar siechte die Mutter, aber selbst ihr Leiden wurde +verklärt durch die frohe Erwartung, die sich auf dem Antlitz Vennes +widerspiegelte. Auch der Vater war trotz manchen täglichen Ungemachs +gehobener Stimmung, bestand doch die Aussicht, daß mit dem Verkauf +an die Stadt die Quelle aller Widerwärtigkeiten gänzlich verstopft +werden würde. Dann brach das Unglück über sie herein. Die Bekannten +zogen sich zurück. Freunde, auf die man gerechnet hatte, erwiesen sich +als treulos. Da enthüllte sich die Lauterkeit Giselas am reinsten und +schönsten. War sie schon vorher mit Venne befreundet, so wurde sie ihr +jetzt eine starke Stütze. Sie kannte selbst die Schule des Leides; sie +hatte es an sich selbst erlebt, was es heißt, in der bittersten Not +einsam und verlassen zu sein. Unendliches Mitleid mit der Mitschwester +erfüllte ihr Herz und ließ sie alles versuchen, jene aufzurichten. + +Ihr gegenüber sprach Venne auch von Heinrich Achtermann und ihren +Sorgen. Gisela hatte nur Worte zuversichtlicher Hoffnung. »Wenn er Dich +lieb hat, wie Du es sagst, und wenn er so ist, wie Du ihn schilderst, +verstehe ich Deine Bedenken nicht. Er wird Festigkeit genug in sich +fühlen, um auch den Widerstand des Vaters zu besiegen. Nimm aber +auch Du ihm nicht die Hoffnung, daß Du selbst nicht in dem Kampfe +unterliegen wirst. Mir will es scheinen, als ob Deine Zurückhaltung ihn +kränken, in ihm die Meinung hervorrufen muß, daß Deine eigene Liebe zu +erkalten drohe. Wecke diese Stimmung nicht in ihm, es könnte zuletzt +der Trotz in ihm erwachen und dem Vater ein wertvoller Bundesgenosse +werden.« + +Venne versprach, ihrem Rate zu folgen, und als Heinrich wieder bei +ihr anklopfte, gab sie sich unter dem Eindruck der Zuversicht, welche +Gisela in ihr geweckt hatte. Heinrich, der unter dem Widerstand des +Vaters und der herben Zurückhaltung der Geliebten in einen Widerspruch +der Gefühle gekommen war, der ihn aufs tiefste bedrückte, atmete auf. +Sie verlebten eine Stunde ungetrübten, reinen Glücks. Und Heinrich +schied von ihr mit dem zuversichtlichen: »Du sollst sehen, meine +einzige Venne, auch uns lacht wieder die Sonne.« Da verdarb die gute +Katharina vollends, was sie ehrlich bemüht war, gutzumachen. + + + + +Zu Worms, wo Siegfried um die Burgundentochter gedient und gefreit, wo +Kriemhilde dem meuchlings Erschlagenen dreizehn Jahre nachgetrauert +hatte, ehe sie in ihrem brennenden Schmerze, zur Sättigung ihrer Rache, +sich dem Hunnen Etzel vermählte, zu Worms, der großen Kaiser- und +Reichsstadt, war alles Leben und Bewegung. Wie so oft seit den Tagen, +in denen sich die Rüstungen der reisigen Burgunder in den Fluten des +Rheins spiegelten, war die Stadt ein gewaltiges Heerlager. Aus allen +Gauen des gewaltigen Reiches kamen die Ritter und Herren, die Grafen +und Fürsten, die Äbte, Bischöfe und Erzbischöfe mit ihrem Gefolge, +ihren Gewappneten und dem Troß ihrer Knechte. In der volkreichen Stadt +fanden längst nicht alle Unterkunft. Man schlug außerhalb ihrer Mauern +Zelte auf, um die Gäste unterzubringen. In den Herbergen und Gasthöfen +herrschte ein Leben, wie es selbst Worms kaum gesehen. + +Reichstag! -- Reichstage waren in Worms keine Seltenheit seit +Jahrhunderten. Aber noch nie hatte einer die Welt derart in Spannung +gehalten wie der des Jahres 1521. Eine neue Welt stieg empor. Die alte +stand bereit, ihre Nebenbuhlerin zu bekämpfen und, war es möglich, +zu zertrümmern. Und die Machtmittel der alten waren trotz Verfalls +noch so gewaltig, schrecklich, daß Menschenmut und Menschenkraft +nicht auszureichen schienen, sie zu bezwingen. Woher nun nahm der +unscheinbare Dominikanermönch zu Wittenberg, von dessen Dasein vor +wenig Jahren noch weder Kaiser noch Päpste eine Ahnung gehabt hatten, +den abenteuerlichen Mut, gegen die größten Gewalten der Welt, seitdem +die Menschen sich Fürsten gesetzt und der Autorität einen Thron +errichtet hatten, anzugehen? + +Luther betrat eine Bahn, die nur für ihn selbst neu war. Er wurde +in sie hineingestoßen nach schweren, inneren Kämpfen. Nicht +Effekthascherei, nicht die Sucht nach einem deklamatorischen +Theatererfolge führten ihn nach Worms, sondern die kindliche Gewißheit, +sich mit seinem Gott eins zu fühlen, von seinem Geist und Willen +Zeugnis ablegen zu müssen für das lautere Gotteswort, ließ ihn mit +schier fröhlicher Zuversicht den Weg in die Höhle des Löwen antreten. + +»Mönchlein, Mönchlein, Du gehst einen schweren Gang!« -- Jeder, der +die Unbekümmertheit kannte, mit der die Gewalthaber der römischen +Kirche über Bedenken irdischer Art sich wegzusetzen gewohnt waren, wenn +es galt, das Erbe Petri zu schützen; wie vor ihrem Willen auch ein +kaiserliches Wort sich bog und gebrochen wurde, mochte die Worte des +wackeren Frundsberg verstehen, als er den armseligen Mönch in den Kreis +seiner Feinde treten sah. + +Hätte er freilich die Millionen zu seinem Schutze um sich gehabt, +denen seine Lehre aus dem Herzen gesprochen war, ihm hätte trotz des +Machtaufgebots, das ihn in Worms waffenstarrend erwartete, nicht +bange zu sein brauchen. Nicht nur der gewaltige Kreis der Jünger, bei +denen sein Wort in wenigen Jahren wie eine Fackel gezündet, standen +bereit, sondern die Millionen in allen Ländern des Abendlandes, die +unter dem unerträglichen Joch ihrer Zeit seufzten. Es hatte sich bei +dem armen Bürgersmann wie bei dem Bauern seit Jahrhunderten ein Haß +aufgespeichert, gegen den selbst die sozialen Gegensätze unserer Tage +wie ein Kinderspiel anmuten mögen. Es war der Haß des städtischen wie +des ländlichen Proletariats gegen die Besitzenden, Bevorrechteten, +die Reichen in jeder Gestalt, vornehmlich aber die Geistlichen. Das +›Pfaffenstürmen‹ fand schon lange vor Luther hier und da begeisterte +Anhänger. Schaurig hallten die Verse der Bauern wider, welche durch die +Aufruhrpredigt des ›Pfeiffers von Niklashausen‹ in Bewegung gesetzt +waren: + + »Wir wollen Gott im Himmel klagen, + Kyrie eleison, + Daß wir die Pfaffen nit sollen zu Tode schlagen, + Kyrie eleison.« + +Die Kirche wankte indes darum noch nicht in ihren Grundfesten, es waren +Vorgänge von lokaler Bedeutung. Wehe aber, wenn sich der Mann fand, +der alle diese Kräfte auf ein Ziel hin in Bewegung zu setzen verstand! +Und wehe ihr, wenn er zu diesem Haufen verzweifelnder Existenzen auch +noch das Heer derer gesellte, die nicht um irdischer Vorteile willen, +sondern, um ihr Herz von dem inneren Widerstreit der Gefühle zu +befreien, auf den Rufer harrten, der sie anführe zum Kampf gegen die +verrottete Kirche. + +Die Schäden hatte auch Ernesti, der kluge und weitgereiste Kaufmann, +erkannt und zugestanden; um den endgültigen Sieg der Kirche war +ihm nicht bange. Und doch erwies sich sein Urteil als kurzsichtig. +Das Klagelied von der Pfaffen Übermut und Üppigkeit, von ihrer +Unbildung und Verrohung, von der Priester wie der Mönche und Nonnen +Unflätigkeiten, dieses Lied, das auch die Päpste zu nennen sich nicht +scheute, erklang allüberall und wurde gern gehört und mitgesungen. + +Vielleicht hatten den armen Bergmannssohn zu Eisleben diese Töne schon +umklungen, und sie waren in ihm nachgehallt, als er in brünstigem +Gebet sich in seiner Zelle zu Erfurt wand und um Erleuchtung flehte. +Die Erkenntnis von der Verderbtheit der Diener der Kirche kam ihm, +als er in Rom den Sündenpfuhl sah, in dem jene sich wälzten, und die +Erleuchtung über das, was seine Aufgabe sei, in Wittenberg angesichts +des schamlosen Treibens jenes Ablaßkrämers von Papstes Auftrag, und +durch sein ehrliches, frommes Streben, die Wahrheit zu ergründen. Er +fand sie in seinem Verkehr mit Gott und in dem Worte Gottes, wie es von +den Vätern aufgezeichnet stand. Und im schlichten Vertrauen auf die +Güte seiner Sache folgte er der kaiserlichen Ladung. + +Im Januar schon war der Reichstag einberufen, im Frühjahr brach Luther +gen Worms auf. Überall unterwegs fand er die Spuren der Tätigkeit gegen +sich, die der Kaiser eigenhändig gegen ihn gezeigt hatte. + +Noch dicht vor Worms warnte ihn sein Freund und Landesvater, der +Kurfürst, er solle umkehren, das Schicksal Hus' würde auch das seinige +sein. Aber: »Ich will hinein, und wenn so viel Teufel auf mich zielten, +als Ziegel auf den Dächern sind.« + +Einer der größten Tage der Geschichte brach mit dem 18. April des +Jahres 1521 an, als Luther gegen Abend zum anderen Male, nachdem +er schon tags vorher vor die Reichsversammlung geführt war, in den +bischöflichen Palast geleitet wurde. Im Saale brannten die Fackeln, als +er hineintrat. Vor ihm saß die ganze Herrlichkeit des Reiches und der +Kirche. Der Kaiser mit seinem Bruder Ferdinand, sechs von den sieben +Kurfürsten, achtundzwanzig Herzöge, dreißig Prälaten, viele Fürsten, +Grafen und städtische Abgeordnete. + +Am Tage vorher hatte sich an dem Mönche eine gewisse Befangenheit und +Unsicherheit kundgetan; heute, so glaubte man, werde er widerrufen. + +Die Spannung war ungeheuer bei allen. Mochte auch der junge Kaiser +verächtlich zum Bruder sagen: »Der soll mich nicht zum Ketzer machen«, +er konnte sich, je länger Luther sprach, dem Eindruck nicht entziehen, +daß ein außergewöhnlicher Mensch da vor ihm stehe, ein Mensch +jedenfalls, der irdische Furcht nicht kannte. + +»Der Mönch redet unerschrocken und kühn«, entschlüpfte es ihm während +der Verhandlung wider Willen. + +Ja, wahrlich, der Mann hatte nicht Menschenfurcht in sich. Der +Offizial des Erzbischofs von Trier, Johannes Eck, benahm sich durchaus +gemessen und vornehm, als er Luther die formulierte Frage vorlegte. +Man hoffte, wenigstens einen teilweisen Widerruf zu erreichen. Aber +der Mönch dachte nicht an Widerruf. Mehr und mehr gewann seine Stimme +an Zuversicht, je länger der Disput dauerte. Man sah, hier half kein +Disputieren mehr, kein Zureden noch Freihalten eines Rückzugweges für +den Ketzer, hier mußte die Entscheidung klipp und klar gefordert und +gegeben werden. Und so verlangte denn Eck eine bestimmte, deutliche +Antwort. Und Luther gab sie: »Weil denn Ew. Kaiserliche Majestät und +Ew. Gnaden eine schlichte Antwort verlangen, so will ich eine Antwort +ohne Hörner und Zähne geben ...« + +Atemlose Spannung lag auf den Zügen der Versammlung, die meisten +standen, um sich kein Wort, keine Miene des Mannes da vor ihnen +entgehen zu lassen. Verklärte Freude die einen, verbissene Wut die +Gegner auf dem Gesicht, so lauschten sie, bis das Schlußwort kam, jenes +gewaltige, das sich wie ein brünstiges Gebet und Bekenntnis von seinen +Lippen rang: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. +Amen!« + +Totenbleich war das Antlitz des kühnen Streiters, als er sich vor der +Versammlung verneigte und den Saal verließ, aber es war nicht die +Blässe der Furcht. Überirdisch leuchtete sein Auge: So blickte nur +einer drein, der nicht Menschenfurcht in seinem Herzen trägt, sondern +der weiß, daß Gott in ihm und um ihn ist. + +Gewaltig war der Eindruck seiner Worte auf die Hörer. In vieler Augen +glühte die Begeisterung über den unerschrockenen Gotteskämpfer. In der +äußersten Ecke, wo die Vertreter der Stadt und einige andere Zuschauer +standen, lief ein gedämpftes Flüstern durch die Reihen. »Unglaublich, +dieser Mut«, »herrlich, herrlich«, so klang es aus ihrem Munde. + +Unter den Zuschauern stand auch ein gedrungener Mann, an den sich eine +Frau lehnte, von deren Gesicht man wenig sehen konnte. Der Gestalt +nach war es ein junges Mädchen, das sich wohl auf den Vater stützte. +Unentwegt hatte der Mann dem Mönch ins Auge geblickt, solange er +redete; aufmerksam lauschte die Frau. Die Erregung teilte sich auch +ihnen mehr und mehr mit. Bei den letzten Worten durchlief ein Schauer +die Gestalt der Frau. Besorgt legte der Begleiter ihren Arm in den +seinigen. »Laß uns gehen,« schlug er vor, da schon ein Teil der +Zuschauer sich still entfernte, »es greift Dich an, wie ich sehe.« + +»Ja, laßt uns gehen«, fiel sie eilig ein und drängte zum Ausgange. + +Draußen umfächelte sie die Kühle des Aprilabends; beide atmeten in +tiefen Zügen die frische Luft ein. + +Es waren Venne Richerdes aus Goslar und ihr Oheim Ernesti aus Soest, +die hier in Worms auf die Straße traten, um nach ihrer Herberge zu +gehen. »Das ist ein wahrhaft furchtbarer Mann«, unterbrach Ernesti das +Schweigen. + +»Sagt das nicht, Ohm«, fiel ihm Venne ins Wort. »Wäre es nicht ein +Ketzer und Ketzerei, was er betreibt, so möchte ich rufen: Welch ein +herrlicher, großer Mann! Sahet Ihr nicht die glühende Begeisterung, +die sich auf seinem Gesicht ausprägte? Merktet Ihr nicht, daß ihm +jedes Wort aus dem tiefsten Herzen kam? -- So spricht kein Lügner und +abtrünniger Mönch, der sich seiner Gelübde um irdischer Vorteile willen +entzieht.« + +»Um so schlimmer für ihn und für uns«, antwortete Ernesti fast +feierlich. »Weil er mit den Waffen deutscher Schlichtheit und +Einfachheit ficht, wirkt er um so ansteckender und verheerender. Einem +bloßen Worthelden würde bald der Atem ausgehen und die Gefolgschaft +aufgesagt werden. Wieviel Ärgernis ist durch diesen Mönch schon +über die Kirche gekommen! Das wird er vor dem höchsten Richter zu +verantworten haben, wenn er der irdischen Gerechtigkeit entgeht. -- +Aber die Kirche wird doch zuletzt siegen, weil sie von Gott ist«, +schloß er mit fast demselben Wort, das er einst dem jungen Goslarer +gesagt hatte. + +»Aber wenn er recht hat, müssen doch seine Gegner sich irren,« fuhr sie +zweifelnd fort, »und Ihr sagt doch selbst, daß seine Schlichtheit Euch +gepackt habe. Mir sollte es leid tun, wenn dieser edle Mönch in dem +Kampf zerbrochen würde.« + +»Bist Du auch schon auf dem Wege zu ihm?« fragte er grollend. »Hüte +Dich, solche Gedanken laut werden zu lassen; sie möchten Dir teuer zu +stehen kommen. Denn Du weißt, wir sind aus anderen Ursachen hier, und +die Sache eines Abtrünnigen wird dem gut katholischen Kaiser nicht sehr +am Herzen liegen.« + +»Seid nicht böse, Ohm,« lenkte Venne ein, »Ihr wißt, daß ich so gut wie +Ihr treu zur alten Lehre stehe. Aber ich kann doch nicht dafür, daß +dieser Mann aus Wittenberg einen solchen Eindruck auf mich macht. Ich +bin manchmal fast irre an mir selbst. Ich will bei dem Glauben bleiben, +dem ich mich als Kind gelobt habe, in dem Vater und Mutter gestorben +sind; doch sehe ich, wie alles um mich wankt. Denn auch in Goslar +hängen schon viele der neuen Lehre an. Die Masse des Volkes jubelt dem +Reformator zu. In vielen Häusern zerfällt die Familie in Zwiespalt, +weil die einen noch glauben, was die anderen schon ablehnen. Soll ich +da nicht auch schwankend werden. Zu den schweren Sorgen, die mich schon +bedrücken, ist jetzt noch diese Herzenspein hinzugekommen. Oh, rettet +mich doch aus dieser Not oder, wenn Ihr es könnt, befreit mich von +diesem schrecklichen Zwiespalt.« + +Ernesti sah sie mitleidig an. »Du tust mir von Herzen leid, mein Kind, +helfen aber kannst Du Dir nur selbst. Mit Deinem Gott mußt Du allein +fertig werden. Nimm Dein Herz fest in Deine Hand, blicke nicht rechts +und nicht links; sage Dir immer wieder: Ich will meinem Glauben treu +bleiben! Und Du wirst die Palme erringen.« + +In der Herberge gingen sie bald zur Ruhe, denn sie verspürten keine +Lust, noch an dem lebhaften Meinungsaustausch teilzunehmen, der über +den Mönch und sein Auftreten entbrannt war. + + + + +Vieles war in Goslar vor sich gegangen, seit wir zuletzt Gisela +Hardt und Immecke Rosenhagen bemüht sahen, Venne in ihrem Schmerz zu +trösten. Der Rat hatte neue Scherereien mit dem Herzog Heinrich dem +Jüngeren, der aus dem 1519 erneuerten Schutzvertrage die Verpflichtung +für die Stadt ableitete, ihm zur Vollziehung der über den Bischof von +Hildesheim vom Kaiser verhängten Acht Mannschaft und Geld zu liefern. +Sie mischten sich höchst ungern in diese Sache, denn der Rat hatte mit +der Unruhe in der Stadt genug zu tun. + +Es gor unter dem gemeinen Volk; die Lehre von Wittenberg war auch +nach Goslar gedrungen, und wenn sie noch keine offenen Anhänger fand, +zeigte sich doch die Wirkung in dem Verhalten der Einwohner gegen die +Pfaffen und die Kirche. Bürger wie Proletarier spotteten laut über +die heiligen Reliquien, die zum Peter-Pauls-Tage feierlich gezeigt +wurden. Den Priestern tönten höhnende Worte in die Ohren, wenn sie +sich sehen ließen, und ein paar Nonnen wurde der Schleier abgerissen +und der Rosenkranz weggenommen, als sie in ihr Kloster zurückkehren +wollten. Der Rat ließ die Täter gefangensetzen, aber die Quelle der +Unruhe war damit nicht verstopft. Auch die Fahrt der Venne Richerdes, +die natürlich nicht verborgen blieb, erweckte Unbehagen. Denn, wenn man +sich auch im Rechte ihr gegenüber wußte, so blieb es doch unbequem, vor +dem Reichstage hingestellt zu werden als eine Stadt, die ihren Bürgern +Unbilliges zumute. + +Aber ebenso tief wurzelte in Venne die Überzeugung von ihrem Recht. +Ihr Vater war sein Leben lang ein Ehrenmann gewesen, dem niemand +nachsagen konnte, daß er fremdes Gut an sich gebracht habe. Auf dem +Sterbebette noch beteuerte er, daß der Rat ihm zu Unrecht die Kaufsumme +vorenthalte, und sie hörte seine Mahnung: »Vergiß nicht, Dir mein Recht +zu holen, daß ich ruhig sterben kann.« Sie hatte zunächst in Goslar +alles versucht, um zum Ziele zu kommen. + +Die Rechtslage war zweifelhaft. Der Oheim der Hardts nahm sich ihrer +an und verfocht ihre Sache vor dem Rate, aber er erreichte nichts. +Johannes riet ihr ab, weitere Schritte zu unternehmen; seine Frau +Gisela schloß sich ihm an. + +»Du gehst daran zugrunde, Liebste, laß den Streit. Komm zu uns, bis Du +Heinrich angehören darfst.« + +Doch Venne blieb eigensinnig bei ihrer Absicht, alle Mittel zu +erschöpfen, um dem Vater ihr Wort zu halten. + +Den unmittelbaren Anstoß zu dem Appell an die höchste Stelle im +Reich gab ihr eine jener Äußerungen, die Übelgesinnten so leicht und +schnell vom Munde gleiten. Mit scheinbarem Mitleid, unter dem sich +aber die Schadenfreude nur schlecht verbarg, fragte eine der ewig +lästersüchtigen Nachbarinnen Venne, nachdem sie schon jene über dieses +und jenes auszuforschen versucht hatte, wovon sie denn eigentlich +lebe und weshalb sie sich eine Dienerin halte. Venne, die schon über +die ganze Art der Fragestellerin ungehalten war, gab ihr eine kurze, +ablehnende Antwort. Darauf antwortete jene sehr spitz: »Nun, nur nicht +so hochmütig, Jungfer Obenhinaus, wir haben doch keinen Anlaß, so stolz +zu sein, als Tochter eines Bettlers, der noch dazu die Stadt Goslar um +viel Geld betrügen wollte.« + +Venne ließ die Boshafte hochmütig stehen, aber als sie nach Hause +gekommen war, brach ihre mühsam bewahrte Haltung zusammen, und ein +wildes Schluchzen ließ ihren Körper erbeben: So weit war es also +gekommen, daß man ihres Vaters Ehrlichkeit anzutasten wagte. + +Nun gab es kein Besinnen mehr; sie wollte die höchste Stelle im Reich +um ihr Recht angehen. Wieder riet der Oheim Johannes', der Notar, +ab, und auch jener widersprach ihrer Absicht, doch dieses Mal blieb +sie unbeirrbar bei ihrem Vorhaben. Die Ehre ihres Vaters durfte sie +nicht antasten lassen. Die Freunde wußten sich keinen anderen Rat, als +Heinrich Achtermann ins Vertrauen zu ziehen. Er war in der letzten Zeit +mehrmals im Auftrage des Vaters verreist gewesen und hatte deshalb +Venne längere Zeit nicht gesehen. Heinrich zeigte sich sogleich bereit, +auf Venne einzureden, denn auch er lehnte innerlich den Plan ab. + +Es war eine leichte Entfremdung zwischen den beiden eingetreten, +die der Verlobte auf die herbe Zurückhaltung Vennes zurückführte, +während diese, in ihrer Empfindlichkeit und in ihrem fast krankhaften +Argwohn, überall Geringschätzung und Ablehnung zu wittern, bei ihm +die ersten Anzeichen dafür zu merken glaubte, daß auch Heinrich den +Einflüsterungen Gehör schenke. + +Heinrich gab sich alle Mühe, unbefangen und herzlich zu sein. Auch +Venne konnte sich seiner Aufrichtigkeit nicht entziehen und verlor +allmählich ihre Verstimmung. Als er aber dann auf den eigentlichen +Zweck seines heutigen Besuches zu sprechen kam, nahm sie sogleich +wieder eine kriegerische Haltung an. Was er auch gegen ihre Absicht +anführte, sie kehrte immer wieder zu dem eigensinnigen Einwande +zurück: »Ich habe es dem Vater versprochen und bin es seiner Ehre +schuldig.« + +»Venne, tue es mir zuliebe«, bat er sie. »Du schaffst nur noch +Hindernisse für unsere Vereinigung. Der Vater, der im Rat ist und gewiß +an dem Spruch gegen Deinen Vater mitgewirkt hat, wird es sicher als +besondere Kränkung empfinden, wenn Du jenen verklagst. Ich bitte Dich +herzlich, laß ab von Deinem Vorhaben, dessen Erfolg zudem noch sehr +zweifelhaft ist, wie mir auch die Hardts gesagt haben.« + +Aber sie blieb unerschütterlich. »Hat Dein Vater gegen uns geurteilt, +so muß er überzeugt werden, daß er unrecht tat. Wenn der Spruch, +wie ich hoffe, gegen die Stadt ausfällt, wird er als Ehrenmann doch +hoffentlich eingestehen, daß er irrte.« + +Heinrich sah ein, daß nichts zu erreichen war. Ihm lag daran, mit ihr +noch etwas zu besprechen, was vielleicht sie bewegen konnte, doch von +ihrem Vorhaben abzustehen. Sein Vater hatte nur noch selten mit ihm +über sein Verhältnis zu Venne gesprochen, aber aus allem, was der +Ratsherr sagte, konnte der Sohn klar erkennen, daß derselbe an nichts +weniger dachte als ein Zurückziehen seines Widerspruches. + +In der Tat war Achtermann der Ältere mehr denn je entschlossen, das +Verhältnis zu lösen. Einstweilen hoffte er noch, die Zeit werde ihm +zu Hilfe kommen; Heinrich wußte indes, daß der Vater zur Not auch vor +Gewalt nicht zurückschrecken werde. Die beste Hilfe versprach sich der +Ratsherr von einer längeren Trennung der beiden. Und es kam ihm der +Gedanke, Heinrich von Goslar zu entfernen. Seine Geschäfte reichten bis +London, und es war ihm ein leichtes, einen Grund zu finden, der die +Notwendigkeit des Aufenthaltes des Sohnes dort oder in einem anderen, +entfernten Ort auch diesem als berechtigt erscheinen lassen konnte. +Nun hatte er beiläufig mit Heinrich darüber gesprochen, und dieser, der +die wahre Absicht des Vaters durchschaute, stellte Venne vor, daß ihre +Anwesenheit ihm am Herzen liege, um dem Vater gegenüber die Festigkeit +zu bewahren. + +Sie war erschrocken, aber ihr Trotz verbot ihr, nachzugeben. »Wenn +Du mich liebst, wie Du beteuerst, wirst Du auch ohne mich dem Vater +widerstehen. Vielleicht kommt Dir der Befehl des Vaters ganz gelegen«, +schloß sie in wieder erwachendem Argwohn. + +Da wurde auch der Geliebte zornig. »Du sprichst wie ein ungezogenes +Kind, Venne. Ich habe Dir, denke ich, noch nie den geringsten Anlaß +zu Mißtrauen gegeben. Doch Du machst es mir schwer, unsere Sache zu +verteidigen. Statt bei Dir Unterstützung zu finden in dem Kampf gegen +den Starrsinn des Vaters, setzt auch Du Deinen Trotzkopf auf und +behandelst mich, als hätte ich nicht ein Fünkchen vertrauensvoller +Liebe verdient. Willst Du nicht auf mich hören, so trägst Du die Schuld +an allem, was folgt. Ich gehe jetzt, denn es hat keinen Zweck, gegen +Deine Unvernunft noch länger anzureden.« + +Da brach Venne in haltloses Weinen aus, daß Heinrichs Zorn in Mitleid +zerschmolz. Zärtlich umarmte er sie und sprach ihr tröstend zu. »Ist es +denn so schwer, meine gute, süße Venne, das Trotzköpfchen zu beugen?« + +»Ach, mein Einziger, sei mir doch nicht böse. Ich bin gewiß oft häßlich +und lieblos zu Dir, aber glaube nicht, daß meine Liebe sich gemindert +hat. Du kannst ja nicht in mein Inneres sehen und weißt nicht, wie ich +unter dieser elenden Lage leide. Laß mich noch diesen einzigen Versuch +machen; dann will ich gewiß nichts mehr von der Sache reden.« + +Heinrich sah, daß er nachgeben mußte; so sagte er nur: »Gut, Liebste, +so wollen wir es gelten lassen. Du mußt jedoch damit rechnen, daß Du +mich nicht triffst, wenn Du zurückkehrst. Dann verliere nicht den Mut, +das mußt Du mir versprechen. Ich hoffe, daß wir den Widerstand des +Vaters eher besiegen, wenn ich ihm jetzt zu Willen bin. Sieht er, daß +auch die Trennung unserer Liebe keinen Abbruch tun konnte und bringst +Du vielleicht noch einen Dir günstigen Bescheid mit, so muß er zuletzt +nachgeben.« So endete der Abend mit einer vollen Versöhnung der beiden, +und sie nahmen von einander in alter Zärtlichkeit Abschied. + +Venne traf alle Vorbereitungen zur Reise. Johannes Hardt, der +Rechtsgelehrte, hatte ihr gesagt, daß man gegen reichsunmittelbare +Stände, zu denen die Stadt Goslar als Reichsstadt gehörte, bei dem +Reichskammergericht Einspruch und Klage erheben könne. Er riet indes zu +dem schneller wirkenden Mittel, sich an den Kaiser selbst zu wenden, +was in besonderen Fällen anging. + +Der Reichstag in Worms war für das Jahr 1521 angesetzt. Dort mußte +sich Gelegenheit bieten, ihre Sache vorzubringen, statt sie vor dem +sehr langsam arbeitenden Reichskammergericht zu Frankfurt am Main +entscheiden zu lassen. + +»Habt Ihr einen Fürspruch an dem kaiserlichen Hofe,« sagte Johannes, +»so wird es Euch nicht fehlen, vor den Kaiser gelassen zu werden.« + +Wer konnte da besser helfen als der Ohm Ernesti in Soest! Daher +beschloß Venne, den Umweg über Westfalen zu wählen, um jenen dort +aufzusuchen und ihn zu bitten, sie nach Worms zu begleiten. + +Ernesti war vor geraumer Zeit in Goslar gewesen und hatte verlauten +lassen, daß er künftig weniger in der Welt umherreisen werde, da das +Alter auch ihn allmählich drücke. Sie durfte also hoffen, ihn zu Hause +zu treffen. Und sie zweifelte nicht, daß er ihretwegen sich noch einmal +der Mühe einer Reise unterziehen werde. + +Venne Richerdes reiste ab. Bald nach ihr verließ auch ihr Bräutigam +Goslar. Vor seiner Abreise ereignete sich jedoch noch etwas, was alle +Zukunftspläne über den Haufen werfen sollte. Die alte Katharina hatte +zwischen dem Wunsch, ihrer Venne zu helfen, und dem Zweifel, ob sie +recht tue, der Gittermannschen zu folgen, ihr Vorhaben noch nicht +ausgeführt, obwohl die alte Vettel ihr immer wieder zuredete. + +Als sie nun aber erfuhr, daß Heinrich eine große Reise antrete, +schwanden alle Bedenken. Wer wußte, welche Gefahren draußen auf ihn +lauerten, um seine Liebe zu ertöten! Daher besprach sie mit ihrer +Freundin im Achtermannschen Hause alles Erforderliche, und diese gab +dem jungen Herrn den Zaubertrunk. Doch die Wirkung war eine andere, +als Katharina erwartete. Heinrich erkrankte heftig, so daß man an eine +Vergiftung glaubte. Das war es wohl auch in der Tat. + +Die alte Magd bei Achtermanns erschrak aufs tiefste, denn sie hing +an Heinrich nicht weniger als Katharina an ihrer Venne. Von Angst +getrieben, bekannte sie, was sie angerichtet habe. Der Vater war außer +sich vor Zorn. Er maß natürlich alle Schuld Venne bei. + +»Da siehst Du, mit was für einer Person Du es noch hältst«, höhnte er. +»Wie eine Troßdirne buhlt sie um Deine Gunst. Sie schämt sich nicht des +Umganges mit Hexen und Dunkelmännern. Den Trunk hat ihr gar wohl der +Henker gebraut, zu dem ja alle feilen Dirnen in ihrer Brunst laufen. +Aber die soll mir wiederkommen und auf Deine Hand Anspruch erheben. Vor +das Peinliche Gericht bringe ich sie, den Prozeß lasse ich ihr machen!« +so tobte er. + +Der Sohn versuchte, seine Braut zu verteidigen. »Vater, Du tust Venne +gewiß unrecht. Sie weiß, daß sie sich meiner Liebe nicht erst durch +Zauberei zu versichern braucht. Urteile nicht, bis sie selbst sich +verteidigen kann.« + +Doch da kam er schlecht an. »Meinst Du, das Weibsbild werde ich noch +eines Wortes würdigen. Für mich ist die Sache erledigt, und wehe ihr, +wenn sie es wagt, an der Vergangenheit zu rühren.« + +Heinrich sah ein, daß jetzt nichts zu hoffen war. Nun konnte auch er +allein von der Zeit eine Besserung erwarten. Er war von Vennes Unschuld +überzeugt, aber er grollte ihr doch, daß sie ihn in dieser Stunde, wo +ihr Glück in Scherben zu gehen drohte, allein gelassen hatte. Tief +bekümmert traf auch er seine Anstalten zur Abreise. Er sollte in der +Tat nach London fahren, um am Stahlhof die Achtermannschen Geschäfte +wahrzunehmen. Es galt, sich auf eine lange Abwesenheit einzurichten. +Aber er hoffte, daß bei seiner Wiederkehr die Wetterwolken verzogen +waren. Er würde jedenfalls, das nahm er sich vor, nicht von Venne +lassen. + + * * * * * + +Der Ohm war bereit, Venne zu begleiten. Auch er entschied sich für +Übergehung des Reichskammergerichtes. »Wenn wir die Sache dort anhängig +machen, ist Aussicht vorhanden, daß vielleicht Deine Enkel einmal +den Entscheid erhalten. Der Gerichtshof ist mit so vielen ungleich +wichtigeren Sachen überlastet, daß sich auf die Akten Deines Prozesses +der Staub von Jahrzehnten lagern würde. Wir wollen also versuchen, in +Worms vorgelassen zu werden. Ist uns das Glück hold, so gelingt es mir, +einen der fürstlichen Prokuratoren des Gerichts zu gewinnen, die ja +selbstverständlich auf dem Reichstage auch anwesend sein werden.« + +Obwohl der Reichstag schon Ende Januar eröffnet worden war, kamen +sie doch noch zeitig genug. Zunächst sollten die weltlichen großen +Angelegenheiten erledigt werden. Da galt es zuerst eine Sache des +Herzogtums Württemberg zu behandeln, dessen Herzog Ulrich der +Schwäbische Bund vertrieben hatte; ferner tauchte zum soundsovielten +Male die italienische Frage wieder auf. + +Zur Abwechselung hielt diesmal der Franzosenkönig Franz I., einer der +Mitbewerber Karls um die Kaiserkrone, das Reichslehen Mailand besetzt. +Das bedeutete eine Minderung des kaiserlichen Ansehens, die der junge +Kaiser nicht hinnehmen wollte. Gegen eine entsprechende Gegenleistung +bewilligten ihm die Kurfürsten zwanzigtausend Mann Fußvolk und +viertausend Reiter zu einem Römerzuge. Für den Kaiser aber stand im +Vordergrunde die religiöse Frage. + +Karl V. stand zu dem Vorgehen Luthers anders als sein Vorgänger. +Maximilian I., der 1519 starb, hatte die Anfänge der Reformation +erlebt. Er fühlte eine gewisse Schadenfreude darüber, daß der römischen +Kurie, mit der er nicht besonders stand, durch den Mönchshader +eine große Verlegenheit erstand. Den Mönch Luther gegen den Papst +auszuspielen, das war die kaiserliche Politik. + +Anders Karl. Er empfand den gewaltigen Zulauf, den der Wittenberger +überall fand, als persönliche Kränkung. Zudem darf nicht vergessen +werden, daß er, ehe er deutscher Kaiser wurde, König war des streng +katholischen Spaniens. Nun war der Mönch gehört worden, er hatte nicht +widerrufen. Leider mußte man ihn auf Grund des kaiserlichen Wortes +ziehen lassen. Aber schon am 8. Mai erfolgte durch das Wormser Edikt +seine Ächtung. + +Während Luther auf dem Heimwege von Reisigen des Kurfürsten +aufgegriffen und auf die Wartburg entführt wurde, gingen in Worms +die Verhandlungen weiter. Noch immer kam Venne Richerdes nicht an +die Reihe. In ihrer Herberge wohnte auch der Geheimschreiber des +Bischofs von Hildesheim, ein Herr von Woltwiesche, der mit einigen +Domherren beim Kaiser wegen Aufhebung der kaiserlichen Acht vorstellig +werden sollte. Der Geheimschreiber war ein Mann von bestrickender +Liebenswürdigkeit und weltmännischer Gewandtheit. + +Die schöne Goslarerin machte auf ihn vom ersten Augenblick an einen +tiefen Eindruck. Er hatte bald erfahren, was sie nach Worms führte, und +bot ihr seine Unterstützung an zur Förderung ihrer Sache. Insonderheit +erklärte er sich bereit, ein Gesuch an den Kaiser abzufassen für +den Fall, daß sie nicht Gelegenheit finde, ihre Sache persönlich +vorzutragen. + +Ernesti sprach die bestimmte Erwartung aus, daß dies doch möglich +sein werde; immerhin konnte es nichts schaden, wenn der Fall auch +schriftlich geschickt behandelt wurde. Der Geheimschreiber beeilte sich +also, das Gesuch niederzuschreiben, und der Ohm gestand Venne, daß es +ein Meisterwerk in seiner Art sei. Venne nahm diese Dienste des Herrn +von Woltwiesche mit gemischten Gefühlen an. Ihr gefiel der Mann nicht +recht, trotz aller höflichen Zuvorkommenheit. Sie fing hin und wieder +einen Blick von ihm auf, der voll glühender Begier zu sein schien. +Freilich versuchte er immer sogleich mit einer harmlosen Wendung seine +Ungebühr zu bemänteln. Nie vergaß er bei einem Wort, das er an sie +selbst richtete, die Form peinlichster Höflichkeit und Ritterlichkeit. + +Endlich kam der große Tag für Venne. + +Sie war sehr befangen, als der Augenblick nahte, da sie vor den +mächtigsten Herrscher des Abendlandes treten sollte. Der Oheim sprach +ihr Mut zu, und auch Herr von Woltwiesche suchte sie zu beruhigen. + +Der Kaiser hatte einen leidenden, gequälten Zug im Gesicht. »Was will +dieses Volk der Deutschen eigentlich alles von mir?« so konnte man +seinen müden Blick deuten. »Will es mich schon auf diesem einen und +ersten Reichstage, den ich abhalte, mit seinen Angelegenheiten zu Tode +quälen?« Immerhin bot die Sache eine Abwechselung, da zum erstenmal +eine Frau als Beschwerdeführerin auftrat. + +Ein Prokurator unterrichtete ihn kurz von dem Inhalt der Beschwerde. +»Also soll sie reden!« ordnete er an. Aber zunächst ergriff Ernesti das +Wort. Der Kaiser blickte erstaunt auf: »Wer ist der Mann?« -- Ein neben +ihm Sitzender, es war der Kurfürst-Erzbischof von Mainz, flüsterte ihm +zu, es sei ein sehr einflußreicher Deutscher, der auch dem hochseligen +Herrn Maximilian wohlbekannt gewesen und ihm manche wichtige Dienste +geleistet habe. Geduldig hörte Karl ihn an. Dann erhielt Venne das +Wort. + +Während der Rede ihres Oheims hatte sie Zeit gefunden, sich zu sammeln. +Aber noch jagten sich Erröten und tiefe Blässe auf ihrem Gesicht, als +sie mit leiser Stimme zu sprechen begann. + +Der Kaiser sah sie unverwandt an, und seine Ratgeber merkten, daß ihm +die schöne Frau offensichtlich gefiel. Frei blickte auch Venne dem +Mächtigen ins Gesicht. Mehr und mehr gewann ihre Stimme an Festigkeit. +Sie schilderte die Demütigungen, die ihr widerfahren, die Armut, der +sie durch das Verhalten des Rates von Goslar ausgeliefert sei. Zuletzt +schwoll ihre Stimme zu edler Entrüstung an. + +»Also klage ich den Rat der Stadt Goslar und insonderheit den +Bürgermeister, Herrn Karsten Balder, an, daß sie mir und meinem Vater +gegenüber fleißig und absichtlich das Recht gebeugt haben, auch üble +Nachrede über meinen ehrenwerten Vater und mich ungehindert haben +verbreiten lassen. + +Ich bitte Euch, Großmächtigster Herr Kaiser,« schloß sie endlich, +»Ihr wollet mir armen Waise Euren gnädigen Schutz nicht versagen +und dazustehen, daß mein Recht gewahrt und meines Vaters Ehre +wiederhergestellt werde.« + +Mit einer tiefen Verneigung trat sie einige Schritte zurück. Der +Kaiser blickte ihr einige Augenblicke sinnend nach. Dann besprach +er sich kurz mit seinen Räten. Man sagte ihm, die Sache sei wohl +juristisch nicht ohne weiteres zugunsten der Bittstellerin zu +entscheiden; indes die Verdienste ihres Ohms und die Gutgläubigkeit +bei den Vertragsverhandlungen, bei denen der Vater jedenfalls ohne +Arglist vorgegangen war, wie auch endlich der Umstand, daß durch den +Kauf des Richerdesschen Bergwerksanteils die reiche Stadt Goslar +nicht wesentlich geschädigt werde, zumal man ja nicht wissen könne, +ob nicht trotz der augenblicklichen Lage doch noch bergbauliche Werte +darin enthalten seien, alles dieses lasse es mindestens zu, dem Rate +dringend zu empfehlen, die Sache erneut zu prüfen und in einer die +Erbin befriedigenden Weise zu Ende führe. + +Karl war über diesen Vorschlag erfreut; es hätte ihm leid getan, die +kühne und schöne Bittstellerin abschlägig bescheiden zu müssen. Mit +leutseligen Worten eröffnete er ihr das Ergebnis, gleichzeitig mit dem +Bedeuten, daß sie die schriftliche Ausfertigung schon in aller Kürze +aus der kaiserlichen Kanzlei erhalten könne. Außerdem werde der Rat +noch durch ein besonderes Schreiben unterrichtet werden. + +Voll innigen Dankes eilte Venne zum Kaiser vor, kniete vor ihm nieder +und küßte ihm die Hand mit dem großen Siegelring. Karl war überrascht, +doch lächelte er ihr huldvoll zu; die Beisitzer blickten ebenso +sprachlos drein: so etwas war angesichts der strengen Etikette bis +dahin unerhört. Aber auch sie fanden sich mit dem hübschen Zwischenfall +ab. + +Aufatmend verließ Venne den Saal. Draußen fiel sie in überströmendem +Dank dem Oheim um den Hals. »Das habe ich Euch in erster Linie zu +verdanken, teurer Oheim!« + +»Nun, nun, diese Form der Danksagung lass' ich mir schon gefallen; +doch ich glaube,« fuhr er mit einem leisen Lächeln fort, »Dein +spitzbübisch hübsches Gesicht hat auch ein wenig Anteil an dem Siege. +Und dann vergiß auch hier den Herrn von Woltwiesche nicht, der uns +manch trefflichen Wink gab!« -- So reichte sie auch diesem die Hand. +Ehrerbietig neigte er sich darüber und flüsterte mit leiser, heißer +Stimme: »Wollte Gott, ich dürfte noch mehr für Euch tun. Mein Leben +sollte ein einziges Dienen um Eure Huld sein.« Da wandte sie sich +verletzt von ihm ab. + + + + +Venne trat die Rückreise mit wesentlich leichterem Herzen an, als +sie nach Worms gekommen war. Mit dem Spruche des Kaisers, so meinte +sie, war alles Unheil ausgetilgt. Nun mußte auch der stolze Patrizier +Achtermann seine Bedenken gegen eine Verbindung seines Sohnes mit ihr +aufgeben. Die Wolken, die so düster und unheilschwanger über ihrem +Haupte hingen, begannen sich zu zerteilen! Ihre Gedanken eilten zu +Heinrich: Wo mochte er wohl sein, wenn sie zurückkehrte? Sie gestand +sich ein, daß sie ihm doch wohl oft unrecht getan habe mit ihrer ewigen +Verärgertheit, und sie nahm sich vor, ihn durch verdoppelte Liebe zu +entschädigen. + +Bis Frankfurt reiste sie zusammen mit dem Oheim. Dann nahm er Abschied +von ihr, um durch das Rheintal den nächsten Weg in die Heimat zu +suchen. »Jetzt herrscht hoffentlich bald wieder gut Wetter in Goslar«, +scherzte er. »Übers Jahr spätestens hoffe ich eine Einladung zu Deiner +Hochzeit zu erhalten.« Errötend nickte ihm Venne zu, er traf ja mit +seinen Worten nur ihre eigenen, innigsten Wünsche! + +Vor der Abreise empfahl er seine Nichte dem Schutze ihrer +Reisegefährten, besonders dem des Hildesheimers. Woltwiesche beeilte +sich, zu versichern, daß er sein möglichstes tun wolle, um ihr die +Reise so bequem wie möglich zu machen. Er werde auch den kleinen Umweg +über Goslar nicht scheuen, um sich zu überzeugen, daß sie heil und +unversehrt zu Hause angelangt sei. + +Die Reisegesellschaft war klein. Neben dem Bischöflichen bestand +sie aus einigen Kaufleuten und dem alten Ratsherrn Bertold Sachs +aus Magdeburg. Dieser würde den Weg mit ihr bis fast in die Heimat +zurücklegen. Das war Venne ein wahrer Trost. + +Sie wollte dem Oheim nicht ins Wort fallen, als er den Geheimschreiber +im besonderen zu ihrem Ritter ernannte. Ohne sich im einzelnen über +das Gefühl ihrer Abneigung Aufschluß geben zu können, konnte sie doch +diese innere Ablehnung des ganzen Mannes nicht loswerden. War es sein +geschniegeltes, geziertes Wesen, stieß sie seine übergroße, fast devote +Höflichkeit ab? -- Sie wußte es nicht, aber sie war willens, sich ihm +so fern zu halten, wie es möglich sei. Deshalb schloß sie sich auch vom +ersten Tage an mehr dem Ratsherrn an, dessen väterlich gütiges Wesen +ihr Vertrauen weckte. + +»Sahet Ihr auch den Wittenberger?« brachte er am ersten Tage das +Gespräch auf die Wormser Vorgänge. Venne bejahte und gab ihrer +Bewunderung für den unerschrockenen Mönch Ausdruck. + +»Euch hat es vor allem, wie es scheint, sein Mut angetan. Der war auch +zum Verwundern groß; ich weiß freilich nicht, ob er sich der Gefahr +bewußt gewesen ist, in die er sich begab. Er soll ja, so hört man, +freies kaiserliches Geleit zugesichert erhalten haben; indes wundern +würde es mich nicht, wenn der Mann seine Heimat nicht wiedersieht.« + +»So meint Ihr, daß der Kaiser ihm das Wort nicht hält?« fragte sie +erschrocken, denn ihrem Herzen gab es einen Stoß, daß derselbe Mann, +der sich ihr so gnädig und gütig erwiesen hatte, in diesem Falle gegen +seine Ehre handeln könne. + +»Der Kaiser braucht es nicht zu sein,« fuhr der Magdeburger fort. »Es +gibt ihrer auch ohne den Kaiser genug, die ihm das Leben nicht gönnen +werden, ja sie sind seine Todfeinde. Und ehe sie ihre Macht durch +einen armseligen Mönch zertrümmern lassen, werden sie ihn selbst zu +beseitigen suchen. Den Kaiser braucht darob nicht einmal der geringste +Vorwurf zu treffen; denn wie soll er es verhüten, daß in seinem weiten +Reiche ein Menschlein verschwindet. Schade freilich wäre es um diesen +Mann.« + +»So seid Ihr auch der Meinung, daß er eine gute Sache vertritt?« +forschte sie. + +»›Auch‹, -- demnach hat er es Euch also angetan?« -- Venne errötete ein +wenig, aber der Ratsherr kam ihr zu Hilfe. »Ihr braucht Euch ob Eurer +Teilnahme nicht zu schämen, noch weniger bedarf sie der Erklärung. Wer +einer Wallung in seiner Brust fähig ist, dem mußte das Herz bewegt +werden bei so viel tapferem Freimut und glühender Begeisterung. Ob er +irrt, wer mag es wissen; aber heilige Überzeugung sprach aus jedem +seiner Worte, und seine Worte haben die Herzen derer gepackt, die ihn +hörten, es sei denn, daß sie sich mit Fleiß dagegen verhärteten.« + +»Das trifft auch auf den Oheim Ernesti zu, wie ich merkte«, fügte Venne +schüchtern ein. »Er war ganz wild, als ich ihm zu erkennen gab, daß der +Luther mich erschüttert habe.« Und dann erzählte sie, wie jener ihre +Begeisterung für Luther aufgenommen habe. + +»Das glaube ich,« erwiderte Sachs, »hätte es bei ihm, den ich auch +kenne, nicht anders erwartet. Er ist ja aber auch mit dem Papst und +seiner Sache besonders eng verbunden, wie ich weiß. Und den rechten +Starrkopf hat er obendrein. + +Endlich aber ist er, das wollet nicht vergessen, einer von den Alten, +die so leicht nicht umlernen. Mir ist's ähnlich gegangen: Man wirft +nicht ohne weiteres über Bord, woran man ein langes Leben sein Herz +gehängt. Und vollends nun, wenn es das Beste, Heiligste ist, auf das +man in dieser irdischen Kümmerlichkeit seine Hoffnung setzte. + +Ihr Jungen springt vielleicht mit Jauchzen in das neue Land, aber wir +Abgängigen zaudern, den einen Schritt zu tun, der uns Befreiung bringen +kann von aller Unwahrhaftigkeit und Seelennot, der uns aber auch trennt +von all dem, was uns an das alte Gestade kettet. + +Mir ging ein treues Weib dahin, sie starb im alten Glauben. Wir +begruben gemeinsam drei prächtige Kinder. Es war der Trost meiner +Lebensgefährtin in ihrer Todesstunde, daß sie da oben ihre Lieblinge +wiederfinden würde. Sie wartet auf mich mit gleicher Zuversicht. Soll +ich sie, darf ich sie enttäuschen? Scheide ich mich für ewig von ihnen, +wenn ich den neuen Glauben annehme? Meine Seele drängt zu Luther, mein +Herz bebt zurück vor der möglichen Trennung. Wer löst mich von der +Pein?« + +Wer löst mich von der Pein? -- Das war auch die Last, die ihr eigenes +Herz bedrückte: Der Vater, die Mutter, sie hatten nacheinander den +Pilgerstab aus der müden Hand gelegt und waren durch das dunkle Tor +gegangen, das ihnen, wie sie glaubten und hofften, das Wiedersehen +in einer lichten Welt schenken würde. Und sie, die Tochter, sollte +sie nicht zur Seite ihres Mütterleins stehen, nicht mit dem geliebten +Vater die seligen Freuden des Jenseits genießen dürfen? Und noch ein +irdisches Bangen hemmte ihren Entschluß: Der Geliebte. Die Achtermanns +hingen noch mit aller Zähigkeit am alten Glauben, und Heinrich? Ja, +Heinrich liebte sie, und sie hoffte, in Worms die Hindernisse aus dem +Wege geräumt zu haben, die sich ihrer Vereinigung entgegenstellten. +Errichtete sie nicht eine neue, unübersteigbare Schranke, wenn sie der +Regung ihres Innern nachgab? Und dann auch wieder der Zweifel: War das +nun auch der rechte Weg? Freilich, gedachte sie der feurigen Worte des +Mönches, sah sie seinen weltentrückten Blick vor sich, so fühlte sie +sich als seine Jüngerin, und auch in ihr klang es wieder: »Ich kann +nicht anders, Gott helfe mir! Amen!« + +Der Ratsherr sah die Kämpfe in ihrem Innern; das junge Weib dauerte +ihn, aber Hilfe konnte auch er ihr nicht bringen. »So ist es nun,« +murmelte er, »Licht will er uns bringen, Erlösung, der Feuerkopf, und +stürzt uns doch in das Dunkel der Herzenskämpfe!« Und er ritt, in +ernste Gedanken versunken, fürbaß. + +Venne und ihre Begleiter waren eine geraume Zeit nach Luther von Worms +aufgebrochen. Er saß längst auf der Wartburg in sicherm Gewahrsam, als +man ihn im Reich noch frei wähnte. + +In der Umgegend des Überfalls aber, der von Freunden zu seiner +Sicherheit ausgeführt wurde, lief das Gerücht um, der Mönch sei +aufgehoben und fortgeführt worden, von den Kaiserlichen natürlich, oder +Papisten, so wähnte man. Andere wieder mutmaßten, es sei eine Finte, +die von Freunden und Gesinnungsgenossen ins Werk gesetzt worden sei, um +die Feinde irrezuführen. + +Auch die Reisenden erreichte das Gerücht, als sie sich der Grenze des +Hessenlandes näherten. Venne war tief niedergeschlagen. Sachs seufzte +auf. + +»So haben sich meine Befürchtungen schneller erfüllt, als ich annahm. +Schade um den Mann! -- So schnell also erlosch das Licht, das uns in +der Finsternis aufging!« + +Bei Venne brach sich der Zorn Bahn. »Das ist abscheulich vom Kaiser, +wenn er es veranlaßt hat. Nie hätte ich ihm diese Doppelzüngigkeit +zugetraut!« + +»Es muß ja nicht der Kaiser gewesen sein«, begütigte der Ratsherr. »Ich +sagte Euch: die anderen, die Päpstlichen, sind ihm noch viel ärger +gram. Endlich bleibt noch die geringe Hoffnung, daß ~die~ recht +haben, die da meinen, nicht Feinde, sondern gute Freunde hätten ihn zu +seinem Besten den Streich gespielt. Möge es so sein,« schloß er, »sonst +ist der Menschheit ein großer Verlust widerfahren.« + +»Möchte es so sein!« -- das wünschte auch Venne in ihrem Herzen, und +ihr Gebet am Abend schloß mit der innigen Bitte: »Lieber Gott, erhalte +uns den Mann und errette ihn vor seinen Widersachern!« + + * * * * * + +Während der ersten Tage war der bischöfliche Schreiber durchaus der +aufmerksame Reisemarschall, der sich bemühte, der ihm Anvertrauten das +Reisen so angenehm wie möglich zu machen. Aber als in Fulda einige +der Reisegefährten zurückblieben und sie nunmehr auf den alten Sachs +aus Magdeburg neben Woltwiesche angewiesen war, von dem Diener des +Ratsherrn abgesehen, änderte sich sein Benehmen. Daß er den ganzen Tag +über fast unausgesetzt an ihrer Seite zu bleiben suchte, konnte er mit +dem Auftrage des Oheims begründen, auf seine Nichte Obacht zu geben. +Doch er mißbrauchte jede Gelegenheit, um ihr seine Gefühle für sie +immer eindeutiger zu zeigen. Für eine andere hätte vielleicht diese +Art der Huldigung seitens des adligen Schreibers einen Reiz gehabt, +aber Venne, der auch der ganze Mann widerstand, empfand sie als eine +Belästigung. Als er ihr dann eines Tages unverblümt seine Neigung +gestand, ließ sie ihn sehr ungnädig ablaufen. + +Ihre Ablehnung aber stachelte seine Glut noch mehr an. »Was habt +Ihr gegen mich?« fragte er. »Kann ich Euch nicht ein angenehmes +Leben bieten mit einer Stellung, welche die Eurige in Goslar weit +überragt? Und es muß Euch doch auch daran liegen, aus der leidigen +Stadt herauszukommen, wo Euch alles auf Schritt und Tritt an erlittene +Kränkungen erinnert. Folgt mir nach Hildesheim, Ihr werdet es nicht +bereuen.« + +»Spart Eure Worte, Herr von Woltwiesche, sie sind vergebens gesprochen, +und sie beleidigen mein Ohr. Wollt Ihr aber den Hauptgrund meiner +Ablehnung wissen, so denkt an die Äußerung meines Oheims. Ihr wißt, ich +bin verlobt, und Ihr habt die Rechte eines Dritten zu achten.« + +»Der Teufel hole diesen Dritten, der Euch mir vorweg stahl. Hat er sich +um Euch gekümmert, als Ihr in Worms um Euer Recht kämpftet? Ich stand +Euch zur Seite, ~er~ nicht!« antwortete er grollend. + +»Es ist nicht vornehm von Euch gehandelt, mir Eure Dienste, die ich +zudem nicht beansprucht habe, so ins Gesicht zu rühmen. Aber meinem +Bräutigam tut Ihr unrecht. Hätte er gekonnt, so würde er gewiß dort +nicht gefehlt haben. Doch er ist zur Zeit außer Landes«, wies sie ihn +zurecht. + +»Ha, ha, ha,« lachte der Schreiber höhnisch, »das ist mir der rechte +Liebhaber, der auf Reisen geht, während die Braut um ihr Leben kämpft!« + +Zornig fiel ihm Venne ins Wort: »Was erfrecht Ihr Euch, Herr, so +über den Mann zu sprechen, dem ich verlobt bin! Was wißt Ihr von den +Gründen, die ihn fernhalten? Dankt Eurem Schöpfer, daß er nicht hier +ist, Eure Rede würde Euch schlecht zu stehen kommen.« + +Da in diesem Augenblick der Ratsherr, der vorangeritten war, hielt, +um sich nach ihr umzusehen, brachen sie das Gespräch ab, der +Geheimschreiber voller Unwillen, über Venne wie über den Störenfried. +Sie hielt sich künftig, soweit das ging, noch mehr in der Nähe des +älteren Begleiters. Der Schreiber erkannte ihre Absicht und knirschte +mit den Zähnen, voller Wut, daß seine Absicht durchkreuzt wurde. Er +war durch die Worte Vennes nicht abgeschreckt, sondern wartete nur auf +einen günstigen Augenblick, um seine Pläne wiederaufzunehmen. + +Diese Gelegenheit bot sich erst einige Tage später, als man schon in +die Nähe des Harzes gekommen war. Unversehens drängte er sein Pferd +an das ihrige, und als sie es, unwillig über die erneute Frechheit, +antrieb, fiel er ihr in den Zügel. + +»Ihr müßt mich anhören, und Ihr werdet mich hören«, sprach er +entschlossen und mit wildglühendem Blick. + +Venne war erschrocken über die lodernde Gier, die ihr aus seinem Auge +entgegenfunkelte; doch sie bezwang ihre Furcht und fragte spöttisch +lächelnd: »Habt Ihr an der Absage von neulich noch nicht genug? Ich +meine, Eure Würde als Edelmann sollte Euch abschrecken, eine neue +Demütigung zu erleiden.« + +Aber unbeirrt fiel er ihr ins Wort: »Laßt den Hohn, Venne, Ihr wißt +nicht, welch gefährlich Spiel Ihr treibt. Ihr habt es mir angetan, daß +ich nicht von Euch lassen kann. Könntet Ihr in mein Herz sehen, so +würde Euch mein jämmerlicher Zustand allein schon Mitleid einflößen. +Stoßt mich nicht zurück, Venne, Ihr treibt mich sonst zum Äußersten.« + +»Ich kann meinem Herzen nicht gebieten, daß es Euch gewogen sein soll«, +wehrte Venne ab. »Schämt Euch, daß Ihr Euch von einer flüchtigen Regung +des Augenblicks so knechten laßt, um darüber zu vergessen, was eines +Mannes und Ritters würdig ist.« + +In ihrer Entrüstung erschien sie ihm nur noch schöner und +begehrenswerter. Das Blut stieg ihm in den Kopf, und er verlor die +Besinnung über sich. + +»Was schiert mich Rittertum, was Manneswürde, Dich will ich haben, +Du schönstes Weib!« Damit beugte er sich zu ihr herüber und riß sie +an sich. Venne fühlte seine Lippen auf ihrem Munde brennen. Aber im +nächsten Augenblick riß sie sich los. Zornbebend blitzte sie ihn an und +schlug ihn mit der Reitgerte ins Gesicht. »Schuft!« rief sie ihm zu, +dann sprengte sie davon zu den übrigen. + +Einen Augenblick war der Gezüchtigte wie betäubt, dann aber brannte ihn +die Schmach, die er erlitten. »Das sollst Du mir büßen, Teufelsweib! +Verschmähst Du meine Liebe, so soll Dich meine Rache um so sicherer +treffen!« + +Den Ratsherrn bat Venne, mit ihr künftig allein weiterzureisen, da der +Geheimschreiber sich ungebührlich gegen sie benommen habe. Sachs wollte +jenen zur Rede stellen, aber Venne hieß ihm, davon abzulassen. »Wir +wollen voranreiten, er wird uns nicht folgen.« So geschah es. + + + + +Bei ihren Freunden und besonders bei der alten Katharina herrschte +freudige Überraschung, als Venne in Goslar wieder eintraf. Kurz vor dem +Ende ihrer Reise erlebte sie noch ein Abenteuer, das sich böse anließ, +aber doch harmlos verlief. Sie hatte für den letzten Teil des Weges +Gesellschaft und Schutz an einer Anzahl von Reisenden gefunden, die +über Goslar weiter nach dem Osten wollten. + +Jenseits des Städtchens Seesen, wo die Straße am Fuße der Harzberge +dahinzog, wurden sie plötzlich am hellen Tage von bewaffneten Reitern +angehalten. Da die Angegriffenen sich zur Wehr setzten, wäre es gewiß +zu einem Blutvergießen gekommen. Als die Männer noch in erregtem +Wortwechsel begriffen waren, trat plötzlich ein neuer Ankömmling +auf, der sich durch seine Kleidung von den Angreifern vorteilhaft +unterschied. Überrascht sah er auf die schöne Frau, die erblaßt +inmitten des Tumultes stand. + +Er war der Anführer oder besaß jedenfalls das Ansehen eines solchen, +denn bei seinen ersten Worten gehorchten die wilden Männer sogleich. +»Hört auf«, befahl er. »Die Leute sollen ungestört weiterziehen.« + +Als einer der Räuber nicht sogleich von seiner Beute abließ, fuhr er +ihn mit harten Worten an: + +»Wirst Du Schuft gehorchen, oder willst Du meine Klinge spüren?« + +Sofort stand der Mann von seinem Vorhaben ab. Die Wegelagerer sahen +sich erstaunt an: Was war denn in ~den~ gefahren? Das war ja das +erstemal, daß er ihnen einen schon gelungenen Fang entgehen ließ. Sie +murrten leise untereinander, aber, ihm gegenüber an blinden Gehorsam +gewöhnt, zogen sie ab. + +Die Reisenden wollten für die unerwartete Hilfe danken, doch er wehrte +ihnen ab. Sein Auge hing immer noch an Venne: »Vergebt, schönes +Fräulein, so darf ich Euch doch nennen, daß Ihr die Belästigung +erleiden mußtet; haltet es dem Mangel an Umgang mit Damen zugute, wenn +sie sich ungeschliffen und tölpelhaft benahmen. Aber Ihr seht ja, es +sind im Grunde nur ungeleckte Bären.« + +Nun die Gefahr vorüber war, gewann auch Venne ihre Fassung wieder. Die +Sache kam ihr beinahe belustigend vor, und sie antwortete mit einem +Lachen: »Ich möchte aber doch diesen Bären nicht begegnen, wenn ihr +Führer fehlt. Euch gebührt jedenfalls mein Dank, daß Ihr Euch zur +rechten Zeit einfandet, um sie tanzen zu lehren statt zu brummen. Doch +ist es nötig, daß ich meinen Dank an Herrn ›Niemand‹ richte, oder darf +man Euren Namen wissen, ohne neugierig zu sein?« + +»Wollet gestatten, Fräulein, daß ich für Euch der Herr ›Niemand‹ +bleibe. Was ist ein Name? Ich führe ihrer viele. Der eine aber, den ich +Euch nennen könnte, würde Euch wahrscheinlich schrecken. Also begnügt +Euch mit dem Bewußtsein, daß Ihr einem Abenteuer anheimfielet, bei dem +ein Unbekannter Euch geringe Dienste leisten konnte, ein Unbekannter,« +fuhr er leiser fort, »dem es Eure Schönheit auf den ersten Blick antat +und der vieles darum geben würde, könnte er Euch einmal in einer +wirklich großen Not beistehen. Ich will nicht hoffen, daß ein solcher +Augenblick eintritt. Aber habt Ihr einen Helfer nötig, so ruft mich, +und ich bin zur Stelle.« + +Venne hörte dem Unbekannten mit einer gewissen Neugier zu. Merkwürdig, +die freimütige Art, in der er ihr huldigte, verletzte sie nicht +annähernd so, wie die zierlichen Redewendungen des Herrn von +Woltwiesche es von Anfang an getan hatten. Sein offener Blick schien +trotz des düsteren Handwerks, mit dem er in Verbindung stand, nichts +Falsches zu kennen. Als er geendet hatte, sagte sie, immer noch in +einem fröhlichen, freundlichen Ton: »Aber wo finde ich denn den Herrn +Unbekannt, wenn ich ihn nötig habe?« + +Der Fremde neigte sich zu ihr: »Dann fragt nur bei den Brüdern im +Kloster zum Grauen Hofe nach; dort wird man Euch bescheiden können. +Ihr seht also,« schloß er scherzend, »ich bin nicht immer in so +verwahrloster Gesellschaft.« + +Als Venne den Goslarer Freunden von ihrem Abenteuer berichtete, wobei +sie das Verhalten des Führers, oder was er gewesen, rühmend hervorhob, +sagte Johannes Hardt sogleich: »Das war Hermann Raßler. Der hat +gewiß geglaubt, uns wieder einen Tort antun zu können. Und Du darfst +froh sein, daß Du als Goslarerin so glimpflich davonkamest.« Venne +widersprach: »Ich glaube, daß er mich auch gleich ritterlich behandelt +haben würde, hätte er gewußt, wer ich bin.« + +Die Freude über ihre glücklich erfolgte Heimkehr erlitt einen jähen +Stoß, als sie von dem Unfall hörte, der Heinrich Achtermann vor seiner +Abreise betroffen hatte. Und sie war vollends entsetzt, als sie die +Einzelheiten vernahm, die ihn herbeiführten. Tränen der Scham und +der Verzweiflung füllten ihre Augen. »Wie konntest Du mir das antun, +Katharina! Nun ist alles aus zwischen Heinrich Achtermann und mir. Was +wird er gedacht haben, daß ich ihn an mich kuppeln wollte, wie eine +feile Dirne sich ihren Liebhaber sichert!« + +Katharina war untröstlich über den Schmerz, den sie, die es doch so +gut gemeint hatte, ihrer Herrin bereitete. »Aber ich habe ja längst +versucht, die Sache richtigzustellen und will gern mit dem Ratsherrn +selbst sprechen, wenn Du es verlangst«, wimmerte sie. + +Doch Venne wehrte ab: »Laß um Gottes willen Deine Hände davon. Du +würdest nur noch mehr verderben, als schon geschehen ist. Was noch zu +tun ist, liegt mir selbst ob.« + +Entrüstet und bekümmert erzählte sie den Hardts, was Katharina +angerichtet habe. Diese hatten davon noch nichts gehört. Achtermann +mußte also verboten haben, darüber zu sprechen. Johannes wollte darin +ein günstiges Zeichen sehen, doch Venne teilte diese Auffassung nicht. +»Ihr kennt den Mann nicht in seinem Starrsinn, der an Bosheit grenzt. +Wäre wenigstens Heinrich da, daß ich mich vor ihm rechtfertigen könnte, +dann möchte es sich vielleicht noch zurechtgeben. Aber aufgeklärt +werden muß die Sache, und da ich beschuldigt bin, werde auch ich selbst +diese Aufklärung herbeiführen.« + +Daneben erhob sich die Frage, wie nun ihre Angelegenheit mit dem Rat +behandelt werden müsse. Johannes Hardt stellte sich ihr zur Verfügung, +riet aber, abzuwarten, bis das Schreiben des Kaisers eingetroffen sei. +Inzwischen führte Venne ihren Vorsatz aus und suchte den Ratsherrn +Achtermann auf. Es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, um nicht im +letzten Augenblick umzukehren. Denn das Bewußtsein, daß sie dem Manne +gegenübertreten sollte, der für das Scheitern ihres Lebensglücks +verantwortlich zu machen war, lastete mit erdrückender Schwere auf +ihr. Sie hatte einige Zeit zu warten, bis der Gefürchtete und beinahe +Verhaßte durch eine kleine Seitentür ins Zimmer trat. Sein kühler, +abweisender Blick sagte ihr, daß sie nichts Gutes von ihm zu erwarten +habe. + +»Wie komme ich zu der zweifelhaften Ehre, Euch in meinem Hause zu +sehen?« fragte er mit schneidender Kälte. Venne schoß das Blut ins +Gesicht. + +»Ihr habt kein Recht, mich in dieser verletzenden Art und Weise zu +empfangen, Herr Achtermann«, antwortete sie, sich mühsam beherrschend. +»Ohne triftigen Grund sähet Ihr mich freilich nicht hier. Aber ich +will mich gegen Verleumdungen verteidigen, die man über mich in meiner +Abwesenheit in Umlauf setzte und an denen auch Ihr, wie ich höre, nicht +unbeteiligt seid.« + +»Ich bin gespannt auf diese Verteidigung, wenngleich sie vor mir wenig +angebracht ist«, sagte er mit unverändertem Hohn. + +Venne beteuerte, daß sie von dem ganzen Vorhaben nichts gewußt und erst +jetzt davon gehört habe, zu ihrer großen Beschämung. + +»Ihr müßt schon einen Dümmeren suchen, als Ihr in mir findet, der Euer +Märlein glaubt. Euch auf die Harmlose hinauszuspielen, steht Euch +schlecht an.« + +Da verließ auch Venne die Ruhe: »Daß Ihr ein hartherziger Vater waret, +wußte ich. Daß ihr ein elender Verleumder und Ehrabschneider seid, +erfahre ich zur Stunde. Ich will nicht um Eure Gnade betteln. Sagt mir +nur noch eins auf Euer Gewissen: Teilt Euer Sohn Eure Meinung von mir?« + +Dem Ratsherrn schwoll bei den kühnen und furchtlosen Worten des +Mädchens die Zornesader. »Hütet Euch, mich noch zu reizen, Jungfer +Richerdes; es möchte Euch teuer zu stehen kommen. Noch bewahre ich Eure +Tat bei mir. Gebt mir nicht Anlaß, sie der Öffentlichkeit preiszugeben; +es möchte Euch wenig frommen. Und was meinen Sohn anbetrifft, so könnt +Ihr Euch sein Urteil selbst ausmalen. Eins sollt Ihr wenigstens wissen: +Ehe Ihr in mein Haus als Schwieger einzieht, töte ich meinen Sohn mit +eigener Hand. Aber daß das nicht nötig ist, dafür laßt mich allein +sorgen.« + +Venne war leichenblaß geworden. »Ich danke Euch trotz allem für Eure +Mitteilung. Nun sehe ich wenigstens klar, und Ihr mögt unbesorgt sein, +daß ich Euer Haus je wieder betrete; doch für Eure Kränkungen und +Beleidigungen«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, »sollt Ihr mir +Rechenschaft geben, Herr Achtermann!« + +»Versucht das lieber nicht«, antwortete er grollend. »Seid froh, +wenn ich Euch dazu nicht auffordere. Ich warne Euch vor unbedachten +Schritten; es geht dabei um mehr, als Ihr zu wissen scheint oder wissen +wollt.« + +Zornbebend verließ Venne das Haus. Sie vermochte kaum die Tränen der +Wut und der Empörung zurückzuhalten. Zu Hause aber ließ sie ihrem +Schmerz und ihrer Verzweiflung freien Lauf. Es überfiel sie ein +Weinkrampf, und ihre klagende Stimme gellte durch das leere Haus. Die +gute Katharina wußte sich keinen Rat, und sie weinte aus Erbarmen +ebenfalls zum Herzzerbrechen. + +Zufällig kam Gisela Hardt um diese Stunde. Sie war zunächst ratlos +gegenüber dieser wilden Verzweiflung, ihrem milden Trost und Zuspruch +gelang es doch zuletzt, Venne etwas zu beruhigen. Sie hielt die +Unglückliche in ihrem Arm und tröstete sie, wie man ein weinendes Kind +zur Ruhe bringt. Als sie schied, ging sie mit schwerem Herzen davon. +Denn hier versagte zuletzt wirklicher Trost, der auch das Mittel zur +Heilung anzugeben weiß. + +Als die Botschaft aus Worms eingetroffen war, erhielt Venne eine +Vorladung vor den Rat. Sie fühlte sich durch den Vorgang im Hause des +Ratsherrn so zermürbt, daß ihr alles gleichgültig geworden war. Aber +jetzt feuerte Johannes Hardt sie an, ihr Recht zu wahren. Er erbot +sich, ihr mit allen seinen Kräften zur Seite zu stehen, und er hielt +dieses Versprechen auch ehrlich bis zuletzt, auf die Gefahr hin, daß +sein mannhaftes Eintreten ihm für seine weitere Laufbahn schaden könne. + +Das kaiserliche Schreiben an den Rat war maßvoll gehalten, und es +ließ die Verhandlung zwischen beiden Teilen zu. Man erwog das Für +und Wider, und schon schien es, als ob die Angelegenheit eine für +Venne befriedigende Lösung finden werde. Da machte Achtermann alle +Geneigtheit zunichte durch seinen rücksichtslosen Widerspruch. Er +bewies noch einmal, daß sich die rechtliche Grundlage nicht zugunsten +des Richerdesschen Anspruches geändert habe, und forderte unter +Hinweis auf die Folgen eines solchen Präzedenzfalles Zurückweisung des +Anspruches trotz des kaiserlichen Schreibens. Sein Einfluß siegte, und +Venne erhielt den Bescheid, daß man nicht gesonnen sei, zu zahlen. + +Das Geld würde sie verschmerzt haben, wenngleich sie für die Zukunft +bitterer Armut ausgesetzt war. Daß es ihr jedoch nicht gelingen sollte, +die Ehre ihres Vaters rein zu waschen, das erfüllte sie mit namenlosem +Zorn. Sie hockte in ihrem Zimmer, allein mit ihrer Verzweiflung und +ihrem Grimm. Immer wieder stiegen ihr die Tränen auf in Erinnerung +an all die Schmach, die man ihr angetan, und das Unglück, das sie +unschuldig traf. Johannes Hardt wies sie zurück, und auch Gisela +vermochte mit ihrem sanften Trost nichts über sie. »Laßt mich, Ihr +könnt mir nicht helfen. Ich muß versuchen, allein durchzukommen.« + +Sie berührte kein Essen, immer tiefer fraß sie sich in ihre verbissene +Wut. Von aller Welt kam sie sich verlassen vor, verhöhnt, gehetzt; es +war die richtige Stimmung, um den Menschen zu verzweifelten Schritten +zu verleiten. + +In dieser Stimmung besann sie sich der Worte jenes Fremden, der Hermann +Raßler sein sollte. Er haßte gleich ihr den Rat von Goslar. Bei ihm +würde sie Verständnis für ihre Lage finden. So machte sie sich auf den +Weg zu dem in Waldeseinsamkeit gelegenen Kloster der Grauen Brüder, dem +heutigen Grauhof. + +Man war dort über ihren Prozeß unterrichtet, und es schien, als ob auch +der Fremde schon von ihrer Lage gehört hatte, denn er hatte genaue +Anweisung für den Fall gegeben, daß Venne Richerdes nach ihm frage. + +»Ihr trefft, den Ihr sucht, in Wolfenbüttel in der Herberge zum +›Anker‹. Fragt dort nach Herrn Starke, so wird Euch weitere Auskunft +werden.« + +So trat Venne die Reise nach der herzoglichen Residenz an. Daheim und +den Freunden gegenüber verschwieg sie alles, was sie vorhatte. + + + + +Im Schlosse zu Wolfenbüttel residierte Herzog Heinrich der Jüngere, +wenn er nicht mit seinen Reisigen im Felde lag gegen den Hildesheimer +Bischof, gegen die Vettern seines eigenen Stammes im Kalenbergschen, +im Göttinger Lande oder wo immer Bellona einen Vorteil verhieß und die +Austragung alter Gegensätze erlaubte. Die Mauern und Wälle der guten +Stadt Wolfenbüttel dünkten ihm und seinen Vorfahren noch nicht Schutzes +genug gegen Gelüste, sich an seiner fürstlichen Person zu vergreifen. + +Dem Rat von Braunschweig, wie jedem einzelnen Braunschweiger, traute +er ohne weiteres die Frechheit zu, daß sie, wenn sie es vermöchten, +ohne ehrerbietigen Gruß bei ihm eindringen und ihn als gute Prise mit +sich schleppen würden. So war das Schloß, das sich als ein gewaltiges +Gebäudegeviert um einen kleinen Binnenhof lagerte, noch wieder eine +Festung für sich, umspült von dem breiten Graben eines Okerarmes und +in sich geschützt durch mächtige Mauern und starke Türme, an denen +sich diejenigen, die dennoch die Stadt bezwungen hätten, erst noch +ihre Dickköpfe einrennen mochten, ehe sie vor ihm selbst mit ihren +unhöflichen Forderungen auftreten konnten. + +Im Schlosse selbst lag eine starke Guardia, eine Leibwache, +einquartiert, unter dem Befehl eines Hauptmanns. An den zwei Toren, +die den Einlaß zum Hofe und zum inneren Schlosse freigaben, standen +Wachen, die jeden Ein- und Ausgehenden auf seine Zuverlässigkeit hin +musterten. Ohne genügenden Ausweis gelangte kein Fremder durch das Tor. + +Der Ankömmling, der in diesem Augenblick die Wache unangehalten +passierte, mußte also allen wohlbekannt sein, denn weder machte er +Anstalt zu einer Legitimation, noch wagte einer der Wachleute ihn zu +befragen. Auf dem Kopfe trug er eine dunkle Lederkappe, die mit einem +Reiherstoß geschmückt war. An der Seite hing ihm in goldverziertem +Gehänge der Degen. + +Die Wachen sahen ihm mit schlecht verhehltem Neide und Unwillen nach. +»Das spreizt sich, als ob er des Herzogs leibhaftiger Vetter wäre«, +murrte der Korporal Schünemann, der Wachthabende, zu dem Doppelsöldner +Karsten Süßkind. »Unsereiner ist Luft für den Herrn, als ob man nicht +mit Ehren seine Kampagnen hinter sich hätte.« + +»Er ist ja auch mehr als Ihr und ich, Korporal«, höhnte Süßkind. »Wir +beide haben es noch nicht zum Hauptmann gebracht. Möchte freilich nicht +mit ihm tauschen, denn zum Räuberhauptmann ist sich meiner Mutter Sohn +doch zu schade.« + +»Der Herr Herzog nimmt aber keinen Anstoß daran,« mischte sich ein +dritter ein, »ebensowenig wie der Herr Kriegsrat Tewes, der ja oft mit +ihm konferiert.« + +»Herzog Heinrich wird schon seine Gründe haben, weshalb er den Raßler +so oft bei sich sieht,« verteidigte der Korporal seinen Herrn, »und er +wird mit dem Manne sich nicht weiter einlassen, als sein Interesse es +fordert.« + +Der, von dem die Rede war, bog indes rechts ab in das Schloß und stieg +die Treppe hinauf. Er mußte genau Bescheid wissen, denn er fand sein +Ziel, ohne jemand zu fragen. An dem Zimmer, in welchem der Geheime +Kriegsrat Tewes über Akten und Plänen saß, klopfte er kurz an und trat +auf das »Herein« sofort mit energischem Schritt ein. Tewes blickte auf. +Er ging dem Ankömmling sogleich entgegen. »Sieh da, Herr Raßler,« sagte +er höflich, »das trifft sich gut. Wir hatten Sehnsucht nach Euch«, +setzte er scherzend hinzu. + +Der Herr Kriegsrat galt als hochmütig, und es sprach für die +Wertschätzung, welche Herr Raßler in dem Schlosse genoß, wenn er ihm +das Prädikat »Herr« zuerkannte. + +»Da treffen sich die Wünsche gegenseitig,« entgegnete Raßler, »denn +auch mich trieb es hierher.« + +»Famos, famos,« hüstelte das vertrocknete Männchen, »da können wir +gleich ›in medias res‹, wie der Lateiner sagt, gehen.« + +»Nicht doch, Herr Tewes,« unterbrach ihn Raßler kurz. »Dieses Mal +will ich zuvor mit dem Herzog sprechen. Nachher stehe ich Euch zur +Verfügung.« + +Es gab dem Höfling einen Stich durch das Herz, daß der Unverschämte +den ihm gebührenden Titel einfach unterschlug; aber er wußte, was +der Mann beim Herzog galt, der ein für allemal angeordnet hatte, ihn +recht glimpflich zu behandeln. So zwang er seinen Unwillen nieder und +sagte höflich: »Der Herr Herzog sind im Augenblick sehr beschäftigt +und würden eine Störung unliebsam empfinden. Vielleicht kommt Ihr zu +gelegener Stunde morgen wieder.« + +»Ich denke, Ihr habt Euch nach mir gesehnt, Herr Rat,« fragte Raßler +spöttisch, »da darf doch keine Minute verloren werden; und denkt Euch, +was ich auf dem Herzen habe, erlaubt auch keinen Aufschub.« + +»So will ich versuchen, den Herrn zu melden«, fuhr Tewes gekränkt fort. + +»Tut das, Herr Tewes, aber nehmt es nicht übel, wenn ich alsdann allein +mit dem Herzog zu sprechen wünsche.« + +Raßler fand den Herzog mit einem Apparat beschäftigt, der sein ganzes +Interesse in Anspruch nahm. + +»Sieh da, der Raßler«, sagte er mit kurzem Aufblicken. »Wartet ein +Weilchen; ich bin dabei, diese wunderbare Einrichtung zu studieren. +Wißt Ihr, was es darstellt« fragte er dann, während seine Hände noch +immer an Schrauben und Rädchen drehten und stellten. + +»Es muß wohl mit den Sternen zu tun haben, wie ich sehe. Wohl eines +der neumodischen Dinger, von denen man jetzt so viel reden hört«, +antwortete Raßler. + +»Ganz recht,« fiel ihm Heinrich ins Wort, »es ist ein Astrolabium, mit +dem man sich und anderen das Horoskop stellt, um das eigene oder fremde +Schicksal zu erkunden. Wäre es Abend, so könnte ich Euch ansagen, was +Eurer harrt.« + +»Ich danke, Ew. Gnaden«, antwortete Raßler. »Gebt Euch die Mühe nicht. +Mich verlangt es nicht, im voraus zu wissen, was aus mir wird. Das +nimmt nur die Sicherheit und trübt den Blick.« + +»Wie Ihr wollt, wie Ihr wollt«, sagte der Herzog etwas gekränkt, daß +der Besuch so wenig Gewicht auf seine Neuerwerbung legte. »Mir ist es +jedenfalls von hohem Wert, daß ich im voraus weiß, woran ich bin. Ich +finde mich leidlich mit dem Apparat zurecht. Lieber freilich wäre es +mir, ich hätte einen tüchtigen Astrologen, der würde mir alles noch +zuverlässiger deuten können.« + +»Vielleicht bleibt mir einmal ein solches Menschenkind im Netz, dann +bringe ich ihn spornstreichs hierher.« + +»Sehr gut,« erwiderte Heinrich, »und Ihr könnt unseres Dankes sicher +sein. Übrigens«, fuhr er fort, »kommt Ihr wie gerufen, wir hatten uns +schon nach Euch erkundigt, haben eilige Arbeit für Euch. + +Da ist die Hildesheimer Sache. Die will nicht recht vom Fleck. Ihr +wißt ja, wir haben die Reichsacht auszuführen gegen den störrischen +Bischof. Sehr ehrenvoll, uns den Auftrag zu geben, aber die Mittel +zu finden, überließ man großmütig uns. So sitzt der Herr mit seinem +Krummstab ruhig in Hildesheim und lacht uns aus. Der vertrackte Rat von +Goslar leistet nur widerwillige und mangelhafte Hilfe. Werden uns der +Herren Pfeffersäcke wieder einmal etwas annehmen müssen, um sie kirre +zu machen. Inzwischen sollt Ihr uns helfen, sollt dem Bischof mit Euren +Leuten eine Laus in den Pelz setzen, daß er sich vor Jucken nicht zu +helfen weiß.« + +»Ich stehe Euch zu Diensten, Herr Herzog«, antwortete Raßler. »Ich habe +gerade einen tüchtigen Wurf entschlossener Männer zur Hand, mag sich +wohl rund auf ein Fähnlein belaufen. Doch ich habe dieses Mal auch +einen besonderen Wunsch an Eure Gnaden.« + +Der Herzog, der fürchten mochte, daß er besonders zahlen solle, wehrte +ab. + +»Ihr wißt, Raßler, daß bei dem Handel für uns nichts weiter als die +Ehre abfällt. Eure Leute mögen sich am Beutemachen schadlos halten.« + +Aber Raßler entgegnete: »Ihr irrt, Herr Herzog. Mir selbst ist es +zeitlebens wenig um Schätze zu tun gewesen. Wo ich zuschlug, hatte es +andere Gründe. Doch ich bin es müde, wie ein Wegelagerer durch das Land +zu fahren. Ich habe mich immer als ein ehrlicher Kriegsmann gefühlt und +als solcher gehandelt. An meinen Händen klebt kein Blut, das nicht in +ehrlichem Kampfe Mann gegen Mann verspritzt wäre, und auch meine Leute +hielt ich an, so zu verfahren. Taten sie es nicht immer, so ist es +mir leid, und wo ich es erfuhr, bin ich übel dreingefahren, das dürft +Ihr mir glauben. Nun aber bin ich der Sache überdrüssig. Und ich will +fürderhin auch äußerlich sein, was ich innerlich immer gewesen bin. +Kurz, ich bitte Euch, Herr Herzog, leiht mir Euren Beistand dazu und +macht mich zu Eurem Hauptmann.« + +Der Herzog war überrascht. Das zu hören, hatte er nicht erwartet. Aber +die Sache kam ihm sehr ungelegen. »Das wird doch seine Schwierigkeiten +haben. Seht, Raßler, wir haben doch Rücksichten zu nehmen. Ihr wißt +doch ...« + +»Ich weiß, Herr Herzog.« fiel ihm jener ins Wort, »daß ich als +Räuberhauptmann gelte. Doch Ihr habt nie Bedenken gehabt, mit diesem +zu verhandeln, und ließet Euch seine Dienste gern gefallen. Kommt +es zuletzt auf den Namen an und erscheint Euch der Name ›Raßler‹ zu +abgenutzt, nun, Ihr habt Vollmacht und Namen genug, um einen solchen +auszuwählen, mit dem sich Euer neuer Hauptmann sehen lassen kann.« + +»Aber das ist ja Unsinn, den Namen ändern, Hauptmann werden«, zürnte +der Herzog. »Plagt Euch denn der Ehrgeiz auf einmal, daß Ihr etwas +Besonderes prästieren wollet, oder hat es sonst einen Grund?« + +»Einen Grund hat es schon,« antwortete der Gefragte, »aber Ehrgeiz ist +es nicht oder doch nur zu einem Teil.« + +»Nun so wird er auch wieder vergehen«, meinte Heinrich. »Über ein +kurzes werdet Ihr selbst über Euren Unsinn lachen.« + +»Seid überzeugt, Herr Herzog, daß ich das nicht tun werde. Und nun Eure +Antwort.« + +»Und wenn ich ›Nein‹ sage?« forschte Heinrich. + +»So müßt Ihr Euch zur Stunde einen anderen suchen, der Euch hilft. Ich +rühre keine Hand mehr für Euch.« + +»Teufel,« fluchte der Fürst, »das nenne ich dreist. Ich kann Euch +zwingen und werde Euch zwingen, zu gehorchen.« + +»Das glaubt Ihr selbst bei Hermann Raßler nicht, Herr Herzog«, fiel +jener spöttisch ein. »Also noch einmal, Eure Antwort! Erfüllt meine +Bitte, und Ihr sollt Eure Freude an mir haben. Der Herr Bischof soll +fluchen lernen, als ob er nie das Vaterunser gebetet habe, und Eure +Freunde in Goslar sollen sich ärgern, daß sie platzen. Mit ihnen habe +ich zwischendurch sogar noch ein besonderes Stücklein zu erledigen. +Aber erst Eure Antwort!« + +»So schert Euch an die Arbeit. Ist sie getan, so werde ich Euren Wunsch +erfüllen.« + +»Euer Wort?« versicherte sich Raßler. + +»Auf mein Fürstenwort«, antwortete Heinrich. Da ging Hermann Raßler +vergnügt davon. + + * * * * * + +Im »Anker« erfuhr Raßler, daß ein Frauenzimmer nach ihm gefragt habe. +Das Fräulein, oder was es sei, habe den Anstand und das Auftreten einer +Dame. Er dachte sogleich an Venne, und sein Herz schlug freudig erregt, +daß er sie wiedersehen und ihr vielleicht Hilfe bringen sollte. Bald +darauf kehrte Venne zurück und wurde zu ihm gewiesen. Er begrüßte sie +mit ehrerbietiger Freude. + +»Das nenne ich eine frohe Überraschung, Jungfer Venne Richerdes«, sagte +er mit glänzenden Augen. + +»Ihr kennt meinen Namen?« fragte sie überrascht. + +»Wie Ihr merkt«, antwortete er. »Seit ich Euch sah, bin ich nicht müßig +gewesen, zu erkunden, wer die schöne Unbekannte sei, der ich unweit +Seesen begegnete.« + +»So wißt Ihr wohl auch schon, was mich zu Euch führt?« forschte sie +weiter. + +»Ich glaube es zu wissen«, erwiderte er ernst. »Und Ihr mögt glauben, +daß ich Euch zur Verfügung stehe mit allem, was ich habe und kann.« + +Dann erzählte Venne, wie übel man ihrem Vater und ihr mitgespielt habe. +Raßler unterbrach sie nicht, aber die Ader schwoll auf seiner Stirn, +und seine Fäuste ballten sich bei jeder Kränkung, die ihr widerfahren +war. + +»Das ist abscheulich, das ist gemein gehandelt,« rief er, als sie +geendet, »und dieser Achtermann ist der größte Schuft, den ich je +gesehen. Aber gnade Gott ihm, wenn er mir unter die Fäuste gerät. Euch +wird Euer Recht werden, Jungfer Venne, glaubt es mir, und sollte ich es +vom Himmel herabholen!« + +Hermann Raßler war indes nicht der Mann langer Gefühlsergüsse, wenn es +die Tat galt. Und so fand er sich von seinem Zornesausbruch sehr bald +wieder zum praktischen Leben zurück. + +»Was soll nun geschehn? Habt Ihr schon einen Plan gefaßt?« fragte er +Venne. + +»Nein,« antwortete sie bedrückt, »ich kam zu Euch, um mir Rat zu +holen.« + +»Den sollt Ihr haben, und zwar kurz und bündig. Er lautet: Sagt der +verfluchten Stadt auf, werft ihr den Fehdehandschuh hin, und ich werde +das Werkzeug sein, sie Eure Rache fühlen zu lassen.« + +Venne erschrak vor dem Vorschlag: sie sollte ihre Heimatstadt mit Krieg +und Kampf bedrohen? Der Gedanke kam ihr zu fürchterlich vor. Aber +Raßler verstand es, ihre Bedenken zu zerstreuen. Wieder und wieder +ließ er die Demütigung vor ihren Augen erstehen, deren Opfer sie +unschuldigerweise geworden war. Und außerdem beschwichtigte er sie über +das Blutvergießen, das bei dem Austrag der Fehde eintreten könnte. + +»Nicht darauf kommt es an, daß Menschenleben verlorengehen, sondern +daß den reichen Protzen der Geldsack geschmälert wird. Laßt mich nur +machen. Wo ich sie fassen kann, sollen sie bluten. Ob es nun ihre +Herden sind oder ihre Waren. Nichts, nichts soll sich jetzt noch +ungestraft außerhalb ihrer Mauern sehen lassen. Und selbst in ihrem +Neste will ich ihnen einheizen, daß ihnen der Atem ausgeht.« + +»Aber dann bin ich ja für allezeit von meiner Heimat ausgeschlossen«, +wandte Venne ein. + +»Für längere Zeit ja, für immer aber braucht das nicht zu sein. Ihr +wäret nicht die erste, die einem Orte aufsagt und später doch wieder in +seinen Mauern wohnt. Doch ich sollte meinen, Euch wäre der Appetit auf +Goslar vergangen. Auf jeden Fall sehe ich keinen anderen Weg, Euch zu +Eurem Rechte zu verhelfen, als den der Gewalt.« + +»Vergebt nur, Herr Raßler, wenn ich mich unvernünftig benehme, aber +ich kann nicht so schnell von meinen Gefühlen loskommen. In Goslar +ist alles, was sich für mich mit dem Begriff ›Leben‹ verbindet; dort +sind die Gräber meiner Eltern, dort leben mir auch jetzt noch wahre, +treue Freunde. Alles das soll ich aufgeben, um heimatlos in der Welt +zu stehen? Nein, das kann ich nicht, kann ich wenigstens im Augenblick +nicht. Ich muß, ehe das Schlimme vor sich geht, was Ihr vorschlagt, +alles geordnet haben, will auch noch versuchen, ob ich nicht wenigstens +eine Ehrenrettung des Vaters in irgendeiner Form erreichen kann. +Schlägt auch das fehl, so bin ich zum Äußersten bereit.« + +»Ich kann Euch nicht halten, aber ich will Euch nicht verschweigen,« +entgegnete Raßler, »daß ich in Sorge um Euch bin, solange Ihr in Goslar +weilt. Was Ihr mir von Achtermann erzähltet, läßt mich noch Schlimmeres +befürchten, als es der Zwang ist, den sie Eurem Recht antaten. Auf +jeden Fall bleibt nur so lange dort, als es unerläßlich nötig ist. Ich +warte Eurer indessen. Und wenn Ihr die Stadt verlaßt, so begebt Euch +zum Kloster Riechenberg. Dort werdet Ihr einigermaßen sicher sein. Dort +findet Ihr auch mich selbst oder erfahrt den Ort, wo ich zu treffen +bin. Es wird in der Nähe sein.« + + * * * * * + +Venne Richerdes kam nicht dazu, aufs neue Verhandlungen anzuknüpfen mit +dem Rate oder der Stadt. Von Johannes Hardt erfuhr sie, daß inzwischen +ein Schreiben des Geheimschreibers vom Bischof von Hildesheim, +Woltwiesche, eingetroffen sei, in welchem er sie beschuldigte, den Rat +von Goslar, insonderheit den Bürgermeister Karsten Balder, vor dem +Kaiser in Worms gröblich verleumdet und beschuldigt zu haben. + +»Der Schuft!« das war alles, was Venne zu dieser Niedertracht +sagte. Aber Johannes war in großer Sorge um sie. »Ihr müßt die Stadt +verlassen, denn ich fürchte, daß der Rat Euch verklagen und Euch den +Prozeß machen wird. Und das geistliche Gericht wird Euch vollends seine +Macht fühlen lassen!« + +»Diese schlimmen Männer,« klagte Gisela, »wollen sie denn die arme +Venne gar nimmer in Ruhe lassen? Können wir sie nicht bei uns +verbergen?« meinte sie dann zu Johannes gewendet. + +»Das würde ein schlechtes Versteck sein«, erwiderte ihr Gatte. »Bei uns +sucht man sie zuerst, wenn sie auf der Bergstraße nicht zu finden ist. +Ich fürchte, man wird sie noch anderer, schlimmerer Dinge bezichtigen. +Man will Venne in Wolfenbüttel gesehen haben und vermutet, daß sie mit +dem Herzog konspirierte. Auch murmelte Achtermann noch von besonderen +Sachen, die er vorzubringen habe. Wir mögen uns vorstellen, was er +meint. Und rücksichtslos und nachträglich, wie er ist, kann er allein +aus der Zaubertrankgeschichte Venne ein schlimmes Gebräu zurichten. Ich +rate also, Venne, verlaßt die Stadt, sobald Ihr könnt, am besten noch +heute, ehe man nach Euch fragt.« + +Venne war erblaßt, aber aus ihren Augen blitzte düstere +Entschlossenheit. »Ich danke Euch, Johannes, und Dir, liebe Gisela, +für alles, was Ihr für mich getan habt. Ihr habt recht, Johannes, mir +bleibt nichts übrig, als zu fliehen. Was ich hier vernehme, erleichtert +mir allerdings den Entschluß, den ich zu fassen habe. Ich breche alle +Brücken hinter mir ab, und der Rat mag die Verantwortung für das +tragen, was kommt.« + +»Was hast Du vor?« fragte Gisela ängstlich, und Johannes warnte: +»Venne, begeht keine Unbesonnenheit. Es handelt sich jetzt nur darum, +Euch in Sicherheit zu bringen. Ich werde Eure Sache vertreten und +hoffe, daß Ihr über ein kurzes wieder friedlich unter uns weilen +könnt.« + +Venne lächelte düster zu den Worten Johannes'. »Was ich plane, Gisela, +muß ich für mich behalten. Ich fürchte, die Heimat verliere ich für +immer mit dem Augenblick, wo ich jetzt Goslar verlasse. Aber einmal muß +ich noch in die Bergstraße, um vom Vaterhause und der guten Katharina +Abschied zu nehmen. Ich sah sie noch nicht, seit ich zurückkehrte, und +sie soll wissen, daß ich hier war. Um sie tut es mir besonders leid. +Wollt Ihr mir einen letzten Dienst erweisen, so nehmt Euch der treuen +Seele an, wenn ich fort bin.« + +Die gute Alte war außer sich, als sie hörte, Venne wolle von ihr fort. +»Und ich bin allein schuld an dem ganzen Unheil«, klagte sie sich mit +bitteren Tränen an. + +»Meine gute Katharina,« beruhigte sie Venne, »Du bist nicht schuldig. +Schuld trägt die Bosheit und Schlechtigkeit unserer Feinde und +Widersacher. Soll ich mich denn wehrlos in deren Hände geben? Das +kannst Du nicht wollen, also gib Dich zufrieden und mache mir den +Abschied nicht zu schwer. Ich hoffe, daß wir uns bald wiedersehen. +Inzwischen halte hier gut haus. Und was Du auch über mich hören wirst, +Du weißt, Deine Venne tut nichts, was sie nicht glaubt vor ihrem +Gewissen verantworten zu können.« + +Sie nahm die arme Alte fest in die Arme und streichelte die haltlos +Schluchzende. Dann verließ sie das Haus ihrer Väter. Um ganz +sicherzugehen, wartete sie die Dämmerung ab und schlüpfte dann durch +das Mauerpförtchen an der Frankenberger Kirche, wo sie die Frau des +Wärters ohne Arg hinausließ. + +Ein kurzer Weg führte sie über die Landwehr nach dem Kloster +Riechenberg. Dort wartete ihrer beim Pförtner die Nachricht, daß Raßler +im Kloster sei. Er wurde geholt. In seinen Augen glomm die Freude über +ihre Ankunft. + +»Ich hatte schon Sorge um Euch. Aber nun ist alles gut. Wir werden +noch eine Strecke heute abend zurücklegen müssen, da Euch als Frau der +Zutritt zum Kloster verwehrt ist. Im Amtshause zu Langelsheim, eine +Wegstunde von hier, finden wir Unterschlupf für die Nacht, und morgen +bringe ich Euch an einen Ort, wo wir in aller Sicherheit und Ruhe +erwägen können, welche Schritte zu unternehmen sind.« + +So geschah es. Der herzogliche Vogt in Langelsheim zeigte sich +beflissen, alles nach den Wünschen Raßlers einzurichten. Man merkte, +auch hier galt dessen Wille fast ebensoviel wie das Wort des Herzogs +selbst. + +Am nächsten Morgen brachen sie zu Pferde auf. Venne achtete nicht +darauf, daß einige Reiter nach ihnen ebenfalls aus dem Orte ritten. +Es war die Nachhut, die Raßler sich folgen ließ, um gegen jede +Überraschung gesichert zu sein. Bei dem Dorfe Dolgen verließen sie +die Landstraße und bogen rechts ab, einem kleinen Weiler zu, der in +Waldeinsamkeit träumte. Es war Rohde, eine Siedlung, die aus einigen +Häusern bestand. Auf dem einzigen Hofe kehrten sie ein. Wieder zeigte +sich die Fürsorge Raßlers, denn die Leute waren unterrichtet und hatten +ein Zimmer hergerichtet, in dem trotz aller Einfachheit das Behagen +wohnte. + +Ermattet von dem Ritt in der Sonne, ließ sich Venne am Tische nieder. +Raßler empfahl sich: »Ich lasse Euch allein, damit Ihr Euch ausruhen +könnt. Wenn Ihr etwas nötig habt, ruft nur, die Wirtin wird Euch zur +Verfügung stehen. Mich selbst könnt Ihr zu jeder Stunde erreichen. +Beliebt es Euch, werde ich die Mahlzeit mit Euch einnehmen. Wollt Ihr +allein speisen, so sagt es ruhig. Mir liegt daran, daß Ihr wieder ins +Gleichgewicht kommt. Morgen sprechen wir über alles Weitere.« + +Venne war ihm dankbar, daß er sie allein ließ. Müde streckte sie sich +auf das bereitete Lager nieder. Wild stürmten die Gedanken auf sie +ein, aber allmählich schlief sie infolge der Müdigkeit ein. Doch es +war kein erquickender Schlummer. Wilde Träume durchjagten ihr Gehirn, +und zuletzt wachte sie mit einem Schrei auf. Es hatte ihr geträumt, +sie solle gefoltert werden. Achtermann war der Henker und näherte sich +ihr mit glühender Zange, um sie zu brennen. Auf den Schrei trat die +Wirtin herein und fragte, ob ihr etwas fehle. Venne schämte sich ihrer +Schwäche und bat um das Abendbrot, da sich der Tag dem Ende neigte. +Es war ihr noch ganz unheimlich zumute von dem bösen Traum, und die +Einsamkeit und Stille lastete auf ihr wie ein Druck. Deshalb ließ sie +Raßler ersuchen, er möge mit ihr zusammen essen. + +Raßler bewies, daß er über durchaus gute Manieren verfügte. Er fiel +weder durch eine ungeschickte Bewegung, noch durch ein Wort auf. Zwar +konnte er es nicht hindern, daß sein Blick immer wieder mit Bewunderung +auf ihr ruhte, aber diese Huldigung offenbarte sich so achtungsvoll, +daß sie nichts Verletzendes für Venne enthielt. Es kam bei ihr noch das +Gefühl des Dankes für den Mann hinzu, der sich ihrer in dieser Stunde +der höchsten Not uneigennützig annahm. + +Am nächsten Tage legte er ihr einen Absagebrief an Goslar in aller +Form vor. Er lautete: + + »So sagen wir Euch denn, Stadt und Rat von Goslar, auf; erklären + auch, Euch fleißig heimsuchen zu wollen, wo immer wir können. Auch + beauftragen wir mit der Ausübung unserer Absage den Herrn Hermann + Raßler, als welcher von heute ab, als dem Tage nach St. Antonius, + in meinem Dienste zu stehen sich erkläret. + + Datum zu Rohde, am 10. Tage des Mondes Maji 1500 und im zwanzigsten + und zweyten Jare, + + Venne Richerdes.« + +Dieser Fehdebrief haftete schon am nächsten Morgen am St.-Viti-Tore zu +Goslar und rief in der Stadt ungeheure Aufregung hervor. Man wußte, +wessen man sich von Raßler zu versehen hatte, und Fluchen und Klagen +erscholl überall. Im Rate vernahm man die Absage mit Wut und Grimm, und +Achtermann schwur, wenn man Venne Richerdes ergreife, sie dem Henker +als gemeine Hexe übergeben zu wollen. Wie ernst es dieser aber, wie +vor allem Raßler mit der Ausübung der Fehde war, zeigte sich schon am +Abend, als vor dem Breiten Tore zwei Feldscheunen in Flammen aufgingen. +Man schimpfte auf den Rat, man fluchte auf Venne Richerdes und Hermann +Raßler, aber man hatte sie nicht, um Vergeltung zu üben. + +Venne erfuhr gar nicht, wie inzwischen ihr Beauftragter sein Amt +ausführe. Sie saß im stillen Rohde und ließ die Einsamkeit und Ruhe auf +sich wirken. Am Tage beschäftigte sie sich auch gern mit den Kindern +des Bauern, die, nachdem sie die erste Scheu überwunden hatten, mit +stürmischer Zärtlichkeit an ihr hingen. Das Kleinste saß auf ihrem +Schoß und hielt die Ärmchen um sie geschlungen, als einmal Raßler +dazukam. Überrascht blickte er auf die liebliche Gruppe, dann aber +quoll es heiß in ihm auf: Das war das Bild, das ihm vorschwebte +für die Zukunft. Wenn er diese Frau gewönne, wäre alles ausgetilgt, +was ihm an Häßlichem und Niedrigem im Leben widerfuhr. Dieser Traum +war auch der Anlaß gewesen, weshalb er den Herzog bat, ihn zum +ehrlichen Kriegsmann zu machen. Alles Edle in ihm drängte zum Licht. +Er wollte heraus aus dem Schmutz, in dem er bis an die Knie gewatet +hatte, seitdem man ihn wegen der Jugendstreiche aus der Gesellschaft +ausgeschlossen. + +»Venne, werde die Meine«, das war sein Sehnen. Aber er zwang das Wort +nieder, das sich ihm auf die Lippen drängte. Er wollte das Mädchen +nicht beunruhigen, das sich vertrauensvoll in seinen Schutz begeben +hatte. Erst für sie kämpfen, ihr Recht verschaffen, dann würde er vor +sie hintreten und sie um sein Urteil bitten, das ihn zum glücklichsten +Menschen machen oder der Verzweiflung für immer in die Arme treiben +mußte. Das alte Leben würde er nicht wieder aufnehmen, eine Kugel im +ehrlichen Kampfe sollte auch ihm dann die Erlösung bringen. + + + + +Vier Wochen schon weilte Venne in dem stillen Rohde. Kein Lärm störte +die Einsamkeit. Für die Sicherheit sorgten Posten, die in unauffälliger +Weise den Ort bewachten. Nichts gemahnte sie daran, daß sie im Kampf +lag mit ihrer Heimatstadt. Raßler kam, so oft er konnte. Auf ihre +Frage, wie es in Goslar stehe, antwortete er nur immer kurz. + +»Es steht gut. Alles andere mag Euch nicht bekümmern. Ist es an der +Zeit, so sollt Ihr schon hören, was vor sich geht. Jetzt denkt nur +daran, Euch zu pflegen. Ihr seht mir immer noch etwas mitgenommen aus.« + +Venne blickte ihn sinnend an: »Was seid Ihr nur für ein Mensch, daß Ihr +Euch für mich aufopfert. Und Euch sagt man so viel Schlechtes nach! +Könnte ich Euch doch meinen Dank abstatten. Aber ich werde immer in +Eurer Schuld bleiben.« + +»Vielleicht mache ich einmal meine Forderung geltend. Hoffentlich +schreckt Ihr dann nicht vor der Größe derselben zurück!« antwortete +er. Dabei sah er ihr mit einem innigen Blick ins Auge. Venne errötete, +sagte aber nichts. + +In Goslar war derweilen ihr Name und der Raßlers auf aller Lippen. +Fast keine Woche verging, in der man nicht über irgendeinen Schaden zu +klagen hatte. Da war ein Warenzug trotz reisiger Bedeckung überfallen +und weggenommen worden, dort ein Teil der Herde weggetrieben. Klagen +und Jammern, wohin man hörte; es wagte sich fast niemand mehr aus der +Stadt heraus. Johannes Hardt und sein Weib waren tief bekümmert über +die Vorgänge, denn Venne versperrte sich damit den Weg der Rückkehr +für alle Zeit. Und es erschütterte sie, daß jene sich in die Hand des +Räubers gegeben und so viel Unheil über ihre Vaterstadt gebracht hatte +und noch anrichtete. + +»Das hätte sie nie und nimmer tun dürfen,« sagte Johannes. »Lieber +Unrecht leiden, denn Unrecht tun. Sie kann sich jetzt nicht mehr +beklagen, daß man ihr übel mitgespielt habe. Was sie der Stadt angetan +hat, wiegt den Schaden hundertfältig auf, den sie erlitt. Sie soll sich +nur hüten, sich noch einmal in die Hände des Rates zu geben; ihr kann +niemand mehr helfen.« + +Auch Gisela war tieftraurig, daß die Freundin diesen Weg gegangen. Und +auch ihre selbstlose Liebe fand kaum noch eine Entschuldigung für +Venne. + +Bei dieser selbst regte sich langsam die Sehnsucht nach der Heimat. + +»Oh, könnte ich nur einmal noch die Türme meiner Heimat sehen; einmal +nur noch die trauten Räume des Vaterhauses betreten!« seufzte sie in +stillen Stunden. Noch zwang sie das Heimweh nieder, aber es pochte +immer gebieterischer an ihr Herz. + +Als sie Raßler eine Andeutung machte, wehrte er erschrocken ab: »Ihr +ahnt nicht, welche Stimmung in Goslar gegen uns herrscht. Man würde +Euch steinigen, bekäme man Euch zu Gesichte.« + +Da schwieg sie betrübt, doch die Sehnsucht war nicht verflogen. + +Wieder verstrichen die Wochen, und immer tiefer wurden die Seufzer und +immer größer der Schmerz um die verlorene Heimat. Da sagte sie eines +Tages entschlossen zu Raßler: »Ich halte es nicht länger aus. Schafft, +daß ich nur einmal, und sei es nur auf eine Stunde, nach Goslar komme +und die alte Katharina sehe und spreche, dann will ich gern wieder +still sein.« + +Raßler wehrte mit aller Entschiedenheit ab. »Um Gottes willen, Venne, +steht ab von Eurem Vorhaben. Es ist Euer Verderben. Die Goslarer sind +mehr denn je auf der Hut und werden Euch erkennen. Ich kann Euch +nicht Euren Feinden ausliefern, denn Euer Tod wäre auch der meinige.« +Verzweiflung klang aus seinem Wort, und die treueste Hingebung war auf +dem Grunde seiner Augen zu lesen. + +»Und dennoch bitte ich Euch, laßt mich hin. Ich verspreche Euch, alles +zu tun, wie Ihr es für gut befindet, und mich der größten Vorsicht zu +befleißigen. Nur laßt mich hinein nach Goslar!« + +»Hinein kommt Ihr schon, Venne Richerdes,« sprach er erschüttert, +»aber heraus findet Ihr nicht. Man wird Euch greifen, Euch töten, und +das, Venne, überlebe ich nicht. Venne, tut es mir zuliebe. Ihr ahnt +nicht, was ich in Euch verliere!« In wilder Angst fast wurden die Worte +ausgestoßen. Venne traten die Tränen in die Augen: »Hermann Raßler, es +schmerzt mich, daß ich Euch Kummer mache. Ihr habt es wahrlich nicht um +mich verdient, Ihr, der Ihr mir der treueste, uneigennützigste Freund +waret in dieser Zeit. Glaubt nicht, daß ich Euch das je vergesse. +Noch sind die Wunden frisch, die man mir geschlagen, aber es kommt +wohl einmal die Zeit, wo sie verharscht sind. Dann will ich auch Euch +Antwort geben auf Eure stumme Frage.« + +»Venne«, jubelte er, doch dann bezwang er sich. »Ihr habt recht, noch +ist es nicht Zeit, Wünsche zu äußern. Aber laßt mir die Hoffnung, dann +will ich mich gern gedulden. + +Ich werde Euch selbst nach Goslar begleiten und in die Stadt bringen. +Mir sind die Wege bekannt, wie man ungesehen hineingelangt.« + + * * * * * + +Das Käuzchen schrie in der sternlosen Septembernacht vor dem Thomaswall +am Dicken Zwinger. Einmal, zweimal, zehnmal wiederholte es seinen +klagenden Ruf, daß die guten Bürger hinter der Stadtmauer sich gruselnd +die Decken über die Ohren zogen, denn den Todesvogel hört niemand gern. +Aber bald öffnete sich leise und geräuschlos ein Mauerpförtchen, und +ein verschlafener Kopf lugte heraus. »Wer ist's, der Einlaß begehrt?« +war die leise Frage. »Gut Freund«, hieß es ebenso leise. Zwei Gestalten +schlüpften durch die Lücke und folgten dem Öffnenden in die warme +Stube. Dort traf das Licht der trübe brennenden Kerze die Gäste. +Erschrocken fuhr der Wärter zusammen. »Um Gott, Herr Raßler, Ihr hier? +Wißt Ihr nicht, was man Euch zugedacht hat? Und Eure Begleiterin?« +Damit leuchtete er der zweiten Gestalt unter die Kapuze. »Alle Teufel, +Ihr seid ein nettes Paar. Euch, Venne Richerdes, gilt es fast noch mehr +als diesem da. Macht nur eilends, daß Ihr wieder aus dem Loche kommt, +das ich Euch öffnete, sonst ist's um Euch geschehen.« + +Raßler ließ sich ganz behaglich in dem gichtbrüchigen Sessel nieder. +»Vorerst denken wir nicht daran, die gute Stadt Goslar zu verlassen. +Wir fühlen uns bei Dir sicher wie in Abrahams Schoß.« + +»Aber um Gottes willen, wenn man Euch bei mir findet,« wimmerte er +ängstlich, »dann geht es auch mir an den Kragen.« + +»So sorge dafür, daß wir nicht gefunden werden, dann kannst Du Dein +edles Haupt weiter durch die Straßen von Goslar tragen«, fuhr Raßler +gemütlich fort. »Jetzt aber wollen wir ruhen, denn unsere Besorgungen +können wir doch erst morgen verrichten.« Der Wächter sah schon, hier +war nichts mehr zu ändern, daher bereitete er oben im Turm schnell ein +Lager. + +Am nächsten Tage wurde er mit geheimer Botschaft zu Katharina +geschickt. Eilfertig und zitternd kam das alte Weiblein angetrippelt. +Der Bote hatte ihr wohl schon gesagt, wen sie treffen werde, denn mit +allen Zeichen der Aufregung und Angst trat sie in das Zimmer. »Venne, +meine Venne,« schluchzte sie, »wie konntest Du mir das antun!« + +»Still,« herrschte Raßler, »wollt Ihr zum Verräter werden?« Da bezwang +sie ihre Erregung, aber noch lange zitterte ihr gebrechlicher Körper +unter verhaltenem Schluchzen. Dann begann das Fragen hin und her. Venne +wollte wissen, wie es Hardts gehe, wie der guten Immecke Rosenhagen und +ihren Kindern, und Katharina wieder forschte, wie und wo ihr Herzblatt +lebe. Darüber war die Zeit verflossen, und es schlug die Stunde des +Abschieds. Wieder konnte die gute Alte sich nicht fassen, bis Raßler +nachdrücklich zum Aufbruch mahnte. Noch eine letzte Umarmung, dann +schritt die Alte davon, gebeugt von ihrem Gram und das Weinen mühsam +bekämpfend. + +War die Einladung Katharinas auch mit aller Vorsicht erfolgt, es +konnte doch nicht unbemerkt bleiben, daß die Magd der Richerdes in der +stillen Gasse auftauchte. Neugierige Blicke folgten ihr, als sie in das +Haus des Wächters hastete, und neugierige Augen geleiteten sie, als +sie wieder fortging. Was hatte die hier zu tun, und was verursachte +ihre Tränen? Hatte sie Nachricht von ihrer Herrin, der verruchten +Venne, bekommen? Die Zungen ruhten nicht. Wußte der eine, daß sie die +Nachricht vom Tode der Richerdes erhalten habe, so fügte der zweite und +dritte schon hinzu, daß sie jene selbst gesprochen, und sie wußten doch +nicht, wie nahe sie der Wahrheit kamen! + +Es dauerte nicht lange, und die Menschen versammelten sich vor dem +Hause, Stadtsoldaten marschierten auf, das Gebäude war von den freien +Seiten umzingelt. + +Die beiden beabsichtigten, mit dem Anbruch der Dunkelheit wieder +zu verschwinden. Sie unterhielten sich noch mit dem Mann, der sie +eingelassen hatte, da traf Stimmgewirr ihr Ohr. Raßler warf einen Blick +durch das kleine Fensterchen und fuhr erschreckt zurück. »Wir sind +verraten«, flüsterte er. Venne erblaßte. An sich dachte sie zuletzt. +»Oh, nun habe ich Euch auf dem Gewissen«, klagte sie. + +»Sorgt Euch nicht um mich,« wehrte er ab, »Euch gilt es zu retten, denn +ich fürchte, Ihr seid ihnen im Augenblick wichtiger als ich.« + +Verzweifelt spähte er umher: Gab es denn gar keinen Ausweg aus der +Falle? Es war ausgeschlossen, denn auf der Rückseite, nach dem Walle +zu, lehnte sich das Häuschen an die Stadtmauer. Verflucht, so war +man den Pfeffersäcken ins Garn gegangen, ohne daß sie es ausgespannt +hatten! -- Fieberhaft arbeitete sein Gehirn: Sollte er versuchen, +durchzubrechen? Er allein würde sich nicht besonnen haben. Aber Venne. +Kein Ausweg, keine Rettung! Wieder irrte sein Blick über den Platz, +wieder überlegte er, doch es ging nicht, er mußte Venne für den +Augenblick aufgeben, nicht um sie den Goslarern zu überlassen, sondern +um sie bald, morgen, in wenigen Tagen zu befreien. Er teilte ihr seinen +Entschluß mit. + +»Verzagt nicht. Solange noch ein Atemzug in mir ist, wartet Euer die +Rettung.« Dann traf er die Anstalten zum Durchbruch. + +Absichtlich zeigte er sich an einer Giebelöffnung, als ob er von dort +aus entkommen könne. Sofort erhoben sich die Stimmen: »Da ist er, dort +will er entfliehen!« In wenigen Sätzen stand er an der Tür, riß sie +auf und warf sich auf die überraschten Nächststehenden. Es war ihm ein +leichtes, sie zu überrennen. Ehe noch die Menge wußte, was geschehen, +rannte er davon und verschwand. Venne aber wurde ergriffen und im +Triumph in festes Gewahrsam geführt. + + + + +Luthers kräftige Stimme wider den Ablaßmißbrauch, die zuerst im Jahre +1517 ertönte, fand in Goslar vielstimmigen Widerhall. Denn auch hier +hatte man Tetzel reichlich gespendet, und ein in der St.-Jakobi-Kirche +stehender Armenkasten führte noch lange den Namen ›Tetzelkasten‹. +Aber noch bekannte man sich nicht offen zu der neuen Lehre. Der Rat +im besonderen hielt noch einmütig am alten Glauben fest. Als jedoch +im Sommer 1521 die heldenmütige Standhaftigkeit Luthers zu Worms vor +Kaiser und Reichstag bekannt wurde, da war auch in Goslar die Bewegung +nicht mehr einzudämmen. Es fanden die ersten Predigten in lutherischem +Geiste statt, und der Vikar Johann Klepp lieh ihm von der Kanzel der +St.-Jakobi-Kirche das Wort. Der Oheim Hardts, der Pleban an dieser +Kirche, setzte beim Rate durch, daß jenem das Predigen in dieser Kirche +verboten wurde. Da zog Klepp in die Kirche zum Heiligen Grabe, und +seine Anhänger mehrten sich von Tag zu Tag. + +Zuletzt wurde ihm das Reden in allen Kirchen verboten, doch der Stein, +der ins Rollen gekommen war, konnte nicht mehr aufgehalten werden. An +Klepps Stelle traten andere, und was man in den Gotteshäusern nicht +mehr verkünden durfte, fand auf den öffentlichen Plätzen das Ohr einer +noch größeren Zuhörerschaft. Magister Schmiedecke predigte auf dem +Lindenplan, und seine Anhänger, ›die Lindenbrüder‹, gewannen ihm neue +Gefolgsleute. So groß war der Zulauf, daß die Kirchen und Kapellen bald +leer standen. + +Die Stadt war voll innerer Unruhe; die Masse des niederen Volkes stand +gegen die Besitzenden, besonders den Rat, in ablehnender Kampfstimmung. +Der Funken glühte; wer ihn zu entfachen vermochte, konnte große +Verwirrung über die Stadt bringen. + +Hermann Raßler war über diese Zustände wohlunterrichtet, und er baute +darauf seine Befreiungspläne. Seit einigen Tagen lebte er wieder +unerkannt in den Mauern der Stadt, und seine Agenten bearbeiteten +das Volk, um es für seine Ziele einzuspannen. In geschickter Weise +wurde die Stimmung aufgepeitscht durch die Verquickung der religiösen +Spannung mit dem wirtschaftlichen Elend. Raßlers Plan ging dahin, einen +Auflauf des Volkes zu verursachen und während dieser Zeit die Gefangene +zu befreien. Die Zusammenrottung fand planmäßig statt. Große Mengen +schreienden und brüllenden Volkes drängten sich auf dem Marktplatz +zusammen. »Fort mit den Pfaffen! Heraus mit dem Rat! Brot! Brot! Der +Bürgermeister soll kommen!« so tobte und schrie es durcheinander. +Nur Achtermann verlor die Ruhe nicht. »Laßt die Kartaunen abbrennen, +schickt ihnen Vollkugeln auf den Wanst, daß sie satt werden«, riet er +höhnisch. + +Das Gesicht Karsten Balders war in ernste Falten gelegt. Er übersah +das Unwetter, das heraufzog, in seiner ganzen Schwere. Es handelte +sich nicht nur darum, die Ruhestörer vom Marktplatz zu verscheuchen, +einigen Dutzend Schreiern den Mund zu stopfen, sondern eine Bewegung zu +bekämpfen, die das gesamte Volk bis in seine Tiefen hinein erregte und +die, wenn sie Wurzel faßte, die Stadt in ausgesprochenen Gegensatz zu +Kaiser und Papst bringen und damit den katholischen Herzögen den Weg +frei machen mußte, um ihr Mütchen an ihr zu kühlen. Er entschloß sich, +auf den Altan zu treten und beruhigend zu der Menge zu reden. + +Als er erschien, schrien einige: »Still, der Bürgermeister will zu uns +reden. Ruhe für Karsten Balder!« + +»Soll das Maul halten!« brüllten andere. Es drohte zu einem Handgemenge +zwischen den beiden Parteien zu kommen. + +Die Leute Raßlers, geschickt auf den Platz verteilt, hetzten die einen +gegen die anderen, und der Tumult schien sich in sich selbst verzehren +zu wollen. Der Bürgermeister, der ein paarmal vergeblich versuchte, +sich Gehör zu verschaffen, wollte wieder wegtreten. + +Während des Lärmens und Tobens hatte Raßler selbst sich mit einigen +handfesten Leuten Eintritt von der Seite der Marktkirche ins Rathaus +verschafft, in dessen Keller Venne Richerdes schmachtete. Da er durch +seine Späher auch über die Örtlichkeit genau unterrichtet war und alles +vorgesehen hatte, um bis zu ihr vorzudringen, stand er bald in ihrem +Kerker. Sie war schon oft zum Verhör vorgeführt worden und glaubte, man +wolle sie wieder vernehmen. Da erklang es hastig: »Kommt, die Befreiung +naht.« + +Venne erkannte Raßler und warf sich ihm aufschreiend in die Arme. +»Gott sei Dank, daß Ihr kommt. Ich glaubte schon, ich sei von allen +verlassen.« + +Einen Augenblick ruhte sie an seinem Herzen, und seine Arme umschlossen +die geliebte Gestalt; dann aber ermannte er sich. »Fort, keinen +Augenblick verlieren!« + +Durch Gänge und Türen stolperte sie an seiner Hand bis auf den Hof +hinauf. Das Licht der Sonne, das sie seit Wochen nicht geschaut hatte, +blendete so, daß sie die Augen mit der Hand schützen mußte. + +Noch hatte niemand die Flucht bemerkt, denn aller Aufmerksamkeit war +den Vorgängen auf dem Markt zugewandt, und sie wäre auch wohl weiter +zunächst unbeachtet geblieben, wenn nicht zufällig ein Ratsherr aus +der rückwärts mit Fenstern versehenen Stube gesehen hätte, wie das +Paar eilig aus dem Hofe hastete. Er schlug sofort Lärm, und der Ruf: +»Venne Richerdes ist entflohen!« ertönte weithin. Dieser Ruf, ins Volk +geworfen, bewirkte, was weder der Bürgermeister noch andere erreichen +konnten: Der ganze Haufe setzte sich nach dem Hohen Wege in Bewegung, +wohin das Paar gelaufen war. + +Die beiden hatten einen ziemlichen Vorsprung, und es wäre Raßler bei +seiner Kenntnis aller Winkel und Ecken wohl gelungen, sie in dem Gewirr +der Gassen am Liebfrauenberge in Sicherheit zu bringen, wenn nicht +Venne von der langen Haft geschwächt gewesen und ihre Kleider ihr beim +Laufen hinderlich gewesen wären. Einige leichtfüßige Burschen hefteten +sich an ihre Fersen. Um sie abzuwehren, mußte Raßler sich wiederholt +umkehren. So verlor er kostbare Minuten. Der Haufe kam immer näher, die +Wut funkelte aus aller Augen, dumpfe Schreie tönten an ihr Ohr. + +Einige Leute Raßlers, die in Erkenntnis der Gefahr mit der Menge +vorgestürzt waren, warfen sich ihr entgegen; auch Raßler selbst zog +sein Schwert. Aber ihre Tapferkeit zerschellte an der Wucht der Masse. +Ein klobiger Rademacher, der ein Stück Holz am Wege aufgegriffen hatte, +schmetterte es auf Raßlers Kopf hernieder, daß er zu Boden sank. Alles +war verloren; da wollten die Knechte wenigstens ihren Hauptmann retten. +»Laßt das Weib, der Hauptmann ist uns mehr wert.« + +Während die einen noch kämpften, schleppten die anderen den todwunden +Mann davon. Venne blieb in den Händen ihrer Verfolger und wurde im +Triumph zum Rathaus zurückgebracht. So endete der Befreiungsversuch, +und der Rat trug fortan durch verdoppelte Wachsamkeit Sorge, daß man +nicht ohne seinen Willen wieder zu ihr gelangen konnte. + + * * * * * + +Johannes Hardt bewahrte seine Treue gegen Venne auch jetzt noch, obwohl +sie ihn durch ihre Verbindung mit Raßler schwer enttäuscht hatte. Er +übernahm die Verteidigung der Angeschuldigten, und er unterließ nichts +anzuführen, was zu ihrer Entlastung dienen konnte, verhehlte sich +indes nicht, daß keine Aussicht bestand, sie zu retten. Gisela, die +von tiefem Kummer über das Los der Freundin erfüllt war, beschwor ihn, +nichts unversucht zu lassen. Sie erwog sogar den Plan, Venne heimlich +freizulassen durch Bestechung der Wärter. Auch Immecke Rosenhagen und +Erdwin Scheffer waren dafür gewonnen, aber Johannes erhob nachdrücklich +Einspruch. Sein Pflichtgefühl litt es nicht, daß er, der im Solde der +Stadt stand, etwas duldete oder sogar förderte, was ihn mit seinem +geschworenen Eide in Konflikt brachte. Außerdem erkannte er, daß +der Plan doch zum Scheitern verurteilt war. »Ich habe nur noch eine +Hoffnung,« sagte er zu Gisela, »sie beruht auf Ernesti, an den ich +schon vor langer Zeit eilige Botschaft schickte. Er ist mächtig und +einflußreich; sein Wort gilt auch bei dem Rate viel. Gelingt es ihm +nicht, Venne frei zu bekommen, so weiß ich keinen Rat mehr.« Seufzend +ergab sich Gisela in das Unabänderliche. + +Ernesti kam; Johannes besprach mit ihm alles, und auch jener erkannte +den furchtbaren Ernst der Lage. Doch er wollte nichts unversucht +lassen. Schon am nächsten Tage begab er sich auf das Rathaus und hatte +mit Karsten Balder eine ernste Besprechung. + +»Herr Karsten Balder,« sagte er, »ich verstehe Euren Zorn gegen mein +Niftel; ich will auch zugestehen, daß sie sich schwer gegen die Stadt +vergangen hat. Aber laßt ihr auch Gerechtigkeit widerfahren. Bedenkt, +wie schwer sie gekränkt war, wie man sie und ihren Vater gehetzt hat, +bis sie so weit kam. Ihre Begriffe von Recht und Unrecht mußten sich +verwirren; die Hauptschuld trägt der Ratsherr Achtermann, wie Ihr nicht +bestreiten werdet. Ich will von dem Geschwätz absehen, das er über sie +ausstreute, sie sei eine Hexe. Ihr selbst als vernünftiger Mann werdet +das nicht glauben, denn Heinrich Achtermann war ihr in treuer Liebe +zugetan, und es steht fest, daß er bis zuletzt nie an ihr gezweifelt +hat. Wie sollte also dieses reine, keusche Mädchen dazu kommen, sich +solcher buhlerischen Mittel zu bedienen, um etwas zu gewinnen, was sie +schon besaß? Ein anderes ist es um den Schaden, den sie oder Raßler, +vielleicht ohne ihre Kenntnis und Einwilligung, Eurer Stadt zugefügt +hat. Er mag groß sein, aber er ist zu ersetzen, und ich bin reich +genug, um dafür einzustehen.« + +Karsten Balder hatte ihn sprechen lassen; unbewegten Antlitzes hörte +er ihm zu. Dann nahm er mit ernster Stimme das Wort: »Ihr wißt, Herr +Ernesti, daß Venne Richerdes wie ihr Vater mir die Hauptschuld an dem +beimessen, was sie an Ungemach betraf. Sie taten mir bitter unrecht +damit, aber ich habe geschwiegen. Meine Hand ist rein von Schuld gegen +sie. Mein Mund hat nichts geredet, das ich nicht verantworten könnte. +Sie taten mir unrecht, aber es soll ihnen nicht vorbehalten bleiben. +Doch anders ist es mit dem, was der Stadt widerfuhr. Für diese tat ich, +was jene mir als persönlich gemeinte Kränkung auslegten; für diese muß +ich geschehen lassen, was jetzt über die Tochter kommt. Sie tut mir +leid, die Venne, ich will es Euch gestehen, und was der Achtermann ihr +antut, mag kleinlich, verächtlich, verabscheuungswürdig sein. Aber +es steht mir nicht zu, über ihn zu Gericht zu sitzen. Hätte sie sich +früher an mich gewandt, so wäre vielleicht manches anders geworden; +jetzt ist es zu spät.« + +»Herr Bürgermeister,« entgegnete Ernesti, der noch nicht alle Hoffnung +aufgeben wollte, »ich bin, wie Ihr wißt, ein Freund Eurer Stadt. Ihr +selbst nanntet mich so. Ich habe -- wiederum gebrauche ich Eure Worte +-- ihr Dienste geleistet, für die mir Dank zugesichert wurde. Wohlan, +jetzt ist die Stunde der Vergeltung gekommen. Ich begehre nichts als +die Befreiung Venne Richerdes'. Sie soll Euch Urfehde schwören; ich +will sie mit mir nehmen, daß Ihr sie nie wieder zu Gesicht bekommt, +aber laßt sie gehen. + +Ich habe Euch geholfen, ich werde Euch helfen. Ich sorge, Ihr werdet +diese Hilfe gut gebrauchen können. Gebt sie mir. Sie ist nur mein +Niftel, aber Ihr seid selbst Vater, habt eine blühende Tochter. Sagt, +wie täte es Euch, wenn man sie töten wollte. Würdet Ihr nicht Himmel +und Hölle in Bewegung setzen, um sie zu retten?« + +»Wenn ich an Eurer Stelle wäre, Herr Ernesti, sicher. Wäre ich der +Bürgermeister Karsten Balder, nein! Ich stehe hier für die Stadt, der +ich geschworen habe. Ihr mahntet mich an die unruhige Zeit, in der wir +leben; wie sollte ich es verantworten, gäbe ich die Schuldige frei, +um vielleicht demnächst ein Dutzend armer Schelme dem Gericht zu +überantworten. Solange ich über Recht und Gerechtigkeit in der Stadt +Goslar zu wachen habe, wanke ich nicht. ›+Fiat justitia, pereat +mundus+!‹ Die Gerechtigkeit soll ihren Lauf haben auch in diesem +Falle.« + +Bleich waren beide Männer, die sich jetzt gegenüberstanden. + +»Ihr hattet meine Freundschaft, Karsten Balder,« sagte Ernesti mit +düsterer Stimme, »so nehmt meine Feindschaft. Daß ich einen Fehdebrief +schreibe, wollet nicht erwarten, aber die Absage sollt Ihr merken!« + +»Ich muß es gelten lassen«, sagte Karsten Balder tiefernst; damit +schieden die beiden Männer. + +Den Hardts berichtete er von seinem Mißerfolge. Venne wollte er nicht +mehr sehen. »Es geht über meine Kraft, vor sie zu treten«, sagte er, +»mit dem Bewußtsein, daß der Tod hinter ihr steht, und ihr leere +Trostworte zuzuraunen. Sagt ihr auch nicht, daß ich hier gewesen.« + +Dann brach er auf. Von Goslar fuhr er geradeswegs nach Wolfenbüttel, um +mit dem Herzog zu verhandeln; darauf kehrte er in seine Heimat zurück. + +Auch Herzog Heinrich versuchte noch einmal, zugunsten Vennes zu +vermitteln; es war vergebens. Mit fast ingrimmiger Festigkeit lehnte +der Bürgermeister die Einmischung des Welfen ab. So nahm der Prozeß +gegen Vene Richerdes seinen Lauf. + + + + +Auf dem Rosenberge, in einsamer Lage, wohnte der Henker der Stadt +Goslar, Meister Henning Voß, mit Weib und Kind und mit seinen +Knechten. In den Akten der Stadt führt er den harmlos klingenden Namen +»Suspensor«. Für den armen Delinquenten, der ihm überantwortet wurde, +war es indes gleich, ob der Rat Meister Henning seine sechzehn Groschen +lötigen Silbers als »Henker« oder als »Suspensor« zahle. + +Die Amtseinnahmen des Henkers waren nicht immer glänzend. Zwar flossen +ihm neben den Einnahmen aus seinem blutigen Beruf auch sonst noch +manche Sporteln zu, die ihm für allerlei unsaubere Arbeit zustanden, +wie Reinigen der Gruben bei den Herren Ratsleuten, Abholen und +Vernichten der Kadaver gefallener Tiere; aber es wäre doch in manchem +Jahre Schmalhans Küchenmeister bei ihm gewesen, wenn sich ihm nicht +noch andere einträgliche Einnahmequellen erschlossen hätten. Er war +bekannt als Besitzer mancher dunklen Wissenschaft, geheime Tränke zu +brauen, krankes Vieh zu besprechen, Liebe zu sichern und zu stören +zwischen jungen Pärchen. Das alles fiel in den Bereich seiner Kunst. +An manchem dunklen Abend pochte es an das Tor des Gehöfts, und ein +zitternd Jüngferlein oder ein beherzterer Bursche holte sich Rat bei +Meister Voß. + +Als bestellter Henker hatte er auch dem Peinlichen Gericht seine +Dienste zur Verfügung zu stellen. Und mancher, dem seine Rute den +Rücken gestrichen oder dem er das Schandmal aufgebrannt hatte, sandte +ihm im stillen und aus der Ferne seine Segenswünsche zu. Jetzt stand +wieder einmal eine große Sache an, bei der es etwas zu verdienen gab. +Daß es sich dabei um die Tochter eines Vornehmen handelte, erhöhte noch +den Reiz der Arbeit. + +Das Peinliche Gericht tagte in der Stadtfronei, die zur Zeit unter +der Sankt-Ulrichs-Kapelle in der Kaiserpfalz untergebracht war. Dort +hingen an den Wänden all die Geräte, mit denen man schweigsame Leute +zum Reden brachte. Und dort bereitete jetzt auch Meister Voß und seine +Leute alles vor, um die Angeklagten gehörig behandeln zu können. Es +waren eingezogen außer Venne die alte Katharina und die Gittermannsche. +Die beiden letzteren traf der Vorwurf des Zauberns und der Beihilfe +zu diesem Verbrechen. Venne Richerdes hatte sich außerdem wegen +Hochverrats und Mordes, begangen an ehrsamen Bürgern, zu verantworten, +wie auch dafür, daß sie mit Hermann Raßler, der Stadt abgeschworenem +Feinde, gemeine Sache gemacht habe. + +Noch war der Henker mit seinen Knechten allein in dem düsteren Raume. +Die Folterkammer entbehrte nicht des frommen Apparates, um auch keines +der Mittel unversucht zu lassen, die auf das schon über die Maßen +erregte Gemüt des peinlich zu Befragenden von Wirkung sein konnte. +Der Freitag, der Sterbetag des Heilandes, galt den Inquisitoren als +furchtbarster Erntetag. So wählte man ihn auch in Goslar. Das Gemach +war schwarz ausgeschlagen; ein riesengroßes Kruzifix an der Wand trug +nicht minder zur Erhöhung der düsteren Stimmung bei. + +Meister Voß war ein frommer Mann, so ungereimt das auch manchem +vorkommen mag. Er hatte das Geschäft vom Vater überkommen, wie dieser +vom Großvater. Morgens sprach man in seinem Hause den Frühsegen, +und der Abend fand nicht sein Ende, ohne daß dem lieben Gott gedankt +wurde für das Gute, das er den Tag über beschert hatte, und war auch +etwas Ungemach dazwischen gewesen. Daß dem Herrn der Heerscharen seine +kleinen außerberuflichen Nebenbeschäftigungen vielleicht nicht ganz +genehm sein möchten, kam ihm in seiner christlichen Einfalt nicht in +den Sinn. + +Lag ein besonderes Werk vor, so folgte dem Morgengebet noch ein +zweites, in dem er den Herrn um eine sichere Hand anflehte und den +Himmel bat, ihm die Tat nicht vorzubehalten, die er im Namen eines +wohlweisen Rates zu tun berufen war. So geschah es auch heute, obschon +es nur galt, die peinliche Frage zu tun, wenn die Angeklagten nicht +jetzt vor dem Gericht geständig waren. Er nahm die Kappe ab, die +Knechte taten ein gleiches, der eine ein wenig langsam und grinsend. +Da unterbrach Meister Voß für einen Augenblick die schon begonnene +Andacht, und seine Faust saß dem Säumigen im Nacken. »Willst Du Hund +unserem Herrgott nicht den nötigen Respekt erweisen?« Der Gemaßregelte +ließ sich willig belehren, und das Gebet verlief nach dem Fürspruch des +Meisters. + +Während dieser Zeit tagte über ihnen noch in einem Gemach das +Gericht. Hinter einem schwarzbehangenen Tische, auf dem ein großer +Kruzifixus zwischen zwei Kerzen stand, saßen schweigsamen und düsteren +Antlitzes der Inquisitor und die Schöffen. An der Seite wartete +der Aktuarius mit sorgsam zugeschnittenem Federkiel darauf, die +Angaben niederzuschreiben. Es läutete dem Herkommen gemäß gerade die +Angelusglocke, als die Beschuldigten von dem Büttel hereingeführt +wurden. Das Malefizverfahren schrieb vor, daß die Tortur, die sich +etwa anschließen konnte, die Übeltäter mit nüchternem Magen antreffe. +So war es auch hier. + +Als erste kam die Gittermannsche. Das häßliche Weib überfiel den +Gerichtshof sogleich mit einem Schwall von Beteuerungen ihrer Unschuld. +Die Magd habe ihr überhaupt nicht gesagt, daß der Trank für einen +Menschen sei; er gelte einem Hunde, so sei ihr gesagt worden. Der +Richter unterbrach sie strenge und ermahnte sie, zu schweigen und nur +auf die Fragen zu antworten. Da sie bei ihrer Behauptung blieb, brach +man das Verhör ab. + +Katharina gestand unumwunden, daß sie zur Gittermannschen gegangen +sei, um sich einen Liebestrank für Heinrich Achtermann zu holen. Die +Gittermannsche, welche ihr empfohlen sei, habe durchaus gewußt, wem es +gelte. Sofort fiel diese mit einem Schwall von greulichen Flüchen und +Verwünschungen über sie her, so daß das Gericht ihr schon jetzt mit +Auspeitschen drohen mußte, wenn sie das Verhör noch weiter störe. Da +begnügte sie sich, den beiden anderen Frauen giftige Blicke zuzusenden. +Die alte Magd beteuerte bei allen Heiligen, daß ihre Herrin nichts von +der ganzen Sache gewußt habe. + +Auch Venne erzählte den Vorgang so. Der Richter schüttelte den Kopf. +»Und Ihr behauptet allen Ernstes und mit Vorbedacht, daß Ihr von dem +ganzen bösen Handel nichts wußtet?« + +Venne antwortete kurz und bestimmt: »Nein.« + +»Bedenkt, es steht ein gewichtiger Zeuge gegen Euch, der Ratsherr +Achtermann. Er behauptet das gerade Gegenteil.« + +»So spricht er die Unwahrheit«, beharrte Venne trotzig. + +»Ich warne Euch«, drängte der Vorsitzende. »Euch kann allein ein +offenes Geständnis vor der peinlichen Frage bewahren.« + +»Soll ich etwas gestehen, was ich nicht tat«, entgegnete sie mit +Tränen. + +»Das ist Eure Sache«, antwortete der Richter geschäftsmäßig kühl. Da +drängte sich die alte Katharina vor. »Aber ich schwöre Euch, sie ist +unschuldig. Wie könnt Ihr glauben, daß Venne Richerdes dazu jemals ihre +Zustimmung gegeben haben würde!« + +»Führt sie hinaus«, befahl der Unerbittliche streng. »Sie mag reden, +wenn sie wieder befragt wird. Und die andere, die Anstifterin, nehmt +auch mit.« + +»Also, Ihr wollt nicht gestehen?« wandte er sich wieder an Venne. »Gut, +so brechen wir damit ab.« + +»Man redet Euch auch nach, daß Ihr gegen den wahren Glauben unserer +Kirche gesprochen, Euch auch zu dem Apostaten, dem sündigen Mönch +Luther, bekannt habet. Wie steht es damit?« + +»Das ist der schuftige Schreiber des Bischofs, der uns belauschte und +Halbgehörtes entstellte.« + +»Ich nehme es für eine Absage,« entgegnete der Richter mit einem +stummen Lächeln. »Doch darüber wird Euch etwa noch ein anderer +vernehmen. Aber nun erklärt Euch zu Hermann Raßler«, fuhr er dann mit +erhobener Stimme fort. »Leugnet Ihr auch hier die Gemeinschaft?« + +»Ich leugne nicht, was ich getan habe«, antwortete Venne ruhig. »Ich +nahm ihn mir zum Helfer, um mir mein Recht zu verschaffen, das der Rat +mir vorenthielt. Daß er Goslar und seinen Bürgern so zugesetzt, wußte +ich nicht, und es tut mir leid. Hätte ich es gewußt, ich würde meine +Zustimmung nimmer gegeben haben.« + +»Und die Beleidigung des Rates und Bürgermeisters Karsten Balder vor +des Kaisers Majestät? Wie steht es damit? Leugnet Ihr oder gesteht +Ihr?« + +»Ich leugne nicht, daß ich sie in Worms vor Kaiser und Reichstag der +Beugung des Rechts geziehen habe gegen mich und meinen Vater. Ist das +eine Sünde, so muß ich sie tragen. Aber sagt selbst, konnte ich anders, +da man mir hier in Goslar die Türen verschloß?« + +»Auf meine Ansicht dabei kommt es nicht an«, wehrte der Inquisitor +kühl ab. »Also Ihr gesteht. Bleibt noch eins, nicht minder sündhaft. +Man sagt Euch nach, daß Ihr den Schädling Hermann Raßler durch listige +Überredung gewonnen, auch Euch ihm hingegeben und buhlerisch mit ihm +gehauset habt. Stimmt das?« + +Flammende Röte schoß Venne ins Gesicht. »Das ist gemein, das ist so +niederträchtig, daß ich darauf nichts entgegnen will«, schloß sie mit +Zusammenraffen des letzten Stolzes, obschon alles in ihr zitterte. + +»Also schreibt, Aktuarius«, fuhr der Grausame ungerührt und kalt fort. +»Die Angeklagte Gittermann gesteht ein, den Zaubertrunk bereitet, +leugnet aber, ihn für Menschen bestimmt zu haben. Die Angeklagte +Katharina, Magd der Venne Richerdes, hat den Trunk geholt, leugnet +aber, ihrer Herrin davon Kenntnis gegeben zu haben. Und Venne Richerdes +endlich will von dieser Angelegenheit nichts wissen, leugnet auch die +Buhlschaft mit Hermann Raßler, wie die beleidigenden Äußerungen vor des +Kaisers Majestät. Sie gesteht indes zu, mit selbigem Hermann Raßler der +Stadt Goslar aufgesagt und derselben fleißig Schaden zugefügt zu +haben.« + +Venne wurde abgeführt; darauf beriet das Gericht, wie weiter zu +verfahren sei. Man kam sehr bald zu dem einstimmigen Urteil, daß die +drei über die bestrittenen Punkte peinlich zu befragen seien. Es wurde +die Reihenfolge festgesetzt, beginnend mit den leichteren Graden. + +Wenn all der Scharfsinn, den man im dunklen Mittelalter darauf +verwendet hat, Werkzeuge zu ersinnen, welche die eigenen armen +Mitmenschen bewegen sollten, Schandtaten zu gestehen, die sie +doch niemals begangen haben konnten, wenn diese Tüfteleien darauf +eingestellt worden wären, der Menschheit nützliche Dinge zu ersinnen, +manche der Erfindungen, deren unsere aufgeklärte Zeit sich rühmt, +wären uns von jenen schon vorweggenommen. Die ›Daumenschrauben‹, der +›Spanische Stiefel‹, die ›Pommersche Mütze‹, der ›Halskragen‹, der +›Leibgürtel‹, ein mit Eisenstacheln besetztes Korsett, in welches die +Büste der Angeklagten hineingepreßt wurde, der ›Bock‹, ein in scharfer +Schneide auslaufender Holzbock, auf welchen die ›Hexe‹ rittlings +gesetzt wurde, stellen nur eine kleine Auslese der Marterinstrumente +dar, mit deren Anwendung man die Armen zum Geständnis zu bringen +suchte. + +Man begann bei den Angeklagten mit dem Auspeitschen. Gräßlich +hallte das Geschrei der Gittermannschen durch den Raum. Unbeweglich +sahen der Richter und die Schöffen zu. Das Weib wand sich unter den +unbarmherzigen Streichen, die ihren Rücken zerfetzten. Sie schrie, sie +wolle gestehen, sie widerrief, und wieder sausten die Streiche herab. +Da brach ihr Widerstand endlich. + +Venne kämpfte mit einer Ohnmacht während des gräßlichen Schauspiels, +und doch galt es bisher nur einer Fremden, einem widerwärtigen alten +Weibe, dem mit dieser grausamen Behandlung vielleicht eine gerechte +Buße auferlegt wurde für viele heimliche Sünden. + +Als aber ihre alte Katharina, ihre treue Pflegerin und Behüterin seit +den Tagen der sonnigen Kindheit, an den Pfahl gebunden und ihr Rücken +sich unter den Streichen des Henkers blutig rötete, da war sie zu Ende +mit ihrem Widerstand. + +»Haltet ein, haltet ein, sie ist unschuldig, ich will gestehen!« + +Katharina hatte bis dahin alles ertragen, nur ein Ächzen rang sich +über die welken Lippen; jetzt aber, da die Herrin sich für sie opfern +wollte, schrie sie dazwischen: »Glaubt ihr nicht, sie sagt die +Unwahrheit; ich war's allein.« + +Der Richter kehrte sich nicht an ihr Geschrei. Ihm lag vielmehr an dem +Geständnis der einen, der Hauptperson, die als ein ruchloses Scheusal +dem Volke vorgeführt werden mußte, sollte die Strafe allen als gerecht +erscheinen. + +Ihre Freunde waren bei dem Prozeß zu der Rolle der ohnmächtigen +Zuschauer verurteilt. Immecke Rosenhagen saß voller Ingrimm im +›Goldenen Adler‹. Die Gäste litten unter ihrer Laune. In ihrer alten +Entschlossenheit suchte sie den Bürgermeister auf und bedeutete +ihm, er könne doch unmöglich an das hirnverbrannte Zeug glauben; +sie wies darauf hin, daß es nicht guttue, ein Mitglied einer alten +Patrizierfamilie in dieser Weise bloßzustellen, denn die gemeine Masse +ziehe daraus leicht ihre Schlüsse auf die Qualität der Vornehmen +überhaupt. -- Es war vergebens. Noch höher stieg ihr Groll, wenn sie +darauf kam, daß der Ratsherr Achtermann, der am meisten Schuldige, +triumphiere. + +Erdwin Scheffer, der Stadtweibel, fraß seinen Grimm in sich hinein, +wenigstens draußen. Zu Hause mußten die Kinder seine Laune büßen, wenn +sie sich irgendwie laut machten. + +Johannes Hardt war in seiner Rolle als Verteidiger sehr beschränkt. Bei +der vorgefaßten Meinung der Richter verhallten seine eindringlichen +Worte. Man wollte ein Opfer, und Venne sollte es sein! + +Schon als die Folter bestimmt wurde für den Fall, daß sie nicht +gestehe, erwies sich die Voreingenommenheit. Nach der bestehenden +Gerichtsordnung konnten graduierte Personen, wie Doktoren, Lizentiaten, +Professoren, Advokaten, und Leute von Stand, wie aus vornehmen +Bürgergeschlechtern, die denen des Adels gleichzusetzen seien, von +der Folter befreit werden; man ließ die Vergünstigung für Venne nicht +zu. Als das Urteil gefällt war, das für die Gittermannsche auf den +Feuertod, für Katharina auf erneutes Auspeitschen und Verweisung aus +der Stadt und für Venne Richerdes endlich auf den Tod durch das Schwert +lautete, versuchte Johannes Hardt noch einmal, sie zu retten. In einer +Eingabe an den Rat wies er darauf hin, daß ein Appell an den Kaiser +Begnadigung erwirken könne. Man verweigerte es. Die Stadt habe das +Recht über Leben und Tod, also lasse sie sich von niemand dreinreden. +Mutlos kehrte Johannes zu den Seinen zurück. Unaufhörlich flossen die +Tränen Giselas; das harte Los Vennes konnte sie nicht ändern. Es wurde +von dem Rate als eine besondere Vergünstigung hingestellt, daß man sie +nicht wie eine gemeine Hexe verbrennen lasse, sondern sie durch das +Schwert aburteilen wolle. + + * * * * * + +Venne Richerdes saß in strenger Haft. Man suchte einen abermaligen +Befreiungsversuch durch geeignete Maßnahmen unmöglich zu machen. +Sie war jetzt in Wahrheit von aller Welt abgeschlossen und bekam +Menschen nur bei gelegentlichen Verhören noch zu sehen, die aber +immer von kurzer Dauer waren, da ihr Geständnis vor dem Inquisitor als +ausreichend angesehen wurde. Auch wollte man keinerlei Gelegenheit zu +einem Widerruf bieten. + +Venne dachte allerdings gar nicht an einen solchen, denn er würde +das gräßliche Schauspiel erneuern, das ihr fast die Besinnung nahm. +Lieber wollte sie aber den Tod selbst erleiden, ehe sie ihre alte, gute +Katharina noch einmal den Henkersknechten auslieferte! Der Tod aber war +ihr gewiß, so viel wußte auch sie von der grausamen Rechtspflege ihrer +Zeit. Keine Rettung, nachdem Raßlers Versuch gescheitert war. + +Der Keller des Goslarer Rathauses, der heute noch in seiner Urform zu +sehen ist, ist vor anderen Anlagen gleicher Art ausgezeichnet durch +seine ungewöhnlichen Höhenausmaße. Wie gewaltige Höhlen erstrecken sich +die Gewölbe unter dem alten Gebäude dahin. Das Auge sieht die Wölbungen +in unerreichbarer Höhe über sich, das Tageslicht dringt durch schmale, +fast ebenso hoch liegende Schlitze in geiziger Sparsamkeit hinein und +läßt das Dunkel des Raumes nur noch um so gespenstiger und grauenhafter +erscheinen. + +In einem dieser schauerlichen Verließe saß Venne Richerdes und wartete +auf ihren Spruch. Kein Mensch nahte ihr als der Kerkermeister, der ihr +die Speisen brachte und grußlos und schweigsam kam und ging. Kein Laut +der Außenwelt drang zu ihr, sie war schon jetzt für ihre Mitmenschen +tot. + +Auch Johannes Hardt erhielt nicht länger Zutritt zu ihr, aber einer +vergaß sie nicht, die Kirche. Sie, die sich von ihr als Abtrünnige +gekränkt glauben konnte, wollte doch versuchen, die irrende Seele +zu retten. So schickte sie ihren Boten, und bei der Auswahl erwies +sich's, daß sie die Seelenkunde als vornehmste Waffe gegen den +Unglauben zu verwenden verstand. Es kam nicht ein Eiferer, nicht ein +ungestümer Hitzkopf, der mit dem Donner seines Wortes die Arme zu +gewinnen suchte, sondern ein alter, würdiger Pater, ein Franziskaner, +bei dem sie, wie die Mutter, bisweilen gebeichtet hatte. Aus seinem +Wesen sprachen Güte und Nachsicht. + +Mit einem freundlichen, milden Wort begrüßte er sie, als er ihr die +Hand reichte. Nichts von Vorwurf, nichts von Geringschätzung. + +»Auf Dir lastet ein schweres Geschick, meine Tochter. Wie findest Du +Dich damit ab?« begann er teilnehmend. + +»Wie man etwas Unverdientes hinnimmt, ehrwürdiger Vater. Man grollt +dagegen und kann es doch nicht ändern. Man möchte die ganze Welt +verderben und weiß doch, daß sie darob nur hohnlacht«, murrte sie +düster. Seine Hand glitt tröstend über ihr Haar. »Wer kennt Gottes +Wege, und wer weiß, wohin das zielt, was er uns schickt? -- Wir +meinen vor anderen zum Leiden ausersehen zu sein, wähnen uns zu +Besonderem bestimmt, ungerecht aus der Bahn gerissen, und sind doch nur +Staubkörnlein auf seinem Wege. Und eins, mein Kind, vergessen wir gar +zu gern ob der Klagen: die Selbstanklage. + +Ich bin nicht gekommen, Dich anzuklagen, ich will Dich aufzurichten +suchen. Aber so Du auch gegen die anderen haderst, wie mir scheint, +prüfe auch, ob Du vor Dir selbst gerechtfertigt dastehst. Ich bin ein +alter Mann, der manches von der Welt gesehen hat. Vielerorts habe ich +die Ungerechtigkeit triumphieren sehen, ohne dagegen einschreiten zu +können. Auch in Deinem Falle liegt es, wie mir scheint, ähnlich. +Deine Widersacher haben sich gegen Dich verschworen. Was Du dabei zur +Gegenwehr gegen Deine Heimatstadt unternahmest, ist ebenso verwerflich, +aber es mag mit Deiner Verlassenheit und Hilflosigkeit zum Teil erklärt +und entschuldigt werden. Doch was Dir als schwere Schuld anzurechnen +bleibt, ist Deine Einstellung zu den Schwarmgeistern, als deren +schlimmster und ruchlosester jener wortbrüchige Mönch anzusehen ist, +den Du in Worms zu Deinem Verderben hörtest.« + +»Ihr habt es von dem schuftigen Schreiber des Bischofs«, warf Venne mit +zuckenden Lippen, verächtlich lächelnd, ein. »Gegen solche Zeugen mag +ich mich nicht verteidigen.« + +»So sagt, daß er lügt,« fiel ihr der Mönch ins Wort, »und auch ich will +ihn für einen Schuft erklären und aller Welt Eure Reinheit +verkündigen.« + +»Das vermag ich nicht zu sagen«, bekannte sie freimütig. »Zwar hat +er nur halb aufgefangene Worte hämisch und tückisch weitergetragen, +aber in der Sache hat er nicht unrecht. Ich will bekennen, daß der +Wittenberger einen gewaltigen Eindruck auf mich machte. Und was Ihr +ihm nachsagt von Ruchlosigkeit und Schlimmerem, vermag ich nicht +zu glauben. Wenn Ihr den Mann gesehen hättet mit seiner lodernden +Begeisterung, seinen überzeugenden Worten, denen die Wahrheit auf der +Stirn geschrieben stand ...« + +-- »Höre auf,« rief der Pater, »ich sehe, Du bist schon völlig in die +Netze dieses Apostaten verstrickt. Kehre um, solange es noch Zeit ist. +Ich beschwöre Dich bei Deiner Seligkeit. Oder ist es dazu schon zu +spät, hast Du Dich ihm mit Leib und Seele verschrieben?« + +»Eure Sorge ist verfrüht«, entgegnete Venne. »Und«, fuhr sie bitter +fort, »hättet Ihr vor meiner Fahrt nach Worms nur einen Bruchteil +Eures Eifers um mich aufgebracht, so fändet Ihr mich wohl gar nicht +in dieser Stimmung und auch nicht in dieser Lage. Noch ist nicht +geschehen, was Ihr befürchtet; aber ich bin auf dem Wege zu ihm, dem +Wahrheitskündiger und Seelenarzt. Das sollt Ihr wissen.« + +Der Mönch lenkte ein: »Du machst die Kirche und uns, ihre Diener, zu +Unrecht für das verantwortlich, für die Unbill, die Dir widerfuhr. Wir +mischen uns nicht in weltliche Händel, wie Du weißt.« + +»Nun, so laßt mich diese weltlichen Händel auch austragen mit all dem, +was sie im Gefolge haben«, schloß sie bitter. + +Aber der Pater wagte noch eine letzte Mahnung. + +»Meine Tochter, vergiß, was man Dir zufügte, vergiß aber nicht, was +Deiner im Jenseits wartet! Höllenqual und ewige Verdammnis, und vergiß +nicht den Schmerz, den Du Deinen Eltern zufügst durch Deine Tat. +Sie warten Deiner in ihren lichten Höhen. Willst Du Dich von ihnen +scheiden?« + +Sanft, mit zarter Güte war es gesprochen, und wie früher verfehlten +diese Worte ihren Eindruck nicht. Venne begann bitterlich zu weinen. + +»Das ist ja das qualvolle, daß ich nicht ein noch aus weiß in meiner +Not. Wie oft habe ich schon daran gedacht, und doch zieht es mich immer +wieder nach jener Seite, wo der Wittenberger steht!« + +Der Besucher sah, daß er dem armen Mädchen jetzt nicht weiter zusetzen +dürfe, deshalb schickte er sich zum Aufbruch an. »Du zweifelst noch, +meine Tochter, da ist nicht alles verloren. Ich will jetzt gehen und +Dich mit Gott und den Heiligen allein lassen. Mögen sie Dir das Herz +erleuchten und Dir zurückhelfen auf den rechten Weg. Und vergiß nicht: +Dem Reuigen behält die heilige Kirche seine Sünden nicht vor.« + +Der Mönch ging. Venne war wieder allein in ihrer trostlosen Einsamkeit. +Und dann sank der Abend herab, und die Nacht drohte, die grauenvolle +Nacht ohne Schlaf. Venne sah es an dem Verblassen des Lichtstreifens, +der in ihren Kerker fiel. + +Verzweiflungsvoll irrte sie in dem engen Gefängnis hin und her. Sie +wurde erneut ein Raub der widerstreitendsten Gefühle. Die Worte des +Mönches hatten alles in ihr aufgewühlt, was sie zur Ruhe gekommen +glaubte. Wie gierige Wölfe fielen die Gedanken sie an, ihre irdische +Not, die Trennung von dem Geliebten, der ihr auf immer entrissen war, +die ihr angetane Schmach; ihr ganzes verpfuschtes Dasein stieg vor ihr +auf. Und dann die grausige Vorstellung, daß sie dem Henker verfallen +sei. »Wehe, wehe, so jung und schon sterben müssen!« -- Und mit dem +Tode war es noch nicht zu Ende, selbst in das Jenseits hinein belastete +sie noch die Erdenschwere: »Was harrt Deiner dort?« + +In namenlosem Jammer rang sie die Hände. »Herr mein Gott, erleuchte +mich! Vater, Mutter, gebt mir einen Wink, wo der rechte Weg ist!« + +Keine Antwort in der erdrückenden Stille, schwarze Nacht ringsum! -- +Doch da schleicht sich ein Schimmer in ihr Gefängnis und trifft ihr +ruhelos irrendes Auge. Ein Sternlein sendet sein bescheidenes Licht +durch den Fensterschlitz. Aus erdenweiter Ferne gleitet sein milder +Glanz herab in den Raum, wo irdische Unbill sie ummauert hält. Und ein +zweites steht ihm getreulich zur Seite, und ein drittes. In sanfter +Stetigkeit blicken die Augen des Himmels auf sie herab. Und Venne +klimmt mit ihrem leidgeprüften Herzen zu den Seligen empor, die da oben +in den himmlischen Sphären wandeln und leben. Vielleicht wohnt auf eben +dem Sternlein das Mütterlein und der Vater, und sie sehen herab auf +ihre Tochter, die in dieser furchtbaren Einsamkeit dem frühen, harten +Tode entgegenlebt. + +»Mutter, Mutter, erbarme Dich meiner. Gib mir ein Zeichen, daß Du mir +nicht zürnst, daß ich nicht von Dir geschieden bleibe!« Und ihre Seele +sucht in brünstigem Gebet die Ferne, Selige. + +Da fließt es wie ein linder Trost ihr ins Herz. Das verklärte Antlitz +der Mutter blickt auf sie hernieder, und sie spricht zu ihr: »Fürchte +Dich nicht, meine Venne, ich bin bei Dir jetzt, und ich umschwebe Dich +in Deiner letzten, großen Not. Du suchtest Gott, Du hast ihn gefunden; +bleibe ihm treu, höre nicht auf Menschenwort. Und alles, was das Herz +Dir bedrückt, das wirf auf ihn, den Eingeborenen, den er uns sandte, +uns zu heilen und zu lösen. Jesus Christus, Dein Stab! An ihn halte +Dich, mit ihm tritt die Wanderung an durch das dunkle Tal, das Dich zu +mir, zu uns führt!« + +»Jesus Christus, Dein Heil, Deine Zuversicht!« -- wie milder, heilsamer +Balsam legte es sich auf ihre zweifeldurchwühlte Brust. »Jesus +Christus, Dein Stecken und Dein Stab!« -- mit einem Seufzer unendlichen +Glücksgefühls wandte sich ihr Blick von den schwindenden Sternen, die +ihre Bahn durch die Ewigkeit fortsetzten. + +»Jesus Christus!« -- Der Name schwebte noch auf ihren Lippen, als die +Augen sich schlossen zum Schlummer auf hartem Lager. + +Am nächsten Tage schon kehrte der Franziskaner wieder. Er fand Venne +in gelassener Ruhe. Der Friede in ihrer Stimme, der ihm bei seinem Gruß +entgegenklang, erfüllte ihn mit Unruhe und Sorge. + +»Hast Du Dich zurückgefunden, meine Tochter?« fragte er mit milder +Stimme. + +»Wie Ihr es versteht,« entgegnete Venne, »zurückgefunden oder +zurechtgefunden zu meinem Gott und Erlöser; von ihm soll mich nichts +mehr scheiden.« + +»Wie soll ich das verstehen?« forschte er. »Dachtest Du auch an das, +was ich Dir von den Eltern und dem Jenseits sagte?« + +»Seid gewiß,« erwiderte sie zuversichtlich, »ich fand sie und hörte +ihren Rat, der aber weist mich zu Jesum. Ihm will ich folgen und nur +ihm.« + +»Und die Kirche und die lieben Heiligen, baust Du nicht auf ihre +gnadenbringende Fürsprache?« + +»Ich habe meinen Heiland, habe Jesum Christum, was brauche ich sie!« + +»So bist Du verloren für die Zeit und Ewigkeit!« Grollend erklangen +seine Worte. + +»Zürnet nicht, ehrwürdiger Vater«, bat Venne mit sanfter Stimme. »Es +schmerzt mich, daß ich Euch kränken muß, der mir nur Gutes erwies. Aber +Gottes Gebot geht vor Menschenwunsch. Und Gott befiehlt mir durch mein +Mütterlein: ›Bleibe getreu und halte Dich an Jesum Christum!‹« + +Da schied der Mönch zum andern Male von ihr, und er ging mit wehem +Herzen, daß er die verirrte Seele nicht zurückgewinnen solle. Traurig +war sein Blick, und Trauer durchzitterte seine Stimme, als er murmelte: + +»So leb' denn wohl für diese Zeit und für die Ewigkeit!« + + + + +Während in Goslar Venne Richerdes der Prozeß gemacht wurde, lag ihr +Bewunderer und Helfer todwund in Rohde, wohin er gebracht war, sobald +sein Zustand das zuließ. Lange hielt ihn das Fieber im Bann, und es +schien, als ob der willensstarke Mann seinen Meister gefunden habe. +Immer wieder gellte der Name »Venne« durch seine Fieberträume, und +oft fuhr er auf mit dem Rufe: »Laßt mich zu ihr, ich habe ihr Hilfe +versprochen, ich darf nicht wortbrüchig an ihr werden.« Aber dann sank +er wimmernd zusammen. + +Von den Vorgängen in Goslar wurde er dauernd unterrichtet durch seine +Spione. Er hörte von dem Fortgang des Prozesses und erfuhr, daß Venne +zum Tode verurteilt sei. Da gab es für ihn kein Besinnen mehr. Ein +Befehl rief alle seine Männer zusammen. Es galt einen Überfall auf +Goslar, der in allen Einzelheiten sorgsam durchdacht war. Während +ein Teil einen Angriff von der Westseite her unternehmen sollte, der +die Aufmerksamkeit der Goslarer fesselte, würden die anderen von +Südosten her, von wo man am wenigsten Feindseligkeiten erwartete, in +die Stadt einzudringen suchen. Hermann Raßler war noch immer nicht +wiederhergestellt, aber es galt ihm als selbstverständlich, daß er bei +diesem Zuge, der ihm die Erfüllung seines höchsten Sehnens bringen +sollte, zugegen sein mußte. + +Der Tag der Hinrichtung Vennes stand fest und damit auch die Stunde, +die zur Befreiung zu führen bestimmt war. Am Abend vorher näherten +sich die Mannen Raßlers der Stadt. Jedes Geräusch wurde vermieden, +die Landwehr an Stellen überschritten, die abseits der Wege lagen. +Mitgeführte Leitern wurden an die Mauer gelegt; die Ersten gelangten +über sie hinweg und überwältigten die Wache im Torturm. Dann brach der +Haufe in die Stadt ein. + +Schon war durch den Lärm, der sich bei der Erzwingung des Eingangs +nicht vermeiden ließ, dieser und jener Bürgersmann geweckt. Verschlafen +rieb er sich die Augen, dann aber besann er sich auf seine Pflicht, die +ihn zu jeder Stunde zum Schutze der Stadt aufrufen konnte. Inzwischen +drang der Haufe der Bewaffneten bis zum Marktplatz vor, wo im Rathaus +Venne befreit werden sollte. Die Türen wurden mit Gewalt erbrochen, mit +fliegender Eile stürmte Raßler zu dem Verlies, in dem er die Geliebte +wußte. + +»Venne, die Befreiung ist nahe! Venne!« rief er noch einmal, -- niemand +antwortete. Eine Fackel tauchte auf, sie wurde dem Träger entrissen, +und Raßler leuchtete in den Raum: leer! -- -- Er wußte nicht, daß man +vor wenigen Stunden die Gefangene in die Stadtfronei gebracht hatte, +um sie bei der Hinrichtung nicht weit führen zu müssen. »Vergebens, +verloren!« stöhnte er. Tränen der Wut traten ihm ins Auge, und dann +brüllte er auf wie ein Tier, dem man seine Beute entrissen hat. + +»Venne, Venne!« schrie er einmal über das andere. Aber schon drängten +die Genossen zum Rückzug. In der Stadt heulte die Sturmglocke, +die Bürger sammelten sich in Haufen und drangen gegen das Rathaus +vor. »Feind in der Stadt! Raßler ist da!« schrie und brüllte es +durcheinander. Der Wilde stürzte sich auf sie: »Wo habt Ihr Venne +Richerdes? Gebt sie heraus!« tobte er. Aber sie höhnten ihn in ihrer +Übermacht. »Seht da, der Räuberhauptmann will sich sein Liebchen holen, +um mit ihm auf dem Blocksberge Hochzeit zu halten. Auf ihn, der uns so +sehr geschädigt hat, greift ihn, den Lump!« + +»Auf sie!« brüllte auch Hermann Raßler mit blutunterlaufenen Augen. +Wuchtig sausten seine Hiebe auf die Angreifer herab, und mehr als +einer wälzte sich in seinem Blut. Aber immer größer wurde die Zahl der +Verteidiger, und Schritt um Schritt wichen die Raßlerschen zurück. +Dem Führer lag nichts an seinem Leben, immer und immer wieder stürmte +er vor. Zuletzt rissen ihn die eigenen Leute zurück und führten +den Widerstrebenden davon, während andere den Rückzug deckten. Das +Schicksal Vennes war besiegelt. + + * * * * * + +Ein strahlend schöner Herbsttag brach nach der unheimlichen Nacht +über die alte Reichsstadt herein. Leise, ganz leise kündigte sich das +Sterben in der Natur an. Hier ein rotes Blättchen, das vom wilden Wein +der Laube langsam zur Erde sich senkte, dort ein roter Schein über +einen alten Ahorn oder eine Linde gehaucht, dazwischen dunkles Gold und +lichtes Gelb, all die wunderbaren Farbentöne, mit denen der Meister der +Schöpfung sein Werk noch einmal verklärt, ehe er ihm den Schmuck des +Lenzes und Sommers nimmt und sie mit dem starren Gewande des Winters +umkleidet. In den Büschen und Bäumen noch das lustige Gezwitscher der +kleinen Sänger, die sich um das Morgen nicht kümmern, bis die Stimme in +ihnen mahnt, daß es an der Zeit sei, sich zur Wanderung anzuschicken. + +Auf den Straßen jubelten die Kinder bei ihren Spielen, unbekümmert um +das Unheimliche, das geschehen war, und das Gräßliche, das bevorstand. +Sie hatten von den Erwachsenen einen Vers übernommen, den sie zu ihren +Ringelreihen lustig zwitscherten: + + »Venne Richerdes und Raßler der Böse, + Von beiden der Himmel uns balde erlöse!« + +Vor der Pfalz, die von ihrer einsamen Höhe auf das Häusergewirr +herabblickte, erhob sich das Schafott, auf dem Venne Richerdes büßen +sollte. Eine ungeheure Volksmenge umlagerte den Platz. Selbst die +Firste der näher liegenden Häuser waren mit Neugierigen bekränzt, die +sich keine Einzelheit des schrecklichen Schauspiels entgehen lassen +wollten. + +Es ist der Ämter edelstes und opferwilligstes, das der Diener Gottes, +dem Menschen in seiner letzten Not zur Seite zu stehen, wenn alle ihn +verlassen müssen in seiner Qual. Bis dahin hielt ihn die Sorge um die +Erhaltung des irdischen Lebens gefangen, jetzt lastet die furchtbare +Seelennot auf ihm: Was wird aus mir im Jenseits? + +Venne Richerdes stand außerhalb dieser Fürsorge, denn von der alten +Gemeinschaft hatte sie sich losgesagt; die neue aber, die lutherische +Familie, war, in Goslar zum wenigsten, noch ohne Heimat. Ihre Kinder +und Jünger lebten der Obrigkeit zum Ärgernis und wurden von ihr nicht +geduldet. So hätte sie allein den dunklen Weg gehen müssen. Aber der +gute, alte Pater Franziskaner brachte es nicht über das Herz, sein +Beichtkind ohne Tröstung den letzten Gang antreten zu lassen. Vor +seinen Oberen beschönigte er sein Vorhaben mit dem Hinweise, daß Venne +doch zuletzt noch widerrufen möchte, und auch im innersten Winkel +seines Herzens lebte diese Hoffnung. + +Als die Stunde gekommen war, trat er bei ihr ein. + +»Ich bin gekommen, mit Dir zu beten«, sprach er mit ernster, milder +Stimme. »Bist Du bußfertig, bereust Du Deine Sünden?« + +»Ich bereue alles, was ich gesündigt, und bitte Gott, er wolle es mir +nicht ansehen um Jesu Christi willen«, antwortete sie leise. + +»Willst Du nicht zu uns zurückkehren?« + +»Ich bitte Euch, ehrwürdiger Vater, laßt mich, wo ich bin. Ich habe +den Grund gefunden, auf den ich baue, Jesum Christum. In ihm will ich +sterben!« + +»So möge Gott Dir gnaden!« murmelte der Mönch betrübt. + +Das Armsünderglöcklein setzte ein mit seinem wimmernden Stimmchen. +Aus der Fronei trat die todblasse Venne Richerdes, ihr zur Seite der +Pater. Er murmelte die Sterbegebete; Vennes Lippen bewegten sich, ohne +Worte formen zu können. Mit wankenden Schritten näherte sie sich der +Richtstätte. Der Prokurator verlas das Urteil und brach den Stab über +die Verurteilte, Venne Richerdes gehörte dem Henker. + +Noch eine letzte, leise Bitte wagte der Mönch: »Widerrufe!« + +Statt der Antwort nahm ihm Venne das Kruzifix aus der Hand. Ihr Auge +suchte das Antlitz des Gekreuzigten. »Jesus Christus, mein Erlöser!« +Ihre Lippen hauchten einen Kuß auf das Kreuz, dann ließ sie es in die +Hände des Paters zurückgleiten. + +Noch einmal umfaßte ihr Blick die Heimat mit den Türmen und Giebeln +und den ragenden Bergen. Dann kniete sie nieder und empfing den +tödlichen Streich. + + * * * * * + +Venne Richerdes hatte geendet, nicht erloschen war das Rachegefühl in +der Brust Hermann Raßlers. Als die Nacht hereingebrochen, näherten +sich wieder Gestalten der Stadt und gewannen heimlich Einlaß. Der +Wächter rief die Mitternachtsstunde, da flammte es an allen Enden +Goslars zugleich blutigrot auf. Der rote Hahn spreizte seine feurigen +Flügel. Die Bürger schreckten aus dem Schlafe auf durch das gefürchtete +»Feuerjo! Feuerjo!« Prasselnd stiegen die Flammen in den dunklen +Himmel, die Nachbarschaft weithin mit grellem Schein übergießend; +dahinter gähnte die Nacht nur um so schwärzer und unheimlicher. Hermann +Raßler brachte Venne Richerdes sein Totenopfer! + +Er selbst, der Wilde, Rachedürstende, war daran nicht beteiligt, er +hatte ein anderes, letztes Werk in Goslar zu vollbringen: noch lebte +der, von dem all das Unheil ausging, das über die unglückliche Venne +hereingebrochen war, der Ratsherr Heinrich Achtermann. + +Der Rächer nahm niemand mit auf seinem Wege. Was er vorhatte, war sein +eigenstes Werk, kein Unberufener sollte ihn dabei stören, was er mit +seinem Todfeinde zu erledigen hatte. + +Das Haustor war bald geöffnet, er drang zu dem Zimmer vor, in dem +der Gehaßte weilte. Eine Magd, die ihm mit einer Kerze entgegentrat, +verscheuchte er mit barschem Befehl. Da trat ihm der Gesuchte entgegen, +notdürftig gekleidet. Entsetzen ergriff ihn, als er den Gefürchteten +vor sich auftauchen sah. Das Licht zitterte in seiner Hand. + +»Zurück in Euer Zimmer!« herrschte Raßler. Mechanisch wich Achtermann +zurück. Jener folgte ihm auf dem Fuße. + +Achtermann wußte, daß sein letztes Stündlein geschlagen habe. +Hilfesuchend glitt sein Blick zum Fenster. Raßler sprach düster: »Gebt +Euch keiner Hoffnung hin, für Euch gibt es keine Rettung! Bereitet +Euch zum Sterben vor. Aber zuvor noch eine Frage: Was tat Euch Venne +Richerdes, diese Edle, Reine? Habt Ihr auch nur einen einzigen +triftigen Grund, so mögt Ihr Euer elendes Leben weiterschleppen. Euch +bleiben noch genug der Gewissensbisse, daß Ihr darunter zusammenbrechen +müßt.« + +Der Ratsherr brachte nur lallende Laute hervor. »Sprecht!« heischte der +Unerbittliche, aber kein Wort entrang sich den blassen Lippen. Stieren +Auges blickte er auf den Peiniger. + +»Willst Du nicht, so fahre ohne Bekenntnis zur Hölle!« schrie er. »Doch +daß ~ich~ es an christlicher Gesinnung selbst Dir gegenüber nicht +fehlen lasse, so sei Dir noch ein letztes Gebet gegönnt. Nieder auf +die Erde!« brüllte er, als Achtermann noch immer schwieg, und damit +riß er ihn auf den Boden. Da entrang sich den Lippen seines Opfers +ein furchtbarer, wilder Schrei. Mit eiserner Faust hielt Raßler ihn +nieder, während die Rechte den Dolch zum Stoß bereithielt. Wimmernd, +mit verglasten Augen lallte der Alte einige Worte. Es wurde laut im +Hause. Durch das Geschrei der Magd und den Angstruf des Ratsherrn waren +Nachbarn aufmerksam gemacht worden und drangen ins Haus. + +»Stirb, Du Hund«, zischte Raßler und hob die Rechte zum Stoß. Da flog +die Tür auf, und die Helfer drangen ein. Ehe noch der Dolch sein Ziel +erreicht hatte, sank Hermann Raßler unter dem Streiche eines Bürgers. +Seinem Leben ward ein Ende gesetzt an dem Tage, da Venne, die er zu +gewinnen hoffte, unter des Henkers Schwert starb. + +Heinrich Achtermann hatte das Bewußtsein verloren; als er wieder zur +Besinnung gebracht war, schlug ein blöder Greis die Augen auf. Die +schreckliche Stunde hatte ihm die Sinne verwirrt. + + + + +Durch die hochgehenden Wogen der Nordsee pflügte sich eine hansische +Kogge mühsam ihren Weg. Oft war sie verschwunden zwischen den +grünen Wellenbergen, dann schwebte sie auf der Höhe des nächsten +Wasserschwalles. Der weiße Gischt flutete über das niedrige Verdeck, +alles mit seiner salzigen Flut übergießend. Aufmerksam standen Kapitän +und Steuermann auf ihrem Posten; keinen Blick verloren sie von dem +Wege, den der Kompaß vorschrieb. + +Das Schiff hatte eine schwere Fahrt hinter sich, seitdem es von der +Mole in London losmachte. Wild jagte der Novembersturm hinter ihm drein +und heulte brüllend durch die gerefften Segel und Stengen. Aber wacker +stampfte es dahin, unentwegt dem fernen Ziele zu. Die Kogge war in +Hamburg beheimatet, und dorthin ging ihre Reise. + +Ungeduldig blickte einer der Schiffsgäste auf Schiff und See, deren +Wogen, wie es schien, unter dem Fahrzeug eilig davonglitten dem Ziel +zu, das sie selbst erstrebten. Ja, er war voller Ungeduld, Heinrich +Achtermann, der mit der guten hansischen Kogge die Heimfahrt von London +antrat, nachdem dort die geschäftlichen Angelegenheiten zu seiner und, +wie er hoffen durfte, auch zu seines Vaters Zufriedenheit geregelt +waren. Aus der Heimat hatte ihn in dem knappen Jahre, das er von Goslar +fern weilte, Nachricht nicht erreicht außer einem Schreiben des Vaters, +das geschäftlichen Inhaltes war und die Dinge, die ihn interessierten, +nicht berührte. Venne selbst wußte er in Worms; wie lange ihr +Aufenthalt dort dauern würde, war ihm unbekannt. Zwischen ihm und ihr +war also in dieser Zeit der Faden gänzlich abgerissen. + +Er freute sich von Herzen auf das Wiedersehen, denn die Aufregung der +letzten Tage in Goslar mit dem unleidlichen Zwischenfall hatte sich +gewiß gelegt, und er durfte hoffen, daß auch bei dem Vater eine mildere +Stimmung eingezogen sei. Seine Gefühle für die Geliebte waren durch +die lange Trennung geklärt, sie hatten an Innigkeit nicht verloren, +sondern waren gefestigt worden durch die Vergleiche, die er zwischen +fremden Frauen und der keuschen, züchtigen Geliebten ziehen konnte. Er +war entschlossen, sein Glück festzuhalten und sich durch nichts darum +betrügen zu lassen. + +Viel zu langsam für seine Ungeduld setzte das Schiff seine Fahrt +durch die schwere See fort. Heinrichs Gedanken eilten ihm voraus +und übersprangen den Weg von Hamburg nach Goslar. Er sah sich zur +Bergstraße eilen und die Geliebte an sein Herz sinken. Das Gefühl +des großen Glückes, das seiner wartete, drohte ihm die Brust zu +zersprengen. Endlich lief die Kogge in die Elbe ein und legte im Hafen +von Hamburg an. Es hielt ihn dort keinen Tag länger, unverweilt brach +er nach Goslar auf. Noch hieß es sich Tage gedulden, aber süßer Lohn +winkte ihm daheim und brachte ihm Entschädigung für die lange Zeit der +Sehnsucht! + +Armer Heinrich, Du ahnst das Schreckliche nicht, das Deiner wartet! + +Von Braunschweig ab fand er Gesellschaft in einem Reisegenossen, einem +Kaufmann, der in Goslar Station machen und dann weiter nach Halberstadt +wollte. Von dem Gespräch über die Zeitläufte kam man auch auf die +Geschehnisse in der Heimat. Da der Reisende hörte, daß Heinrich lange +abwesend gewesen sei, berichtete er über vieles, das ihm in den Sinn +kam. + +»Dann wißt Ihr wohl auch nichts von dem großen Hexenprozeß, der vor +wenigen Monden alle Gemüter in Eurer Heimat in Spannung hielt?« +Heinrich verneinte. + +»Nun, da werdet Ihr staunen. Es war nämlich keine gewöhnliche Hexe, +sondern ein vornehmes Fräulein.« + +Heinrich schnürte ein unerklärliches Angstgefühl die Kehle zu. »Wie +hieß die Frau?« fragte er mit halberstickter Stimme. + +»Ja, wie war doch der Name? Laßt sehen. Venne, Venne Richard oder so +ähnlich.« + +»Venne, Venne? Doch nicht Richerdes?« fragte er heiser. »Doch, das +ist der Name.« »Ihr lügt«, schrie der Gepeinigte, daß der Fremde +erschrocken zusammenfuhr. »Ihr lügt«, wiederholte er noch einmal. + +»Nun, ich kann mich ja irren, aber ich meine, so hätte der Name +geklungen; doch nichts für ungut. Was erregt Euch denn so bei dem +Namen?« + +Was ihn erregte! Er hätte dem Mann ins Gesicht schreien können: »Meine +Braut ist es!« aber er schwieg mit zusammengebissenen Zähnen. Nur kurze +Zeit ritt er noch mit dem Weggenossen, dann entschuldigte er sich: +»Nehmt es nicht übel, aber mich zwingt die Unruhe vorwärts.« Damit gab +er seinem Pferde die Sporen. + +In Goslar ritt er durch das Breite Tor ein. Qualvolle Ungewißheit +erfüllte sein Herz. Es schien ihm, als blickten ihn alle Leute mit +neugierigen, mitleidigen Augen an. Bekannte begegneten ihm nicht. Ehe +er noch das väterliche Haus aufsuchte, ging er zur Bergstraße, um +von der schrecklichen Pein erlöst zu werden. Das Haus der Richerdes +war verschlossen, niemand rührte sich drinnen. Es öffnete sich ein +Nachbarfenster: »Aber was wollt Ihr denn da? Wißt Ihr nicht, daß die +Hexe ...?« Da jagte er davon wie von Furien gehetzt. + +Im Vaterhause alles still. Die Magd blickte ihn an, als ob sie ein +Gespenst sehe. »Herr Heinrich«, schrie sie dann laut auf. Auf den Ruf +trat die Mutter aus dem Zimmer. Aber ... war denn das seine Mutter? +Eine rüstige, stattliche Frau, so hatte sie ihm den Abschiedskuß auf +die Stirn gedrückt, und jetzt eine gebeugte, zitternde Greisin? + +»Mutter,« schrie er, »Mutter, ist es wahr, was man mir erzählt? Venne +...?« + +Sie lehnte sich gegen den Türpfosten, als drohten ihr die Kräfte zu +versagen. »Ja, mein Sohn, mein armer Junge, es ist wahr.« + +Da schrie er auf wie ein zu Tode getroffenes Wild. »Venne!« und noch +einmal »Venne!« + +»Und wer hat sie mir geraubt« rief er heiser vor Wut. »Hat etwa der +Vater daran Anteil?« + +Die Mutter schwieg. Das Schweigen war ihm Antwort genug. + +»So hat der Unhold in seiner Rachsucht alles zerstört, was mir teuer +war. Alles, alles«, fuhr er mit versagender Stimme fort. »Aber wo ist +er?« schrie er erneut auf. »Wo ist er, daß ich ihn zur Rechenschaft +ziehe?« + +Die Mutter schluchzte still vor sich hin. »Wo ist er?« fragte der Sohn +wiederum drohend. + +»Du wirst ihn nicht zur Rechenschaft ziehen, weil Du es nicht kannst, +armer Junge«, sagte sie leise. + +»Weshalb nicht? Ist er tot? Ist alles tot und verhext hier bei Euch?« + +»Er ist nicht tot,« antwortete sie mit bitteren Tränen, »er ist +schlimmer als tot, er ist wahnsinnig.« + +»Ha, ha, ha«, lachte Heinrich in grellem Hohn. »So ist's recht, die +Braut getötet, der Täter ein Narr!« + +»Du sprichst vom Vater!« mahnte die Mutter verzweifelt. + +»Ich fluche ihm,« schrie der Sohn, »ich fluche allen, die an der +grausigen Tat mitschuldig. Ich erwürge sie alle«, schäumte er. + +»Fasse Dich, mein Sohn,« mahnte sie, »lästere nicht wider Gottes Gebot, +das Dich heißt, den Eltern Ehrfurcht zollen.« + +Wieder lachte er schrill auf. »Ehrfurcht zollen diesem blöden +Mordbuben! Nein, nein, ich ziehe ihn dennoch zur Rechenschaft; er soll +mir büßen.« Er trat einen Schritt auf das Zimmer zu, in dem er den +Vater mutmaßte. Da stellte sich ihm die schwergeprüfte Mutter entgegen. +»Willst Du nicht Gottes Gebot achten gegen Deinen Vater, so achte mich +oder schreite über mich weg, wenn Du es vermagst.« + +Da brach der Zorn des Sohnes zusammen. Er sank auf einen Sitz und +schluchzte in haltloser, wilder Verzweiflung. Leise legte sich die +Hand der Mutter auf seinen Scheitel: »Gott hat Dir und mir die Prüfung +geschickt, laß sie uns gemeinsam tragen, daß nicht der einzelne ihr +erliegt.« + + * * * * * + +So nahm Heinrich Achtermann sein Joch auf sich. Oft meinte er, darunter +zusammenzubrechen. Wenn er den Vater sah, quoll die wilde Verzweiflung +aufs neue in ihm empor. Er ballte die Fäuste in der Tasche, um sich +nicht an dem wehrlosen Narren zu vergreifen. + +Der stolze Ratsherr Achtermann war zum Kinde geworden, zum blöden +Kinde, das vor sich hinlallte und greinte und lachte, wie die Eindrücke +von außen, der Hunger, die Kälte, Tag und Nacht ihn trafen. Geduldig +pflegte die Mutter das große Kind. Mit einem Gefühl der Bewunderung +blickte der Sohn auf diese Frau, die in stiller, selbstloser Liebe dem +Gatten die Treue hielt, auch jetzt, wo er für die Welt zum gemiedenen, +verachteten Geschöpf geworden war: Das war die Liebe, die echte, große +Liebe, die, von Gott in der Menschen Herz gesenkt, nicht erlosch und +sich am Erbarmen mit dem Geschlagenen stärkte und immer reiner und +verklärter ihre Äußerung fand. + +Mählich, ganz mählich zog auch Mitleid in sein Herz. Der Vater selbst +hatte alles vergessen, was zwischen einst und dem schrecklichen Tage +lag, da durch seine Schuld die edle Venne dahinsank. + +In ihm lebte sie, so oft seine Gedanken sich zu ihr zurückfanden, als +die schöne, liebliche und geliebte Schwieger. Er fragte nach ihr, +er greinte, daß sie nicht komme, und dann führte ihn sein schwacher +Geist wieder in das Kinderland zurück, das dem Greise noch einmal sich +aufgetan hatte. + +Heinrich gewann es allmählich über sich, den Mann zu ertragen, der +ihm so Schweres zugefügt hatte; nur wenn der Schwachsinnige in seiner +kindischen Sehnsucht ihren Namen nannte, wenn er sie als Tochter grüßte +und rief, brannte das Weh in alter Schärfe. + +Noch einmal wurde der Ratsherr Achtermann Herr seines Verstandes. Das +war in der Stunde, da der Tod schon zu seinen Häupten stand. Da büßte +er alles, was er gesündigt hatte. »Vergib mir, mein Sohn, was ich Dir +tat. Vergib mir, Venne, geliebte Tochter, in Deiner lichten Höhe. Ich +komme und will den Saum Deines Gewandes küssen. Herr, Herr, behalte mir +die Sünde nicht vor.« + +Erschüttert stand der Sohn daneben. Sein Groll schmolz dahin. Er legte +die Hände des Sterbenden zusammen und betete mit ihm: »Herr, vergib uns +unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.« + +Es starb der Vater, es starb ihm die Mutter. Nun lebte er ganz +allein. Es war ein stiller, einsamer Mann, der zu der Stelle an der +Kirchhofsmauer wallfahrtete, wo sie Venne Richerdes gebettet hatten. +Lieblicher als Menschenhand schmückte Mutter Natur die Ruhestätte, die +von den Menschen gemieden wurde. + +Man lockte ihn mit hübschen, schönen Jungfrauen, die bereit waren, an +der Seite des Einsamen durch das Leben zu pilgern; er achtete ihrer +nicht. Früh bleichte sein Haar. Man schalt ihn einen Menschenfeind und +Sonderling; er hörte es nicht. Nur dem kleinen Kreise derer, die Venne +Richerdes bis zum Tode die Treue gewahrt hatten, blieb er ein Freund. +Im Hause der Hardts fand auch sein Mund wieder Worte. Man gedachte der +ihm Entrissenen. + +Mit wehmütiger Freude traf der Blick Heinrichs das junge, blühende +Geschlecht, das dort in der Unschuld seiner Kindheit heranreifte. Seine +Hand glitt wie segnend über den Scheitel des Töchterchens, das sich +vertrauensvoll an ihn schmiegte. Seine Gedanken suchten das Dunkel zu +durchdringen, das ihre Zukunft verhüllte: Was wird ihrer harren hier +auf Erden? + +Und er fand die Antwort, wie sie lauten mußte: Liebe und Kampf und +Kampf und Liebe in der ewigen Wiederholung des Menschenschicksals! + + + + +Anmerkungen zur Transkription: + +Die erste Zeile entspricht dem Original, die zweite Zeile enthält die +Korrektur. + +S. 132 + +Sie alle feierten +Sie alle froren + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75443 *** diff --git a/75443-h/75443-h.htm b/75443-h/75443-h.htm new file mode 100644 index 0000000..12370b2 --- /dev/null +++ b/75443-h/75443-h.htm @@ -0,0 +1,8582 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> + <meta charset="UTF-8"> + <title> + Venne Richerdes. | Project Gutenberg + </title> + <link rel="icon" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <style> + +body { + margin-left: 10%; + margin-right: 10%;} + + h1,h2 { + text-align: center; + clear: both;} + +h1 { font-size: 210%} +h2, .s2 { font-size: 175%} +.s3 { font-size: 125%} +.s4 { font-size: 110%} +.s5 { font-size: 90%} + +h1{ margin-top: 1em; 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Halle).</p><br> + +<div class="chapter"> +<p class="mtop2 mbot2 s2 center"><b>Meiner lieben Heimatstadt<br> +Goslar</b></p><br> +</div> + +<div class="chapter"> +<hr class="r35"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span></p> +<h2 class="nobreak" id="Erstes_Buch">Erstes Buch</h2> +<hr class="r35"><br> +</div> + +<p class="drop">Die welschen Studenten nannten die beiden blonden Jünglinge insgemein +›<span class="antiqua">li gemini</span>‹, die Zwillinge. Halb war es Spott, halb Neid, der +aus diesem Beinamen erklang. Besser noch trafen es die Bologneser +Schönen, die den dritten, den braunlockigen Gottfried Kristaller, aus +dem Bistum Straßburg gebürtig, in ihren Scherz mit einschlossen und die +drei die ›Unzertrennlichen‹, ›<span class="antiqua">li inseparabili</span>‹, tauften. Hinter +dem vorgehaltenen Fächer, hinter dem wohlverwahrten Fenster klang +es immer wieder: ›<span class="antiqua">Li inseparabili</span>‹, wenn die drei Deutschen +auftauchten oder vorübergingen.</p> + +<p>Seit geraumer Zeit schon weilten sie auf Bolognas Hoher Schule, um dem +Studium der Rechte obzuliegen, das hier nach wie vor seine vornehmste +Pflegestätte hatte. Der Älteste von ihnen, Johannes Hardt, war der +Semester vier hier, sein Vetter Heinrich Achtermann, gleich ihm in +der alten Kaiserstadt Goslar am Fuße des Harzes daheim, kam vor mehr +als Jahresfrist über die Alpen gezogen, und der dritte, Gottfried +Kristaller, hielt die Mitte zwischen ihnen, was die Zeit des Studiums +an der welschen Universität betraf.</p> + +<p>Jetzt waren sie alle drei bereit, Bologna zu verlassen. Johannes +hatte sein Ziel erreicht, denn er war unlängst zum Doktor der Rechte +promoviert worden. Heinrich wollte mit ihm ziehen, weil es so geplant +war und weil ihm der Zweck seines Aufenthaltes im Auslande erreicht zu +sein schien, nämlich sich in der Welt umzusehen und sich dabei ein wenn +auch bescheidenes Maß von juristischen Kenntnissen anzueignen, das<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> ihm +für die Ratsherrnstelle in Goslar, die ihm nach Geburt und Herkommen +sicher war, nicht schaden würde und ihm auch für seine demnächstige +Beschäftigung in dem umfangreichen Handelsgeschäfte seines Vaters, des +Rats- und Kaufherrn Heinrich Achtermann, nur förderlich sein konnte. +Und Gottfried endlich schied, weil er es ohne die Gesellen in Bologna +fürder nicht glaubte aushalten zu können.</p> + +<p>Die Abreise war beschlossen, der Tag dazu festgesetzt, der die +Unzertrennlichen scheiden würde. Die beiden Goslarer wollten den +kürzesten Weg in die Heimat einschlagen, den über den Brenner, während +Gottfried Kristaller die Reise über Mailand und den Gotthardt wählte, +um so gleichfalls möglichst schnell nach Straßburg zu gelangen.</p> + +<p>Das bessere Teil fiel dabei Heinrich und Johannes zu, denn ihnen +erblühte mit dem in Aussicht genommenen Wege das Glück, in anmutiger +Gesellschaft bis in die Heimat zusammenreisen zu können. Es waren die +Damen von Walldorf, des Feldobristen von Walldorf zu Braunschweig +Ehegemahl und seine liebreizende und lebensfrische Tochter Richenza.</p> + +<p>Man lernte die Damen in dem gastlichen Hause des Professors von +Wendelin kennen, der am <span class="antiqua">Collegium germanicum</span> der welschen +Universität die Rechte lehrte. Bologna genoß, wie schon angedeutet, +dermalen noch den Ruf, die berühmteste Rechtsschule der Welt in seinen +Mauern zu beherbergen, und die meisten Nationen, so auch das Deutsche +Reich, unterhielten dort Akademien, die der Universität angeschlossen +waren.</p> + +<p>Professor Hieronymus von Wendelin weilte seit fast 30 Jahren als +berühmter Lehrer in Bologna, und zu seinen Füßen hatte Johannes seit +mehr als zwei Jahren gesessen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span></p> + +<p>Auch die Freunde verdankten, was sie an geistiger Nahrung dort +genossen, in vornehmster Weise Wendelin. Viel war das freilich bei +Gottfried Kristaller nicht, und noch weniger hatte sich Heinrich +Achtermann mit der trockenen Rechtswissenschaft den Magen verdorben. +Er war Studierens halber in Italien, in Bologna seinetwegen, aber +das Studium beschränkte sich nach seiner Ansicht nicht darauf, den +spröden Stoff des römischen und kirchlichen Rechts zu zergliedern, +wie es Wendelin und andere gelehrte Herren versuchten, sondern für +ihn schloß es auch das Studieren von Land und Leuten in sich, und +unter diesen wieder nahmen die Frauen sein Hauptaugenmerk in Anspruch, +die <em class="gesperrt">schönen</em>, wie sich versteht. Und so beharrlich schaute er +den liebreizenden Bologneserinnen in die glänzenden Augen, bis die +Besitzerinnen, was freilich nicht oft geschah, verwirrt die dunklen +Wimpern über die leuchtenden Sterne herabsenkten oder er erforscht +zu haben glaubte, was auf ihrem tiefsten Grunde an Geheimnissen und +Seelenregungen geschrieben stand.</p> + +<p>Gottfried Kristaller, der leichtlebige, bewegliche Alemanne, suchte +es ihm darin gleichzutun. Was er an Wissen mit sich nahm, drückte ihn +gewiß nicht nieder; aber er hoffte, die Lücken in seinen Kenntnissen +daheim, in der gleichförmigen Ruhe des Vaterhauses bald ausfüllen zu +können. So ergab es sich, daß er und Heinrich Achtermann in Wahrheit +die Unzertrennlichen waren. Gemeinsam durchtollten sie die Nächte, +gemeinsam verübten sie ihre losen Streiche, von denen dieser oder +jener sie in nicht unbedenkliche Händel zu verwickeln drohte. Aber ihr +unverwüstlicher Frohsinn half ihnen über alle Schwierigkeiten hinweg, +und vor dem Freimut, mit dem sie ihre Sünden bekannten, glättete sich +auch die düsterste Stirn.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span></p> + +<p>Nur selten eilten Heinrichs Gedanken in die ferne Heimat. Und was vor +ihm alsdann auftauchte an altmodischer Tracht und Sitte im Vaterhause, +vermochte ihn nicht lange zu fesseln. Er kehrte immer wieder schnell +in die Wirklichkeit zurück, die ihn lachend und schmeichelnd umgab. +Daheim lebte ihm der würdige Vater, immer und allerorts bestrebt, +seiner Stellung als Ratsherr und Patrizier nichts zu vergeben, ihn, +den Sohn und Erben, schon jetzt immer ermahnend, auf seinen künftigen +Rang Rücksicht zu nehmen. Dort waltete die Mutter, die in ähnlicher +Fürsorge an ihm arbeitete. Dort war alles auf die Form, auf den Anstand +zugeschnitten, hier aber umgab ihn das lachende, sorglose Leben der +Italiener, die in heiterer Ungebundenheit jeder Regung des Herzens +unverhüllt und ungeschmält Ausdruck verleihen durften. Wäre es nach ihm +allein gegangen, er hätte das sonnige Land noch länger zu seiner Heimat +erwählt.</p> + +<p>Auch eine Schwester war ihm beschieden, nur wenig jünger als er und im +Wesen ihm nicht unähnlich. Aber die beiderseitige Lebhaftigkeit trug +nur dazu bei, daß sie sich nach Geschwisterart ständig in den Haaren +lagen, ohne daß eigentlich ernstliche Zerwürfnisse zwischen ihnen +vorkamen. Doch Heinrichs Bedürfnis, zu necken und zu hänseln, erregte +immer wieder den hellen Zorn des Schwesterleins, namentlich, wenn er es +sich einfallen ließ, in ihr Zimmer zu kommen, während Freundinnen zu +Besuch da waren. Drang er alsdann unbefugterweise ein, so konnte man +darauf wetten, daß sein Abzug zuletzt ein unfreiwilliger war, der unter +Schelten der Mädchen vor sich ging. Ihn aber focht das nicht weiter an, +und noch heute gedachte er mit Schmunzeln der mancherlei Szenen, die es +dabei gegeben hatte. Am lebhaftesten stand ihm die letzte<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> vor Augen, +die sich kurz vor seiner Abreise abspielte. Und auch die Gestalt der +Freundin, um die es sich dabei handelte, war ihm in aller Lebendigkeit +gewärtig.</p> + +<p>Ein eigenartiges Mädchen, diese Venne Richerdes, wie sie ihm in der +Erinnerung vorschwebte, lang aufgeschossen und noch ohne jede Rundung +in den Formen. Weshalb gerade diese ihm besonders vor Augen stand, +hätte er selbst nicht zu sagen vermocht. Vielleicht entwickelte sich +das junge Ding noch einmal zu einer annehmbaren Mädchengestalt. Vorab +aber fiel sie nur auf durch ihr sprödes, zurückhaltendes Wesen, das +nicht selten sich in schroffen Meinungsäußerungen gefiel, besonders +wenn sie mit seinesgleichen zusammengeriet.</p> + +<p>Doch, eins hob sie aus dem Rahmen der übrigen hervor, das war die +unnachahmliche Haltung des Kopfes mit dem wundervollen Rund der Zöpfe, +die sich wie eine Krone um das Haupt legten, und dann das Spiel der +Augen. Diese Augen, in deren unergründlicher Tiefe jetzt verhaltene +Wehmut schlummerte, jetzt schalkhafte Teufelchen ihr Wesen zu treiben +schienen und die in Augenblicken der Erregung flimmernde Blitze zu +sprühen begannen. Ihm selbst war aus ihnen auch oft der Zornteufel +entgegengefahren, wenn er sich nach seiner Art mit irgendeiner ihrer +kleinen Eigenheiten beschäftigte. Selbst der Abschied von ihr verlief +als ein solches Gewitter. Ja, zum Abschiednehmen kam es eigentlich +gar nicht; denn als er sie am Tage vor seiner Abreise zufällig bei +der Schwester traf, trat die zornige Spannung in ihrem Gesicht von +Minute zu Minute deutlicher hervor. Die Schwester suchte ihn, wie so +oft schon, auf schickliche Weise, hinauszubugsieren; aber in seiner +behaglichen Dickfelligkeit pflanzte er sich nun erst recht breit in +einen Sessel. Als das<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> Gespräch zwischen den beiden Mädchen einen +Augenblick stockte, suchte er es durch eine seiner gewöhnlichen +Neckereien wieder in Fluß zu bringen. Noch schwieg die kampfbereite +Venne, doch in ihren Augen wetterleuchtete es unheilverkündend, wie er +mit innerer Freude feststellte. Nun bedurfte es nur noch geringer Mühe: +hierhin einen kleinen Stich und dort einen Hieb, da war die Entladung +da. Noch ein Wort, und Venne sprang auf und eilte zur Tür, ohne ihn +eines Wortes zu würdigen; nur ein funkelnder Blick traf ihn dort noch, +vor dem er sich, wäre er weniger dickfellig gewesen, hätte verkriechen +sollen.</p> + +<p>Der Erfolg verblüffte selbst ihn: Teufel auch, war das eine hitzige +Kröte! Und nun setzte noch das Schmälen und Schelten der Schwester ein, +daß er alle ihre Freundinnen weggraule. Es endigte zuletzt damit, daß +sie ihn wutentbrannt aus dem Zimmer jagte. Er ging in dem nicht sehr +behaglichen Gefühl, daß er vielleicht doch etwas zu weit gegangen sei, +und es tat ihm halbwegs leid, daß sein Abschied von diesem Mädchen, das +ihn durch ihre Eigenart immer wieder anzog, sich in so unfreundlicher +Weise vollzogen hatte und daß sie seiner vielleicht mit Groll gedenke; +denn Heinrich Achtermann war ein durchaus gutmütiger Gesell, dem es +nicht entfernt beikam, einem Menschen absichtlich Unrecht zuzufügen.</p> + +<p>Heute freilich lächelte er in der Erinnerung an jene dramatische Szene: +Wetter noch einmal, hatte das Ding Temperament! — Wie mochte sie sich +übrigens wohl inzwischen entwickelt haben? Ob sie seiner noch immer in +unauslöschlichem Groll gedachte! — Da kehrten seine Gedanken in die +Umwelt zurück und fanden sogleich das Ziel seiner Sehnsucht und Wünsche +von heute, Richenza von Walldorf.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span></p> + +<p>Ja, die wenigen Wochen ihres Aufenthaltes im Hause der Wendelins und +der rege Verkehr mit den Damen hatte genügt, um sein Herz lichterloh +für die schöne Tochter des Obristen brennen zu lassen. Vergessen waren +die liebreizenden Bologneserinnen, verdrängt von der lebensfrischen, +sprudelnden Nichte des Professors.</p> + +<p>Sie war zur Zeit unbeschränkte Alleinherrscherin in seinem Herzen. Auch +die Freunde merkten seinen Gemütszustand und ließen es an harmlosen +Neckereien nicht fehlen. Daß die kluge Richenza allein die Verheerung +nicht erkannt hätte, die sie angerichtet, war kaum zu glauben. Sie +ließ sich die Huldigungen des stattlichen Jünglings gern gefallen. +Freilich besorgte sie nicht, daß er dauernd seinen Seelenfrieden an +sie verlieren werde; denn die gelegentlichen Äußerungen der Freunde +verrieten ihr, daß sie nicht die erste Rose sei, die er zu pflücken +begehre. Über ihre eigenen Gefühle war sie sich nicht ganz im klaren, +aber sie traute sich die Zurückhaltung zu, die gegebenenfalls, auch +während der engeren Berührung, wie sie die gemeinsame Heimreise +notwendig bringen mußte, eine Schranke festhalten würde, um ein allzu +ungestümes Werben zu verhindern. Jetzt sahen sie sich täglich, ja +die letzten Tage, seit die Studenten ihrer Verpflichtungen gegen +die Universität überhoben waren, mehrmals am Tage, nachmittags bei +gemeinsamen Spaziergängen, abends im Hause der Wendelins.</p> + +<p>Ein besonderer Anlaß hatte die Walldorfschen Damen nach Italien +geführt. Daheim lag das Brüderlein an langem Siechtum darnieder. +Keine ärztliche Kunst konnte ihm Heilung bringen. Da riet der ihnen +befreundete Prior eines Klosters der frommen Mutter, sie solle eine +Wallfahrt nach Rom unternehmen, um den Segen des Papstes und die +mächtige<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> Fürbitte der Heiligen zu gewinnen. Der Vater, der rauhe +Kriegsmann, murrte und sprach von pfäffischem Firlefanz, aber die +Mutter ließ sich nicht beirren und brach mit der Tochter auf.</p> + +<p>Rom lag hinter ihnen, und ihre Herzen waren voll froher Hoffnung; denn +nicht nur hatten sie sich die Fürsprache im Himmel gesichert, sondern +sie brachten auch die Vorschriften eines berühmten Arztes mit, von +dessen Heilkunst sie in Rom erfuhren. Nach genauer Erkundigung über die +Art des Leidens gab er ihnen seinen ärztlichen Rat mit auf den Weg.</p> + +<p>Angesichts der Beschwerden der Reise war es für die Damen eine große +Erleichterung, daß sie in den Wendelins Verwandte fanden, die ihnen +auf der Hin-, wie auf der Rückreise gern Gastfreundschaft erwiesen. +Dieser Aufenthalt bei dem berühmten Rechtsgelehrten, den sie, besonders +Richenza, bisher kaum mehr als dem Namen nach gekannt hatten, bot ihnen +nicht nur willkommene Rast, sondern zwischen der Tochter des Hauses, +der lieblichen Gisela, und Richenza war eine aufrichtige Freundschaft +und eine fast schwesterliche Liebe aufgeblüht.</p> + +<p>Lag, als sie nach Rom wollten, noch die Sorge um den Sohn und +Bruder wie ein Druck auf ihnen, so gab sich Richenza jetzt mit der +ungebundenen Fröhlichkeit, die ein Grundzug ihres Wesens war. In den +jungen Deutschen, die im Hause Wendelin ein und aus gingen, fand sie +das willkommene Gegenstück zu ihrem eigenen Frohsinn, und Heinrich +Achtermann wie Gottfried Kristaller waren immer bereit, auf ihre +tausend Neckereien und Scherze einzugehen, während Johannes mehr zu der +stilleren Gisela stand.</p> + +<p>Die Aussicht, mit den beiden Goslarern die Heimreise antreten zu +können, erfüllte Richenza mit heller Freude; denn<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> auf die Dauer war +von der frommen Mutter und dem bewährten Diener, den sie mitgebracht +hatten, nicht allzuviel Kurzweil zu erwarten. Man beredete alle +Einzelheiten der Fahrt, und der Tag der Abreise stand fest, da wurden +ihre Pläne noch im letzten Augenblick über den Haufen geworfen.</p> + +<p>Heinrich und Johannes wohnten in einem Hause der Karmelitergasse. +Die Verbindung mit der Heimat war während ihres Aufenthaltes in der +Fremde nicht allzu eng gewesen, ein Schreiben hin und her im Jahre oder +deren zwei, das erschien beiden Teilen ausreichend, um sich von dem +gegenseitigen Wohlergehen unterrichtet zu halten. Um so größer daher +das Staunen, als Heinrich Achtermann kurz vor der Abreise noch einen +Brief des Vaters ausgehändigt erhielt, der den letzten Teil seines +Weges, von Trient ab, sogar mit besonderem Boten befördert worden +war, da der Wagenzug der Kaufleute, die bis dahin den freundwilligen +Beförderer abgegeben hatten, linksab, ins Val Sugano, einbog, um nach +Venedig zu gelangen. Heinrich erbrach das Siegel voller Erregung, denn +er ahnte, daß in dem Briefe Ungewöhnliches stehen werde. Kaum hatte er +ihn durchflogen, da eilte er auch schon zu Johannes und pochte ungestüm +an das noch verschlossene Zimmer.</p> + +<p>»Auf, Langschläfer, mach' auf!« Und als der drinnen etwas von +»Ruhestörer« murrte, rief er noch dringlicher: »Eile Dich, wichtige +Nachricht von daheim!«</p> + +<p>Da öffnete Johannes, der erst notdürftig bekleidet war, die Tür, und +schon sprudelte ihm Heinrich die Neuigkeit entgegen.</p> + +<p>»So lies doch, Mensch, lies doch«, drängte er, fuchtelte dabei aber +mit dem Schreiben umher. Ruhig nahm es ihm Johannes aus der Hand und +schickte sich an zu lesen, doch<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> schon unterbrach ihn der Freund +wieder: »Denk' doch, unser ganzer Reiseplan ist über den Haufen +geworfen; nach Mailand sollen wir, über den Gotthardt, mit dem Ernesti +ziehen!«</p> + +<p>Etwas unwillig wehrte ihn Johannes ab: »Soll ich nun lesen, oder willst +Du erzählen?«</p> + +<p>Da ließ jener von ihm ab, konnte sich aber nicht enthalten, über dem +Lesen immer wieder einen kleinen Fluch oder ein erregtes »Was sagst +Du dazu?« einzuschalten. Johannes ließ sich indes nicht beirren, +sondern las den Brief mit aller Gründlichkeit, und als er am Ende +war, begann er noch einmal. Aber wiederum vermochte er nichts anderes +herauszudeuten, als was er schon zum ersten Male gelesen.</p> + +<p>Also schrieb aber der Vater und Ratsherr Heinrich Achtermann zu Goslar +an seinen Sohn Heinrich:</p> + +<p>»... demnach wir darauff gefaßt seyn undt erwarten, daß Deine +Rückkehr, viellieber Sohn, sich noch umb mehreres verzögern werde, +wasmaßen wir wünschen müssen, daß Du, ohngeachtet der größeren +Strapazen undt Fatiguen, von Bologna den Weg uber Mediolanum, welches +man jetzo heyßet Maylant, undt weyter uber den Sankt Gotthardtsperg +wählen mögest, weyl Du in obgemeldeter Statt zum Anfang octobris den +wohledlen undt wohlachtbaren Herrn Henricus Ernesti würst treffen, als +welcher, nähmlich Herr Henricus Ernesti, dem hohen Rahte der Statt +Goslar günstige Bottschaft von der römischen Curia, auch des Papstes +Heyligkeyt zu erlangen beauftraget undt gewillt ist.</p> + +<p>Obzwar nun vorbemeldeter Herr Henricus Ernesti unß solche Bottschaft +<span class="antiqua">in persona</span> zu uberbringen bereyt, auch gehalten ist, er unß +aber bittet, ihn vors erste davon zu befreyen, sintemalen er noch in +denen hollandtschen Stätten zu weylen obligieret sey, haben wir unß +dahin resolvieret, daß<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> Du, viellieber Sohn, die obgemeldete Bottschaft +uns, <span class="antiqua">sigillo</span> wohl verwahret, unversehret uberbringen mögest, +undt seyn wir gewärtig, daß Du Dich der hohen Ehre, so Dir damit +widerfähret, würst wohl gewachsen zeygen. Tun Dir auch zu wissen, daß +es des Herrn Doctor Rudolpfus Hardt, als des Vaters Deynes Freundes +undt Gesellen Johannes Hardt, Wille undt Befehl ist, selbiger möge Dir +das Geleyt geben auf der Reyse gen Maylant zum Herrn Henricus Ernesti. +Auch verhoffen wir, daß Ihr alle Fährlichkeyten der Fahrt möget wohl +bestehen undt bey unß in Gesundtheyt werdet eyntreffen ...« Also +schrieb der Ratsherr Achtermann an seinen Sohn Heinrich unter dem 25. +Juni des Jahres 1515.</p> + +<p>Johannes rieb sich die Stirn: Das warf ihre Reisepläne allerdings +gründlich über den Haufen! Ihm selbst machte es ja schließlich nicht +viel aus, ob er einige Monate früher oder später in Goslar eintraf, und +da ihm Gelegenheit geboten wurde, das mächtige Handelszentrum Mailand +zu sehen, wie die Schweiz und den Rhein, so sagte ihm die Änderung +von Minute zu Minute mehr zu. Aber er verstand den Groll Heinrichs +ebensosehr, kam dieser doch um die Möglichkeit, mit seiner neuen +Herzenskönigin, der schönen Richenza, noch länger zusammenzusein.</p> + +<p>Natürlich mußte auch Gottfried Kristaller sogleich von der veränderten +Lage unterrichtet werden! Sie fanden ihn beim Frühstück. Er gewann der +Sache sofort die beste Seite ab. »Aber das ist ja herrlich, prächtig, +ihr Leute«, rief er begeistert. »Da reisen wir ja zusammen, und ich +kann Euch unser altes, liebes Straßburg zeigen.«</p> + +<p>»Du hast gut reden«, murrte Heinrich. »Dir mag es<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> gelegen kommen, aber +mir verdirbt es die ganze Rechnung.«</p> + +<p>»Ach ja, ich verstehe,« schaltete Gottfried gutmütig lachend ein, »Du +meinst, nun geht Dir das trauliche Zusammensein mit Richenza Walldorf +verloren. Herzliches Beileid! Aber ich schaffe Dir Ersatz in unsern +schönen Straßburgerinnen.«</p> + +<p>»Geh mir mit Deinen Dummheiten. Was gehen mich Deine Straßburger +Gänschen an!« grollte er. »Oho,« zürnte da Gottfried, dem der Schelm im +Nacken saß, »das laß nur mein Schwesterlein hören! Gerade ihr wollte +ich Dich präsentieren, von den noch schöneren Bäschen und Freundinnen +ganz zu schweigen. Doch wenn Du nicht willst, so habe ich noch ein +anderes Lockmittel: Unsern Wein wirst Du nicht verschmähen, und der +wird Deine Lebensgeister schon wieder heben. Erst wird gehörig Rast +im alten Straßburg gehalten, und dann mögt Ihr zu Euren Hyperboräern +heimziehen. Mich friert jetzt schon, denke ich nur an Eure Eiswüsten da +oben im Norden!«</p> + +<p>Da mischte sich Johannes ins Wort. »Nun gebt einmal Ruhe, Ihr +Streithähne, und laßt uns überlegen, was zunächst zu tun ist. Ich +meine, vor allem müssen wir die Walldorfschen Damen von der Neuigkeit +unterrichten.« Und das geschah denn auch.</p> + +<p>Man war natürlich im Hause Wendelin nicht weniger überrascht, und +besonders Richenza tat unzufrieden, daß die schönen Pläne ins Wasser +fielen. Aber es zeigte sich doch, daß die Wunde, die ihrem Herzen +geschlagen war, nicht allzu tief ging. Während die Mutter noch klagte, +daß sie nun der angenehmen Begleitung und des Schutzes verlustig +gingen, fand Richenza schon wieder ein munteres Wort. »Ei, so müssen +wir uns also des Wiedersehens daheim getrösten,<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> in Goslar oder in +Braunschweig. Und nun wollen wir nicht länger Kopfhänger sein«, schloß +sie herzhaft. »Die Tage schwinden schnell dahin, die uns noch bleiben. +›<span class="antiqua">Carpe diem</span>‹, heißt's nicht so, Ihr gelehrten Herren? Ich +hörte es immer vom Oheim in Braunschweig, wenn ihm die Schaffnerin +noch heimlich eine Flasche des guten Weines holen mußte, ohne daß es +die Gattin sah. Also ans Werk, das heißt: Was wollen wir heute noch +unternehmen?«</p> + +<p>Die Auswahl war nicht groß in Bologna. Die dumpfen, glutheißen Straßen +der Stadt boten kaum des Abends Erholung, und die Elemente, welche sie +alsdann belebten, waren, wie andererorts, kein Anreiz für Damen. Es +blieben nur die Uferwaldungen am nahen Reno übrig, dessen schattige +Gänge man also am Spätnachmittage aufsuchen wollte. Der Fluß selbst +war, wie die meisten Wasserläufe, die der Apennin speist, jetzt zu +einem dünnen Rinnsal zusammengeschrumpft.</p> + +<p>Der Schicklichkeit halber begleitete Donna Wendelin, die Mutter +Giselas, die Ausflügler, obwohl diese lieber unter sich gewesen wären. +Dem guten Gottfried fiel die Ehre zu, die Dame zu führen. Er machte +zuerst ein etwas sauersüßes Gesicht, doch er fand sich bald mit Anstand +in seine Würde, zumal er wußte, daß er den Freunden, mindestens +Heinrich Achtermann, einen Gefallen erwies. Auch war Frau von Wendelin +noch eine sehr hübsche Frau zu nennen, der man die erwachsene Tochter +nicht ansah. Gottfried spielte seine Rolle als galanter Ritter so +anmutig und war so unerschöpflich in seinen drolligen Einfällen, daß +Frau von Wendelin aus dem Lachen nicht herauskam.</p> + +<p>Die beiden anderen Paare gingen bald langsamer, bald<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> schneller +und beredeten, was ihnen am Herzen lag. Heinrichs Ungestüm drängte +immer wieder zu einem entscheidenden Wort, aber Richenza hielt ihn +mit ebensoviel Anmut wie Geschicklichkeit in Schranken. Als er dann +doch von seiner Liebe zu reden begann, unterbrach sie ihn schelmisch +lächelnd, wie wohl auch ihr bei seinen Worten ums Herz war.</p> + +<p>»Ich bitte Euch, sprecht nicht weiter. Wir wollen den Tag nicht durch +so ernste Dinge belasten. Ihr seid mir gut, das will ich glauben, +wenngleich ...« — Heinrich wollte beteuern, da fuhr sie heiter fort: +»Um Gottes willen, nur nicht auch noch einen schweren Eid bei dieser +schrecklichen Hitze; ich will's Euch glauben, auch unbeschworen. Doch +im Ernst, wir wollen jetzt vernünftig sein. Laßt erst einmal die Reise +zwischen unserer jungen Freundschaft liegen, dann mag's sich erweisen. +Übrigens wird auch mein Herr Vater noch ein Wort mitreden wollen, +ein gar gestrenger Herr!« — Die Schelmin wußte, daß sie den Vater +bisher immer noch dahin brachte, wohin sie ihn haben wollte, und sie +verschwieg auch, daß just in diesem Augenblick das hübsche Gesicht +eines Vetters von daheim vor ihr auftauchte, der ihr seine Neigung mit +noch heißeren Worten kundgetan hatte, ohne daß sie auch darüber gerade +ungehalten gewesen wäre.</p> + +<p>Seufzend ergab sich Heinrich in sein Schicksal und machte ein so +betrübtes Gesicht, daß die muntere Richenza hellauf lachte. »Um Gott, +nicht diese Leichenbittermiene. Ich verschwöre es ja nicht, Euch +später anzuhören, nur Geduld sollt Ihr haben. Vielleicht sehen wir uns +demnächst in Braunschweig wieder, und vielleicht müßt ihr mich dort im +edlen Wettbewerb mit andern zu erringen suchen, die auch mich<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> garstige +Person ins Auge gefaßt haben. Ich freue mich schon jetzt auf die Rolle +der minniglichen Richterin über euch.« Das war wieder ganz der Schelm +Richenza, und nun fand sich auch Heinrich wieder.</p> + +<p>Währenddessen gingen Gisela und Johannes miteinander. Ihr Gespräch floß +nicht so leicht dahin wie das der Übrigen. Namentlich Gisela wollte +bisweilen, wie es schien, das Wort versagen.</p> + +<p>Sie waren in der langen Zeit, seit Johannes in Bologna weilte, in ein +fast kameradschaftliches Verhältnis zueinander gekommen. Als der junge +Student vor nunmehr mehr als zwei Jahren ankam, brachte er die Grüße +und Empfehlungen seines Vaters mit, der, jetzt ein gesuchter Arzt +in Goslar, einst mit dem Professor von Wendelin in Leipzig zusammen +studiert und Freundschaft gehalten hatte. Diese alte Bekanntschaft +öffnete Johannes sogleich das Haus der Wendelins, und er ging dort bald +wie ein Sohn ein und aus.</p> + +<p>Die Studenten des <span class="antiqua">Collegium germanicum</span> hielten gleich denen der +andern Nationen eng zusammen, und die Professoren, zumeist Deutsche, +wie Herr von Wendelin, stützten diesen Zusammenschluß dadurch, daß sie +die jungen Leute an sich zogen, blieb ihnen doch selbst die Verbindung +mit der alten Heimat erhalten.</p> + +<p>Nicht alle die wilden Gesellen jener Zeit der Scholaren und Vaganten +vermochten sich im Zaum zu halten. Aber die Gutgearteten unter ihnen +und die aus gesitteten Familien waren doch froh, daß sich ihnen hier im +fernen Welschland ein Haus auftat, in dem deutsche Laute erklangen und +deutsche Art gepflegt wurde. Auch die rohen Elemente vergaßen selten +eine Wohltat, die ihnen von den Professoren erwiesen wurde. Und Herr +von Wendelin hatte sich in dieser<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> Hinsicht in mehr als einem Herzen +ein Denkmal der Dankbarkeit gesetzt.</p> + +<p>Von all diesem sprach Johannes heute zu Gisela, und aus seinen Worten +erklang eine aufrichtige, ehrliche Dankbarkeit, daß es ihr warm ums +Herz wurde bei so viel Anerkennung ihres geliebten Vaters. Und dann kam +Johannes auf sie selbst zu sprechen und ihre Freundschaft, und er gab +ihr seinen heißen Dank zu erkennen, daß sie ihn dieser Freundschaft +gewürdigt habe. Einem Impulse folgend, ergriff er ihre Hände und +sprach, während er sich zu ihr neigte: »Habt Dank für alles, was Ihr +mir erwiesen. Ich weiß nicht, wie ich die Trennung von Euch und Euren +lieben Eltern werde ertragen können. In meinem Herzen bleibt Ihr für +immer. Bewahrt auch mir ein freundliches Gedenken.«</p> + +<p>Gisela war unter den Worten ihres Begleiters errötet und erblaßt. Sie +vermochte kein Wort zu sagen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Da +kam ihrer Verwirrung Gottfried zu Hilfe, der sich gerade näherte. Sie +suchte sich zu fassen und zwang sich sogar ein Lächeln ab, als jener +eine launige Bemerkung fallen ließ. Dann schickte man sich zur Rückkehr +an.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Dies war nun der letzte Abend, den die jungen Deutschen in Bologna +verlebten. Er beschloß die schönen Tage, welche dem Abschiede +vorhergingen, und fand sie, wie begreiflich, im Hause der Wendelins.</p> + +<p>Alle bemühten sich, den Scheidenden die Stunden so angenehm wie +möglich zu machen. Aber sie konnten es doch nicht verhindern, daß +ein Hauch leiser Wehmut über dem<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> kleinen Kreise lag, je weiter die +Stunden vorrückten. Besonders Gisela zerdrückte mehr als einmal eine +stille Träne, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Dann glitt wohl +ein schneller, heimlicher Blick nach dem Platze, wo Johannes neben +der Mutter saß: Ach, er wußte ja nicht, wie ihm ihr junges Herz +entgegenschlug und wie schwer sie an dem Gedanken trug, ihn morgen +vielleicht für immer zu verlieren.</p> + +<p>Die Mutter ahnte nicht, welche Verwirrung der junge Deutsche im Herzen +ihres Töchterchens angerichtet hatte. Sie unterhielt sich mit ihm über +die ferne Heimat ihres Gatten und sah sie durch den Mund des Freundes +neu, in begeisterter Schilderung vor sich erstehen. Aber immer mehr +senkten sich, von den Augenblicken angeregter Rede abgesehen, die +Schatten wehmutsvoller Trauer herab. Noch einmal suchte die fröhliche +Richenza die Stimmung zu retten mit einem Appell an die Jugend, wobei +sie ihre Freundin Gisela besonders ins Auge faßte.</p> + +<p>»Euch ist wohl heute nachmittag der letzte Trost auf dem Reno +davongeschwommen, als wir an seinen Ufern uns ergingen. Laßt Euch +nicht an Seelenstärke von einem schwachen Mädchen, wie ich es bin, +übertreffen. Droht uns doch, meinem lieben Mütterlein, wie mir, in +gleicher Weise die Stunde des Abschieds von diesem gastlichsten aller +Häuser im Lande Italia. Ich aber habe mein Herz gewappnet gegen alle +Trübsal und helfe mir über die Wehmut des Augenblicks mit einem +herzhaften ›Auf Wiedersehen‹ hinweg.«</p> + +<p>»Mach' es wie ich,« wandte sie sich nunmehr direkt an ihre Base, die +liebliche Gisela, deren Gesicht sich bei den Worten der Freundin noch +mehr mit Trauer überschattet hatte, »verhärte dein Herzlein, daß die +Herren nicht meinen, sie hätten uns bezwungen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p> + +<p>Doch damit beschwor sie das Unheil erst recht herauf. Hatte sich +Gisela bis jetzt noch tapfer gehalten, so rannen ihr nunmehr die +Tränen unaufhörlich über die Wangen, und sie stürzte fluchtartig aus +dem Zimmer, um ihr Herzeleid den übrigen zu verbergen. Bestürzt sahen +diese ihr nach. Wohl hatten die Eltern bemerkt, daß eine Freundschaft +zwischen ihrem Töchterlein und dem jungen Deutschen sich entwickelte; +aber der unbefangene, fast kameradschaftliche Ton, in dem sie sich +äußerte, ließ sie nicht ahnen, daß die Herzensruhe ihres Lieblings +ernstlich gestört wurde. Nun schien dies dennoch der Fall.</p> + +<p>Die Mutter wie Richenza eilten der Entflohenen nach. Der Vater blieb +allein zurück mit den jungen Freunden.</p> + +<p>Auch die Männer blickten betroffen drein. Der Vater erkannte, daß sich +eben vor seinen Augen der Anfang eines Dramas abzuspielen begann, +dessen Ausgang im dunkeln lag. Aber bei der Gefühlstiefe, die er an +seinem Töchterchen als ein Erbteil seiner selbst zu jeder Zeit bezeugt +gesehen hatte, mußte er besorgen, daß ihr schwere Stunden bevorstanden.</p> + +<p>Heinrich Achtermann und Gottfried Kristaller waren am meisten +überrascht. Daß die Tränen nicht ihnen galten, wußten sie genau. Ihre +eigenen Angelegenheiten hatten sie immer so sehr in Anspruch genommen, +daß sie auf Johannes und Gisela nicht sonderlich achtgaben. Nun zeigte +es sich, daß die arme Gisela, die ihnen um ihrer anspruchslosen +Hilfsbereitschaft und Uneigennützigkeit willen ans Herz gewachsen +war, ein Kummer bedrückte, der sie nach ihrer Eigenart besonders +schwer treffen mußte. Sie schieden beide nur mit leichter Bürde auf +dem Herzen, wenn auch Heinrich im Augenblick meinte, ohne Richenza +nicht leben zu<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> können. Doch ihm stand ja die Aussicht offen, sie in +Deutschland wiederzusehen, während für Gisela und Johannes morgen der +Abschied für immer bevorstand. Das tat ihm von Herzen leid.</p> + +<p>Johannes durchzuckte ein Gefühl, halb des Schreckens, halb der Freude, +als Gisela davoneilte. Hatte er bisher eine Art schwesterlichen +Empfindens für sich bei ihr vorausgesetzt, so war er zuerst hieran +irre geworden, als sie vor einigen Tagen am Reno ihre Gedanken über +seine bevorstehende Abreise austauschten. Er sah ihre seltsame Erregung +und Verwirrung und war geneigt, sie als eine Äußerung nicht nur rein +freundschaftlicher Zuneigung zu deuten. Worüber er sich selbst nie +zuvor klar geworden, was er für sich nie zu erhoffen gewagt hätte, +das schien in ihrem Herzen Wurzel geschlagen zu haben. Damals schon +durchzuckte ihn der Gedanke, sie könne ihn lieben, sie wolle ihm +angehören, mit einem heißen Glücksgefühl. Jetzt fand er bestätigt, was +er nicht auszudenken gewagt hatte.</p> + +<p>Dieses junge Menschenkind, über das eine gütige Fee alle Holdseligkeit +der Jugend ausgebreitet zu haben schien und das in seiner Brust +gleicherweise die edelsten Gefühle echter Weiblichkeit barg, war ihm +mehr als die Genossin frohseliger Jugendstunden, sie brachte ihm das +Geschenk einer ersten, keuschen, zarten Liebe dar. Aber zugleich +bestürmte ihn auch der Schmerz, daß er morgen schon verlieren sollte, +was er eben erst gewonnen hatte. Die Trauer griff ihm ans Herz, denn er +mußte sich bezwingen, um ihren Frieden nicht noch mehr zu stören, wie +er sich Zwang angetan hatte, seit er selbst erkannte, daß die Liebe zu +dem holdseligen Geschöpf seine Brust durchzittere.</p> + +<p>Inzwischen waren die Mutter und Richenza um Gisela<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span> bemüht. Da sie +argwöhnte, daß der junge Deutsche ihre Tochter durch seine Schuld um +ihre Herzensruhe gebracht habe, wallte zuerst der Unmut gegen jenen in +ihr auf. Aber beim ersten Wort, welches sie in dieser Hinsicht fallen +ließ, warf sich Gisela sofort zum Verteidiger des heimlich Geliebten +auf.</p> + +<p>»Er ist gewiß ganz unschuldig an der Sache, die Schuld habe ich dummes +Mädchen allein. Weshalb wußte ich meine Gefühle nicht besser zu +verbergen. Nun habe ich zu dem Schmerz auch noch den Spott, denn die +Freunde werden sich gewiß über mich einfältiges Ding lustig machen.«</p> + +<p>»Das werden sie nicht tun,« fiel ihr Richenza ins Wort, »dazu sind sie +viel zu ehrlich und anständig. Und Dein Johannes im besonderen, so darf +ich ihn hier doch wohl nennen, denkt zuletzt daran; denn ich müßte eine +schlechte Beobachterin sein, wenn nicht auch ihm der Abschied von Dir +recht naheginge.«</p> + +<p>Gisela wehrte unter Tränen lächelnd ab, doch die Freundin ließ sich +nicht beirren. »Ich weiß, was ich weiß. Übrigens kann ich ihn ja +erforschen, wenn Du es wünschest.« Erschrocken wehrte Gisela ab, +während tiefe Röte ihr Gesicht überflutete.</p> + +<p>»Daß Du Dich nicht unterstehst! Ich müßte mich ja zu Tode schämen; +denn gewiß würde er glauben, Du handeltest in meinem Auftrage, um ihn +auszuforschen.«</p> + +<p>Richenza versprach zu schweigen. »Nun aber auch wieder ein fröhliches +Gesicht aufgesteckt, daß die Herren sich nicht einbilden, Du habest um +sie Dein Tränenkrüglein gefüllt. Ich weiß zudem noch einen Trost für +Dein Leid. Es muß ja morgen nicht für immer geschieden sein. Wenn die +Eltern es erlauben, besuchst Du uns daheim in Braunschweig. Der<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> Weg zu +uns ist nicht weiter als von uns zu Euch, und Du siehst, ich bin heil +hier angelangt und hoffe, auch unversehrt wieder im alten Braunschweig +einzutreffen. Von da nach Goslar ist's ein Katzensprung. Wollt Ihr +also, so gibt es im nächsten Jahr ein frohes Wiedersehn bei uns daheim.«</p> + +<p>Gisela lächelte schwermütig zu den Zukunftsplänen der Base. »Du glaubst +ja selbst nicht, daß der Plan gelingen wird.«</p> + +<p>»Das tue ich allerdings; es hängt nur von Dir und Deinen Eltern ab, +ob und wann er in Erfüllung gehen soll. Ihr seht doch an mir und der +lieben Mutter, daß auch ein Frauenzimmer den Weg über die Alpen wagen +kann. Außerdem wirst Du immer reiche Gesellschaft finden, denn die +Straße über den Brenner ist so begangen, daß jede Gefahr ausgeschlossen +ist. Wenn Dich also nicht jedes Murmeltierchen schreckt, das ein +Steinchen zum Herabrollen bringt, so mach' Dich getrost auf die Reise. +An Kurzweil wird's Dir bei uns nicht fehlen. Nun aber laßt uns wieder +zu den Herren hineingehen, daß sie nicht auf falsche Gedanken geraten.«</p> + +<p>Auch die Mutter trieb dazu. Ihr Herz war von mehr Sorge erfüllt, als +sie zu erkennen gab; denn sie kannte ihr Kind zu genau, um nicht zu +wissen, daß die Wunde zu tief ging, um ohne ernsten Schaden geheilt +werden zu können.</p> + +<p>Im Zimmer ergriff Richenza sogleich wieder das Wort und suchte die +Situation zu klären.</p> + +<p>»Das sind die dummen Schwächen, unter denen wir Frauenzimmer leiden. +Kaum freut man sich einmal wirklich, ist auch gleich so eine Migräne +da, die uns bis zu Tränen niederzwingt. Aber, Herr Oheim, wir haben +indes schon ein Plänchen ausgeheckt, das unsere Gisela heilen wird. +Sie<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> muß einmal heraus aus eurer Tropenluft hierzulande. Erlaubt, daß +sie uns besuche daheim im lieben Braunschweig, wo ja auch Eure Wiege +stand. Dann mögen Euch ihre roten Wänglein bei der Rückkehr verraten, +daß wir gute Pflege gegeben haben; und was dabei noch für Euch, Herr +Oheim, abfällt an lebendigen Erinnerungen an Eure liebe Heimatstadt, +das nehmt als gern gegebene Draufgabe. Also entscheidet Euch kurzerhand +und gebt die Erlaubnis. Ist's nicht für sogleich, so schenkt uns die +Gisela für das kommende Jahr. Und wenn es die Herren Studiosi und +Doctores gelüstet, uns zu besuchen, so wissen die Herren, daß es von +Goslar nur ein Ritt von wenigen Stunden ist. Herr Kristaller muß sich +allerdings schon von seinem fernen Straßburg herbemühen, will er, daß +der lustige Kreis von Bologna in Braunschweig aufs neue erstehen soll.«</p> + +<p>Der Vater war überrascht und suchte nach Einwendungen. Aber da er die +leuchtenden Augen seines Lieblings während der Worte Richenzas sah, +hielt er mit lauten Bedenken zurück und hoffte, daß die Zeit ihn der +Notwendigkeit überheben werde, die endgültige Zustimmung zu erteilen. +Doch nun legte sich auch Johannes für den Plan ins Zeug. Das war ja +die Erfüllung einer Hoffnung, die er selbst gar nicht zu hegen gewagt +hätte. Und den vereinten Anstrengungen gelang es, die endgültige Zusage +zu erhalten. Er ahnte nicht, daß die Ausführung unter viel trüberen +Umständen wirklich erfolgen sollte.</p> + +<p>Die Stunde des Abschieds war gekommen. Als Johannes sich über die +Hand Giselas neigte, flüsterte er ihr zu: »Ich weiß, daß wir uns +wiedersehen; das macht mir den Abschied leichter. Bewahrt mir bis dahin +ein Plätzchen in Eurem Herzen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span></p> + +<p>Ein lichtes Rot der Freude überflog das Gesichtchen Giselas, und eine +reizende Verwirrung ließ sie noch lieblicher erscheinen. Aufs neue +füllten Tränen ihre Augen, aber es waren Tränen seligen Glücks. Dann +schloß sich hinter den Freunden das Tor des alten Palazzo Faba, in dem +der Professor wohnte.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span></p> +</div> +<p class="drop">Als am andern Morgen die Glocken von San Giacomo Maggiore die Frühmette +einläuteten, traten Johannes und Heinrich, wie auch Gottfried, aus +ihrer Wohnung und bestiegen die schon bereitgehaltenen Pferde, denen +ihre Felleisen, das einzige Reisegepäck, welches sie persönlich mit +sich führten, sorgsam aufgeschnallt waren.</p> + +<p>Das Tor wurde gerade von dem halbverschlafenen Wächter geöffnet, als +sie die Stadt auf dem Wege verließen, der als die uralte Via Aemilia +vor dem Apennin entlang führt und nur jeweils in den Städten, die +sie durchkreuzt, sich eine Abweichung von der schnurgeraden Richtung +gefallen lassen muß, in der sie als ein endloses, weißes Band sich +dahinzieht. Mit ihnen ging noch ein Mönchlein aus der Stadt, das dort +wohl übernachtet hatte und nun in sein Kloster zurückkehren wollte. Es +hielt indes nur kurze Zeit Schritt mit den rüstig ausgreifenden Rossen, +und sie waren allein. Noch lag der Schatten des frühen Morgens mit +seiner Kühle auf der Straße, und ein Frösteln überflog ihre Glieder. +Aber munter ging es weiter.</p> + +<p>»Du sinnst wohl noch über den Abschied von der lieblichen Gisela nach?« +unterbrach Gottfried das Schweigen. Doch Johannes verspürte keine +Neigung auf den scherzhaften Ton einzugehen. »Laß die Geschichte; Du +tust mir weh mit dieser Art davon zu sprechen.« Da brach Gottfried das +Gespräch ab, und sie ritten schweigend fürbaß. Auch Heinrich Achtermann +zog wider seine sonstige Gewohnheit mürrisch und wortkarg dahin.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span></p> + +<p>Noch war nichts Lebendes auf der Straße zu sehen. Doch jetzt blitzte +es im Morgennebel vor ihnen, und trapp, trapp, trapp kam es zu ihnen +heran. Es waren Speerreiter des Podesta von Bologna, die ein paar +armselige Lumpen mit sich führten. Auf einer nächtlichen Streife im +Banngebiet der Stadt auf frischer Tat ertappt, trabten sie jetzt +trübselig hinter den Pferden drein, an deren Schweif sie kurzerhand +gebunden waren. Auch andere Frühaufsteher tauchten bald auf der Straße +auf, Landleute, die ihr Geschäft in die Stadt führte, Bauern mit +Ochsenkarren, welche Getreide und sonstige Früchte den Kaufleuten in +Bologna bringen wollten, junge, rüstige Dirnen und alte Weiber, die +Melonen und andere Früchte heimischen Fleißes am selben Ziel in Geld +umzusetzen hofften.</p> + +<p>Inzwischen war die Sonne hervorgebrochen und übergoß Land und Straße +mit ihren wärmenden Strahlen.</p> + +<p>Langes Schweigen war wider die Natur des lebhaften Gottfried.</p> + +<p>»Wißt ihr übrigens, daß wir in unserm Stumpfsinn auf +geschichtsschwangerem Boden dahinreiten? Hier erklang schon vor +anderthalbtausend Jahren der eherne Tritt römischer Legionen, die auf +Eroberung auszogen, und wieder um ein beträchtliches später zogen in +umgekehrter Richtung die Gewappneten der deutschen Kaiser sie entlang, +um in das Land Italia einzudringen?«</p> + +<p>Die lachende Septembersonne verscheuchte auch die Grübeleien, in die +Johannes versunken war, und die jugendliche Hoffnungsfreudigkeit siegte +über die Zweifel, die sich ihm aufgedrängt hatten: Es würde doch alles +gut werden, wie er es selbst gestern Gisela gesagt hatte. Und er konnte +auf den fröhlichen Ton des Freundes eingehen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span></p> + +<p>»Da kennst Du unsern guten Magister Sutor schlecht — den schlichten +›Schuster‹ vertrug seine Gelehrsamkeit schlecht, und wenn er uns einmal +aus Unachtsamkeit oder Bosheit über die Lippen glitt, saß uns der Bakel +schon auf dem Buckel. — Er hat uns haarklein den Weg gezeigt, den der +große Cäsar mit seinen Heeren nahm, und die Tuben der Legionen des +Varus hörten wir schon erklingen, wenn sie noch diesseits der Alpen, +meinetwegen auf der alten Via Aemilia, ertönten, auf der wir jetzt +selbst dahintraben. Ich wollte nur, ich hätte gleich ihnen erst die +Alpen überschritten und zöge dem alten Goslar zu.«</p> + +<p>Unterdes war die Sonne höher und höher gestiegen und sandte ihre +Strahlen mit einer Glut auf die Reisenden herab, daß ihr Gespräch +wieder versiegte. Auf den Feldern arbeiteten Bauern mit ihrem +Ochsengespann, vor ihnen lag das weiße, schattenlose Band der Straße, +auf der sich kaum ein Lebewesen zeigte, denn alles floh vor der +sengenden Hitze.</p> + +<p>Die Freunde hatten sich als Ziel des Tages Parma gesetzt; aber als +sie Modena, etwa halbwegs zwischen Bologna und Parma, gegen Mittag +erreichten, fühlten sie doch, daß sie gut täten, den Pferden, wie +sich selbst nicht noch eine gleich große Wegstrecke zuzumuten, und +sie blieben dort bis zum nächsten Morgen. Nach zwei weiteren, gleich +ermüdenden Tagereisen trafen sie in Piacenza, der alten Brückenstadt am +Po, ein, wo ihre letzte Raststätte vor Mailand sein sollte.</p> + +<p>In Piacenza erfuhren sie in der Herberge von deutschen Landsleuten, die +von Genua angekommen waren, daß der Kaufherr Ernesti tags zuvor hier +eingetroffen, aber schon nach Mailand vorausgeeilt sei, weil er dort +noch Geschäfte zu erledigen habe.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span></p> + +<p>Unterwegs schon hatte Gottfried nach diesem Ernesti gefragt, aber +Heinrich wie Johannes vermochten ihm keinen Aufschluß über den +seltsamen Mann zu geben, der als einfacher Kaufmann mit den Mächtigsten +der Erde verhandelte, wie es sonst nur die Aufgabe kaiserlicher +Ambassaden war. Wohl hatten sie in Goslar den Namen des Mannes +aussprechen hören, doch nach Art der Jugend kümmerten sie sich wenig +um Dinge, die sie und ihre Jahre nicht berührten. Beide, besonders +Heinrich, fesselten viel mehr, da sie noch in der Münsterschule +zu Goslar saßen und unter dem Joch des gestrengen Magisters Sutor +seufzten, die Spiele mit den Altersgenossen und die Reigen mit den +hübschen Goslarer Bürgermädchen, besonders der Lange Tanz, ein Reigen +aus alter Zeit, welcher der Sage nach die immerwährenden Kämpfe +zwischen den einheimischen Sachsen und den zugewanderten fränkischen +Bergleuten beendet hatte. Alljährlich zur Fastnachtszeit fand er statt, +und selbst ein hochweiser und gestrenger Rat sah dem lustigen Treiben +wohlgefällig zu, das sich vor seinen Augen abspielte in dem anmutigen +Schreiten und Sichneigen und Hüpfen lieblicher Jungfräulein und +kühnstolzer Jünglinge, die jene geleiteten.</p> + +<p>Man konnte also die Wißbegier des Freundes hinsichtlich Ernestis nicht +befriedigen. Auch das, was die mitreisenden Kaufleute nächsten Tages +auf der Reise von Piacenza nach Mailand über ihn zu sagen wußten, +ließ noch vieles an diesem Manne im dunklen. Daß er ein seltsamer +Mensch sei, erhellte zur Genüge aus ihren Worten, aber auch, daß er +weltbefahren und über das gewöhnliche Maß hinaus angesehen und mächtig +sein müsse, blieb demnach nicht zweifelhaft. Seine Beziehungen reichten +von Italien bis Frankreich, und er war in den Handelsplätzen der +Niederlande<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> gleich bekannt wie in der berühmten Stadt Nowgorod am +Ilmensee im fernen Reiche der reußischen Zaren.</p> + +<p>Daß Ernesti in besonders wichtiger Mission vom Rate der Stadt Goslar +zur Päpstlichen Kurie in Rom entsandt worden war, wußten sie aus dem +Briefe von daheim. Heinrich ließ darüber den Kaufleuten gegenüber +nichts verlauten, da er nicht wußte, ob das der Sache dienlich war, und +Johannes schwieg ebenso selbstverständlich. Die Kaufherren erzählten, +daß Ernesti als Heimweg von Rom nicht den Weg über die Abruzzen +gewählt habe, wiewohl dieser der kürzere war, sondern in einem kleinen +Küstenklipper nach Genua gefahren sei, um dort im Dogenpalast noch +etwas zu erledigen. — Fürwahr, ein seltsamer, geheimnisvoller Mann, +dieser Ernesti, dachte auch Johannes, dessen Gedanken sich allmählich +mehr und mehr mit ihm beschäftigten, dem die Sache seiner Vaterstadt +anvertraut war und mit dem ihn das Leben wahrscheinlich auch künftig +noch mehr als einmal zusammenbringen würde, wenn er erst, wozu seine +Studien den Weg bereitet hatten und was sein Vater sehnlich wünschte, +im Rate der Stadt Goslar Sitz und Stimme hätte.</p> + +<p>Der Wagenzug war durch ein Hindernis ins Stocken geraten. Während die +Knechte unter der Aufsicht der Kaufherren noch mit der Beseitigung des +Hindernisses beschäftigt waren, ritt Johannes mit den Freunden langsam +voraus. Noch klangen in seinen Ohren die Worte der Mitreisenden über +Ernesti wieder, aber seine Gedanken blieben an der alten, wehrhaften +Stadt am Harz haften, die jenen gesandt hatte und durch ihn selbst von +dem Ausfalle des Auftrages Kunde erhalten würde. Wie mochte es dort +aussehen, was die Freunde und Gespielinnen treiben, von denen er nun +schon manches Jahr fern weilte; denn auch vor den Jahren,<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> die er in +Bologna verlebte, sah ihn die Heimat nur selten, wenn er in den Ferien +von der Universität Wittenberg zu Besuch kam. Die seltenen Briefe +der Eltern gaben nur unvollkommen Auskunft über das, was gerade ihn +interessierte.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Sollte Heinrich die Wahrheit sagen, so war er von Ernesti enttäuscht, +als er ihn zum ersten Male im »Leuen« zu Mailand sah, und Johannes +schien dieselben Empfindungen zu haben. Der Fremde entsprach in seinem +Äußern durchaus nicht der Gestalt, die der junge Goslarer sich von +ihm gebildet hatte. Ein Mann von der Bedeutung Ernestis müsse, so +glaubte jener, neben der ragenden, gebietenden Größe, dem kühnen, +entschlossenen Gesicht, auch in Wort und Ton die Macht zum Ausdruck +bringen, die ihm eigne. Und nun trat ihm ein Mensch entgegen, der von +alledem wenig oder gar nichts an sich trug. Schon am Abend der Ankunft +in Mailand bekamen sie ihn zu Gesicht. Ein etwas mürrischer, wie es +schien, sehr verschlossener Mann kam herein. Von Gestalt war er nicht +mehr als mittelgroß; in dem fast alltäglichen Gesichte verriet nur das +Spiel der beweglichen, ein wenig stechenden Augen den Reichtum der +Gedanken, die sich hinter der hohen, kahlen Stirn bergen und kreuzen +mochten.</p> + +<p>Ernesti wandte sich alsbald mit einigen freundlichen, gleichgültigen +Worten an die jungen Leute. Auf den Hauptzweck ihres Zusammentreffens +hier ging er nur mit einer kurzen Bemerkung ein.</p> + +<p>»Es tut mir leid, daß ihr die Beschwerden der Reise in<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> höherem Maße +auf euch nehmen müßt, als ohne den euch gewordenen Auftrag nötig wäre. +Aber ich selbst kann die Botschaft an den Rat eurer Vaterstadt nicht +persönlich überbringen, und sie verlangt eine zuverlässige Hand. Ich +bin überzeugt, daß er keine besseren Boten hätte finden können, und ihr +werdet euch des Vertrauens würdig erzeigen, das der Hochmögende Rat +euch bei eurer Jugend bezeugt. In Köln werde ich euch das Schriftstück +aushändigen. Ich hoffe, daß man in Goslar mit dem Inhalte wohl +zufrieden sein wird. Von Köln ab habt ihr Gelegenheit, mit einem Zuge +flandrischer Kaufleute, die nach Goslar wollen, um euer berühmtes +Kupfer zu holen, die Weiterreise fortzusetzen.«</p> + +<p>Das hieß mit anderen Worten, sie, Heinrich und Johannes, durften das +wichtige Schriftstück unter den Augen und dem Schutz anderer tragen, +von dem Inhalte erfuhren sie nichts. Einen Augenblick wollte etwas wie +Unmut in Heinrich aufsteigen, aber schnell überwand er die Anwandlung, +zumal in diesem Augenblick sein Freund Gottfried die Runde an seinem +Tische mit einem Scherze zu lustigem Gelächter verleitete.</p> + +<p>Am frühen Morgen des nächsten Tages ging die Reise nordwärts bis an +das Südufer des Langen Sees, den man in einem der plumpen Schiffe +hinauffuhr. Hier trat den Reisenden zuerst wieder die Majestät der +Alpen vor Augen, namentlich im nördlichen Teil des Sees, wo die +Felsenberge in jähem Absturz den engen See fast erdrücken durch +ihre Wucht. Aus der Ferne dräute in ernstem Weiß der schimmernde +Monte Leone, der nach dieser Seite hin die Vorhut bildet der noch +gewaltigeren Monte-Rosa-Gruppe und all der anderen Riesen der Walliser +Berge. In Locarno herrschte<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> noch die fast sommerliche Glut des +italienischen Frühherbstes. An der Straße ungeschützt die Palmen. +Aus den laubdunklen Weingehegen lockten die schwellenden Trauben: +»Nimm mich, nimm mich!« Doch die Reisenden hatten nicht Zeit, die +Herrlichkeiten zu genießen, die ihnen das lachende Seegestade darbot. +Noch einmal wurden die Warenballen auf plumpe Karren geladen. +Aber das immer enger werdende Tessintal, in welchem die Fahrzeuge +dahinrumpelten, setzte dieser Art von Beförderung bald ein Ende. Bis +Biasca mühten sich die Zugtiere noch ab, die Wagen auf der holperigen, +oft von tiefen Schründen durchsetzten Straße, die doch keine solche +war, dahinzuzerren. Dann mußte man endgültig zu den Saumtieren seine +Zuflucht nehmen.</p> + +<p>Auch die menschlichen Siedlungen blieben immer mehr zurück und +verschwanden von der Wegseite. Hatten bis dahin die Augen an den auf +jähem Felsen wie ein Adlerhorst gebauten Schlössern und Burgen und den +einsamen Kirchlein, die in gleich trutziger Lage von dem frommen Sinn +des Erbauers zeugten, sich geweidet, so wurde nunmehr der Weg nur noch +von kahlen Felsen begleitet, die in grausigem Absturz das enge Tal zu +begraben drohten. Hier und da gab ein schmales Seitental den Einblick +in eine gleich furchtbare Einsamkeit frei. Nur einmal noch traf das +Auge der Reisenden auf menschliche Wesen, unweit Airolo, wo das wilde +Val Tremola, das ›Tal des Zitterns‹, den Weg freigibt zum Aufstieg auf +den St. Gotthardt. Es war ein Bild, das Johannes lange nicht vergessen +konnte: Unter dem lärmenden Zuruf der welschen Treiber kletterten die +Saumrosse das Tal empor. Da hockten am Wegesrande einige zerlumpte +Gestalten, unter ihnen ein Mädchen von madonnenhafter Schönheit. Die +Gesichter mehrerer von ihnen waren<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> mit Lappen maskenartig verhüllt, +nur die schwarzen Augen funkelten durch Löcher, welche in jene Lappen +geschnitten waren. Von dem Rauschen des Gebirgsflusses halbverschlungen +klang ihr klägliches »<span class="antiqua">prego, prego</span>« Johannes entgegen, der ein +wenig der Karawane vorausritt. Doch schon eilten die welschen Treiber +mit drohend geschwungenen Knütteln herbei und verscheuchten die Ärmsten +in das nahe Seitental, aus dem sie gekommen sind und in dem sie, fernab +von allen anderen menschlichen Wesen, sich vor ihren Mitmenschen +bergen und einsam dem Tode entgegensiechen mochten. Ehe Johannes dazu +gekommen war, ihnen eine Gabe zuzuwerfen, waren sie schon ein Ende zur +Seite gewichen. »<span class="antiqua">Leprosi, Leprosi</span>«, heulten die Treiber noch +immer, als ob es gälte, wilde Bestien zu verscheuchen. Die Aussätzigen +hasteten weiter; aber Johannes fing noch einen Blick des schönen +Mädchens auf, so voller Schmerz und Verzweiflung, daß er den Gedanken +an das erschütternde Bild den ganzen Tag nicht los wurde. Er sah an +ihrer Stelle Gisela, verlassen, verfolgt, dem Elend preisgegeben, und +tiefstes Mitleid durchschnitt ihm das Herz.</p> + +<p>Über die Paßhöhe, das Urserntal hinab auf der Nordseite, wo die junge +Reuß ihre Kinderstube hat und längs des Saumpfades gischtet und tobt, +und dann stetig ihr folgend, stieg man hinab bis dahin, wo in der +Talsohle das flammende Rot der Edelkastanien das große Sterben in der +Natur ankündete. Über den Vierwaldstätter See brachte sie eine der +großen, sturm- und wettererprobten Nauen gen Luzern, und weiter ging +die Fahrt bis an den grünen Rhein, den man bei der alten Handelsstadt +Basel zuerst zu Gesicht bekam, aber nicht überschritt; denn die Fahrt +ging ins Elsaß hinein, geradewegs auf das alte Straßburg zu.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span></p> + +<p>Gottfried Kristaller hatte recht prophezeit, als er in Bologna verhieß, +Freund Heinrich werde über den schönen Augen der Straßburgerinnen den +alten Schmerz vergessen. Im lustigen Geplauder mit Gottfrieds Schwester +und ihren Freundinnen schwand der letzte Unmut aus seinem Herzen. Der +neue Tag fand ihn schon völlig eingebürgert in der neuen Umgebung, und +als man am Morgen des dritten Tages von dannen zog, war der Abschied +so warm und lebhaft, als ob eine alte Freundschaft ihre erste Trennung +erfahre. Johannes hielt die Hand Gottfrieds lange in der seinen. Er +war kein Mann überschwenglicher Gefühlsäußerungen, aber wer seine +Freundschaft erworben hatte, der konnte für immer auf ihn zählen, und +Gottfried war ihm ein Freund geworden in Bologna trotz aller äußeren +und inneren Verschiedenheiten.</p> + +<p>Nun ging die Fahrt zu Schiff den Rhein hinab im breiten Graben der +Oberrheinischen Tiefebene mit seiner melancholischen Weite. Sie +bot wenig Kurzweil; denn die Reihen der Kaufleute war in Luzern +wie in Basel und Straßburg bedenklich gelichtet worden, und die +übriggebliebenen, die vom Niederrhein und aus Westfalen, hatten mit +ihren eigenen Angelegenheiten so viel zu tun, daß sie sich um die +beiden Goslarer wenig kümmerten. Um so mehr war es anzuerkennen, daß +Herr Ernesti sich ihnen mehr zuwandte als bisher. Er hatte die drei +Gesellen auf der Reise von Mailand her im Auge behalten und sie nach +ihrer Eigenart zu bewerten Gelegenheit gehabt. So war es ihm nicht +zweifelhaft, daß der Stetigere, Zuverlässigere Johannes Hardt sei. An +ihn waren daher auch im Anfang zumeist seine Worte gerichtet. Heinrich +Achtermann war darob nicht böse; denn der Gesprächsstoff nahm ihn, der +gewohnt war, in seiner Umwelt zu leben, nicht immer gefangen. So kam +es, daß<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> sich zwischen dem berühmten Kaufherrn und Agenten und Johannes +ein Verhältnis anbahnte, das mit jedem Tage freundschaftlicher wurde. +Diesem gegenüber ließ Ernesti seine sonstige Zurückhaltung fallen und +sprach mit ihm über seine Reisen und Erfahrungen.</p> + +<p>Auch den Mitreisenden fiel der enge Verkehr zwischen den beiden +auf, und sie gaben wohl gelegentlich ihrer Verwunderung Ausdruck. +»Euer Freund muß es ja dem Ernesti angetan haben, daß er so gegen +seine Gewohnheit redselig wird. Was besprechen denn die beiden nur +immer?« Heinrich bemerkte wohl, daß unbefriedigte Neugier aus ihren +Worten klang, und er gab nur eine allgemeine Antwort: »Das weiß ich +ebensowenig wie Ihr, denn Ihr seht ja, daß ich mich wenig daran +beteilige. Der Stoff ist mir zu langweilig.«</p> + +<p>Aber das änderte sich doch, als sich das Gespräch mehr und mehr +Goslar zuwandte. Ernesti selbst regte diesen Gegenstand immer wieder +an, und so konnte sich Heinrich nicht enthalten, etwas neugierig und +ungeschickt zu fragen:</p> + +<p>»Weshalb verfiel der Rat von Goslar gerade auf Euch mit der wichtigen +Sendung nach Rom? Ich sollte meinen, es hätte sich doch auch unter den +Bürgern der Stadt jemand finden lassen, der sich der Aufgabe unterzogen +hätte?«</p> + +<p>»Daß er jemand gefunden hätte, bezweifle ich nicht«, erwiderte Ernesti +mit einem leichten Lächeln. »Ob er aber auch Erfolg gehabt hätte, ist +eine andere Sache. Euer Rat wird sicher gewußt haben, weshalb er mich +wählte und nicht einen anderen. In Rom ist es mit dem Reden nicht +allein getan. Man muß zugleich alle Sinne angespannt halten, um nicht +ins Hintertreffen zu geraten. Das unscheinbarste Wort will auf seinen +besonderen Wert hin gedeutet, die harmloseste Miene auf ihre versteckte +Bedeutung hin geprüft<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span> und beobachtet sein. Ich bin im Verkehr mit +den Großen der Erde, wie Euch die Schwätzer und Neider unter meinen +Gefährten gewiß schon zugeraunt haben, nicht gerade unbeholfen; aber +über jeden kleinsten Erfolg, den ich im Lateran davontrage, bin ich +doppelt froh, und erkenne ich nachher, daß er nicht zu teuer erkauft, +um ein Mehrfaches. Bei dem Auftrage, den ich für Goslar auszurichten +hatte, will mir das scheinen, und ich gestehe Euch, daß mich das +besonders freut.«</p> + +<p>»So gestattet auch mir eine Frage, Herr Ernesti«, fügte Johannes hinzu. +»Weshalb nehmt Ihr an Goslar dieses besondere Interesse? Soviel ich +weiß, verbinden Euch doch nicht besondere Bande mit meiner Heimatstadt!«</p> + +<p>»Gewiß,« entgegnete Ernesti, »ich verstehe Eure Verwunderung. +Vielleicht raunte man Euch auch zu, ich täte es um des blanken Goldes +willen.« Johannes wehrte ab, doch jener fuhr unbeirrt fort: »Ihr +braucht weder Euch noch jene zu verteidigen; denn natürlich erhalte ich +von Eurem Rat eine angemessene Entschädigung, wenn auch in anderer Art, +als Euch vorschwebt. Derartige kostspielige und nicht ungefährliche +Aufträge übernimmt ein guter Kaufmann und Familienvater nicht um +bloßen Gotteslohn. Aber ich würde mich doch bedacht haben, nach Rom zu +reisen, wenn ich nicht für Goslar ein absonderliches Interesse hegte. +Ihr seid schon zu lange von Goslar fort und seitdem nicht oft wieder +dort gewesen, um über meine Beziehungen zu Goslar unterrichtet zu sein. +Ich bin in der Tat nicht selten dagewesen, auch als Ihr selbst noch +dort weiltet; aber die Größe der Stadt — Ihr werdet Euch inzwischen +ja selbst überzeugt haben, daß Goslar zu den ganz großen gehört — und +Eure jugendliche Unbefangenheit hat mich Euch wohl verborgen gehalten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span></p> + +<p>Ich komme gern nach Goslar und bedauere, daß es mir nicht vergönnt ist, +die römische Botschaft persönlich zu überbringen; es wäre mir eine +besondere Freude gewesen. Weshalb ich gern bei Euch weilte und weile? +— Nun, einmal sind es verwandtschaftliche Beziehungen, die mich mit +Goslar verbinden. Meine Vorfahren lebten bis auf den Großvater in Eurer +Stadt. Das Geschlecht der von Ildehusen, das in der Geschichte Goslars +nicht unrühmlich bekannt ist, gab uns den Ursprung, und wir haben mehr +als einen Bürgermeister und Ratsmann gestellt, die am Aufbau Eurer +mächtigen Vaterstadt mithalfen. Den Großvater verschlug das Schicksal +nach der Stadt Soest am alten Hellweg. Übrigens haben wir noch heute +nicht alle Beziehungen zu Goslar verloren. Mir lebt dort ein Vetter +Richerdes, bei dem ich, weile ich im Harz, gern absteige.«</p> + +<p>»Ist das etwa der ehemalige Ratsherr oder Sechsmanne Richerdes von +der Gundemannstraße?« fragte Heinrich lebhaft. »Ganz recht«, lautete +die Antwort. »Ei, so kennt Ihr ja auch die Venne Richerdes, meines +Schwesterleins liebste Gespielin.« — »Und vielleicht auch Euch selbst +nicht zuwider«, fiel ihm Ernesti lächelnd ins Wort. »Freilich kenne +ich sie, ist's doch mein liebes Niftel, das ich selbst aus der Taufe +gehoben habe, und über dessen prächtiges Gedeihen ich mich freue, wann +immer ich sie sehe.«</p> + +<p>»Da wundere ich mich nur um so mehr, daß ich Euch nie sah; freilich +Euer Name fiel wohl auch aus dem Munde der Venne, aber ich gab des +nicht acht.«</p> + +<p>»Also liegt die Schuld immer wieder bei Euch; denn ich pflege nicht den +Unsichtbaren zu spielen, wenn ich in Goslar bin. Doch Ihr hattet wohl +Wichtigeres zu tun, als Euch um den fremden Mann zu kümmern. Und — Ihr +seid mir noch<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> die Antwort schuldig — was haltet Ihr selbst von der +Venne?«</p> + +<p>»Als ich Goslar verließ, verhieß sie, mit der Zeit vielleicht ein +schönes Mädchen zu werden. Ich habe sie oft bei uns gesehen, und als +Kinder haben wir auch bei ihnen, besonders in ihrem schönen Wallgarten, +unsere Spiele getrieben. Ich fürchte nur, daß ich bei ihr nicht in +dem Rufe unbedingter Ritterlichkeit stehe; denn wir Knaben waren arge +Rangen, und die Mädchen, auch Venne, haben unser Ungestüm oft zu büßen +gehabt. Von dem Abschied vollends wage ich gar nicht zu sprechen. Soll +also Eure Frage ergründen, ob ich bei ihr in besonderer Gunst stehe, so +kann ich das nur mit allem Vorbehalt zusagen.«</p> + +<p>»Gut reserviert«, lobt der andere. »Ich sehe, Ihr habt Eure Studien +nicht umsonst erledigt und werdet dermaleinst es verstehen, knifflige +Fallen zu meiden. Auf jeden Fall darf ich Euch aber, da Ihr Goslar +eher erreichen werdet als ich, bitten, den Richerdes meine Grüße +auszurichten. Vielleicht nimmt Euch dann mein Niftel ob dieses +Liebesdienstes wieder ganz zu Gnaden an.«</p> + +<p>Dann kehrte man wieder zu ernsteren Dingen zurück. »Ihr fragtet mich +nach dem Inhalt des Schreibens der römischen Kurie an den Rat zu +Goslar. Glaubt mir, Ihr jungen Freunde, es ist nicht Geheimniskrämerei, +die mir den Mund verschließt. Aber ich habe den Auftrag, Euch die +Botschaft verschlossen zu übergeben, und ich weiß, daß es zu Eurem +Besten ist, wenn Ihr ohne Kenntnis von dem Inhalte seid. Es sind +überall Späher, auch um uns herum, und ein unvorsichtiges Wort könnte +den ganzen Erfolg meiner Reise in Frage stellen; denn an der Auswirkung +ist nicht Goslar allein interessiert.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span></p> + +<p>Ihr seid stolz auf die machtvolle Stellung eurer Stadt, mit Recht. +Doch so viel werdet Ihr trotz Eurer Jugend auch schon gehört und +gesehen haben, daß Goslars Glanz und Vormachtstellung mit dem Silber +und Kupfer des Rammelsberges steht und fällt und daß als zweite +unerläßliche Vorbedingung für ein weiteres Blühen Eures Gemeinwesens +der ungestörte Besitz und die Nutzung der gewaltigen Forsten, welche +Goslar umgeben, ist. Von dem ersteren, der Bedeutung des Bergwerks +werdet Ihr in Köln aufs neue einen Beweis erhalten, wenn Ihr mit den +flandrischen Kaufleuten zusammentrefft. Sie sind auf dem Wege zu Euch, +um das ›<span class="antiqua">keuvre de Gosselaire</span>‹, das goslarsche Kupfer, zu holen, +um es in den Kupferschlägereien zu Dinant und in den anderen Städten +Flanderns und der Niederlande zu verwenden. Und kämet Ihr nach London +oder gen Nowgorod im Reußenlande, so würdet Ihr dort den Namen ›Goslar‹ +und ›goslarsches Silber oder Kupfer‹ mit derselben Geläufigkeit und +Häufigkeit nennen hören. Euer Reichtum und Eure Macht sind aller Welt +bekannt, es kennen ihn aber auch Eure Feinde und Neider, die Ihr zum +Teil nicht weit zu suchen habt.</p> + +<p>Es muß Eurem Rat nachgerühmt werden, daß er schon frühzeitig die Lage +erkannt und danach zu handeln bestrebt gewesen ist. Schon unter König +Wenzel, vor mehr als hundert Jahren, verstand es Goslar, sich eine +Reihe von Gnadenbriefen zu verschaffen, welche der Stadt den Genuß +ihrer Rechte auf Berg und Forst sicherten. Indes, wie Ihr wissen +werdet, haben auch die Braunschweiger Herzöge verbriefte Rechte und +Privilegien auf Berghoheit und den Zehnten. Zur Zeit sind diese Rechte +nach dem Rate von Goslar verpfändet, und die ewige Geldnot der Herzöge<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> +hinderte sie bis jetzt, den Pfandschilling zu erstatten, aber laßt +sie nur zu Atem kommen und den Appetit sich regen, dann wird sich's +bald ändern. Ich fürchte, ich fürchte, die Anzeichen dazu sind schon +wahrzunehmen.</p> + +<p>Damals, als die Braunschweiger das Geld nahmen, wäre es ein leichtes +gewesen, ihnen ihre Rechte um ein billiges abzukaufen, statt sie +in Pfand zu nehmen; denn damals stand es schlecht um den Bergbau: +Wassereinbrüche, deren man nicht Herr werden konnte, leere Erzgänge +ließen das Ganze als wertlos erscheinen in den Augen Uneingeweihter. +Damals war es Zeit zum Zugriff, damals mußte Goslar das Ganze an sich +bringen, statt Pfandschillinge zu nehmen und eine Gewerkschaft zu +gründen mit Bürgern und fremden Herren. Nun rächt sich die Versäumnis +nach jeder Richtung hin.</p> + +<p>Ihr habt einmal einen großen Mann gehabt, der die Aufgabe Eurer Stadt +richtig erkannte. Hermann Werenberg hieß er und war Stadtkanzler; Ihr +werdet seinen Namen gehört haben. Glaubt mir, er war einer der ganz +Großen in der Geschichte Eurer Stadt. Was Goslar heute ist, verdankt +es in erster Linie diesem Manne. Er bewies eine Staatskunst, die ihn +auch befähigt hätte, ein größeres Staatswesen, als es Eure kleine +Stadtrepublik ist, auf die Höhe irdischer Macht zu bringen und dort +zu erhalten. Daß er dabei, wieder nach Art der wirklich Großen, alle +Mittel nutzte, um die Gerechtsame auf Berg und Forst in den Besitz der +Stadt zu bringen, wird ihm nur der kleine Geist als Schuld anrechnen.</p> + +<p>Die Bahn war frei, aber Werenbergs Leben ward ein Ziel gesetzt, ehe der +Erfolg im ganzen Umfange gesichert war. Er starb, und seine Nachfolger +verstanden nicht, das<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> Erworbene festzuhalten und auszubauen. Sie +hätten die geldhungrigen Herzöge von Braunschweig abfinden, die +Gewerken, unter denen das Kloster Walkenried und das reiche Domstift +Simon und Juda in Goslar selbst zu nennen sind, aufkaufen sollen, ehe +das Bergwerk wieder das wurde, was es war und jetzt ist: eine ungeheure +Goldgrube für den, der es besitzt. Jetzt ist's zu spät, will mir +scheinen. Niemand wird noch seine Rechte an die Schatzkammer aufgeben +wollen, zu der er einen Schlüssel in der Hand hat, weder Kloster, noch +Fürst, noch Bürger; denn auch diese sitzen unter den Gewerken noch +heute. Es mag von geringem Sinn für das Wohl des Ganzen zeugen, daß sie +sich sperren, ihre Rechte in die Hand des Rates zu geben, aber es ist +so. Mein eigener Vetter, der Sechsmanne Richerdes, zählt ja auch zu +ihnen.</p> + +<p>Es ist zu spät, sage ich; denn wenn schon die eigenen Bürger nicht von +Euch veranlaßt werden können, ihren Eigennutz hinter das gemeine Wohl +zu stellen, so habt Ihr von den Fürsten erst recht nichts Gutes zu +erwarten. Wenn mich die Anzeichen nicht trügen, rüstet man im Schlosse +zu Wolfenbüttel bereits zu entscheidenden Schritten. Den Pfandschilling +aufzubringen, wird ihnen nicht schwer fallen, denn es sitzen der +Geldgeber genug in deutschen Landen, die auf ein so gutes Unterpfand +hin gern helfen werden. Dann hat Goslars Schicksalsstunde geschlagen.«</p> + +<p>Die Gesichter der Zuhörer verdüsterten sich unter den Worten Ernestis +sorgenvoll. So hatten sie allerdings das Geschick der Heimat nicht +gewertet, und so schien es auch niemand daheim einzuschätzen, alles war +auf Freude und Stolz an der Blüte eingestellt.</p> + +<p>»Ich sehe,« fuhr der andere fort, »daß Ihr bekümmert<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> seid; aber es +tut nicht gut, mit verbundenen Augen in das Leben einzutreten. Doch +ich will Euch auch nicht ohne Trost lassen. Wie sehr und weshalb ich +an Goslar hänge, ist Euch bekannt, und was ich tun kann, um das Unheil +abzuwenden, wird geschehen. Mein Einfluß reicht weit, wie Ihr selbst +schon gemerkt habt. Holte ich Hilfe aus Rom für Euch, so werde ich auch +in der Nähe nützen können. Der Himmel hat dafür gesorgt, daß auch der +Stolz der Herzöge nicht zu sehr ins Kraut schießt. Ihre liebe Stadt +Braunschweig macht ihnen viel zu schaffen und wird, faßt man es richtig +an, Euch von größtem Nutzen sein. Aber in einem könnt Ihr, das sage ich +noch einmal, Euch nur allein helfen, das sind die Zustände in Goslar +selbst.</p> + +<p>Will man sich des Besitzes einer Sache ungestört erfreuen, so darf +sie nicht der Gegenstand des Neides anderer sein, wie ich Euch +schon sagte. Man muß sie im Urteil der Neidlustigen als minder +begehrenswert hinzustellen verstehen oder die Zeitläufte benutzen, +um die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken. Beides haben die Goslarer +vormals nicht versäumt. Als die große Bewegung der Kreuzzüge die Massen +durchzitterte und aller Augen nach dem Morgenlande gerichtet waren, +hat Goslar seine Position Schritt um Schritt verstärkt. Als dann die +öffentliche Meinung vom Bergwerke als einer verlorenen Sache sprach, +brachten sie die Gerechtsame des Berges an sich. Sehr schön, aber die +Nachfahren haben nicht zu nutzen verstanden, was die Väter schufen. +Jetzt ist's umgekehrt wie ehedem: Der Nachbar sieht dem Nächsten auf +den Bissen, die Großen beneiden die Größten, und der Kleinen Begehr +steht nach dem, worauf die Großen überlaut und unvorsichtig als ihr +Eigen pochen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span></p> + +<p>Erst waren es die Gilden. Nachdem sich Gevatter Schneider und +Handschuhmacher durch das Aufblühen der Stadt den Beutel gefüllt +hatten, kam ihnen auch der Machtkitzel, und sie wollten mitregieren, +ob sie es auch nicht verstanden. Nun regieren sie mit, daß es Gott +erbarme. Und schon regt sich's abermalen machtlüstern und beutegierig. +Was dem Handwerker gelang, ließ auch die Masse des gemeinen Volkes +nicht ruhen. Kommt sie zur Macht, dann gnade Gott Euch Goslarern, +wie allen denen, wo die Plebs ihr Haupt siegreich erhebt. <span class="antiqua">Videant +consules!</span> — der Rat mag sehen, daß er Herr der Lage bleibt. Reicht +er der unvernünftigen Masse den kleinen Finger, so ist es um die ganze +Hand geschehen. Mit dem Volke ist es wie mit den Kindern: Was das Kind +hat, dünkt ihm nichts, sieht es in anderer Hand etwas, das es selbst +nicht besitzt. Man gebe ihm, worauf es vernünftigerweise ein Recht hat, +sonst ein hartes ›Nein‹. Euch fehlt ein Werenberg. Der würde wissen, +was den Kindern, will heißen der Masse, frommt und was man ihnen geben +darf, ohne daß sie sich den Magen überladen und das Gemeinwohl zu +Schaden kommt.«</p> + +<p>Das Schiff bog in den Rheingau ein. In der Ferne tauchten die Kuppeln +und Türme des heiligen Mainz auf, übergossen von dem goldigen Glast der +Abendsonne. Johannes stand an die Verschanzung gelehnt und nahm das +glänzende Bild in sich auf, das mählich aus den Fluten des Rheins, wie +es schien, aufstieg. Bald legte das Fahrzeug an, und das geschäftige +Leben, das mit der Ankunft eines jeden Schiffes verbunden ist, riß die +Reisenden auseinander.</p> + +<p>Wieder hatte sich die Zahl der Kaufleute gelichtet. Dafür fand sich +allerlei anderes Volk ein, Niedere wie Vornehme.<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> Auch ein paar +Domherren waren darunter, die nach Köln wollten. Ernesti stand im +Gespräch mit ihnen.</p> + +<p>»Ihr seht,« flüsterte einer der alten Bekannten Heinrich zu, »Euer +Gönner hält es allerorten und immer mit dem Krummstab. Möchte wohl +wissen, was er alles an geheimen Gängen hinter sich hat, die wenigen +Stunden, die wir in Mainz waren und während wir uns einen ehrlichen +Trunk gönnten.«</p> + +<p>Eine Antwort wurde nicht erwartet, und Heinrich hätte sie auch nicht +gefunden, denn ein abfälliges Wort über den Mann zu sagen, der ihnen so +viel gegeben hatte, wäre ihm als schwarzer Undank vorgekommen. Übrigens +kam Ernesti in gewisser Weise selbst darauf zurück; er hatte wohl +gesehen, daß man über ihn sprach.</p> + +<p>»Ich hatte mit der Erzbischöflichen Kurie zu tun, in nicht unwichtigen +Fragen, wie Ihr Euch denken mögt. Mancher meint vielleicht, es sei +mir bei den vielerlei politischen Dingen, die durch mich Erledigung +oder Förderung finden, um das blanke Gold zu tun; ich lasse ihn reden, +wie seine Mitschwätzer. Eins aber sei Euch beiden als Erinnerung an +Mainz mit auf den Weg gegeben, und das sei die dritte und letzte der +langatmigen Mahnungen, die ich Euch gab: Verderbt es in Goslar nicht +ernstlich mit der Kirche.</p> + +<p>Wir leben in einer unruhvollen Zeit: Kampfstimmung überall, wohin Ihr +blickt, und nicht nur auf dem Gebiete weltlicher Machtkonflikte, auch +die Kirche, die Religion ist davon betroffen, und es sind dunkle Kräfte +am Werk, um ihre Grundpfeiler zu stürzen. Ich bin ein treuer Sohn der +Kirche. Das hindert mich nicht, die ernsten Schäden zu erkennen, die +ihr anhaften und wie böse Geschwüre an ihrer besten Kraft zehren. Das +Schisma, die Spaltung in der<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> Nachfolge Petri, hat den Boden bereitet, +auf dem Blasphemie und Abtrünnigkeit ihre giftigen Blüten treiben +können; die Völlerei und Zuchtlosigkeit in den Klöstern und unter dem +Klerus haben gleicherweise dabei mitgeholfen. So finden die falschen +Apostel gläubige Ohren, wo immer sie ihr Unkraut unter die Menge +werfen. Auch in Niedersachsen blüht ihr Weizen, wie ich höre. Doch die +Kirche ist zu fest gegründet, als daß sie nicht der Widerwärtigkeiten +und Widerspenstigen Herr werden wird. Denn ihre Sache ist gut, und der +Brunnen nur verunreinigt, der die ewigen Heilswahrheiten birgt. Aber +nicht der Eifer des Zeloten und nicht der unreine Mund des Hetzers wird +die Gesundung bringen, sondern die stetige, von echter Frömmigkeit +und Liebe zur Mutter Kirche getragene Sorge, daß das Gefäß nicht +zertrümmert werde, das so kostbaren Inhalt birgt. Die Kirche wird über +alle Fährlichkeiten hinwegschreiten, weil sie siegen muß. Dann aber +wehe denen, durch die Ärgernis gekommen ist; wehe auch den Städten, die +als ungehorsame Töchter sich erwiesen, ihr Unglück ist besiegelt!</p> + +<p>Auch bei Euch in Goslar werden die Schwarmgeister am Werke sein. Störet +ihre Arbeit, wo und wie Ihr könnt; es ist zum Frommen der Stadt. Ihr +habt der Feinde und Neider schon genug, ladet Euch nicht auch noch die +Abgunst der Kirche auf; Ihr würdet sie nicht tragen können.«</p> + +<p>»Ich fürchte, daß Ihr nur zu recht habt mit allem, was Ihr betreffs +unserer Stadt sagtet«, antwortete Johannes dem Vielerfahrenen. »Sicher +trefft Ihr ins Schwarze mit der Vermutung, daß Goslar selbst zuletzt +den Schaden wird zu bezahlen haben. Die Klöster daheim, vornehmlich das +reiche und mächtige Domstift, sind der Stadt schon sehr<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> gram, weil der +Rat manche ihrer Privilegien kürzte. Das Sankt-Jürgen-Kloster, wie die +Chorherren des Petersstiftes liegen dem Bischof von Hildesheim seit +langem in den Ohren ob angeblicher Mißachtung und Verletzung ihrer +Rechte und respektwidriger Verunglimpfung durch die Bürger. Der Bischof +selbst ist uns gram wegen unseres Verhaltens in der Stiftsfehde, die +Euch bekannt sein wird. Fänden alle diese Mißgünstigen sich zusammen, +diese offenen und geheimen Gegner, und einigten sie sich mit den +Herzögen, die uns jetzt schon zwicken und zwacken, wo sie können, so +wäre der Anfang vom Ende gekommen. Eure Mahnungen treffen also keine +tauben Ohren. Auch der Vater sprach wohl schon mit mir über diese +Dinge. Wir werden tun, was unsere Jugend zu leisten vermag, davon seid +überzeugt, wie auch von der Aufrichtigkeit unseres Dankes für Euren +freundlichen und weisen Rat.«</p> + +<p>Kalte Oktoberstürme brausten das Tal des Rheins entlang und drängten +die Wellen zuhauf, als wollten sie umkehren von dem Wege, den der +ihnen innewohnende Drang nach dem Meere vorschrieb. Die Wälder an +den Berghängen wurden des letzten Blättchens beraubt, das ihnen noch +geblieben war von dem sommerlichen Festgewande; alles wies auf Tod +und Sterben und Ruhe in der Natur. Langsam glitt das Schiff zu Tal. +Man hoffte, vor Einbruch der Nacht noch in Köln zu sein; aber fast +schien es, als solle man noch eine Nacht auf dem unwirtlichen Flusse +verbringen. Da gab endlich eine letzte Biegung den Blick auf die alte +Stadt mit ihren unzähligen Türmen und Zinnen frei. Sankt Severin, Sankt +Georg, Sankt Maria im Kapitol, Sankt Gereon, so tauchten sie aus dem +Grau des Abendhimmels auf, überragt von dem gewaltigen Bau des Doms,<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> +der mit den ungefügen Stümpfen seiner Türme wie ein gefesselter Riese +die Hände gen Himmel hob.</p> + +<p>Dann kam der Abschied von Ernesti. Wie hatte sich das Verhältnis zu dem +fremden Manne seit der Abreise von Straßburg geändert! — Der ernste, +zurückhaltende Mann war ihnen nahegerückt, als sei es ein lieber +Verwandter. In schier väterlicher Weise hatte er die Jünglinge an die +Hand genommen und in die Tiefen des politischen Lebens blicken lassen, +die ihnen ohne diese Hilfe gewiß erst viel später und mit schmerzlichen +Erfahrungen sich erschlossen hätten. Sie bereuten es nicht, den Umweg +über den Gotthardt gemacht zu haben. Der Händedruck, der den Abschied +besiegelte, trennte Freunde. Sorglich vermittelte Ernesti noch die +Bekanntschaft mit dem Führer der flandrischen Händler, mit denen +Heinrich und Johannes in die Heimat reisen sollten.</p> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span></p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> +</div> + +<div class="block_r"> +<p class="s5">»<span class="antiqua">Bella gerant alii; tu, felix Austria, nube!</span>«<br> +Kriege laß die andern führen; du, glückliches Österreich, freie!</p> +</div> + +<p class="drop">Ein gewaltiges Gebäude war durch die Heiratspolitik der Habsburger +im 15. Jahrhundert aufgeführt worden, das noch ungeheuerlicher wurde +durch die Entdeckung Amerikas. Die Krone von fünfzehn Ländern ließ der +alternde Kaiser Maximilian, der ›Letzte Ritter‹, für die Häupter seiner +Enkel Karl und Ferdinand zurück. Doch in diesem Hause wohnte nicht +Glück und Eintracht beieinander, sondern Unfriede und Haß wucherten +überall wie üppige Giftblumen. Die Kirche war auf dem besten Wege, den +Rest ihres Ansehens zu verlieren. Sie trug selbst die Schuld daran, +aber es kam damit einer der Grundpfeiler aller bestehenden Ordnung ins +Wanken. Daß durch diese Ordnung der Dinge sich alles in eine völlige +Unordnung verkehrt hatte, war nur zu einem kleinen Teile der Kirche +als Schuld beizumessen. Ein Teil der Deutschen fühlte sich bei diesem +Zustande durchaus wohl, die Masse aber war in Elend versunken und +suchte sich, dem Ertrinkenden gleich, durch gewaltsame Anstrengungen +das Leben zu erhalten.</p> + +<p>Im Gegensatz zu Westeuropa war in Deutschland eine Vielzahl von +kleinen Machtzentren entstanden. Der Fürstentümer, Grafschaften und +Herrschaften war Legion, nicht zu rechnen die Freien Reichsstädte, +die hinter ihren trutzigen Mauern und festen Toren ungestört ihrem +Handel und Wandel nachgingen, Reichtum und Macht aufhäuften und<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> sich +um Kaiser und Reich, um Fürsten und Große nur kümmerten, wenn es ihre +Belange forderten. Alle diese waren sich, die Großen wie die Kleinen, +in einem gleich: in dem Bestreben nämlich, die eigene Machtfülle zu +mehren, um die eigene Person mit Schimmer und Glanz zu umgeben.</p> + +<p>In den Städten lag die Herrschaft mit der Sicherheit des Erbes in +der Hand weniger Familien. Der Handwerker, in zielstrebigen Gilden +vereinigt, hatte Zeit gehabt, Kisten und Kasten zu füllen. Nun waren +sie auf dem Wege, auch die Ratssessel einzunehmen, getrieben von +eigenem Ehrgeiz und vielleicht auch auf das Drängen des Ehegesponses +und der Töchter, die so der strengen Kleiderordnung entgehen zu können +hofften und demnächst ein Fältel mehr am Gewande, eine Pelzverbrämung +mehr am winterdichten Mantel dem Neide der Nachbarinnen preisgeben +durften.</p> + +<p>Neben ihnen und unter ihnen, in den lichtlosen Hinterhäusern, in den +dumpfigen Hütten, die an die Stadtmauer sich schmiegten, wie die +Küchlein an die Henne, das städtische Proletariat, das von den Brosamen +seiner glücklichen Mitbürger lebte und die staunende, bewundernde +Masse abgeben durfte bei dem Gepränge des Rates, bei den Schauzügen +der Gilden. In ihr gor und glomm es, und es bedurfte nur des Funkens, +um die Flammen des Aufruhrs emporlodern zu lassen. Auf dem Lande aber, +unter der Botmäßigkeit des Herrn, ob Graf oder schlichter Edelmann, +seufzte der hörige Bauer in unerträglicher Frone, der geringsten +persönlichen Freiheit beraubt für sich, für Frau, Tochter und Sohn. +War der Herr vernünftig und zugänglich, so ließ er seinen Leibeigenen +wenigstens so viel vom sauer Erworbenen, daß die Arbeitslust und +Körperkraft<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> nicht zu schnell sich abnutzte. Viele aber, sehr viele der +Gebieter sahen in ihren Bauern und deren Angehörigen nur das Material, +um ein bequemes Leben zu führen und der Wollust nach ihrem Belieben +bei ihren Töchtern die Zügel schießen zu lassen. Und allen endlich +lieferte er mit seinem Leibe das Rüstzeug, wenn es galt, Fehde und +Streitigkeiten mit anderen im Kampfe Mann gegen Mann auszutragen.</p> + +<p>Der Druck war unerträglich, und der Gegendruck aus der Masse der +Unterdrückten machte sich immer mehr wahrnehmbar; es gor und brodelte +unter ihnen und schuf sich Luft nach oben in schrecklichen Taten der +Verzweiflung, die wie die Blasen aus dem trüben Schlamm des Morastes +aufstiegen und doch zuletzt wirkungslos zerplatzten. Der ›Arme Konrad‹, +der ›Bundschuh‹ sind die Namensprägungen, unter denen sich die Bauern +zusammenschlossen. Ihr verworrener Zorn griff die verrottete Kirche +an, er stürmte an gegen die Gewalthaber jeglicher Art, er traf die +Städter, wo er sie treffen konnte. Die Organisation der Bauern war +eine wirre, unklare. Neben der großen Masse zogen sie in zahllosen +Einzelhaufen durch das Land. Sie fanden sich zusammen, wie der Wolf +sich zum Wolf gesellt, um gemeinsam auf Beute auszuziehen. Wen sie +trafen, den schlugen sie nieder und bemächtigten sich seines Besitzes, +und wer es konnte, der schlug sie tot wie tolle Hunde. Die Sicherheit +im Lande, auf den Straßen war wieder einmal im deutschen Lande geringer +denn je, und sie wurde noch verringert durch die adligen Schnapphähne, +die bei der Aufteilung der Machtbelange unter ihre mächtigeren und +einflußreicheren Standesgenossen übergangen waren. Sie lebten von der +Hand in den Mund und hungerten und<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> lungerten auf ihren zerfallenen +Raubnestern, bis der Turmwärtel oder Spione das Herannahen einer Beute +meldeten. Dann stiegen sie hinab, lauerten den Ankommenden auf, suchten +die Beute zu erhaschen, schlugen, erschlugen oder wurden erschlagen.</p> + +<p>Das größte Risiko bei dieser Art adliger oder bäuerlicher Wegeaufsicht +trugen die Städter, wenn sie ihre festen Mauern verließen, um mit +gefüllter Geldkatze im Osten oder Süden, im Norden oder Westen +einzukaufen, oder wenn sie mit den erworbenen Warenballen oder +Gewürzsäcken heimkehrten. Wer nicht reisen mußte, hockte daheim hinter +dem Ofen; wen aber die Notwendigkeit veranlaßte, den Schutz der +Stadtmauer aufzugeben, der sah sich nach genügendem Schutz um, damit er +der Gefahr begegnen könne.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Auf dem Deutzer Ufer des Rheins lagerte und lungerte an einem der +letzten Oktobertage des Jahres 1515 ein bunter Haufen kriegerischer +Gestalten. Sie lagen und standen umher, wie es ihnen einfiel. Alle +blickten nach dem gegenüberliegenden Köln, da, wo das Frankentor gegen +den Strom zu den Austritt aus der Stadt freigab. Es waren deutsche +Knechte, die in Frankreich abgelohnt wurden, nachdem der Herzog von +Burgund mit dem jungen König Ludwig <span class="antiqua">XII.</span> einen Vergleich +geschlossen hatte. Der Obrist konnte den rückständigen Sold nicht +zahlen, dieweil der Burgunder die Zahlung weigerte, nun er die fremden +Söldner nicht mehr gebrauchte. Die Truppe meuterte, der Hauptmann, der +zu vermitteln suchte, wurde erschlagen. Dann<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> waren sie gegen Osten zu +gezogen, marodierend und schatzend, wo sie es konnten und wo sie es +wagen durften. In den Städten ließ man sie nicht ein; es waren zu wilde +Gäste, denen die eigenen Stadtsoldaten nicht gewachsen gewesen wären. +Auch das erzbischöfliche Köln hielt ihnen die Tore verschlossen. Sie +wurden unter geeigneter Bedeckung um die Stadt geleitet an den Rhein. +Dort überließ man sie sich, nachdem man unter gegenseitigem Grüßen, wie +»Pfaffenknecht« oder »Meuterer«, voneinander Abschied genommen hatte. +Von den Bastionen spähten die Stadtsoldaten mit brennender Lunte zu +ihnen herab, um einen Annäherungsversuch unfreundlich zurückzuweisen. +Der Fährmann mit seinen Knechten war seitens der Stadt gedungen, sie +unentgeltlich an das andere Ufer überzusetzen; so hoffte man, bald den +großen Strom zwischen der Stadt und den wilden Gesellen als schützenden +Wall zu haben.</p> + +<p>Vielleicht aber hätten die fremden Gäste sich doch nicht so mit der +Überfahrt beeilt, wenn ihnen nicht ein besonderes Angebot die Sache +annehmbar gemacht hätte.</p> + +<p>In Köln weilten zur Zeit die flandrischen und wallonischen Kaufherren +aus Gent, Antwerpen, Brügge, Dinant, und wo immer sonst das Kupfer +des alten Rammelsberges Verwendung finden mochte. Sie kamen mit +gespickten Geldkatzen und kostbaren Warenballen, um im Tausch für sie +das wertvolle Metall einzuhandeln oder die Erzeugnisse ihres eigenen +Gewerbfleißes zuvor in den Städten Westfalens und des Niedersächsischen +Kreises in Geld umzusetzen und dann mit dem Verdienten in Goslar das +Gewünschte zu erwerben. Ihre Gesichter wurden besorgter, je mehr sie +sich den Grenzen Deutschlands näherten; denn was sie über die Zustände +im Reiche hörten, mußte sie mit<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> den größten Bedenken hinsichtlich +ihrer Person wie ihres Eigentums erfüllen. Sie zogen zwar unter dem +reisigen Geleit einer Anzahl Gewappneter dahin, aber diese boten +allenfalls Schutz gegen die landesübliche Unsicherheit einzelner Trupps +von Wegelagerern und adligen Strauchdieben. Im Kampfe mit großen Haufen +verzweifelter und verwilderter Bauern mußten sie erdrückt werden.</p> + +<p>Da kam einer der Wagenknechte, der, vor der Stadt sich ergehend, den +seltsamen Zug der Landsknechte gesehen und von ihrem Wegziel gehört +hatte, auf den guten Gedanken, dem Herrn diese wagemutigen Gesellen +als Geleit für den Weg vorzuschlagen. Sein Vorschlag fand Anklang, +wenn auch mancher der Kaufleute abriet, sich der wilden Soldateska +anzuvertrauen. Ein Versuch sollte wenigstens gemacht werden. So +wurde ein Unterhändler zu ihnen geschickt. Was er berichtete, klang +vertrauenerweckender, als man erwartet und gehofft hatte. Die meisten +Leute wollten nach Niedersachsen, woher sie stammten. Sie waren des +Kriegslebens müde und sehnten sich nach Ruhe, wenigstens zur Zeit. +Die Bewaffnung sei gut, der Webel, der die Führung habe, besitze +Gewalt über die Leute, und die Soldaten selbst machten keinen allzu +schlechten Eindruck. Gegen ein gutes Handgeld und entsprechende +Ablohnung nach Erfüllung des Auftrages seien sie bereit, den Schutz +des Zuges zu übernehmen, mit der Einschränkung allerdings, daß es dem +einzelnen freistehe, abzuschwenken, wenn die Heimat erreicht sei. Da +indes die meisten, wie erwähnt, aus den braunschweigischen Ländern und +noch darüber hinaus waren, so blieb bis in die Nähe von Goslar ein +wirkungsvolles Geleit gesichert. Das Handgeld war ausgezahlt, und die +Knechte warteten ihrer Schützlinge.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span></p> + +<p>Unter ihnen waren auch einige Blessierte und Schwerverletzte. Im +Hintergrunde hielt der Wagen der Marketenderin, eines kräftigen +Frauenzimmers. Immecke Rosenhagen hieß sie und stammte aus Salzwedel. +Den Eltern war sie vor nunmehr manchem Jahre davongelaufen mit einem +Gesellen des Vaters, der aus dem Stolz des eingeborenen Gildemeisters +heraus sich dagegen sträubte, die einzige Tochter einem zugereisten +Fremden zur Frau zu geben. Der Geliebte griff zur Hellebarde, sie +bestieg das Wägelchen, in welchem sie allerlei Trink- und Eßbares für +das Fähnlein mitführte. Übrigens hatte die beiden ein schnellbereiter +Feldkaplan in christlicher Ehe zu Mann und Frau gemacht. Des Mägdeleins, +das ihrer Liebe entsprossen, konnte sich der Vater nicht allzulange +erfreuen; eine Stückkugel zerriß ihm vor den Wällen von Maastricht die +Brust.</p> + +<p>Immecke und ihr Töchterlein Monika blieben dem Regiment treu und zogen +mit ihm von einem Kriegsschauplatz zum andern. Wo immer die Kartaunen +rasaunten und die Hakenbüchsen krachten, hielt ihr Wägelchen in der +Nähe. Manchen Verwundeten hatte sie gepflegt, manchem Sterbenden +die brechenden Augen zugedrückt. Und es war rührend, wie das rauhe +Soldatenvolk diese Treue vergalt. Wehe dem, der sich gegen Immecke oder +ihre Monika vergangen hätte. Die Mutter hatte zwar selbst einen allzeit +schlagfertigen Mund, um sich etwaiger Ungebührlichkeiten zu erwehren; +aber dazu wurde ihr kaum Gelegenheit gegeben; sie war Respektsperson im +ganzen Regiment und besonders des Fähnleins des Hauptmanns Hennecke, +unter dem ihr seliger Mann gedient hatte und dem sie sich infolgedessen +auch zugeschrieben erachtete. Selbst der Spitz, der<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> unter dem Wagen +daherlief, war in diesen Schutz eingeschlossen.</p> + +<p>Immecke Rosenhagen gab mehr als einmal die Schlichterin bei bösen +Händeln ab, wie sie Würfelspiel, Trunkenheit oder die Dirnen des +Trosses wohl hervorriefen. Hätte sich eins dieser losen Weiber einmal +unehrbietig gegen Immecke oder ihr Töchterlein benommen, es wäre +ihm teuer zu stehen gekommen. Die Meuterei, bei welcher der wackere +Hauptmann Hennecke das Leben eingebüßt hatte, verzieh sie ihren +Kindern, wie sie ihre Soldaten zu nennen pflegte, lange nicht. Zwar war +der tödliche Streich nicht von einem Angehörigen des eigenen Fähnleins +geführt worden. Indes die Leute auch des Hauptmanns Hennecke hatten +sich an dem Aufruhr beteiligt. Sie selbst war zur Zeit der Tat auf +Einkauf fortgewesen und hörte erst bei der Rückkehr von dem Tumult. +Die Tat war geschehen, und den guten Hennecke rief niemand mehr ins +Leben zurück. Aber den Knechten seines Fähnleins wurde von Immecke eine +Predigt darob gehalten, die sie lange nicht vergaßen.</p> + +<p>»Ihr wollt ehrliche, deutsche Knechte sein? Eidbrüchige Schufte seid +Ihr, die mit Mordbuben gemeinsame Sache machen, wenn sie die paar ihnen +zustehenden Gulden nicht sogleich erhalten. Kann der Herr Obrist dafür, +wenn ihm der welsche Fürst das gegebene Versprechen nicht hält? Hat +der Hauptmann nicht allezeit wie ein rechter Vater für Euch gesorgt? +Nun liegt er erschlagen vor Euch, und daheim warten Frau und Kind +vergeblich auf die Wiederkehr. Pfui über Euch!«</p> + +<p>Die Knechte krauten sich verlegen hinter dem Ohr und schlichen beschämt +zur Seite. Seit dem Tage hatte Immecke sie noch fester in der Hand. +Sie war die eigentliche Führerin<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> auf dem Marsche in die Heimat, wenn +auch der Weibel die äußere Leitung beibehielt. Alle waren kriegsmüde, +die Soldaten wie die Marketenderin. Wo sie ihr Haupt niederlegen würde, +wußte Immecke noch nicht. Aber sie wollte ihrer Monika eine Heimat +geben.</p> + +<p>Vor dem Wagen, auf dem sie hantierte, standen einige Knechte und +leerten den Becher mit Branntwein, der ihnen die Morgensuppe ersetzen +mußte.</p> + +<p>»Nun geht's zur Mutter, Immecke«, rief ihr Klaus Bolte zu, der in +Osterode am Harz zu Hause war.</p> + +<p>»Na, die wird sich recht freuen, wenn Du mit Deiner zerhackten Visage +vor ihr auftauchst. Sieh nur zu, daß wenigstens die Nase wieder etwas +ins Gerade gerückt wird, sonst läuft selbst der Kater mit Grauen davon.«</p> + +<p>»Schadet nichts, Mutter Immecke«, erwiderte Klaus ungerührt. »Freuen +wird sie sich doch, denn zuletzt ist doch noch manches an dem Kerl +geblieben, was sich sehen lassen kann. Wird für den verlorenen Sohn +kein Kalb geschlachtet, so doch hoffentlich ein tüchtiges Stück +Schinken aus dem Rauchfange geholt. Und der Vater soll's nicht zu arg +machen. Dem Stöcklein sind wir mit der Zeit entwachsen; könnte uns +ansonst gleich wieder die Klinke in die Hand drücken. Neugierig bin ich +nur, wie wohl das Schwesterchen ausschaut, das ich vor Jahren als ein +kleines Hutzelchen verließ. Muß etwa so alt sein wie Eure Monika. Ob +sie freilich auch so schier und blank dareinschaut wie diese, weiß ich +nicht.«</p> + +<p>Da lief ein Schmunzeln über Immeckes Gesicht, und sie reichte Klaus +Bolte einen Becher Branntwein. »Da, nimm's und trink's auf ihr Wohl, so +verkühlst Du Dir den Magen nicht in diesem Schandwetter. Ansonst die +Mutter Dich mit<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> Kamillentee zurechtpäppeln muß, statt des Schlegels +vom geschlachteten Kalbe.« Klaus lachte über das ganze Gesicht und +setzte den Becher an die ewig durstigen Lippen.</p> + +<p>Währenddessen war die Tochter, von der die Rede war, um einen +Schwerblessierten beschäftigt, der mit noch zwei anderen auf einem +Beiwagen im Stroh lag. Ihm war bei dem letzten Treffen das linke +Bein zerschmettert, und die Säge des Feldschers hatte ihm nur einen +armseligen Stumpf davon übriggelassen.</p> + +<p>»Nun, wie geht's mit der Wunde, habt Ihr noch arge Schmerzen?« fragte +das Mädchen mitleidig, während sie ihm das Strohkissen zurechtrückte, +daß er bequemer sitze.</p> + +<p>»Wie soll's anders sein,« murrte der alte Doppelsöldner, »natürlich +zwickt's noch höllisch; aber das ist's nicht, was mich niederdrückt. +Die Aussicht, den Bettelmann künftig zu spielen, als Lump hinter einer +Hecke zu verrecken, das ist es, was einen ehrlichen Kriegsmann wurmt +und auffrißt! Man hätte mich verbluten lassen und mit dem, was von mir +da hinten bei Nanzig blieb, beiroden sollen!«</p> + +<p>»Pfui doch, der garstigen Rede«, sagte Monika, während sie begütigend +über das struppige Haar strich. »Dankt vielmehr Eurem Gott, daß er Euch +das Leben ließ. Der wird auch weiter für Euch sorgen. Ihr habt doch +noch Leute zu Hause, die für Euch sorgen werden.«</p> + +<p>Der alte Veteran blickte gerührt zu ihr auf. »Du bist doch unser +Engelein, Monika! Hast recht, so ganz verlassen bin ich nicht. Noch +lebt mir das alte Mütterlein daheim; die freut sich, bringt ihm der +Sohn auch statt güldener Ketten und anderer Schätze, die er auszog zu +erwerben, nur ein Stelzbein mit. Und der Bruder, der das väterliche +Anwesen erbte und bewirtschaftet, war auch keiner der Schlechtesten.<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> +Ist die Frau, die er inzwischen heimführte, von ähnlicher Gesinnung, so +mag auch bei ihnen ein Plätzchen hinter dem Ofen für mich bereit sein, +und den Kindswärtel kann ich zur Not auch noch spielen. Sag's nur der +Mutter nicht, in welcher Laune Du mich getroffen, sonst setzt es noch +ein Donnerwetter von ihr. Du weißt ja, wie sie ist.«</p> + +<p>Immecke war derweil mit einem andern ins Gespräch geraten, der eine +Binde über dem linken Auge trug.</p> + +<p>»Wohl bekomm's, Erdwin Scheffer«, wünschte sie dem Einäugigen zugleich +mit dem Becher, den sie ihm reichte. »Nun, freust Du Dich, daß wir +glücklich über den Rhein sind? Jetzt geht's mit Macht der Heimat zu. +Die Eltern werden sich freuen, wenn sie Dich wiederhaben.«</p> + +<p>Ein verbissenes Lachen war die Antwort.</p> + +<p>»Natürlich, die werden alle Türen bekränzen, wenn der Hansdampf +in allen Gassen flügellahm wiederkehrt, der ihnen ausriß, weil es +ihm daheim zu wohl war und weil er ihren gutgemeinten Plänen nicht +gehorsamen wollte. Und die Freunde erst und die Jüngferlein, wie werden +die sich um mich reißen, den Krüppel.«</p> + +<p>»Laß die Mutter aus dem Spiel bei Deinem gottlosen Reden«, widerriet +Immecke ernst und nachdrücklich. »Was weißt Du, was eine Mutter für ihr +Kind im Herzen trägt.«</p> + +<p>Sie kam nicht weiter mit ihrer Ermahnung, denn in diesem Augenblick +begann am jenseitigen Ufer vor sich zu gehen, worauf alles schon +wartete. Das Frankentor öffnete sich und ließ die Karren und Wagen +der flandrischen Kaufleute heraus. Sie rumpelten nacheinander das +abgeflachte Steinufer zur Fähre herab, die sie übersetzen sollte. +Man sah, wie die Pferde unruhig aufstiegen, als sie das schwankende +Gerüst betreten sollten. Dann kam die erste Last über<span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span> den Strom und +landete nach langer Zeit am Deutzer Ufer. Einmal nach dem andern fuhr +der Fährmann mit seinen Knechten herüber und zurück, denn der Zug war +lang, und die Fähre trug nicht mehr als zwei Gefährte zugleich. Es ging +schon auf den Nachmittag, als der letzte Wagen den Uferrand bei Deutz +heraufrollte.</p> + +<p>Manches derbe Scherzwort fiel bei den Kriegsknechten über das Bild, das +sich vor ihnen abspielte.</p> + +<p>»Was mögen wohl die Ballen und Kisten an Kostbarkeiten bergen?« meinte +neugierig lüstern Abel Wüstemann aus Zerbst. »Das kann Dir gleich +sein«, fiel ihm Immecke ins Wort. »Für Dich ist's jedenfalls nicht +bestimmt. Laß also Deine Gedanken und Finger davon, das rate ich Dir.«</p> + +<p>»Nun, nun, man wird doch noch seinen Mund auftun dürfen«, brummte der +also Gemaßregelte.</p> + +<p>»Besser ist's schon, Du befolgst meinen Rat und behältst Deine Gedanken +für Dich; wir kennen uns doch von Arras her, wo ich Dich durch ein +gutes Wort vor dem Profosen rettete, als Du ein wenig von des Nächsten +Gut an Dich gebracht hattest. Ein zweites Mal wird Dir meine Fürsprache +fehlen. Wir wollen als ehrliche Leute in die Heimat ziehen.« Da schlich +er beschämt zur Seite.</p> + +<p>Verdrossen glitt der Blick Erdwin Scheffers über das Treiben am +Strande. Unschlüssig stand er da über seine Hellebarde gebeugt, in +seiner Lässigkeit doch die Kraft verratend, die in seiner schlanken, +sehnigen Gestalt gefesselt stak. Das hübsche Gesicht wurde nicht einmal +durch die schwarze Binde merklich entstellt. Die Hand glitt verloren +durch das Bärtchen, welches die Lippen zierte. Monikas Blick folgte dem +Abseitsstehenden. Sie wischte sich verstohlen die Augen, die ihr feucht +geworden waren im Gedanken an<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> sein Unglück; was war aus dem lustigen +Gesellen geworden, der zu ständiger Kurzweil früher geneigt war. Ihr +selbst kaum bewußt, schlug ihm ihr junges, unschuldiges Herz entgegen.</p> + +<p>Erdwins Gedanken weilten indes weitab von ihr und vom Rhein. Die Berge +des Harzes stiegen vor ihm auf und die Stadt mit den vielen Türmen, +aus der er in trotzigem Übermut und Groll entwichen war. Wie mochte +es jetzt daheim aussehen, was die Mutter sagen und der Vater denken, +dessen starrer Sinn ihn beim eigenen Handwerk festhalten wollte, um +ihn durch die Hand der Nachbarstochter noch unlöslicher mit der Heimat +zu verbinden? Denn er kannte den unruhigen Sinn des Sohnes, der in die +Ferne strebte und in unklarer jugendlicher Abenteurerlust jenseits der +Berge die blaue Blume zu pflücken hoffte, von der die Mär erzählte. +Erdwin hatte längst eingesehen, daß diese Blume im Lande Nirgendwo +blühe und daß der ehrsame, gestrenge Vater zuletzt doch das Richtige +mit ihm im Sinn hatte. Aber Trotz und Scham hielten ihn davon ab, als +reuiger Sohn zurückzukehren, und auch die Aussicht, doch noch das +Opfer der väterlichen Heiratspläne zu werden. Die breithüftige Maria +Hellvogt, die man ihm zugedacht hatte, mit den guten, blauen Augen im +rundlich-dummen Gesicht, konnte ihn auch heute noch nicht locken, zumal +wenn er sie mit der zierlichen Monika verglich, die ihm in den Jahren +der gemeinsamen Kriegsfahrt mehr als ein guter Kamerad geworden war. +Nun kehrte er als ein Schiffbrüchiger heim, und er mußte vorliebnehmen, +was ihm von der Eltern Gnade übrigblieb, wenn sie ihm nicht gar ganz +die Tür verschlossen.</p> + +<p>Ingrimmig stampfte er mit der Waffe auf; da fiel sein<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span> Blick auf +einen der Männer, die ihre Rosse von der Fähre die Uferböschung +hinaufführten: Wenn's nicht gar so närrisch wäre, sollte man meinen, +das sei ein alter Bekannter von daheim. Noch einmal sah er hin und noch +einmal. Wahrhaftig, kein Zweifel, das war ja der Heinrich Achtermann, +des Ratsherrn Sohn, und der da neben ihm, war das nicht Johannes Hardt +von der Poppenbergstraße? Und schon klang es auch von seinen Lippen: +»Heinrich Achtermann, Johannes, Herr Johannes Hardt, bist Du es, seid +Ihr es wirklich?«</p> + +<p>Hallo, wer rief hier, in der Fremde, ihren Namen? Heinrich blickte sich +erstaunt um.</p> + +<p>Die Freude, einen Bekannten aus der alten Heimat, einen Jugendgespielen +unvermutet zu sehen, überwog bei Erdwin jedes andere Gefühl. Eilig trat +er näher. »Bei Gott, das nenn' ich eine Freude in all der Trübsal«, +sprudelte er hastig hervor. »Aber sagt, erkennt Ihr mich denn immer +noch nicht, den Erdwin Scheffer von Sankt Ägidien, mit dem Ihr so oft +in des Nachbars Garten auf Raub gezogen und der ebensooft vom Vater +den Buckel zerbleut bekam, weil er dem Stadtweibel eine Nase gedreht +oder die Zöpfe der dummen Mädel aneinander festgebunden hatte, daß sie +zeterten und schrien, als sei der Habicht unter die Hühner gestoßen?«</p> + +<p>Nun erkannten auch sie den Jugendgespielen, und die Freude war nicht +minder groß. Das gab ein Fragen hin und her. Über die Heimat wußten sie +freilich beide wenig Neues; im Vordergrunde standen die Erlebnisse in +der Fremde.</p> + +<p>»Was hast Du denn mit dem Auge?« fragte Johannes.</p> + +<p>»Das ist das traurigste Kapitel aus meiner Irrfahrt. Es ist dahin, und +nicht einmal im ehrlichen Kampfe vor dem<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> Feinde verloren, sondern +ein eidbrüchiger Schuft stieß mir sein Messer hinein, als ich einen +ehrlichen Mann, unsern Hauptmann, aus den Krallen der meuterischen +Knechte befreien wollte. Er hat zwar seine Tat mit dem Leben gebüßt, +denn die Kameraden schlugen ihm gleich danach den Schädel ein, aber ich +bin ein Krüppel fürs Leben und weiß noch nicht, wie ich es trage und +vor die Eltern treten soll, denen ich im aufgeblähten Stolz vor mehr +als fünf Jahren davonrannte.«</p> + +<p>Man sprach ihm gut zu, und die düstere Falte auf der Stirn glättete +sich allmählich unter dem lebhaften Austausch von gemeinsamen +Erinnerungen und dem »Weißt Du noch?« »Besinnst Du Dich?« Niemand aber +war froher als das wackere Paar am Marketenderwagen, als sie sahen, daß +ihr Liebling wieder etwas frohmütiger dreinblickte, und Monika rechnete +es dem Heimatsgenossen als besonderes Verdienst an, daß ihm dies +gelungen war.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span></p> +</div> +<p class="drop">Der Zug der Kaufleute hatte das Bergische Land durchquert und war +in die Soester Börde hinabgestiegen, vorbei an mehr als einem der +Raubnester, die über den tiefen Taleinschnitt am Felsen klebten wie das +Nest der Mauerschwalbe. Manch begehrlicher Blick eilte ihnen von da +oben entgegen und geleitete sie im Vorbeiziehen, aber man wagte sich +nicht an die Fremden heran, die wie ein kleiner Heereszug stattlich und +sicher dahinzogen. Es waren der Kaufleute gar viele, die aus Flandern +und Frankreich solchergestalt ins Reich zogen, denn manche von ihnen +zogen noch über Goslar hinaus bis Leipzig, um dort auf den großen +Märkten, den Vorläufern der heutigen Messe, den Warenaustausch bis +nach dem fernen Osten hin zu vermitteln. Gemeinlich fand nur einmal im +Jahre ein solcher Zug aus dem Westen her statt. In Goslar hielt man +sich monatelang auf und handelte dort wie in Braunschweig und anderen +Städten der Nachbarschaft, bis die Ostgänger wieder zurück waren und +man nun mit dem begehrten Kupfer und anderen Schätzen die Rückreise +antreten konnte.</p> + + +<p>In Goslar pflegten die Fremden bei ihren Geschäftsfreunden abzusteigen, +während die Knechte und Handlungsgehilfen in den Herbergen Unterkunft +fanden. Manche engen Beziehungen waren so entstanden zwischen Goslarer +Familien und Häusern in Brabant oder Nordfrankreich. Fäden liefen hin +und her, die nicht leicht zerrissen. Der bedächtige Kaufmann vertraute +seine Sachen nicht gern fremden Händen<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> an, und erst wenn das Alter zu +sehr drückte oder der Sohn und Nachfolger Gewähr bot, daß die Geschäfte +mit gleicher Gewissenhaftigkeit erledigt werden würden, trat der Alte +zurück und überließ der jungen Kraft die Beschwerden der Reise. So +kam es, daß Heinrich und Johannes Hardt auch Bekannte unter ihnen +antrafen. Da war der weißhaarige Herr Jan Uytersprot aus Brügge, der +beim Nachbar Borchardt abzusteigen pflegte und sich so gern mit den +Kindern beschäftigte. Noch heute rechnete es ihm Heinrich hoch an, daß +er sein Versprechen, ihm einen richtigen Bogen mit Köcher aus Brabant +mitzubringen, getreulich gehalten hatte. Und Herr Gérard Dietvorst aus +Dinant und Felix Vandepere aus Löwen und noch andere, sie alle tauchten +vor ihm mit bekannten Gesichtern auf. Er selbst mußte sich freilich +ihnen erst wieder in Erinnerung bringen, denn seit der Kindheit war +manches Jahr dahingerauscht, und den aufwachsenden und in die Fremde +ziehenden Jüngling hatten sie aus dem Gesicht verloren. Von seinem +Auftrage war natürlich nicht die Rede, und ihre Geschäfte nahmen sie +mehr in Anspruch als der Gedanke, wie die jungen Goslarer hier in ihren +Zug kamen.</p> + +<p>In Soest fand Heinrich Achtermann Gelegenheit, die Grüße des Vaters im +Hause Ernestis zu bestellen und sich zu überzeugen, welches geschäftige +Leben in der alten Hansestadt pulsierte. Ernestis Wohnwesen stellte mit +seinen Höfen, Speichern und Stallungen eine Handelsburg für sich dar. +Der Mann mußte ein ganz Großer unter seinen Berufsgenossen sein!</p> + +<p>An der Weser gab es unerwünschten Aufenthalt, denn die Brücke bei +Höxter war wieder einmal abgetragen oder davongeschwemmt. Argwöhnisch +schielte man sich von beiden<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> Ufern an: hier die kurmainzischen Mönche +von Corvey mit den erzbischöflichen Knechten in der Stadt, drüben die +Mannen des braunschweigischen Vogts. Also galt es, noch einmal auf der +Fähre den Fluß zu überqueren.</p> + +<p>In Köln hatte sich dem Zuge auch ein Händler Hans Römer aus Helmstedt +angeschlossen, der die günstige Gelegenheit zur Heimreise benutzen +wollte. Seine Gewandtheit und seine Kenntnis des Flämischen wie des +Französischen machte ihn zu einem willkommenen Begleiter für diesen +und jenen der Kaufleute, denen das Deutsch etwas polterig vom Munde +floß. Dabei war er am Rhein mit Land und Leuten ebenso vertraut wie in +Westfalen, und seine Beweglichkeit half manchen Zusammenstoß mit den +Landesbewohnern wie mit Behörden vermeiden. An Heinrich und Johannes +schien er einen besonderen Gefallen gefunden zu haben. Wo es nur +anging, hielt er sich in ihrer Nähe auf und verstand es auch meistens, +in derselben Herberge mit unterzuschlüpfen. Johannes vergalt diese +Freundlichkeit nicht mit gleichem Entgegenkommen. Es lag etwas im Wesen +des Mannes, was ihn abstieß; war es der unsichere Blick der ewig auf +der Wanderung befindlichen Augen oder die aufdringliche Zutraulichkeit; +er wußte es selbst nicht. Heinrich war weniger mißtrauisch. Seine +Vertrauensseligkeit hatte bisher noch keinen groben Stoß im Leben +erlitten. Einmal wurde allerdings auch sein Argwohn rege, als er +den Helmstedter im Morgengrauen, da alles noch schlief, bei seinen +Habseligkeiten fand. Römer war um eine Ausrede nicht verlegen, als +Heinrich ihn fragte, was er an seinen Sachen zu tun habe. Es lag +natürlich ein Versehen vor, das sich aus dem unsicheren Licht erklärte, +und tatsächlich befand sich das Bündel des Mannes dicht dabei, so daß +ein Irrtum möglich war.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span></p> + +<p>Der Argwohn erhielt aber neue Nahrung durch eine Mitteilung Erdwin +Scheffers, dem es Monika Rosenhagen sagte. Sie hatte Römer mehrere Male +im geheimen Gespräch mit einigen Landsknechten gesehen und dabei auch +den Namen »Achtermann« deutlich vernommen. Da jener Wüstemann dabei +gewesen war, dem die Mutter eine unreine Hand nachsagte, so nahmen sie +an, daß irgendein Schelmenstück geplant werde. Man konnte aber zunächst +nichts weiter tun, als die Augen offen halten. Und das taten Monika mit +ihrer Mutter wie Erdwin Scheffer und Johannes Hardt seitdem noch mehr +als Heinrich selbst.</p> + +<p>Die Zahl der Landsknechte verringerte sich inzwischen mählich, aber +stetig in dem Maße, wie die Heimat des einzelnen näher kam. Als man +sich dem Harz zuwandte, waren es nur noch ihrer dreißig. Man mußte +der wilden Schar nachrühmen, daß sie ihre Aufgabe auf der langen +Reise redlich erfüllt hatte. Freilich hatten die Kaufleute tüchtig in +den Beutel greifen müssen, aber die Vorsicht lohnte sich doch, und +man konnte hoffen, die Mehrkosten wiedereinzubringen, sei es durch +vorteilhafte Einkäufe in Goslar oder durch Aufschlag auf die Waren +daheim. Ein Jauchzen rang sich von den Lippen Heinrichs, als die Berge +des Harzes jenseits Gandersheim in der Ferne aufblauten.</p> + +<p>»Die Heimat, Kinder, die Heimat winkt uns«, rief er den Gesellen zu, +die in seiner Nähe gingen.</p> + +<p>»Für Dich ja, aber für mich?« erwiderte Erdwin traurig. »Auch für Dich, +guter Erdwin«, redete Johannes ihm tröstend zu. »Auch für Dich wird +sich noch alles zum besten wenden. Jetzt freue dich mit uns, daß wir +dem alten, lieben Goslar näher kommen.«</p> + +<p>Man kam durch Ildehausen, wo ehedem Ernestis Ahnen<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> hausten. Vor ihnen +erhoben sich die Berge in immer machtvollerer Fülle, und dann zogen +sie in das kleine Städtchen Seesen ein, das die letzte Raststätte vor +Goslar sein sollte.</p> + +<p>In Seesen verließen noch einige Landsknechte die Gesellschaft. Da man +aber dem Ziel nahe war und die unsicheren Gebiete hinter sich wußte, +glaubte man das Endstück der Reise unter dem Schutze der eigenen +Bewaffneten und des Restes der Soldaten wohl zurücklegen zu können.</p> + +<p>In diesem Städtchen verschwand auch Römer, und man trauerte dem +unleidlichen Gesellen nicht nach. Erdwin Scheffer war noch immer nicht +ganz beruhigt. »Ich kann mir nicht denken, daß der Kerl irgendeinen +Plan hegte und nun ohne weiteres auf die Ausführung verzichtet, ohne +den ernstlichen Versuch zu seiner Ausführung unternommen zu haben.« +Aber Heinrich, wie jetzt auch Johannes, waren guten Mutes, und man +verließ anderen Morgens die kleine Stadt. Sie hofften, schon in den +frühen Stunden des Nachmittags in Goslar einzutreffen; doch ein +Radbruch beim Neuen Kruge gab unliebsamen Aufenthalt, und es sanken +schon die frühen Schatten des Novembertages herab, als man sich den +Goslarer Bergen näherte.</p> + +<p>Der Vogt des festen Hauses in Langelsheim, das den Braunschweigern +gehörte, gab mürrischen Dank auf den Gruß, den man ihm bot.</p> + +<p>»Wie seine Herren«, sagte Heinrich lachend, dessen frohe Ungeduld mit +jedem Schritt wuchs. Vor ihnen verließen ein paar Bewaffnete den Ort, +wahrscheinlich Knechte des Herzogs, die mit Botschaft nach Langelsheim +gekommen waren oder solche mit sich nahmen. Sie ritten, daß die Funken +stoben. »Die haben es eilig, daß sie unsere Gesellschaft meiden«, rief +Erdwin hinter ihnen her.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span></p> + +<p>Als man in den hohlen Fahrweg einbog, der das letzte Stück des Weges +vor Goslar bildete und etwas westwärts vom Kloster Riechenberg begann, +war die Dunkelheit völlig hereingebrochen. Der Weg führte in der tiefen +Rinne dahin, die vom Wasser in der Hauptsache gegraben war und ihm auch +weiter als Abflußrinne diente. Die Wagenknechte suchten fluchend die +Laternen hervor und hieben auf die müden Gäule ein. Da durchschnitt +plötzlich ein schriller Pfiff die Luft. An der Spitze des Zuges +krachten Schüsse, und alles geriet ins Stocken. Von der Höhe sprangen +Bewaffnete herab und schleuderten Feuerbrände in den Wirrwarr auf der +Talsohle. Die Pferde scheuten und suchten durchzubrechen. Überall +Kampfeslärm und Waffengeklirr. Man dachte zunächst nichts anderes, als +daß man zuletzt doch noch das Opfer eines Überfalls von Strauchdieben +geworden sei.</p> + +<p>Heinrich ritt mit Johannes ziemlich an der Spitze des Zuges; denn die +Ungeduld trieb sie voran. In ihrer Nähe war auch Erdwin Scheffer mit +noch anderen Knechten. Sie wollten umkehren, um die Wagen zu schützen; +aber da traten ihnen mehrere Bewaffnete entgegen. »Der da ist es«, rief +einer der Fremden mit einer Stimme, die Heinrich bekannt vorkam. Sie +warfen sich auf ihn und suchten ihn zu überwältigen. Heinrich wehrte +sich kräftig, doch die Überzahl war zu groß. Ihm schwanden die Sinne, +er merkte nur noch, daß ihm die Brusttasche entrissen wurde. Da kam +Hilfe von Erdwin und Johannes, die sich bis jetzt selbst ihrer Gegner +zu erwehren gehabt hatten. »Dachte ich's doch, daß der Schuft seine +Hand im Spiele habe.« Damit warf er sich auf die Angreifer und drang +bis zu Heinrich vor; denn er sah, daß der, den er meinte, es war der +Helmstedter,<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> mit seiner Beute davonwollte. Da holte diesen ein Schlag +mit der Hellebarde herab. Mit gespaltenem Schädel sank er zu Boden.</p> + +<p>Mit dem Falle des Anstifters schwand auch die Angriffslust der +übrigen. Sie suchten nur noch ihren Rückzug zu decken und klommen +kämpfend den steilen Hang hinan. Erdwin, in dem die alte Kampfeslust +erwachte, drängte hitzig nach. Hier und da krachte noch ein Schuß, +zersplitterte noch ein Lanzenschaft. Noch ein Feuerstrahl zuckte aus +einer Hakenbüchse auf, er galt und traf Erdwin Scheffer. Als letzter im +Kampfe sank er dahin. »Die Tasche!« flüsterte er noch dem Nächsten zu, +dann brach er zusammen. Man hörte den Galopp von fortjagenden Reitern, +dann blieb die Nacht allein mit den Überfallenen zurück. Man suchte zu +ordnen, so gut das bei dem Wirrwarr und der Dunkelheit ging. Johannes +war um Heinrich Achtermann bemüht, den er für schwerverletzt hielt; +Erdwin Scheffer blieb zunächst sich selbst überlassen.</p> + +<p>Der nächtliche Kampf hatte leider nicht nur blutige Köpfe gekostet, +einige Knechte waren tot. Verwundete ächzten und riefen um Hilfe. +Herabgezerrte Warenballen sperrten den Weg. Angstvoll suchte Monika +im Hohlwege vorzudringen. Ihnen war nichts geschehen, der Angriff +hatte sich von vornherein auf die Stelle gerichtet, wo man Heinrich +Achtermann vermutete. Ihre Sorge galt Erdwin Scheffer, dem fröhlichen +Gesellen mancher kurzweiligen Stunde im Tumult des Krieges, dem +Geliebten ihres Herzens, wie sie in der Stunde der Gefahr mit +blendender Klarheit erkannte. Ihr Fuß strauchelte über Wurzeln, sie +versank in Rinnsale des Weges, aber sie ruhte nicht, bis sie ihn +gefunden hatte. Und als sie ihn vor sich liegen sah, mit wunder Brust, +aus<span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span> dem der warme Strahl hervorsickerte, da sank sie mit einem +Aufschrei über ihn hin.</p> + +<p>»Erdwin, mein Erdwin, bleibe bei mir, verlaß mich nicht, Einziger Du!« +Irre, hilfesuchend blickten ihre Augen umher im Dunkel der Nacht. +War denn niemand da, der helfen konnte? Da kam die Mutter heran, die +Vielerfahrene. »Laß ihn mir, Monika. Wenn ihm zu helfen ist, bringe ich +ihm Rettung.«</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span></p> +</div> +<p class="drop">Die steile Höhe des Erzweges hinauf, der vom Granetal über das Joch +zwischen Hessenkopf und Thomas-Martinsberg ins Tal der Gose führt, +erklangen die Glöckchen der Grautiere, die ihrer Last ledig waren, +welche sie auf dem geduldigen Rücken von den Gruben des Rammelsberges +zu den Erzrösten im Granetal geschleppt hatten. Rüstiger schritten +sie aus, als die Höhe erreicht war. Auf dem Rückwege drückte nur +leichte Bürde ihren Rücken: Kupferbarren, Bleibrote, der Gewinn aus +der umständlichen und unvollständigen Art der Verhüttung, waren ihnen +anvertraut. Vergnüglich klang das »I—ah« des Leitesels in die kühle +Novemberluft, als wolle er seiner Freude Ausdruck geben über den warmen +Stall und die gutgefüllte Krippe, die seiner harrten.</p> + + +<p>Unten im Granetal verhallten die letzten Axtschläge der Holzfäller an +den Berghängen, die in den Waldungen der Silvanen, der Waldherren, das +Holz fällten, welches zum Rösten und Sintern des Erzes nötig war. Vom +Glockenbrunnen her, der das klare Wasser des Glockenberges dem Tage +wiedergibt, lagerten sich die dicken Schwaden schwefligen Rauches über +der Talsohle, wo die Rosthaufen des Erzes unter der Hut rußiger Wächter +schwelten.</p> + +<p>Zwei Männer verließen die Stätte und wandten sich ebenfalls dem Erzwege +zu. Mager und langstelzig der eine, kurz und rundbäuchig der andere.</p> + +<p>»Gemach, gemach, Nachbar Richerdes«, mahnte der<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> kleine Dicke. »Wir +wollen kein Wettrennen veranstalten. Ihr kommt noch rechtzeitig in der +Bergstraße an, um Euch von der Eheliebsten den Abendtrunk kredenzen zu +lassen.«</p> + +<p>Der Lange verhielt etwas im Schritt, bis der Begleiter ihn wieder +eingeholt hatte. »Wollte hoffen, es wäre so«, sprach der Hagere +grämlich. »Aber Ihr wißt doch, daß die Frau seit Monaten siecht. Zu +Hause sehe ich schon lange kein fröhliches Gesicht mehr.«</p> + +<p>»Entschuldigt, Nachbar, es war nicht böse gemeint«, begütigte der +Waldherr Ludecke Bandelow. »Ihr habt aber doch wenigstens die Venne; +die muß Euch doch ein wahrer Augentrost sein in diesem Ungemach, Euch +und Eurer Frau.«</p> + +<p>»Ich will es nicht leugnen und danke Gott, daß er sie uns schenkte +für diese Zeit der Trübsal, doch lange wird ihr jugendlicher Frohsinn +auch nicht mehr vorhalten, fürchte ich. Die Mutter aufheitern und den +grämlichen Vater beruhigen, das ist nicht Jugendarbeit auf die Dauer. +Ihr seht, ich male mich selbst nicht schöner, als ich bin. Aber der +Henker soll auch die gute Laune behalten bei all dem Ärger mit dem +Berge und dem Rat.«</p> + +<p>»Wie steht Ihr denn jetzt mit ihm?« forschte Bandelow.</p> + +<p>»Das könnt Ihr Euch leicht vorstellen, solange Karsten Balder +regierender Bürgermeister ist. Ihr wißt ja, wie er es, offen und +versteckt, gegen mich hat, er wie seine Freunde. Sein Gelüste kenne +ich, ihm steht der Sinn nach meiner Gerechtsamen; die Ursachen liegen +tiefer: mich trifft er, aber eine andere will er treffen.«</p> + +<p>»Ich weiß, ich weiß, es gilt Eurer ...«</p> + +<p>»Wozu die Namen?« unterbrach ihn Richerdes, »das ändert nichts an der +bestehenden Gegnerschaft. Die Hauptsache ist, daß man den Gegner als +solchen kennt.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span></p> + +<p>»Ja, das ist das schlimme, daß es möglich ist, ehrsamen und +pflichttreuen Bürgern das Leben schwer zu machen unter der Flagge +der Fürsorge für die Stadt. Eine nette Fürsorge das, die darauf +hinausläuft, einem das bißchen Eigentum zu nehmen. Das scheint ja +freilich im Zuge der Zeit zu liegen; denn wie man bestrebt ist, Euch +die Berg- und Grubengerechtsame abzujagen, so will man uns unsere +wohlerworbenen Anrechte auf die Forst abnehmen. Aber gebt nicht nach, +keinen Zoll breit. Mit uns hat es der wohlweise Rat ja ähnlich vor; +solange ich jedoch da bin, erhält er nichts.«</p> + +<p>»Nun, ›abjagen‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort,« fiel Richerdes +ein, »Ihr wißt ja, daß er mich und andere auskaufen will. Daß der Preis +nicht zu hoch gehalten ist, dafür sorgt aber schon der Regierende. Es +sei im Interesse der Stadt, der Allgemeinheit, so bemänteln sie es +gar schön. Aber ich kann und will das nicht einsehen. Weshalb soll +denn jetzt auf einmal verkehrt sein, was man vor nicht gar zu langer +Zeit selbst betrieb. Damals, als es hieß, Geld zu finden, Gewerke +zusammenzubringen, war mein Vater gut genug zur Hergabe des Geldes. Ich +weiß von ihm selbst, wie er sich gesperrt und gesträubt hat, ehe er +den Beutel zog. Damals drängte und mahnte der Rat, es sei eine Tat für +das Gemeinwohl; jeder Bürger, der es könne, müsse einspringen. Jetzt +wollen sie es nicht recht haben, jetzt, wo die Sache nach den vielen +Scherereien und Opfern sich als ergiebig zeigt.«</p> + +<p>»Das ist's, damit habt Ihr ins Schwarze getroffen: sie gönnen Euch den +Gewinn nicht, und da muß das Gemeinwohl herhalten. Bleibt nur fest wie +ich. Meinen Anteil an der Forst bekommen sie nicht, und wenn sie noch +so viel darum tun. Recht muß Recht bleiben.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span></p> + +<p>So tauschten die beiden wackeren Bürger ihre Meinungen aus über den +habgierigen Rat, wie sie sein Vorgehen deuteten, und stiegen von +der Höhe herab, vorbei an der Ratsschiefergrube, die schon von den +Werkleuten verlassen wurde; denn die Schatten des Abends sanken +immer mehr herab. An der Gose entlang klapperten der Wassermühlen +unermüdliche Räder.</p> + +<p>An dem Stadtgraben trennten sie sich mit einem Handschlag, denn +Bandelow hoffte noch durch das Mauerpförtchen an der Frankenberger +Kirche Einlaß zu gewinnen, die ragend und dräuend von der Höhe durch +das Grau des Abends herabdämmerte. Richerdes aber folgte der Fahrstraße +zum Klaustor, die seiner Wohnung in der Bergstraße näher lag.</p> + +<p>Das Haus in der unteren Bergstraße war schon versperrt. In der +Dunkelheit des Abends konnte man von ihm nicht mehr erkennen als die +gewaltigen Umrisse, die in der engen Straße doppelt stark wirkten. +Ein großer Torweg zu oberst war schon verschlossen, wie Richerdes +feststellte; also mußte er den Klopfer des Haustores in Bewegung +setzen, daß ihm Einlaß wurde. Die Hausglocke schnepperte noch eine +Weile in immer mehr verklingenden Tönen nach, als er über den mit +Steinplatten abgedeckten Hausflur schritt, um noch einen Blick auf den +Hof und in die Stallungen zu werfen.</p> + +<p>»Ist Besonderes vorgekommen?« fragte er eine Magd, die ihm begegnete. +»Nein, nur die Frau hat des öfteren nach Euch gefragt.« Da gab er sein +Vorhaben auf und wandte sich sogleich der Wohnung zu, die um wenige +Stufen höher, zur Seite des Flures lag. In dem großen Wohnzimmer +sandten die Kerzen eines mehrarmigen Leuchters ihre Strahlen umher. +Sie scheiterten indes bei dem Versuch,<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> bis in die dunkeln Ecken des +Gemaches zu dringen. So dunkel war es nach der Rückwand zu, daß man +kaum die Tür bemerkte, welche dort in die Schlafkammer führte. Sie +öffnete sich in diesem Augenblick, und Venne, die Tochter, trat heraus, +um den Vater zu begrüßen, da sie die Hausglocke gehört hatte.</p> + +<p>»Wie geht es der Mutter?« war die erste Frage.</p> + +<p>»Sie ist etwas unruhig, seit Ihr fort seid. Ich war froh, daß in Eurer +Abwesenheit Schwester Jutta vom Kloster Mariengarten hier war. Ihr +wißt ja, daß sie auf Mutter immer einen wohltätigen Einfluß ausübt. +Auch heute legte sich unter ihrem gütigen Zuspruch die Gespanntheit +der Nerven. 's ist eine gute Frau, diese Jutta; wir schulden ihr einen +Gotteslohn. Ist es nicht gerade, als ob unter ihrer kühlen Hand und dem +gütigen Trostwort alles Ungemach davonfliege?«</p> + +<p>»Ja, wir haben allen Anlaß, ihr dankbar zu sein in dieser schweren +Zeit«, antwortete der Vater. »Ich weiß nicht, wer durch diese treue +Freundschaft mehr geehrt wird, die Mutter, der die fromme Frau auch +unter dem Schleier noch die Zuneigung bewahrt, oder jene selbst, deren +edle Eigenschaften durch diese Pflege alter Beziehungen in ein um so +schöneres, helleres Licht gerückt werden. Aber jetzt geht es ihr doch +besser, der Armen, Leidgeprüften?« fragte er besorgt.</p> + +<p>»Sie schläft. Ich mußte sie über Euer langes Ausbleiben beruhigen, +wolltet Ihr doch schon am Nachmittage zurück sein.«</p> + +<p>»Wollte ich auch, und wäre ich auch, wenn ich nicht den Montanen, Herrn +Bandelow, getroffen hätte, mit dem es ein langes und breites über +Holzleistungen und -lieferungen<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> zu besprechen gab, und auch sonst ist +noch manches zwischen uns beredet worden.«</p> + +<p>»Dachte ich's mir doch, daß Ihr einem Schwätzer wie dem in die Hände +gefallen wäret. Laßt Euch mit dem nur nicht zu sehr ein; ich werde die +Sorge nicht los, daß Euch und uns durch seine Einmischung zuletzt noch +Übles widerfährt«, hielt Venne dem Vater entgegen.</p> + +<p>In Richerdes' Augen war ein froher Glanz getreten, als er die Tochter +bei ihrem Eintritt ins Zimmer mit dem Blick umfaßte. Der ganze Mann +schien geändert, seitdem er das Zimmer betreten hatte; nichts mehr von +der düsteren, grämlichen Stimmung, die ihn im Gespräche mit Bandelow +beherrschte. Es war für ihn ein ungeschriebenes Gesetz, alles, was er +an Verärgerung draußen erlebte, nicht über die Schwelle des Hauses +dringen zu lassen. Nur über seine Gegensätze zu dem regierenden +Bürgermeister war die Tochter durch die Mutter unterrichtet. Darauf +bezogen sich auch wohl ihre besorgten Worte. So lautete auch die +Erwiderung auf Vennes letzte Worte mehr zärtlich freundlich als +abweisend:</p> + +<p>»Du gibst es ja Deinem alten Vater tüchtig, kleiner Schulmeister; doch +sei unbesorgt, was ich mit Bandelow besprochen habe, brauchte nicht +das Licht zu scheuen. Daß er den Mund gern etwas voll nimmt, weiß +ich besser als Du und richte mich von vornherein darnach. Aber das +Geschäftliche muß schon mit ihm beredet werden; und Du weißt ja, daß +er mein hauptsächlicher Holzlieferant ist. Die Verhältnisse im Berge +liegen leider so, daß ich mehr auf ihn angewiesen bin, als mir lieb +ist. Doch nun genug vom Geschäft und seinem Ärger.«</p> + +<p>Venne strich ihm zärtlich über das Haar. Es war ein<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> großes, schlankes +Mädchen, das hier von dem gelben Lichte der Kerze übergossen wurde.</p> + +<p>Wer die Venne Richerdes nach dem Bilde sich vorstellte, welches +Heinrich Achtermann von ihr mit in die Fremde nahm, würde sie kaum +wiedererkannt haben. Nur die stolze Haltung des Köpfchens und die +seelenvollen Augen, über die im Augenblick noch ein Schatten der Trauer +um die kranke Mutter gebreitet lag, erinnerte an die Venne von ehemals. +Aus der unscheinbaren Puppe hatte sich ein glänzender Schmetterling +entwickelt. Nichts mehr gemahnte bei Venne an das eckige, unbeholfene +Ding, das vor Heinrich Achtermann davongelaufen war.</p> + +<p>Das lang herabwallende, faltige Hausgewand, das sich lose um die +königliche Gestalt schmiegte, ließ die edlen Formen des Körpers +erraten. Mit lässiger Anmut bewegte sie sich um den Vater, während sie +mit der klangvollen Stimme ihm Rede und Antwort stand auf seine Fragen.</p> + +<p>»Soll ich uns den Abendtisch decken lassen?« fragte sie weiter. In +diesem Augenblick erklang durch die angezogene Tür des Schlafgemaches +die Stimme der Kranken, die nach dem Vater fragte. Statt der Antwort +trat dieser sogleich zu ihr herein. Behutsam beugte er sich zu ihr +nieder, und alle Zartheit und Liebe, die er für diese Frau empfand, +klang aus seiner Stimme. Sie mußte ehedem eine schöne Frau gewesen +sein; jetzt lagen die Schatten der langen Krankheit auf ihrem blassen +Gesicht. In Venne stand ihr verjüngtes Ebenbild vor ihr. Nur ein +leichter, kritischer Zug um den Mund unterschied diese von der Mutter. +An der Kranken war, von dem leidenden Zug abgesehen, der seine Runen +in ihr Antlitz gegraben hatte, alles Weichheit, Hingabe, während Venne +über eine nicht alltägliche Entschlossenheit<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> gebot, die ihr, dem +jungen Mädchen, den Gehorsam des Hauspersonals sicherte, vom letzten +Eseltreiber bis zur alten Katharina in der Küche, ihrer Kindsmagd, mit +der sonst niemand anzubinden wagte und von der selbst der gestrenge +Hausherr ein Wort mehr annahm, als er sonst von irgend jemand gelten +ließ.</p> + +<p>»Wie geht es Dir, Liebste? Ich höre von Venne, daß Du wieder besonders +mit Dir zu tun gehabt hast. Schwester Jutta hatte ja, wie so oft, ihr +Bestes an Dir getan, aber soll ich nicht doch noch den Doktor Henning +holen lassen?«</p> + +<p>»Nein, nein, ich bitte Dich. Mir ist jetzt nach dem kurzen Schlaf sehr +wohl. Es war auch weniger das Leiden, das mir zusetzte, als eine innere +Unruhe, die wuchs, je länger Du ausbliebest. Es lag auf mir wie die +Vorahnung von einem Unheil.«</p> + +<p>»Nun bekomme ich von Dir auch noch eine Strafpredigt,« scherzte +Richerdes gutlaunig. »Vorhin hat mich Venne schon ins Gebet genommen. +Wenn ich nun Besserung gelobe für die Zukunft, willst Du dann auch mein +braves Weib sein und Dich alsogleich völlig beruhigen?«</p> + +<p>Ihm zärtlich von ihrer Lagerstätte zunickend, ließ sie den Blick an +seiner hohen Gestalt emporgleiten. Ein leiser Seufzer entrang sich +ihrer Brust. »Was hast Du noch?« fragte er aufs neue besorgt. »Nichts, +es ist nur der Kummer, daß ich Euch das Leben mit meinem Siechtum +belaste. Ihr könnt das gar nicht auf die Dauer ertragen.«</p> + +<p>»Das ist mir das rechte Medikament«, rief der Gatte gutmütig polternd. +»Jetzt habe ich meine ganze ungeschlachte Liebenswürdigkeit an diese +eigensinnigste aller Frauen verschwendet,<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> um nun zum Dank von ihr zu +hören, daß sie uns lästig falle. Nun sprich Du ein Machtwort, Venne; +vielleicht, daß Du Dir mehr Respekt verschaffst.«</p> + +<p>Venne umschlang die geliebte Mutter zärtlich behutsam und barg ihr +Gesicht an der Wange. »Ach, böses, liebes Mütterlein, der Vater hat +nur zu recht. Wie sollten wir unsere Liebe zu Euch besser zum Ausdruck +bringen, als daß wir Euch umhegen und umgeben mit unserer Pflege. Ihr +sollt uns ja bald gesund sein und werdet uns gesunden; aber, daß ich's +sage, Gott verzeihe mir die Sünde: ich wünschte nicht, daß Ihr krank +gewesen wäret oder je wieder würdet; doch desungeachtet möchte ich, +und der Vater gewiß mit mir, nicht diese Zeit missen, wo wir Euch Eure +Liebe wenigstens zu einem kleinen Teile vergelten konnten. Nun fügt +Euch nur noch eine kurze Zeit unserer strengen Vormundschaft, und dann +wird eines Tages mein Mütterlein wieder rüstig und flink durchs Haus +trippeln, und wir werden uns auf die Bärenhaut legen; gelt, Vater?«</p> + +<p>Gerührt blickte die Kranke auf ihr Mägdelein, und eine Träne rann über +die blasse Wange.</p> + +<p>Ach, wenn es doch so käme, wie Venne es ihr prophezeite!</p> + +<p>In diesem Augenblick wurden sie durch wirren Lärm von der Straße +aufgescheucht. Stimmen und Schreie erklangen durcheinander, und alsbald +erhob die Sturmglocke der benachbarten Marktkirche ihre wimmernde +Stimme. Angstvoll schrak die kranke Frau zusammen und griff nach dem +Herzen. Venne eilte ihr sogleich zu Hilfe. Auch ihr wie dem Vater war +sehr bange, denn man glaubte nicht anders, als im nächsten Augenblick +das gefürchtete »Feuerjo« draußen zu hören, welches verriet, daß der +schlimmste Feind der<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> mittelalterlichen Städte sein rotes Banner auf +den Dächern der Stadt aufgepflanzt habe. Richerdes, der zu den Führern +der Feuerwehr gehörte, die pflichtmäßig alle nicht bresthaften Bürger +mit den ledernen Feuerlöscheimern zur sofortigen tätigen Hilfe bei +Ausbruch eines Brandes veranlaßte, stürzte nach einem kurzen, hastigen +Abschiedswort davon und ließ die Frauen in banger Spannung zurück. +Der Lärm draußen verlor sich bald, und auch das Gewimmer der Glocke +erstarb. Die Annahme, daß eine Feuersbrunst ausgebrochen war, schien +demnach irrig zu sein; wahrscheinlich handelte es sich um irgendeinen +Angriff oder Überfallversuch, wie die unruhigen Zeiten ihn nicht +selten brachten. In angstvoller Erwartung harrten die beiden Frauen +der Rückkehr des Vaters und Gatten. Endlich, viel zu spät für ihre +Ungeduld, ertönte der Klopfer, und Venne beeilte sich, zu öffnen, da +das Gesinde inzwischen zur Ruhe gegangen war. Der Überfall auf die +flandrischen Kaufleute bei Riechenberg hatte den Tumult veranlaßt. +Noch kannte man nicht alle Einzelheiten. Es sollte viele Tote und +Verwundete gegeben haben und Plünderung der Waren, wie das Gerücht +bei solchen Anlässen zu wüten pflegt. Die Kunde war von einem Knechte +überbracht worden, der auf schweißbedecktem Roß vor dem Sankt-Viti-Tor +in der Dunkelheit auftauchte und um eilige Hilfe und Schutz bat. Die +Stadtsoldaten unter ihrem Hauptmann und ein großer Haufen bewaffneter +Bürger waren sofort ausgezogen, und zur Stunde, so durfte man hoffen, +hatten die Bedrängten schon Hilfe gefunden, und sie selbst waren unter +sicherer Bedeckung im Anzuge gegen die Stadt.</p> + +<p>Richerdes kehrte nur zurück, um die Frauen zu unterrichten und sie zu +beruhigen. Er verließ bald darauf wieder<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> das Haus, um den Ausgang +und weitere Aufklärung des Falles zu erfahren. Auch bei ihm sprach +seit Jahren einer der Kaufleute vor, der auch dieses Mal dabeisein +mußte. Noch mehr Grund also, zur Stelle zu sein, wenn die Überfallenen +ankamen, um dem alten Geschäftsfreunde zugleich hilfreich zur Seite zu +stehen, wenn er die Stadt betrat.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span></p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span></p> +</div> +<p class="drop">Im Kamin prasselte ein lustiges Feuer und verbreitete eine angenehme +Wärme über den Raum, in dem die Familie Richerdes am reichgedeckten +Frühstückstisch mit dem Gaste, Herrn Emile Delahaut aus Dinant, saß. +Das Gespräch drehte sich natürlich um den gestrigen Überfall. Er war +so weit geklärt, daß man wußte, das Stücklein ging, wie man gleich +vermutete, von dem berüchtigten Bandenführer Hermann Raßler aus, +der, wie jedermann bekannt war, im geheimen Dienste des Herzogs von +Braunschweig stand und die Goslarer schatzte, daß ihnen der Atem +auszugehen drohte. Zwei seiner Knechte, mit denen er den frechen +Überfall gewagt hatte, blieben verwundet in den Händen der Goslarer, +und aus ihrem Munde erfuhr man alle Einzelheiten. Demnach war der +eigentliche Urheber des verruchten Planes jener Händler aus Helmstedt, +der selbst bei der Tat seinen Lohn erhalten hatte. Er traf morgens in +aller Frühe in Riechenberg ein, wo man ihm den Schlupfwinkel Raßlers +anzeigte. Die Knechte, die beim Herannahen des Zuges in Langelsheim so +eilig Fersengeld gaben, waren Kundschafter, die melden sollten, wann +mit dem Eintreffen am Hohlwege zu rechnen sei. Es stellte sich nunmehr +als sicher heraus, daß der ganze Überfall nicht den Kaufleuten, sondern +Heinrich Achtermann gegolten hatte und jedenfalls dazu dienen sollte, +ihm das wichtige Dokument abzunehmen. Was unterwegs mit List nicht +gelungen, das wollte man zum Schluß mit Gewalt herbeiführen.</p> + + +<p>Damit war auch der Auftraggeber ohne weiteres erkannt: es konnte +nur der Braunschweiger sein, dem an der Vernichtung des päpstlichen +Schreibens allein lag. Durch seine Spione in der Stadt mußte er +irgendwie von dem Auftrage und dem Wege der Heimreise Heinrichs Kunde +erhalten haben und hatte danach seine Maßnahmen getroffen. Sein +unmittelbarer Vorfahre, Heinrich der Ältere, hatte den besonderen +Schutz der Stadt Goslar noch für 400 Gulden im Jahre 1497 auf zehn +Jahre übernommen. Die Herzöge Philipp und Erich ließen sich noch vom +Jahre 1500 ab zehn Jahre lang für die gleiche Leistung 1200 Gulden +im voraus geben. Heinrich der Jüngere trat in diesen Vertrag ein. +Das hinderte ihn aber nicht, im geheimen seine Blut- und Beutehunde +gegen die Stadt loszulassen. Der Streich war mißglückt, doch man +wußte, wessen man sich in Goslar von dieser Seite zu versehen hatte +trotz aller Schutzbriefe. Da der Angriff auf herzoglichem Gebiete +erfolgte, der Nachweis geführt war, daß Raßler der Anstifter gewesen +und offenbar bei den dem Herzoge befreundeten Mönchen von Riechenberg +Unterstützung genossen hatte, ging ein geharnischter Protest des Rates +nach Wolfenbüttel ab, wo der Herzog residierte. Der Erfolg war freilich +vorauszusehen. Der Herzog lehnte mit der für diesen Fall gebotenen +Entrüstung jede Mitwissenschaft und Teilnahme ab. Die wirklich +Leidtragenden waren die beiden Schelme, die man gefangen hatte; sie +baumelten bald darauf am Galgen, der sein Gerüst auf dem Georgenberge +drohend ins Land reckte.</p> + +<p>Auch der Fremden wegen erhob man den Einspruch beim Herzoge, um ihnen +zu zeigen, daß man alles tue, um ihnen Genugtuung zu geben. Denn sie +führten natürlich auch ihrerseits, sei es auch nur, um ihr Geschäft +günstig zu beeinflussen,<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> bewegliche Klage über die erlittene Unbill +und die Unsicherheit der Wege in unmittelbarer Nähe der Stadt; Schaden +an Eigentum war kaum erlitten, abgesehen von einigen Warenballen, +die von den Wagen gestürzt und etwas beschädigt waren. Dem Anschein +nach hatten die Raubgesellen, obwohl ihr Auftrag nur dahin ging, sich +des goslarschen Gesandten zu bemächtigen, doch ihrer oft bewiesenen +Beutelust nicht widerstehen können, zu nehmen, was sich ihnen bot. Der +steile Hang und der fluchtartige Rückzug hinderten sie dann aber an der +Mitnahme.</p> + +<p>Über der Besprechung des gestrigen Ereignisses vergaß man nicht, den +guten Sachen Ehre anzutun, die der Tisch bot. Venne ging ab und zu, um +nach der Mutter zu sehen und den Mägden eine Anweisung zu geben. Im +hellen Licht des Tages sah man erst, welch vollendete Schönheit sie +war. Die Anmut ihrer Bewegungen, der Wohllaut ihrer Stimme vereinigten +sich gleichermaßen, um den Fremden gefangenzunehmen.</p> + +<p>»Wetter noch einmal,« warf er dem Gastfreunde zu, als Venne sich auf +einen Augenblick entfernt hatte, »ist das ein Mädel geworden, seit ich +sie zuletzt sah! Wie das den Kopf trägt und sich bewegt! Wahrhaftig, +wenn ich nicht schon ein alter Knabe wäre, könnte mich Eure Venne noch +zu Abenteuern verleiten. Verwahrt den Schlüssel zu ihrem Herzen gut, +sonst fliegt sie Euch über Nacht davon. Lange werdet Ihr sie sowieso +nicht mehr halten, sonst müßten Eure Jungen hier Fischblut in den Adern +haben.«</p> + +<p>Richerdes lächelte behaglich zu dem Lobe der Tochter: »Vorläufig +scheint ihr selbst noch wenig an dem Ausfluge aus dem Elternhause zu +liegen, dazu hält sie die Pflege der kranken Mutter viel zu fest. +Findet sich aber einmal der<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> Rechte, so werden wir sie nicht halten +wollen. Denn es ist der Eltern wie der Kinder Los, sich trennen zu +müssen, wenn sie des anderen Wert erkennen.«</p> + +<p>Man kam noch einmal auf das gestrige Abenteuer zu sprechen und auf +die Goslarer, die dabei zu Schaden gekommen, Heinrich Achtermann und +Erdwin Scheffer. Dieser, der Sohn eines achtbaren Mitgliedes der +Schustergilde, war am übelsten davongekommen, und man wußte nicht, ob +er am Leben bleiben werde. Heinrich Achtermann dagegen hatte, wie es +hieß, keinen ernsten Schaden erlitten. Durch das Würgen der Angreifer +und den Sturz auf einen Stein verlor er die Besinnung. Als die Hilfe +aus der Stadt kam, war er schon wieder zum Bewußtsein zurückgekehrt.</p> + +<p>Nach dem Frühstück gingen die Herren zum Geschäftlichen über. Da +schlüpfte Venne aus dem Hause, um sich in der Stadt umzuhören und bei +den Achtermanns vorzusprechen, die mit ihrer Familie befreundet waren. +Sie wurde beim Eintritt ins Haus von der Schwester Heinrichs begrüßt. +Von ihr vernahm sie, daß es dem Bruder schon wieder leidlich gehe, und +sie konnte sich selbst davon überzeugen, denn sie traf ihn im Zimmer, +wo er mit den Eltern und dem flandrischen Gastfreunde zusammen saß. +Die überstandene Gefahr hatte keine Spur zurückgelassen, außer einer +leichten Blässe im Gesicht.</p> + +<p>Als Venne ihn unvermutet vor sich sah, war sie einen Augenblick +befangen, denn die Stunde stand ihr vor Augen, als sie zuletzt die +Flucht vor ihm ergriff. Sogleich stieg auch der alte Trotz wieder in +ihr auf, und das herzliche Wort, das sie ihm zur Begrüßung gönnen +wollte, wurde zu einem kühlen Gruß. Heinrich glaubte seinen Augen +nicht trauen zu dürfen, als Venne eintrat, ja, er, der nie Verlegene,<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> +starrte sie einen Augenblick wie entgeistert an: War denn dieses +Mädchen von vollendeter Schönheit das hagere, eckige Ding, das er +vor langem verlassen hatte? Und er wäre nicht der Mann mit dem für +Frauenschönheit empfänglichen Herzen gewesen, wenn nicht dieses holde +Menschenkind sogleich in ihm höchste Bewunderung mit der Regung jener +Sehnsucht gepaart hätte, die der Schönheit im eigenen Herzensschrein +einen Altar zu errichten gewillt ist. Er war bisher der Schmetterling, +der an allen Blüten naschte. Für die reizenden Bologneserinnen +schwärmte er, der lebensfrischen Richenza Walldorf flog sein Herz +entgegen, aber ihre Spur war verwischt, ausgelöscht vor dem wundersamen +Geschöpf, das da vor ihm stand. Wie ein Schlag durchzitterte es seine +Brust: Die hält Dein Schicksal in ihrer Hand, Venne Richerdes mußt Du +besitzen oder keine!</p> + +<p>So standen beide sich einen Augenblick verwirrt gegenüber. Venne +sah seine Blicke auf sich gerichtet, aber sie ahnte nicht, welche +Gefühle ihn durchzitterten. Da fand Heinrich zuerst das Wort. Um seine +Befangenheit zu meistern, griff er zu dem alten Mittel tändelnden +Scherzes und war dabei in Gefahr, alles schon im ersten Augenblick zu +verderben.</p> + +<p>»Euch trieb gewiß die Angst um mein Befinden hierher, aber Ihr seht ja, +Unkraut vergeht nicht.« Venne suchte sich sogleich mit ihrer ganzen +kühlen Unnahbarkeit zu wappnen. »Ihr irrt Euch; ich kam vor allem, um +Eure Schwester zu besuchen. Daß mich auch Sorge um Euch erfüllte, will +ich nicht leugnen; aber ich sehe ja, daß Ihr wohlauf seid, so will ich +Euch auch mit meiner Teilnahme nicht lästig fallen.«</p> + +<p>»Gut gegeben, Jungfer Dornenhag«, antwortete Heinrich<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> munter lachend. +»Aber um Euch zu versöhnen, will ich Euch auch etwas Angenehmes sagen. +Ratet nur, was!«</p> + +<p>»Ich bin nicht allzu begierig darauf, denn ich versehe mich keiner +besonderen Schmeicheleien von Euren Lippen«, entgegnete Venne halb +ablehnend.</p> + +<p>»Eine Schmeichelei ist's auch nicht, aber ein schöner, herzlicher +Gruß von Eurem Oheim Ernesti. Eigentlich sollte ich auch den +dazugehörigen Kuß mit überbringen,« log er hinzu, »aber das habe ich +als lebensgefährlich abgelehnt.« Venne achtete auf die letzten Worte +kaum noch. »Vom Oheim Ernesti und der Muhme wahrscheinlich? Oh, das +ist schön. Erzählt doch nur gleich, wo Ihr ihn trafet und wie Ihr sie +fandet.« Und Heinrich berichtete ausführlich über sein Zusammensein mit +dem Oheim und seine Aufnahme in Soest.</p> + +<p>In diesem Augenblick trat Johannes Hardt ins Zimmer, der ebenfalls kam, +um sich nach dem Befinden des Freundes zu erkundigen. Der Ratsherr +forschte nach allen Einzelheiten der Reise und kam dann von Ernesti +und dem gestrigen Überfall auf die Zeitläufte zu sprechen. Da überließ +die Jugend die Alten ihren ernsten Gesprächen. Die Mädchen schlüpften +hinaus in das Zimmer der Schwester. Für heute erhielten auch Heinrich +und Johannes dort Zutritt, denn man war doch gar zu begierig, über ihre +Erlebnisse im Wunderlande Italien Einzelheiten zu erfahren. Und die +beiden Wanderer erzählten und erzählten, und ihre Zuhörerinnen wurden +nicht müde, ihnen zuzuhören.</p> + +<p>»Aber eins fällt uns auf,« warf Venne, zu Johannes gewendet, schalkhaft +ein. »Von den schönen Bologneserinnen haben wir bis jetzt gar nichts +vernommen. Sind sie ausgestorben,<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> oder habt Ihr ihnen dauernd Eure +Gunst vorenthalten? Das wäre ja ein gräßliches Verbrechen.« Einen +Augenblick wollte der junge Mann erröten, aber schon kam ihm Heinrich +zu Hilfe: »Es gibt ihrer noch genug,« antwortete er, »sogar recht +liebreizende, aber unsere Beziehungen zu ihnen werden wir Euch erst +enthüllen, wenn Ihr uns verratet, in welchen Herzen Ihr Vernichtung +angerichtet habt.«</p> + +<p>»Da werde ich lange auf Eure Enthüllungen warten können, denn ich bin +mir nicht bewußt, irgendeinem Herzen Unglück zugefügt zu haben.«</p> + +<p>»Na, na,« warf da die Schwester lächelnd ein, »glaubt ihr nicht so +ohne weiteres. Sie ist eine Heimliche. Ich möchte die Seufzer nicht +auf meinem Herzen tragen, die ihr nachgeklungen sind. Und sie ist +auch selbst nicht unversehrt geblieben, will mir scheinen. Ich müßte +sonst die mancherlei Fragen mißdeuten, die sie immer wieder über einen +gewissen abwesenden jungen Herrn stellte. Soll ich Namen nennen, +Venne?« fragte sie neckend.</p> + +<p>»Daß Du Dich nicht unterstehst, du Garstige«, wehrte diese lachend ab, +während ein tiefes Rot über ihre Wangen flammte. Die Verwirrung erhöhte +noch ihre Lieblichkeit. »Zur Strafe für diese Verleumdung will ich +auch gleich aufbrechen.« Aber sie gab doch dem Widerspruch der anderen +nach; es hätte ja auch zu sehr nach einem Zugeständnis ausgesehen; und +man blieb noch eine kurze Zeit in traulichen Gesprächen beisammen. +Dann mußte sie Abschied nehmen, da die Mutter nicht lange ohne Wartung +bleiben durfte. Auch für Johannes war es an der Zeit, sich festlich +anzukleiden, denn er sollte mit Heinrich zusammen die besondere Ehre +genießen, dem Hohen Rat die Schrift des<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> Papstes, die sie mit Gefahr +des Lebens verteidigt hatten, in der für die Mittagsstunde anberaumten +Sitzung überreichen zu dürfen.</p> + +<p>Die Mitglieder des Goslarer Rates hatten in feierlicher Amtstracht sich +im Sitzungsraum versammelt, und nun warteten sie des päpstlichen Boten +mit der Antwort auf ihr Begehren.</p> + +<p>Die Jünglinge wurden von dem Ratsboten hineingeführt, die Ratsherren +erhoben sich, und der regierende Bürgermeister, Karsten Balder, +begrüßte sie mit freundlichen Worten.</p> + +<p>»Ihr seid Träger der Botschaft vom Heiligen Vater, die uns Herr +Henricus Ernesti freundwillig vermittelt hat. Wir hören,« wandte er +sich dann im besonderen an Heinrich Achtermann, »daß Euch zuletzt noch +arges Ungemach getroffen hat. Empfangt mit unserem Bedauern über die +erlittene Unbill zugleich unseren Dank für den wichtigen Dienst, den +Ihr Goslar geleistet habt.</p> + +<p>Es geht um nichts Geringes in dem Schreiben, wie Ihr Euch denken könnt. +Ihr habt das Geheimnis treulich an Eurer Brust gewahrt und mit Eurem +Leibe verteidigt, so sollt Ihr und mit Euch Euer Freund auch der erste +sein, der außer uns von dem Inhalt Kenntnis erhält.«</p> + +<p>Damit öffnete der Bürgermeister und gab den Inhalt der päpstlichen +Bulle preis.</p> + +<p>Demnach versicherte Papst Leo X. seine fromme und getreue Stadt Goslar +mit seinem Segen zugleich seines Schutzes, bestätigte in Erneuerung der +Briefe des Königs Wenzel ihre ausschließlichen Vorrechte und Ansprüche +auf das Bergwerk und die Forsten, versprach ihr seinen Beistand und +drohte allen denen mit schweren Kirchenstrafen,<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> welche sie im Genuß +dieser Rechte stören oder sie ihnen streitig zu machen versuchten.</p> + +<p>Das war ein voller Erfolg. Befriedigt sahen sich die Ratsherren an: +Dieses Schriftstück lohnte den Eingriff in den Stadtsäckel, den man +getan hatte, um Henricus Ernesti in den Stand zu setzen, sein Anliegen +nachdrücklich zu unterstützen. Nun mochten die Braunschweiger kommen; +diese Stunde machte die letzte Nichtswürdigkeit wett, deren man den +Herzog hier im Rate offen zieh.</p> + +<p>»Ihr habt Euch, Herr Heinrich Achtermann, und Ihr ingleichen, Herr +Dr. Johannes Hardt, als ehrenfeste, tapfere Männer gezeigt. Der +Stadt ist durch Eure Hilfe ein sehr wichtiger Dienst erwiesen, wie +Ihr soeben hörtet. Sie wird sich ihres Dankes gegen Euch geziemend +zu entledigen wissen. Ihr aber werdet, wie Euer Verhalten beweist, +treue, zuverlässige Bürger sein, auf die sie allezeit mit Zuversicht +zurückgreifen kann.«</p> + +<p>Rot und stolz vor Freude verließen die Freunde das Rathaus und kehrten +zu den Ihrigen zurück.</p> + +<p>An ihre Stelle trat bald darauf eine Abordnung der fremden Kaufleute, +um Beschwerde vorzubringen über den Unglimpf, der ihnen hart vor den +Mauern der Stadt widerfahren war. Der Rat wies nach, daß der Überfall +nicht auf Goslarer Gebiet vor sich gegangen sei, daß geharnischte +Beschwerde an den Herzog abgehen, die ergriffenen Übeltäter +hingerichtet werden würden und im übrigen er, der Rat, es als eine +selbstverständliche Pflicht übernehme, allen erlittenen Schaden zu +ersetzen. Daneben verhieß er tatkräftige Unterstützung bei dem Abschluß +ihrer Handelsgeschäfte, bei denen der Rat ja zu einem großen Teile +selbst in Frage kam. So zogen auch diese Männer befriedigt ab.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span></p> + +<p>Am Nachmittage besuchte Heinrich den armen Erdwin Scheffer, der +inzwischen von seiner tiefen Bewußtlosigkeit erwacht war, die, wie +anfangs zu befürchten schien, unmittelbar in den Tod überzuführen +drohte. Die Sonde des Arztes hatte das Geschoß gefunden und es mit +aller Sorgfalt entfernt. Unter den schmerzhaften Verrichtungen des +Arztes war er abermals in Ohnmacht gesunken; jetzt schlief er. Der +Doktor hatte zwar die Verwundung für sehr schwer erklärt, aber doch +nicht alle Hoffnung aufgegeben. Nun mußte es sich zeigen, ob der junge, +kräftige Körper dem Kranken zur Genesung verhelfen würde. Auch nach +Monika erkundigte er sich: der Vater war unwirsch über die Dirne, +die dem Sohne bis ins Haus nachlaufe. Sie sei schon am frühen Morgen +dagewesen und habe angstvoll nach dem Kranken gefragt. Auch die Mutter, +die in dem fremden Mädchen wenig mehr als eine fremde Landstreicherin +sah, war ihr ablehnend begegnet. Nur Maria, die Schwester, hatte sich +ihrer im Flur angenommen. Sie redete dem jungen Mädchen, das sich in +seiner Angst und Sorge keine Hilfe wußte, herzlich zu.</p> + +<p>»Ich werde Euch auf dem laufenden halten über die Entwicklung der +Krankheit«, sagte sie, indem sie Monika an sich zog. »Will's Gott, so +wird doch noch alles gut.«</p> + +<p>Bald darauf fand sich auch Gelegenheit, die gute Immecke aufzusuchen. +Sie hatte bei der Witwe eines ehrbaren Handwerksmeisters Wohnung +gefunden. Noch war sie sich nicht schlüssig, wohin sie ihre Schritte +lenken werde. Erst wollte sie abwarten, wie sich der Zustand Scheffers +gestaltete, denn Monika erklärte, daß sie nicht von Goslar weichen +werde, bis sie darüber im klaren sei. Die Wanderfahrt im Kriege hatte +der braven Marketenderin manchen Gulden eingebracht,<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> und wenn sie den +Inhalt des Beutels wog, den sie wohlverwahrt hielt, war ihr um ihre und +der Tochter Zukunft nicht bange.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Die Herren aus Flandern und Frankreich prüften die goslarsche Ware und +fanden wenig auszusetzen. Die Stapel der erworbenen Metallbarren wurden +immer größer, die Geldkatze immer magerer. Hier und da erfuhr sie eine +vorübergehende Auffüllung durch günstigen Absatz der mitgebrachten +flandrischen Waren: Teppiche, Gewebe, feine Tuchstoffe, die in den +benachbarten Städten wie in Goslar selbst willige Käufer fanden. Neben +dem Erwerb des kostbaren Metalls war indessen die Aufmerksamkeit der +fremden Kaufleute noch auf ein anderes gerichtet.</p> + +<p>Als der Rat von Goslar zur Wiederbelebung des namentlich durch +Wassereinbrüche verunglückten Bergwerkes einen Zusammenschluß der +Berechtigungen in einer Form erstrebte und ins Werk setzte, die man +heute als Gewerkschaft bezeichnen würde, behielt er von vornherein +das Ziel im Auge, die Anteile später durch stillen Ankauf in seine +Hand zu bringen. Er wußte es daher mit Geschick zu erreichen, daß die +Mehrzahl der Anteile, soweit er sie nicht selbst besaß, in den Händen +von Bürgern blieb, von denen er sie später erwerben zu können hoffte. +Daß er dabei bei mehr als einem auf hartnäckigen Widerstand traf, +bewies der Montane Richerdes. Karsten Balder, derzeitiger regierender +Bürgermeister, war durchaus nicht von der Voreingenommenheit gegen +Richerdes beseelt, die dieser ihm unterschob. Zwar hatte er als +Jüngling der schönen Mathilde von Hagen, des<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> Ratsherrn und Silvanen +von Hagen Tochter, gehuldigt, und sie als sein Eheweib heimzuführen, +war sein sehnlicher Wunsch gewesen. Aber er fand sich längst damit ab, +daß Richerdes ihm den Rang abgelaufen. Er lebte selbst in glücklicher, +mit Kindern gesegneter Ehe, und sein gerader, ehrliebender Charakter +hätte es nie zugelassen, seine Machtstellung in den Dienst der Willkür +zu stellen, um für vermeintlich oder wirklich erlittene Unbill +Vergeltung zu üben. Was er mit Richerdes wie mit anderen Berechtigten +verhandelte, was er von ihnen forderte, lag im wohlverstandenen +Interesse der Stadt. Er handelte schließlich nur als der Verwalter des +von Werenberg hinterlassenen Erbes, wenn er dessen Pläne zur Ausführung +zu bringen versuchte. Bei dem Argwohn, den ihm Richerdes von vornherein +entgegenzubringen sich bemühte und den er auch seinen Angehörigen +einzureden verstand, war es nicht zu verwundern, daß dieser in allem, +was von Balder ausging oder vom Rathause kam, eine Falle witterte und +daß der Verkehr mit dem Rate für ihn eine Quelle ständigen Ärgers war.</p> + +<p>Damals, als der Bergbau im argen lag und der Rat mit großen Kosten +fremde Techniker heranzog, wie Meister Nikolaus von Ryden, um des +Wassers Herr zu werden, war auch der Ertrag des Bergbaus sehr gering, +und statt eines Gewinnes hatten die Gewerke dauernd Zubußen zu zahlen. +Das goslarsche Kupfer, das sich den Weltmarkt zu erobern im Begriff +gewesen war, verschwand mehr und mehr, und sein Name erklang weniger +in den Kreisen derer, die darauf angewiesen waren. Jetzt aber bildete +es eine der Lebensnotwendigkeiten für den gewerbfleißigen Westen. Die +Zahl der Käufer wuchs von Jahr zu Jahr. Was Wunder, wenn den Flamen +und Holländern der Wunsch<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> kam, die Quellen selbst mit ausschöpfen zu +können, Mitbesitzer des Bergwerks durch die Erwerbung von Anteilen zu +werden. Beim Rate hatte sie, wie sie bald merkten, auf Erfolg nicht zu +rechnen, da er in zielbewußter Verfolgung seiner Politik im Gegenteil +darauf aus war, alle Anteile in seiner Hand zu vereinigen. Aber auch +bei den Bürgern stießen sie auf Widerstand. Vergeblich bewiesen sie +dem Besitzer des Anteils, daß die aus dem Kapital sich ergebende Rente +besser sei als das in seiner Ergiebigkeit unsichere Recht. Je eifriger +sie zuredeten, desto größer wurde der Widerstand.</p> + +<p>Auch der Gast- und Geschäftsfreund des Bergherrn Richerdes, Herr Emile +Delahaut aus Dinant, suchte diesen zum Verkauf seiner Anteile oder +eines Teiles derselben zu bewegen, doch auch er wandte vergeblich seine +ganze Beredsamkeit auf. Richerdes wie die anderen Goslarer, deren +Ansprüche die Freunde erwerben wollten, wurden durch das eifrige Werben +nur um so mehr in ihrer Meinung von dem Werte ihrer Rechte bestärkt. +So gelang es den Ostgängern, die alljährlich nach Goslar kamen, kaum, +einen oder den anderen Anteil zu erwerben. Freilich waren Richerdes +wohl einmal leichte Zweifel an dem dauernden Werte seines Anrechtes +aufgestiegen, und letzthin hatten sie sich noch verstärkt. Wie er +Ludecke Bandelow auf dem Heimwege vom Granetal her klagte, befriedigte +der Erfolg seiner Grube seit längerer Zeit nur wenig; und einmal war er +wirklich einen Augenblick schwankend geworden, vor nicht langer Zeit +nämlich, als der Ratsherr Achtermann, ein Mann von großem Reichtum und +Ansehen, bei ihm vorsprach, um mit ihm noch einmal über den Verkauf +an die Stadt zu reden. Zunächst lehnte Richerdes, wie früher schon, +schroff ab, aber<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> Achtermann, vor dessen Geschäftstüchtigkeit auch +jener große Achtung hatte, ließ sich nicht beirren.</p> + +<p>»Ich will Eure verstockte Voreingenommenheit gegen Karsten Balder, +die ich wohl kenne, einmal außer acht lassen; versucht Ihr dasselbe. +Ihr könnt ja zuletzt doch tun und lassen, was Ihr wollt. Daß uns viel +an dem Besitz liegt, wißt Ihr; weshalb, ist Euch ebenfalls bekannt, +wie endlich auch, daß wir ihn nicht geschenkt haben wollen. Wir +wissen beide, daß es mit dem Gewinn aus Euren Gruben nicht zum besten +aussieht, im Augenblick wenigstens nicht«, warf er auf eine ablehnende +Bewegung von Richerdes ein. »Sie kann wieder ergiebiger werden, die +Erzader kann sich aber auch ganz erschöpfen oder als taub ausweisen. +Was dann? Dann seid Ihr ein armer Mann.</p> + +<p>Damit Ihr seht, daß ich es wirklich ehrlich meine, will ich ganz offen +gegen Euch sein. Ihr habt eine hübsche Tochter, die Euch ans Herz +gewachsen, ich einen Sohn, dem sie, wie ich glaube, nicht gleichgültig +ist. Ich könnte mir vorstellen, daß hier etwas im Werden ist, das wir +durch entschlossenes Eingreifen stören, durch stilles Gewährenlassen +aber der Reife entgegenblühen sehen können. Ich will und werde mich +nicht in Liebesgeschichten meines Sohnes einmischen; handelt Ihr +ebenso, dann haben wir uns später nichts vorzuwerfen. Eure Venne ist +mir lieb und wert und ich würde mich, ungeachtet der Unterschiede in +unseren Verhältnissen, nicht bedenken, sie als Schwieger willkommen +zu heißen. Ich werde aber nie einwilligen, daß mein Sohn die Tochter +eines Bettlers heimführte. Entschuldigt das harte Wort, indes es muß +gesprochen werden, denn Offenheit, zumal bei diesem heiklen Punkte, +liebe ich vor allem.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span></p> + +<p>Damit weckte aber Achtermann alles, was an Trotz und Widerspruchsgeist +in Richerdes schlummerte. »Ich dränge meine Tochter niemand auf, +jetzt nicht und niemals. Wenn Ihr also keine weiteren Gründe für Euer +Anliegen vorzubringen habt, so hättet Ihr Euch die Mühe ersparen +können.«</p> + +<p>»Nichts für ungut«, erwiderte Achtermann, ungerührt durch die +Heftigkeit seines Gegenübers. »Ich sehe gern klare Verhältnisse +vor mir.« Dann lenkte er, sich zum Aufbruch anschickend, mit einer +teilnehmenden Frage nach dem Befinden der kranken Hausfrau auf ein +anderes Gebiet über.</p> + +<p>»Ich hörte kürzlich in Braunschweig von einem neuen Mittel, das bei +Leiden der Art Wunder wirken soll. Ich habe es im Augenblick vergessen, +will mich aber, kann ich Euch damit einen Gefallen erweisen, gern +danach umtun. Im übrigen halte ich mich Eurer armen Frau Eheliebsten +bestens empfohlen, bitte, ihr auch von meiner Frau die besten Grüße mit +dem aufrichtigen Wunsch baldiger Genesung ausrichten zu wollen. Sie +hofft, bei guter Gelegenheit nächstens sich selbst nach ihr umsehen +zu können. Und nun,« damit schied der Einflußreiche und versetzte ihm +einen leichten Schlag auf die Schulter, »alter Murrkopf, einen schönen +Gruß auch dem Töchterlein!« Lächelnd schied er, und lächelnd gab ihm +Richerdes das Geleite. Dann kehrte er in die Stube zurück.</p> + +<p>Die Worte Heinrich Achtermanns gingen ihm durch den Kopf, und die Sorge +wurde damit nicht geringer. Wenn die Befürchtungen des Ratsherren +eintrafen, stand es allerdings schlecht mit ihm und den Seinen, und +er selbst war dann, wenn kein Bettler, doch ein armer Mann, dessen +Tochter zu freien, mancher sich scheuen würde. Was Achtermann<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> von den +Beziehungen zwischen den Kindern sagte, war ihm neu. Er beschloß, mit +der treuen Lebensgefährtin auch dieses zu besprechen. Sie, die ihm so +manches Mal schon guten Rat gewußt hatte, würde gewiß auch dieses Mal +das Rechte treffen. Das Glück ihrer Venne stand beiden am höchsten, +und diesem Glück sollte auch sein Eigensinn und sein Widerwillen gegen +Karsten Balder nicht entgegenstehen; das nahm er sich vor.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span></p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span></p> +</div> +<p class="drop">Der Tribut des Alters an die Zeit ist Verblassen und Verblühen, ist +Schwinden von Schönheit und Kraft. Was im Werden und Vergehen des +Menschen gilt, hat auch im Leben der Städte nur allzuoft eine traurige +Bestätigung gefunden. Von der Herrlichkeit einer alten großen Zeit +zeugen heute nur noch kärgliche Reste, hier und da ein brüchiger Turm +oder die ins Leere starrenden Zinken einer Turmruine, ein Stückchen +Stadtmauer, eine hochragende Kirche, welche die Armseligkeit der sie +umlagernden Häuserzeilen nur um so greller hervortreten läßt. Das ist +das Schicksal so mancher Stadt geworden, die einst wohlgegürtet hinter +Wall und Mauer ihre Rechte verteidigte und mit Herzögen und Königen auf +der Stufe des Gleichberechtigten verhandelte. Das schien auch Goslars +Los zu sein. Von der Höhe seiner mittelalterlichen Macht war es durch +schlimme Kriegsläufe und, damit zusammenhängend, durch das Versiegen +seiner Geldquellen, des Bergwerkes und der endlosen Forsten, Stufe um +Stufe herabgeglitten. Was um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts +übrigblieb, wies alle Anzeichen eines schnellen unaufhaltsamen +Verfalles auf. Die Zahl der Einwohner war erschreckend gesunken, in +den weiten Mauern wohnte ein armseliges, müdes Geschlecht, das in +seinem Elend mit dem Erbe einer großen Vergangenheit nichts Besseres +anzufangen wußte, als daß es sich aus dem alten Gewande neue Stücke +schnitt, um seine Blöße zu verbergen. Es ist die böse Zeit, wo +die Brüderkirche niedergelegt, wo der ehrwürdige Dom auf Abbruch +verkauft wurde. Die Domkapelle, die allein von dem alten Münster noch +Zeugnis ablegt, läßt uns ahnen, was in jenen Jahren unwiederbringlich +verlorenging. Gar manches Kapitäl oder Gesims, an verlorener Stelle in +eine Gartenmauer eingefügt oder einem Speicher als Eintrittsschwelle +dienend, erinnert an diese schlimme Zeit, wo das sterbende Goslar sich +seines Schmuckes zu entkleiden begann, um als Bettler ins Grab zu +steigen.</p> + +<p>In dieser Zeit des Verfalles, und noch später, ist vieles dem +Unverstande wie der Not zum Opfer gefallen, auch von den ehemals +geschlossenen Festungsanlagen; aber vieles blieb doch auch erhalten +und legt noch heute Zeugnis ab von dem wehrhaften Sinn der Altvordern, +so die gewaltigen Tortürme, deren am Breiten Tore, die Stirn dem +Braunschweiger zugewandt, gleich ein ganzes Rudel auftritt. Sie ragen +noch heute ebenso trutzig wie zur Zeit ihrer Errichtung in die Lüfte.</p> + +<p>Die stattlichsten unter ihnen, der große Turm am Breiten Tor, der Dicke +Zwinger in der Nähe der Kaiserpfalz, dessen 24 Fuß starke Mauern noch +heute das Staunen der Besucher erregen, der Papenzwinger, sie verdanken +ihren Ursprung der Zeit, da unsere Geschichte spielt. Die Goslarer +wollten ihre Stadt zu einer uneinnehmbaren Festung ausbauen. Sie hatten +Anlaß dazu; denn die Zahl ihrer Feinde und Neider wurde größer in dem +Maße, wie der Wohlstand und die Macht der Stadt wuchs. Ernesti hatte +Johannes Hardt die Lage richtig geschildert, aber auch der Rat war sich +der Gefahr wohl bewußt und suchte ihr durch geeignete Maßnahmen zu +begegnen.</p> + +<p>Schon im Anfang des neuen Jahrhunderts war der<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> Grundstein gelegt zu +einem weiteren, mächtigen Bollwerk. Um die Herstellung der Anlagen, +besonders der Zwinger, hatten sich jeweils einige Bürger verdient +gemacht; so war der Papenzwinger der Aufsicht des Worthalters der +Gemeinen, wie die Versammlung der Vertreter der Bürgerschaft hieß, Kips +anvertraut gewesen. Das neue Bauwerk, das am neuerbauten Rufzen- oder +Rosentor sich zu dessen Verstärkung erheben sollte, unterstand dem +Schutze des Ratsherrn Achtermann. Er war nicht nur um die Weiterführung +besorgt, sondern steuerte auch zu den Kosten einen erheblichen Teil +bei. Es entsprach daher nur einem Akt der Dankbarkeit, wenn man das +gewaltige Bauwerk ihm zu Ehren als ›Achtermann‹-Zwinger benannte. Es +ist der dicke, ungefüge Geselle, der dem Rosentor vorgelagert ist und +heute noch die Besucher Goslars beim Eintritt in die Stadt als erster +Zeuge seiner ehemaligen Wehrhaftigkeit begrüßt.</p> + +<p>Mehrere Jahre hatte der Bau gedauert, einige Male mußte er unterbrochen +werden. Jetzt stand er da, riesig und gewaltig, und das Ereignis der +Beendigung sollte durch ein Fest besonders gefeiert werden. Die untere +Halle, ein gewaltiger Rundraum, war mit Tannengrün festlich geschmückt. +Kerzenglanz erhellte den düsteren Raum und ließ einen Abglanz auf den +freudig erregten Gesichtern der Festteilnehmer.</p> + +<p>Ein üppiges Festmahl, ohne das in jener genußfreudigen Zeit ein Fest +schwer denkbar war, leitete die Feier ein. Der Wein floß in Strömen, +und die fremden Gäste, die flandrischen Kaufleute, die vertreten waren, +konnten sich von der Freigebigkeit ihrer Wirte überzeugen. Auch das +Volk draußen, welches den Turm umlagerte, erhielt seinen Anteil,<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> und +nach der Stärke des Jubels und freudigen Lärms zu urteilen, mußte es +gleichfalls befriedigt sein. Der Rat saß zu oberst an besonderer Tafel. +Die Reden, welche gewechselt wurden, galten der Wichtigkeit des neuen +Bauwerks und dem Mann, dessen Tatkraft es in erster Linie zu verdanken +war.</p> + +<p>Achtermann, der im Mittelpunkte der Feier stand, ließ die vielen +Lobeserhebungen mit einem gewissen freudigen Gleichmut über sich +ergehen; er wußte, was er geschaffen und weshalb er es geschaffen. Das +neue Bollwerk bildete einen Markstein in der Befestigungskunst seiner +Stadt, der Stadt, die er liebte, weil sie seine Heimat war und ihn zu +Ehren und Ansehen gebracht hatte. Mit ihrer Wehrhaftigkeit, des war er +sich in all dem Trubel sehr wohl bewußt, erhöhte er aber nicht nur ihre +Sicherheit, sondern auch den Schutz des eigenen Besitzes, des Erbes der +Väter, das er gut verwaltet und vermehrt hatte, so daß er es seinerzeit +mit Stolz den Kindern überlassen konnte.</p> + +<p>Je länger die Feier dauerte, desto größer wurde die Ungeduld der +Jugend, die den langatmigen und gewichtigen Reden der Alten nur +wenig Geschmack abzugewinnen wußte. Hier und da hatten sie sich zu +Gruppen zusammengefunden, liebreizende, weißgekleidete Jungfrauen und +hübsche Jünglinge, denen das grüne oder schwarze Samtjäckchen mit +den Längspuffen und den lang herabwallenden Ärmelschlitzen trefflich +zu Gesicht stand, wie der Degen, auf dessen goldenen Knauf sie die +Linke stützten. Alte Bekannte hatten sich gefunden, Johannes Hardt, +der mit der Tochter des Bürgermeisters lebhaft plauderte und von +Heinrichs Schwester Maria geneckt wurde, Venne Richerdes, die wie eine +Lichtgestalt aus dem Schatten der Seitenwand mit Heinrich<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> Achtermann +heraustrat, gleichfalls in ein angelegentliches Gespräch versunken. +Langsam schreitend kamen sie durch die Halle auf die anderen zu. In +Marias Augen blitzte es schalkhaft auf, während die Tochter Karsten +Balders verstimmt zur Seite blickte. Ihr Herz schlug dem schlanken +Jünglinge entgegen, der an Vennes Seite in anmutiger, jugendlicher +Kraft daherschritt. Bitter stieg es in ihr auf, als sie die beredten +Blicke sah, mit denen Heinrich Achtermann auf die blühende Gestalt an +seiner Seite blickte: Warum blieb ihr versagt, was jener mühelos, wie +es schien, zufiel? — Oder spielte sie nur die Spröde, um ihn um so +sicherer an sich zu ketten?</p> + +<p>»Nun, Ihr Unzertrennlichen,« redete Maria sie mit liebenswürdigem Spott +an, »wollt Ihr uns auch einmal die Ehre schenken?«</p> + +<p>Auf Vennes Stirn zeigte sich eine Falte des Unmutes. »Maria«, sagte sie +nur vorwurfsvoll.</p> + +<p>»Nun ja, nur nicht gleich so empfindlich, Närrin«, fiel Maria ein. +»Ist's denn eine Beleidigung von mir oder eine Sünde von Euch, wenn +ich Euch nachsage, daß Ihr die letzten Male, da wir uns trafen, oft +zusammenhocktet?«</p> + +<p>»Von mir ging das ›Zusammenhocken‹ sicher nicht aus«, erwiderte Venne +empfindlich.</p> + +<p>»Die Jungfer Venne hat recht«, mischte sich da Heinrich Achtermann +ein. »Ihr kann niemand nachsagen, daß sie sich aufdrängt. Ich will +also reumütig alle Schuld auf mich nehmen; auch für heut bekenne ich +mich schuldig. Übrigens ist es kein Geheimnis, was wir verhandelten. +Ich möchte sogar Eure Hilfe in Anspruch nehmen, um ein unparteiliches +Urteil herbeizuführen.«</p> + +<p>»Wir geloben feierlich, unbestechlich zu sein, selbst wenn<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> es auf +unsere, der Frauen, Kosten geht«, erklärte Maria übermütig, ehe noch +die anderen ein Wort sagen konnten.</p> + +<p>»Das ist gut,« entgegnete Heinrich Achtermann, »denn um sie handelte +es sich tatsächlich. Wir waren nämlich dabei, die hochwichtige Frage +zu lösen, ob wohl die hiesigen Jungfrauen den neuen französischen +Reigen, von dem Herr Dehard so begeistert sprach, nicht ebenso zierlich +aufführen möchten wie die Pariserinnen. Jungfer Venne bestreitet es; +ich plädiere dafür, daß sie es können.«</p> + +<p>»Natürlich können wir es«, rief Maria und andere junge Mädchen, die +noch zu dem Kreise getreten waren. »Gebt uns nur einen richtigen +Tanzmeister, dann werden wir es jenen schon gleichtun. Von Venne aber +ist's eine Ketzerei, uns so herabzusetzen.«</p> + +<p>»Ich bekenne mich schuldig,« rief sie lachend, »aber ich dachte dabei +nur an meine Ungeschicklichkeit.«</p> + +<p>»Ungeschicklichkeit, hört ihr's?« drohte Maria mit verstelltem Zorn, +»ungeschickt sie, die uns immer voranschreitet im Reigen. Aber sie +bekennet sich schuldig, und auf Schuld gehört Sühne. Wer nennt die +Buße?«</p> + +<p>»Einen Kuß«, rief der Chor. »Wem?« fragte eine andere. »Uns allen«, +hieß es von anderer Seite. »Nein, mir«, begehrte Achtermann kühn. »Also +ihm,« entschied Maria, »denn er hat die Beleidigung gehört.«</p> + +<p>»Laß die Scherze«, sagte Venne unmutig. Aber Maria, welche die beiden +zusammenbringen wollte, bestand darauf, auch daß die Buße heute abend +noch gezahlt werden müsse. Da legte sich Heinrich selbst ins Mittel. +»Ich schlage vor, daß wir den Ausgang abwarten. Zum Langen Tanz wird es +sich zeigen können. Dann aber bestehe ich auf meinen Schein.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span></p> + +<p>»Ich für meinen Teil erlasse Euch die Strafe schon jetzt«, entgegnete +Venne spöttisch.</p> + +<p>Die Tafel war aufgehoben; die Jugend forderte nun ihr Recht. Die +Paare traten zum Reigen an. Zunächst erschienen auch die Alten mit +auf dem Plan. Wie die Ehre des Abends es gebot, führte den Reigen der +regierende Bürgermeister, Karsten Balder. Ihm zur Seite schritt, der +Auszeichnung sich wohl bewußt, die Frau des besonders zu Ehrenden, des +Ratsherrn Achtermann.</p> + +<p>Das stattliche Paar fesselte nach Gestalt wie Gewandung die +Aufmerksamkeit aller. Der strengen Kleiderordnung entsprechend, +deren Übertretung durch eine Puffe oder eine Verbrämung man streng +ahndete, durften nur diese vornehmsten der Frauen an sich zeigen, was +die Kleiderkünstler an Glanz und Pracht für die Umrahmung weiblicher +Schönheit oder Schwäche ersonnen. Gar stolz schritt die Patrizierin +einher, zierlich geführt von dem hochmögenden Partner. Die Linke hielt +den Überwurf, der auf der Unterseite blau abgefüttert war, zugleich mit +dem gleichfarbigen bauschigen Kleide gerafft empor, um ein Schreiten zu +gestatten. Goldene Sterne über das Ganze gesät, hoben sich leuchtend +von dem Untergrunde ab.</p> + +<p>Die Büste war durch ein goldenes Band wirkungsvoll abgegrenzt. Um den +weit ausladenden Halsausschnitt legte sich edles Geschmeide. Gleich +kostbare Ketten hingen von der weißen, mit Goldstreifen verzierten +Kappe herab, auf der ein goldener Bausch den stimmungsvollen Abschluß +bildete.</p> + +<p>Der Bürgermeister war angetan mit einem schweren, dunkelverbrämten +Samtmantel, mit breitem, umgelegtem Kragen seltensten Pelzwerkes. Die +Linke hielt den weiten Mantel über der Brust verschränkt, indes die +Rechte, auf<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> deren Zeigefinger ein gewaltiger Siegelring im Flimmer der +Kerze strahlte, die Dame zierlich geleitete.</p> + +<p>Langsam und stattlich bewegten sie sich dahin im Reigen. In bedächtigen +Intervallen lud die Musik zum Schreiten, Sichneigen und Sichwenden, +langsam, viel zu langsam für die Ungeduld der Jugend, die in verbotenem +Übermut wohl das Kichern sich verbiß und sich heimlich stieß, in +abfälliger Kritik über dieses oder jenes Paar der Würdigen, deren +schlecht getragene Majestät der Bewegung ihre Lachlust reizte. Dann war +dem Brauch Genüge geschehen, und das Alter wie die Würde zogen sich +zurück zu der ihm besser anstehenden Art des Zuschauens. Die Herren +verschwanden auch wohl in einer Ecke, einen ungestörten Trunk zu tun +und in ernstem oder eifrigem Disput zu bereden, was ihnen am Herzen +lag; wieder andere hockten an herbeigeholten Tischen, auf denen das +Schachzabel aufgestellt wurde.</p> + +<p>Die Reigen, welche die Jugend aufführte, waren die alten, schönen +Tänze unserer Altvordern, die der Persönlichkeit freien Spielraum +ließen, sich im Rhythmus auszugeben. Ein Sichneigen, Sichheben und +Drehen mit der Anmut und Geschmeidigkeit der Jugend, ein Sichfinden +und Sichmeiden, das die Gefühle der jungen Herzen in liebreizendster +Weise verkörperte. Die Stadtzinkenisten bliesen, die Geigen seufzten +und jubilierten in einem Atem, die Flöten tirilierten, als wollten sie +zerspringen vor Lust über so viel Jugend und Anmut, die sich zu ihren +Füßen im Saal im Rhythmus durcheinanderwand.</p> + +<p>Immer höher stieg die Lust, immer kühner wurden die Blicke der +Jünglinge, hingebender die Bewegungen der Jungfräulein; Terpsichore +sank die Leier aus der Hand, Bacchus drohte die Herrschaft zu gewinnen, +da gab Karsten<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span> Balder das Zeichen zum Schluß des Festes. Ungestüm +bat und drängte die Jugend, man möge noch ein kleines verweilen; das +eigene Töchterchen Karsten Balders wurde zum Ansturm auf das väterliche +Herz vorgeschickt, aber der Angriff scheiterte an seinem Willen. Sein +unbeugsames »Nein« verhinderte, daß das schöne Fest wie so viele +seinesgleichen in jener Zeit wilden Genußlebens in eine Bacchanalie +ausartete.</p> + +<p>Sittsam brach man auf; die kalte Nachtluft verscheuchte die losen +Geister, die im Saale die Vernunft zu unterjochen drohten. Die +Jungherren geleiteten ihre Damen, die unter züchtig gesenktem Blick +das Verlangen verbargen, das eben noch in ihnen aufgewallt war. +Ehrbar klangen die Worte, die Ohren der begleitenden Eltern von +der Wohlanständigkeit des Begleiters überzeugend. Ein geflüstertes +Wörtchen, ein leise gehauchter und verstohlen gewährter Wunsch entging +trotzdem ihrer Aufmerksamkeit.</p> + +<p>Heinrich Achtermann schritt an der Seite Vennes. Der Vater war auf +eigenen Wunsch daheim geblieben bei der kranken Mutter, trotz des +Widerspruches Vennes. Sie sollte nicht um die Freuden der Jugend +betrogen werden, da sie schon mehr als ihre Freundinnen Entsagung üben +mußte durch die Pflege der geliebten Mutter.</p> + +<p>An dem stillen Abend, den der Mann am Lager der Kranken verbrachte, +kam manches zur Sprache. Auch der Besuch des Ratsherrn Achtermann +wurde erörtert und sein Hinweis auf ein enges Band zwischen den beiden +Familien.</p> + +<p>»Wir sollten dem Glück unserer Venne kein Hindernis in den Weg legen«, +meinte die Gattin. »Im Schoße des angesehenen Achtermanns ist sie +nach irdischer Voraussicht<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> wohl aufgehoben, und wir können, wenn wir +abberufen werden, beruhigt die Augen schließen.«</p> + +<p>Richerdes sah das wohl ein; auch gegen die Person des Bewerbers ließ +sich nichts Ernstliches einwenden, wäre nur nicht die Bedingung des +Ratsherrn gewesen. Auch hier riet die Frau zur Nachgiebigkeit. »Du +hast doch selbst in letzter Zeit nicht selten über die zunehmende +Unergiebigkeit der Grube geklagt. Wie nun, wenn zuletzt doch +Achtermann recht behielte mit einem gänzlichen Zusammenbruch unserer +Erwerbsquelle?«</p> + +<p>»Aber Karsten Balder«, warf Richerdes ein.</p> + +<p>»Ja, Karsten Balder ist der störende Flecken in dem Bilde«, gab sie +zu. »Aber sein Triumph, wenn er's so auffaßt, sollte uns doch nicht +blind machen gegen den eigenen Vorteil. Und wer weiß, ob wir ihm +nicht doch zuletzt unrecht tun. Ich habe in stillen Nächten wohl +darüber nachgesonnen. Wir können ihm keinen greifbaren Beweis seines +Übelwollens nachweisen, und der Argwohn ist zuletzt ein schlechter +Berater. Soll ich ehrlich sein, so weiß ich mich aus der früheren +Zeit keines Zuges zu entsinnen, der auf Arglist oder Hinterhältigkeit +hindeutet.«</p> + +<p>»Daß er mich gern gemocht hat,« fügte sie mit einem errötenden +Lächeln hinzu, das ihr Gesicht seltsam verschönte, »ist doch keine +Todsünde, die ihm für immer vorbehalten bleiben müßte. Und über die +Enttäuschung wird ihm gewiß seine Stellung wie das Glück in der Familie +hinweggeholfen haben.«</p> + +<p>»Nun gehst Du auch mit fliegender Fahne in des Feindes Lager über«, +klagte Richerdes mit einer scherzhaften Resignation. »Da werde ich mich +wohl auf eine ehrenvolle Kapitulation einrichten müssen. Nun wollen wir +aber das<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> schwerwiegende Gespräch abbrechen, das dich gewiß erregt. +Ich will's beschlafen, Mathilde. Zuvor aber gib mir noch ein Weilchen +Urlaub für den Schreibtisch. Die stille Stunde gibt mir erwünschte +Muße, über Geschäftliches nachzusinnen. Bis dahin kehrt wohl auch Venne +zurück.«</p> + +<p>Venne war in der Begleitung einer befreundeten Familie zu dem Fest +gegangen. Als man sich von ihr verabschiedet hatte, ging sie mit +Heinrich Achtermann allein auf der nachtstillen Straße dahin.</p> + +<p>»Könnt Ihr mir nicht sagen, Jungfer Venne, was Ihr gegen mich habt?« +unterbrach Heinrich das anfängliche Schweigen. Dieses Mal war die Frage +in einem Tone gestellt, dem alle leichte Neckerei fernlag.</p> + +<p>Venne hatte den ganzen Abend über auch unter den Wogen immer höher +gehender, jugendlicher Lust und Freude ihre herbe Sprödigkeit bewahrt, +trotz allen heißen Werbens von seiten Heinrich Achtermanns. Es war +ihre Natur, die Gefühle des Herzens in sich zu verschließen. Nur ein +flüchtiges Lächeln bei den Scherzen aus seinem oder fremdem Munde +huschte auch über ihre Züge. Hätte sie gewußt, wie entzückend dieses +Lächeln gerade ihr zu Gesicht stand und wäre sie eitel gewesen wie +manche ihrer Gefährtinnen, so hätte sie diesen freundlichen Schimmer +sich dauernd zu eigen gemacht.</p> + +<p>Venne war nicht kühl im Inneren, wie man ihr nachsagte und Heinrich +Achtermann es den ganzen Abend empfunden hatte; sie verbarg nur unter +dem Mantel jungfräulicher, spröder Ablehnung das warme Gefühl, um +es vor fremden Blicken nicht zu entweihen. Auch in ihr pulste das +Blut der Jugend, und sie hätte kein Weib sein müssen, wenn ihr nicht +die offen zur Schau gestellte Huldigung des stattlichen,<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> schönen +Ratsherrensohnes geschmeichelt hätte. Und noch mehr regte sich in ihrem +Herzen für den hübschen Gesellen, als sie sich jetzt noch selbst in +ihrem Herzen zugestehen mochte. Sie standen vor ihrer Haustür. Die +Frage Heinrichs zwang zu einer Antwort, und so wappnete sie sich mit +doppelt kühler Zurückhaltung gegen eine unvorsichtige Äußerung.</p> + +<p>»Ihr fragt kühn und begehrt viel zu wissen, Junker Achtermann«, +suchte sie ihn zurückzuweisen. »Ließ ich mir irgendeine Unhöflichkeit +zuschulden kommen, so wäre mir's leid.«</p> + +<p>»Nein, daß muß Euch der Neid lassen, Jungfer Venne, darin laßt Ihr es +nicht an Euch fehlen. Aber mir wäre es lieber, Ihr vergäßet Euch ein +wenig und legtet einmal für einen Augenblick diese stolze Höflichkeit +ab, wenigstens mir gegenüber.«</p> + +<p>»Und weshalb soll ich gerade Euch gegenüber mich bezwingen und von +meiner Art lassen?« — Kaum war die Frage dem Munde entflohen, als +sie ihre Worte auch gern zurückgenommen hätte, denn sie mußten den +Gefragten dazu bringen, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.</p> + +<p>»Weshalb fragt Ihr? Weil Ihr in meinem Herzen wohnt als die Göttin, der +ich diene, die ich anbete. Ahnt Ihr nicht, wie es in mir aussieht, wie +mein erster und mein letzter Gedanke Euch gilt?«</p> + +<p>Venne unterbrach ihn. Um nicht schwach zu werden, nahm sie zum Spott +ihre Zuflucht: »Die wievielte bin ich, der Ihr Eure Neigung gesteht?«</p> + +<p>»Venne,« erwiderte er mit nachdrücklichem Ernst, den die Leidenschaft +durchzitterte, »höhnt mich nicht noch, wollt Ihr mich nicht zur +Verzweiflung treiben. Wahr ist es, ich tändelte<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> hier und da und +tauschte zärtliche Worte ohne tieferes Gefühl. Ihr seht, ich mache +mich nicht besser, als ich bin. Aber laßt mir auch Gerechtigkeit +widerfahren; ich bin zuletzt nicht schlechter als meine Freunde +und Altersgenossen. Was ich bisher trieb, war jugendlicher +Gefühlsüberschwang, leichte Tändelei. Bei Euch aber ist es anderes. +Glaubt es mir, glaube mir, Venne Richerdes, Du hast es in der Hand, +mich selig zu machen für immer oder mich zu verderben. Trage die +Verantwortung dafür, wenn Du kannst, stelle mich auf die Probe, prüfe, +aber weise mich nicht für immer zurück.«</p> + +<p>In Venne quoll es heiß empor unter der Glut seiner Worte; ein Gefühl +von Glückseligkeit durchschauerte sie. Es zog sie zu ihm. War das +die große, große Liebe, von der die Dichter sangen? Weich wurde ihr +Blick und senkte sich in seine Augen. Heinrich hatte ihre beiden Hände +ergriffen. Leidenschaftlich erregt beugte er sich vor. Venne schloß +die Augen, wie ein seliger Schwindel überflog es sie. Da ließ sich ein +Geräusch im Hause hören. Sie entzog ihm ihre Hände und bat ihn: »Geht, +daß man uns nicht sieht.«</p> + +<p>Leise öffnete sie die Tür, mit einem traurigen Blick wandte sich +Heinrich Achtermann ab. Da traf ein Flüsterton sein Ohr: »Geht, ich +warte, daß Ihr die Probe besteht!« und mit einem leisen Kichern huschte +sie ins Haus.</p> + +<p>Heinrich Achtermann zog beglückt von dannen. Um die Probe war ihm nicht +bang. Übers Jahr, so hoffte er, war Venne sein geliebtes Weib.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Im Schefferschen Hause am St.-Ägidien-Platz herrschte weiter drückende +Sorge über dem kleinen Kreise, denn noch vermochte auch der Arzt nicht +zu sagen, wie die schwere Verwundung Erdwins verlaufen würde. Die Lunge +war durch den Schuß gestreift, und die dicke Winterluft bereitete dem +schwer Atmenden große Pein. Langsam nur gewann er unter der liebevollen +Pflege von Mutter und Schwester die verlorenen Kräfte wieder. Tiefe +Blässe lag auf dem eingefallenen, einst so blühenden Gesicht.</p> + +<p>Der alte Arzt war mit dem Erfolge seiner Kur nicht zufrieden und +behauptete, es müsse noch etwas anderes, Seelisches sein, das die +Heilung verzögere. Aber er erhielt auf seine Andeutung keine Antwort, +denn den alten, ehrenfesten Handwerker mutete es, mochte er auch auf +die Erfüllung seines Lieblingsplanes betreffs der Heirat mit der +Nachbarstochter verzichten, wie ein ihm persönlich angetaner Schimpf +an, daß im Herzen seines Sohnes ein hergelaufenes Mädchen, die Tochter +einer fahrenden Frau, sich eingenistet habe.</p> + +<p>Die Mutter wurde unter einem inneren Zwiespalt hin und her gezerrt. Im +Herzen stand sie auf der Seite ihres Mannes; auch sie konnte sich von +dem übererbten Vorurteil nicht frei machen, obwohl Monikas bescheidenes +Wesen und der Liebreiz ihrer Erscheinung ihren Eindruck auf sie nicht +verfehlten. Auf der anderen Seite jammerte sie der Zustand des Sohnes, +der sich in Sehnsucht nach Monika verzehrte.<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> Lange verbiß er den +Schmerz, aber zuletzt brach er sich doch in herben Worten Bahn.</p> + +<p>Von der Schwester hatte er vernommen, daß die Geliebte schon am ersten +Tage dagewesen sei. Was die Schwester ihm nicht sagte, die Abweisung +durch die Eltern, verriet ihm die Verlegenheit der Mutter, so oft er +das Gespräch auf sie brachte, sowie des Vaters verschlossenes Gesicht. +Wo Monika mit der Mutter Immecke lebte und wie sie hausten, konnte +ihm wieder die Schwester berichten, die sie ohne Vorwissen der Eltern +in der Badeleber Straße besucht hatte. Sie brachte die Grüße der +Frauen mit und ihre herzlichen Wünsche, aber sie konnte den Anblick +der Geliebten nicht ersetzen. Immer tiefer fraß sich die Sehnsucht in +sein Herz, und größer wurde der Groll gegen die, welche ihm sein Glück +vorenthielten. Zuletzt brach's sich über die Lippen Bahn der Mutter +gegenüber.</p> + +<p>»Eure Pflege ist zu nichts nutze. Laßt mich lieber schnell sterben, +als daß ich mich langsam zu Tode quäle. Ich liebe Monika und lasse +nicht von ihr. Glaubt doch nicht, daß Ihr mit Eurem Pfahlbürgerstolz +trennen könntet, was in jahrelanger, ehrlicher Freundschaft und Liebe +zusammengewachsen ist. Wollt Ihr sie weiter von mir getrennt halten, so +laßt mich lieber aus dem Hause schaffen zu mitleidigen Menschen, auch +auf die Gefahr hin, daß ich dabei mir den Tod hole. So ertrage ich's +nimmer lange.«</p> + +<p>Da griff der Mutter die Angst ans Herz, und sie versprach, mit dem +Vater zu reden.</p> + +<p>Der brave Meister Scheffer war höchst ungehalten über die Zumutung +seiner Lebensgefährtin, er solle die hergelaufene Dirne in seinem Hause +aufnehmen. Immer wieder wies er darauf hin, daß es Landstreichervolk +sei, dem<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> sie die Tür öffnen wolle. Aber sie blieb fest, aus Angst um +das Leben des Sohnes, und sie erreichte endlich, daß er, wenn auch +ingrimmig und grollend, seine Zustimmung gab. »Aber mich laßt aus dem +Spiele«, entschied er unerbittlich. »Ich will mit der Narretei nichts +zu tun haben und gehe aus dem Hause, wenn das Mädchen kommt.«</p> + +<p>Monika kam. Meister Scheffer sah unbeobachtet durch ein Guckfenster, +das auf der hofwärts gelegenen Werkstatt den Überblick über die +Vorgänge auf der Hausdiele gestattete. Das Mädchen war nicht +übel, sein Auftreten bescheiden, und ohne den Groll im Herzen und +die Voreingenommenheit hätte er zuletzt wohl die eigenen Wünsche +zurückgestellt; aber der Gedanke, was die in gleich strengen +Anschauungen aufgewachsenen Nachbarn und Gildebrüder dazu sagen würden, +verscheuchte die weiche Regung, und er verließ durch die Hoftür das +Haus.</p> + +<p>Das Wiedersehen zwischen Monika und Erdwin gestaltete sich +erschütternd, obwohl die Schwester sie auf das Aussehen des Kranken +vorbereitet und sie dringend gebeten hatte, jeden Gefühlsausbruch zu +meiden. Als sie in das Zimmer trat und das bleiche Gesicht auf dem +Lager sah, das sich von den bunten Kissen doppelt gespenstig abhob, +sank sie mit einem Wehelaut am Lager des Geliebten nieder.</p> + +<p>»Mein Erdwin, mein Einziger«, war alles, was sie unter verhaltenem +Schluchzen hervorbringen konnte. Ein glückliches Lächeln huschte über +das Gesicht des Kranken, und er reichte ihr die abgezehrte Hand, die +sie mit Küssen bedeckte. Auch der Schwester rannen die Zähren über die +Wange, und selbst die Mutter wischte sich mit einem Zipfel der Schürze +die feucht gewordenen Augen. Sie sprachen<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> nur wenig miteinander, aber +die Blicke sagten den anderen, wie tief die Liebe im eigenen Herzen +wurzele.</p> + +<p>Die Mutter trieb zuletzt zum Aufbruch, aus Sorge, die Aufregung möchte +dem Kranken schaden. Monika mußte versprechen, bald wiederzukommen.</p> + +<p>»Gern,« sagte sie mit einem rührenden Lächeln, »wenn Deine Eltern es +gestatten.«</p> + +<p>Die Mutter war schon halb gewonnen und wiederholte auch ihrerseits die +Einladung. Als der Vater heimkam, erzählte sie ihm von dem Wiedersehen +und riet ihm dringend zur Nachgiebigkeit, aber noch blieb er +halsstarrig und verstockt; es mußten noch andere Bundesgenossen kommen, +um ihn gefügig zu machen.</p> + +<p>Es waren einmal Heinrich Achtermann und Johannes Hardt, die des +Fahrtgesellen nicht vergaßen.</p> + +<p>Johannes fand Beschäftigung im Schreibzimmer des Oheims, der Pleban +an der St.-Jakobskirche und <span class="antiqua">Notarius publicus</span> war. Er hoffte, +demnächst in die Kanzlei des Rates einzutreten. Die erfolgreichen +Studien wie der wichtige Dienst, den er der Stadt geleistet hatte, +waren eine Empfehlung, die ihm den Weg zu dem vom Vater gewünschten +Ziele bahnten. Er vergaß über den eigenen Plänen und Hoffnungen den +treuen Reisegefährten und Jugendfreund nicht. Wenn sich die Gelegenheit +bot, sprach er bei Scheffers vor und verbrachte ein Stündchen am Bette +des Verletzten. So war er über den Zwist wohl unterrichtet, und er, der +Monika selbst und ihre uneigennützige, selbstlose Liebe werten konnte, +half, wo er konnte, den Gegensatz auszugleichen.</p> + +<p>Neben der Angst um die Wiederherstellung, dem Gram um die Verirrung, +wie Meister Scheffer die Liebe des Sohnes zur Tochter der Immecke +Rosenhagen immer noch nannte,<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> war es auch die Sorge um seine Zukunft, +wenn er gesundet sei. Daß Erdwin für das Handwerk nicht in Frage +kam, stand zu befürchten. Aber was sollte werden? Sollte er wieder +hinaus in das wilde Leben, zu dem ihm nunmehr auch die körperlichen +Vorbedingungen fehlten?</p> + +<p>Johannes suchte die Eltern über diesen Punkt zu beruhigen. Wozu seine +Bescheidenheit in eigener Sache nie ausgereicht hätte, das tat er +für den Freund gern und freimütig. Er war schon beim Rate vorstellig +geworden, man möge für den Verletzten, wenn er wiederhergestellt sei, +eine Verwendung im Dienste der Stadt vorsehen.</p> + +<p>Heinrich Achtermann hatte schon am Tage nach dem Überfall bei den +Scheffers vorgesprochen und mit herzlicher Teilnahme von der Schwere +der Verletzung gehört. Sein Mitleid galt nicht nur dem unerschrockenen +Helfer in der Not, sondern es rang hier ein Menschenkind mit dem Tode, +das ihm als lieber Jugendgespiele und Genosse tausend lustiger Streiche +besonders ans Herz gewachsen war. Der gutmütige und weichherzige +Heinrich sah keinen Abstand zwischen dem Sohn des Schuhmachers und +sich, dem Abkömmling eines alten Patriziergeschlechtes. Er war daher +bedacht, dem Kranken alle Hilfe zu verschaffen, die der Reichtum der +Eltern gestattete, und immer wieder wanderten Körbe mit stärkenden +Mitteln in das Haus am Ägidienplatz. Als sich die ersten Anzeichen der +Genesung einstellten, lag er dem Vater in den Ohren, dieser möge darauf +bedacht sein, für die Zukunft Erdwin Scheffers zu sorgen.</p> + +<p>Es hätte des lebhaften Mahnens gar nicht bedurft, denn auch der +Ratsherr war dem Burschen wohlgewogen, der seinem Einzigen so mannhaft +zur Seite gestanden hatte. So konnte es nicht fehlen, daß auch der +hochmögende Rat<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> diesem Ansturm von verschiedenen Seiten ein geneigtes +Ohr lieh.</p> + +<p>Der regierende Bürgermeister, Karsten Balder, der überzeugt war, daß +man die Rettung des kostbaren Schriftstücks nicht zuletzt dem Mut +und der Umsicht Erdwin Scheffers verdanke, sprach selbst im Hause +des Meisters vor und teilte dem matt Aufhorchenden die Belobigung +und günstige Gesinnung des Rates mit. Aber trotz allem kam man nicht +weiter. Wohl hatte sich der Kranke inzwischen so weit erholt, daß er, +auf den Stock gestützt, vorsichtig im Hause umherwandeln konnte. Indes +das Rot der Gesundheit wollte noch immer nicht in die blassen Wangen +zurückkehren, und der alte Lebensmut fehlte nicht minder.</p> + +<p>Monika litt noch mehr unter der gedrückten Stimmung. Trotz aller +liebevollen Zärtlichkeit der Schwester Erdwins, obwohl auch die Mutter +allmählich den Widerstand schwinden ließ und sie freundlich begrüßte, +wenn sie, was nur selten geschah, kam, trug sie dennoch schwer an dem +Gefühl, daß sie im Hause des Geliebten nur geduldet sei.</p> + +<p>Die eigene Mutter litt mit ihr unter diesem schiefen Verhältnis, und +sie, die tatkräftige und entschlossene Frau, die durch einen langen und +ehrbaren Lebenswandel inmitten des rauhen und lockeren Kriegslebens +reichlich gesühnt hatte, was ihr etwa ihr eigenes Gewissen an +jugendlichem Leichtsinn vorwerfen konnte, trug doppelt schwer an der +Lage, die sie zur Rolle des untätig wartenden Zuschauers verurteilte. +Sie sah, daß das Gesichtchen Monikas täglich schmaler und blasser +wurde. Sie hörte nachts, wenn sie schlaflos auf ihrem Pfühle lag, die +Seufzer des geliebten Kindes. Das hielt sie nicht länger aus.</p> + +<p>Immecke Rosenhagen hatte das Fähnlein des erschlagenen<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> Hauptmanns über +den Rhein und weiter bis Goslar begleitet. Sie war des unruhvollen +Kriegslebens mit seinen Bildern wilden Blutvergießens und roher Sitten +müde. Sie wollte ihre Ruhe haben auf ihre alten Tage, vor allem aber +sollte ihre Monika eine Heimat haben. Daß dies Goslar sein müsse, kam +ihr zunächst nicht in den Sinn. Aber ausruhen wollte sie hier von der +Mühsal des Marsches. Wohin sie alsdann ihren Stab setzen würde, war ihr +selbst noch verschlossen. In die Heimat, nach Salzwedel, zog sie nichts +Besonderes. Die Eltern waren längst tot, nähere Verwandte lebten ihr +dort nicht. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte sie dieses +nicht zur Rückkehr dorthin verlocken können. Denn was ihr die Tage in +Goslar verleidete, würde sie dort in der Beschränktheit der kleinen +Stadt, wo man ihre etwas abenteuerliche Jugendgeschichte kannte, +doppelt treffen.</p> + +<p>Immecke war entschlossen, Goslar zu verlassen, denn sie wollte +nicht länger untätig zuschauen, daß ihr Herzblatt sich abhärmte und +dahinschwand. Doch als sie Monika gegenüber eine Andeutung dieser Art +fallen ließ, traf sie auf einen so entschlossenen Widerstand, wie sie +ihn von der schüchternen Tochter nie erwartet hätte.</p> + +<p>»Ich weiche keinen Schritt von hier, ehe Erdwin nicht gänzlich +hergestellt ist, und trifft ihn das Schlimmste, so soll sein Grab von +meinen Tränen genetzt werden.«</p> + +<p>»Nun, dann weiß ich auch, was ich zu tun habe«, antwortete die Mutter +ebenso entschlossen. »Ich gehe selbst zu dem verdrehten und in seinem +Bürgerstolz überspannten Scheffer und halte ihm seine Sünden vor.« +Monika erschrak und bat die Mutter, davon abzusehen, aber alle Einrede +war vergeblich.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span></p> + +<p>Die Rosenhagens wohnten bei einer Witwe in der Badeleber Straße; von +dort machte sich Immecke an einem der nächsten Tage auf den Weg nach +St. Ägidien. Sie wollte zunächst im guten mit dem Scheffer reden, war +aber entschlossen, die Sache zu irgendeinem Ende zu bringen, und dann +sollte, scheiterte ihr Versuch, sie kein längerer Einspruch Monikas vom +Aufbruch von Goslar fernhalten.</p> + +<p>Es öffnete ihr die Schwester Erdwins, die sie von einem Besuch in +der Badeleber Straße her kannte. Die Mutter wurde gerufen und mit +ihr bekannt gemacht. Dann gingen sie zu Erdwin hinein. Es war das +erstemal, daß Immecke ihn seit dem Tage von Riechenberg wiedersah. Auch +sie erschrak, als sie ihn erblickte, obschon das Schlimmste längst +überstanden war.</p> + +<p>»Armer Schelm, wie haben sie Dir mitgespielt, aber nun heißt es +schnellstens gesund werden, ich will das Meinige dazu beitragen und mit +dem Vater sprechen.«</p> + +<p>Erdwin stimmte lebhaft zu, die Mutter widerriet ängstlich, doch Immecke +war entschlossen: »Ruft ihn also.« Aber die Mutter warnte, Erdwin der +Aufregung auszusetzen.</p> + +<p>»Gut, so suchen wir den Löwen in seiner Höhle auf«, sagte sie resolut +und ließ sich von der Frau den Weg zur Werkstatt zeigen, wo Meister +Scheffer wütend auf das Leder losklopfte, als solle es für alle +Widerwärtigkeiten büßen, die ihm widerfuhren.</p> + +<p>Sie klopfte, und ehe noch der Meister »Herein« gerufen hatte, stand sie +schon im Zimmer. »Guten Tag, Meister Scheffer.« Er tat sehr erstaunt, +aber sie hatte mit ihrem scharfen Auge wohl das Gesicht gesehen, das +sich vorhin bei ihrem Kommen an das Guckfenster preßte, und da die<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> +Frau einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte, durfte sie annehmen, +daß er den Besuch kenne.</p> + +<p>»Wir kennen uns durch unsere Kinder,« ging sie auf die Sache los, »und +ihretwegen komme ich.«</p> + +<p>Meister Scheffer fühlte sich höchst unbehaglich unter dem scharfen, +prüfenden Blick der Frau, die da so mir nichts, dir nichts bei ihm +eindrang. Er hüstelte verlegen und suchte an ihr vorbeizublicken, als +suche er nach einem Bundesgenossen. Aber Immecke Rosenhagen kannte ihre +Leute und ließ ihn nicht aus den Augen.</p> + +<p>»Meister Scheffer, ich bin zu Euch gekommen, um von Euch zu hören, was +Ihr gegen mich und mein Kind habt. Daß ich sie Euch nicht aufdrängen +will, brauche ich nicht zu sagen. Indes, ich will nicht länger zusehen, +wie zwei Menschenkinder, die mir beide lieb sind, an Eurem Starrsinn +zugrunde gehen. So oder so will ich Klarheit schaffen.«</p> + +<p>»Ihr kommt einem arg grob«, meinte er ausweichend. »Was ich für Gründe +habe? Nun, es wären ihrer mehrere. Wir kennen uns zu wenig, und Ihr +seid nicht von hier.«</p> + +<p>»Ist das alles, so ist das kein Grund, Eure Zustimmung zu versagen. +Oder ist es bei Euch verboten, durch frisches Blut von draußen Eure +Stockfischigkeit zu bessern? Mir scheint das sogar sehr vonnöten, wie +Ihr selbst beweist«, fuhr sie in ihrer derben Offenheit fort.</p> + +<p>»Nun ja, das mag sein, aber es wäre da noch so manches ...«</p> + +<p>»Und unter dem ›Manchen‹ ist eines für Euch die Hauptsache, gesteht +es nur ruhig zu. Wer nicht seßhaft, gilt in Euren Augen als fahrendes +Volk, und ich im besonderen bin Euch wohl gar verdächtig wegen der +Herkunft meines<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> Kindes. Seid unbesorgt, sie ist im Ehebett geboren so +gut wie Eure eigenen. Und hegt Ihr Zweifel, so lest hier den Trauschein +des ehrenwerten Feldkaplans Carolus Wintinger.«</p> + +<p>»Ja, ich sehe schon, da ist alles in Ordnung«, ächzte Meister Scheffer. +»Aber da wäre doch noch, ich meine, es gilt doch auch die eigene +Reputation; da sind zum Exempel die Nachbarn, was sollten sie, was +werden sie ...« Schneidend lachend fiel ihm Immecke ins Wort, indes die +Stirn sich vor Zorn rötete.</p> + +<p>»Da wäre doch noch, da ist zum Exempel,« höhnte sie, »da ist das +Marketenderweib, das sich erdreistet, vor Euch zu treten und den +vermessenen Gedanken zu haben, als wäre sie, als könnte sie ... Pfui +Teufel der Wohlanständigkeit, die ihr Genüge darin findet, braven +Leuten die Ehre zu kürzen. Aber nun beruhigt Euch, jetzt will ich +nicht. Macht's mit Euch und Eurem Gott ab, wenn Euer Sohn darüber +zugrunde geht. Doch über eines will ich Euch noch beruhigen. Ihr hättet +Eurer Ehre nichts vergeben mit meiner Monika. Mir haben mehr vornehme +Herren die Hand gedrückt und dankbar geküßt, als Euch vielleicht zu +Gesicht gekommen sind.</p> + +<p>Was wißt Ihr hier in Eurem satten Behagen von dem Leben und Nöten +draußen, den Nöten Eurer eigenen Kinder, die hinauslaufen, weil Ihr +ihnen die Enge hier zu unerträglich macht.</p> + +<p>Euer eigener Sohn rannte so davon vor Euch, Meister Pechdraht, weil Ihr +bange waret, sein Horizont möchte den eigenen überschreiten, könnte +über die Sicht Eurer Türme hinausreichen. So lief er davon wie so +mancher gute, deutsche, ehrliche Knabe, der in die Fremde ging, um auf<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> +welschem Schlachtfelde für welsche Fürsten sein Herzblut zu verspritzen.</p> + +<p>Ich habe sie gelehrt, daß es ein Vaterland gibt, ein Deutschland, dem +unsere Kraft gehören müsse, ich habe ihnen diese Sehnsucht in das Herz +gepflanzt. Ich habe sie in die Arme genommen, wenn das Heimweh sie +packte und schüttelte, ich habe ihre Wunden verbunden, die welsche +Waffen ihnen geschlagen; ich habe ihnen die Augen zugedrückt und sie in +welscher Erde betten helfen wie die Mutter ihr Kind, ich, die Deutsche +den Deutschen. Das ist die Marketenderin Immecke Rosenhagen vom +Regiment Holzendorf. Und nun lebt wohl, unsere Wege scheiden sich.«</p> + +<p>Sie war draußen, ehe sich der gute Meister Scheffer von seiner +Bestürzung und Beschämung erholt hatte. Die Haustür flog zu, daß die +Glocke ängstlich wimmerte. Grimmig lächelnd schritt Immecke dahin, der +Badeleber Straße zu. Nun war es zu Ende, und nun hieß es, einen Strich +unter die letzte Vergangenheit machen, für sich und für Monika.</p> + +<p>Als die Tochter sie ins Zimmer treten sah, wußte sie schon, wie +der Besuch verlaufen war. Sie brauchte gar nicht zu fragen, die +Mutter begann sogleich zu erzählen. Und sie schloß mit der barschen +Aufforderung: »So, nun ist's Schluß. Ich habe das Meinige getan. Nun +hat das Herz zu schweigen, und die Vernunft tritt an seine Stelle.«</p> + +<p>Monika war so verschüchtert, daß sie vorab keine Silbe zu antworten +wagte. Aber in der Nacht brach der Kummer sich Bahn, erst in einem +stillen Schluchzen, daß die Schultern erbebten, und dann, als die +Mutter sie ansprach, in lautem Weinen, so daß Immecke ihr doch ein +gutes, tröstendes Wort sagen mußte. Auch am anderen Tage stand indes +ihr Entschluß noch fest, Goslar zu verlassen. Denn: ein rascher,<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> +fester Schnitt ist besser als ein langsames Sich-dahin-quälen, dachte +sie. Einen Augenblick kam ihr auch wohl der Gedanke, das alte Handwerk +wiederaufzunehmen; aber davon ging sie bald wieder ab, wenn sie Monikas +sich erinnerte. Da wurde sie in ihrem Vorhaben schwankend gemacht durch +Heinrich Achtermann, der bei Scheffers von Immeckes Besuch und ihrem +Mißerfolg gehört hatte. Er ging zu den Frauen und machte ihnen einen +Vorschlag, der sie in Goslar festhalten sollte.</p> + +<p>»Ich habe gehört, daß der >Goldene Adler< an der Gudemannstraße +zum Verkauf stehe. Es ist eine gutgehende, achtbare Herberge, die +ihren Mann ernährt. Wie ich Euch kenne, wäret Ihr wohl imstande, ihr +vorzustehen. Ihr könnt Euch ja einen Schaffner halten. Wie Ihr es mit +der Anzahlung halten wollt, weiß ich nicht, aber vielleicht ist da auch +manches zu machen durch Bürgschaft, die Euch von meinem Vater nicht +fehlen würde.«</p> + +<p>»Da seid ohne Sorge,« entgegnete Immecke, »ich bin nicht mittellos. Ich +habe einen guten Spargroschen, ehrlich verdientes Geld, das anzunehmen +sich kein Goslarer Bürger zu bedenken braucht. Auf jeden Fall danke +ich Euch für Euren guten Willen. Ich will mir's überlegen und Euch +Nachricht geben.«</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Die Einbürgerung ortsfremder Personen, für welche die neue Zeit aus +parteipolitischen Gründen heraus alle Schwierigkeiten zu beseitigen +bestrebt ist, konnte früher nur schwer erreicht werden, und Immecke +Rosenhagen hätte mit ihnen nicht weniger, ja, vielleicht sogar noch +mehr zu kämpfen<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> gehabt, als sie sich entschloß, den Vorschlag Johannes +Hardts anzunehmen.</p> + +<p>Wer das Bürgerrecht einer Stadt wie Goslar erhielt, gewann damit einen +Kranz von Rechten auch wirtschaftlicher Natur, die eine Auslese der +Zuwandernden als sehr berechtigt erscheinen lassen mußte, abgesehen +davon, daß man in jener unruhigen Zeit, die schon in der Masse der +eigenen Bürger Keime gärender Ungeduld und Mißstimmung auf vielen +Gebieten barg, sich hütete, noch fremde Schößlinge, deren Wesen nicht +genug zu erkennen war, in den eigenen Garten zu pflanzen. Der Nachweis +dieser »Würdigkeit« ist ein Erfordernis, das sich bis in unsere Tage +in der Stadt Goslar erhalten hat und beispielsweise heute noch von neu +anzustellenden Beamten verlangt wird.</p> + +<p>Diese »Würdigkeit« hatte also auch Immecke Rosenhagen zu erbringen, und +sie konnte das in einer Weise, die sich für sie zu einer glänzenden +Genugtuung gestalten sollte. Als sie zum Rathaus beordert wurde, mußte +sie sich dort zunächst einem Verhör in der Kanzlei unterziehen, das +durchaus nicht nach ihrem Geschmack war. Der Schreiber behandelte sie +mit einer ausgesprochenen Nichtachtung, und als sie dann selbst auf +sich aufmerksam machte, versuchte man sie in ein förmliches Kreuzverhör +zu nehmen. Aber da kannten sie Immecke Rosenhagen!</p> + +<p>»Euch Schreibersleute scheint die Neugier arg zu plagen, aber +befriedigt sie an einem anderen Objekt als bei mir. Ich habe Besseres +zu tun, als müßige Leute zu unterhalten. Ich will zum Bürgermeister +Karsten Balder, und wenn Ihr den Weg nicht wißt, suche ich ihn mir +selber.«</p> + +<p>Das war eine im Rathause geradezu unerhörte Art des Auftretens, noch +dazu von einem Frauenzimmer. Aber sie<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> hatte durchschlagende Wirkung; +man wies sie zum Regierenden. Dort brachte sie unwillig sogleich ihre +Ansicht über diese Art von Behandlung vor, so daß auch Karsten Balder +sie erstaunt anblickte.</p> + +<p>»Ich soll also meine ›Würdigkeit‹ nachweisen,« hub sie dann an, »ich +denke, das soll heißen, ob ich nicht gestohlen oder betrogen oder sonst +eine Missetat auf dem Gewissen habe. Dieses hier wird Euch hoffentlich +darüber beruhigen.«</p> + +<p>Damit überreichte sie ihm zwei Schreiben, eines von dem Feldobristen +von Walsrode im Regiment Holzendorf und das andere von dem +Generallieutenant und Befehlshaber der gesamten deutschen Knechte in +burgundischen Diensten, Herrn Friedrich von Uslar.</p> + +<p>Beide bestätigten, daß Immecke Rosenhagen, Marketenderin im Regiment +Holzendorf, nicht nur ein braves, ehrliches und tapferes Frauenzimmer +sei, sondern sich auch besondere Verdienste um das Wohl und Wehe der +deutschen Knechte erworben und ihnen allzeit hilfreich zur Seite +gestanden habe. Sie verdiene höchste Achtung, und ihr Lebenswandel sei +ein untadeliger.</p> + +<p>Karsten Balder durchlas die Schreiben, dann trat er auf Immecke zu und +reichte ihr die Hand:</p> + +<p>»Immecke Rosenhagen, was die Herren hier von Euch schreiben, ehrt Euch +mehr, als viele Eures Geschlechtes von sich sagen können. Ihr seid +herzlich willkommen in Goslar. Ich wollte, wir hätten mehrere Eurer Art +in unseren Mauern. Mit diesem Handschlag begrüße ich Euch als Bürgerin +von Goslar. Nehmt es zugleich als einen Ausgleich für die kleine Unbill +von vorhin, für die Ihr ja aber selbst gleich Buße auferlegt habt«, +schloß er lächelnd.</p> + +<p>Freimütig blickte ihm Immecke in die Augen. »Ich danke<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> Euch, Herr +Bürgermeister Karsten Balder, und ich hoffe, Ihr werdet Euer Wohlwollen +nicht zu bereuen haben.«</p> + +<p>So wurde die Marketenderin Immecke Rosenhagen Bürgerin der Freien +Reichsstadt Goslar und Besitzerin des ›Goldenen Adlers‹ in der +Gudemannstraße. Und es erweist sich noch, daß sie dem Bürgermeister +Karsten Balder nicht zuviel versprach.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Über die Berge des Harzes hielt der Winter noch seine eisenharte Faust +ausgestreckt, obwohl der Februar zu Ende war. Wohl brausten hin und +wieder die Stürme des herannahenden Frühlings durch den düsteren Tann +und nahmen den ragenden Waldbäumen die ungeduldig getragene Schneelast +ab, aber der nächste Tag verdarb, was sein Vorgänger gutzumachen +versuchte, und die gleichmäßige, weiße Kappe deckte wieder Wipfel und +Strauch. Im Dickicht lagerte das abgemagerte Wild, dem der Weg zu den +kärglichen Äsungsplätzen durch die hartgefrorene Eiskruste versperrt +war. Und manch edler Geweihte lag mitsamt den Gefährtinnen im Wundbett, +weil der nagende Hunger sie auf die Nahrungssuche getrieben und die +Läufe beim Durchschreiten der Schneekruste von dieser aufgerissen waren.</p> + +<p>Das Raubzeug fand an ihnen willkommene Beute. Und dennoch war auch bei +diesen Schmalhans Küchenmeister. Nicht einmal ein Mäuslein lief dem +leise durch den Wald schliefenden Fuchs in den Weg. Das Eichkätzchen +saß ihm unerreichbar im warmen Kobel, und der Häslein gab es auch in +guten Zeiten nur wenige im wilden, rauhen Gebirge.</p> + +<p>Meister Reinekes größerer Bruder, der Wolf, stieg in die Ebene herab +und fiel an, was ihm in den Weg kam. Bis in die Landwehr drangen sie +vor, und, was seit Menschengedenken nicht vorgekommen, einmal verirrte +sich sogar<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> einer von diesen frechen Gesellen durch ein Mauerpförtchen, +das über Mittag ein Viertelstündchen offen gestanden hatte, in die +Stadt. Dort fielen die Hunde ihn wütend an, und er büßte sein Leben +unter ihren Bissen ein trotz wilder Gegenwehr. Er war ein lebendiges +Zeichen dafür, wie groß auch die Not unter dem Getier des Waldes sein +mußte.</p> + +<p>Mit Sorgen sah der Jäger den Folgen dieses unbarmherzigen Winters +entgegen. Mit Sorgen blickte aber auch der Hausherr auf den ständig +sich mindernden Vorrat an Spaltholz, das der nimmersatte Kamin mit +gefräßiger Eile verlangte, wollte man nicht zähneklappernd im eigenen +Hause sich der Kälte überliefern. Schlimm für die Armen, die ansonst +auch im Winter ihren Bedarf an Leseholz sich im Walde sammeln konnten. +Schlimm für alle, welche ihr Beruf aus der Stadt heraustrieb, wie +die Erz- und Hüttenleute, welche im Granetal und anderen waldreichen +Flußtälern die Erzroste bedienten. Es gab keine Möglichkeit, in den +tiefverschneiten Forsten das nötige Holz zu fällen und zur Talsohle zu +schaffen. Sie alle froren unfreiwillig schon seit Monaten, und der +Hunger bleckte grimmig durch die kleinen Fensterscheiben ihrer Hütten.</p> + +<p>Am Rammelsberge wurde der Grubenbetrieb notdürftig aufrechterhalten, +denn seitdem das Pulver aufgekommen war, kam man immer mehr von dem +uralten Brauch ab, das Erzgestein, welches abgebaut werden sollte, +durch Feuer zu rösten und mürbe zu machen für den Angriff mit Spitzhaue +und Brechstange. Aber das gewonnene Erz konnte nicht verhüttet werden +und lag als lohnzehrendes, totes Material in Halden vor dem Berge.</p> + +<p>Nur ein Teil der Menschen, die unter dem harten Joche des Winters +litten, gewann ihm Freuden ab und wünschte,<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> daß er noch länger sein +Regiment ausübe: die Kleinen. Wenn sie der strengen Zucht des Magisters +oder Schulmeisters entschlüpft waren, wenn sie der Aufsicht und den +Mahnungen der Mutter auf einen Augenblick entwischen konnten, ertönte +ihr Geschrei und Jubel auf der Straße. Wo immer ein Hang sich senkte, +wo eine gefrorene Pfütze blinkte, da sausten sie auf den flachkufigen +Bretterschlitten, auf umgekehrten Schemeln herab oder glitten auf des +Schusters Rappen über die blanke Fläche in endlosem Kreislauf, einer +den anderen anfeuernd und überschreiend. Mochte ein strenger und +wohlweiser Rat, dessen Verbote sonst immer Beachtung fanden, noch so +oft Erlasse gegen das Schlittern und Schlittenfahren in den Straßen +geben, die Stadtweibel ihnen nachspüren, die Rangen lachten ihrer aus +sicherer Entfernung und verschwanden nur um die Ecke, um an anderer +Stelle das gesetzwidrige Spiel wiederaufzunehmen.</p> + +<p>In den Häusern der Bürger war man des hartnäckigen Gesellen gleichfalls +überdrüssig, nicht nur, weil der Holzvorrat zu Ende ging und die +Erwerbsquellen vor den Toren für manche versiegt waren, auch die Jugend +sehnte sein Ende herbei. Der Winter brachte zwar für das gesellige +Leben in der reichen Stadt manche Gelegenheit, einander zu sehen und +zu sprechen, neben dem Verkehr in den Familien, aber nachdem die +Hauptfeier, das Festmahl des neugewählten Bürgermeisters, der mit dem +andern im Amte verbleibenden für das nächste Jahr regieren sollte, +begangen war, hatte der Winter für die Jugend, die flügge gewordene, +seine Reize verloren, und sie harrte ungeduldig <em class="gesperrt">ihres</em> Festes, +des ›Langen Tanzes‹.</p> + +<p>Er ging in seinen Anfängen bis in den Anfang des vierzehnten<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> +Jahrhunderts zurück und wurde um die Fastnacht gefeiert.</p> + +<p>In gewöhnlichen Jahren war er der Vorbote des Lenzes, auch in Goslar. +Heuer freilich sah es trübe aus, da der alte Griesgram Winter immer +noch sein hartes Zepter schwang.</p> + +<p>So gab er dieses Jahr auch nur ein klägliches Abbild der sonst dabei +herrschenden Lust und Freude, denn die Kälte war just an dem Tage, +auf den er fiel, grimmig. Die Jünglinge mochten ihr noch standhalten +in warmgefütterten Wämsen, die Mägdelein aber scheuten die Teilnahme; +denn welches Jungfräulein besitzt so viel Aufopferungsfreudigkeit, ein +blaugefrorenes Näslein der Spottlust der männlichen Jugend auszusetzen. +Gegen die Kälte konnte man sich auch schützen durch ein wärmendes +Kolett, das, um die Schultern gelegt, den zarten Hals und die Brust +schützte. Aber sollte man so das Geschmeide verdecken, das bestimmt +war, die Schönheit der Trägerin zu heben. Und die duftigen Gewänder, +die man sonst unter dem warmen Hauch der Frühlingssonne schon anzulegen +wagen durfte, sie schieden für dieses Mal gänzlich aus.</p> + +<p>Nur das geringere Volk, das nicht so empfindlich gegen die Unbilden der +Witterung war, ließ sich sein Recht nicht nehmen. An der Spitze gingen +die jungen Bergleute. Mit Zithern, Geigen und anderen Instrumenten +zogen sie musizierend durch die Stadt, aber gar oft setzte einer der +Musikanten aus, um die klamm gewordenen Hände zu wärmen. Auch die +Lieder klangen dünn durch die harte Winterluft. Natürlich fehlte das +alte Spottlied nicht, das auf die von Kaiser Karl <span class="antiqua">IV.</span> vollzogene +Verpfändung Goslars an Graf Günther von Schwarzburg Bezug hatte:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span></p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">»Kaiser Karolus hochgeboren,</div> + <div class="verse indent0">Der Goslar hät vom Rike einst verloren,</div> + <div class="verse indent0">Der Rammelsbereg hät einen silbernen Fot,</div> + <div class="verse indent0">Darummen tragen wir einen frischen Moht.</div> + <div class="verse indent0">Mit düssen hübschen Jünferlein</div> + <div class="verse indent0">Maken wir von Tannen ein Krenzelein</div> + <div class="verse indent0">Wents thaun andern Jahre,</div> + <div class="verse indent0">Sau tanzen wir mit twei Paare.</div> + <div class="verse indent0">Wie wilt woll darup denken,</div> + <div class="verse indent0">Wie wilt öhn dat wieder schenken.«</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Da die Töchter und Söhne der vornehmen Bürger sich vom ›Langen Tanz‹ +dieses Mal fernhielten, konnte auch der Streitfall zwischen Venne +Richerdes und Heinrich Achtermann nicht entschieden werden; aber man +hoffte, das Versäumte zum Maienfest nachzuholen.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Auch die Ostgänger aus Flandern waren dieses Mal durch den langen +Winter in Goslar festgehalten worden, sobald jedoch der erste +Lenzeshauch Wege und Stege von der winterlichen Sperre befreite, zogen +sie davon. Während aber in der Ebene schon die Boten des Frühlings +Einzug gehalten hatten, zeigten die Berge im Hintergrunde noch Reste +des winterlichen Schmuckes. Der Tann ragte düster starr gen Himmel, +der Frühlingswind wehte ungehemmt durch das kahle Geäst der Eichen im +Gosetal.</p> + +<p>Doch mählich regte sich's auch hier im Harzwalde. Überall rieselten +die Bächlein des Schmelzwassers geschäftig zu Tal. Wo die Sonne +lockte, wagte wohl ein Hälmlein sein duftiges<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> Grün zu zeigen, hob ein +Buschwindröschen das zierliche Glöckchen, um es zum Frühlingsgeläut zu +stimmen. Die Meise hüpfte geschäftig durch das Gezweige des einsamen +Tanns. Das Eichkätzchen verließ sein Winterquartier, fand, daß es recht +mager geworden sei durch das lange Fasten. Es rasselte muckernd vom +Stamm herab, um zu sehen, ob nicht ein Tannenzapfen übriggeblieben, +um den nagenden Hunger zu stillen. Und wieder über ein kleines, da +steckten die Tannen und Fichten grüne Spitzen auf und rote Kerzen zu +Tausenden: Nun war der Lenz auch hier zur Macht und Herrschaft gekommen.</p> + +<p>Maiengrün, Maienduft, welch unnennbarer Zauber umschließt das Wort. +In den Tälern zu Rudeln vereint, im düsteren Tannenforst einzeln sich +zum Lichte durchbrechend, grüßen die Birken von den Hängen mit ihrem +ersten duftenden, hellgrünen Laub. Lenzesboten, sie sind's auch heute +noch im winterharten Harz. Erst wenn die grünen Buschen und Bäume die +Straßen und Häuser schmückten, ist dem Harzer das Bewußtsein ins Herz +gepflanzt, daß der Frühling wirklich eingezogen ist.</p> + +<p>In Goslar schickte man sich an, das Fest der Maienkönigin zu begehen. +Draußen vor dem Tore, aber im Schutze der Landwehr, erhoben sich +lustige Zelte, mit Maien geschmückt und mit Teppichen behängt; von +ihrer Spitze flatterten lustig die schwarzgelben Wimpel.</p> + +<p>Am Nachmittage zog die Jugend aus, die Mägdelein im duftigen +Sommergewande. Die Jünglinge in prächtigen, enganliegenden Seidenwams, +das Federbarett kühnlich auf dem Haupte, boten zwar der strahlenden +Sonne ein willkommenes Objekt, aber kühn und zuversichtlich schritten +sie an der Seite ihrer Dame einher. Lustig ließen die Stadtmusikanten<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> +ihre Weisen erklingen. Auf dem Plan vor dem Rufzentore sollte sich's +entscheiden, wem heuer die Krone der Anmut und Schönheit zuerkannt +werden würde.</p> + +<p>Die Alten, die Väter namentlich, zogen sich auf dem Festplatze +alsogleich in die Zelte zurück, in das eigene, das des Nachbarn oder in +die, welche zur öffentlichen Bewirtung der Gäste harrten. Die Jugend +aber bewies, nach Geschlechtern getrennt und im bunten Durcheinander +der Jünglinge und Mägdelein, daß der lange Winter die Geschmeidigkeit +der Glieder und die Anmut der Bewegung nicht hatte ertöten können.</p> + +<p>Die Reigen lösten einander ab, und auch der neue französische +Tanz wurde von einem kleinen auserlesenen Kreise vorgeführt. Ein +durchreisender Tanzmeister aus Paris war in Goslar angehalten worden +und hatte sein Bestes getan, um die Pariser Grazie auch im rauhen +Deutschland nicht ins Gegenteil verkehren zu lassen. Durfte man seinem +Urteil glauben, so tanzte die Goslarer Jugend dieses zierliche Menuett, +das, aus dem schönen Poitou stammend, in Paris eine veredelte Gestalt +erhalten hatte, trotz einem Pariser und einer Pariserin.</p> + +<p>Heinrich Achtermann war der Partner Vennes. Voller Entzücken hingen +seine Augen an ihr, die die verkörperte Lieblichkeit und Grazie +schien. Bei den Reprisen fand sich auch wohl Gelegenheit, ihr ein Wort +zuzuflüstern. Noch hielt sie ihn in Schranken mit einem unmerklichen, +aber unwilligen Schütteln des Kopfes oder leicht gerunzelter Stirn; +aber je höher die Wogen der Freude und Lust gingen, desto wärmer wurde +auch ihr ums Herz, und ein schneller, froher Blick streifte ihrerseits +den Gesellen.</p> + +<p>Als der Tanz zu Ende war, brach lauter Jubel los, und die umstehenden +Bürger beteiligten sich ebenfalls wacker an dem Beifall.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span></p> + +<p>»Ein hübsches Paar, unsere Kinder,« flüsterte der Ratsherr Achtermann +dem Bergherrn Richerdes zu. »Wie geschaffen füreinander. Und zum +Sichfinden scheint es bei den beiden auch nicht mehr weit zu sein. +Sollen wir abwiegeln oder helfen, Nachbar?«</p> + +<p>»Es schlüge den Tatsachen ins Gesicht, wollte ich Euch widersprechen, +Ratsherr, und dazu bin ich als Vater nicht bescheiden genug. Gewiß, +ein stattliches Paar, und was das andere anbetrifft, so wird unsere +Zustimmung den beiden sicher nicht ungelegen kommen. Aber da ist noch +manches zu reden.«</p> + +<p>»Gewiß,« fiel ihm Achtermann in die Rede, »doch ich hoffe, daß sich's +ausgleichen läßt.«</p> + +<p>»Nachbar,« sagte darauf Richerdes nicht ohne Ernst, »die Aufnahme +meiner Tochter in Eurem Hause ehrt mich. Aber auf eins laßt mich mit +allem Nachdruck hinweisen. Ihr seid reich, ich demgegenüber kaum +wohlhabend. Ich will nicht, daß meiner einzigen Tochter später aus +diesem Mißverhältnis Ärger erwächst. Könnt Ihr mir das versprechen, so +mag die Sache ihren Lauf haben.«</p> + +<p>»Ihr sprecht wie ein Mann, Richerdes, das ehrt Euch. Aber Ihr schickt +Eure Tochter ja nicht mit leeren Händen. Wäre Venne arm, so würde +ich aus demselben Grunde der Heirat widerraten; denn ist es schon +bedenklich, wenn ein reiches Mädchen einen armen Schlucker freit, so +taugt es niemalen und nimmer, wenn die Braut als Jungfer Habenichts +einem reichen Mann die Hand reicht. Darüber seid also beruhigt. Könntet +Ihr mich nur auch in diesem Augenblick befriedigen betreffs Eurer +Gruben.«</p> + +<p>»Ich habe mir auch die Sache inzwischen durch den Kopf gehen lassen«, +sagte Richerdes, »und finde, daß Ihr vielleicht<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> nicht unrecht habt. +Doch da ist noch manches Beding zu erfüllen.«</p> + +<p>»Das ist vortrefflich, Nachbar, das freut mich,« antwortete Achtermann, +»das Weitere überlaßt nur mir. Sind wir über die Hauptsache im reinen, +werden wir über Kleinigkeiten nicht stolpern. Nun aber kommt, hier ist +unsere Arbeit getan. Wir wollen dem einen wie dem anderen einen edlen +Trunk weihen. Seid mein Gast, Schwäher.«</p> + +<p>Sie traten in das Zelt Achtermanns ein, und bald saßen sie hinter dem +Becher mit funkelndem Wein und pflegten freundschaftliche Zwiesprache.</p> + +<p>Auf dem Platze gingen die Reigen zu Ende. Noch war die Königin des +Festes zu küren. Es gab kein langes Beraten unter den Richtern, wem sie +den Preis zuerkennen sollten.</p> + +<p>»Venne Richerdes ist die Schönste, Venne Richerdes soll Maienkönigin +sein!«</p> + +<p>Ein Jubel ohnegleichen erhob sich bei diesem Urteilsspruch. Freudig +umdrängten sie die Freundinnen. Nur wenige standen mit einer Regung +des Neides beiseite. Zu ihnen gehörte auch Alheid Karsten, die Tochter +des Bürgermeisters. Nicht neidete sie Venne, daß sie die Schönste sein +sollte; auch sie hätte ihr den Preis zuerkannt. Aber alles vereinte +sich, um jene begehrenswert zu machen in den Augen der Männer, und +dieses Lob heute trug noch mehr dazu bei, den von ihr heimlich +Geliebten, Heinrich Achtermann, an sie zu ketten.</p> + +<p>In lieblicher Verwirrung hielt Venne dem Ansturm der Jünglinge und +Freundinnen stand. Heinrich Achtermann trat als letzter zu ihr heran.</p> + +<p>»Nun, Königin, seid Ihr zufrieden? Die Herrscherin seid Ihr im Reiche +der Schönheit, die Gebieterin im Bereiche<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> der Grazie und Anmut. Nun +werdet Ihr's glauben müssen, und nun begehre ich mein Recht.«</p> + +<p>Venne tat überrascht. »Euer Recht? Wofür?«</p> + +<p>»Muß ich Euch mahnen an den Abend im neuen Turm am Rosentore? Da wurde +es abgemacht und von Euch zugestanden; würde das Menuett von Euch +getanzt, gleich einer Pariserin, so sollte ich mir die Buße von Euren +Lippen holen.«</p> + +<p>»Aber ich bin der Ansicht, daß der Richter irrte und falsch urteilte«, +widersprach sie errötend.</p> + +<p>»Nicht auf Euch kommt es an, Venne, Euer Urteil ist befangen, Ihr seid +Partei; ich halte mich an den öffentlichen Spruch und begehre mein +Recht!« Er trat einen Schritt näher, als ob es ihm ankomme, schon jetzt +sich die Buße einzulösen. Erschrocken wehrte Venne ab. »Aber Ihr wollt +doch nicht hier vor allen Leuten ...«</p> + +<p>»Nein, Venne, holde Venne«, flüsterte er ihr mit heißem Blick zu. »Wenn +ich Deinen süßen Mund küsse, soll kein neidischer Lauscher zugegen +sein. Heute aber, heute abend noch wird's geschehen!«</p> + +<p>Erschauernd hörte Venne ihm zu. In seliger Ohnmacht ließ sie seine +Worte über sich ergehen. Ja, sie wußte es, heute abend würde sie die +Seine werden!</p> + +<p>Immer höher gingen die Wogen der Freude. In den Zelten herrschte +Bacchus unumschränkt; seine Jünger hatten ihm geopfert, daß die Köpfe +zu zerspringen drohten. Auch die Jugend war in einen wilden Rausch des +Weines und der Freude gesunken. Die Besonnenen mahnten zum Aufbruch, +und als die Schatten des Abends herabsanken, zog der lange Zug in die +Stadt zurück in toller, ungebändigter Lust.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span></p> + +<p>Venne ging versonnen und schweigsam neben Heinrich, die Brust +geschwellt von süßen Schauern. Es war schon dunkel, als die Trennung +von Freund und Freundin auf dem Marktplatz vor sich ging. Nun +schritten Venne und Heinrich still nebeneinander dahin. Kein Laut +störte die laue, wunderbare Nacht. Als sie aber das Dunkel der +Bulkengasse aufnahm, da riß Heinrich die Holde an sich und raubte ihr +hundertfältig, was ihm doch nur einmal zustand. Selig seufzend ergab +sich Venne dem Liebessturm.</p> + +<p>»Venne, meine einzige Königin, meine holde geliebte Venne!«</p> + +<p>Da durchbrach auch die Liebe bei ihr die lange gezogene und mühsam +gehaltene Schranke.</p> + +<p>»Geliebter, mich dürstet nach Deinen Küssen!«</p> + +<p>In einem süßen Taumel vergingen die Minuten. Endlich löste sich Venne +aus seinen Armen.</p> + +<p>»Wir müssen scheiden«, flüsterte sie, aber Heinrich widersprach +ungestüm. »Habe ich so lange gedarbt, um Dich nach einem Augenblick +schon wieder zu verlieren!« Da warf sie sich ihm in die Arme: +»Heinrich, mein Einziger, ich liebe Dich, liebe Dich mehr, als Du +ahnst. Aber schwöre mir in dieser seligen Stunde, daß Du mich nie +verlassen willst; es bräche mir das Herz!« Ein heißer Kuß war die +Antwort. »Du siehst die Sterne da oben am Himmelszelt; eher werden sie +aus ihrer ewigen Bahn gerissen, als die Liebe zu Dir aus meiner Brust.«</p> + +<p>Aber dann kam doch der Abschied. In einem langen Kuß trank ihre +Sehnsucht sich satt; Venne schlüpfte ins Haus. Zum ersten Male seit +langem eilte sie an der Kammer der Mutter vorbei, ohne ihr noch gute +Nacht zu wünschen; ihr Herz war zum Zerspringen voll von dem, was sie +erlebt.<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> Geräuschlos gewann sie ihr Stübchen. Doch eine wachte noch wie +immer im Hause und kam, um ihr beim Auskleiden zu helfen. Katharine war +es, die alte Magd, die sie als Kind schon gewartet hatte. Trotz des +Widerspruchs Vennes machte sie sich daran, die Bänder zu lösen und die +goldenen Schnallen der Schuhe zu öffnen. Versonnen lächelnd blickte +Venne in die Weite, die Hand auf das ungestüm pochende Herz gedrückt.</p> + +<p>»Du bist so seltsam heute«, unterbrach die alte Vertraute die Stille. +»Darf Deine alte Katharine nicht wissen, was Dich bewegt?«</p> + +<p>»Ach, Katharine, Du verstehst mich doch nicht, was soll ich Dir also +bekennen?«</p> + +<p>Da entgegnete die Alte unwillig: »Ich soll Dich nicht verstehen, da ich +doch Deine Regungen und Gefühle von Deinem ersten Tage an in Dir habe +entstehen und sich regen sehen? Meinst Du, ich bin blind? Also, hat er +endlich gesprochen, der Herr Heinrich?«</p> + +<p>Erschrocken blickte Venne sie an. »Aber woher weißt Du denn ...?« »Also +habe ich doch recht«, fuhr Katharine unbewegt fort. »Seine Wünsche +kenne ich von anderen, und was Du für ihn empfindest, war mir auch +längst bewußt. Aber er soll sich hüten,« fuhr sie fast drohend fort, +»sich Deiner unwert zu zeigen oder Dich zu kränken, dann komme ich über +ihn.« Lächelnd, voller Zuversicht wehrte Venne ab: »Wie kommst Du zu +solchem Argwohn, Katharine?«</p> + +<p>»Ich hatte einen bösen Traum. Aber es steht bei ihm, daß der Traum sich +nicht erfülle.« Damit verließ sie die Glückliche.</p><br> + +<div class="chapter"> +<hr class="r35"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span></p> +<h2 class="nobreak" id="Zweites_Buch">Zweites Buch</h2> +<hr class="r35"><br> +</div> + +<p class="drop">Vor den offenen Arkaden des <span class="antiqua">Collegio di Spagna</span> lösten sich die +Sänften und Karossen der Bologneser in ununterbrochener Folge ab und +entleerten sich ihres lebendigen Inhalts. Schöne Frauen schlüpften +heraus in kostbarsten, duftigen Gewändern, das liebliche Antlitz +den gaffenden Zuschauern unter einem leichten Schleier verbergend. +Würdenträger schritten die Stufen hinan in ihrer reichen Amtstracht. +Würdige Gelehrte, Geistliche im schlichten dunklen Gewande, kühn +blickende Jünglinge in der modischen Tracht der Zeit, sie alle hatten +dasselbe Ziel: die Festgemächer in dem spanischen Kollegium der +Universität, in denen heute, wie alljährlich, der neue Dekan seinen +Amtsantritt festlich beging.</p> + +<p>Im Empfangssaale, dessen kristallene Kronleuchter das Gold der Decke +wie das Marmorgetäfel der Wände widerspiegelten, wartete der Hausherr +mit seiner Familie der Gäste und begrüßte sie, je nach Rang und Stand, +mit besonderer Höflichkeit oder freundlicher Herablassung, aber immer +mit der unnachahmlichen Zuvorkommenheit und Würde, die dem Spanier vor +anderen eignet.</p> + +<p>Ein lebhaftes Stimmengewirr in vielen Sprachen durchzog bald den Raum, +gedämpft indes durch die Rücksicht, die man sich und den anderen +schuldete, um nicht als unhöflich aufzufallen.</p> + +<p>Das Festmahl, das in einem herrlich geschmückten, großen Saale vor sich +ging, sah alles vertreten, was die alte Stadt<span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span> an Anmut und Würde, +an Reichtum und Gelehrsamkeit in ihren Mauern barg. An der Tafel +wechselten die auserlesensten Gerichte, in den Kelchen funkelte edler +Wein.</p> + +<p>Wo die Jugend saß, ging die Unterhaltung am lebhaftesten vor sich. +Perlend flossen die Neckereien vom Munde der schönen Damen, mit +witziger Anmut übten die Herren die Gegenwehr aus. Ernster floß +der Rede Strom, wo Gelehrte über Fragen der Zeit das Wort führten. +Hier schwärmte ein Jünger im Apoll seiner Dame von der Schönheit +Petrarkischer Sonette vor, dort bewies ein Kriegsmann in glänzendem +Gewande, daß sein Beruf der allein des strebenden Menschen würdige sei.</p> + +<p>Gisela von Wendelin mit ihren Eltern zählte zu den Gästen. Ihr +Kavalier, der Sohn des Podesta, unterhielt sie lebhaft, aber sie +schenkte ihm nur zerstreut Gehör. Ihre Gedanken eilten über die Alpen +in die norddeutsche Stadt, wo der heimlich Geliebte, nie Vergessene nun +schon seit langem weilen mußte. Noch hatte sie kein Lebenszeichen von +ihm wieder erhalten. Und außerdem lastete es auf ihr wie ein Druck, +wie die Vorahnung kommenden Unheils, ohne daß sie sich Aufschluß über +ihre Gefühle zu geben vermochte. Ihre Blicke kreuzten sich mit dem des +Vaters, der ihr in einiger Entfernung gegenübersaß. Gütig lächelnd +nickte er ihr zu, da wuchs auch ihr wieder die Zuversicht.</p> + +<p>Die Freude des Abends stieg mit der Dauer des Festes; sie schimmerte +wieder in den glänzenden Augen der Damen, sie erklang aus den frohen +angeregten Gesprächen der Männer. Da ging noch ein letzter, einsamer +Gast in das Haus. Unhörbaren Schrittes und ungesehen schritt er an der +Reihe der Diener vorüber, ungesehen betrat er den Saal.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p> + +<p>Sein glühender Blick überflog die Gäste. Dann näherte er sich der +Festtafel. Hinter der schönsten der Damen hielt er an und beugte sich +zu ihr nieder. Sie erblich unter seinem Hauch, und der zarte Leib +erschauerte in Entsetzen. Und weiter ging der Gast. Dieses Mal war +ein würdiger Ritter sein Ziel. Der zuckte zusammen und griff nach dem +Herzen, aber er behielt sein Geheimnis für sich. Und weiter schritt der +Unheimliche und beugte sich hier und beugte sich da. Und wo immer sein +Hauch das Antlitz eines Gastes streifte, da erblichen die Wangen und +erlosch die Freude. Und dann ging der Fremde davon, wie er gekommen, +ungesehen und ungehört von den Dienern und nicht erkannt von der Menge +der Gaffer. Das Fest aber wurde abgebrochen, weil, unbegreiflich +und unerklärlich, ein Unwohlsein die Gäste befiel, die der Fremde +gezeichnet. Am nächsten Tage schon in der Frühe, da wisperte es in der +Stadt und raunte und ging in laute Wehklagen über: »Der Schwarze Tod +ist da, die Pest ist in der Stadt!«</p> + +<p>Wir nüchternen und klugen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts wissen, +wo diese Geißel des Menschengeschlechts ihre Heimat hat, wenn wir ihrer +auch noch nicht Herr geworden sind. Zwischen dem Tianschan-Gebirge +und dem Altai, im fernen Asien, im Osten auf das Sandmeer der Wüste +Gobi blickend, im Westen auf die Kirgisensteppe herabschauend, erhebt +sich der Tarbagatai, das Murmeltiergebirge, nach dem Tarbagan, dem +Murmeltier, benannt. Dieses Tierchen, das zu Millionen dort haust, ist +der Träger des Pestkeimes. Und wenn es selbst dieser Seuche erlegen, +wirkt noch sein kleiner Leichnam als Überträger an allem, was in seine +Nähe kommt, Tier und Mensch. Die Menschen fliehen aus ihren Siedlungen +und tragen den Krankheitsstoff<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> zu ihren Nachbarn. Und alles muß der +Schrecklichen dienen, was Bewegung hat, Wind und Wasser, um ihre +Herrschaft auszubreiten.</p> + +<p>Unsere Vorfahren standen dem furchtbaren Würger in ohmächtigem Grausen +und Entsetzen gegenüber; nichts anderes wußten sie ihr entgegenzusetzen +als dumpfe Verzweiflung, wildes Wehklagen, brünstige Frömmigkeit oder +tierische Lust. Wehe dem Ort, den diese Geißel überfallen, wehe der +Stadt, in deren enge Gassen und dumpfe Häuser sie Einkehr hielt.</p> + +<p>Sie kam nicht ohne Vorzeichen, so wußte es das Volk: Geflügelte Rosse +am nächtlichen Himmel, mit seltsamen Reitern auf ihren Rücken, zogen +unter Horrido mit der Meute auf den Wolken dahin. Öffnete man einen +Rosenapfel, so entwich daraus wohl eine winzige Spinne. Dann war die +Pest nahe. Sie wurde von Teufeln und bösen Geistern in die Brunnen +gepflanzt; auch schlimme Menschen, Hirten, Hexen, Zigeuner und Juden +vergifteten das Wasser.</p> + +<p>Man suchte sie abzuwehren durch verdoppelte Frömmigkeit, Fürbitten der +Heiligen und Wallfahrten. Aber eines guten Tages war der unheimliche +Gast da. Wer es konnte, floh von der Stätte, wo sie einbrach, doch er +war seines Lebens darum nicht viel sicherer; denn die anderen draußen +erschlugen ihn, wenn sie erfuhren, daß er aus einem verseuchten Orte +kam, um mit dem Träger die Krankheit am Vordringen zu hindern.</p> + +<p>Wehe, dreimal wehe aber den Kranken selbst und den Häusern, in die der +Schwarze Tod Einzug gehalten! Sie wurden gezeichnet, versperrt, daß +niemand hinaus oder herein könne. Der Kranke mit seinen Angehörigen war +von aller Welt abgeschlossen, und sie konnten verhungern, wenn<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> sich +nicht eine barmherzige Seele fand, die ihnen heimlich Nahrung zutrug.</p> + +<p>In Bologna wütete die Seuche wie nie zuvor. Anfangs kündeten noch die +Glocken, daß wieder ein Bewohner der Stadt ihr zum Opfer gefallen sei; +aber dann schwiegen auch sie, denn ihr klagendes Gewimmer hätte sonst +den Tag und die Nacht durchgellt. Die Stadt war tot. Vermummte Träger +durchzogen mit Bahren und Karren die Straßen und lasen die Toten auf, +die aus den Fenstern gestürzt wurden. Es lag auch wohl einmal einer +unter ihnen, aus dem noch nicht alles Leben entflohen war: sie achteten +des nicht, wer auf den Bahren und Karren lag, wanderte auch in die +großen, mit Kalk gefüllten Gruben vor den Toren.</p> + +<p>Die Pest, die wie ein hungriges Raubtier sich auf die unglückliche +Stadt gestürzt hatte, zog nach Monden wie ein satter Gläubiger davon, +der dem armen Schelm den Rest der Schuld stundet, bis es ihn gelüstet, +wiederzukehren, um sich auch das Letzte als verfallenes Pfand zu +holen. Verödet lagen die Häuser, verlassen die Straßen. Familien waren +ausgetilgt, Geschlechter erloschen. Noch wich der Nachbar dem Nachbarn +aus, wenn er ihn von fern sah. Aber leise, leise regte sich doch die +Hoffnung, daß der Würger gegangen, und langsam keimte die Freude, daß +der eigene Leib nicht von der Geißel geschlagen sei.</p> + +<p>Giselas Vater war einer der ersten gewesen, welche dem grausigen Gaste +auf seinen Wink folgten. Wenn das Wort nicht trügt, daß die Ängstlichen +der Krankheit am ersten verfallen, so bewahrheitete es sich auch an der +Mutter. Scheu hielt sie sich von dem einst so sehr geliebten Gatten +fern, und laut ertönte ihr Jammern, als die ersten Anzeichen der Seuche +sich auch bei ihr zeigten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span></p> + +<p>»Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!« so gellte ihr +klagender Ruf durch das Haus. Aber vergeblich erklang ihr Flehen und +Wimmern, auch sie trugen die schwarzen Männer nach einigen Tagen davon.</p> + +<p>Nun war Gisela ganz allein in dem großen, leeren Hause. Sie hatte den +Vater gepflegt, und sein letzter, dankbarer und trauriger Blick galt +der treuen Tochter. Sie wich auch nicht vom Lager der Mutter, bis diese +die Augen schloß. Unheimlich war es in dem öden Hause. Die Diener +geflohen, die Mägde gestorben oder davongelaufen. Sie wäre verhungert, +hätte ihr nicht eine fromme Frau aus dem Kloster der Ursulinen, +erwiesener Guttaten eingedenk, heimlich Nahrung gebracht. Als die +Sperre von den Häusern genommen wurde, als die Tore sich öffneten, da +fand sie sich als eine einsame Waise unter Fremden; die Befreundeten +und Verwandten tot, die Bekannten, soweit sie lebten, an fernen Orten. +Hilflos, einsam wohnte sie im Hause der Eltern und hätte des Trostes +mitleidiger Menschen doch so sehr bedurft.</p> + +<p>Was hielt sie noch in dieser Stadt, die ihr fremd geworden, wo die +gespenstig leeren Häuser und Straßen ständig an das Unglück gemahnten, +das sie betroffen? — Da stieg die Sehnsucht in ihr auf nach dem fernen +Deutschland, nach der liebevollen Base und die Erinnerung an den Mann +im selben Lande, dem ihr Herz noch in gleicher Liebe entgegenschlug wie +einst. Und sie faßte den Plan, der Freundin zu schreiben, sie um Obdach +zu bitten, und so kam dieser Plan zur Ausführung.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Nachdem das Gebirge die Oker aus der engen Haft entlassen hat, in der +sie sich, vom Bruchberge herabhüpfend, zwischen steilen Bergen und jäh +abstürzenden Felswänden dahinwand, lacht bei dem rauchigen Hüttenort +Oker die Freiheit. Fröhlich eilt sie in die lockende Weite, und über +dem Staunen ob der neuen, fremden Welt, entgleitet ihr alles, was sie +tändelnd und spielend an sich hielt, glattrunde Kiesel und feinkörniger +Kies. Denn die Wasserfrauen haben ihr ins Ohr geraunt, da draußen, +unter den Menschen, müsse man sich ehrbar und gesittet benehmen, wolle +man Achtung genießen.</p> + +<p>So wird aus dem wilden Gebirgskinde ein ruhig dahinziehendes Wasser. +Aber hat es die Wildheit abgetan, so ist ihm dafür die Eitelkeit in +die Glieder gefahren. Kokett sich drehend und windend, als wolle es +mit eigenen Augen die rückwegige Schönheit bewundern, durchmißt es das +Stück von Börßum bis nordwärts Braunschweig. So geht der Weg dahin +zwischen flachbordigen Talwangen, bis es weiter nordwärts in die Heide +kommt und nun sich vollends den Erwachsenen zurechnet. Unter dem +ernsten Heidevolke ist auch die Oker ein stilles, ernstes Gewässer +geworden.</p> + +<p>Doch bevor sie das beschauliche Dasein eines besinnlich und bedächtig +seines Weges schreitenden Alten erreichte, hatte sie schon zu jener +Zeit nützliche Arbeit unter den Augen der Menschen zu leisten. Vor der +Festung Wolfenbüttel wurde sie in viele Arme zerteilt, die das Schloß +der braunschweigischen<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> Herzöge, wie die Festung selbst mit einem +schützenden Wassergraben umzogen oder in der Stadt die Mühlen trieben.</p> + +<p>Gleiche Dienste fielen ihr auch in der einige Wegstunden nordwärts +gelegenen Stadt Braunschweig zu. Suchte sich der Herzog gegen Angriffe +von seinesgleichen zu schützen, so trieb die Braunschweiger bei der +Sicherung ihrer Stadt, je länger, desto ausgesprochener, der Wille und +Wunsch, dem eigenen Landesherrn Trutz bieten zu können. Wenn der Welfe +auf die Höhe des Lechelnholzes ritt, eine halbe Stunde nordwärts seines +eigenen Schlosses, konnte er den Turm von St. Andreas in die Lüfte +ragen und die Stümpfe des Domes Sankt Blasius, wie das Heer der anderen +Kirchen sich erheben sehen. Dann wallte wohl in ihm der Groll auf über +die ungehorsame Tochter, die sich ihm verschloß und seine Gesandten +abschlägig beschied auf sein an den Rat gerichtetes Ansinnen oder sie +gar mit höhnischer Antwort heimschickte.</p> + +<p>Und dabei mußte er seinen Zorn in sich hineinwürgen, denn es gab +kein Mittel, um die Widerspenstige zu zähmen oder zu überwinden, im +Gegenteil, die Erfüllung dieses Wunsches rückte in immer größere +Fernen, je mehr die Macht der Stadt stieg. Übel lohnte sie es den +Nachfolgern Heinrichs des Löwen, der ihr die erste Befestigung gegeben +und den prächtigen Dom errichtet hatte, so mochte der Nachfolger selbst +urteilen.</p> + +<p>Aus der kleinen Siedlung, die der Herzog Bruno zur Zeit der +Karolinger gegründet haben sollte, war ein mächtiges und volkreiches +Menschenzentrum geworden. Die große Heerstraße, die nördlich des Harzes +und hart am Südrande der menschenleeren, unwirtlichen Lüneburger +Heide<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> das Deutsche Reich von Westen nach Osten durchzog, wie die Wege +nordwärts zu den Handelsplätzen der Nord- und Ostsee schrieben ihr die +Rolle vor, die sie zu spielen berufen war. Der Anschluß an die Hansa, +deren Quartierstadt im niedersächsischen Kreise sie bald wurde, hob ihr +Ansehen und ihre Schönheit.</p> + +<p>Mit Goslar, zu dem es viele Handelsbeziehungen unterhielt, verbanden es +freundnachbarliche Bande, die um so enger wurden, je mehr der Ärger des +Herzogs auf sie selbst und sein Neid auf die reiche Stadt am Harz, ihr +Bergwerk und ihre Forsten offenbar wurde und gleiche Gefahr für beide +kündete.</p> + +<p>Der Reichtum seiner Bürger war fast sprichwörtlich geworden, und sie +steuerten davon gern und willig nach den Schatzungen ihres Rates, um +die Selbständigkeit der Stadt zu sichern. Wohl ausgestattete Arsenale, +eine stattliche Zahl von Söldnern unter kriegserprobten Offizieren, +denen im Falle der Not die wehrhafte Bürgerschaft sich noch zugesellte, +hatte sie befähigt, den Herzögen auch im offenen Felde mehr als einmal +standzuhalten.</p> + +<p>Groß war die Zahl seiner Einwohner, zu groß fast für die Enge der +Mauern und die Erwerbsmöglichkeit. Daher zogen viele seiner Söhne +hinaus in die Fremde, um als tapfere Landsknechte Beute und Reichtümer +zu erwerben. Ganze Fähnlein marschierten aus den Toren, unter +heimischen Hauptleuten. Viele gingen in den Wirren und Kämpfen auf den +Kriegsschauplätzen in aller Herren Länder zugrunde. Manche kehrten +zurück nach einem Leben der Wanderung und Mühsal, um in der Heimat, +fern dem Kampfeslärm, ihre Wunden zu heilen und der Ruhe zu pflegen; +wenige nur unter ihnen sahen ihre Träume erfüllt.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p> + +<p>Von den Offizieren stieg mancher zu hohem Ansehen. Der Name +›Braunschweigischer Hauptmann‹ hatte draußen einen guten Klang. Mehr +als einer von ihnen führte ein Regiment oder war gar zum General +aufgerückt. Verschlang sie nicht der Krieg, so kehrten sie wohl zuletzt +auch in die Heimatstadt zurück, um in behaglicher Ruhe von erkämpften +Siegen und gewonnenem Ruhm zu träumen. Zu ihnen gehörte auch der Obrist +von Walldorf, dessen Damen in Bologna den neugebackenen Doktor juris +Johannes Hardt von dem Hause Wendelin Abschied nehmen sahen.</p> + +<p>Die Walldorfs wohnten in einem behaglichen Patrizierhause an der +Echternstraße. Die Wallfahrt nach Rom hatte gute Dienste getan, und +Glück und Zufriedenheit herrschten in dem gastlichen Hause. Johannes +hatte einmal bei ihnen vorgesprochen. Er war schon seit Jahresfrist +in den Dienst seiner Stadt getreten, und der Rat schickte ihn, in +Erinnerung seiner bewiesenen Zuverlässigkeit, mit einem wichtigen +Schreiben an die Braunschweiger dorthin.</p> + +<p>Wenn Johannes gehofft hatte, bei dieser Gelegenheit etwas von Gisela zu +hören, so sah er sich in dieser Erwartung getäuscht, denn es war noch +kein Lebenszeichen von den Wendelins über die Alpen gekommen, seit die +Damen zurückkehrten.</p> + +<p>Trauer bemächtigte sich seiner, wenn er sah, wie die Erfüllung seiner +Hoffnungen in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt blieb, während +alle diejenigen daheim, denen er nahestand, dem Ziele ihrer Wünsche +nahegekommen oder es erreicht hatten. Venne Richerdes war dem Heinrich +Achtermann verlobt, und es schien nur noch eine Frage von kurzer Zeit, +daß die Hand des Priesters sie zusammengab. Erdwin Scheffer hatte seine +Monika heimgeführt und war<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> wohlbestellter Weibel des Rates. Wenn +die Zeit es erlaubte und die Gäste im ›Goldenen Adler‹ sie nicht zu +sehr in Anspruch nahmen, schlüpfte Immecke Rosenhagen in die Wohnung +des jungen Paares, um sich des Glücks ihrer Kinder zu freuen und das +kleine Großtöchterchen auf ihren Armen zu wiegen, das das leibhafte +Ebenbild ihrer Monika zu werden versprach. Allen hatte das Glück +seine Tore geöffnet, nur ihm blieben sie verschlossen. Traurig und +niedergeschlagen kehrte Johannes nach Goslar zurück.</p> + +<p>Wenige Wochen darauf traf in Braunschweig der Brief Giselas mit der +erschütternden Kunde des Todes ihrer Eltern ein. Die Antwort, daß sie +bei den Walldorfs herzlich willkommen sei, ging sogleich nach Bologna +ab, aber es verlief doch der Winter, ehe sie selbst ankam.</p> + +<p>Richenza hielt es für selbstverständlich, an Johannes Hardt sogleich +Nachricht von der bevorstehenden Ankunft der Geliebten gelangen zu +lassen. Aber hieß es für ihn sich in Geduld fassen, bis der hoffentlich +nicht ferne Tag gekommen, wo er sie selbst von Angesicht zu Angesicht +schauen würde. Als dann der Ruf der Freundin kam, fand er ihn voller +Ungeduld. Dieses Mal wartete er keinen besonderen Auftrag des +Hochmögenden Rates ab, sondern er brach nach Braunschweig auf, sobald +es sich einrichten ließ. Bevor er abreiste, sprach er mit den Eltern +über seine Pläne und Wünsche.</p> + +<p>Des Vaters Absichten gingen andere Wege. Er hätte es lieber gesehen, +daß der Sohn eine Einheimische freite, aus alter Familie, deren Einfluß +und Ansehen dem Sohn gewiß auch für seine weitere Laufbahn förderlich +gewesen wäre. Aber sein Zureden scheiterte an der Entschlossenheit des +Sohnes, der erklärte, daß er Gisela zum Weibe wolle oder<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> gar keine. +Mit einem Seufzer gab jener zuletzt nach. Ob er einen besonderen Wunsch +dabei zu Grabe trug, blieb Johannes verborgen.</p> + +<p>Noch war er freilich auch der Zusage Giselas selbst nicht sicher. +Wenn er aber des Abschieds in Bologna gedachte, schwanden alle +Zweifel. Zu offen hatte ihr Herz ihm damals entgegengeschlagen, und er +durfte hoffen, daß kein anderer inzwischen von ihm Besitz ergriffen +hatte, sonst hätte sie wohl kaum den Weg nach dem fernen Deutschland +eingeschlagen.</p> + +<p>Die Brust geschwellt von seliger Erwartung und im Herzen tiefes Mitleid +mit der vom Schicksal so Schwergeprüften, brach er nach der alten Stadt +an der Oker auf.</p> + +<p>Johannes war erschüttert, als er der Geliebten zuerst entgegentrat: +Was hatte die Zeit aus dem lebensfrohen, lieblichen Geschöpf gemacht, +das er vor einigen Jahren in Bologna verließ? Ein blasses Gesichtchen, +aus dem die dunkeln Augen von tiefen Schatten umlagert, Mitleid +heischend und hilfesuchend ihn anblickten, tauchte vor ihm auf. Als +sie den Langersehnten, immer Geliebten vor sich sah, den Zeugen ihrer +glücklichen Jugend im trauten Familienkreise, kamen ihr die Tränen aufs +neue. Ein stilles Schluchzen erschütterte ihren zarten Körper. Johannes +trat zu ihr und ergriff stumm ihre Hände. Aber als sie allein waren, da +fanden sie Worte. Vor ihm entrollte sich das furchtbare Bild der Seuche +in Bologna, und er vernahm aus ihrem Munde, wie grausig das Ende ihrer +Eltern gewesen war. Da hielt er nicht länger an sich. Sanft zog er sie +an sein Herz und träufelte ihr süßen Trost in die schmerzerfüllte Brust.</p> + +<p>»Habe Vertrauen zu mir, Geliebte. Unter meinem Schutz<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> wirst Du +vergessen lernen, und die Vergangenheit liegt bald wie ein böser +Traum hinter Dir. Mein Mütterchen wird Dich an ihr Herz schließen als +zweite Tochter, und in der Schwester gebe ich Dir eine Freundin, die +mir beistehen wird, den letzten Gram in Deiner Brust zu tilgen.« Da +lächelte sie ihn unter Tränen an. Doppelt liebreizend war sie in ihrer +rührenden Hilflosigkeit. Aber eine leise Röte der Zuversicht und Freude +stieg in die blassen Wangen.</p> + +<p>»Oh, wie danke ich dem Himmel, daß er Dich mir schenkte. Ich weiß +nicht, wie ich die furchtbare Bürde allein weiter hätte tragen sollen. +Habe Dank mein einzig Geliebter, habe Dank!«</p> + +<p>Innig drückte sie sich an ihn, und Johannes besiegelte seine Schwüre +mit einem heißen Kuß.</p> + +<p>Diesmal war der Abschied für ihn nicht so schwer. Er ließ die Geliebte +in treuer Hut zurück. Es galt nur noch, das Nest zu bereiten für ihr +Glück. Bald, so hoffte er und vertraute sie, hatte auch für sie die +Zeit der Trennung ein Ende für immer.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Neben den Beziehungen freundschaftlicher und politischer Art, die +zwischen den Städten Braunschweig und Goslar bestanden, liefen Fäden +hin und her vom Schlosse des Welfenherzogs zu Wolfenbüttel nach der +alten Reichsstadt am Fuße des Rammelsberges, von denen der Rat nichts +wußte oder die doch so geheim gesponnen wurden, daß er sie nicht +zerschneiden konnte. Nach Wolfenbüttel und noch nach einer anderen +Stätte hin reichten sie, die wiederum nur dem Herzog und seinem +Vertrauten und einigen wenigen bekannt waren. Die aber hüteten sich +weislich, mit ihrer Kenntnis hervorzutreten; denn es wäre ihnen nicht +nur eine angenehm fließende Geldquelle dadurch verschüttet worden, +sondern sie hätten sich auch der Gefahr ausgesetzt, daß sich Meister +Rotmantel ihrer annahm, der in jener Zeit, wie seine Berufsgenossen +andernorts, in Goslar sein gutgehendes Geschäft ausübte, darin +bestehend, daß er die Neugier eines wohlweisen Rates über ihre +Tätigkeit in Gegenwart von den Bevollmächtigten des Rats zu befriedigen +suchte, wobei er nur durch freundliches, aber dringendes Zureden zur +Antwort mahnte.</p> + +<p>Es gab da allerhand Mittel und Mittelchen, um auch die Schweigsamsten +zum Reden zu bringen, von den Daumenschrauben bis zum Strecken des +Körpers, wobei die Glieder allerdings aus ihren Gelenken gerissen +wurden. Und half das noch nichts, so griff man noch zu gröberen +Mitteln, die wir auszuführen Bedenken tragen, um nicht die nächtlichen<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> +Träume leicht erregbarer Leserinnen mit allerhand fragwürdigen +Gestalten zu erfüllen.</p> + +<p>Im übrigen ging alles nach einer peinlich festgesetzten Ordnung, auch +das Bezahlen. Der Henker wußte genau, was er nach getaner Arbeit vom +Säckelmeister eines Hochmögendes Rates zu erwarten hatte oder was er, +nachdem das Erforderliche der Frau Eheliebsten abgeliefert war, in der +Herberge oder im Ratskeller aus dem angeketteten Becher sich zugute tun +durfte.</p> + +<p>Zu solchen Personen, welche ihre Tätigkeit vor der Neugier des Rates +ängstlich verbargen, gehörte zum Beispiel die Gittermannsche aus der +Dröwekenstraße, wie ihr Vetter, der Schäfer Hennecke Rennenstich, der +»Up den Ymminghove« Wohnung und Beschäftigung fand.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Von dem Nordabhang des Lindthalskopfes, der seine steile Stirnseite +dem tiefen Graben des Innerstetales zukehrt, hüpft eilenden Laufes der +Steimkerbach herab. Die Sonne bekommt dieser muntere Geselle erst zu +sehen, wenn er den Gebirgswald verläßt; denn bis dahin überschatten +ernste Tannen und laubdunkle Buchen und Eschen sein schmales +Bett. Verträumt blinzelt er auf und eilt dann, im vollen Lichte +des Tagesgestirns und doch ungesehen, unter Lattich und hängenden +Weidenbüschen durch die Wiesen dahin, bis unfern des Dorfes Lutter am +Barenberge er sich der Neile vermählt.</p> + +<p>Frei geboren und frei geblieben bis zu der Stelle, wo er seinen Lauf +beendet, darf das Wässerchen von sich rühmen;<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> denn des Menschen Hand +hat ihm kein Joch auferlegt. Dasselbe gilt auch von dem Dolgerbach, der +in kurzem Lauf mit dem Kiefbach zusammen den Steimkerbach aufsucht. +Aber der Dolgerbach war nicht immer frei. Vor Jahrhunderten, als noch +das Dorf Dolgen stand, mußte er eine Mühle treiben, die unweit des +Dorfes gelegen war.</p> + +<p>Damals war das Tal des Steimkerbaches noch düsterer und finsterer als +heute. Urwaldartig deckte der Wald die Hänge und die Talsohle, und den +Eingang am Waldessaum versperrte dichtes Gestrüpp. Nur der Hirsch, +der zur Tränke zog, und der Eber, der in seinem Sumpf suhlte, störten +die Stille, welche das Tal füllte. Menschen verirrten sich nicht +dorthin, und selbst der herzogliche Jäger, der im Dorf Dolgen hauste, +mied die Stätte, denn es war dort nach seinen eigenen Wahrnehmungen +nicht geheuer. Wer Mut besaß, die Geister zu bestehen, die dort ihren +Spuk treiben sollten, der fand an diesem Tal eine Stätte, in die ihm +keines Fremden Neugier folgte. Und es gab solche Männer, die einen +Unterschlupf fanden, wenn ihnen der Boden draußen in der Ebene zu heiß +wurde, wilde Gestalten, denen das Wasser ein Feind und der Bartscherer +eine unbekannte Größe waren.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Man mußte wohl eine Stunde weit das Tal hinaufdringen und durfte ein +zerschundenes Gesicht nicht scheuen, wollte man an das seltsame Heim +dieser Menschen gelangen. Aber dann war man auch überrascht über das, +was die Wildnis bot. Unter einem überhängenden Felsen, etwas abgekehrt +vom Bache, erhob sich eine feste Hütte, aus Stämmen roh aufgeführt, die +Fugen mit Moos verstopft.</p> + +<p>Kleine Öffnungen, die verschlossen werden konnten, ließen<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> etwas +Helligkeit in das Innere, aber man war unabhängig davon: Fackeln +und Kerzen ersetzten das Tageslicht, und wenn man nicht allzu große +Ansprüche stellte, konnte man es sogar wohnlich drinnen finden. Die +Wände waren mit Teppichen verhängt; mit Teppichen verschloß man auch +die Fensteröffnungen im Winter, noch hinter den vorgelegten Läden, um +die kalte Luft abzuwehren. An den Seiten liefen Bänke entlang, vor +denen festgefügte Tische standen. Ebenso rohgezimmerte Holzschemel +vervollständigten die Inneneinrichtung, abgesehen von einem offenen +Herde, in dessen Nähe eisernes Kochgeschirr, Bratpfannen und irdene +Näpfe verrieten, daß man ihn zu benutzen verstehe.</p> + +<p>Der Rauch suchte sich einen Ausweg nach oben, wo und wie es ihm +gefiel. Freiheit zu tun und zu lassen, was dem einzelnen beliebte, +war überhaupt oberster Grundsatz in dieser Behausung. Wer schlafen +wollte, erhob sich vom Tisch und suchte sein Lager auf Heu und Decken, +wo es ihm gefiel und wo ein Platz sich bot. Nur ein kleiner Verschlag +blieb davon ausgenommen, wo die Hausfrau ihr Lager aufschlug. Diesen +Raum wagte ohne besondere Erlaubnis keiner der Gesellen zu betreten, +denn die Eigentümerin war eine Respektsperson, selbst für diese wilden +Männer.</p> + +<p>Ein seltsames Frauenzimmer, das mit ihnen hier in der Wildnis +wirtschaftete. Mit Schönheit war die Frau nicht überladen. Aus +verrunzeltem Gesicht blickten schwarze, scharfspähende Augen den +Besucher an. Die beiden gelben langen Eckzähne, die ihr von dem +einstmaligen Reichtum geblieben, trugen auch nicht gerade zur Erhöhung +ihrer äußeren Reize bei.</p> + +<p>Hätte sie unter Menschen gelebt in einer Stadt, so wäre sie durch den +Leumund der lieben Nächsten gewiß schon der<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> Hexerei geziehen und dem +hochnotpeinlichen Gericht wie dem Henker vorgeführt worden. Danach +trug sie aber kein Verlangen, denn sie war Meister Rotmantel schon +einmal überantwortet gewesen. Damals hatte man ihr allerlei Untugenden +vorgehalten, wie zum Exempel, daß sie es mit der Ehrbarkeit nicht allzu +genau nehme; sie war gestäupt und gebrannt worden, und man entließ sie +mit der ernstlichen Vermahnung, immer eine gewisse Entfernung zwischen +sich und der Stadt zu beobachten.</p> + +<p>Diesen Rat befolgte Luke Meyse ehrlich, denn ihr lag wenig daran, sich +bei Meister Rotmantel und seinen Knechten noch einmal in Behandlung zu +geben.</p> + +<p>Luke Meyse war wirklich einmal schön gewesen, sehr schön sogar, aber +die Schönheit wurde ihr zum Verderben. Sie stieg ihr so sehr zu Kopfe, +daß sie, ehrlicher, einfacher Leute Kind, meinte, sie sei zu etwas +Höherem geboren, als des Nachbars Sohn Tyle zu freien. Es kam auch +ein Höherer und nahm sich ihrer Schönheit an, ein richtiger Edelmann. +Aber als er sie genossen hatte, warf er sie beiseite. Nun war sie auch +Tyle nicht mehr schön genug, und sie ging mit ihrer Schande auf und +davon. Es fanden sich auch nachher noch Männer, denen die Reste ihrer +Schönheit zusagten, doch sie sank dabei immer mehr, bis der Henker ihr +das Mal aufbrannte.</p> + +<p>Nun lebte sie schon seit vielen Jahren in dieser Wildnis, und ihre +Gesellschaft waren Gesellen, die vor einer Berührung mit den Behörden +oder mit Meister Rotmantel nicht minder bescheiden zurückwichen. +Ihre Zahl schwankte je nach der Jahreszeit und ihren »Geschäften«. +Nur selten erlitt sie auch eine plötzliche Einbuße, weil einem +ihrer Genossen bei seinen »Geschäften« ein Stück Blei zwischen die<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> +Rippen gefahren war oder er seine Widerstandsfähigkeit gegen einen +Hieb mit Schwert oder Hellebarde überschätzt hatte. Dann blieb sein +Platz unbesetzt, oder ein anderer rückte an seine Stelle. Lange +Gedächtnisreden wurden nicht gehalten. Ein Fluch über das Mißgeschick, +und die Sache war abgetan. Kehrte einer oder der andere mit einer Wunde +zurück oder litt er sonst an einer Gebreste, so brachte ihn Luke wieder +zuwege.</p> + +<p>Langeweile litt Luke Meyse nicht; denn einer oder der andere der +Gesellschaft war immer anwesend, mindestens der einarmige Brand +Cramer, dem sie bei einem Zusammentreffen mit Bauern dieses wertvolle +Körperglied zerschmettert hatten. Er war Schaffner des Hauses und +Stallmeister in einer Person. Denn auch Pferde fanden in einem an den +Felsen gelehnten Schuppen Unterkunft.</p> + +<p>Und dann gab es da noch ein junges Ding, Ylsebe genannt. Wie sie sonst +noch hieß, wußte niemand. Man hatte sie an der Straße aufgelesen, +wo sie neben der erschlagenen Mutter jämmerlich schrie. Sie war der +Liebling Luke Meyses und der Verzug der ganzen Bande. Wild und lustig, +mit krausem Haar und schwarzfunkelnden Augen, bildete sie das belebende +Element der Hütte. Übergriffe gegen sie wußte Luke kurz und bündig +abzuweisen. Wurde es Ylsebe zu langweilig im Steimkerbachtale, dann +eilte sie wohl auf einen Sprung und einige Stunden nach der Dolgermühle +zu ihrer Freundin, der roten Aleke Swarte, des Müllers Tochter, die ihr +an Wesen gleichkam.</p> + +<p>In der Dolgermühle traf sie sicher auch noch andere lustige +Gesellschaft, denn dort fand sich auch gemeinlich allerlei Volk +zusammen, ähnlich dem im Tale des Steimkerbaches. Die Mühle war +verwahrlost, die Bauern gingen<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> mit ihrem Korn lieber zur entfernten +Pöbbeckenmühle, wo sie schneller und redlicher bedient wurden. Der +Müller zürnte ihnen deshalb nicht allzu sehr, denn an der Ausübung +seines Handwerks lag ihm wenig: Wozu sollte er die Mahlgänge bedienen, +nachts den Schlaf versäumen, wenn er auf andere Weise bequemer und +lustiger zu Gelde kam? Denn lustig ging es her bei ihm bei Essen und +Zechen und Würfeln. Die Besucher ließen sich nicht lumpen für die +schönen Sachen, die ihnen des Müllers Weib briet oder der Müller selbst +aus dem versteckten Keller hinter der Scheune vorsetzte. Aber das waren +nur die Nebeneinnahmen.</p> + +<p>Den Hauptteil warfen die »Geschäfte« ab, die mit den Besuchern von +ihm als vollgültigem Partner abgeschlossen wurden. Bei ihm wurde +nämlich alles geplant, was heranreifte oder was sich zufällig bot. +Wenn irgendwo in der Umgebung ein Überfall vor sich ging, ein Haus +in Flammen aufloderte, ein reicher Bauer in seinem Bett erschlagen +aufgefunden wurde, wenn die Städter mit ihren Herden in Seesen und +Goslar geschatzt, ihre Wagenzüge angehalten und überfallen wurden, so +war der Plan dazu sicher in der Dolgermühle ausgeheckt worden.</p> + +<p>Hin und wieder tauchte ein Mann auf, der ein besonderes Ansehen besaß. +Daß er unter den Gesellen eine bevorrechtete Stellung einnahm, ging +schon aus der Anrede hervor. Er wurde als »Herr Hermann«, auch »Herr +Raßler« angesprochen. Raßler war ein Mann von gedrungener Gestalt, +dem die wilde Entschlossenheit aus den Augen leuchtete. Das gebräunte +Gesicht wäre hübsch zu nennen gewesen ohne eine tiefe Narbe, welche +die Stirn fast wagerecht durchzog. Er besaß alle Eigenschaften eines +Führers: scharfes Urteil, schnelle Beobachtungsgabe und einen großen +Mut.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span></p> + +<p>Als Sohn eines Arztes in Hildesheim hatte er das juristische Studium +ausüben sollen, wurde aber durch viele böse Streiche anfangs schon +aus dieser Bahn herausgeschleudert und relegiert; doch er war kein +Verbrecher von gewöhnlichem Schlag wie seine Leute. Er sah in sich +ein Rachewerkzeug gegen die menschliche, verderbte Ordnung. Auf den +Erwerb von Beute und Reichtum legte er nur insoweit Wert, als sie ihn +befähigten, seinen Weg zu gehen.</p> + +<p>Deshalb, weil er nie einen besonderen Anteil beanspruchte und seine +Hilfsbereitschaft jederzeit sich äußerte, erkannten sie in ihm die +Führernatur, die ihnen Gewähr bot, daß die ausgeheckten Pläne meistens +ohne große Opfer durchgeführt werden konnten.</p> + +<p>Hermann Raßler war kein Wegelagerer gewöhnlichen Schlages. Das erwies +sich aus der Kühnheit seiner Pläne, wie der Art ihrer Durchführung. Er +selbst trat nur bei den großen und wichtigen Sachen in Tätigkeit, die +Kleinigkeiten überließ er seinen zahlreichen Helfershelfern. Wo sein +eigentlicher Wohnsitz war, wußten nur wenige Vertraute. Er kam und +verschwand, und niemand fragte, wo er bleibe. Daß er zur rechten Stunde +zur Stelle sein werde, war ihnen Gewähr genug.</p> + +<p>Die kleinen Untaten fielen nicht eigentlich auf sein Konto; er duldete +sie, weil er seine Leute bei Laune halten mußte. Meistens richteten +sie sich gegen Menschen, die sich durch Habsucht oder eine ähnliche +Untugend verhaßt gemacht hatten. Sie bedauerte er nicht; denn er gefiel +sich je länger desto mehr in der Rolle des Schicksalswalters, der +berufen war, über die Ungerechtigkeit der Welt zu Gericht zu sitzen.</p> + +<p>Raßler war ein weithin gefürchteter Bandenführer, und der Ruf seiner +kühnen Streiche veranlaßte mehr als einen<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> der Großen, sich seiner +Dienste zu bedienen, um einem Gegner im geheimen Abbruch zu tun an +seinem Eigentum. Kleine Städte und reiche Dörfer sollten ihm, so hieß +es, um sich seiner Huld zu versichern, Tribut zahlen.</p> + +<p>Zu seinen »Kunden« zählte auch der Herzog von Braunschweig. Er bediente +sich seiner gegen die Stadt Braunschweig, namentlich aber gegen das +reiche Goslar, um die Bürger mürbe zu machen zur Annahme seines +fürstlichen Schutzes. Raßler übernahm diese Aufgabe besonders gern und +willig, denn mit dem Rate in Goslar hatte er ein Hühnchen zu rupfen. +Die Goslarer hatten ihm nicht nur, wie bei dem Treffen im Hohlwege bei +Riechenberg, wertvolle Leute erschlagen oder aufgeknüpft, sondern er +war ihnen besonders deshalb gram, weil bei einer dieser Gelegenheiten +auch sein einziger, wirklicher Freund, der gleich ihm aus der Bahn +geriet, in ihre Hände fiel und schimpflich gerichtet wurde.</p> + +<p>Im Schlosse zu Wolfenbüttel war Raßler keine unbekannte Persönlichkeit, +wenn er dort auch unter anderem Namen aus- und einging. Durch des +Herzogs Spione in Goslar, die zum Teil recht angesehene Bürger waren, +wie auch aus eigenen Quellen wurde Raßler über die Vorgänge in der +Stadt immer im voraus gut unterrichtet. In seiner Kühnheit hatte er +sich auch mehrmals selbst in die Höhle des Löwen gewagt, um an Ort und +Stelle Erkundigungen einzuziehen. Allerlei geschickte Verkleidungen +ermöglichten es ihm, ungefährdet und unerkannt in die Stadt zu +gelangen und aus ihr wieder zu entweichen. Verrat von der Seite seiner +Spießgesellen in Goslar brauchte er nicht zu fürchten, denn im Falle +der Entdeckung war ihr eigener Kopf auch verwirkt.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Um Magda Richerdes, die Ehefrau des Bergherren, stand es nicht gut. Auf +eine geringfügige Besserung, kurz nach Vennes Verlobung, folgte bald +eine Verschlimmerung ihres Zustandes. Der Arzt war ratlos, die Familie +nicht weniger. Venne ging mit verweintem Gesicht einher; auch der +Zuspruch ihres Verlobten vermochte sie nicht über die Angst und Sorge +um das Leben der Mutter wegzubringen.</p> + +<p>Die Kunst der Ärzte jener Zeit stand nicht hoch. Soweit sie sich über +den Rahmen bloßer Scharlatanerie erhob, reichte sie doch nicht im +geringsten aus, um durch eine von Sachkenntnis getragene Diagnose und +die danach anzusetzenden Mittel eine Krankheit zu bekämpfen, deren +Wesen nicht durch äußere Merkmale sich von selbst verriet.</p> + +<p>Die Reinigung des Blutes durch Purganzen aller Art galt als Mittel zur +Verhütung von Krankheiten, wie zur Erhaltung der Gesundheit. Schlimm +wurde es erst, wenn der Aberglaube im Verein mit der Dummheit auf der +Seite der Kranken diese einem der dunklen Kurpfuscher in die Hände +gab, die mit albernen Beschwörungsformeln und Mitteln aus pflanzlichen +und anderen Stoffen heilen wollten, deren Wirkung auf den Körper des +Menschen durchaus nicht feststand.</p> + +<p>Überall im Lande saßen die Männer und Frauen, die auf die +Unerfahrenheit und die Angst um die Erhaltung des Lebens ihrer +Nächsten spekulierten und ein Wissen ärztlicher<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> Art vortäuschten, das +günstigstenfalls nichts nützte, oft aber die vielleicht noch heilbare +Krankheit in lebenslängliches Siechtum verwandelte oder gar den Tod +herbeiführte. Der Scharfrichter, die Schäfer, alte Weiber üblen Rufes, +denen man Umgang mit dem Bösen, auch übernatürliches Wissen nachsagte, +das waren die am meisten begehrten Berater der Kranken jener Zeit.</p> + +<p>Auch in Goslar gab es solche »Wissende«, und zu ihnen zählte die +Gittermannsche in der Fröweckenstraße, wie auch der Schäfer Hennecke +Rennenstich auf dem Ymminghove. Ihre Kunst und ihr Wissen gründeten +sich auf überkommene Sprüche und Tränke aller Art, zu denen sie +die Kräuter selbst suchten oder sich zu verschaffen wußten. Ihre +Hauptberaterin und Lieferantin war Luke Meyse vom Steimkerbach, die +einstmals von Goslar einen wenig befriedigenden Abschied nehmen mußte.</p> + +<p>Die Zeit hatte die Beziehungen zwischen ihr und der Gittermannschen +nie ganz zerstört, und die geheimen Boten, welche Goslar von Zeit zu +Zeit im Auftrage Hermann Raßlers aufsuchten, sorgten dafür, daß die +Fäden zwischen diesen beiden würdigen Frauenzimmern und Freundinnen +nicht zerrissen. Sie überbrachten auch jeweils Mittel, die von der +Gittermannschen bei ihren Gewaltkuren benutzt wurden.</p> + +<p>Venne wie den Vater bedrückte es über die Maßen, daß der Mutter nicht +geholfen werden konnte, und als der Arzt seine Ohnmacht erklärte, waren +sie bereit, wenigstens Venne, auch andere Mittel zu nehmen, wenn es +hülfe. Zunächst wurde Immecke Rosenhagen zu Rate gezogen, von deren +heilkundiger Hand sie von den Hardts gehört hatten. Immecke kam, besah +sich die Kranke, gab auch einige schmerzlindernde Mittel an, gestand +aber im übrigen, daß sie des<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> Leidens nicht Herr werden könne. Da +verfiel die alte Katharina, die nächst Venne ihrer Herrin über alles +zugetan war, auf den Plan, die Gittermannsche zu befragen, die ihr von +guten Bekannten empfohlen wurde.</p> + +<p>Katharina mußte die Art der Krankheit genau beschreiben, doch erklärte +jene, es sei äußerst wichtig, daß sie die Kranke selbst sehe und +spreche. Da wurde die treue Alte vor dem eigenen Mut bange, denn sie +handelte ja ohne Ermächtigung ihrer Frauen. Doch die Liebe zu diesen +und der brennende Wunsch, der Kranken Heilung zu verschaffen, überwog +zuletzt die Bedenken. Was sie aber selbst noch an Mißtrauen gegen die +geheimnisvolle Frau hegte, verscheuchte sie durch die drohenden Worte: +»Das sage ich Euch, Gittermannsche, tut Ihr meiner Frau ein Leid an, so +habt Ihr es mit mir zu tun, und mit mir ist nicht zu spaßen.«</p> + +<p>Jene antwortete nur mit einem überlegenen Lächeln, als ob ihre Kunst +für sie außer Zweifel stehe.</p> + +<p>Venne schalt die alte Magd tüchtig, als sie von dem Besuche hörte, und +die Kranke weigerte sich, mit der Frau in Berührung gebracht zu werden, +die doch eine Hexe sei. Aber das Leiden wurde schlimmer, und Katharina +kam hartnäckig immer wieder auf die Sache zurück. Schließlich gaben die +beiden nach, und man einigte sich, daß zunächst Venne mit der Getreuen +— im Dunkel des Abends natürlich — die Gittermannsche aufsuchen solle.</p> + +<p>Die alte Vettel war von einer überraschenden Liebenswürdigkeit, denn +ihr lag viel daran, in dem angesehenen Hause Zutritt zu erhalten. +Auf Venne wirkte indes gerade diese Art widerlich und abstoßend, +aber sie bezwang ihren Abscheu, um der Mutter zu helfen. Mit großer +Zungenfertigkeit pries die Gittermannsche ihre Kunst und zählte<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> +tausend Mittel und Sprüche auf, die unfehlbar, schnell oder langsam +helfen müßten.</p> + +<p>Venne wirbelte der Kopf von all dem Gehörten, aber sie gewann doch +die Hoffnung, daß das Weib vielleicht die Heilung in der Hand habe. +Es wurde also verabredet, daß sie auf besondere Botschaft hin kommen +solle. Nun galt es noch, der Mutter endgültige Zustimmung zu erlangen. +Der Vater wurde nicht ins Vertrauen gezogen; man hoffte es so +einrichten zu können, daß er nichts von dem Besuche erfuhr. Später, +wenn, wie Venne hoffte, eine Besserung eingetreten war, sollte auch er +davon hören.</p> + +<p>Als die Gittermannsche an dem verabredeten Abend vorkam, hätte Venne +ihre Zusage am liebsten zurückgenommen, denn sie sah hier in der +sauberen Wohnung fast noch unheimlicher und schmutziger aus als in +ihrer Behausung. Die Mutter tat ihr doppelt leid, die sich von diesem +Geschöpf behorchen und befühlen lassen mußte. Aber die ließ alles so +teilnahmslos über sich ergehen, daß sie die Einzelheiten gar nicht +wahrzunehmen schien.</p> + +<p>Als die Megäre mit der Untersuchung fertig war, sann sie nach, wobei +sie den schmutzigbraunen Finger an die Nase legte. Venne sah ihr +angstvoll zu, als ob ihr eigenes Leben von dem Ausspruch abhänge. Dann +kramte jene ihre Weisheit aus.</p> + +<p>»Der Fall liegt schwer; doch ich hoffe, das Übel mit der Wurzel zu +fassen. Habt Ihr, Frau, etwa böse Neider oder eine Feindin, die Euch +das Übel angetan hat? Denn ohne Zweifel seid Ihr versehen worden.«</p> + +<p>Frau Richerdes antwortete, sie sei sich nicht bewußt, sich jemandes +Feindschaft zugezogen zu haben, auch wisse sie keinen Menschen, dem +sie so Böses zutrauen könnte. Da<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> legte sich aber Katharina ins Wort. +»Ihr vergaßet das Zigeunermensch, das wir damals fortjagten, weil die +Frau, als sie, Euch wahrzusagen, sich in die Stube gedrängt hatte, es +verstand, sich ein seidenes Tuch anzueignen, das in ihrer Nähe lag. Ihr +waret gutmütig genug, sie straflos laufen zu lassen. Aber ich erinnere +mich noch genau des bösen Blickes, den sie auf Euch warf, und geheime +Worte murmelte sie auch im Weggehen.«</p> + +<p>»Dacht' ich mir's doch,« sagte die Gittermannsche. »Die Zigeunerinnen +verstehen sich besonders auf die Kunst des bösen Blickes, und einen +Zauberspruch wird sie Euch auch noch auf den Hals geschickt haben, +ohne daß Ihr es merktet. Da werden wir es gleich mit kräftigen Mitteln +versuchen müssen, um der Sache Herr zu werden. Und es soll mit dem +Teufel zugehen, wenn es uns nicht gelingt.«</p> + +<p>Bei dem Worte ›Teufel‹ fuhren die Frauen zusammen, und die ängstliche +Katharina erklärte energisch: »Wir sind gute Christen und wollen mit +dem Gottseibeiuns nichts zu tun haben.«</p> + +<p>»Ach, geht mir mit Euren Einwänden,« entgegnete die Gittermannsche. +»Meint Ihr, <em class="gesperrt">ich</em> habe mit dem Teufel zu tun oder will Euch ihm +verschreiben? Aber was von ihm kommt, muß zu ihm zurück. Das werdet +Ihr doch auch wohl gelten lassen, oder wollt Ihr's für Euch behalten? +Ich werde Euch eine Brühe kochen, mit der Ihr Eure Schwelle besprengt. +Daneben reibt Ihr der Kranken die Herzgrube mit der Salbe, die Ihr +gleichfalls bekommen sollt. Die Salbe ist wunderlich zusammengesetzt, +und ihr Geheimnis behalte ich für mich. Die Brühe aber mögt Ihr selbst +kochen; also wisset, wie man's macht.</p> + +<p>Kauft in Gottes Namen eine Muskatnuß, ohne um den<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> Preis zu feilschen, +schneidet sie durch und zerstoßt sie mit Buchenasche, die im Sommer +gewonnen ist. Kocht das Ganze in einem Eimer fließenden Wassers und +gießet es an einem Donnerstag in Gottes Namen auf Eure Schwelle, indem +Ihr also sprecht:</p> + +<p>›Dat et nu vorgae unde dem duvel nicht bestae. Im Namen des vaders +unde des sones unde des hilghen gheistes.‹ Handelt genau nach meiner +Vorschrift und wartet die Wirkung ab.«</p> + +<p>Eine Belohnung wollte die Gittermannsche nicht nehmen, nein, es war ihr +nur um die christliche Barmherzigkeit zu tun, und sie freue sich, einer +so ansehnlichen Frau zu helfen. Katharina aber sorgte dafür, daß ihre +Schürze in der Küche mit allen möglichen nützlichen und schönen Sachen +gefüllt wurde.</p> + +<p>So gewann die Gittermannsche Zutritt und Einfluß im Hause Richerdes. +Hätte die gute Katharina geahnt, welchem Unheil sie damit die Tür +öffnete, sie hätte jene nicht gerufen, selbst nicht um den Preis der +Wiederherstellung ihrer Frau.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Auf dem Vater Vennes lasteten noch mehr Sorgen als die Krankheit der +Frau. Was er damals dem Ratsherrn Achtermann zugesagt hatte, war in +Verhandlungen mit dem Rate der Stadt herangereift. Richerdes wollte +sein Grubenrecht um zweitausend Mark lötigen Silbers abtreten. Es +handelte sich noch darum, die genaue Abgrenzung seiner Gerechtsame im +Berge markscheiderisch festzulegen. Solange ging der Betrieb auf seine +Kosten weiter.</p> + +<p>Er konnte sich nicht verhehlen, daß der Ertrag immer geringer und +zweifelhafter wurde, und es fiel ihm schwerer und schwerer, die Löhne +und Gelder für Grubenholz aufzubringen. Der Silvane Bandelow, der ihm +so viel von Freundschaft und nachbarlicher Gesinnung vorgeredet hatte, +drohte mit der Einstellung der Holzlieferungen. Die Verhandlungen +mit dem Rat kamen ihm dabei als Ausrede sehr gelegen. »Er habe ja +abgeredet, zu verkaufen; ja, wenn Richerdes das Werk weiterbehalten +wolle, aber so ...« Es mußte also Geld beschafft werden. Die Bekannten +zeigten sich nicht geneigt, zu helfen; auch Achtermann gab unter +allerhand Ausreden nichts her. Da blieb kein anderer Weg offen, als +sich an die gewerbsmäßigen Herleiher zu wenden, wenn es auch vielleicht +unchristliche Zinsen kostete.</p> + +<p>Der Zuzug der Juden nach Goslar wurde von dem Rat immer von Fall zu +Fall und mit zweckdienlicher Zurückhaltung geregelt. Er hatte sich +dabei bislang immer durchaus als ein guter Geschäftsmann gezeigt, der +eine Leistung<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> nicht tut ohne Gegenleistung. Das bedeutet für die +vielgejagten und verfolgten Kinder Israels nichts anderes, als daß sie +zahlen und nochmals zahlen mußten, um die Erlaubnis zur Ansiedlung zu +erlangen. Und da der Kaiser auch für seinen Schutz noch eine besondere +Steuer ihnen auferlegte, so ergab sich für diese Schutzjuden des +Rates und des Kaisers die Pflicht, zu zahlen und zu zahlen, um nur +ein Obdach zu haben. Was Wunder also, daß sie daraus für sich die +Erlaubnis ableiteten, zu nehmen, wo sich's ihnen bot, das heißt, ihren +christlichen Mitmenschen ihre Hilfe in Form von Darlehen um Zinsen zu +gewähren, bei denen jenen leicht der Atem ausgehen konnte.</p> + +<p>Das Ghetto der goslarschen Juden war die Hokenstraße. Dort hausten +sie zusammen, so viele oder so wenige ihrer in der großen Reichsstadt +wohnten, gemieden von den Einwohnern, nur sich selbst lebend und ihren +Geschäften. Verirrte sich ein Christ in diese enge, dunkle Straße, +so geschah es sicher nur, um die Hilfe der Hebräer in Geldsachen in +Anspruch zu nehmen.</p> + +<p>Es war dem ehrenfesten, angesehenen Bürger und Bergherrn Richerdes ein +hartes Angehen, den Weg zu dem Juden Asser anzutreten. Dieser wohnte +mit seinem Weibe Lusse in einem dunklen Hause nach dem Fleischscharren +zu.</p> + +<p>Er trat dem ernsten Mann, der da in der Dämmerung ins Haus trat, mit +all der unterwürfigen Geschmeidigkeit entgegen, die den Leuten seines +Stammes eignet im Verkehr mit anderen, vor deren Stellung und Person +sie sich noch eine Förderung oder Schädigung ihrer Interessen versehen.</p> + +<p>Auf dem Untergrunde seiner lebhaften, dunklen Augen glomm ein Schimmer +wilder Freude, daß wieder einer der Andersgläubigen den Weg zu ihm, +dem Verachteten, Geschmähten,<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> fand in seiner Not und daß er auch in +dessen Schicksal werde eingreifen können, um, wenn die Stunde gekommen +war, den Anteil seiner Rache an dem verfluchten Christenvolk zu üben, +zu der die ein Leben lang getragene Schmach und der durch Jahrhunderte +vererbte Wunsch, den unauslöschlichen Haß zu löschen, trieben. Über die +mißliche Lage seines Gegenübers, den er mit vollendeter Höflichkeit auf +den Ehrenplatz nötigte, war er längst unterrichtet.</p> + +<p>Asser — die Juden hatten zu jener Zeit noch nicht das Recht, sich +andere Namen zuzulegen — hörte den Bergherrn ruhig an. Nur das nicht +bezwungene Spiel seiner Augen verriet, daß er bei der Sache war. +Richerdes schloß fast barsch: »Also, Jude, willst Du mir Geld leihen +oder nicht? — Daß es Dein Schade nicht sein wird, weißt Du selbst am +besten.«</p> + +<p>Auf einmal war Asser ganz zurückhaltender, kühler Geschäftsmann, wenn +er auch in seinen Worten der geschmeidige, unterwürfige Jude blieb.</p> + +<p>»Herr, es ist mir eine große Ehre, die Ihr mir Unwürdigem wollt antun; +aber ich fürchte, ich werde Euch müssen enttäuschen. Jahve hat meiner +Hände Arbeit gesegnet, das ist wahr. Aber was Euch erzählt haben andere +Menschen von meinem Reichtum, ist Fabel. Gott der Gerechte soll mich +strafen an meinem Samen, wenn ich habe in Besitz, was Ihr begehrt. Ihr +wißt, daß der Hohe Rat, daß der Herr Kaiser in Wien haben auferlegt den +armen Juden, große, schwere Lasten zu tragen, als wie will heißen, daß +wir müssen zahlen große Summen, nur daß wir dürfen wohnen an solchem +Ort wie Goslar. Wie soll ich da kommen zu Geld, um es zu geben Ew. +Edelgeboren!</p> + +<p>Auch ist mir bekannt, wie ich habe gehört, daß Eure Sach'<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> nicht stehet +zum besten, daß Euer Bergwerk nicht mehr lohnt die Kosten. Wie heißt +da Geschäft, wenn nichts ist da, als womit man kann sich assekurieren +gegen Verlust?«</p> + +<p>Richerdes schwoll die Ader über dieses Wort, die seine +Zahlungsfähigkeit in Frage stellte.</p> + +<p>»Glaubst Du, verfluchter Jude, ich wäre zu Dir gekommen, um Dich zu +betrügen?«</p> + +<p>»Gott soll mich bewahren, daß ich sollte haben solch schwarzen +Gedanken,« antwortete der andere geschmeidig, »aber man wird doch +dürfen sprechen vom Für und Wider, wenn es sich handelt um ein +Geschäft. So muß handeln ein ehrlicher Jud, der ich bin gewesen all +mein Leben lang, und so wird sprechen jeder Kaufmann, der etwas +versteht vom Geschäft. Mag sein, daß man mir hat geschildert viel zu +schwarz Eure Lage, aber ich muß rechnen, was spricht dafür und was +spricht dagegen.</p> + +<p>Doch ich will Euch helfen, beim Gotte Abrahams, was steht in meinen +Kräften. Wieviel wollt Ihr haben? Vielleicht, daß ich bringe zusammen +das Geld von Freunden unter unseren Leuten. Doch müßt Ihr Euch begnügen +mit weniger. Was wünschtet Ihr doch zu haben, günstiger Herr, daß ich's +noch mal höre?«</p> + +<p>»Hundert Mark Silber«, entgegnete Richerdes kurz, doch etwas besänftigt.</p> + +<p>»Hundert Mark«, klagte der Jude. »Wo sollte ich hernehmen hundert Mark! +Sagen wir fünfzig, fünfzig Mark. Das ist eine ansehnliche, glatte +Summe, mit der Ihr werdet wirtschaften, bis daß es Euch geht besser +oder Ihr habt Euer Geld vom Hochweisen Rat.«</p> + +<p>»Was weißt Du, Jude, von meinen Verhandlungen mit dem Rat?« fragte der +Bergherr unangenehm überrascht.<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> »Nun nichts für ungut, Ew. Gnaden«, +wandte Asser demütig ein. »Aber man hört ja dies und jenes; es braucht +ja nicht immer zu sein wahr, aber man weiß doch gern, was geht vor +sich.«</p> + +<p>»Also, dann her mit dem Geld«, begehrte Richerdes barsch.</p> + +<p>»Gott der Gerechte,« jammerte da der Jude, »wie soll ich kommen zu so +grausam viel Geld, und wenn ich wollte kehren um mein Haus vom Dach +bis zum Keller. Ich muß es mühselig mir selbst borgen zusammen. Kommt +also morgen oder übermorgen, es abzuholen. Und, daß es nicht werde +vergessen, der Ordnung halber, bringt auch gleich mit das Geschriebene, +daß ich mag ruhig schlafen.«</p> + +<p>»Es ist gut, Asser, ich werde morgen hier sein. Halte das Geld bereit, +der Pfandschein soll Dir nicht fehlen.«</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Auch das Geld des Schutzjuden Asser vermochte den Lauf der Dinge nicht +aufzuhalten. Das Erzlager in der Richerdesschen Grube lief immer +spitzer zu, und es war der Tag abzusehen, wo sie gänzlich zum Erliegen +kommen würde.</p> + +<p>Mit dem geliehenen Gelde konnte der Bergherr noch einige verzweifelte +Versuche machen, durch Seitenschläge eine andere Erzader zu +erschließen; doch auch diese Anstrengungen verliefen erfolglos. Nun +drängte Richerdes selbst darauf, daß der Rat den Ankauf vollziehe, aber +die Ratsherren waren auch über die Sachlage unterrichtet und trugen +Bedenken, ein so unvorteilhaftes Geschäft für die Stadt abzuschließen. +Vergeblich wies Richerdes darauf hin, daß der Verkauf ohne Vorbehalt +hätte abgeschlossen werden<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> sollen; vergebens auch bemühte er sich, +darzutun, daß in vielen anderen Fällen schon neben einem sich +totlaufenden Lager eine neue Ader gefunden sei, daß mindestens Aussicht +bestehe, auf einer tieferen Sohle zu finden, was auf der jetzigen +abgebaut sei; die Herren blieben bei ihrer Ansicht bestehen, daß der +Vertrag noch nicht abgeschlossen sei und also die daraus für Richerdes +erwachsenden Vorteile nicht gewährt zu werden brauchten.</p> + +<p>Was der Ratsherr Heinrich Achtermann ihm früher als drohendes Gespenst +vorgehalten hatte, um ihn zu einem Verkauf gefügig zu machen, das trat +jetzt trotz seiner Nachgiebigkeit ein: Richerdes, der angesehene Bürger +und Montane, war ruiniert, zahlungsunfähig.</p> + +<p>Das lauteste Geschrei erhob der Schutzjude Asser, der sich um sein Geld +sorgte. Jetzt, wo er glaubte, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen +auf den einst angesehenen Bürger und Christen, zeigte sich der ganze +aufgespeicherte Haß seines Volkes. Er raufte sich das Haar, nannte sich +den unglücklichsten aller Söhne Abrahams und schimpfte seinen Schuldner +einen abgefeimten Spitzbuben und Betrüger. Diese Tonart wurde ihm +allerdings bald verleidet durch eine Buße von mehreren Mark Silber, die +der Rat über ihn verhängte wegen Kränkung eines Christen und bis dahin +unbescholtenen Bürgers.</p> + +<p>Er erhielt auch sein Geld, und zwar zahlte ihn der Ratsherr Heinrich +Achtermann aus. Das geschah allerdings nicht aus christlicher +Barmherzigkeit; er tat es auch nicht der nahen verwandtschaftlichen +Beziehungen wegen, die durch das Verlöbnis nach der Anschauung jener +Zeit als damit bestehend angesehen wurden. Er zahlte, weil er nicht +wollte, daß der Vater der mit seinem Sohne verlobten Tochter in den<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> +Schuldturm wandere. Über die weitere Entwicklung der Dinge war er sich +für seine Person völlig im klaren. Im übrigen sicherte er sich gegen +Verlust durch ein Pfand auf das Anwesen des Bergherren.</p> + +<p>Richerdes war durch das Unglück völlig niedergebrochen. In diesen +Tagen, da das Unheil wie eine schwere Wolke über dem Hause in der +Bergstraße lastete, zeigte sich Venne als eine wahre Heldin. Sie suchte +den Vater aufzurichten, und sie pflegte die Mutter, deren Zustand sich +infolge der Aufregungen immer mehr verschlimmerte.</p> + +<p>Venne hatte niemand, um ihm ihr übervolles Herz auszuschütten, als +die alte Vertraute ihrer Kindheit, die brave Katharina. Noch einmal +wurde die Gittermannsche zu Rate gezogen, noch einmal versuchte es +diese mit einer neuen Salbe, einem neuen kräftigen Spruch; aber das +Ende war nicht aufzuhalten. Als die Blätter im lustigen Todestanze zur +Erde wirbelten, schloß auch diese müde Erdenpilgerin die Augen für +immer. Und es war zu erkennen, daß der Vater, an dem die Schmach der +unschuldig erlittenen Verarmung und Erniedrigung zehrten, sie nicht +lange überleben würde.</p> + +<p>Auch die tapfere Venne drohte dem ungleichen Kampfe mit dem widrigen +Schicksal, in dem sie allein auf dem Plan stand, zu unterliegen. Die +einzige Wohltat, die ihr in dieser Zeit widerfuhr, war die treue +Freundschaft, welche ihr von den Hardts entgegengebracht wurde.</p> + +<p>Auch Immecke Rosenhagen bewies in diesen Tagen der Not, daß sie zur +Stelle sei, wenn man sie brauchen konnte. Sie hatte längst erkannt, daß +der Mutter nicht zu helfen war. Sie half mit einem stärkenden Trank, +mit einer schmerzstillenden Salbe. Was die Gittermannsche anpries,<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> +war in ihren Augen und nach ihren Worten Schwindel. Sie redete den +Frauen auch ab, sich mit der Person einzulassen, da man daraus +Unannehmlichkeiten haben könne. Wenn Venne gegen ihren Rat handelte, so +geschah es aus dem heißen Wunsche heraus, das teure, schwindende Leben +so lange festzuhalten, wie sie konnte.</p> + +<p>Und wo blieb Heinrich Achtermann, der Verlobte Vennes?</p> + +<p>Seine Liebe war nicht geschwunden. Der Schmerz, der über dem süßen +Antlitz Vennes lagerte, je trostloser der Zustand der Mutter wurde, +machte sie ihm noch begehrenswerter. Doch die Pflege der Mutter nahm +sie so in Anspruch, daß sie nur selten Gelegenheit fand, ihn zu +sprechen. In heißem Mitleid schloß er sie dann in die Arme.</p> + +<p>»Mein armes Herz, was kann ich nur tun, um Dir die Last tragen zu +helfen, die Dich erdrücken muß? Laß mir doch den mir gebührenden Anteil +an Deinem Leid. Du weißt, geteilter Schmerz ist halber Schmerz.«</p> + +<p>Venne lächelte ihm dankbar unter Tränen zu. »Du kannst mir nicht +helfen, jetzt noch nicht. Wer weiß, ob es nicht noch schlimmer kommt. +Versprich mir nur das eine, daß Du mich nie verlassen wirst.«</p> + +<p>»Deine Worte verdienen eigentlich Strafe,« zürnte Heinrich. »Hältst +Du mich für einen solchen Schurken, daß ich Dich im Unglück aufgeben +könnte?«</p> + +<p>Beseligt nickte Venne ihm zu: Nein, sie war beruhigt, Heinrich +Achtermann war einer solchen Sünde wider göttliches und menschliches +Recht nicht fähig!</p> + +<p>Der junge Achtermann, dem die Ratsherrnwürde in der Reichsstadt Goslar +so sicher zufallen mußte wie das Erbe seines Vaters, war von der +Aufrichtigkeit seiner Worte selbst völlig durchdrungen. Er liebte Venne +mit all der Innigkeit<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> und Glut, mit der er zuerst die Holde an sein +Herz gezogen hatte. Wer ihm gesagt hätte, er werde die Braut verlassen, +den würde er als persönlichen Feind behandelt haben. Aber er konnte +nicht hindern, daß der Vermögensverfall des Vaters seiner Venne auch +ihn in seine Kreise zog. Es fanden sich gute Freunde, die ihm unter +dem Mantel teilnehmender Worte das Gift ihres Hohnes einträufelten. +Manche vermeintliche oder wirkliche Kränkung, die ihnen von Venne in +der harmlosen Sieghaftigkeit ihrer jugendlichen Anmut unbewußt zugefügt +war, manche Zurücksetzung, die ihretwegen neidische Freundinnen +erfahren hatten, fanden jetzt Gelegenheit zu unschöner Vergeltung.</p> + +<p>Heinrich Achtermann widerstand tapfer; er wies alle Andeutungen, daß +er Venne aufgeben müsse, entrüstet zurück. Aber der Stachel blieb doch +sitzen, und die Überlegung in den stillen Stunden der Nacht konnte +jenen nicht unbedingt unrecht geben: Hatten sie nicht recht, war es +nicht eine sehr zweifelhafte Sache, die Tochter eines verarmten Mannes +zu freien, welcher der schimpflichen Schuldhaft nur durch die Hilfe +des Vaters entgangen war? Und würde es je gelingen, die Lästermäuler +zum Schweigen zu bringen? — alles Gedanken, deren Gewicht er nicht +verkannte. Ein gewichtiger Helfer aber erwuchs denen, die aus Bosheit +oder Rachsucht das Band zwischen ihm und Venne Richerdes zu zerreißen +suchten, im Vater.</p> + +<p>Der Ratsherr Heinrich Achtermann hatte selbst den Freiwerber für seinen +Sohn gemacht, so hätte ihm Richerdes entgegenhalten können. Er zeigte +sich der Vereinigung geneigt, denn die hübsche Venne tat es auch ihm +mit ihrem Liebreiz an. Zwar war der Bergherr kein reicher Mann, aber +das brauchte bei der eigenen Vermögenslage kein<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> Hindernis zu sein. An +Ansehen standen ihm die Richerdes nicht nach; auch ihre Familie hatte +der Stadt mehr als einen Ratsherrn und Bürgermeister gegeben.</p> + +<p>Das alles änderte sich indes, als der angehende Schwäher ein armer +Mann wurde mit all den unglückseligen Begleitumständen, die wir +kennen. Wandte er auch mit eigenem Gelde das Schlimmste von jenem ab, +so kam der Montane als Verwandter für ihn nicht mehr in Betracht. +Sein Patrizierstolz hätte es nie verwunden, daß man hinter der +Schwiegertochter, wenn auch im geheimen, herzischelte als der Tochter +eines fallit gewordenen Bürgers.</p> + +<p>Achtermann hoffte, daß der Sohn selbst so viel Einsicht haben +werde, das Band zu lösen; er, der Vater, wäre dann wohl auch noch +zu besonderen Opfern bereit gewesen, um die Angelegenheit möglichst +geräuschlos zu regeln. Als er aber zum ersten Male mit Heinrich darüber +sprach, brauste dieser auf und erklärte, er werde nun und nimmer +die Braut im Stich lassen. Der Vater ließ ihn ruhig reden, in der +Überzeugung, daß der Überschwang seiner Gefühle sich unter dem Einfluß +der Zeit schon ausgleichen werde.</p> + +<p>Es war dem Sohne, als ob die kühlen Worte des Vaters, der die Sache +wie ein Geschäft behandelte, Venne selbst in ihrer Abwesenheit +träfen, und er suchte noch am selben Abend Gelegenheit, die Geliebte +seiner unwandelbaren Treue zu versichern. Er fand sie nicht, denn +der Zustand des Vaters — die Mutter hatte man wenige Wochen vorher +zu Grabe getragen — erschien ihr gerade an diesem Abend besonders +besorgniserregend. Heinrich ging davon, etwas verstimmt, daß seine gute +Absicht nicht zur Ausführung kam.</p> + +<p>Auch Venne selbst war die Sorge gekommen, ob die<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> Vereinigung mit dem +Geliebten werde zustande kommen; denn auch ihr blieben natürlich die +Demütigungen nicht erspart und versteckte Anspielungen, es sei ihre +Pflicht, den Ratsherrnsohn freizugeben. Es tauchte ihr auch wohl selbst +der Gedanke auf, das Opfer nicht anzunehmen, und herber Trotz gegen +alle Welt, auch gegen den Geliebten, ließ sie mit dem Gedanken spielen, +Verzicht zu leisten. Aber dann quoll die Angst um so heißer in ihr auf +und die Sehnsucht nach dem Geliebten.</p> + +<p>In diesem Widerspruch der Empfindungen traf sie eine Botschaft des +alten Achtermann ins Herz, der ihr zuraunen ließ, sie möge den Sohn +freigeben, er werde sich die Sorge um ihre Zukunft angelegen sein +lassen. Das wirkte wie ein Schlag ins Gesicht auf die stolze Venne. In +ungebändigtem Trotz ließ sie dem Ratsherrn sagen, sie werde sich dem +Sohn nicht an den Hals werfen; das Anerbieten aber, für sie sorgen zu +wollen, weise sie als eine besondere Kränkung zurück. Der Alte ließ +sich dadurch nicht beirren, »Mädchenüberschwang«, dachte er. »Das wird +sich schon zurechtgeben.«</p> + +<p>Heinrich, der Sohn, wußte von dem Vorgehen des Vaters nichts. Er +versuchte mehrmals die Geliebte zu sprechen, erfuhr aber durch +Katharina jedesmal eine mehr oder weniger mürrische Abweisung. Da +setzte er es einmal doch durch, daß er vorgelassen wurde. Venne empfing +ihn mit verweinten Augen. Auf seine Frage, was ihr sei, hielt sie +zunächst zurück. Doch dann durchbrach das aufgehäufte Weh und der Zorn +über die Demütigung die Schranken, und sie klagte mit bitteren Worten +den Vater an. Heinrich war erschrocken und empört, und er bat Venne, +ihm zu vertrauen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span></p> + +<p>»Ich schwöre Dir bei allem, was mir heilig ist, daß ich von dieser +Niedertracht nichts weiß und nichts ahnte. Glaube mir doch, Geliebte, +ich stehe zu Dir, und wenn sich alles gegen Dich vereint.«</p> + +<p>Mit heißen Küssen besiegelte er seine Schwüre, und in Venne stieg ein +Gefühl des Glückes auf, blieb ihr doch wenigstens dies Allerschwerste +erspart!</p> + +<p>Zu Hause stellte Heinrich den Vater zur Rede. Der Ratsherr leugnete gar +nicht, daß er wirklich die Botschaft geschickt habe.</p> + +<p>»Wenn die Kinder die Vernunft verlieren, müssen die Eltern für sie +denken und handeln.«</p> + +<p>Heinrich begehrte auf und erklärte, daß er nie und nimmer von Venne +lassen werde, der Vater blieb ganz kühl und ruhig.</p> + +<p>»Vorläufig ist es bei uns noch Sitte und Gesetz, daß die Eltern +bestimmen, was aus ihren Kindern werden soll, und ich lasse mir dieses +Recht nicht schmälern.«</p> + +<p>»Und doch wirst Du mich nicht zwingen. Zuletzt steht mir der Weg in die +Welt offen, und ich werde mit Venne davongehen«, antwortete Heinrich um +so erregter. Da lachte der Vater spöttisch auf: »Das gäbe eine nette +Wandergesellschaft: Du ein Junker Habenichts und sie eine Jungfer +Bettlerin. Da werdet Ihr Euch allabendlich Euer Nest am Straßenrain +bereiten müssen. Aber wir wollen das Thema heute abbrechen, es führt im +Augenblick doch zu nichts.« — Er wußte, daß die Zeit für ihn arbeiten +werde.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Das Leben des Bergherrn Richerdes war seit dem Hinscheiden seiner Frau +nur noch ein langsames Sich-zu-Tode-Quälen. Der schon in gesunden +Tagen hagere, große Mann war abgemagert zum Skelett. In gelblichen +Falten lagerte die Haut auf dem Gesicht, aus dem die spitze Nase +drohend hervorragte. Neuerdings litt er an Verfolgungsideen, in denen +der Jude Asser, Achtermann und Karsten Balder die Schreckgestalten +waren. Er weigerte sich, Nahrung zu nehmen, weil er seine Schulden +nicht vermehren wolle; dann wieder hielt ihn der Argwohn davon ab, +seine Feinde könnten Gift hineingetan haben. Die arme, tapfere Venne +durchlebte eine Zeit schlimmsten Martyriums. Endlich, ein halbes Jahr +fast nach dem Heimgange der Frau, glitt auch ihm der Pilgerstab aus den +müden Händen. In seinen letzten, lichten Augenblicken mahnte er noch +Venne, sie solle sein Recht dem Rat gegenüber nie vergessen. »Bedenke, +mein Kind, daß Du es meinem Andenken schuldig bist, dieses Recht zu +verfechten. Versprich es mir in die Hand, es nie aufzugeben, damit ich +ruhig sterben kann.«</p> + +<p>Nun war Venne ganz allein in ihrer Trostlosigkeit und dem Bewußtsein, +daß sie aus dem Kreise aller derer ausscheide, bei denen sie bis zu dem +Unglück ihres Vaters ein gern gesehener und umworbener Gast gewesen.</p> + +<p>Das alles hätte sie noch ertragen, wäre nicht die Angst und die +quälende, beschämende Sorge gewesen, daß auch Heinrich, der Verlobte, +ihr entgleite. Noch halten ihn seine<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> Schwüre, noch kommt er, sie zu +sehen, noch ist er voller Liebe und Mitleid. Sie trinkt seine Küsse wie +eine Verdürstende, wenn er sie umschließt, und hängt an seinem Munde, +um von ihm immer wieder zu hören, daß er sie noch liebe. Begütigend, +tröstend, voll zarter Teilnahme streicht er über ihr Haar und +versichert sie seiner Treue. Und immer wieder drängt es sich aus ihrem +Munde: »Verlaß mich nicht, bleibe mir treu!«</p> + +<p>Und er schwört ihr mit neuem, heiligem Schwur, daß nichts sie trennen +soll, nicht der Vater, nicht die hämische, neidige Welt. Dann seufzt +sie glücklich, wie aus tiefster Seele befreit, auf, und sie schwört ihm +und sich selbst zu, Vertrauen zu haben. Aber kamen dann die dunklen +Stunden der Nacht, lag sie schlaflos auf ihrem Lager, dann stürzten +sich die Zweifel wie gierige Wölfe auf sie und zermarterten ihr armes +Herz.</p> + +<p>Seit dem Tode des Vaters hauste sie allein mit Katharina in dem großen, +leeren Hause. Die Mägde waren entlassen, die Knechte gegangen. Sie +fürchtete sich und hatte die alte Magd gebeten, bei ihr zu schlafen. +Katharina hörte, wie die von ihr über alles geliebte Herrin sich +ruhelos auf ihrem Lager wälzte, sie vernahm ihre Seufzer und ihr +stilles Schluchzen. Sie wäre für Venne in den Tod gegangen, hätte sie +ihr damit das Glück erkaufen können. Verzweifelt drängte sie in Venne, +ihr zu sagen, was sie bedrücke, Venne schwieg.</p> + +<p>»Ist Heinrich Achtermann auch von Dir abgefallen?« fragte sie mit +verbissenem Grimm.</p> + +<p>»Nein, nein, er ist mir treu und wird mich nicht verlassen, wenn man +ihn nicht dazu zwingt.«</p> + +<p>»Wie soll man ihn zwingen, wenn er selbst nicht will?<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> Oder meinst Du, +man könne ihm im geheimen Zwang antun?«</p> + +<p>Venne antwortete nicht darauf, aber Katharina schloß daraus, daß diese +Befürchtung zutreffe.</p> + +<p>»So wird man unsererseits darauf sehen müssen, daß er nicht von Dir +lassen kann«, murmelte sie für sich. Und es ward ihr zur fixen Idee, +daß sie alles daransetzen müßte, um Heinrich bei ihrer Venne zu +halten. Dieser durfte sie von ihren Plänen nichts sagen, Venne würde +es ihr verbieten; aber sie wußte, was sie zu tun hatte. Klang ihr +nicht ein Wort der Gittermannschen in den Ohren: »Ich habe auch Mittel +anderer Art zu Gebote; gilt es zum Beispiel den ungetreuen Liebsten +zurückzubringen oder einen, den man begehrt, an sich zu fesseln, so ist +die Gittermannsche da mit ihrem Spruche.«</p> + +<p>Damals belächelte Katharina diese Anpreisung ihrer Kunst, sie, wie +Venne: Wie sollte sich für diese je die Notwendigkeit bieten, von der +Gittermannschen dunkler Kunst Gebrauch zu machen, da doch Venne auf +dem Gipfel der Glückseligkeit zu stehen und ein Sturz von dieser Höhe +unmöglich schien.</p> + +<p>Jetzt aber war es so weit, und sie suchte die verrufene Alte aufs neue +auf. Zunächst sperrte sie sich und redete von Undank und Gefahr, in die +man sie bringe, denn die alte Katharina hatte ihr, als ihre Mittel sich +bei Frau Richerdes doch nicht bewährten, mit drastischen Worten ihre +Meinung gesagt. Als sie indes vor den Augen der habgierigen Hexe ein +Stück Geld glänzen ließ, änderte sich Wort und Miene der Gekränkten. +Man verabredete die Einzelheiten.</p> + +<p>Natürlich müsse sie den Namen desjenigen wissen, dem<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> das Mittel gelte. +Ungern nannte Katharina den Namen Heinrich Achtermanns, aber die +Gittermannsche bestand darauf.</p> + +<p>»Dachte ich's mir doch«, höhnte die Alte. »Solange das Täubchen im +Glück saß und sein Gefieder goldig schimmerte, war das Herrlein +begeistert; nun, da der Glanz erblichen ist, tritt er den Rückzug an.«</p> + +<p>»Ihr tut ihm vielleicht unrecht«, warf Katharina ein. »Nach dem, was +meine Venne meint, ist es vielmehr der Vater, der sie trennen will.«</p> + +<p>»Natürlich, der dickgeschwollene Protz fürchtet, daß sein Geldsack +eine Falte bekommt, wenn er dem armen Mädchen beisteht. Doch zum Glück +sind wir noch da, wir, die Gittermannsche, und wir wollen es ihm schon +zeigen. Also, die Sache ist so: was ich Euch geben werde, muß Eure +Venne dem Liebsten heimlich beibringen.«</p> + +<p>»O nein, o nein,« wehrte Katharina ab, »das ist schon gefehlt. Die +Venne bringe ich nie dazu, daß sie Heinrich Achtermann etwas eingibt, +um ihn zu fesseln. Das verbietet ihr der Stolz und auch ihr Trotz.«</p> + +<p>»Ei, ist die Schöne noch so wenig kirre?« höhnte das Weib. »Ja, da +wird wenig zu machen sein, wie ich's im Augenblick übersehe. Ich kenne +es bis jetzt nicht anders, als daß das Liebchen sich selbst der Sache +annimmt. Und ich begegnete auch bisher nie einem Widerstreben. Im +Gegenteil, keine hätte einem anderen anvertraut, was ihr selbst dienen +sollte.«</p> + +<p>»Sie ist auch nicht ›keine andere‹, sondern meine stolze Venne,« +entgegnete Katharina, »und was auf andere zutrifft, paßt auf sie noch +lange nicht. Also besinnt Euch, ob es nicht einen anderen Weg gibt, +sonst muß ich auf Euren<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> Dienst verzichten.« Damit ließ sie das Geld in +ihrer Tasche verschwinden.</p> + +<p>Habgierig folgten die Augen der unholden Frau ihrer Bewegung. »Nun, +vielleicht geht's doch, laßt mir nur einen Augenblick Zeit zum +Nachdenken. — Doch, so wird es sich machen lassen. Venne ist, so sagt +Ihr, dem Verlobten in heißer Liebe zugetan; ihre Gedanken bewegen +sich um ihn. Da kommt es darauf an, daß sie zu der Stunde, wo dem +Bräutigam mein Trank gegeben wird, all ihr Sinnen auf ihn richtet. +Vermögt Ihr das, indem Ihr selbst das Gespräch auf Heinrich Achtermann +bringt, so ist uns geholfen. Und dann bedarf es natürlich noch, was die +Hauptsache ist, einer zuverlässigen dritten Person, die jenem den Trank +verabreicht. Habt Ihr oder kennt Ihr jemand im Hause Achtermann, dem +wir das anvertrauen können?«</p> + +<p>»Daran habe ich schon gedacht, als ich zu Euch kam. Eine alte Bekannte +von mir lebt als Magd im Hause der Achtermanns. Wie ich die kenne, so +hat sie den Heinrich großgewartet. Ihr darf ich mich anvertrauen, und +sie wird sich bereit finden, ihm den Trank zu reichen, vorausgesetzt, +daß er nichts die Gesundheit Schädigendes enthält. Dann würde übrigens +auch ich dazu die Hand nicht bieten«, antwortete Katharina.</p> + +<p>»Meint Ihr, ich wolle mich selbst um den Hals bringen? Vielleicht setzt +es ein wenig Bauchgrimmen; aber auch das ist bei dem kräftigen Mann +nicht zu befürchten. Übrigens sollt Ihr, damit Ihr wißt, daß nichts +Giftiges hineinkommt, das Rezept erfahren, und Ihr mögt, wenn Ihr +wollt, den Trank selbst brauen. Also hört nun.«</p> + +<p>»Nicht doch,« rief Katharina erschrocken, »des vermäße<span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span> ich mich nicht. +Meine alten Augen möchten mich trügen oder die Hände zittern bei dem +Zumessen der Sachen. Macht ihn nur fertig, ich will das Weitere schon +besorgen.«</p> + +<p>»Ach,« sagte die Gittermannsche, »stellt Euch nicht zimperlich an. +Wollt Ihr es nicht, so tue ich es. Sorgt dann aber, daß er auch von dem +Rechten genossen wird. Immerhin mögt Ihr wissen, was darinnen sein wird.</p> + +<p>Ihr holt in der ersten Nacht des abnehmenden Mondes einen Eimer +fließenden Wassers, das über Steine floß, und kocht es über drei +Steinen, aus demselben fließenden Wasser genommen. Von dem kochenden +Wasser mischt Ihr, wenn es wieder kalt geworden ist, in etwas Bier, tut +dazu einiges von der Blume Fatur, nehmt auch neun Fliegen, Erde von dem +Kirchhofe und ein Stückchen von der Haut einer Natter, — ich kann sie +Euch verschaffen. Diesen Trank laßt Ihr dem Bräutigam reichen.</p> + +<p>Da Eure Venne nicht selbst handelnd auftreten soll, so will ich den +Spruch so wählen, daß alles ohne ihr Zutun sich abspielen kann. In +der Nacht darauf, nachdem der Trank gekocht ist, soll ihn Heinrich +Achtermann vorgesetzt bekommen. Ihr aber geht in derselben Stunde unter +einen Ahornbaum und sprecht zugleich, während Ihr in einem von Euch +dort angemachten Feuer stochert, wobei Ihr an Heinrich Achtermann denkt:</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">›Ahorn du blôte, ik bidde dik dorch dine sote,</div> + <div class="verse indent0">Dat ik moge affbreken unde heime dragen</div> + <div class="verse indent0">Sin barnede leve in Vennes Schragen.‹«</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Mit einem leisen Grauen hörte Katharina der Frau zu, die mit dumpfer +Stimme den Spruch hersagte. »Ist es auch<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> wirklich nichts Böses, was +ich da tun soll? Und schadet es den beiden nicht?« fragte sie ängstlich.</p> + +<p>Da fuhr sie jene zornig an: »Nun hört aber endlich auf mit Eurem +Gefasel von ›Schaden tun‹. Ich werde Euch den Trank geben, ob Ihr ihn +dann ausschüttet oder weitergebt, soll mir gleich sein, wenn ich nur +mein Geld bekomme.«</p> + +<div class="chapter"> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span></p> +<p>Venne Richerdes wußte nichts von dem, was die gute Katharina ersonnen, +um Heinrich Achtermann unauflöslich an sie zu ketten. Sie saß in ihren +Gram versenkt in dem düsteren Hause und nahm keinen Anteil an dem +Leben außerhalb desselben. Vom Vater hatte sie den verderblichen Hang +geerbt, im Unglück sich in sich zurückzuziehen, sich mit einer Regung +wollüstiger Gier in die Rolle des Märtyrers zu versenken, ohne ihn +wirklich spielen zu wollen. Sie vergaß, daß sie selbst es war, die +eine Mauer um sich aufbaute durch ihr herbes Sichabschließen gegen die +Nächsten.</p> + +<p>Die Mitmenschen, die gutherzigen, sind wohl geneigt, uns mit ihrem +Trost beizustehen. Nur wenige von ihnen aber geben sich die Mühe, +hinter dem Wall verbitterten Stolzes das wunde Herz aufzusuchen, es in +die Hand zu nehmen und ihm in gütiger Geduld Heilung zu bringen. Sie +urteilen nach dem Schein: Sie will nichts von uns wissen, also mag sie +für sich bleiben!</p> + +<p>Zum Glück für Venne Richerdes lebten ihr aber wahre Freunde in der +Stadt, die sich durch ihre Herbheit nicht abschrecken ließen, sondern +zu ihr durchdrangen und sie, je nach ihrer Gemütsart, durch ruhigen, +sanften Zuspruch oder durch herzhaftes Zugreifen aus ihrem Trübsinn +herauszureißen versuchten. Da war zum Beispiel die gute Immecke +Rosenhagen. Wem die einmal ihr Herz geöffnet hatte, der behielt seinen +Platz darinnen, und die Scheelsucht und<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> Schmähsucht der Welt steigerte +höchstens noch ihre Zuneigung zu dem Mädchen, das es ihr mit seiner +Schönheit, vor allem aber mit seinem freimütigen, gar nicht stolzen +Wesen ihr gegenüber angetan hatte. Jetzt mußte sie ihre Zeit teilen +zwischen dem ›Goldenen Adler‹, wie den unbändigen Enkelkindern und der +einsamen Frau in der Bergstraße.</p> + +<p>Ihr gutes Herz erkannte Venne den Löwenanteil zu. Jeden Tag hockte sie +in dem Hause, das jetzt so still dalag, und suchte Venne aufzuheitern +mit drastischem Zuspruch und weichem, lindem Trost. Merkwürdig, selbst +ihre barschen Worte, wenn sie einmal ungeduldig mahnte, jene solle +nun endlich das Kopfhängen lassen, erreichten mehr als vielleicht +die mitleidig klingende Äußerung eines anderen, der aber nach Vennes +Argwohn die innere Wahrheit fehlte.</p> + +<p>Bei der alten Dienerin erkundigte sie sich nach vielen Einzelheiten, um +den Schlüssel zu der abgrundtiefen Verzweiflung zu finden, in die Venne +versunken war. Katharina verhehlte ihr nicht, daß ihr Verhältnis zu dem +Verlobten wohl der Hauptanlaß sei, und es entschlüpfte ihr auch wider +Willen eine Andeutung über ihr Vorhaben, zu dem die Gittermannsche +die Hand bot. Immecke war erschrocken und riet dringend ab: »Von der +Frau kommt nichts Gutes. Und was sie Euch vorredet von ihrer schwarzen +Kunst, ist eitel Geschwätz. Ihr nützt nichts, richtet aber vielleicht +großes Unheil an.«</p> + +<p>Da wurde Katharina wieder schwankend, denn sie hielt von dem Urteil der +weitgereisten und weltklugen Immecke Rosenhagen viel. Als dann indes +die unheimliche Frau mit ihrem Trank kam, ließ sie sich doch überreden, +ihn ihrer guten Freundin im Hause Achtermann zu geben.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span></p> + +<p>Aber Immecke war nicht die einzige, die sich der armen Venne annahm. +Auch das Haus Hardt bewies ihr in diesen Tagen, wessen wahre +Freundschaft fähig ist.</p> + +<p>Seit Jahresfrist weilte auch Gisela von Wendelin in der Stadt am +Harz. Sie hatte liebevollste Aufnahme gefunden im Schoße der Familie +Hardt. Auch der Vater, der Arzt, erschloß ihr bald sein ganzes Herz, +nachdem er kurze Zeit die Fremde, die aus weiter Ferne her, gegen +das Herkommen, Einlaß in die goslarsche Gemeinschaft heischte, etwas +zurückhaltend beobachtet hatte. ›Heischte‹ hieß ihr übrigens unrecht +tun; denn sie kam, obwohl die Liebe ihres Johannes sie umhegte, wie ein +schüchternes, verscheuchtes Vöglein, das sein Nest verloren hat. Gerade +diese hilflose Schüchternheit, die sich der Anmut nicht bewußt war, in +die sie gekleidet, gewann ihr die Herzen im Fluge.</p> + +<p>Als Gisela in Goslar eintraf, war im Hause Richerdes noch das Glück +zu Gaste. Zwar siechte die Mutter, aber selbst ihr Leiden wurde +verklärt durch die frohe Erwartung, die sich auf dem Antlitz Vennes +widerspiegelte. Auch der Vater war trotz manchen täglichen Ungemachs +gehobener Stimmung, bestand doch die Aussicht, daß mit dem Verkauf +an die Stadt die Quelle aller Widerwärtigkeiten gänzlich verstopft +werden würde. Dann brach das Unglück über sie herein. Die Bekannten +zogen sich zurück. Freunde, auf die man gerechnet hatte, erwiesen sich +als treulos. Da enthüllte sich die Lauterkeit Giselas am reinsten und +schönsten. War sie schon vorher mit Venne befreundet, so wurde sie ihr +jetzt eine starke Stütze. Sie kannte selbst die Schule des Leides; sie +hatte es an sich selbst erlebt, was es heißt, in der bittersten Not +einsam und verlassen zu sein. Unendliches Mitleid<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> mit der Mitschwester +erfüllte ihr Herz und ließ sie alles versuchen, jene aufzurichten.</p> + +<p>Ihr gegenüber sprach Venne auch von Heinrich Achtermann und ihren +Sorgen. Gisela hatte nur Worte zuversichtlicher Hoffnung. »Wenn er Dich +lieb hat, wie Du es sagst, und wenn er so ist, wie Du ihn schilderst, +verstehe ich Deine Bedenken nicht. Er wird Festigkeit genug in sich +fühlen, um auch den Widerstand des Vaters zu besiegen. Nimm aber +auch Du ihm nicht die Hoffnung, daß Du selbst nicht in dem Kampfe +unterliegen wirst. Mir will es scheinen, als ob Deine Zurückhaltung ihn +kränken, in ihm die Meinung hervorrufen muß, daß Deine eigene Liebe zu +erkalten drohe. Wecke diese Stimmung nicht in ihm, es könnte zuletzt +der Trotz in ihm erwachen und dem Vater ein wertvoller Bundesgenosse +werden.«</p> + +<p>Venne versprach, ihrem Rate zu folgen, und als Heinrich wieder bei +ihr anklopfte, gab sie sich unter dem Eindruck der Zuversicht, welche +Gisela in ihr geweckt hatte. Heinrich, der unter dem Widerstand des +Vaters und der herben Zurückhaltung der Geliebten in einen Widerspruch +der Gefühle gekommen war, der ihn aufs tiefste bedrückte, atmete auf. +Sie verlebten eine Stunde ungetrübten, reinen Glücks. Und Heinrich +schied von ihr mit dem zuversichtlichen: »Du sollst sehen, meine +einzige Venne, auch uns lacht wieder die Sonne.« Da verdarb die gute +Katharina vollends, was sie ehrlich bemüht war, gutzumachen.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Zu Worms, wo Siegfried um die Burgundentochter gedient und gefreit, wo +Kriemhilde dem meuchlings Erschlagenen dreizehn Jahre nachgetrauert +hatte, ehe sie in ihrem brennenden Schmerze, zur Sättigung ihrer Rache, +sich dem Hunnen Etzel vermählte, zu Worms, der großen Kaiser- und +Reichsstadt, war alles Leben und Bewegung. Wie so oft seit den Tagen, +in denen sich die Rüstungen der reisigen Burgunder in den Fluten des +Rheins spiegelten, war die Stadt ein gewaltiges Heerlager. Aus allen +Gauen des gewaltigen Reiches kamen die Ritter und Herren, die Grafen +und Fürsten, die Äbte, Bischöfe und Erzbischöfe mit ihrem Gefolge, +ihren Gewappneten und dem Troß ihrer Knechte. In der volkreichen Stadt +fanden längst nicht alle Unterkunft. Man schlug außerhalb ihrer Mauern +Zelte auf, um die Gäste unterzubringen. In den Herbergen und Gasthöfen +herrschte ein Leben, wie es selbst Worms kaum gesehen.</p> + +<p>Reichstag! — Reichstage waren in Worms keine Seltenheit seit +Jahrhunderten. Aber noch nie hatte einer die Welt derart in Spannung +gehalten wie der des Jahres 1521. Eine neue Welt stieg empor. Die alte +stand bereit, ihre Nebenbuhlerin zu bekämpfen und, war es möglich, +zu zertrümmern. Und die Machtmittel der alten waren trotz Verfalls +noch so gewaltig, schrecklich, daß Menschenmut und Menschenkraft +nicht auszureichen schienen, sie zu bezwingen. Woher nun nahm der +unscheinbare Dominikanermönch zu<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> Wittenberg, von dessen Dasein vor +wenig Jahren noch weder Kaiser noch Päpste eine Ahnung gehabt hatten, +den abenteuerlichen Mut, gegen die größten Gewalten der Welt, seitdem +die Menschen sich Fürsten gesetzt und der Autorität einen Thron +errichtet hatten, anzugehen?</p> + +<p>Luther betrat eine Bahn, die nur für ihn selbst neu war. Er wurde +in sie hineingestoßen nach schweren, inneren Kämpfen. Nicht +Effekthascherei, nicht die Sucht nach einem deklamatorischen +Theatererfolge führten ihn nach Worms, sondern die kindliche Gewißheit, +sich mit seinem Gott eins zu fühlen, von seinem Geist und Willen +Zeugnis ablegen zu müssen für das lautere Gotteswort, ließ ihn mit +schier fröhlicher Zuversicht den Weg in die Höhle des Löwen antreten.</p> + +<p>»Mönchlein, Mönchlein, Du gehst einen schweren Gang!« — Jeder, der +die Unbekümmertheit kannte, mit der die Gewalthaber der römischen +Kirche über Bedenken irdischer Art sich wegzusetzen gewohnt waren, wenn +es galt, das Erbe Petri zu schützen; wie vor ihrem Willen auch ein +kaiserliches Wort sich bog und gebrochen wurde, mochte die Worte des +wackeren Frundsberg verstehen, als er den armseligen Mönch in den Kreis +seiner Feinde treten sah.</p> + +<p>Hätte er freilich die Millionen zu seinem Schutze um sich gehabt, +denen seine Lehre aus dem Herzen gesprochen war, ihm hätte trotz des +Machtaufgebots, das ihn in Worms waffenstarrend erwartete, nicht +bange zu sein brauchen. Nicht nur der gewaltige Kreis der Jünger, bei +denen sein Wort in wenigen Jahren wie eine Fackel gezündet, standen +bereit, sondern die Millionen in allen Ländern des Abendlandes, die +unter dem unerträglichen Joch ihrer Zeit seufzten. Es hatte sich bei +dem armen Bürgersmann wie bei dem<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> Bauern seit Jahrhunderten ein Haß +aufgespeichert, gegen den selbst die sozialen Gegensätze unserer Tage +wie ein Kinderspiel anmuten mögen. Es war der Haß des städtischen wie +des ländlichen Proletariats gegen die Besitzenden, Bevorrechteten, +die Reichen in jeder Gestalt, vornehmlich aber die Geistlichen. Das +›Pfaffenstürmen‹ fand schon lange vor Luther hier und da begeisterte +Anhänger. Schaurig hallten die Verse der Bauern wider, welche durch die +Aufruhrpredigt des ›Pfeiffers von Niklashausen‹ in Bewegung gesetzt +waren:</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">»Wir wollen Gott im Himmel klagen, </div> + <div class="verse indent0">Kyrie eleison, </div> + <div class="verse indent0">Daß wir die Pfaffen nit sollen zu Tode schlagen, </div> + <div class="verse indent0">Kyrie eleison.« </div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Die Kirche wankte indes darum noch nicht in ihren Grundfesten, es waren +Vorgänge von lokaler Bedeutung. Wehe aber, wenn sich der Mann fand, +der alle diese Kräfte auf ein Ziel hin in Bewegung zu setzen verstand! +Und wehe ihr, wenn er zu diesem Haufen verzweifelnder Existenzen auch +noch das Heer derer gesellte, die nicht um irdischer Vorteile willen, +sondern, um ihr Herz von dem inneren Widerstreit der Gefühle zu +befreien, auf den Rufer harrten, der sie anführe zum Kampf gegen die +verrottete Kirche.</p> + +<p>Die Schäden hatte auch Ernesti, der kluge und weitgereiste Kaufmann, +erkannt und zugestanden; um den endgültigen Sieg der Kirche war +ihm nicht bange. Und doch erwies sich sein Urteil als kurzsichtig. +Das Klagelied von der Pfaffen Übermut und Üppigkeit, von ihrer +Unbildung und Verrohung, von der Priester wie der Mönche und Nonnen +Unflätigkeiten, dieses Lied, das auch die Päpste zu<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> nennen sich nicht +scheute, erklang allüberall und wurde gern gehört und mitgesungen.</p> + +<p>Vielleicht hatten den armen Bergmannssohn zu Eisleben diese Töne schon +umklungen, und sie waren in ihm nachgehallt, als er in brünstigem +Gebet sich in seiner Zelle zu Erfurt wand und um Erleuchtung flehte. +Die Erkenntnis von der Verderbtheit der Diener der Kirche kam ihm, +als er in Rom den Sündenpfuhl sah, in dem jene sich wälzten, und die +Erleuchtung über das, was seine Aufgabe sei, in Wittenberg angesichts +des schamlosen Treibens jenes Ablaßkrämers von Papstes Auftrag, und +durch sein ehrliches, frommes Streben, die Wahrheit zu ergründen. Er +fand sie in seinem Verkehr mit Gott und in dem Worte Gottes, wie es von +den Vätern aufgezeichnet stand. Und im schlichten Vertrauen auf die +Güte seiner Sache folgte er der kaiserlichen Ladung.</p> + +<p>Im Januar schon war der Reichstag einberufen, im Frühjahr brach Luther +gen Worms auf. Überall unterwegs fand er die Spuren der Tätigkeit gegen +sich, die der Kaiser eigenhändig gegen ihn gezeigt hatte.</p> + +<p>Noch dicht vor Worms warnte ihn sein Freund und Landesvater, der +Kurfürst, er solle umkehren, das Schicksal Hus' würde auch das seinige +sein. Aber: »Ich will hinein, und wenn so viel Teufel auf mich zielten, +als Ziegel auf den Dächern sind.«</p> + +<p>Einer der größten Tage der Geschichte brach mit dem 18. April des +Jahres 1521 an, als Luther gegen Abend zum anderen Male, nachdem +er schon tags vorher vor die Reichsversammlung geführt war, in den +bischöflichen Palast geleitet wurde. Im Saale brannten die Fackeln, als +er hineintrat. Vor ihm saß die ganze Herrlichkeit des Reiches und<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> der +Kirche. Der Kaiser mit seinem Bruder Ferdinand, sechs von den sieben +Kurfürsten, achtundzwanzig Herzöge, dreißig Prälaten, viele Fürsten, +Grafen und städtische Abgeordnete.</p> + +<p>Am Tage vorher hatte sich an dem Mönche eine gewisse Befangenheit und +Unsicherheit kundgetan; heute, so glaubte man, werde er widerrufen.</p> + +<p>Die Spannung war ungeheuer bei allen. Mochte auch der junge Kaiser +verächtlich zum Bruder sagen: »Der soll mich nicht zum Ketzer machen«, +er konnte sich, je länger Luther sprach, dem Eindruck nicht entziehen, +daß ein außergewöhnlicher Mensch da vor ihm stehe, ein Mensch +jedenfalls, der irdische Furcht nicht kannte.</p> + +<p>»Der Mönch redet unerschrocken und kühn«, entschlüpfte es ihm während +der Verhandlung wider Willen.</p> + +<p>Ja, wahrlich, der Mann hatte nicht Menschenfurcht in sich. Der +Offizial des Erzbischofs von Trier, Johannes Eck, benahm sich durchaus +gemessen und vornehm, als er Luther die formulierte Frage vorlegte. +Man hoffte, wenigstens einen teilweisen Widerruf zu erreichen. Aber +der Mönch dachte nicht an Widerruf. Mehr und mehr gewann seine Stimme +an Zuversicht, je länger der Disput dauerte. Man sah, hier half kein +Disputieren mehr, kein Zureden noch Freihalten eines Rückzugweges für +den Ketzer, hier mußte die Entscheidung klipp und klar gefordert und +gegeben werden. Und so verlangte denn Eck eine bestimmte, deutliche +Antwort. Und Luther gab sie: »Weil denn Ew. Kaiserliche Majestät und +Ew. Gnaden eine schlichte Antwort verlangen, so will ich eine Antwort +ohne Hörner und Zähne geben ...«</p> + +<p>Atemlose Spannung lag auf den Zügen der Versammlung, die meisten +standen, um sich kein Wort, keine Miene<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> des Mannes da vor ihnen +entgehen zu lassen. Verklärte Freude die einen, verbissene Wut die +Gegner auf dem Gesicht, so lauschten sie, bis das Schlußwort kam, jenes +gewaltige, das sich wie ein brünstiges Gebet und Bekenntnis von seinen +Lippen rang: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. +Amen!«</p> + +<p>Totenbleich war das Antlitz des kühnen Streiters, als er sich vor der +Versammlung verneigte und den Saal verließ, aber es war nicht die +Blässe der Furcht. Überirdisch leuchtete sein Auge: So blickte nur +einer drein, der nicht Menschenfurcht in seinem Herzen trägt, sondern +der weiß, daß Gott in ihm und um ihn ist.</p> + +<p>Gewaltig war der Eindruck seiner Worte auf die Hörer. In vieler Augen +glühte die Begeisterung über den unerschrockenen Gotteskämpfer. In der +äußersten Ecke, wo die Vertreter der Stadt und einige andere Zuschauer +standen, lief ein gedämpftes Flüstern durch die Reihen. »Unglaublich, +dieser Mut«, »herrlich, herrlich«, so klang es aus ihrem Munde.</p> + +<p>Unter den Zuschauern stand auch ein gedrungener Mann, an den sich eine +Frau lehnte, von deren Gesicht man wenig sehen konnte. Der Gestalt +nach war es ein junges Mädchen, das sich wohl auf den Vater stützte. +Unentwegt hatte der Mann dem Mönch ins Auge geblickt, solange er +redete; aufmerksam lauschte die Frau. Die Erregung teilte sich auch +ihnen mehr und mehr mit. Bei den letzten Worten durchlief ein Schauer +die Gestalt der Frau. Besorgt legte der Begleiter ihren Arm in den +seinigen. »Laß uns gehen,« schlug er vor, da schon ein Teil der +Zuschauer sich still entfernte, »es greift Dich an, wie ich sehe.«</p> + +<p>»Ja, laßt uns gehen«, fiel sie eilig ein und drängte zum Ausgange.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span></p> + +<p>Draußen umfächelte sie die Kühle des Aprilabends; beide atmeten in +tiefen Zügen die frische Luft ein.</p> + +<p>Es waren Venne Richerdes aus Goslar und ihr Oheim Ernesti aus Soest, +die hier in Worms auf die Straße traten, um nach ihrer Herberge zu +gehen. »Das ist ein wahrhaft furchtbarer Mann«, unterbrach Ernesti das +Schweigen.</p> + +<p>»Sagt das nicht, Ohm«, fiel ihm Venne ins Wort. »Wäre es nicht ein +Ketzer und Ketzerei, was er betreibt, so möchte ich rufen: Welch ein +herrlicher, großer Mann! Sahet Ihr nicht die glühende Begeisterung, +die sich auf seinem Gesicht ausprägte? Merktet Ihr nicht, daß ihm +jedes Wort aus dem tiefsten Herzen kam? — So spricht kein Lügner und +abtrünniger Mönch, der sich seiner Gelübde um irdischer Vorteile willen +entzieht.«</p> + +<p>»Um so schlimmer für ihn und für uns«, antwortete Ernesti fast +feierlich. »Weil er mit den Waffen deutscher Schlichtheit und +Einfachheit ficht, wirkt er um so ansteckender und verheerender. Einem +bloßen Worthelden würde bald der Atem ausgehen und die Gefolgschaft +aufgesagt werden. Wieviel Ärgernis ist durch diesen Mönch schon +über die Kirche gekommen! Das wird er vor dem höchsten Richter zu +verantworten haben, wenn er der irdischen Gerechtigkeit entgeht. — +Aber die Kirche wird doch zuletzt siegen, weil sie von Gott ist«, +schloß er mit fast demselben Wort, das er einst dem jungen Goslarer +gesagt hatte.</p> + +<p>»Aber wenn er recht hat, müssen doch seine Gegner sich irren,« fuhr sie +zweifelnd fort, »und Ihr sagt doch selbst, daß seine Schlichtheit Euch +gepackt habe. Mir sollte es leid tun, wenn dieser edle Mönch in dem +Kampf zerbrochen würde.«</p> + +<p>»Bist Du auch schon auf dem Wege zu ihm?« fragte er<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> grollend. »Hüte +Dich, solche Gedanken laut werden zu lassen; sie möchten Dir teuer zu +stehen kommen. Denn Du weißt, wir sind aus anderen Ursachen hier, und +die Sache eines Abtrünnigen wird dem gut katholischen Kaiser nicht sehr +am Herzen liegen.«</p> + +<p>»Seid nicht böse, Ohm,« lenkte Venne ein, »Ihr wißt, daß ich so gut wie +Ihr treu zur alten Lehre stehe. Aber ich kann doch nicht dafür, daß +dieser Mann aus Wittenberg einen solchen Eindruck auf mich macht. Ich +bin manchmal fast irre an mir selbst. Ich will bei dem Glauben bleiben, +dem ich mich als Kind gelobt habe, in dem Vater und Mutter gestorben +sind; doch sehe ich, wie alles um mich wankt. Denn auch in Goslar +hängen schon viele der neuen Lehre an. Die Masse des Volkes jubelt dem +Reformator zu. In vielen Häusern zerfällt die Familie in Zwiespalt, +weil die einen noch glauben, was die anderen schon ablehnen. Soll ich +da nicht auch schwankend werden. Zu den schweren Sorgen, die mich schon +bedrücken, ist jetzt noch diese Herzenspein hinzugekommen. Oh, rettet +mich doch aus dieser Not oder, wenn Ihr es könnt, befreit mich von +diesem schrecklichen Zwiespalt.«</p> + +<p>Ernesti sah sie mitleidig an. »Du tust mir von Herzen leid, mein Kind, +helfen aber kannst Du Dir nur selbst. Mit Deinem Gott mußt Du allein +fertig werden. Nimm Dein Herz fest in Deine Hand, blicke nicht rechts +und nicht links; sage Dir immer wieder: Ich will meinem Glauben treu +bleiben! Und Du wirst die Palme erringen.«</p> + +<p>In der Herberge gingen sie bald zur Ruhe, denn sie verspürten keine +Lust, noch an dem lebhaften Meinungsaustausch teilzunehmen, der über +den Mönch und sein Auftreten entbrannt war.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Vieles war in Goslar vor sich gegangen, seit wir zuletzt Gisela +Hardt und Immecke Rosenhagen bemüht sahen, Venne in ihrem Schmerz zu +trösten. Der Rat hatte neue Scherereien mit dem Herzog Heinrich dem +Jüngeren, der aus dem 1519 erneuerten Schutzvertrage die Verpflichtung +für die Stadt ableitete, ihm zur Vollziehung der über den Bischof von +Hildesheim vom Kaiser verhängten Acht Mannschaft und Geld zu liefern. +Sie mischten sich höchst ungern in diese Sache, denn der Rat hatte mit +der Unruhe in der Stadt genug zu tun.</p> + +<p>Es gor unter dem gemeinen Volk; die Lehre von Wittenberg war auch +nach Goslar gedrungen, und wenn sie noch keine offenen Anhänger fand, +zeigte sich doch die Wirkung in dem Verhalten der Einwohner gegen die +Pfaffen und die Kirche. Bürger wie Proletarier spotteten laut über +die heiligen Reliquien, die zum Peter-Pauls-Tage feierlich gezeigt +wurden. Den Priestern tönten höhnende Worte in die Ohren, wenn sie +sich sehen ließen, und ein paar Nonnen wurde der Schleier abgerissen +und der Rosenkranz weggenommen, als sie in ihr Kloster zurückkehren +wollten. Der Rat ließ die Täter gefangensetzen, aber die Quelle der +Unruhe war damit nicht verstopft. Auch die Fahrt der Venne Richerdes, +die natürlich nicht verborgen blieb, erweckte Unbehagen. Denn, wenn man +sich auch im Rechte ihr gegenüber wußte, so blieb es doch unbequem, vor +dem Reichstage hingestellt zu werden als eine Stadt, die ihren Bürgern +Unbilliges zumute.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span></p> + +<p>Aber ebenso tief wurzelte in Venne die Überzeugung von ihrem Recht. +Ihr Vater war sein Leben lang ein Ehrenmann gewesen, dem niemand +nachsagen konnte, daß er fremdes Gut an sich gebracht habe. Auf dem +Sterbebette noch beteuerte er, daß der Rat ihm zu Unrecht die Kaufsumme +vorenthalte, und sie hörte seine Mahnung: »Vergiß nicht, Dir mein Recht +zu holen, daß ich ruhig sterben kann.« Sie hatte zunächst in Goslar +alles versucht, um zum Ziele zu kommen.</p> + +<p>Die Rechtslage war zweifelhaft. Der Oheim der Hardts nahm sich ihrer +an und verfocht ihre Sache vor dem Rate, aber er erreichte nichts. +Johannes riet ihr ab, weitere Schritte zu unternehmen; seine Frau +Gisela schloß sich ihm an.</p> + +<p>»Du gehst daran zugrunde, Liebste, laß den Streit. Komm zu uns, bis Du +Heinrich angehören darfst.«</p> + +<p>Doch Venne blieb eigensinnig bei ihrer Absicht, alle Mittel zu +erschöpfen, um dem Vater ihr Wort zu halten.</p> + +<p>Den unmittelbaren Anstoß zu dem Appell an die höchste Stelle im +Reich gab ihr eine jener Äußerungen, die Übelgesinnten so leicht und +schnell vom Munde gleiten. Mit scheinbarem Mitleid, unter dem sich +aber die Schadenfreude nur schlecht verbarg, fragte eine der ewig +lästersüchtigen Nachbarinnen Venne, nachdem sie schon jene über dieses +und jenes auszuforschen versucht hatte, wovon sie denn eigentlich +lebe und weshalb sie sich eine Dienerin halte. Venne, die schon über +die ganze Art der Fragestellerin ungehalten war, gab ihr eine kurze, +ablehnende Antwort. Darauf antwortete jene sehr spitz: »Nun, nur nicht +so hochmütig, Jungfer Obenhinaus, wir haben doch keinen Anlaß, so stolz +zu sein, als Tochter eines Bettlers, der noch dazu die Stadt Goslar um +viel Geld betrügen wollte.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span></p> + +<p>Venne ließ die Boshafte hochmütig stehen, aber als sie nach Hause +gekommen war, brach ihre mühsam bewahrte Haltung zusammen, und ein +wildes Schluchzen ließ ihren Körper erbeben: So weit war es also +gekommen, daß man ihres Vaters Ehrlichkeit anzutasten wagte.</p> + +<p>Nun gab es kein Besinnen mehr; sie wollte die höchste Stelle im Reich +um ihr Recht angehen. Wieder riet der Oheim Johannes', der Notar, +ab, und auch jener widersprach ihrer Absicht, doch dieses Mal blieb +sie unbeirrbar bei ihrem Vorhaben. Die Ehre ihres Vaters durfte sie +nicht antasten lassen. Die Freunde wußten sich keinen anderen Rat, als +Heinrich Achtermann ins Vertrauen zu ziehen. Er war in der letzten Zeit +mehrmals im Auftrage des Vaters verreist gewesen und hatte deshalb +Venne längere Zeit nicht gesehen. Heinrich zeigte sich sogleich bereit, +auf Venne einzureden, denn auch er lehnte innerlich den Plan ab.</p> + +<p>Es war eine leichte Entfremdung zwischen den beiden eingetreten, +die der Verlobte auf die herbe Zurückhaltung Vennes zurückführte, +während diese, in ihrer Empfindlichkeit und in ihrem fast krankhaften +Argwohn, überall Geringschätzung und Ablehnung zu wittern, bei ihm +die ersten Anzeichen dafür zu merken glaubte, daß auch Heinrich den +Einflüsterungen Gehör schenke.</p> + +<p>Heinrich gab sich alle Mühe, unbefangen und herzlich zu sein. Auch +Venne konnte sich seiner Aufrichtigkeit nicht entziehen und verlor +allmählich ihre Verstimmung. Als er aber dann auf den eigentlichen +Zweck seines heutigen Besuches zu sprechen kam, nahm sie sogleich +wieder eine kriegerische Haltung an. Was er auch gegen ihre Absicht +anführte, sie kehrte immer wieder zu dem eigensinnigen Einwande<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> +zurück: »Ich habe es dem Vater versprochen und bin es seiner Ehre +schuldig.«</p> + +<p>»Venne, tue es mir zuliebe«, bat er sie. »Du schaffst nur noch +Hindernisse für unsere Vereinigung. Der Vater, der im Rat ist und gewiß +an dem Spruch gegen Deinen Vater mitgewirkt hat, wird es sicher als +besondere Kränkung empfinden, wenn Du jenen verklagst. Ich bitte Dich +herzlich, laß ab von Deinem Vorhaben, dessen Erfolg zudem noch sehr +zweifelhaft ist, wie mir auch die Hardts gesagt haben.«</p> + +<p>Aber sie blieb unerschütterlich. »Hat Dein Vater gegen uns geurteilt, +so muß er überzeugt werden, daß er unrecht tat. Wenn der Spruch, +wie ich hoffe, gegen die Stadt ausfällt, wird er als Ehrenmann doch +hoffentlich eingestehen, daß er irrte.«</p> + +<p>Heinrich sah ein, daß nichts zu erreichen war. Ihm lag daran, mit ihr +noch etwas zu besprechen, was vielleicht sie bewegen konnte, doch von +ihrem Vorhaben abzustehen. Sein Vater hatte nur noch selten mit ihm +über sein Verhältnis zu Venne gesprochen, aber aus allem, was der +Ratsherr sagte, konnte der Sohn klar erkennen, daß derselbe an nichts +weniger dachte als ein Zurückziehen seines Widerspruches.</p> + +<p>In der Tat war Achtermann der Ältere mehr denn je entschlossen, das +Verhältnis zu lösen. Einstweilen hoffte er noch, die Zeit werde ihm +zu Hilfe kommen; Heinrich wußte indes, daß der Vater zur Not auch vor +Gewalt nicht zurückschrecken werde. Die beste Hilfe versprach sich der +Ratsherr von einer längeren Trennung der beiden. Und es kam ihm der +Gedanke, Heinrich von Goslar zu entfernen. Seine Geschäfte reichten bis +London, und es war ihm ein leichtes, einen Grund zu finden, der die +Notwendigkeit des Aufenthaltes des Sohnes dort oder in einem anderen, +entfernten<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> Ort auch diesem als berechtigt erscheinen lassen konnte. +Nun hatte er beiläufig mit Heinrich darüber gesprochen, und dieser, der +die wahre Absicht des Vaters durchschaute, stellte Venne vor, daß ihre +Anwesenheit ihm am Herzen liege, um dem Vater gegenüber die Festigkeit +zu bewahren.</p> + +<p>Sie war erschrocken, aber ihr Trotz verbot ihr, nachzugeben. »Wenn +Du mich liebst, wie Du beteuerst, wirst Du auch ohne mich dem Vater +widerstehen. Vielleicht kommt Dir der Befehl des Vaters ganz gelegen«, +schloß sie in wieder erwachendem Argwohn.</p> + +<p>Da wurde auch der Geliebte zornig. »Du sprichst wie ein ungezogenes +Kind, Venne. Ich habe Dir, denke ich, noch nie den geringsten Anlaß +zu Mißtrauen gegeben. Doch Du machst es mir schwer, unsere Sache zu +verteidigen. Statt bei Dir Unterstützung zu finden in dem Kampf gegen +den Starrsinn des Vaters, setzt auch Du Deinen Trotzkopf auf und +behandelst mich, als hätte ich nicht ein Fünkchen vertrauensvoller +Liebe verdient. Willst Du nicht auf mich hören, so trägst Du die Schuld +an allem, was folgt. Ich gehe jetzt, denn es hat keinen Zweck, gegen +Deine Unvernunft noch länger anzureden.«</p> + +<p>Da brach Venne in haltloses Weinen aus, daß Heinrichs Zorn in Mitleid +zerschmolz. Zärtlich umarmte er sie und sprach ihr tröstend zu. »Ist es +denn so schwer, meine gute, süße Venne, das Trotzköpfchen zu beugen?«</p> + +<p>»Ach, mein Einziger, sei mir doch nicht böse. Ich bin gewiß oft häßlich +und lieblos zu Dir, aber glaube nicht, daß meine Liebe sich gemindert +hat. Du kannst ja nicht in mein Inneres sehen und weißt nicht, wie ich +unter dieser elenden Lage leide. Laß mich noch diesen einzigen Versuch<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> +machen; dann will ich gewiß nichts mehr von der Sache reden.«</p> + +<p>Heinrich sah, daß er nachgeben mußte; so sagte er nur: »Gut, Liebste, +so wollen wir es gelten lassen. Du mußt jedoch damit rechnen, daß Du +mich nicht triffst, wenn Du zurückkehrst. Dann verliere nicht den Mut, +das mußt Du mir versprechen. Ich hoffe, daß wir den Widerstand des +Vaters eher besiegen, wenn ich ihm jetzt zu Willen bin. Sieht er, daß +auch die Trennung unserer Liebe keinen Abbruch tun konnte und bringst +Du vielleicht noch einen Dir günstigen Bescheid mit, so muß er zuletzt +nachgeben.« So endete der Abend mit einer vollen Versöhnung der beiden, +und sie nahmen von einander in alter Zärtlichkeit Abschied.</p> + +<p>Venne traf alle Vorbereitungen zur Reise. Johannes Hardt, der +Rechtsgelehrte, hatte ihr gesagt, daß man gegen reichsunmittelbare +Stände, zu denen die Stadt Goslar als Reichsstadt gehörte, bei dem +Reichskammergericht Einspruch und Klage erheben könne. Er riet indes zu +dem schneller wirkenden Mittel, sich an den Kaiser selbst zu wenden, +was in besonderen Fällen anging.</p> + +<p>Der Reichstag in Worms war für das Jahr 1521 angesetzt. Dort mußte +sich Gelegenheit bieten, ihre Sache vorzubringen, statt sie vor dem +sehr langsam arbeitenden Reichskammergericht zu Frankfurt am Main +entscheiden zu lassen.</p> + +<p>»Habt Ihr einen Fürspruch an dem kaiserlichen Hofe,« sagte Johannes, +»so wird es Euch nicht fehlen, vor den Kaiser gelassen zu werden.«</p> + +<p>Wer konnte da besser helfen als der Ohm Ernesti in Soest! Daher +beschloß Venne, den Umweg über Westfalen zu wählen, um jenen dort +aufzusuchen und ihn zu bitten, sie nach Worms zu begleiten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span></p> + +<p>Ernesti war vor geraumer Zeit in Goslar gewesen und hatte verlauten +lassen, daß er künftig weniger in der Welt umherreisen werde, da das +Alter auch ihn allmählich drücke. Sie durfte also hoffen, ihn zu Hause +zu treffen. Und sie zweifelte nicht, daß er ihretwegen sich noch einmal +der Mühe einer Reise unterziehen werde.</p> + +<p>Venne Richerdes reiste ab. Bald nach ihr verließ auch ihr Bräutigam +Goslar. Vor seiner Abreise ereignete sich jedoch noch etwas, was alle +Zukunftspläne über den Haufen werfen sollte. Die alte Katharina hatte +zwischen dem Wunsch, ihrer Venne zu helfen, und dem Zweifel, ob sie +recht tue, der Gittermannschen zu folgen, ihr Vorhaben noch nicht +ausgeführt, obwohl die alte Vettel ihr immer wieder zuredete.</p> + +<p>Als sie nun aber erfuhr, daß Heinrich eine große Reise antrete, +schwanden alle Bedenken. Wer wußte, welche Gefahren draußen auf ihn +lauerten, um seine Liebe zu ertöten! Daher besprach sie mit ihrer +Freundin im Achtermannschen Hause alles Erforderliche, und diese gab +dem jungen Herrn den Zaubertrunk. Doch die Wirkung war eine andere, +als Katharina erwartete. Heinrich erkrankte heftig, so daß man an eine +Vergiftung glaubte. Das war es wohl auch in der Tat.</p> + +<p>Die alte Magd bei Achtermanns erschrak aufs tiefste, denn sie hing +an Heinrich nicht weniger als Katharina an ihrer Venne. Von Angst +getrieben, bekannte sie, was sie angerichtet habe. Der Vater war außer +sich vor Zorn. Er maß natürlich alle Schuld Venne bei.</p> + +<p>»Da siehst Du, mit was für einer Person Du es noch hältst«, höhnte er. +»Wie eine Troßdirne buhlt sie um Deine Gunst. Sie schämt sich nicht des +Umganges mit Hexen und<span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span> Dunkelmännern. Den Trunk hat ihr gar wohl der +Henker gebraut, zu dem ja alle feilen Dirnen in ihrer Brunst laufen. +Aber die soll mir wiederkommen und auf Deine Hand Anspruch erheben. Vor +das Peinliche Gericht bringe ich sie, den Prozeß lasse ich ihr machen!« +so tobte er.</p> + +<p>Der Sohn versuchte, seine Braut zu verteidigen. »Vater, Du tust Venne +gewiß unrecht. Sie weiß, daß sie sich meiner Liebe nicht erst durch +Zauberei zu versichern braucht. Urteile nicht, bis sie selbst sich +verteidigen kann.«</p> + +<p>Doch da kam er schlecht an. »Meinst Du, das Weibsbild werde ich noch +eines Wortes würdigen. Für mich ist die Sache erledigt, und wehe ihr, +wenn sie es wagt, an der Vergangenheit zu rühren.«</p> + +<p>Heinrich sah ein, daß jetzt nichts zu hoffen war. Nun konnte auch er +allein von der Zeit eine Besserung erwarten. Er war von Vennes Unschuld +überzeugt, aber er grollte ihr doch, daß sie ihn in dieser Stunde, wo +ihr Glück in Scherben zu gehen drohte, allein gelassen hatte. Tief +bekümmert traf auch er seine Anstalten zur Abreise. Er sollte in der +Tat nach London fahren, um am Stahlhof die Achtermannschen Geschäfte +wahrzunehmen. Es galt, sich auf eine lange Abwesenheit einzurichten. +Aber er hoffte, daß bei seiner Wiederkehr die Wetterwolken verzogen +waren. Er würde jedenfalls, das nahm er sich vor, nicht von Venne +lassen.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Der Ohm war bereit, Venne zu begleiten. Auch er entschied sich für +Übergehung des Reichskammergerichtes. »Wenn wir die Sache dort anhängig +machen, ist Aussicht<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> vorhanden, daß vielleicht Deine Enkel einmal +den Entscheid erhalten. Der Gerichtshof ist mit so vielen ungleich +wichtigeren Sachen überlastet, daß sich auf die Akten Deines Prozesses +der Staub von Jahrzehnten lagern würde. Wir wollen also versuchen, in +Worms vorgelassen zu werden. Ist uns das Glück hold, so gelingt es mir, +einen der fürstlichen Prokuratoren des Gerichts zu gewinnen, die ja +selbstverständlich auf dem Reichstage auch anwesend sein werden.«</p> + +<p>Obwohl der Reichstag schon Ende Januar eröffnet worden war, kamen +sie doch noch zeitig genug. Zunächst sollten die weltlichen großen +Angelegenheiten erledigt werden. Da galt es zuerst eine Sache des +Herzogtums Württemberg zu behandeln, dessen Herzog Ulrich der +Schwäbische Bund vertrieben hatte; ferner tauchte zum soundsovielten +Male die italienische Frage wieder auf.</p> + +<p>Zur Abwechselung hielt diesmal der Franzosenkönig Franz I., einer der +Mitbewerber Karls um die Kaiserkrone, das Reichslehen Mailand besetzt. +Das bedeutete eine Minderung des kaiserlichen Ansehens, die der junge +Kaiser nicht hinnehmen wollte. Gegen eine entsprechende Gegenleistung +bewilligten ihm die Kurfürsten zwanzigtausend Mann Fußvolk und +viertausend Reiter zu einem Römerzuge. Für den Kaiser aber stand im +Vordergrunde die religiöse Frage.</p> + +<p>Karl V. stand zu dem Vorgehen Luthers anders als sein Vorgänger. +Maximilian I., der 1519 starb, hatte die Anfänge der Reformation +erlebt. Er fühlte eine gewisse Schadenfreude darüber, daß der römischen +Kurie, mit der er nicht besonders stand, durch den Mönchshader +eine große Verlegenheit erstand. Den Mönch Luther gegen den Papst +auszuspielen, das war die kaiserliche Politik.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span></p> + +<p>Anders Karl. Er empfand den gewaltigen Zulauf, den der Wittenberger +überall fand, als persönliche Kränkung. Zudem darf nicht vergessen +werden, daß er, ehe er deutscher Kaiser wurde, König war des streng +katholischen Spaniens. Nun war der Mönch gehört worden, er hatte nicht +widerrufen. Leider mußte man ihn auf Grund des kaiserlichen Wortes +ziehen lassen. Aber schon am 8. Mai erfolgte durch das Wormser Edikt +seine Ächtung.</p> + +<p>Während Luther auf dem Heimwege von Reisigen des Kurfürsten +aufgegriffen und auf die Wartburg entführt wurde, gingen in Worms +die Verhandlungen weiter. Noch immer kam Venne Richerdes nicht an +die Reihe. In ihrer Herberge wohnte auch der Geheimschreiber des +Bischofs von Hildesheim, ein Herr von Woltwiesche, der mit einigen +Domherren beim Kaiser wegen Aufhebung der kaiserlichen Acht vorstellig +werden sollte. Der Geheimschreiber war ein Mann von bestrickender +Liebenswürdigkeit und weltmännischer Gewandtheit.</p> + +<p>Die schöne Goslarerin machte auf ihn vom ersten Augenblick an einen +tiefen Eindruck. Er hatte bald erfahren, was sie nach Worms führte, und +bot ihr seine Unterstützung an zur Förderung ihrer Sache. Insonderheit +erklärte er sich bereit, ein Gesuch an den Kaiser abzufassen für +den Fall, daß sie nicht Gelegenheit finde, ihre Sache persönlich +vorzutragen.</p> + +<p>Ernesti sprach die bestimmte Erwartung aus, daß dies doch möglich +sein werde; immerhin konnte es nichts schaden, wenn der Fall auch +schriftlich geschickt behandelt wurde. Der Geheimschreiber beeilte sich +also, das Gesuch niederzuschreiben, und der Ohm gestand Venne, daß es +ein Meisterwerk in seiner Art sei. Venne nahm diese Dienste des Herrn<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span> +von Woltwiesche mit gemischten Gefühlen an. Ihr gefiel der Mann nicht +recht, trotz aller höflichen Zuvorkommenheit. Sie fing hin und wieder +einen Blick von ihm auf, der voll glühender Begier zu sein schien. +Freilich versuchte er immer sogleich mit einer harmlosen Wendung seine +Ungebühr zu bemänteln. Nie vergaß er bei einem Wort, das er an sie +selbst richtete, die Form peinlichster Höflichkeit und Ritterlichkeit.</p> + +<p>Endlich kam der große Tag für Venne.</p> + +<p>Sie war sehr befangen, als der Augenblick nahte, da sie vor den +mächtigsten Herrscher des Abendlandes treten sollte. Der Oheim sprach +ihr Mut zu, und auch Herr von Woltwiesche suchte sie zu beruhigen.</p> + +<p>Der Kaiser hatte einen leidenden, gequälten Zug im Gesicht. »Was will +dieses Volk der Deutschen eigentlich alles von mir?« so konnte man +seinen müden Blick deuten. »Will es mich schon auf diesem einen und +ersten Reichstage, den ich abhalte, mit seinen Angelegenheiten zu Tode +quälen?« Immerhin bot die Sache eine Abwechselung, da zum erstenmal +eine Frau als Beschwerdeführerin auftrat.</p> + +<p>Ein Prokurator unterrichtete ihn kurz von dem Inhalt der Beschwerde. +»Also soll sie reden!« ordnete er an. Aber zunächst ergriff Ernesti das +Wort. Der Kaiser blickte erstaunt auf: »Wer ist der Mann?« — Ein neben +ihm Sitzender, es war der Kurfürst-Erzbischof von Mainz, flüsterte ihm +zu, es sei ein sehr einflußreicher Deutscher, der auch dem hochseligen +Herrn Maximilian wohlbekannt gewesen und ihm manche wichtige Dienste +geleistet habe. Geduldig hörte Karl ihn an. Dann erhielt Venne das Wort.</p> + +<p>Während der Rede ihres Oheims hatte sie Zeit gefunden, sich zu sammeln. +Aber noch jagten sich Erröten und tiefe<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Blässe auf ihrem Gesicht, als +sie mit leiser Stimme zu sprechen begann.</p> + +<p>Der Kaiser sah sie unverwandt an, und seine Ratgeber merkten, daß ihm +die schöne Frau offensichtlich gefiel. Frei blickte auch Venne dem +Mächtigen ins Gesicht. Mehr und mehr gewann ihre Stimme an Festigkeit. +Sie schilderte die Demütigungen, die ihr widerfahren, die Armut, der +sie durch das Verhalten des Rates von Goslar ausgeliefert sei. Zuletzt +schwoll ihre Stimme zu edler Entrüstung an.</p> + +<p>»Also klage ich den Rat der Stadt Goslar und insonderheit den +Bürgermeister, Herrn Karsten Balder, an, daß sie mir und meinem Vater +gegenüber fleißig und absichtlich das Recht gebeugt haben, auch üble +Nachrede über meinen ehrenwerten Vater und mich ungehindert haben +verbreiten lassen.</p> + +<p>Ich bitte Euch, Großmächtigster Herr Kaiser,« schloß sie endlich, +»Ihr wollet mir armen Waise Euren gnädigen Schutz nicht versagen +und dazustehen, daß mein Recht gewahrt und meines Vaters Ehre +wiederhergestellt werde.«</p> + +<p>Mit einer tiefen Verneigung trat sie einige Schritte zurück. Der +Kaiser blickte ihr einige Augenblicke sinnend nach. Dann besprach +er sich kurz mit seinen Räten. Man sagte ihm, die Sache sei wohl +juristisch nicht ohne weiteres zugunsten der Bittstellerin zu +entscheiden; indes die Verdienste ihres Ohms und die Gutgläubigkeit +bei den Vertragsverhandlungen, bei denen der Vater jedenfalls ohne +Arglist vorgegangen war, wie auch endlich der Umstand, daß durch den +Kauf des Richerdesschen Bergwerksanteils die reiche Stadt Goslar +nicht wesentlich geschädigt werde, zumal man ja nicht wissen könne, +ob nicht trotz der augenblicklichen Lage doch noch bergbauliche Werte +darin enthalten seien, alles dieses lasse<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> es mindestens zu, dem Rate +dringend zu empfehlen, die Sache erneut zu prüfen und in einer die +Erbin befriedigenden Weise zu Ende führe.</p> + +<p>Karl war über diesen Vorschlag erfreut; es hätte ihm leid getan, die +kühne und schöne Bittstellerin abschlägig bescheiden zu müssen. Mit +leutseligen Worten eröffnete er ihr das Ergebnis, gleichzeitig mit dem +Bedeuten, daß sie die schriftliche Ausfertigung schon in aller Kürze +aus der kaiserlichen Kanzlei erhalten könne. Außerdem werde der Rat +noch durch ein besonderes Schreiben unterrichtet werden.</p> + +<p>Voll innigen Dankes eilte Venne zum Kaiser vor, kniete vor ihm nieder +und küßte ihm die Hand mit dem großen Siegelring. Karl war überrascht, +doch lächelte er ihr huldvoll zu; die Beisitzer blickten ebenso +sprachlos drein: so etwas war angesichts der strengen Etikette bis +dahin unerhört. Aber auch sie fanden sich mit dem hübschen Zwischenfall +ab.</p> + +<p>Aufatmend verließ Venne den Saal. Draußen fiel sie in überströmendem +Dank dem Oheim um den Hals. »Das habe ich Euch in erster Linie zu +verdanken, teurer Oheim!«</p> + +<p>»Nun, nun, diese Form der Danksagung lass' ich mir schon gefallen; +doch ich glaube,« fuhr er mit einem leisen Lächeln fort, »Dein +spitzbübisch hübsches Gesicht hat auch ein wenig Anteil an dem Siege. +Und dann vergiß auch hier den Herrn von Woltwiesche nicht, der uns +manch trefflichen Wink gab!« — So reichte sie auch diesem die Hand. +Ehrerbietig neigte er sich darüber und flüsterte mit leiser, heißer +Stimme: »Wollte Gott, ich dürfte noch mehr für Euch tun. Mein Leben +sollte ein einziges Dienen um Eure Huld sein.« Da wandte sie sich +verletzt von ihm ab.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Venne trat die Rückreise mit wesentlich leichterem Herzen an, als +sie nach Worms gekommen war. Mit dem Spruche des Kaisers, so meinte +sie, war alles Unheil ausgetilgt. Nun mußte auch der stolze Patrizier +Achtermann seine Bedenken gegen eine Verbindung seines Sohnes mit ihr +aufgeben. Die Wolken, die so düster und unheilschwanger über ihrem +Haupte hingen, begannen sich zu zerteilen! Ihre Gedanken eilten zu +Heinrich: Wo mochte er wohl sein, wenn sie zurückkehrte? Sie gestand +sich ein, daß sie ihm doch wohl oft unrecht getan habe mit ihrer ewigen +Verärgertheit, und sie nahm sich vor, ihn durch verdoppelte Liebe zu +entschädigen.</p> + +<p>Bis Frankfurt reiste sie zusammen mit dem Oheim. Dann nahm er Abschied +von ihr, um durch das Rheintal den nächsten Weg in die Heimat zu +suchen. »Jetzt herrscht hoffentlich bald wieder gut Wetter in Goslar«, +scherzte er. »Übers Jahr spätestens hoffe ich eine Einladung zu Deiner +Hochzeit zu erhalten.« Errötend nickte ihm Venne zu, er traf ja mit +seinen Worten nur ihre eigenen, innigsten Wünsche!</p> + +<p>Vor der Abreise empfahl er seine Nichte dem Schutze ihrer +Reisegefährten, besonders dem des Hildesheimers. Woltwiesche beeilte +sich, zu versichern, daß er sein möglichstes tun wolle, um ihr die +Reise so bequem wie möglich zu machen. Er werde auch den kleinen Umweg +über Goslar nicht scheuen, um sich zu überzeugen, daß sie heil und +unversehrt zu Hause angelangt sei.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span></p> + +<p>Die Reisegesellschaft war klein. Neben dem Bischöflichen bestand +sie aus einigen Kaufleuten und dem alten Ratsherrn Bertold Sachs +aus Magdeburg. Dieser würde den Weg mit ihr bis fast in die Heimat +zurücklegen. Das war Venne ein wahrer Trost.</p> + +<p>Sie wollte dem Oheim nicht ins Wort fallen, als er den Geheimschreiber +im besonderen zu ihrem Ritter ernannte. Ohne sich im einzelnen über +das Gefühl ihrer Abneigung Aufschluß geben zu können, konnte sie doch +diese innere Ablehnung des ganzen Mannes nicht loswerden. War es sein +geschniegeltes, geziertes Wesen, stieß sie seine übergroße, fast devote +Höflichkeit ab? — Sie wußte es nicht, aber sie war willens, sich ihm +so fern zu halten, wie es möglich sei. Deshalb schloß sie sich auch vom +ersten Tage an mehr dem Ratsherrn an, dessen väterlich gütiges Wesen +ihr Vertrauen weckte.</p> + +<p>»Sahet Ihr auch den Wittenberger?« brachte er am ersten Tage das +Gespräch auf die Wormser Vorgänge. Venne bejahte und gab ihrer +Bewunderung für den unerschrockenen Mönch Ausdruck.</p> + +<p>»Euch hat es vor allem, wie es scheint, sein Mut angetan. Der war auch +zum Verwundern groß; ich weiß freilich nicht, ob er sich der Gefahr +bewußt gewesen ist, in die er sich begab. Er soll ja, so hört man, +freies kaiserliches Geleit zugesichert erhalten haben; indes wundern +würde es mich nicht, wenn der Mann seine Heimat nicht wiedersieht.«</p> + +<p>»So meint Ihr, daß der Kaiser ihm das Wort nicht hält?« fragte sie +erschrocken, denn ihrem Herzen gab es einen Stoß, daß derselbe Mann, +der sich ihr so gnädig und gütig erwiesen hatte, in diesem Falle gegen +seine Ehre handeln könne.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span></p> + +<p>»Der Kaiser braucht es nicht zu sein,« fuhr der Magdeburger fort. »Es +gibt ihrer auch ohne den Kaiser genug, die ihm das Leben nicht gönnen +werden, ja sie sind seine Todfeinde. Und ehe sie ihre Macht durch +einen armseligen Mönch zertrümmern lassen, werden sie ihn selbst zu +beseitigen suchen. Den Kaiser braucht darob nicht einmal der geringste +Vorwurf zu treffen; denn wie soll er es verhüten, daß in seinem weiten +Reiche ein Menschlein verschwindet. Schade freilich wäre es um diesen +Mann.«</p> + +<p>»So seid Ihr auch der Meinung, daß er eine gute Sache vertritt?« +forschte sie.</p> + +<p>»›Auch‹, — demnach hat er es Euch also angetan?« — Venne errötete ein +wenig, aber der Ratsherr kam ihr zu Hilfe. »Ihr braucht Euch ob Eurer +Teilnahme nicht zu schämen, noch weniger bedarf sie der Erklärung. Wer +einer Wallung in seiner Brust fähig ist, dem mußte das Herz bewegt +werden bei so viel tapferem Freimut und glühender Begeisterung. Ob er +irrt, wer mag es wissen; aber heilige Überzeugung sprach aus jedem +seiner Worte, und seine Worte haben die Herzen derer gepackt, die ihn +hörten, es sei denn, daß sie sich mit Fleiß dagegen verhärteten.«</p> + +<p>»Das trifft auch auf den Oheim Ernesti zu, wie ich merkte«, fügte Venne +schüchtern ein. »Er war ganz wild, als ich ihm zu erkennen gab, daß der +Luther mich erschüttert habe.« Und dann erzählte sie, wie jener ihre +Begeisterung für Luther aufgenommen habe.</p> + +<p>»Das glaube ich,« erwiderte Sachs, »hätte es bei ihm, den ich auch +kenne, nicht anders erwartet. Er ist ja aber auch mit dem Papst und +seiner Sache besonders eng verbunden, wie ich weiß. Und den rechten +Starrkopf hat er obendrein.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span></p> + +<p>Endlich aber ist er, das wollet nicht vergessen, einer von den Alten, +die so leicht nicht umlernen. Mir ist's ähnlich gegangen: Man wirft +nicht ohne weiteres über Bord, woran man ein langes Leben sein Herz +gehängt. Und vollends nun, wenn es das Beste, Heiligste ist, auf das +man in dieser irdischen Kümmerlichkeit seine Hoffnung setzte.</p> + +<p>Ihr Jungen springt vielleicht mit Jauchzen in das neue Land, aber wir +Abgängigen zaudern, den einen Schritt zu tun, der uns Befreiung bringen +kann von aller Unwahrhaftigkeit und Seelennot, der uns aber auch trennt +von all dem, was uns an das alte Gestade kettet.</p> + +<p>Mir ging ein treues Weib dahin, sie starb im alten Glauben. Wir +begruben gemeinsam drei prächtige Kinder. Es war der Trost meiner +Lebensgefährtin in ihrer Todesstunde, daß sie da oben ihre Lieblinge +wiederfinden würde. Sie wartet auf mich mit gleicher Zuversicht. Soll +ich sie, darf ich sie enttäuschen? Scheide ich mich für ewig von ihnen, +wenn ich den neuen Glauben annehme? Meine Seele drängt zu Luther, mein +Herz bebt zurück vor der möglichen Trennung. Wer löst mich von der +Pein?«</p> + +<p>Wer löst mich von der Pein? — Das war auch die Last, die ihr eigenes +Herz bedrückte: Der Vater, die Mutter, sie hatten nacheinander den +Pilgerstab aus der müden Hand gelegt und waren durch das dunkle Tor +gegangen, das ihnen, wie sie glaubten und hofften, das Wiedersehen +in einer lichten Welt schenken würde. Und sie, die Tochter, sollte +sie nicht zur Seite ihres Mütterleins stehen, nicht mit dem geliebten +Vater die seligen Freuden des Jenseits genießen dürfen? Und noch ein +irdisches Bangen hemmte ihren Entschluß: Der Geliebte. Die Achtermanns +hingen noch mit aller Zähigkeit am alten Glauben, und Heinrich?<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span> Ja, +Heinrich liebte sie, und sie hoffte, in Worms die Hindernisse aus dem +Wege geräumt zu haben, die sich ihrer Vereinigung entgegenstellten. +Errichtete sie nicht eine neue, unübersteigbare Schranke, wenn sie der +Regung ihres Innern nachgab? Und dann auch wieder der Zweifel: War das +nun auch der rechte Weg? Freilich, gedachte sie der feurigen Worte des +Mönches, sah sie seinen weltentrückten Blick vor sich, so fühlte sie +sich als seine Jüngerin, und auch in ihr klang es wieder: »Ich kann +nicht anders, Gott helfe mir! Amen!«</p> + +<p>Der Ratsherr sah die Kämpfe in ihrem Innern; das junge Weib dauerte +ihn, aber Hilfe konnte auch er ihr nicht bringen. »So ist es nun,« +murmelte er, »Licht will er uns bringen, Erlösung, der Feuerkopf, und +stürzt uns doch in das Dunkel der Herzenskämpfe!« Und er ritt, in +ernste Gedanken versunken, fürbaß.</p> + +<p>Venne und ihre Begleiter waren eine geraume Zeit nach Luther von Worms +aufgebrochen. Er saß längst auf der Wartburg in sicherm Gewahrsam, als +man ihn im Reich noch frei wähnte.</p> + +<p>In der Umgegend des Überfalls aber, der von Freunden zu seiner +Sicherheit ausgeführt wurde, lief das Gerücht um, der Mönch sei +aufgehoben und fortgeführt worden, von den Kaiserlichen natürlich, oder +Papisten, so wähnte man. Andere wieder mutmaßten, es sei eine Finte, +die von Freunden und Gesinnungsgenossen ins Werk gesetzt worden sei, um +die Feinde irrezuführen.</p> + +<p>Auch die Reisenden erreichte das Gerücht, als sie sich der Grenze des +Hessenlandes näherten. Venne war tief niedergeschlagen. Sachs seufzte +auf.</p> + +<p>»So haben sich meine Befürchtungen schneller erfüllt, als<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> ich annahm. +Schade um den Mann! — So schnell also erlosch das Licht, das uns in +der Finsternis aufging!«</p> + +<p>Bei Venne brach sich der Zorn Bahn. »Das ist abscheulich vom Kaiser, +wenn er es veranlaßt hat. Nie hätte ich ihm diese Doppelzüngigkeit +zugetraut!«</p> + +<p>»Es muß ja nicht der Kaiser gewesen sein«, begütigte der Ratsherr. »Ich +sagte Euch: die anderen, die Päpstlichen, sind ihm noch viel ärger +gram. Endlich bleibt noch die geringe Hoffnung, daß <em class="gesperrt">die</em> recht +haben, die da meinen, nicht Feinde, sondern gute Freunde hätten ihn zu +seinem Besten den Streich gespielt. Möge es so sein,« schloß er, »sonst +ist der Menschheit ein großer Verlust widerfahren.«</p> + +<p>»Möchte es so sein!« — das wünschte auch Venne in ihrem Herzen, und +ihr Gebet am Abend schloß mit der innigen Bitte: »Lieber Gott, erhalte +uns den Mann und errette ihn vor seinen Widersachern!«</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Während der ersten Tage war der bischöfliche Schreiber durchaus der +aufmerksame Reisemarschall, der sich bemühte, der ihm Anvertrauten das +Reisen so angenehm wie möglich zu machen. Aber als in Fulda einige +der Reisegefährten zurückblieben und sie nunmehr auf den alten Sachs +aus Magdeburg neben Woltwiesche angewiesen war, von dem Diener des +Ratsherrn abgesehen, änderte sich sein Benehmen. Daß er den ganzen Tag +über fast unausgesetzt an ihrer Seite zu bleiben suchte, konnte er mit +dem Auftrage des Oheims begründen, auf seine Nichte Obacht zu geben. +Doch er mißbrauchte jede Gelegenheit, um ihr seine Gefühle<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> für sie +immer eindeutiger zu zeigen. Für eine andere hätte vielleicht diese +Art der Huldigung seitens des adligen Schreibers einen Reiz gehabt, +aber Venne, der auch der ganze Mann widerstand, empfand sie als eine +Belästigung. Als er ihr dann eines Tages unverblümt seine Neigung +gestand, ließ sie ihn sehr ungnädig ablaufen.</p> + +<p>Ihre Ablehnung aber stachelte seine Glut noch mehr an. »Was habt +Ihr gegen mich?« fragte er. »Kann ich Euch nicht ein angenehmes +Leben bieten mit einer Stellung, welche die Eurige in Goslar weit +überragt? Und es muß Euch doch auch daran liegen, aus der leidigen +Stadt herauszukommen, wo Euch alles auf Schritt und Tritt an erlittene +Kränkungen erinnert. Folgt mir nach Hildesheim, Ihr werdet es nicht +bereuen.«</p> + +<p>»Spart Eure Worte, Herr von Woltwiesche, sie sind vergebens gesprochen, +und sie beleidigen mein Ohr. Wollt Ihr aber den Hauptgrund meiner +Ablehnung wissen, so denkt an die Äußerung meines Oheims. Ihr wißt, ich +bin verlobt, und Ihr habt die Rechte eines Dritten zu achten.«</p> + +<p>»Der Teufel hole diesen Dritten, der Euch mir vorweg stahl. Hat er sich +um Euch gekümmert, als Ihr in Worms um Euer Recht kämpftet? Ich stand +Euch zur Seite, <em class="gesperrt">er</em> nicht!« antwortete er grollend.</p> + +<p>»Es ist nicht vornehm von Euch gehandelt, mir Eure Dienste, die ich +zudem nicht beansprucht habe, so ins Gesicht zu rühmen. Aber meinem +Bräutigam tut Ihr unrecht. Hätte er gekonnt, so würde er gewiß dort +nicht gefehlt haben. Doch er ist zur Zeit außer Landes«, wies sie ihn +zurecht.</p> + +<p>»Ha, ha, ha,« lachte der Schreiber höhnisch, »das ist mir der rechte +Liebhaber, der auf Reisen geht, während die Braut um ihr Leben kämpft!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span></p> + +<p>Zornig fiel ihm Venne ins Wort: »Was erfrecht Ihr Euch, Herr, so +über den Mann zu sprechen, dem ich verlobt bin! Was wißt Ihr von den +Gründen, die ihn fernhalten? Dankt Eurem Schöpfer, daß er nicht hier +ist, Eure Rede würde Euch schlecht zu stehen kommen.«</p> + +<p>Da in diesem Augenblick der Ratsherr, der vorangeritten war, hielt, +um sich nach ihr umzusehen, brachen sie das Gespräch ab, der +Geheimschreiber voller Unwillen, über Venne wie über den Störenfried. +Sie hielt sich künftig, soweit das ging, noch mehr in der Nähe des +älteren Begleiters. Der Schreiber erkannte ihre Absicht und knirschte +mit den Zähnen, voller Wut, daß seine Absicht durchkreuzt wurde. Er +war durch die Worte Vennes nicht abgeschreckt, sondern wartete nur auf +einen günstigen Augenblick, um seine Pläne wiederaufzunehmen.</p> + +<p>Diese Gelegenheit bot sich erst einige Tage später, als man schon in +die Nähe des Harzes gekommen war. Unversehens drängte er sein Pferd +an das ihrige, und als sie es, unwillig über die erneute Frechheit, +antrieb, fiel er ihr in den Zügel.</p> + +<p>»Ihr müßt mich anhören, und Ihr werdet mich hören«, sprach er +entschlossen und mit wildglühendem Blick.</p> + +<p>Venne war erschrocken über die lodernde Gier, die ihr aus seinem Auge +entgegenfunkelte; doch sie bezwang ihre Furcht und fragte spöttisch +lächelnd: »Habt Ihr an der Absage von neulich noch nicht genug? Ich +meine, Eure Würde als Edelmann sollte Euch abschrecken, eine neue +Demütigung zu erleiden.«</p> + +<p>Aber unbeirrt fiel er ihr ins Wort: »Laßt den Hohn, Venne, Ihr wißt +nicht, welch gefährlich Spiel Ihr treibt. Ihr habt es mir angetan, daß +ich nicht von Euch lassen<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> kann. Könntet Ihr in mein Herz sehen, so +würde Euch mein jämmerlicher Zustand allein schon Mitleid einflößen. +Stoßt mich nicht zurück, Venne, Ihr treibt mich sonst zum Äußersten.«</p> + +<p>»Ich kann meinem Herzen nicht gebieten, daß es Euch gewogen sein soll«, +wehrte Venne ab. »Schämt Euch, daß Ihr Euch von einer flüchtigen Regung +des Augenblicks so knechten laßt, um darüber zu vergessen, was eines +Mannes und Ritters würdig ist.«</p> + +<p>In ihrer Entrüstung erschien sie ihm nur noch schöner und +begehrenswerter. Das Blut stieg ihm in den Kopf, und er verlor die +Besinnung über sich.</p> + +<p>»Was schiert mich Rittertum, was Manneswürde, Dich will ich haben, +Du schönstes Weib!« Damit beugte er sich zu ihr herüber und riß sie +an sich. Venne fühlte seine Lippen auf ihrem Munde brennen. Aber im +nächsten Augenblick riß sie sich los. Zornbebend blitzte sie ihn an und +schlug ihn mit der Reitgerte ins Gesicht. »Schuft!« rief sie ihm zu, +dann sprengte sie davon zu den übrigen.</p> + +<p>Einen Augenblick war der Gezüchtigte wie betäubt, dann aber brannte ihn +die Schmach, die er erlitten. »Das sollst Du mir büßen, Teufelsweib! +Verschmähst Du meine Liebe, so soll Dich meine Rache um so sicherer +treffen!«</p> + +<p>Den Ratsherrn bat Venne, mit ihr künftig allein weiterzureisen, da der +Geheimschreiber sich ungebührlich gegen sie benommen habe. Sachs wollte +jenen zur Rede stellen, aber Venne hieß ihm, davon abzulassen. »Wir +wollen voranreiten, er wird uns nicht folgen.« So geschah es.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Bei ihren Freunden und besonders bei der alten Katharina herrschte +freudige Überraschung, als Venne in Goslar wieder eintraf. Kurz vor dem +Ende ihrer Reise erlebte sie noch ein Abenteuer, das sich böse anließ, +aber doch harmlos verlief. Sie hatte für den letzten Teil des Weges +Gesellschaft und Schutz an einer Anzahl von Reisenden gefunden, die +über Goslar weiter nach dem Osten wollten.</p> + +<p>Jenseits des Städtchens Seesen, wo die Straße am Fuße der Harzberge +dahinzog, wurden sie plötzlich am hellen Tage von bewaffneten Reitern +angehalten. Da die Angegriffenen sich zur Wehr setzten, wäre es gewiß +zu einem Blutvergießen gekommen. Als die Männer noch in erregtem +Wortwechsel begriffen waren, trat plötzlich ein neuer Ankömmling +auf, der sich durch seine Kleidung von den Angreifern vorteilhaft +unterschied. Überrascht sah er auf die schöne Frau, die erblaßt +inmitten des Tumultes stand.</p> + +<p>Er war der Anführer oder besaß jedenfalls das Ansehen eines solchen, +denn bei seinen ersten Worten gehorchten die wilden Männer sogleich. +»Hört auf«, befahl er. »Die Leute sollen ungestört weiterziehen.«</p> + +<p>Als einer der Räuber nicht sogleich von seiner Beute abließ, fuhr er +ihn mit harten Worten an:</p> + +<p>»Wirst Du Schuft gehorchen, oder willst Du meine Klinge spüren?«</p> + +<p>Sofort stand der Mann von seinem Vorhaben ab. Die<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> Wegelagerer sahen +sich erstaunt an: Was war denn in <em class="gesperrt">den</em> gefahren? Das war ja das +erstemal, daß er ihnen einen schon gelungenen Fang entgehen ließ. Sie +murrten leise untereinander, aber, ihm gegenüber an blinden Gehorsam +gewöhnt, zogen sie ab.</p> + +<p>Die Reisenden wollten für die unerwartete Hilfe danken, doch er wehrte +ihnen ab. Sein Auge hing immer noch an Venne: »Vergebt, schönes +Fräulein, so darf ich Euch doch nennen, daß Ihr die Belästigung +erleiden mußtet; haltet es dem Mangel an Umgang mit Damen zugute, wenn +sie sich ungeschliffen und tölpelhaft benahmen. Aber Ihr seht ja, es +sind im Grunde nur ungeleckte Bären.«</p> + +<p>Nun die Gefahr vorüber war, gewann auch Venne ihre Fassung wieder. Die +Sache kam ihr beinahe belustigend vor, und sie antwortete mit einem +Lachen: »Ich möchte aber doch diesen Bären nicht begegnen, wenn ihr +Führer fehlt. Euch gebührt jedenfalls mein Dank, daß Ihr Euch zur +rechten Zeit einfandet, um sie tanzen zu lehren statt zu brummen. Doch +ist es nötig, daß ich meinen Dank an Herrn ›Niemand‹ richte, oder darf +man Euren Namen wissen, ohne neugierig zu sein?«</p> + +<p>»Wollet gestatten, Fräulein, daß ich für Euch der Herr ›Niemand‹ +bleibe. Was ist ein Name? Ich führe ihrer viele. Der eine aber, den ich +Euch nennen könnte, würde Euch wahrscheinlich schrecken. Also begnügt +Euch mit dem Bewußtsein, daß Ihr einem Abenteuer anheimfielet, bei dem +ein Unbekannter Euch geringe Dienste leisten konnte, ein Unbekannter,« +fuhr er leiser fort, »dem es Eure Schönheit auf den ersten Blick antat +und der vieles darum geben würde, könnte er Euch einmal in einer +wirklich großen Not beistehen. Ich will nicht hoffen, daß ein solcher +Augenblick<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> eintritt. Aber habt Ihr einen Helfer nötig, so ruft mich, +und ich bin zur Stelle.«</p> + +<p>Venne hörte dem Unbekannten mit einer gewissen Neugier zu. Merkwürdig, +die freimütige Art, in der er ihr huldigte, verletzte sie nicht +annähernd so, wie die zierlichen Redewendungen des Herrn von +Woltwiesche es von Anfang an getan hatten. Sein offener Blick schien +trotz des düsteren Handwerks, mit dem er in Verbindung stand, nichts +Falsches zu kennen. Als er geendet hatte, sagte sie, immer noch in +einem fröhlichen, freundlichen Ton: »Aber wo finde ich denn den Herrn +Unbekannt, wenn ich ihn nötig habe?«</p> + +<p>Der Fremde neigte sich zu ihr: »Dann fragt nur bei den Brüdern im +Kloster zum Grauen Hofe nach; dort wird man Euch bescheiden können. +Ihr seht also,« schloß er scherzend, »ich bin nicht immer in so +verwahrloster Gesellschaft.«</p> + +<p>Als Venne den Goslarer Freunden von ihrem Abenteuer berichtete, wobei +sie das Verhalten des Führers, oder was er gewesen, rühmend hervorhob, +sagte Johannes Hardt sogleich: »Das war Hermann Raßler. Der hat +gewiß geglaubt, uns wieder einen Tort antun zu können. Und Du darfst +froh sein, daß Du als Goslarerin so glimpflich davonkamest.« Venne +widersprach: »Ich glaube, daß er mich auch gleich ritterlich behandelt +haben würde, hätte er gewußt, wer ich bin.«</p> + +<p>Die Freude über ihre glücklich erfolgte Heimkehr erlitt einen jähen +Stoß, als sie von dem Unfall hörte, der Heinrich Achtermann vor seiner +Abreise betroffen hatte. Und sie war vollends entsetzt, als sie die +Einzelheiten vernahm, die ihn herbeiführten. Tränen der Scham und +der Verzweiflung füllten ihre Augen. »Wie konntest Du mir das antun, +Katharina! Nun ist alles aus zwischen Heinrich Achtermann<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> und mir. Was +wird er gedacht haben, daß ich ihn an mich kuppeln wollte, wie eine +feile Dirne sich ihren Liebhaber sichert!«</p> + +<p>Katharina war untröstlich über den Schmerz, den sie, die es doch so +gut gemeint hatte, ihrer Herrin bereitete. »Aber ich habe ja längst +versucht, die Sache richtigzustellen und will gern mit dem Ratsherrn +selbst sprechen, wenn Du es verlangst«, wimmerte sie.</p> + +<p>Doch Venne wehrte ab: »Laß um Gottes willen Deine Hände davon. Du +würdest nur noch mehr verderben, als schon geschehen ist. Was noch zu +tun ist, liegt mir selbst ob.«</p> + +<p>Entrüstet und bekümmert erzählte sie den Hardts, was Katharina +angerichtet habe. Diese hatten davon noch nichts gehört. Achtermann +mußte also verboten haben, darüber zu sprechen. Johannes wollte darin +ein günstiges Zeichen sehen, doch Venne teilte diese Auffassung nicht. +»Ihr kennt den Mann nicht in seinem Starrsinn, der an Bosheit grenzt. +Wäre wenigstens Heinrich da, daß ich mich vor ihm rechtfertigen könnte, +dann möchte es sich vielleicht noch zurechtgeben. Aber aufgeklärt +werden muß die Sache, und da ich beschuldigt bin, werde auch ich selbst +diese Aufklärung herbeiführen.«</p> + +<p>Daneben erhob sich die Frage, wie nun ihre Angelegenheit mit dem Rat +behandelt werden müsse. Johannes Hardt stellte sich ihr zur Verfügung, +riet aber, abzuwarten, bis das Schreiben des Kaisers eingetroffen sei. +Inzwischen führte Venne ihren Vorsatz aus und suchte den Ratsherrn +Achtermann auf. Es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, um nicht im +letzten Augenblick umzukehren. Denn das Bewußtsein, daß sie dem Manne +gegenübertreten sollte, der für das Scheitern ihres Lebensglücks +verantwortlich zu machen war,<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> lastete mit erdrückender Schwere auf +ihr. Sie hatte einige Zeit zu warten, bis der Gefürchtete und beinahe +Verhaßte durch eine kleine Seitentür ins Zimmer trat. Sein kühler, +abweisender Blick sagte ihr, daß sie nichts Gutes von ihm zu erwarten +habe.</p> + +<p>»Wie komme ich zu der zweifelhaften Ehre, Euch in meinem Hause zu +sehen?« fragte er mit schneidender Kälte. Venne schoß das Blut ins +Gesicht.</p> + +<p>»Ihr habt kein Recht, mich in dieser verletzenden Art und Weise zu +empfangen, Herr Achtermann«, antwortete sie, sich mühsam beherrschend. +»Ohne triftigen Grund sähet Ihr mich freilich nicht hier. Aber ich +will mich gegen Verleumdungen verteidigen, die man über mich in meiner +Abwesenheit in Umlauf setzte und an denen auch Ihr, wie ich höre, nicht +unbeteiligt seid.«</p> + +<p>»Ich bin gespannt auf diese Verteidigung, wenngleich sie vor mir wenig +angebracht ist«, sagte er mit unverändertem Hohn.</p> + +<p>Venne beteuerte, daß sie von dem ganzen Vorhaben nichts gewußt und erst +jetzt davon gehört habe, zu ihrer großen Beschämung.</p> + +<p>»Ihr müßt schon einen Dümmeren suchen, als Ihr in mir findet, der Euer +Märlein glaubt. Euch auf die Harmlose hinauszuspielen, steht Euch +schlecht an.«</p> + +<p>Da verließ auch Venne die Ruhe: »Daß Ihr ein hartherziger Vater waret, +wußte ich. Daß ihr ein elender Verleumder und Ehrabschneider seid, +erfahre ich zur Stunde. Ich will nicht um Eure Gnade betteln. Sagt mir +nur noch eins auf Euer Gewissen: Teilt Euer Sohn Eure Meinung von mir?«</p> + +<p>Dem Ratsherrn schwoll bei den kühnen und furchtlosen<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> Worten des +Mädchens die Zornesader. »Hütet Euch, mich noch zu reizen, Jungfer +Richerdes; es möchte Euch teuer zu stehen kommen. Noch bewahre ich Eure +Tat bei mir. Gebt mir nicht Anlaß, sie der Öffentlichkeit preiszugeben; +es möchte Euch wenig frommen. Und was meinen Sohn anbetrifft, so könnt +Ihr Euch sein Urteil selbst ausmalen. Eins sollt Ihr wenigstens wissen: +Ehe Ihr in mein Haus als Schwieger einzieht, töte ich meinen Sohn mit +eigener Hand. Aber daß das nicht nötig ist, dafür laßt mich allein +sorgen.«</p> + +<p>Venne war leichenblaß geworden. »Ich danke Euch trotz allem für Eure +Mitteilung. Nun sehe ich wenigstens klar, und Ihr mögt unbesorgt sein, +daß ich Euer Haus je wieder betrete; doch für Eure Kränkungen und +Beleidigungen«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, »sollt Ihr mir +Rechenschaft geben, Herr Achtermann!«</p> + +<p>»Versucht das lieber nicht«, antwortete er grollend. »Seid froh, +wenn ich Euch dazu nicht auffordere. Ich warne Euch vor unbedachten +Schritten; es geht dabei um mehr, als Ihr zu wissen scheint oder wissen +wollt.«</p> + +<p>Zornbebend verließ Venne das Haus. Sie vermochte kaum die Tränen der +Wut und der Empörung zurückzuhalten. Zu Hause aber ließ sie ihrem +Schmerz und ihrer Verzweiflung freien Lauf. Es überfiel sie ein +Weinkrampf, und ihre klagende Stimme gellte durch das leere Haus. Die +gute Katharina wußte sich keinen Rat, und sie weinte aus Erbarmen +ebenfalls zum Herzzerbrechen.</p> + +<p>Zufällig kam Gisela Hardt um diese Stunde. Sie war zunächst ratlos +gegenüber dieser wilden Verzweiflung, ihrem milden Trost und Zuspruch +gelang es doch zuletzt, Venne etwas zu beruhigen. Sie hielt die +Unglückliche in ihrem Arm und tröstete sie, wie man ein weinendes Kind<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span> +zur Ruhe bringt. Als sie schied, ging sie mit schwerem Herzen davon. +Denn hier versagte zuletzt wirklicher Trost, der auch das Mittel zur +Heilung anzugeben weiß.</p> + +<p>Als die Botschaft aus Worms eingetroffen war, erhielt Venne eine +Vorladung vor den Rat. Sie fühlte sich durch den Vorgang im Hause des +Ratsherrn so zermürbt, daß ihr alles gleichgültig geworden war. Aber +jetzt feuerte Johannes Hardt sie an, ihr Recht zu wahren. Er erbot +sich, ihr mit allen seinen Kräften zur Seite zu stehen, und er hielt +dieses Versprechen auch ehrlich bis zuletzt, auf die Gefahr hin, daß +sein mannhaftes Eintreten ihm für seine weitere Laufbahn schaden könne.</p> + +<p>Das kaiserliche Schreiben an den Rat war maßvoll gehalten, und es +ließ die Verhandlung zwischen beiden Teilen zu. Man erwog das Für +und Wider, und schon schien es, als ob die Angelegenheit eine für +Venne befriedigende Lösung finden werde. Da machte Achtermann alle +Geneigtheit zunichte durch seinen rücksichtslosen Widerspruch. Er +bewies noch einmal, daß sich die rechtliche Grundlage nicht zugunsten +des Richerdesschen Anspruches geändert habe, und forderte unter +Hinweis auf die Folgen eines solchen Präzedenzfalles Zurückweisung des +Anspruches trotz des kaiserlichen Schreibens. Sein Einfluß siegte, und +Venne erhielt den Bescheid, daß man nicht gesonnen sei, zu zahlen.</p> + +<p>Das Geld würde sie verschmerzt haben, wenngleich sie für die Zukunft +bitterer Armut ausgesetzt war. Daß es ihr jedoch nicht gelingen sollte, +die Ehre ihres Vaters rein zu waschen, das erfüllte sie mit namenlosem +Zorn. Sie hockte in ihrem Zimmer, allein mit ihrer Verzweiflung und +ihrem Grimm. Immer wieder stiegen ihr die Tränen auf in Erinnerung +an all die Schmach, die man ihr angetan, und das<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> Unglück, das sie +unschuldig traf. Johannes Hardt wies sie zurück, und auch Gisela +vermochte mit ihrem sanften Trost nichts über sie. »Laßt mich, Ihr +könnt mir nicht helfen. Ich muß versuchen, allein durchzukommen.«</p> + +<p>Sie berührte kein Essen, immer tiefer fraß sie sich in ihre verbissene +Wut. Von aller Welt kam sie sich verlassen vor, verhöhnt, gehetzt; es +war die richtige Stimmung, um den Menschen zu verzweifelten Schritten +zu verleiten.</p> + +<p>In dieser Stimmung besann sie sich der Worte jenes Fremden, der Hermann +Raßler sein sollte. Er haßte gleich ihr den Rat von Goslar. Bei ihm +würde sie Verständnis für ihre Lage finden. So machte sie sich auf den +Weg zu dem in Waldeseinsamkeit gelegenen Kloster der Grauen Brüder, dem +heutigen Grauhof.</p> + +<p>Man war dort über ihren Prozeß unterrichtet, und es schien, als ob auch +der Fremde schon von ihrer Lage gehört hatte, denn er hatte genaue +Anweisung für den Fall gegeben, daß Venne Richerdes nach ihm frage.</p> + +<p>»Ihr trefft, den Ihr sucht, in Wolfenbüttel in der Herberge zum +›Anker‹. Fragt dort nach Herrn Starke, so wird Euch weitere Auskunft +werden.«</p> + +<p>So trat Venne die Reise nach der herzoglichen Residenz an. Daheim und +den Freunden gegenüber verschwieg sie alles, was sie vorhatte.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Im Schlosse zu Wolfenbüttel residierte Herzog Heinrich der Jüngere, +wenn er nicht mit seinen Reisigen im Felde lag gegen den Hildesheimer +Bischof, gegen die Vettern seines eigenen Stammes im Kalenbergschen, +im Göttinger Lande oder wo immer Bellona einen Vorteil verhieß und die +Austragung alter Gegensätze erlaubte. Die Mauern und Wälle der guten +Stadt Wolfenbüttel dünkten ihm und seinen Vorfahren noch nicht Schutzes +genug gegen Gelüste, sich an seiner fürstlichen Person zu vergreifen.</p> + +<p>Dem Rat von Braunschweig, wie jedem einzelnen Braunschweiger, traute +er ohne weiteres die Frechheit zu, daß sie, wenn sie es vermöchten, +ohne ehrerbietigen Gruß bei ihm eindringen und ihn als gute Prise mit +sich schleppen würden. So war das Schloß, das sich als ein gewaltiges +Gebäudegeviert um einen kleinen Binnenhof lagerte, noch wieder eine +Festung für sich, umspült von dem breiten Graben eines Okerarmes und +in sich geschützt durch mächtige Mauern und starke Türme, an denen +sich diejenigen, die dennoch die Stadt bezwungen hätten, erst noch +ihre Dickköpfe einrennen mochten, ehe sie vor ihm selbst mit ihren +unhöflichen Forderungen auftreten konnten.</p> + +<p>Im Schlosse selbst lag eine starke Guardia, eine Leibwache, +einquartiert, unter dem Befehl eines Hauptmanns. An den zwei Toren, +die den Einlaß zum Hofe und zum inneren Schlosse freigaben, standen +Wachen, die jeden Ein- und Ausgehenden auf seine Zuverlässigkeit hin +musterten.<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> Ohne genügenden Ausweis gelangte kein Fremder durch das Tor.</p> + +<p>Der Ankömmling, der in diesem Augenblick die Wache unangehalten +passierte, mußte also allen wohlbekannt sein, denn weder machte er +Anstalt zu einer Legitimation, noch wagte einer der Wachleute ihn zu +befragen. Auf dem Kopfe trug er eine dunkle Lederkappe, die mit einem +Reiherstoß geschmückt war. An der Seite hing ihm in goldverziertem +Gehänge der Degen.</p> + +<p>Die Wachen sahen ihm mit schlecht verhehltem Neide und Unwillen nach. +»Das spreizt sich, als ob er des Herzogs leibhaftiger Vetter wäre«, +murrte der Korporal Schünemann, der Wachthabende, zu dem Doppelsöldner +Karsten Süßkind. »Unsereiner ist Luft für den Herrn, als ob man nicht +mit Ehren seine Kampagnen hinter sich hätte.«</p> + +<p>»Er ist ja auch mehr als Ihr und ich, Korporal«, höhnte Süßkind. »Wir +beide haben es noch nicht zum Hauptmann gebracht. Möchte freilich nicht +mit ihm tauschen, denn zum Räuberhauptmann ist sich meiner Mutter Sohn +doch zu schade.«</p> + +<p>»Der Herr Herzog nimmt aber keinen Anstoß daran,« mischte sich ein +dritter ein, »ebensowenig wie der Herr Kriegsrat Tewes, der ja oft mit +ihm konferiert.«</p> + +<p>»Herzog Heinrich wird schon seine Gründe haben, weshalb er den Raßler +so oft bei sich sieht,« verteidigte der Korporal seinen Herrn, »und er +wird mit dem Manne sich nicht weiter einlassen, als sein Interesse es +fordert.«</p> + +<p>Der, von dem die Rede war, bog indes rechts ab in das Schloß und stieg +die Treppe hinauf. Er mußte genau Bescheid wissen, denn er fand sein +Ziel, ohne jemand zu fragen. An dem Zimmer, in welchem der Geheime +Kriegsrat<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> Tewes über Akten und Plänen saß, klopfte er kurz an und trat +auf das »Herein« sofort mit energischem Schritt ein. Tewes blickte auf. +Er ging dem Ankömmling sogleich entgegen. »Sieh da, Herr Raßler,« sagte +er höflich, »das trifft sich gut. Wir hatten Sehnsucht nach Euch«, +setzte er scherzend hinzu.</p> + +<p>Der Herr Kriegsrat galt als hochmütig, und es sprach für die +Wertschätzung, welche Herr Raßler in dem Schlosse genoß, wenn er ihm +das Prädikat »Herr« zuerkannte.</p> + +<p>»Da treffen sich die Wünsche gegenseitig,« entgegnete Raßler, »denn +auch mich trieb es hierher.«</p> + +<p>»Famos, famos,« hüstelte das vertrocknete Männchen, »da können wir +gleich ›in medias res‹, wie der Lateiner sagt, gehen.«</p> + +<p>»Nicht doch, Herr Tewes,« unterbrach ihn Raßler kurz. »Dieses Mal +will ich zuvor mit dem Herzog sprechen. Nachher stehe ich Euch zur +Verfügung.«</p> + +<p>Es gab dem Höfling einen Stich durch das Herz, daß der Unverschämte +den ihm gebührenden Titel einfach unterschlug; aber er wußte, was +der Mann beim Herzog galt, der ein für allemal angeordnet hatte, ihn +recht glimpflich zu behandeln. So zwang er seinen Unwillen nieder und +sagte höflich: »Der Herr Herzog sind im Augenblick sehr beschäftigt +und würden eine Störung unliebsam empfinden. Vielleicht kommt Ihr zu +gelegener Stunde morgen wieder.«</p> + +<p>»Ich denke, Ihr habt Euch nach mir gesehnt, Herr Rat,« fragte Raßler +spöttisch, »da darf doch keine Minute verloren werden; und denkt Euch, +was ich auf dem Herzen habe, erlaubt auch keinen Aufschub.«</p> + +<p>»So will ich versuchen, den Herrn zu melden«, fuhr Tewes gekränkt fort.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span></p> + +<p>»Tut das, Herr Tewes, aber nehmt es nicht übel, wenn ich alsdann allein +mit dem Herzog zu sprechen wünsche.«</p> + +<p>Raßler fand den Herzog mit einem Apparat beschäftigt, der sein ganzes +Interesse in Anspruch nahm.</p> + +<p>»Sieh da, der Raßler«, sagte er mit kurzem Aufblicken. »Wartet ein +Weilchen; ich bin dabei, diese wunderbare Einrichtung zu studieren. +Wißt Ihr, was es darstellt« fragte er dann, während seine Hände noch +immer an Schrauben und Rädchen drehten und stellten.</p> + +<p>»Es muß wohl mit den Sternen zu tun haben, wie ich sehe. Wohl eines +der neumodischen Dinger, von denen man jetzt so viel reden hört«, +antwortete Raßler.</p> + +<p>»Ganz recht,« fiel ihm Heinrich ins Wort, »es ist ein Astrolabium, mit +dem man sich und anderen das Horoskop stellt, um das eigene oder fremde +Schicksal zu erkunden. Wäre es Abend, so könnte ich Euch ansagen, was +Eurer harrt.«</p> + +<p>»Ich danke, Ew. Gnaden«, antwortete Raßler. »Gebt Euch die Mühe nicht. +Mich verlangt es nicht, im voraus zu wissen, was aus mir wird. Das +nimmt nur die Sicherheit und trübt den Blick.«</p> + +<p>»Wie Ihr wollt, wie Ihr wollt«, sagte der Herzog etwas gekränkt, daß +der Besuch so wenig Gewicht auf seine Neuerwerbung legte. »Mir ist es +jedenfalls von hohem Wert, daß ich im voraus weiß, woran ich bin. Ich +finde mich leidlich mit dem Apparat zurecht. Lieber freilich wäre es +mir, ich hätte einen tüchtigen Astrologen, der würde mir alles noch +zuverlässiger deuten können.«</p> + +<p>»Vielleicht bleibt mir einmal ein solches Menschenkind im Netz, dann +bringe ich ihn spornstreichs hierher.«</p> + +<p>»Sehr gut,« erwiderte Heinrich, »und Ihr könnt unseres<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> Dankes sicher +sein. Übrigens«, fuhr er fort, »kommt Ihr wie gerufen, wir hatten uns +schon nach Euch erkundigt, haben eilige Arbeit für Euch.</p> + +<p>Da ist die Hildesheimer Sache. Die will nicht recht vom Fleck. Ihr +wißt ja, wir haben die Reichsacht auszuführen gegen den störrischen +Bischof. Sehr ehrenvoll, uns den Auftrag zu geben, aber die Mittel +zu finden, überließ man großmütig uns. So sitzt der Herr mit seinem +Krummstab ruhig in Hildesheim und lacht uns aus. Der vertrackte Rat von +Goslar leistet nur widerwillige und mangelhafte Hilfe. Werden uns der +Herren Pfeffersäcke wieder einmal etwas annehmen müssen, um sie kirre +zu machen. Inzwischen sollt Ihr uns helfen, sollt dem Bischof mit Euren +Leuten eine Laus in den Pelz setzen, daß er sich vor Jucken nicht zu +helfen weiß.«</p> + +<p>»Ich stehe Euch zu Diensten, Herr Herzog«, antwortete Raßler. »Ich habe +gerade einen tüchtigen Wurf entschlossener Männer zur Hand, mag sich +wohl rund auf ein Fähnlein belaufen. Doch ich habe dieses Mal auch +einen besonderen Wunsch an Eure Gnaden.«</p> + +<p>Der Herzog, der fürchten mochte, daß er besonders zahlen solle, wehrte +ab.</p> + +<p>»Ihr wißt, Raßler, daß bei dem Handel für uns nichts weiter als die +Ehre abfällt. Eure Leute mögen sich am Beutemachen schadlos halten.«</p> + +<p>Aber Raßler entgegnete: »Ihr irrt, Herr Herzog. Mir selbst ist es +zeitlebens wenig um Schätze zu tun gewesen. Wo ich zuschlug, hatte es +andere Gründe. Doch ich bin es müde, wie ein Wegelagerer durch das Land +zu fahren. Ich habe mich immer als ein ehrlicher Kriegsmann gefühlt und +als solcher gehandelt. An meinen Händen klebt kein Blut, das<span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span> nicht in +ehrlichem Kampfe Mann gegen Mann verspritzt wäre, und auch meine Leute +hielt ich an, so zu verfahren. Taten sie es nicht immer, so ist es +mir leid, und wo ich es erfuhr, bin ich übel dreingefahren, das dürft +Ihr mir glauben. Nun aber bin ich der Sache überdrüssig. Und ich will +fürderhin auch äußerlich sein, was ich innerlich immer gewesen bin. +Kurz, ich bitte Euch, Herr Herzog, leiht mir Euren Beistand dazu und +macht mich zu Eurem Hauptmann.«</p> + +<p>Der Herzog war überrascht. Das zu hören, hatte er nicht erwartet. Aber +die Sache kam ihm sehr ungelegen. »Das wird doch seine Schwierigkeiten +haben. Seht, Raßler, wir haben doch Rücksichten zu nehmen. Ihr wißt +doch ...«</p> + +<p>»Ich weiß, Herr Herzog.« fiel ihm jener ins Wort, »daß ich als +Räuberhauptmann gelte. Doch Ihr habt nie Bedenken gehabt, mit diesem +zu verhandeln, und ließet Euch seine Dienste gern gefallen. Kommt +es zuletzt auf den Namen an und erscheint Euch der Name ›Raßler‹ zu +abgenutzt, nun, Ihr habt Vollmacht und Namen genug, um einen solchen +auszuwählen, mit dem sich Euer neuer Hauptmann sehen lassen kann.«</p> + +<p>»Aber das ist ja Unsinn, den Namen ändern, Hauptmann werden«, zürnte +der Herzog. »Plagt Euch denn der Ehrgeiz auf einmal, daß Ihr etwas +Besonderes prästieren wollet, oder hat es sonst einen Grund?«</p> + +<p>»Einen Grund hat es schon,« antwortete der Gefragte, »aber Ehrgeiz ist +es nicht oder doch nur zu einem Teil.«</p> + +<p>»Nun so wird er auch wieder vergehen«, meinte Heinrich. »Über ein +kurzes werdet Ihr selbst über Euren Unsinn lachen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span></p> + +<p>»Seid überzeugt, Herr Herzog, daß ich das nicht tun werde. Und nun Eure +Antwort.«</p> + +<p>»Und wenn ich ›Nein‹ sage?« forschte Heinrich.</p> + +<p>»So müßt Ihr Euch zur Stunde einen anderen suchen, der Euch hilft. Ich +rühre keine Hand mehr für Euch.«</p> + +<p>»Teufel,« fluchte der Fürst, »das nenne ich dreist. Ich kann Euch +zwingen und werde Euch zwingen, zu gehorchen.«</p> + +<p>»Das glaubt Ihr selbst bei Hermann Raßler nicht, Herr Herzog«, fiel +jener spöttisch ein. »Also noch einmal, Eure Antwort! Erfüllt meine +Bitte, und Ihr sollt Eure Freude an mir haben. Der Herr Bischof soll +fluchen lernen, als ob er nie das Vaterunser gebetet habe, und Eure +Freunde in Goslar sollen sich ärgern, daß sie platzen. Mit ihnen habe +ich zwischendurch sogar noch ein besonderes Stücklein zu erledigen. +Aber erst Eure Antwort!«</p> + +<p>»So schert Euch an die Arbeit. Ist sie getan, so werde ich Euren Wunsch +erfüllen.«</p> + +<p>»Euer Wort?« versicherte sich Raßler.</p> + +<p>»Auf mein Fürstenwort«, antwortete Heinrich. Da ging Hermann Raßler +vergnügt davon.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Im »Anker« erfuhr Raßler, daß ein Frauenzimmer nach ihm gefragt habe. +Das Fräulein, oder was es sei, habe den Anstand und das Auftreten einer +Dame. Er dachte sogleich an Venne, und sein Herz schlug freudig erregt, +daß er sie wiedersehen und ihr vielleicht Hilfe bringen sollte. Bald +darauf kehrte Venne zurück und wurde zu ihm gewiesen. Er begrüßte sie +mit ehrerbietiger Freude.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p> + +<p>»Das nenne ich eine frohe Überraschung, Jungfer Venne Richerdes«, sagte +er mit glänzenden Augen.</p> + +<p>»Ihr kennt meinen Namen?« fragte sie überrascht.</p> + +<p>»Wie Ihr merkt«, antwortete er. »Seit ich Euch sah, bin ich nicht müßig +gewesen, zu erkunden, wer die schöne Unbekannte sei, der ich unweit +Seesen begegnete.«</p> + +<p>»So wißt Ihr wohl auch schon, was mich zu Euch führt?« forschte sie +weiter.</p> + +<p>»Ich glaube es zu wissen«, erwiderte er ernst. »Und Ihr mögt glauben, +daß ich Euch zur Verfügung stehe mit allem, was ich habe und kann.«</p> + +<p>Dann erzählte Venne, wie übel man ihrem Vater und ihr mitgespielt habe. +Raßler unterbrach sie nicht, aber die Ader schwoll auf seiner Stirn, +und seine Fäuste ballten sich bei jeder Kränkung, die ihr widerfahren +war.</p> + +<p>»Das ist abscheulich, das ist gemein gehandelt,« rief er, als sie +geendet, »und dieser Achtermann ist der größte Schuft, den ich je +gesehen. Aber gnade Gott ihm, wenn er mir unter die Fäuste gerät. Euch +wird Euer Recht werden, Jungfer Venne, glaubt es mir, und sollte ich es +vom Himmel herabholen!«</p> + +<p>Hermann Raßler war indes nicht der Mann langer Gefühlsergüsse, wenn es +die Tat galt. Und so fand er sich von seinem Zornesausbruch sehr bald +wieder zum praktischen Leben zurück.</p> + +<p>»Was soll nun geschehn? Habt Ihr schon einen Plan gefaßt?« fragte er +Venne.</p> + +<p>»Nein,« antwortete sie bedrückt, »ich kam zu Euch, um mir Rat zu holen.«</p> + +<p>»Den sollt Ihr haben, und zwar kurz und bündig. Er lautet: Sagt der +verfluchten Stadt auf, werft ihr den Fehdehandschuh<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> hin, und ich werde +das Werkzeug sein, sie Eure Rache fühlen zu lassen.«</p> + +<p>Venne erschrak vor dem Vorschlag: sie sollte ihre Heimatstadt mit Krieg +und Kampf bedrohen? Der Gedanke kam ihr zu fürchterlich vor. Aber +Raßler verstand es, ihre Bedenken zu zerstreuen. Wieder und wieder +ließ er die Demütigung vor ihren Augen erstehen, deren Opfer sie +unschuldigerweise geworden war. Und außerdem beschwichtigte er sie über +das Blutvergießen, das bei dem Austrag der Fehde eintreten könnte.</p> + +<p>»Nicht darauf kommt es an, daß Menschenleben verlorengehen, sondern +daß den reichen Protzen der Geldsack geschmälert wird. Laßt mich nur +machen. Wo ich sie fassen kann, sollen sie bluten. Ob es nun ihre +Herden sind oder ihre Waren. Nichts, nichts soll sich jetzt noch +ungestraft außerhalb ihrer Mauern sehen lassen. Und selbst in ihrem +Neste will ich ihnen einheizen, daß ihnen der Atem ausgeht.«</p> + +<p>»Aber dann bin ich ja für allezeit von meiner Heimat ausgeschlossen«, +wandte Venne ein.</p> + +<p>»Für längere Zeit ja, für immer aber braucht das nicht zu sein. Ihr +wäret nicht die erste, die einem Orte aufsagt und später doch wieder in +seinen Mauern wohnt. Doch ich sollte meinen, Euch wäre der Appetit auf +Goslar vergangen. Auf jeden Fall sehe ich keinen anderen Weg, Euch zu +Eurem Rechte zu verhelfen, als den der Gewalt.«</p> + +<p>»Vergebt nur, Herr Raßler, wenn ich mich unvernünftig benehme, aber +ich kann nicht so schnell von meinen Gefühlen loskommen. In Goslar +ist alles, was sich für mich mit dem Begriff ›Leben‹ verbindet; dort +sind die Gräber meiner Eltern, dort leben mir auch jetzt noch wahre, +treue<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> Freunde. Alles das soll ich aufgeben, um heimatlos in der Welt +zu stehen? Nein, das kann ich nicht, kann ich wenigstens im Augenblick +nicht. Ich muß, ehe das Schlimme vor sich geht, was Ihr vorschlagt, +alles geordnet haben, will auch noch versuchen, ob ich nicht wenigstens +eine Ehrenrettung des Vaters in irgendeiner Form erreichen kann. +Schlägt auch das fehl, so bin ich zum Äußersten bereit.«</p> + +<p>»Ich kann Euch nicht halten, aber ich will Euch nicht verschweigen,« +entgegnete Raßler, »daß ich in Sorge um Euch bin, solange Ihr in Goslar +weilt. Was Ihr mir von Achtermann erzähltet, läßt mich noch Schlimmeres +befürchten, als es der Zwang ist, den sie Eurem Recht antaten. Auf +jeden Fall bleibt nur so lange dort, als es unerläßlich nötig ist. Ich +warte Eurer indessen. Und wenn Ihr die Stadt verlaßt, so begebt Euch +zum Kloster Riechenberg. Dort werdet Ihr einigermaßen sicher sein. Dort +findet Ihr auch mich selbst oder erfahrt den Ort, wo ich zu treffen +bin. Es wird in der Nähe sein.«</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Venne Richerdes kam nicht dazu, aufs neue Verhandlungen anzuknüpfen mit +dem Rate oder der Stadt. Von Johannes Hardt erfuhr sie, daß inzwischen +ein Schreiben des Geheimschreibers vom Bischof von Hildesheim, +Woltwiesche, eingetroffen sei, in welchem er sie beschuldigte, den Rat +von Goslar, insonderheit den Bürgermeister Karsten Balder, vor dem +Kaiser in Worms gröblich verleumdet und beschuldigt zu haben.</p> + +<p>»Der Schuft!« das war alles, was Venne zu dieser Niedertracht<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> +sagte. Aber Johannes war in großer Sorge um sie. »Ihr müßt die Stadt +verlassen, denn ich fürchte, daß der Rat Euch verklagen und Euch den +Prozeß machen wird. Und das geistliche Gericht wird Euch vollends seine +Macht fühlen lassen!«</p> + +<p>»Diese schlimmen Männer,« klagte Gisela, »wollen sie denn die arme +Venne gar nimmer in Ruhe lassen? Können wir sie nicht bei uns +verbergen?« meinte sie dann zu Johannes gewendet.</p> + +<p>»Das würde ein schlechtes Versteck sein«, erwiderte ihr Gatte. »Bei uns +sucht man sie zuerst, wenn sie auf der Bergstraße nicht zu finden ist. +Ich fürchte, man wird sie noch anderer, schlimmerer Dinge bezichtigen. +Man will Venne in Wolfenbüttel gesehen haben und vermutet, daß sie mit +dem Herzog konspirierte. Auch murmelte Achtermann noch von besonderen +Sachen, die er vorzubringen habe. Wir mögen uns vorstellen, was er +meint. Und rücksichtslos und nachträglich, wie er ist, kann er allein +aus der Zaubertrankgeschichte Venne ein schlimmes Gebräu zurichten. Ich +rate also, Venne, verlaßt die Stadt, sobald Ihr könnt, am besten noch +heute, ehe man nach Euch fragt.«</p> + +<p>Venne war erblaßt, aber aus ihren Augen blitzte düstere +Entschlossenheit. »Ich danke Euch, Johannes, und Dir, liebe Gisela, +für alles, was Ihr für mich getan habt. Ihr habt recht, Johannes, mir +bleibt nichts übrig, als zu fliehen. Was ich hier vernehme, erleichtert +mir allerdings den Entschluß, den ich zu fassen habe. Ich breche alle +Brücken hinter mir ab, und der Rat mag die Verantwortung für das +tragen, was kommt.«</p> + +<p>»Was hast Du vor?« fragte Gisela ängstlich, und Johannes warnte: +»Venne, begeht keine Unbesonnenheit. Es<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> handelt sich jetzt nur darum, +Euch in Sicherheit zu bringen. Ich werde Eure Sache vertreten und +hoffe, daß Ihr über ein kurzes wieder friedlich unter uns weilen könnt.«</p> + +<p>Venne lächelte düster zu den Worten Johannes'. »Was ich plane, Gisela, +muß ich für mich behalten. Ich fürchte, die Heimat verliere ich für +immer mit dem Augenblick, wo ich jetzt Goslar verlasse. Aber einmal muß +ich noch in die Bergstraße, um vom Vaterhause und der guten Katharina +Abschied zu nehmen. Ich sah sie noch nicht, seit ich zurückkehrte, und +sie soll wissen, daß ich hier war. Um sie tut es mir besonders leid. +Wollt Ihr mir einen letzten Dienst erweisen, so nehmt Euch der treuen +Seele an, wenn ich fort bin.«</p> + +<p>Die gute Alte war außer sich, als sie hörte, Venne wolle von ihr fort. +»Und ich bin allein schuld an dem ganzen Unheil«, klagte sie sich mit +bitteren Tränen an.</p> + +<p>»Meine gute Katharina,« beruhigte sie Venne, »Du bist nicht schuldig. +Schuld trägt die Bosheit und Schlechtigkeit unserer Feinde und +Widersacher. Soll ich mich denn wehrlos in deren Hände geben? Das +kannst Du nicht wollen, also gib Dich zufrieden und mache mir den +Abschied nicht zu schwer. Ich hoffe, daß wir uns bald wiedersehen. +Inzwischen halte hier gut haus. Und was Du auch über mich hören wirst, +Du weißt, Deine Venne tut nichts, was sie nicht glaubt vor ihrem +Gewissen verantworten zu können.«</p> + +<p>Sie nahm die arme Alte fest in die Arme und streichelte die haltlos +Schluchzende. Dann verließ sie das Haus ihrer Väter. Um ganz +sicherzugehen, wartete sie die Dämmerung ab und schlüpfte dann durch +das Mauerpförtchen an der Frankenberger Kirche, wo sie die Frau des +Wärters ohne Arg hinausließ.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span></p> + +<p>Ein kurzer Weg führte sie über die Landwehr nach dem Kloster +Riechenberg. Dort wartete ihrer beim Pförtner die Nachricht, daß Raßler +im Kloster sei. Er wurde geholt. In seinen Augen glomm die Freude über +ihre Ankunft.</p> + +<p>»Ich hatte schon Sorge um Euch. Aber nun ist alles gut. Wir werden +noch eine Strecke heute abend zurücklegen müssen, da Euch als Frau der +Zutritt zum Kloster verwehrt ist. Im Amtshause zu Langelsheim, eine +Wegstunde von hier, finden wir Unterschlupf für die Nacht, und morgen +bringe ich Euch an einen Ort, wo wir in aller Sicherheit und Ruhe +erwägen können, welche Schritte zu unternehmen sind.«</p> + +<p>So geschah es. Der herzogliche Vogt in Langelsheim zeigte sich +beflissen, alles nach den Wünschen Raßlers einzurichten. Man merkte, +auch hier galt dessen Wille fast ebensoviel wie das Wort des Herzogs +selbst.</p> + +<p>Am nächsten Morgen brachen sie zu Pferde auf. Venne achtete nicht +darauf, daß einige Reiter nach ihnen ebenfalls aus dem Orte ritten. +Es war die Nachhut, die Raßler sich folgen ließ, um gegen jede +Überraschung gesichert zu sein. Bei dem Dorfe Dolgen verließen sie +die Landstraße und bogen rechts ab, einem kleinen Weiler zu, der in +Waldeinsamkeit träumte. Es war Rohde, eine Siedlung, die aus einigen +Häusern bestand. Auf dem einzigen Hofe kehrten sie ein. Wieder zeigte +sich die Fürsorge Raßlers, denn die Leute waren unterrichtet und hatten +ein Zimmer hergerichtet, in dem trotz aller Einfachheit das Behagen +wohnte.</p> + +<p>Ermattet von dem Ritt in der Sonne, ließ sich Venne am Tische nieder. +Raßler empfahl sich: »Ich lasse Euch allein, damit Ihr Euch ausruhen +könnt. Wenn Ihr etwas nötig habt, ruft nur, die Wirtin wird Euch zur +Verfügung stehen.<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> Mich selbst könnt Ihr zu jeder Stunde erreichen. +Beliebt es Euch, werde ich die Mahlzeit mit Euch einnehmen. Wollt Ihr +allein speisen, so sagt es ruhig. Mir liegt daran, daß Ihr wieder ins +Gleichgewicht kommt. Morgen sprechen wir über alles Weitere.«</p> + +<p>Venne war ihm dankbar, daß er sie allein ließ. Müde streckte sie sich +auf das bereitete Lager nieder. Wild stürmten die Gedanken auf sie +ein, aber allmählich schlief sie infolge der Müdigkeit ein. Doch es +war kein erquickender Schlummer. Wilde Träume durchjagten ihr Gehirn, +und zuletzt wachte sie mit einem Schrei auf. Es hatte ihr geträumt, +sie solle gefoltert werden. Achtermann war der Henker und näherte sich +ihr mit glühender Zange, um sie zu brennen. Auf den Schrei trat die +Wirtin herein und fragte, ob ihr etwas fehle. Venne schämte sich ihrer +Schwäche und bat um das Abendbrot, da sich der Tag dem Ende neigte. +Es war ihr noch ganz unheimlich zumute von dem bösen Traum, und die +Einsamkeit und Stille lastete auf ihr wie ein Druck. Deshalb ließ sie +Raßler ersuchen, er möge mit ihr zusammen essen.</p> + +<p>Raßler bewies, daß er über durchaus gute Manieren verfügte. Er fiel +weder durch eine ungeschickte Bewegung, noch durch ein Wort auf. Zwar +konnte er es nicht hindern, daß sein Blick immer wieder mit Bewunderung +auf ihr ruhte, aber diese Huldigung offenbarte sich so achtungsvoll, +daß sie nichts Verletzendes für Venne enthielt. Es kam bei ihr noch das +Gefühl des Dankes für den Mann hinzu, der sich ihrer in dieser Stunde +der höchsten Not uneigennützig annahm.</p> + +<p>Am nächsten Tage legte er ihr einen Absagebrief an Goslar in aller Form +vor. Er lautete:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»So sagen wir Euch denn, Stadt und Rat von Goslar, auf; erklären +auch, Euch fleißig heimsuchen zu wollen, wo immer wir können. Auch +beauftragen wir mit der Ausübung unserer Absage den Herrn Hermann +Raßler, als welcher von heute ab, als dem Tage nach St. Antonius, in +meinem Dienste zu stehen sich erkläret.</p> + +<p>Datum zu Rohde, am 10. Tage des Mondes Maji 1500 und im zwanzigsten +und zweyten Jare,</p> +</div> + +<p class="mright5">Venne Richerdes.«</p><br> + +<p>Dieser Fehdebrief haftete schon am nächsten Morgen am St.-Viti-Tore zu +Goslar und rief in der Stadt ungeheure Aufregung hervor. Man wußte, +wessen man sich von Raßler zu versehen hatte, und Fluchen und Klagen +erscholl überall. Im Rate vernahm man die Absage mit Wut und Grimm, und +Achtermann schwur, wenn man Venne Richerdes ergreife, sie dem Henker +als gemeine Hexe übergeben zu wollen. Wie ernst es dieser aber, wie +vor allem Raßler mit der Ausübung der Fehde war, zeigte sich schon am +Abend, als vor dem Breiten Tore zwei Feldscheunen in Flammen aufgingen. +Man schimpfte auf den Rat, man fluchte auf Venne Richerdes und Hermann +Raßler, aber man hatte sie nicht, um Vergeltung zu üben.</p> + +<p>Venne erfuhr gar nicht, wie inzwischen ihr Beauftragter sein Amt +ausführe. Sie saß im stillen Rohde und ließ die Einsamkeit und Ruhe auf +sich wirken. Am Tage beschäftigte sie sich auch gern mit den Kindern +des Bauern, die, nachdem sie die erste Scheu überwunden hatten, mit +stürmischer Zärtlichkeit an ihr hingen. Das Kleinste saß auf ihrem +Schoß und hielt die Ärmchen um sie geschlungen, als einmal Raßler +dazukam. Überrascht blickte er auf die liebliche Gruppe, dann aber +quoll es heiß in ihm auf: Das war das Bild,<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> das ihm vorschwebte +für die Zukunft. Wenn er diese Frau gewönne, wäre alles ausgetilgt, +was ihm an Häßlichem und Niedrigem im Leben widerfuhr. Dieser Traum +war auch der Anlaß gewesen, weshalb er den Herzog bat, ihn zum +ehrlichen Kriegsmann zu machen. Alles Edle in ihm drängte zum Licht. +Er wollte heraus aus dem Schmutz, in dem er bis an die Knie gewatet +hatte, seitdem man ihn wegen der Jugendstreiche aus der Gesellschaft +ausgeschlossen.</p> + +<p>»Venne, werde die Meine«, das war sein Sehnen. Aber er zwang das Wort +nieder, das sich ihm auf die Lippen drängte. Er wollte das Mädchen +nicht beunruhigen, das sich vertrauensvoll in seinen Schutz begeben +hatte. Erst für sie kämpfen, ihr Recht verschaffen, dann würde er vor +sie hintreten und sie um sein Urteil bitten, das ihn zum glücklichsten +Menschen machen oder der Verzweiflung für immer in die Arme treiben +mußte. Das alte Leben würde er nicht wieder aufnehmen, eine Kugel im +ehrlichen Kampfe sollte auch ihm dann die Erlösung bringen.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Vier Wochen schon weilte Venne in dem stillen Rohde. Kein Lärm störte +die Einsamkeit. Für die Sicherheit sorgten Posten, die in unauffälliger +Weise den Ort bewachten. Nichts gemahnte sie daran, daß sie im Kampf +lag mit ihrer Heimatstadt. Raßler kam, so oft er konnte. Auf ihre +Frage, wie es in Goslar stehe, antwortete er nur immer kurz.</p> + +<p>»Es steht gut. Alles andere mag Euch nicht bekümmern. Ist es an der +Zeit, so sollt Ihr schon hören, was vor sich geht. Jetzt denkt nur +daran, Euch zu pflegen. Ihr seht mir immer noch etwas mitgenommen aus.«</p> + +<p>Venne blickte ihn sinnend an: »Was seid Ihr nur für ein Mensch, daß Ihr +Euch für mich aufopfert. Und Euch sagt man so viel Schlechtes nach! +Könnte ich Euch doch meinen Dank abstatten. Aber ich werde immer in +Eurer Schuld bleiben.«</p> + +<p>»Vielleicht mache ich einmal meine Forderung geltend. Hoffentlich +schreckt Ihr dann nicht vor der Größe derselben zurück!« antwortete +er. Dabei sah er ihr mit einem innigen Blick ins Auge. Venne errötete, +sagte aber nichts.</p> + +<p>In Goslar war derweilen ihr Name und der Raßlers auf aller Lippen. +Fast keine Woche verging, in der man nicht über irgendeinen Schaden zu +klagen hatte. Da war ein Warenzug trotz reisiger Bedeckung überfallen +und weggenommen worden, dort ein Teil der Herde weggetrieben. Klagen +und Jammern, wohin man hörte; es wagte sich fast niemand mehr aus der +Stadt heraus. Johannes Hardt und<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> sein Weib waren tief bekümmert über +die Vorgänge, denn Venne versperrte sich damit den Weg der Rückkehr +für alle Zeit. Und es erschütterte sie, daß jene sich in die Hand des +Räubers gegeben und so viel Unheil über ihre Vaterstadt gebracht hatte +und noch anrichtete.</p> + +<p>»Das hätte sie nie und nimmer tun dürfen,« sagte Johannes. »Lieber +Unrecht leiden, denn Unrecht tun. Sie kann sich jetzt nicht mehr +beklagen, daß man ihr übel mitgespielt habe. Was sie der Stadt angetan +hat, wiegt den Schaden hundertfältig auf, den sie erlitt. Sie soll sich +nur hüten, sich noch einmal in die Hände des Rates zu geben; ihr kann +niemand mehr helfen.«</p> + +<p>Auch Gisela war tieftraurig, daß die Freundin diesen Weg gegangen. Und +auch ihre selbstlose Liebe fand kaum noch eine Entschuldigung für Venne.</p> + +<p>Bei dieser selbst regte sich langsam die Sehnsucht nach der Heimat.</p> + +<p>»Oh, könnte ich nur einmal noch die Türme meiner Heimat sehen; einmal +nur noch die trauten Räume des Vaterhauses betreten!« seufzte sie in +stillen Stunden. Noch zwang sie das Heimweh nieder, aber es pochte +immer gebieterischer an ihr Herz.</p> + +<p>Als sie Raßler eine Andeutung machte, wehrte er erschrocken ab: »Ihr +ahnt nicht, welche Stimmung in Goslar gegen uns herrscht. Man würde +Euch steinigen, bekäme man Euch zu Gesichte.«</p> + +<p>Da schwieg sie betrübt, doch die Sehnsucht war nicht verflogen.</p> + +<p>Wieder verstrichen die Wochen, und immer tiefer wurden die Seufzer und +immer größer der Schmerz um die verlorene Heimat. Da sagte sie eines +Tages entschlossen zu Raßler:<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> »Ich halte es nicht länger aus. Schafft, +daß ich nur einmal, und sei es nur auf eine Stunde, nach Goslar komme +und die alte Katharina sehe und spreche, dann will ich gern wieder +still sein.«</p> + +<p>Raßler wehrte mit aller Entschiedenheit ab. »Um Gottes willen, Venne, +steht ab von Eurem Vorhaben. Es ist Euer Verderben. Die Goslarer sind +mehr denn je auf der Hut und werden Euch erkennen. Ich kann Euch +nicht Euren Feinden ausliefern, denn Euer Tod wäre auch der meinige.« +Verzweiflung klang aus seinem Wort, und die treueste Hingebung war auf +dem Grunde seiner Augen zu lesen.</p> + +<p>»Und dennoch bitte ich Euch, laßt mich hin. Ich verspreche Euch, alles +zu tun, wie Ihr es für gut befindet, und mich der größten Vorsicht zu +befleißigen. Nur laßt mich hinein nach Goslar!«</p> + +<p>»Hinein kommt Ihr schon, Venne Richerdes,« sprach er erschüttert, +»aber heraus findet Ihr nicht. Man wird Euch greifen, Euch töten, und +das, Venne, überlebe ich nicht. Venne, tut es mir zuliebe. Ihr ahnt +nicht, was ich in Euch verliere!« In wilder Angst fast wurden die Worte +ausgestoßen. Venne traten die Tränen in die Augen: »Hermann Raßler, es +schmerzt mich, daß ich Euch Kummer mache. Ihr habt es wahrlich nicht um +mich verdient, Ihr, der Ihr mir der treueste, uneigennützigste Freund +waret in dieser Zeit. Glaubt nicht, daß ich Euch das je vergesse. +Noch sind die Wunden frisch, die man mir geschlagen, aber es kommt +wohl einmal die Zeit, wo sie verharscht sind. Dann will ich auch Euch +Antwort geben auf Eure stumme Frage.«</p> + +<p>»Venne«, jubelte er, doch dann bezwang er sich. »Ihr habt recht, noch +ist es nicht Zeit, Wünsche zu äußern. Aber laßt mir die Hoffnung, dann +will ich mich gern gedulden.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span></p> + +<p>Ich werde Euch selbst nach Goslar begleiten und in die Stadt bringen. +Mir sind die Wege bekannt, wie man ungesehen hineingelangt.«</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Das Käuzchen schrie in der sternlosen Septembernacht vor dem Thomaswall +am Dicken Zwinger. Einmal, zweimal, zehnmal wiederholte es seinen +klagenden Ruf, daß die guten Bürger hinter der Stadtmauer sich gruselnd +die Decken über die Ohren zogen, denn den Todesvogel hört niemand gern. +Aber bald öffnete sich leise und geräuschlos ein Mauerpförtchen, und +ein verschlafener Kopf lugte heraus. »Wer ist's, der Einlaß begehrt?« +war die leise Frage. »Gut Freund«, hieß es ebenso leise. Zwei Gestalten +schlüpften durch die Lücke und folgten dem Öffnenden in die warme +Stube. Dort traf das Licht der trübe brennenden Kerze die Gäste. +Erschrocken fuhr der Wärter zusammen. »Um Gott, Herr Raßler, Ihr hier? +Wißt Ihr nicht, was man Euch zugedacht hat? Und Eure Begleiterin?« +Damit leuchtete er der zweiten Gestalt unter die Kapuze. »Alle Teufel, +Ihr seid ein nettes Paar. Euch, Venne Richerdes, gilt es fast noch mehr +als diesem da. Macht nur eilends, daß Ihr wieder aus dem Loche kommt, +das ich Euch öffnete, sonst ist's um Euch geschehen.«</p> + +<p>Raßler ließ sich ganz behaglich in dem gichtbrüchigen Sessel nieder. +»Vorerst denken wir nicht daran, die gute Stadt Goslar zu verlassen. +Wir fühlen uns bei Dir sicher wie in Abrahams Schoß.«</p> + +<p>»Aber um Gottes willen, wenn man Euch bei mir findet,«<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> wimmerte er +ängstlich, »dann geht es auch mir an den Kragen.«</p> + +<p>»So sorge dafür, daß wir nicht gefunden werden, dann kannst Du Dein +edles Haupt weiter durch die Straßen von Goslar tragen«, fuhr Raßler +gemütlich fort. »Jetzt aber wollen wir ruhen, denn unsere Besorgungen +können wir doch erst morgen verrichten.« Der Wächter sah schon, hier +war nichts mehr zu ändern, daher bereitete er oben im Turm schnell ein +Lager.</p> + +<p>Am nächsten Tage wurde er mit geheimer Botschaft zu Katharina +geschickt. Eilfertig und zitternd kam das alte Weiblein angetrippelt. +Der Bote hatte ihr wohl schon gesagt, wen sie treffen werde, denn mit +allen Zeichen der Aufregung und Angst trat sie in das Zimmer. »Venne, +meine Venne,« schluchzte sie, »wie konntest Du mir das antun!«</p> + +<p>»Still,« herrschte Raßler, »wollt Ihr zum Verräter werden?« Da bezwang +sie ihre Erregung, aber noch lange zitterte ihr gebrechlicher Körper +unter verhaltenem Schluchzen. Dann begann das Fragen hin und her. Venne +wollte wissen, wie es Hardts gehe, wie der guten Immecke Rosenhagen und +ihren Kindern, und Katharina wieder forschte, wie und wo ihr Herzblatt +lebe. Darüber war die Zeit verflossen, und es schlug die Stunde des +Abschieds. Wieder konnte die gute Alte sich nicht fassen, bis Raßler +nachdrücklich zum Aufbruch mahnte. Noch eine letzte Umarmung, dann +schritt die Alte davon, gebeugt von ihrem Gram und das Weinen mühsam +bekämpfend.</p> + +<p>War die Einladung Katharinas auch mit aller Vorsicht erfolgt, es +konnte doch nicht unbemerkt bleiben, daß die Magd der Richerdes in der +stillen Gasse auftauchte. Neugierige Blicke folgten ihr, als sie in das +Haus des Wächters<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> hastete, und neugierige Augen geleiteten sie, als +sie wieder fortging. Was hatte die hier zu tun, und was verursachte +ihre Tränen? Hatte sie Nachricht von ihrer Herrin, der verruchten +Venne, bekommen? Die Zungen ruhten nicht. Wußte der eine, daß sie die +Nachricht vom Tode der Richerdes erhalten habe, so fügte der zweite und +dritte schon hinzu, daß sie jene selbst gesprochen, und sie wußten doch +nicht, wie nahe sie der Wahrheit kamen!</p> + +<p>Es dauerte nicht lange, und die Menschen versammelten sich vor dem +Hause, Stadtsoldaten marschierten auf, das Gebäude war von den freien +Seiten umzingelt.</p> + +<p>Die beiden beabsichtigten, mit dem Anbruch der Dunkelheit wieder +zu verschwinden. Sie unterhielten sich noch mit dem Mann, der sie +eingelassen hatte, da traf Stimmgewirr ihr Ohr. Raßler warf einen Blick +durch das kleine Fensterchen und fuhr erschreckt zurück. »Wir sind +verraten«, flüsterte er. Venne erblaßte. An sich dachte sie zuletzt. +»Oh, nun habe ich Euch auf dem Gewissen«, klagte sie.</p> + +<p>»Sorgt Euch nicht um mich,« wehrte er ab, »Euch gilt es zu retten, denn +ich fürchte, Ihr seid ihnen im Augenblick wichtiger als ich.«</p> + +<p>Verzweifelt spähte er umher: Gab es denn gar keinen Ausweg aus der +Falle? Es war ausgeschlossen, denn auf der Rückseite, nach dem Walle +zu, lehnte sich das Häuschen an die Stadtmauer. Verflucht, so war +man den Pfeffersäcken ins Garn gegangen, ohne daß sie es ausgespannt +hatten! — Fieberhaft arbeitete sein Gehirn: Sollte er versuchen, +durchzubrechen? Er allein würde sich nicht besonnen haben. Aber Venne. +Kein Ausweg, keine Rettung! Wieder irrte sein Blick über den Platz, +wieder überlegte er, doch es ging nicht, er mußte Venne für den +Augenblick aufgeben,<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> nicht um sie den Goslarern zu überlassen, sondern +um sie bald, morgen, in wenigen Tagen zu befreien. Er teilte ihr seinen +Entschluß mit.</p> + +<p>»Verzagt nicht. Solange noch ein Atemzug in mir ist, wartet Euer die +Rettung.« Dann traf er die Anstalten zum Durchbruch.</p> + +<p>Absichtlich zeigte er sich an einer Giebelöffnung, als ob er von dort +aus entkommen könne. Sofort erhoben sich die Stimmen: »Da ist er, dort +will er entfliehen!« In wenigen Sätzen stand er an der Tür, riß sie +auf und warf sich auf die überraschten Nächststehenden. Es war ihm ein +leichtes, sie zu überrennen. Ehe noch die Menge wußte, was geschehen, +rannte er davon und verschwand. Venne aber wurde ergriffen und im +Triumph in festes Gewahrsam geführt.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Luthers kräftige Stimme wider den Ablaßmißbrauch, die zuerst im Jahre +1517 ertönte, fand in Goslar vielstimmigen Widerhall. Denn auch hier +hatte man Tetzel reichlich gespendet, und ein in der St.-Jakobi-Kirche +stehender Armenkasten führte noch lange den Namen ›Tetzelkasten‹. +Aber noch bekannte man sich nicht offen zu der neuen Lehre. Der Rat +im besonderen hielt noch einmütig am alten Glauben fest. Als jedoch +im Sommer 1521 die heldenmütige Standhaftigkeit Luthers zu Worms vor +Kaiser und Reichstag bekannt wurde, da war auch in Goslar die Bewegung +nicht mehr einzudämmen. Es fanden die ersten Predigten in lutherischem +Geiste statt, und der Vikar Johann Klepp lieh ihm von der Kanzel der +St.-Jakobi-Kirche das Wort. Der Oheim Hardts, der Pleban an dieser +Kirche, setzte beim Rate durch, daß jenem das Predigen in dieser Kirche +verboten wurde. Da zog Klepp in die Kirche zum Heiligen Grabe, und +seine Anhänger mehrten sich von Tag zu Tag.</p> + +<p>Zuletzt wurde ihm das Reden in allen Kirchen verboten, doch der Stein, +der ins Rollen gekommen war, konnte nicht mehr aufgehalten werden. An +Klepps Stelle traten andere, und was man in den Gotteshäusern nicht +mehr verkünden durfte, fand auf den öffentlichen Plätzen das Ohr einer +noch größeren Zuhörerschaft. Magister Schmiedecke predigte auf dem +Lindenplan, und seine Anhänger, ›die Lindenbrüder‹, gewannen ihm neue +Gefolgsleute. So groß war der Zulauf, daß die Kirchen und Kapellen bald +leer standen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span></p> + +<p>Die Stadt war voll innerer Unruhe; die Masse des niederen Volkes stand +gegen die Besitzenden, besonders den Rat, in ablehnender Kampfstimmung. +Der Funken glühte; wer ihn zu entfachen vermochte, konnte große +Verwirrung über die Stadt bringen.</p> + +<p>Hermann Raßler war über diese Zustände wohlunterrichtet, und er baute +darauf seine Befreiungspläne. Seit einigen Tagen lebte er wieder +unerkannt in den Mauern der Stadt, und seine Agenten bearbeiteten +das Volk, um es für seine Ziele einzuspannen. In geschickter Weise +wurde die Stimmung aufgepeitscht durch die Verquickung der religiösen +Spannung mit dem wirtschaftlichen Elend. Raßlers Plan ging dahin, einen +Auflauf des Volkes zu verursachen und während dieser Zeit die Gefangene +zu befreien. Die Zusammenrottung fand planmäßig statt. Große Mengen +schreienden und brüllenden Volkes drängten sich auf dem Marktplatz +zusammen. »Fort mit den Pfaffen! Heraus mit dem Rat! Brot! Brot! Der +Bürgermeister soll kommen!« so tobte und schrie es durcheinander. +Nur Achtermann verlor die Ruhe nicht. »Laßt die Kartaunen abbrennen, +schickt ihnen Vollkugeln auf den Wanst, daß sie satt werden«, riet er +höhnisch.</p> + +<p>Das Gesicht Karsten Balders war in ernste Falten gelegt. Er übersah +das Unwetter, das heraufzog, in seiner ganzen Schwere. Es handelte +sich nicht nur darum, die Ruhestörer vom Marktplatz zu verscheuchen, +einigen Dutzend Schreiern den Mund zu stopfen, sondern eine Bewegung zu +bekämpfen, die das gesamte Volk bis in seine Tiefen hinein erregte und +die, wenn sie Wurzel faßte, die Stadt in ausgesprochenen Gegensatz zu +Kaiser und Papst bringen und damit den katholischen Herzögen den Weg +frei machen mußte,<span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span> um ihr Mütchen an ihr zu kühlen. Er entschloß sich, +auf den Altan zu treten und beruhigend zu der Menge zu reden.</p> + +<p>Als er erschien, schrien einige: »Still, der Bürgermeister will zu uns +reden. Ruhe für Karsten Balder!«</p> + +<p>»Soll das Maul halten!« brüllten andere. Es drohte zu einem Handgemenge +zwischen den beiden Parteien zu kommen.</p> + +<p>Die Leute Raßlers, geschickt auf den Platz verteilt, hetzten die einen +gegen die anderen, und der Tumult schien sich in sich selbst verzehren +zu wollen. Der Bürgermeister, der ein paarmal vergeblich versuchte, +sich Gehör zu verschaffen, wollte wieder wegtreten.</p> + +<p>Während des Lärmens und Tobens hatte Raßler selbst sich mit einigen +handfesten Leuten Eintritt von der Seite der Marktkirche ins Rathaus +verschafft, in dessen Keller Venne Richerdes schmachtete. Da er durch +seine Späher auch über die Örtlichkeit genau unterrichtet war und alles +vorgesehen hatte, um bis zu ihr vorzudringen, stand er bald in ihrem +Kerker. Sie war schon oft zum Verhör vorgeführt worden und glaubte, man +wolle sie wieder vernehmen. Da erklang es hastig: »Kommt, die Befreiung +naht.«</p> + +<p>Venne erkannte Raßler und warf sich ihm aufschreiend in die Arme. +»Gott sei Dank, daß Ihr kommt. Ich glaubte schon, ich sei von allen +verlassen.«</p> + +<p>Einen Augenblick ruhte sie an seinem Herzen, und seine Arme umschlossen +die geliebte Gestalt; dann aber ermannte er sich. »Fort, keinen +Augenblick verlieren!«</p> + +<p>Durch Gänge und Türen stolperte sie an seiner Hand bis auf den Hof +hinauf. Das Licht der Sonne, das sie seit Wochen nicht geschaut hatte, +blendete so, daß sie die Augen mit der Hand schützen mußte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span></p> + +<p>Noch hatte niemand die Flucht bemerkt, denn aller Aufmerksamkeit war +den Vorgängen auf dem Markt zugewandt, und sie wäre auch wohl weiter +zunächst unbeachtet geblieben, wenn nicht zufällig ein Ratsherr aus +der rückwärts mit Fenstern versehenen Stube gesehen hätte, wie das +Paar eilig aus dem Hofe hastete. Er schlug sofort Lärm, und der Ruf: +»Venne Richerdes ist entflohen!« ertönte weithin. Dieser Ruf, ins Volk +geworfen, bewirkte, was weder der Bürgermeister noch andere erreichen +konnten: Der ganze Haufe setzte sich nach dem Hohen Wege in Bewegung, +wohin das Paar gelaufen war.</p> + +<p>Die beiden hatten einen ziemlichen Vorsprung, und es wäre Raßler bei +seiner Kenntnis aller Winkel und Ecken wohl gelungen, sie in dem Gewirr +der Gassen am Liebfrauenberge in Sicherheit zu bringen, wenn nicht +Venne von der langen Haft geschwächt gewesen und ihre Kleider ihr beim +Laufen hinderlich gewesen wären. Einige leichtfüßige Burschen hefteten +sich an ihre Fersen. Um sie abzuwehren, mußte Raßler sich wiederholt +umkehren. So verlor er kostbare Minuten. Der Haufe kam immer näher, die +Wut funkelte aus aller Augen, dumpfe Schreie tönten an ihr Ohr.</p> + +<p>Einige Leute Raßlers, die in Erkenntnis der Gefahr mit der Menge +vorgestürzt waren, warfen sich ihr entgegen; auch Raßler selbst zog +sein Schwert. Aber ihre Tapferkeit zerschellte an der Wucht der Masse. +Ein klobiger Rademacher, der ein Stück Holz am Wege aufgegriffen hatte, +schmetterte es auf Raßlers Kopf hernieder, daß er zu Boden sank. Alles +war verloren; da wollten die Knechte wenigstens ihren Hauptmann retten. +»Laßt das Weib, der Hauptmann ist uns mehr wert.«</p> + +<p>Während die einen noch kämpften, schleppten die anderen<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> den todwunden +Mann davon. Venne blieb in den Händen ihrer Verfolger und wurde im +Triumph zum Rathaus zurückgebracht. So endete der Befreiungsversuch, +und der Rat trug fortan durch verdoppelte Wachsamkeit Sorge, daß man +nicht ohne seinen Willen wieder zu ihr gelangen konnte.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Johannes Hardt bewahrte seine Treue gegen Venne auch jetzt noch, obwohl +sie ihn durch ihre Verbindung mit Raßler schwer enttäuscht hatte. Er +übernahm die Verteidigung der Angeschuldigten, und er unterließ nichts +anzuführen, was zu ihrer Entlastung dienen konnte, verhehlte sich +indes nicht, daß keine Aussicht bestand, sie zu retten. Gisela, die +von tiefem Kummer über das Los der Freundin erfüllt war, beschwor ihn, +nichts unversucht zu lassen. Sie erwog sogar den Plan, Venne heimlich +freizulassen durch Bestechung der Wärter. Auch Immecke Rosenhagen und +Erdwin Scheffer waren dafür gewonnen, aber Johannes erhob nachdrücklich +Einspruch. Sein Pflichtgefühl litt es nicht, daß er, der im Solde der +Stadt stand, etwas duldete oder sogar förderte, was ihn mit seinem +geschworenen Eide in Konflikt brachte. Außerdem erkannte er, daß +der Plan doch zum Scheitern verurteilt war. »Ich habe nur noch eine +Hoffnung,« sagte er zu Gisela, »sie beruht auf Ernesti, an den ich +schon vor langer Zeit eilige Botschaft schickte. Er ist mächtig und +einflußreich; sein Wort gilt auch bei dem Rate viel. Gelingt es ihm +nicht, Venne frei zu bekommen, so weiß ich keinen Rat mehr.« Seufzend +ergab sich Gisela in das Unabänderliche.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span></p> + +<p>Ernesti kam; Johannes besprach mit ihm alles, und auch jener erkannte +den furchtbaren Ernst der Lage. Doch er wollte nichts unversucht +lassen. Schon am nächsten Tage begab er sich auf das Rathaus und hatte +mit Karsten Balder eine ernste Besprechung.</p> + +<p>»Herr Karsten Balder,« sagte er, »ich verstehe Euren Zorn gegen mein +Niftel; ich will auch zugestehen, daß sie sich schwer gegen die Stadt +vergangen hat. Aber laßt ihr auch Gerechtigkeit widerfahren. Bedenkt, +wie schwer sie gekränkt war, wie man sie und ihren Vater gehetzt hat, +bis sie so weit kam. Ihre Begriffe von Recht und Unrecht mußten sich +verwirren; die Hauptschuld trägt der Ratsherr Achtermann, wie Ihr nicht +bestreiten werdet. Ich will von dem Geschwätz absehen, das er über sie +ausstreute, sie sei eine Hexe. Ihr selbst als vernünftiger Mann werdet +das nicht glauben, denn Heinrich Achtermann war ihr in treuer Liebe +zugetan, und es steht fest, daß er bis zuletzt nie an ihr gezweifelt +hat. Wie sollte also dieses reine, keusche Mädchen dazu kommen, sich +solcher buhlerischen Mittel zu bedienen, um etwas zu gewinnen, was sie +schon besaß? Ein anderes ist es um den Schaden, den sie oder Raßler, +vielleicht ohne ihre Kenntnis und Einwilligung, Eurer Stadt zugefügt +hat. Er mag groß sein, aber er ist zu ersetzen, und ich bin reich +genug, um dafür einzustehen.«</p> + +<p>Karsten Balder hatte ihn sprechen lassen; unbewegten Antlitzes hörte +er ihm zu. Dann nahm er mit ernster Stimme das Wort: »Ihr wißt, Herr +Ernesti, daß Venne Richerdes wie ihr Vater mir die Hauptschuld an dem +beimessen, was sie an Ungemach betraf. Sie taten mir bitter unrecht +damit, aber ich habe geschwiegen. Meine Hand ist rein von Schuld gegen +sie. Mein Mund hat nichts geredet, das ich<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> nicht verantworten könnte. +Sie taten mir unrecht, aber es soll ihnen nicht vorbehalten bleiben. +Doch anders ist es mit dem, was der Stadt widerfuhr. Für diese tat ich, +was jene mir als persönlich gemeinte Kränkung auslegten; für diese muß +ich geschehen lassen, was jetzt über die Tochter kommt. Sie tut mir +leid, die Venne, ich will es Euch gestehen, und was der Achtermann ihr +antut, mag kleinlich, verächtlich, verabscheuungswürdig sein. Aber +es steht mir nicht zu, über ihn zu Gericht zu sitzen. Hätte sie sich +früher an mich gewandt, so wäre vielleicht manches anders geworden; +jetzt ist es zu spät.«</p> + +<p>»Herr Bürgermeister,« entgegnete Ernesti, der noch nicht alle Hoffnung +aufgeben wollte, »ich bin, wie Ihr wißt, ein Freund Eurer Stadt. Ihr +selbst nanntet mich so. Ich habe — wiederum gebrauche ich Eure Worte +— ihr Dienste geleistet, für die mir Dank zugesichert wurde. Wohlan, +jetzt ist die Stunde der Vergeltung gekommen. Ich begehre nichts als +die Befreiung Venne Richerdes'. Sie soll Euch Urfehde schwören; ich +will sie mit mir nehmen, daß Ihr sie nie wieder zu Gesicht bekommt, +aber laßt sie gehen.</p> + +<p>Ich habe Euch geholfen, ich werde Euch helfen. Ich sorge, Ihr werdet +diese Hilfe gut gebrauchen können. Gebt sie mir. Sie ist nur mein +Niftel, aber Ihr seid selbst Vater, habt eine blühende Tochter. Sagt, +wie täte es Euch, wenn man sie töten wollte. Würdet Ihr nicht Himmel +und Hölle in Bewegung setzen, um sie zu retten?«</p> + +<p>»Wenn ich an Eurer Stelle wäre, Herr Ernesti, sicher. Wäre ich der +Bürgermeister Karsten Balder, nein! Ich stehe hier für die Stadt, der +ich geschworen habe. Ihr mahntet mich an die unruhige Zeit, in der wir +leben; wie sollte ich es verantworten, gäbe ich die Schuldige frei, +um vielleicht<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> demnächst ein Dutzend armer Schelme dem Gericht zu +überantworten. Solange ich über Recht und Gerechtigkeit in der Stadt +Goslar zu wachen habe, wanke ich nicht. ›<span class="antiqua">Fiat justitia, pereat +mundus</span>!‹ Die Gerechtigkeit soll ihren Lauf haben auch in diesem +Falle.«</p> + +<p>Bleich waren beide Männer, die sich jetzt gegenüberstanden.</p> + +<p>»Ihr hattet meine Freundschaft, Karsten Balder,« sagte Ernesti mit +düsterer Stimme, »so nehmt meine Feindschaft. Daß ich einen Fehdebrief +schreibe, wollet nicht erwarten, aber die Absage sollt Ihr merken!«</p> + +<p>»Ich muß es gelten lassen«, sagte Karsten Balder tiefernst; damit +schieden die beiden Männer.</p> + +<p>Den Hardts berichtete er von seinem Mißerfolge. Venne wollte er nicht +mehr sehen. »Es geht über meine Kraft, vor sie zu treten«, sagte er, +»mit dem Bewußtsein, daß der Tod hinter ihr steht, und ihr leere +Trostworte zuzuraunen. Sagt ihr auch nicht, daß ich hier gewesen.«</p> + +<p>Dann brach er auf. Von Goslar fuhr er geradeswegs nach Wolfenbüttel, um +mit dem Herzog zu verhandeln; darauf kehrte er in seine Heimat zurück.</p> + +<p>Auch Herzog Heinrich versuchte noch einmal, zugunsten Vennes zu +vermitteln; es war vergebens. Mit fast ingrimmiger Festigkeit lehnte +der Bürgermeister die Einmischung des Welfen ab. So nahm der Prozeß +gegen Vene Richerdes seinen Lauf.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Auf dem Rosenberge, in einsamer Lage, wohnte der Henker der Stadt +Goslar, Meister Henning Voß, mit Weib und Kind und mit seinen +Knechten. In den Akten der Stadt führt er den harmlos klingenden Namen +»Suspensor«. Für den armen Delinquenten, der ihm überantwortet wurde, +war es indes gleich, ob der Rat Meister Henning seine sechzehn Groschen +lötigen Silbers als »Henker« oder als »Suspensor« zahle.</p> + +<p>Die Amtseinnahmen des Henkers waren nicht immer glänzend. Zwar flossen +ihm neben den Einnahmen aus seinem blutigen Beruf auch sonst noch +manche Sporteln zu, die ihm für allerlei unsaubere Arbeit zustanden, +wie Reinigen der Gruben bei den Herren Ratsleuten, Abholen und +Vernichten der Kadaver gefallener Tiere; aber es wäre doch in manchem +Jahre Schmalhans Küchenmeister bei ihm gewesen, wenn sich ihm nicht +noch andere einträgliche Einnahmequellen erschlossen hätten. Er war +bekannt als Besitzer mancher dunklen Wissenschaft, geheime Tränke zu +brauen, krankes Vieh zu besprechen, Liebe zu sichern und zu stören +zwischen jungen Pärchen. Das alles fiel in den Bereich seiner Kunst. +An manchem dunklen Abend pochte es an das Tor des Gehöfts, und ein +zitternd Jüngferlein oder ein beherzterer Bursche holte sich Rat bei +Meister Voß.</p> + +<p>Als bestellter Henker hatte er auch dem Peinlichen Gericht seine +Dienste zur Verfügung zu stellen. Und mancher, dem seine Rute den +Rücken gestrichen oder dem er das Schandmal<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> aufgebrannt hatte, sandte +ihm im stillen und aus der Ferne seine Segenswünsche zu. Jetzt stand +wieder einmal eine große Sache an, bei der es etwas zu verdienen gab. +Daß es sich dabei um die Tochter eines Vornehmen handelte, erhöhte noch +den Reiz der Arbeit.</p> + +<p>Das Peinliche Gericht tagte in der Stadtfronei, die zur Zeit unter +der Sankt-Ulrichs-Kapelle in der Kaiserpfalz untergebracht war. Dort +hingen an den Wänden all die Geräte, mit denen man schweigsame Leute +zum Reden brachte. Und dort bereitete jetzt auch Meister Voß und seine +Leute alles vor, um die Angeklagten gehörig behandeln zu können. Es +waren eingezogen außer Venne die alte Katharina und die Gittermannsche. +Die beiden letzteren traf der Vorwurf des Zauberns und der Beihilfe +zu diesem Verbrechen. Venne Richerdes hatte sich außerdem wegen +Hochverrats und Mordes, begangen an ehrsamen Bürgern, zu verantworten, +wie auch dafür, daß sie mit Hermann Raßler, der Stadt abgeschworenem +Feinde, gemeine Sache gemacht habe.</p> + +<p>Noch war der Henker mit seinen Knechten allein in dem düsteren Raume. +Die Folterkammer entbehrte nicht des frommen Apparates, um auch keines +der Mittel unversucht zu lassen, die auf das schon über die Maßen +erregte Gemüt des peinlich zu Befragenden von Wirkung sein konnte. +Der Freitag, der Sterbetag des Heilandes, galt den Inquisitoren als +furchtbarster Erntetag. So wählte man ihn auch in Goslar. Das Gemach +war schwarz ausgeschlagen; ein riesengroßes Kruzifix an der Wand trug +nicht minder zur Erhöhung der düsteren Stimmung bei.</p> + +<p>Meister Voß war ein frommer Mann, so ungereimt das auch manchem +vorkommen mag. Er hatte das Geschäft vom Vater überkommen, wie dieser +vom Großvater. Morgens<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> sprach man in seinem Hause den Frühsegen, +und der Abend fand nicht sein Ende, ohne daß dem lieben Gott gedankt +wurde für das Gute, das er den Tag über beschert hatte, und war auch +etwas Ungemach dazwischen gewesen. Daß dem Herrn der Heerscharen seine +kleinen außerberuflichen Nebenbeschäftigungen vielleicht nicht ganz +genehm sein möchten, kam ihm in seiner christlichen Einfalt nicht in +den Sinn.</p> + +<p>Lag ein besonderes Werk vor, so folgte dem Morgengebet noch ein +zweites, in dem er den Herrn um eine sichere Hand anflehte und den +Himmel bat, ihm die Tat nicht vorzubehalten, die er im Namen eines +wohlweisen Rates zu tun berufen war. So geschah es auch heute, obschon +es nur galt, die peinliche Frage zu tun, wenn die Angeklagten nicht +jetzt vor dem Gericht geständig waren. Er nahm die Kappe ab, die +Knechte taten ein gleiches, der eine ein wenig langsam und grinsend. +Da unterbrach Meister Voß für einen Augenblick die schon begonnene +Andacht, und seine Faust saß dem Säumigen im Nacken. »Willst Du Hund +unserem Herrgott nicht den nötigen Respekt erweisen?« Der Gemaßregelte +ließ sich willig belehren, und das Gebet verlief nach dem Fürspruch des +Meisters.</p> + +<p>Während dieser Zeit tagte über ihnen noch in einem Gemach das +Gericht. Hinter einem schwarzbehangenen Tische, auf dem ein großer +Kruzifixus zwischen zwei Kerzen stand, saßen schweigsamen und düsteren +Antlitzes der Inquisitor und die Schöffen. An der Seite wartete +der Aktuarius mit sorgsam zugeschnittenem Federkiel darauf, die +Angaben niederzuschreiben. Es läutete dem Herkommen gemäß gerade die +Angelusglocke, als die Beschuldigten von dem Büttel hereingeführt +wurden. Das Malefizverfahren schrieb<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span> vor, daß die Tortur, die sich +etwa anschließen konnte, die Übeltäter mit nüchternem Magen antreffe. +So war es auch hier.</p> + +<p>Als erste kam die Gittermannsche. Das häßliche Weib überfiel den +Gerichtshof sogleich mit einem Schwall von Beteuerungen ihrer Unschuld. +Die Magd habe ihr überhaupt nicht gesagt, daß der Trank für einen +Menschen sei; er gelte einem Hunde, so sei ihr gesagt worden. Der +Richter unterbrach sie strenge und ermahnte sie, zu schweigen und nur +auf die Fragen zu antworten. Da sie bei ihrer Behauptung blieb, brach +man das Verhör ab.</p> + +<p>Katharina gestand unumwunden, daß sie zur Gittermannschen gegangen +sei, um sich einen Liebestrank für Heinrich Achtermann zu holen. Die +Gittermannsche, welche ihr empfohlen sei, habe durchaus gewußt, wem es +gelte. Sofort fiel diese mit einem Schwall von greulichen Flüchen und +Verwünschungen über sie her, so daß das Gericht ihr schon jetzt mit +Auspeitschen drohen mußte, wenn sie das Verhör noch weiter störe. Da +begnügte sie sich, den beiden anderen Frauen giftige Blicke zuzusenden. +Die alte Magd beteuerte bei allen Heiligen, daß ihre Herrin nichts von +der ganzen Sache gewußt habe.</p> + +<p>Auch Venne erzählte den Vorgang so. Der Richter schüttelte den Kopf. +»Und Ihr behauptet allen Ernstes und mit Vorbedacht, daß Ihr von dem +ganzen bösen Handel nichts wußtet?«</p> + +<p>Venne antwortete kurz und bestimmt: »Nein.«</p> + +<p>»Bedenkt, es steht ein gewichtiger Zeuge gegen Euch, der Ratsherr +Achtermann. Er behauptet das gerade Gegenteil.«</p> + +<p>»So spricht er die Unwahrheit«, beharrte Venne trotzig.</p> + +<p>»Ich warne Euch«, drängte der Vorsitzende. »Euch kann<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> allein ein +offenes Geständnis vor der peinlichen Frage bewahren.«</p> + +<p>»Soll ich etwas gestehen, was ich nicht tat«, entgegnete sie mit Tränen.</p> + +<p>»Das ist Eure Sache«, antwortete der Richter geschäftsmäßig kühl. Da +drängte sich die alte Katharina vor. »Aber ich schwöre Euch, sie ist +unschuldig. Wie könnt Ihr glauben, daß Venne Richerdes dazu jemals ihre +Zustimmung gegeben haben würde!«</p> + +<p>»Führt sie hinaus«, befahl der Unerbittliche streng. »Sie mag reden, +wenn sie wieder befragt wird. Und die andere, die Anstifterin, nehmt +auch mit.«</p> + +<p>»Also, Ihr wollt nicht gestehen?« wandte er sich wieder an Venne. »Gut, +so brechen wir damit ab.«</p> + +<p>»Man redet Euch auch nach, daß Ihr gegen den wahren Glauben unserer +Kirche gesprochen, Euch auch zu dem Apostaten, dem sündigen Mönch +Luther, bekannt habet. Wie steht es damit?«</p> + +<p>»Das ist der schuftige Schreiber des Bischofs, der uns belauschte und +Halbgehörtes entstellte.«</p> + +<p>»Ich nehme es für eine Absage,« entgegnete der Richter mit einem +stummen Lächeln. »Doch darüber wird Euch etwa noch ein anderer +vernehmen. Aber nun erklärt Euch zu Hermann Raßler«, fuhr er dann mit +erhobener Stimme fort. »Leugnet Ihr auch hier die Gemeinschaft?«</p> + +<p>»Ich leugne nicht, was ich getan habe«, antwortete Venne ruhig. »Ich +nahm ihn mir zum Helfer, um mir mein Recht zu verschaffen, das der Rat +mir vorenthielt. Daß er Goslar und seinen Bürgern so zugesetzt, wußte +ich nicht, und es tut mir leid. Hätte ich es gewußt, ich würde meine +Zustimmung nimmer gegeben haben.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span></p> + +<p>»Und die Beleidigung des Rates und Bürgermeisters Karsten Balder vor +des Kaisers Majestät? Wie steht es damit? Leugnet Ihr oder gesteht Ihr?«</p> + +<p>»Ich leugne nicht, daß ich sie in Worms vor Kaiser und Reichstag der +Beugung des Rechts geziehen habe gegen mich und meinen Vater. Ist das +eine Sünde, so muß ich sie tragen. Aber sagt selbst, konnte ich anders, +da man mir hier in Goslar die Türen verschloß?«</p> + +<p>»Auf meine Ansicht dabei kommt es nicht an«, wehrte der Inquisitor +kühl ab. »Also Ihr gesteht. Bleibt noch eins, nicht minder sündhaft. +Man sagt Euch nach, daß Ihr den Schädling Hermann Raßler durch listige +Überredung gewonnen, auch Euch ihm hingegeben und buhlerisch mit ihm +gehauset habt. Stimmt das?«</p> + +<p>Flammende Röte schoß Venne ins Gesicht. »Das ist gemein, das ist so +niederträchtig, daß ich darauf nichts entgegnen will«, schloß sie mit +Zusammenraffen des letzten Stolzes, obschon alles in ihr zitterte.</p> + +<p>»Also schreibt, Aktuarius«, fuhr der Grausame ungerührt und kalt fort. +»Die Angeklagte Gittermann gesteht ein, den Zaubertrunk bereitet, +leugnet aber, ihn für Menschen bestimmt zu haben. Die Angeklagte +Katharina, Magd der Venne Richerdes, hat den Trunk geholt, leugnet +aber, ihrer Herrin davon Kenntnis gegeben zu haben. Und Venne Richerdes +endlich will von dieser Angelegenheit nichts wissen, leugnet auch die +Buhlschaft mit Hermann Raßler, wie die beleidigenden Äußerungen vor des +Kaisers Majestät. Sie gesteht indes zu, mit selbigem Hermann Raßler der +Stadt Goslar aufgesagt und derselben fleißig Schaden zugefügt zu haben.«</p> + +<p>Venne wurde abgeführt; darauf beriet das Gericht, wie<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> weiter zu +verfahren sei. Man kam sehr bald zu dem einstimmigen Urteil, daß die +drei über die bestrittenen Punkte peinlich zu befragen seien. Es wurde +die Reihenfolge festgesetzt, beginnend mit den leichteren Graden.</p> + +<p>Wenn all der Scharfsinn, den man im dunklen Mittelalter darauf +verwendet hat, Werkzeuge zu ersinnen, welche die eigenen armen +Mitmenschen bewegen sollten, Schandtaten zu gestehen, die sie +doch niemals begangen haben konnten, wenn diese Tüfteleien darauf +eingestellt worden wären, der Menschheit nützliche Dinge zu ersinnen, +manche der Erfindungen, deren unsere aufgeklärte Zeit sich rühmt, +wären uns von jenen schon vorweggenommen. Die ›Daumenschrauben‹, der +›Spanische Stiefel‹, die ›Pommersche Mütze‹, der ›Halskragen‹, der +›Leibgürtel‹, ein mit Eisenstacheln besetztes Korsett, in welches die +Büste der Angeklagten hineingepreßt wurde, der ›Bock‹, ein in scharfer +Schneide auslaufender Holzbock, auf welchen die ›Hexe‹ rittlings +gesetzt wurde, stellen nur eine kleine Auslese der Marterinstrumente +dar, mit deren Anwendung man die Armen zum Geständnis zu bringen suchte.</p> + +<p>Man begann bei den Angeklagten mit dem Auspeitschen. Gräßlich +hallte das Geschrei der Gittermannschen durch den Raum. Unbeweglich +sahen der Richter und die Schöffen zu. Das Weib wand sich unter den +unbarmherzigen Streichen, die ihren Rücken zerfetzten. Sie schrie, sie +wolle gestehen, sie widerrief, und wieder sausten die Streiche herab. +Da brach ihr Widerstand endlich.</p> + +<p>Venne kämpfte mit einer Ohnmacht während des gräßlichen Schauspiels, +und doch galt es bisher nur einer Fremden, einem widerwärtigen alten +Weibe, dem mit dieser grausamen Behandlung vielleicht eine gerechte +Buße auferlegt wurde für viele heimliche Sünden.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span></p> + +<p>Als aber ihre alte Katharina, ihre treue Pflegerin und Behüterin seit +den Tagen der sonnigen Kindheit, an den Pfahl gebunden und ihr Rücken +sich unter den Streichen des Henkers blutig rötete, da war sie zu Ende +mit ihrem Widerstand.</p> + +<p>»Haltet ein, haltet ein, sie ist unschuldig, ich will gestehen!«</p> + +<p>Katharina hatte bis dahin alles ertragen, nur ein Ächzen rang sich +über die welken Lippen; jetzt aber, da die Herrin sich für sie opfern +wollte, schrie sie dazwischen: »Glaubt ihr nicht, sie sagt die +Unwahrheit; ich war's allein.«</p> + +<p>Der Richter kehrte sich nicht an ihr Geschrei. Ihm lag vielmehr an dem +Geständnis der einen, der Hauptperson, die als ein ruchloses Scheusal +dem Volke vorgeführt werden mußte, sollte die Strafe allen als gerecht +erscheinen.</p> + +<p>Ihre Freunde waren bei dem Prozeß zu der Rolle der ohnmächtigen +Zuschauer verurteilt. Immecke Rosenhagen saß voller Ingrimm im +›Goldenen Adler‹. Die Gäste litten unter ihrer Laune. In ihrer alten +Entschlossenheit suchte sie den Bürgermeister auf und bedeutete +ihm, er könne doch unmöglich an das hirnverbrannte Zeug glauben; +sie wies darauf hin, daß es nicht guttue, ein Mitglied einer alten +Patrizierfamilie in dieser Weise bloßzustellen, denn die gemeine Masse +ziehe daraus leicht ihre Schlüsse auf die Qualität der Vornehmen +überhaupt. — Es war vergebens. Noch höher stieg ihr Groll, wenn sie +darauf kam, daß der Ratsherr Achtermann, der am meisten Schuldige, +triumphiere.</p> + +<p>Erdwin Scheffer, der Stadtweibel, fraß seinen Grimm in sich hinein, +wenigstens draußen. Zu Hause mußten die Kinder seine Laune büßen, wenn +sie sich irgendwie laut machten.</p> + +<p>Johannes Hardt war in seiner Rolle als Verteidiger sehr beschränkt. Bei +der vorgefaßten Meinung der Richter verhallten<span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span> seine eindringlichen +Worte. Man wollte ein Opfer, und Venne sollte es sein!</p> + +<p>Schon als die Folter bestimmt wurde für den Fall, daß sie nicht +gestehe, erwies sich die Voreingenommenheit. Nach der bestehenden +Gerichtsordnung konnten graduierte Personen, wie Doktoren, Lizentiaten, +Professoren, Advokaten, und Leute von Stand, wie aus vornehmen +Bürgergeschlechtern, die denen des Adels gleichzusetzen seien, von +der Folter befreit werden; man ließ die Vergünstigung für Venne nicht +zu. Als das Urteil gefällt war, das für die Gittermannsche auf den +Feuertod, für Katharina auf erneutes Auspeitschen und Verweisung aus +der Stadt und für Venne Richerdes endlich auf den Tod durch das Schwert +lautete, versuchte Johannes Hardt noch einmal, sie zu retten. In einer +Eingabe an den Rat wies er darauf hin, daß ein Appell an den Kaiser +Begnadigung erwirken könne. Man verweigerte es. Die Stadt habe das +Recht über Leben und Tod, also lasse sie sich von niemand dreinreden. +Mutlos kehrte Johannes zu den Seinen zurück. Unaufhörlich flossen die +Tränen Giselas; das harte Los Vennes konnte sie nicht ändern. Es wurde +von dem Rate als eine besondere Vergünstigung hingestellt, daß man sie +nicht wie eine gemeine Hexe verbrennen lasse, sondern sie durch das +Schwert aburteilen wolle.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Venne Richerdes saß in strenger Haft. Man suchte einen abermaligen +Befreiungsversuch durch geeignete Maßnahmen unmöglich zu machen. +Sie war jetzt in Wahrheit von aller Welt abgeschlossen und bekam +Menschen nur bei gelegentlichen<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> Verhören noch zu sehen, die aber +immer von kurzer Dauer waren, da ihr Geständnis vor dem Inquisitor als +ausreichend angesehen wurde. Auch wollte man keinerlei Gelegenheit zu +einem Widerruf bieten.</p> + +<p>Venne dachte allerdings gar nicht an einen solchen, denn er würde +das gräßliche Schauspiel erneuern, das ihr fast die Besinnung nahm. +Lieber wollte sie aber den Tod selbst erleiden, ehe sie ihre alte, gute +Katharina noch einmal den Henkersknechten auslieferte! Der Tod aber war +ihr gewiß, so viel wußte auch sie von der grausamen Rechtspflege ihrer +Zeit. Keine Rettung, nachdem Raßlers Versuch gescheitert war.</p> + +<p>Der Keller des Goslarer Rathauses, der heute noch in seiner Urform zu +sehen ist, ist vor anderen Anlagen gleicher Art ausgezeichnet durch +seine ungewöhnlichen Höhenausmaße. Wie gewaltige Höhlen erstrecken sich +die Gewölbe unter dem alten Gebäude dahin. Das Auge sieht die Wölbungen +in unerreichbarer Höhe über sich, das Tageslicht dringt durch schmale, +fast ebenso hoch liegende Schlitze in geiziger Sparsamkeit hinein und +läßt das Dunkel des Raumes nur noch um so gespenstiger und grauenhafter +erscheinen.</p> + +<p>In einem dieser schauerlichen Verließe saß Venne Richerdes und wartete +auf ihren Spruch. Kein Mensch nahte ihr als der Kerkermeister, der ihr +die Speisen brachte und grußlos und schweigsam kam und ging. Kein Laut +der Außenwelt drang zu ihr, sie war schon jetzt für ihre Mitmenschen +tot.</p> + +<p>Auch Johannes Hardt erhielt nicht länger Zutritt zu ihr, aber einer +vergaß sie nicht, die Kirche. Sie, die sich von ihr als Abtrünnige +gekränkt glauben konnte, wollte doch versuchen, die irrende Seele +zu retten. So schickte sie ihren<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> Boten, und bei der Auswahl erwies +sich's, daß sie die Seelenkunde als vornehmste Waffe gegen den +Unglauben zu verwenden verstand. Es kam nicht ein Eiferer, nicht ein +ungestümer Hitzkopf, der mit dem Donner seines Wortes die Arme zu +gewinnen suchte, sondern ein alter, würdiger Pater, ein Franziskaner, +bei dem sie, wie die Mutter, bisweilen gebeichtet hatte. Aus seinem +Wesen sprachen Güte und Nachsicht.</p> + +<p>Mit einem freundlichen, milden Wort begrüßte er sie, als er ihr die +Hand reichte. Nichts von Vorwurf, nichts von Geringschätzung.</p> + +<p>»Auf Dir lastet ein schweres Geschick, meine Tochter. Wie findest Du +Dich damit ab?« begann er teilnehmend.</p> + +<p>»Wie man etwas Unverdientes hinnimmt, ehrwürdiger Vater. Man grollt +dagegen und kann es doch nicht ändern. Man möchte die ganze Welt +verderben und weiß doch, daß sie darob nur hohnlacht«, murrte sie +düster. Seine Hand glitt tröstend über ihr Haar. »Wer kennt Gottes +Wege, und wer weiß, wohin das zielt, was er uns schickt? — Wir +meinen vor anderen zum Leiden ausersehen zu sein, wähnen uns zu +Besonderem bestimmt, ungerecht aus der Bahn gerissen, und sind doch nur +Staubkörnlein auf seinem Wege. Und eins, mein Kind, vergessen wir gar +zu gern ob der Klagen: die Selbstanklage.</p> + +<p>Ich bin nicht gekommen, Dich anzuklagen, ich will Dich aufzurichten +suchen. Aber so Du auch gegen die anderen haderst, wie mir scheint, +prüfe auch, ob Du vor Dir selbst gerechtfertigt dastehst. Ich bin ein +alter Mann, der manches von der Welt gesehen hat. Vielerorts habe ich +die Ungerechtigkeit triumphieren sehen, ohne dagegen einschreiten zu +können. Auch in Deinem Falle liegt es, wie mir scheint,<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span> ähnlich. +Deine Widersacher haben sich gegen Dich verschworen. Was Du dabei zur +Gegenwehr gegen Deine Heimatstadt unternahmest, ist ebenso verwerflich, +aber es mag mit Deiner Verlassenheit und Hilflosigkeit zum Teil erklärt +und entschuldigt werden. Doch was Dir als schwere Schuld anzurechnen +bleibt, ist Deine Einstellung zu den Schwarmgeistern, als deren +schlimmster und ruchlosester jener wortbrüchige Mönch anzusehen ist, +den Du in Worms zu Deinem Verderben hörtest.«</p> + +<p>»Ihr habt es von dem schuftigen Schreiber des Bischofs«, warf Venne mit +zuckenden Lippen, verächtlich lächelnd, ein. »Gegen solche Zeugen mag +ich mich nicht verteidigen.«</p> + +<p>»So sagt, daß er lügt,« fiel ihr der Mönch ins Wort, »und auch ich will +ihn für einen Schuft erklären und aller Welt Eure Reinheit verkündigen.«</p> + +<p>»Das vermag ich nicht zu sagen«, bekannte sie freimütig. »Zwar hat +er nur halb aufgefangene Worte hämisch und tückisch weitergetragen, +aber in der Sache hat er nicht unrecht. Ich will bekennen, daß der +Wittenberger einen gewaltigen Eindruck auf mich machte. Und was Ihr +ihm nachsagt von Ruchlosigkeit und Schlimmerem, vermag ich nicht +zu glauben. Wenn Ihr den Mann gesehen hättet mit seiner lodernden +Begeisterung, seinen überzeugenden Worten, denen die Wahrheit auf der +Stirn geschrieben stand ...«</p> + +<p>— »Höre auf,« rief der Pater, »ich sehe, Du bist schon völlig in die +Netze dieses Apostaten verstrickt. Kehre um, solange es noch Zeit ist. +Ich beschwöre Dich bei Deiner Seligkeit. Oder ist es dazu schon zu +spät, hast Du Dich ihm mit Leib und Seele verschrieben?«</p> + +<p>»Eure Sorge ist verfrüht«, entgegnete Venne. »Und«, fuhr sie bitter +fort, »hättet Ihr vor meiner Fahrt nach<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> Worms nur einen Bruchteil +Eures Eifers um mich aufgebracht, so fändet Ihr mich wohl gar nicht +in dieser Stimmung und auch nicht in dieser Lage. Noch ist nicht +geschehen, was Ihr befürchtet; aber ich bin auf dem Wege zu ihm, dem +Wahrheitskündiger und Seelenarzt. Das sollt Ihr wissen.«</p> + +<p>Der Mönch lenkte ein: »Du machst die Kirche und uns, ihre Diener, zu +Unrecht für das verantwortlich, für die Unbill, die Dir widerfuhr. Wir +mischen uns nicht in weltliche Händel, wie Du weißt.«</p> + +<p>»Nun, so laßt mich diese weltlichen Händel auch austragen mit all dem, +was sie im Gefolge haben«, schloß sie bitter.</p> + +<p>Aber der Pater wagte noch eine letzte Mahnung.</p> + +<p>»Meine Tochter, vergiß, was man Dir zufügte, vergiß aber nicht, was +Deiner im Jenseits wartet! Höllenqual und ewige Verdammnis, und vergiß +nicht den Schmerz, den Du Deinen Eltern zufügst durch Deine Tat. +Sie warten Deiner in ihren lichten Höhen. Willst Du Dich von ihnen +scheiden?«</p> + +<p>Sanft, mit zarter Güte war es gesprochen, und wie früher verfehlten +diese Worte ihren Eindruck nicht. Venne begann bitterlich zu weinen.</p> + +<p>»Das ist ja das qualvolle, daß ich nicht ein noch aus weiß in meiner +Not. Wie oft habe ich schon daran gedacht, und doch zieht es mich immer +wieder nach jener Seite, wo der Wittenberger steht!«</p> + +<p>Der Besucher sah, daß er dem armen Mädchen jetzt nicht weiter zusetzen +dürfe, deshalb schickte er sich zum Aufbruch an. »Du zweifelst noch, +meine Tochter, da ist nicht alles verloren. Ich will jetzt gehen und +Dich mit Gott und den Heiligen allein lassen. Mögen sie Dir das Herz +erleuchten<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span> und Dir zurückhelfen auf den rechten Weg. Und vergiß nicht: +Dem Reuigen behält die heilige Kirche seine Sünden nicht vor.«</p> + +<p>Der Mönch ging. Venne war wieder allein in ihrer trostlosen Einsamkeit. +Und dann sank der Abend herab, und die Nacht drohte, die grauenvolle +Nacht ohne Schlaf. Venne sah es an dem Verblassen des Lichtstreifens, +der in ihren Kerker fiel.</p> + +<p>Verzweiflungsvoll irrte sie in dem engen Gefängnis hin und her. Sie +wurde erneut ein Raub der widerstreitendsten Gefühle. Die Worte des +Mönches hatten alles in ihr aufgewühlt, was sie zur Ruhe gekommen +glaubte. Wie gierige Wölfe fielen die Gedanken sie an, ihre irdische +Not, die Trennung von dem Geliebten, der ihr auf immer entrissen war, +die ihr angetane Schmach; ihr ganzes verpfuschtes Dasein stieg vor ihr +auf. Und dann die grausige Vorstellung, daß sie dem Henker verfallen +sei. »Wehe, wehe, so jung und schon sterben müssen!« — Und mit dem +Tode war es noch nicht zu Ende, selbst in das Jenseits hinein belastete +sie noch die Erdenschwere: »Was harrt Deiner dort?«</p> + +<p>In namenlosem Jammer rang sie die Hände. »Herr mein Gott, erleuchte +mich! Vater, Mutter, gebt mir einen Wink, wo der rechte Weg ist!«</p> + +<p>Keine Antwort in der erdrückenden Stille, schwarze Nacht ringsum! — +Doch da schleicht sich ein Schimmer in ihr Gefängnis und trifft ihr +ruhelos irrendes Auge. Ein Sternlein sendet sein bescheidenes Licht +durch den Fensterschlitz. Aus erdenweiter Ferne gleitet sein milder +Glanz herab in den Raum, wo irdische Unbill sie ummauert hält. Und ein +zweites steht ihm getreulich zur Seite, und ein drittes. In sanfter +Stetigkeit blicken die Augen des Himmels auf sie<span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span> herab. Und Venne +klimmt mit ihrem leidgeprüften Herzen zu den Seligen empor, die da oben +in den himmlischen Sphären wandeln und leben. Vielleicht wohnt auf eben +dem Sternlein das Mütterlein und der Vater, und sie sehen herab auf +ihre Tochter, die in dieser furchtbaren Einsamkeit dem frühen, harten +Tode entgegenlebt.</p> + +<p>»Mutter, Mutter, erbarme Dich meiner. Gib mir ein Zeichen, daß Du mir +nicht zürnst, daß ich nicht von Dir geschieden bleibe!« Und ihre Seele +sucht in brünstigem Gebet die Ferne, Selige.</p> + +<p>Da fließt es wie ein linder Trost ihr ins Herz. Das verklärte Antlitz +der Mutter blickt auf sie hernieder, und sie spricht zu ihr: »Fürchte +Dich nicht, meine Venne, ich bin bei Dir jetzt, und ich umschwebe Dich +in Deiner letzten, großen Not. Du suchtest Gott, Du hast ihn gefunden; +bleibe ihm treu, höre nicht auf Menschenwort. Und alles, was das Herz +Dir bedrückt, das wirf auf ihn, den Eingeborenen, den er uns sandte, +uns zu heilen und zu lösen. Jesus Christus, Dein Stab! An ihn halte +Dich, mit ihm tritt die Wanderung an durch das dunkle Tal, das Dich zu +mir, zu uns führt!«</p> + +<p>»Jesus Christus, Dein Heil, Deine Zuversicht!« — wie milder, heilsamer +Balsam legte es sich auf ihre zweifeldurchwühlte Brust. »Jesus +Christus, Dein Stecken und Dein Stab!« — mit einem Seufzer unendlichen +Glücksgefühls wandte sich ihr Blick von den schwindenden Sternen, die +ihre Bahn durch die Ewigkeit fortsetzten.</p> + +<p>»Jesus Christus!« — Der Name schwebte noch auf ihren Lippen, als die +Augen sich schlossen zum Schlummer auf hartem Lager.</p> + +<p>Am nächsten Tage schon kehrte der Franziskaner wieder.<span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span> Er fand Venne +in gelassener Ruhe. Der Friede in ihrer Stimme, der ihm bei seinem Gruß +entgegenklang, erfüllte ihn mit Unruhe und Sorge.</p> + +<p>»Hast Du Dich zurückgefunden, meine Tochter?« fragte er mit milder +Stimme.</p> + +<p>»Wie Ihr es versteht,« entgegnete Venne, »zurückgefunden oder +zurechtgefunden zu meinem Gott und Erlöser; von ihm soll mich nichts +mehr scheiden.«</p> + +<p>»Wie soll ich das verstehen?« forschte er. »Dachtest Du auch an das, +was ich Dir von den Eltern und dem Jenseits sagte?«</p> + +<p>»Seid gewiß,« erwiderte sie zuversichtlich, »ich fand sie und hörte +ihren Rat, der aber weist mich zu Jesum. Ihm will ich folgen und nur +ihm.«</p> + +<p>»Und die Kirche und die lieben Heiligen, baust Du nicht auf ihre +gnadenbringende Fürsprache?«</p> + +<p>»Ich habe meinen Heiland, habe Jesum Christum, was brauche ich sie!«</p> + +<p>»So bist Du verloren für die Zeit und Ewigkeit!« Grollend erklangen +seine Worte.</p> + +<p>»Zürnet nicht, ehrwürdiger Vater«, bat Venne mit sanfter Stimme. »Es +schmerzt mich, daß ich Euch kränken muß, der mir nur Gutes erwies. Aber +Gottes Gebot geht vor Menschenwunsch. Und Gott befiehlt mir durch mein +Mütterlein: ›Bleibe getreu und halte Dich an Jesum Christum!‹«</p> + +<p>Da schied der Mönch zum andern Male von ihr, und er ging mit wehem +Herzen, daß er die verirrte Seele nicht zurückgewinnen solle. Traurig +war sein Blick, und Trauer durchzitterte seine Stimme, als er murmelte:</p> + +<p>»So leb' denn wohl für diese Zeit und für die Ewigkeit!«</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Während in Goslar Venne Richerdes der Prozeß gemacht wurde, lag ihr +Bewunderer und Helfer todwund in Rohde, wohin er gebracht war, sobald +sein Zustand das zuließ. Lange hielt ihn das Fieber im Bann, und es +schien, als ob der willensstarke Mann seinen Meister gefunden habe. +Immer wieder gellte der Name »Venne« durch seine Fieberträume, und +oft fuhr er auf mit dem Rufe: »Laßt mich zu ihr, ich habe ihr Hilfe +versprochen, ich darf nicht wortbrüchig an ihr werden.« Aber dann sank +er wimmernd zusammen.</p> + +<p>Von den Vorgängen in Goslar wurde er dauernd unterrichtet durch seine +Spione. Er hörte von dem Fortgang des Prozesses und erfuhr, daß Venne +zum Tode verurteilt sei. Da gab es für ihn kein Besinnen mehr. Ein +Befehl rief alle seine Männer zusammen. Es galt einen Überfall auf +Goslar, der in allen Einzelheiten sorgsam durchdacht war. Während +ein Teil einen Angriff von der Westseite her unternehmen sollte, der +die Aufmerksamkeit der Goslarer fesselte, würden die anderen von +Südosten her, von wo man am wenigsten Feindseligkeiten erwartete, in +die Stadt einzudringen suchen. Hermann Raßler war noch immer nicht +wiederhergestellt, aber es galt ihm als selbstverständlich, daß er bei +diesem Zuge, der ihm die Erfüllung seines höchsten Sehnens bringen +sollte, zugegen sein mußte.</p> + +<p>Der Tag der Hinrichtung Vennes stand fest und damit auch die Stunde, +die zur Befreiung zu führen bestimmt war.<span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span> Am Abend vorher näherten +sich die Mannen Raßlers der Stadt. Jedes Geräusch wurde vermieden, +die Landwehr an Stellen überschritten, die abseits der Wege lagen. +Mitgeführte Leitern wurden an die Mauer gelegt; die Ersten gelangten +über sie hinweg und überwältigten die Wache im Torturm. Dann brach der +Haufe in die Stadt ein.</p> + +<p>Schon war durch den Lärm, der sich bei der Erzwingung des Eingangs +nicht vermeiden ließ, dieser und jener Bürgersmann geweckt. Verschlafen +rieb er sich die Augen, dann aber besann er sich auf seine Pflicht, die +ihn zu jeder Stunde zum Schutze der Stadt aufrufen konnte. Inzwischen +drang der Haufe der Bewaffneten bis zum Marktplatz vor, wo im Rathaus +Venne befreit werden sollte. Die Türen wurden mit Gewalt erbrochen, mit +fliegender Eile stürmte Raßler zu dem Verlies, in dem er die Geliebte +wußte.</p> + +<p>»Venne, die Befreiung ist nahe! Venne!« rief er noch einmal, — niemand +antwortete. Eine Fackel tauchte auf, sie wurde dem Träger entrissen, +und Raßler leuchtete in den Raum: leer! — — Er wußte nicht, daß man +vor wenigen Stunden die Gefangene in die Stadtfronei gebracht hatte, +um sie bei der Hinrichtung nicht weit führen zu müssen. »Vergebens, +verloren!« stöhnte er. Tränen der Wut traten ihm ins Auge, und dann +brüllte er auf wie ein Tier, dem man seine Beute entrissen hat.</p> + +<p>»Venne, Venne!« schrie er einmal über das andere. Aber schon drängten +die Genossen zum Rückzug. In der Stadt heulte die Sturmglocke, +die Bürger sammelten sich in Haufen und drangen gegen das Rathaus +vor. »Feind in der Stadt! Raßler ist da!« schrie und brüllte es +durcheinander. Der Wilde stürzte sich auf sie: »Wo habt Ihr Venne +Richerdes? Gebt sie heraus!« tobte er. Aber sie höhnten ihn in<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> ihrer +Übermacht. »Seht da, der Räuberhauptmann will sich sein Liebchen holen, +um mit ihm auf dem Blocksberge Hochzeit zu halten. Auf ihn, der uns so +sehr geschädigt hat, greift ihn, den Lump!«</p> + +<p>»Auf sie!« brüllte auch Hermann Raßler mit blutunterlaufenen Augen. +Wuchtig sausten seine Hiebe auf die Angreifer herab, und mehr als +einer wälzte sich in seinem Blut. Aber immer größer wurde die Zahl der +Verteidiger, und Schritt um Schritt wichen die Raßlerschen zurück. +Dem Führer lag nichts an seinem Leben, immer und immer wieder stürmte +er vor. Zuletzt rissen ihn die eigenen Leute zurück und führten +den Widerstrebenden davon, während andere den Rückzug deckten. Das +Schicksal Vennes war besiegelt.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Ein strahlend schöner Herbsttag brach nach der unheimlichen Nacht +über die alte Reichsstadt herein. Leise, ganz leise kündigte sich das +Sterben in der Natur an. Hier ein rotes Blättchen, das vom wilden Wein +der Laube langsam zur Erde sich senkte, dort ein roter Schein über +einen alten Ahorn oder eine Linde gehaucht, dazwischen dunkles Gold und +lichtes Gelb, all die wunderbaren Farbentöne, mit denen der Meister der +Schöpfung sein Werk noch einmal verklärt, ehe er ihm den Schmuck des +Lenzes und Sommers nimmt und sie mit dem starren Gewande des Winters +umkleidet. In den Büschen und Bäumen noch das lustige Gezwitscher der +kleinen Sänger, die sich um das Morgen nicht kümmern, bis die Stimme in +ihnen mahnt, daß es an der Zeit sei, sich zur Wanderung anzuschicken.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span></p> + +<p>Auf den Straßen jubelten die Kinder bei ihren Spielen, unbekümmert um +das Unheimliche, das geschehen war, und das Gräßliche, das bevorstand. +Sie hatten von den Erwachsenen einen Vers übernommen, den sie zu ihren +Ringelreihen lustig zwitscherten:</p> + +<p> +<span style="margin-left: 1em;">»Venne Richerdes und Raßler der Böse,</span><br> +<span style="margin-left: 1em;">Von beiden der Himmel uns balde erlöse!«</span><br> +</p> + +<p>Vor der Pfalz, die von ihrer einsamen Höhe auf das Häusergewirr +herabblickte, erhob sich das Schafott, auf dem Venne Richerdes büßen +sollte. Eine ungeheure Volksmenge umlagerte den Platz. Selbst die +Firste der näher liegenden Häuser waren mit Neugierigen bekränzt, die +sich keine Einzelheit des schrecklichen Schauspiels entgehen lassen +wollten.</p> + +<p>Es ist der Ämter edelstes und opferwilligstes, das der Diener Gottes, +dem Menschen in seiner letzten Not zur Seite zu stehen, wenn alle ihn +verlassen müssen in seiner Qual. Bis dahin hielt ihn die Sorge um die +Erhaltung des irdischen Lebens gefangen, jetzt lastet die furchtbare +Seelennot auf ihm: Was wird aus mir im Jenseits?</p> + +<p>Venne Richerdes stand außerhalb dieser Fürsorge, denn von der alten +Gemeinschaft hatte sie sich losgesagt; die neue aber, die lutherische +Familie, war, in Goslar zum wenigsten, noch ohne Heimat. Ihre Kinder +und Jünger lebten der Obrigkeit zum Ärgernis und wurden von ihr nicht +geduldet. So hätte sie allein den dunklen Weg gehen müssen. Aber der +gute, alte Pater Franziskaner brachte es nicht über das Herz, sein +Beichtkind ohne Tröstung den letzten Gang antreten zu lassen. Vor +seinen Oberen beschönigte er sein Vorhaben mit dem Hinweise, daß Venne +doch zuletzt noch widerrufen<span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span> möchte, und auch im innersten Winkel +seines Herzens lebte diese Hoffnung.</p> + +<p>Als die Stunde gekommen war, trat er bei ihr ein.</p> + +<p>»Ich bin gekommen, mit Dir zu beten«, sprach er mit ernster, milder +Stimme. »Bist Du bußfertig, bereust Du Deine Sünden?«</p> + +<p>»Ich bereue alles, was ich gesündigt, und bitte Gott, er wolle es mir +nicht ansehen um Jesu Christi willen«, antwortete sie leise.</p> + +<p>»Willst Du nicht zu uns zurückkehren?«</p> + +<p>»Ich bitte Euch, ehrwürdiger Vater, laßt mich, wo ich bin. Ich habe +den Grund gefunden, auf den ich baue, Jesum Christum. In ihm will ich +sterben!«</p> + +<p>»So möge Gott Dir gnaden!« murmelte der Mönch betrübt.</p> + +<p>Das Armsünderglöcklein setzte ein mit seinem wimmernden Stimmchen. +Aus der Fronei trat die todblasse Venne Richerdes, ihr zur Seite der +Pater. Er murmelte die Sterbegebete; Vennes Lippen bewegten sich, ohne +Worte formen zu können. Mit wankenden Schritten näherte sie sich der +Richtstätte. Der Prokurator verlas das Urteil und brach den Stab über +die Verurteilte, Venne Richerdes gehörte dem Henker.</p> + +<p>Noch eine letzte, leise Bitte wagte der Mönch: »Widerrufe!«</p> + +<p>Statt der Antwort nahm ihm Venne das Kruzifix aus der Hand. Ihr Auge +suchte das Antlitz des Gekreuzigten. »Jesus Christus, mein Erlöser!« +Ihre Lippen hauchten einen Kuß auf das Kreuz, dann ließ sie es in die +Hände des Paters zurückgleiten.</p> + +<p>Noch einmal umfaßte ihr Blick die Heimat mit den Türmen<span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span> und Giebeln +und den ragenden Bergen. Dann kniete sie nieder und empfing den +tödlichen Streich.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Venne Richerdes hatte geendet, nicht erloschen war das Rachegefühl in +der Brust Hermann Raßlers. Als die Nacht hereingebrochen, näherten +sich wieder Gestalten der Stadt und gewannen heimlich Einlaß. Der +Wächter rief die Mitternachtsstunde, da flammte es an allen Enden +Goslars zugleich blutigrot auf. Der rote Hahn spreizte seine feurigen +Flügel. Die Bürger schreckten aus dem Schlafe auf durch das gefürchtete +»Feuerjo! Feuerjo!« Prasselnd stiegen die Flammen in den dunklen +Himmel, die Nachbarschaft weithin mit grellem Schein übergießend; +dahinter gähnte die Nacht nur um so schwärzer und unheimlicher. Hermann +Raßler brachte Venne Richerdes sein Totenopfer!</p> + +<p>Er selbst, der Wilde, Rachedürstende, war daran nicht beteiligt, er +hatte ein anderes, letztes Werk in Goslar zu vollbringen: noch lebte +der, von dem all das Unheil ausging, das über die unglückliche Venne +hereingebrochen war, der Ratsherr Heinrich Achtermann.</p> + +<p>Der Rächer nahm niemand mit auf seinem Wege. Was er vorhatte, war sein +eigenstes Werk, kein Unberufener sollte ihn dabei stören, was er mit +seinem Todfeinde zu erledigen hatte.</p> + +<p>Das Haustor war bald geöffnet, er drang zu dem Zimmer vor, in dem +der Gehaßte weilte. Eine Magd, die ihm mit einer Kerze entgegentrat, +verscheuchte er mit barschem Befehl. Da trat ihm der Gesuchte entgegen, +notdürftig gekleidet.<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> Entsetzen ergriff ihn, als er den Gefürchteten +vor sich auftauchen sah. Das Licht zitterte in seiner Hand.</p> + +<p>»Zurück in Euer Zimmer!« herrschte Raßler. Mechanisch wich Achtermann +zurück. Jener folgte ihm auf dem Fuße.</p> + +<p>Achtermann wußte, daß sein letztes Stündlein geschlagen habe. +Hilfesuchend glitt sein Blick zum Fenster. Raßler sprach düster: »Gebt +Euch keiner Hoffnung hin, für Euch gibt es keine Rettung! Bereitet +Euch zum Sterben vor. Aber zuvor noch eine Frage: Was tat Euch Venne +Richerdes, diese Edle, Reine? Habt Ihr auch nur einen einzigen +triftigen Grund, so mögt Ihr Euer elendes Leben weiterschleppen. Euch +bleiben noch genug der Gewissensbisse, daß Ihr darunter zusammenbrechen +müßt.«</p> + +<p>Der Ratsherr brachte nur lallende Laute hervor. »Sprecht!« heischte der +Unerbittliche, aber kein Wort entrang sich den blassen Lippen. Stieren +Auges blickte er auf den Peiniger.</p> + +<p>»Willst Du nicht, so fahre ohne Bekenntnis zur Hölle!« schrie er. »Doch +daß <em class="gesperrt">ich</em> es an christlicher Gesinnung selbst Dir gegenüber nicht +fehlen lasse, so sei Dir noch ein letztes Gebet gegönnt. Nieder auf +die Erde!« brüllte er, als Achtermann noch immer schwieg, und damit +riß er ihn auf den Boden. Da entrang sich den Lippen seines Opfers +ein furchtbarer, wilder Schrei. Mit eiserner Faust hielt Raßler ihn +nieder, während die Rechte den Dolch zum Stoß bereithielt. Wimmernd, +mit verglasten Augen lallte der Alte einige Worte. Es wurde laut im +Hause. Durch das Geschrei der Magd und den Angstruf des Ratsherrn waren +Nachbarn aufmerksam gemacht worden und drangen ins Haus.</p> + +<p>»Stirb, Du Hund«, zischte Raßler und hob die Rechte zum Stoß. Da flog +die Tür auf, und die Helfer drangen ein.<span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span> Ehe noch der Dolch sein Ziel +erreicht hatte, sank Hermann Raßler unter dem Streiche eines Bürgers. +Seinem Leben ward ein Ende gesetzt an dem Tage, da Venne, die er zu +gewinnen hoffte, unter des Henkers Schwert starb.</p> + +<p>Heinrich Achtermann hatte das Bewußtsein verloren; als er wieder zur +Besinnung gebracht war, schlug ein blöder Greis die Augen auf. Die +schreckliche Stunde hatte ihm die Sinne verwirrt.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span></p> +</div> + +<p class="drop">Durch die hochgehenden Wogen der Nordsee pflügte sich eine hansische +Kogge mühsam ihren Weg. Oft war sie verschwunden zwischen den +grünen Wellenbergen, dann schwebte sie auf der Höhe des nächsten +Wasserschwalles. Der weiße Gischt flutete über das niedrige Verdeck, +alles mit seiner salzigen Flut übergießend. Aufmerksam standen Kapitän +und Steuermann auf ihrem Posten; keinen Blick verloren sie von dem +Wege, den der Kompaß vorschrieb.</p> + +<p>Das Schiff hatte eine schwere Fahrt hinter sich, seitdem es von der +Mole in London losmachte. Wild jagte der Novembersturm hinter ihm drein +und heulte brüllend durch die gerefften Segel und Stengen. Aber wacker +stampfte es dahin, unentwegt dem fernen Ziele zu. Die Kogge war in +Hamburg beheimatet, und dorthin ging ihre Reise.</p> + +<p>Ungeduldig blickte einer der Schiffsgäste auf Schiff und See, deren +Wogen, wie es schien, unter dem Fahrzeug eilig davonglitten dem Ziel +zu, das sie selbst erstrebten. Ja, er war voller Ungeduld, Heinrich +Achtermann, der mit der guten hansischen Kogge die Heimfahrt von London +antrat, nachdem dort die geschäftlichen Angelegenheiten zu seiner und, +wie er hoffen durfte, auch zu seines Vaters Zufriedenheit geregelt +waren. Aus der Heimat hatte ihn in dem knappen Jahre, das er von Goslar +fern weilte, Nachricht nicht erreicht außer einem Schreiben des Vaters, +das geschäftlichen Inhaltes war und die Dinge, die ihn interessierten, +nicht berührte. Venne selbst wußte er in Worms;<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> wie lange ihr +Aufenthalt dort dauern würde, war ihm unbekannt. Zwischen ihm und ihr +war also in dieser Zeit der Faden gänzlich abgerissen.</p> + +<p>Er freute sich von Herzen auf das Wiedersehen, denn die Aufregung der +letzten Tage in Goslar mit dem unleidlichen Zwischenfall hatte sich +gewiß gelegt, und er durfte hoffen, daß auch bei dem Vater eine mildere +Stimmung eingezogen sei. Seine Gefühle für die Geliebte waren durch +die lange Trennung geklärt, sie hatten an Innigkeit nicht verloren, +sondern waren gefestigt worden durch die Vergleiche, die er zwischen +fremden Frauen und der keuschen, züchtigen Geliebten ziehen konnte. Er +war entschlossen, sein Glück festzuhalten und sich durch nichts darum +betrügen zu lassen.</p> + +<p>Viel zu langsam für seine Ungeduld setzte das Schiff seine Fahrt +durch die schwere See fort. Heinrichs Gedanken eilten ihm voraus +und übersprangen den Weg von Hamburg nach Goslar. Er sah sich zur +Bergstraße eilen und die Geliebte an sein Herz sinken. Das Gefühl +des großen Glückes, das seiner wartete, drohte ihm die Brust zu +zersprengen. Endlich lief die Kogge in die Elbe ein und legte im Hafen +von Hamburg an. Es hielt ihn dort keinen Tag länger, unverweilt brach +er nach Goslar auf. Noch hieß es sich Tage gedulden, aber süßer Lohn +winkte ihm daheim und brachte ihm Entschädigung für die lange Zeit der +Sehnsucht!</p> + +<p>Armer Heinrich, Du ahnst das Schreckliche nicht, das Deiner wartet!</p> + +<p>Von Braunschweig ab fand er Gesellschaft in einem Reisegenossen, einem +Kaufmann, der in Goslar Station machen und dann weiter nach Halberstadt +wollte. Von dem Gespräch über die Zeitläufte kam man auch auf die +Geschehnisse in der Heimat. Da der Reisende hörte, daß Heinrich<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span> lange +abwesend gewesen sei, berichtete er über vieles, das ihm in den Sinn +kam.</p> + +<p>»Dann wißt Ihr wohl auch nichts von dem großen Hexenprozeß, der vor +wenigen Monden alle Gemüter in Eurer Heimat in Spannung hielt?« +Heinrich verneinte.</p> + +<p>»Nun, da werdet Ihr staunen. Es war nämlich keine gewöhnliche Hexe, +sondern ein vornehmes Fräulein.«</p> + +<p>Heinrich schnürte ein unerklärliches Angstgefühl die Kehle zu. »Wie +hieß die Frau?« fragte er mit halberstickter Stimme.</p> + +<p>»Ja, wie war doch der Name? Laßt sehen. Venne, Venne Richard oder so +ähnlich.«</p> + +<p>»Venne, Venne? Doch nicht Richerdes?« fragte er heiser. »Doch, das +ist der Name.« »Ihr lügt«, schrie der Gepeinigte, daß der Fremde +erschrocken zusammenfuhr. »Ihr lügt«, wiederholte er noch einmal.</p> + +<p>»Nun, ich kann mich ja irren, aber ich meine, so hätte der Name +geklungen; doch nichts für ungut. Was erregt Euch denn so bei dem +Namen?«</p> + +<p>Was ihn erregte! Er hätte dem Mann ins Gesicht schreien können: »Meine +Braut ist es!« aber er schwieg mit zusammengebissenen Zähnen. Nur kurze +Zeit ritt er noch mit dem Weggenossen, dann entschuldigte er sich: +»Nehmt es nicht übel, aber mich zwingt die Unruhe vorwärts.« Damit gab +er seinem Pferde die Sporen.</p> + +<p>In Goslar ritt er durch das Breite Tor ein. Qualvolle Ungewißheit +erfüllte sein Herz. Es schien ihm, als blickten ihn alle Leute mit +neugierigen, mitleidigen Augen an. Bekannte begegneten ihm nicht. Ehe +er noch das väterliche Haus aufsuchte, ging er zur Bergstraße, um +von der schrecklichen Pein erlöst zu werden. Das Haus der Richerdes +war<span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span> verschlossen, niemand rührte sich drinnen. Es öffnete sich ein +Nachbarfenster: »Aber was wollt Ihr denn da? Wißt Ihr nicht, daß die +Hexe ...?« Da jagte er davon wie von Furien gehetzt.</p> + +<p>Im Vaterhause alles still. Die Magd blickte ihn an, als ob sie ein +Gespenst sehe. »Herr Heinrich«, schrie sie dann laut auf. Auf den Ruf +trat die Mutter aus dem Zimmer. Aber ... war denn das seine Mutter? +Eine rüstige, stattliche Frau, so hatte sie ihm den Abschiedskuß auf +die Stirn gedrückt, und jetzt eine gebeugte, zitternde Greisin?</p> + +<p>»Mutter,« schrie er, »Mutter, ist es wahr, was man mir erzählt? Venne +...?«</p> + +<p>Sie lehnte sich gegen den Türpfosten, als drohten ihr die Kräfte zu +versagen. »Ja, mein Sohn, mein armer Junge, es ist wahr.«</p> + +<p>Da schrie er auf wie ein zu Tode getroffenes Wild. »Venne!« und noch +einmal »Venne!«</p> + +<p>»Und wer hat sie mir geraubt« rief er heiser vor Wut. »Hat etwa der +Vater daran Anteil?«</p> + +<p>Die Mutter schwieg. Das Schweigen war ihm Antwort genug.</p> + +<p>»So hat der Unhold in seiner Rachsucht alles zerstört, was mir teuer +war. Alles, alles«, fuhr er mit versagender Stimme fort. »Aber wo ist +er?« schrie er erneut auf. »Wo ist er, daß ich ihn zur Rechenschaft +ziehe?«</p> + +<p>Die Mutter schluchzte still vor sich hin. »Wo ist er?« fragte der Sohn +wiederum drohend.</p> + +<p>»Du wirst ihn nicht zur Rechenschaft ziehen, weil Du es nicht kannst, +armer Junge«, sagte sie leise.</p> + +<p>»Weshalb nicht? Ist er tot? Ist alles tot und verhext hier bei Euch?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span></p> + +<p>»Er ist nicht tot,« antwortete sie mit bitteren Tränen, »er ist +schlimmer als tot, er ist wahnsinnig.«</p> + +<p>»Ha, ha, ha«, lachte Heinrich in grellem Hohn. »So ist's recht, die +Braut getötet, der Täter ein Narr!«</p> + +<p>»Du sprichst vom Vater!« mahnte die Mutter verzweifelt.</p> + +<p>»Ich fluche ihm,« schrie der Sohn, »ich fluche allen, die an der +grausigen Tat mitschuldig. Ich erwürge sie alle«, schäumte er.</p> + +<p>»Fasse Dich, mein Sohn,« mahnte sie, »lästere nicht wider Gottes Gebot, +das Dich heißt, den Eltern Ehrfurcht zollen.«</p> + +<p>Wieder lachte er schrill auf. »Ehrfurcht zollen diesem blöden +Mordbuben! Nein, nein, ich ziehe ihn dennoch zur Rechenschaft; er soll +mir büßen.« Er trat einen Schritt auf das Zimmer zu, in dem er den +Vater mutmaßte. Da stellte sich ihm die schwergeprüfte Mutter entgegen. +»Willst Du nicht Gottes Gebot achten gegen Deinen Vater, so achte mich +oder schreite über mich weg, wenn Du es vermagst.«</p> + +<p>Da brach der Zorn des Sohnes zusammen. Er sank auf einen Sitz und +schluchzte in haltloser, wilder Verzweiflung. Leise legte sich die +Hand der Mutter auf seinen Scheitel: »Gott hat Dir und mir die Prüfung +geschickt, laß sie uns gemeinsam tragen, daß nicht der einzelne ihr +erliegt.«</p> + +<hr class="tb"> + +<p>So nahm Heinrich Achtermann sein Joch auf sich. Oft meinte er, darunter +zusammenzubrechen. Wenn er den Vater sah, quoll die wilde Verzweiflung +aufs neue in ihm empor. Er ballte die Fäuste in der Tasche, um sich +nicht an dem wehrlosen Narren zu vergreifen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span></p> + +<p>Der stolze Ratsherr Achtermann war zum Kinde geworden, zum blöden +Kinde, das vor sich hinlallte und greinte und lachte, wie die Eindrücke +von außen, der Hunger, die Kälte, Tag und Nacht ihn trafen. Geduldig +pflegte die Mutter das große Kind. Mit einem Gefühl der Bewunderung +blickte der Sohn auf diese Frau, die in stiller, selbstloser Liebe dem +Gatten die Treue hielt, auch jetzt, wo er für die Welt zum gemiedenen, +verachteten Geschöpf geworden war: Das war die Liebe, die echte, große +Liebe, die, von Gott in der Menschen Herz gesenkt, nicht erlosch und +sich am Erbarmen mit dem Geschlagenen stärkte und immer reiner und +verklärter ihre Äußerung fand.</p> + +<p>Mählich, ganz mählich zog auch Mitleid in sein Herz. Der Vater selbst +hatte alles vergessen, was zwischen einst und dem schrecklichen Tage +lag, da durch seine Schuld die edle Venne dahinsank.</p> + +<p>In ihm lebte sie, so oft seine Gedanken sich zu ihr zurückfanden, als +die schöne, liebliche und geliebte Schwieger. Er fragte nach ihr, +er greinte, daß sie nicht komme, und dann führte ihn sein schwacher +Geist wieder in das Kinderland zurück, das dem Greise noch einmal sich +aufgetan hatte.</p> + +<p>Heinrich gewann es allmählich über sich, den Mann zu ertragen, der +ihm so Schweres zugefügt hatte; nur wenn der Schwachsinnige in seiner +kindischen Sehnsucht ihren Namen nannte, wenn er sie als Tochter grüßte +und rief, brannte das Weh in alter Schärfe.</p> + +<p>Noch einmal wurde der Ratsherr Achtermann Herr seines Verstandes. Das +war in der Stunde, da der Tod schon zu seinen Häupten stand. Da büßte +er alles, was er gesündigt hatte. »Vergib mir, mein Sohn, was ich Dir +tat. Vergib mir, Venne, geliebte Tochter, in Deiner lichten Höhe. Ich<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span> +komme und will den Saum Deines Gewandes küssen. Herr, Herr, behalte mir +die Sünde nicht vor.«</p> + +<p>Erschüttert stand der Sohn daneben. Sein Groll schmolz dahin. Er legte +die Hände des Sterbenden zusammen und betete mit ihm: »Herr, vergib uns +unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.«</p> + +<p>Es starb der Vater, es starb ihm die Mutter. Nun lebte er ganz +allein. Es war ein stiller, einsamer Mann, der zu der Stelle an der +Kirchhofsmauer wallfahrtete, wo sie Venne Richerdes gebettet hatten. +Lieblicher als Menschenhand schmückte Mutter Natur die Ruhestätte, die +von den Menschen gemieden wurde.</p> + +<p>Man lockte ihn mit hübschen, schönen Jungfrauen, die bereit waren, an +der Seite des Einsamen durch das Leben zu pilgern; er achtete ihrer +nicht. Früh bleichte sein Haar. Man schalt ihn einen Menschenfeind und +Sonderling; er hörte es nicht. Nur dem kleinen Kreise derer, die Venne +Richerdes bis zum Tode die Treue gewahrt hatten, blieb er ein Freund. +Im Hause der Hardts fand auch sein Mund wieder Worte. Man gedachte der +ihm Entrissenen.</p> + +<p>Mit wehmütiger Freude traf der Blick Heinrichs das junge, blühende +Geschlecht, das dort in der Unschuld seiner Kindheit heranreifte. Seine +Hand glitt wie segnend über den Scheitel des Töchterchens, das sich +vertrauensvoll an ihn schmiegte. Seine Gedanken suchten das Dunkel zu +durchdringen, das ihre Zukunft verhüllte: Was wird ihrer harren hier +auf Erden?</p> + +<p>Und er fand die Antwort, wie sie lauten mußte: Liebe und Kampf und +Kampf und Liebe in der ewigen Wiederholung des Menschenschicksals!</p> + +<hr class="r5"> + +<div class="transnote"> +<p class="s3 center"><a id="Anmerkungen_zur_Transkription"></a>Anmerkungen zur Transkription:</p><br> + +<p>Die erste Zeile entspricht dem Original, die zweite Zeile enthält die +Korrektur.</p><br> + +<p>S. <a href="#Seite_132">132</a></p> +<p>Sie alle feierten</p> +<p>Sie alle froren</p> +</div> + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75443 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/75443-h/images/cover.jpg b/75443-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..bdf9799 --- /dev/null +++ b/75443-h/images/cover.jpg diff --git a/75443-h/images/signet.jpg b/75443-h/images/signet.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..85a3f03 --- /dev/null +++ b/75443-h/images/signet.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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