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authornfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-02-22 08:21:02 -0800
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+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75443 ***
+
+
+
+=======================================================================
+
+ Anmerkungen zur Transkription.
+
+Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und Interpunktion des
+Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
+sind stillschweigend korrigiert worden. Eine Liste der vorgenommenen
+Änderungen findet sich am Ende des Textes.
+
+Worte in Antiqua sind +so gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~
+
+=======================================================================
+
+
+ Venne Richerdes
+
+
+ Roman aus der Geschichte Goslars
+
+ von
+
+ Hermann Kassebaum
+
+
+ [Illustration]
+
+
+ Berlin 1925
+ Verlag von Martin Warneck
+
+
+ Alle Rechte vorbehalten
+
+ +Copyright 1925 by Martin Warneck, Berlin+
+
+
+ Herrosé & Ziemsen GmbH., Wittenberg (Bez. Halle).
+
+
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+
+ Meiner lieben Heimatstadt
+ Goslar
+
+
+
+
+ Erstes Buch
+
+
+
+
+Die welschen Studenten nannten die beiden blonden Jünglinge insgemein
+›+li gemini+‹, die Zwillinge. Halb war es Spott, halb Neid, der
+aus diesem Beinamen erklang. Besser noch trafen es die Bologneser
+Schönen, die den dritten, den braunlockigen Gottfried Kristaller, aus
+dem Bistum Straßburg gebürtig, in ihren Scherz mit einschlossen und die
+drei die ›Unzertrennlichen‹, ›+li inseparabili+‹, tauften. Hinter
+dem vorgehaltenen Fächer, hinter dem wohlverwahrten Fenster klang
+es immer wieder: ›+Li inseparabili+‹, wenn die drei Deutschen
+auftauchten oder vorübergingen.
+
+Seit geraumer Zeit schon weilten sie auf Bolognas Hoher Schule, um dem
+Studium der Rechte obzuliegen, das hier nach wie vor seine vornehmste
+Pflegestätte hatte. Der Älteste von ihnen, Johannes Hardt, war der
+Semester vier hier, sein Vetter Heinrich Achtermann, gleich ihm in
+der alten Kaiserstadt Goslar am Fuße des Harzes daheim, kam vor mehr
+als Jahresfrist über die Alpen gezogen, und der dritte, Gottfried
+Kristaller, hielt die Mitte zwischen ihnen, was die Zeit des Studiums
+an der welschen Universität betraf.
+
+Jetzt waren sie alle drei bereit, Bologna zu verlassen. Johannes
+hatte sein Ziel erreicht, denn er war unlängst zum Doktor der Rechte
+promoviert worden. Heinrich wollte mit ihm ziehen, weil es so geplant
+war und weil ihm der Zweck seines Aufenthaltes im Auslande erreicht zu
+sein schien, nämlich sich in der Welt umzusehen und sich dabei ein wenn
+auch bescheidenes Maß von juristischen Kenntnissen anzueignen, das ihm
+für die Ratsherrnstelle in Goslar, die ihm nach Geburt und Herkommen
+sicher war, nicht schaden würde und ihm auch für seine demnächstige
+Beschäftigung in dem umfangreichen Handelsgeschäfte seines Vaters, des
+Rats- und Kaufherrn Heinrich Achtermann, nur förderlich sein konnte.
+Und Gottfried endlich schied, weil er es ohne die Gesellen in Bologna
+fürder nicht glaubte aushalten zu können.
+
+Die Abreise war beschlossen, der Tag dazu festgesetzt, der die
+Unzertrennlichen scheiden würde. Die beiden Goslarer wollten den
+kürzesten Weg in die Heimat einschlagen, den über den Brenner, während
+Gottfried Kristaller die Reise über Mailand und den Gotthardt wählte,
+um so gleichfalls möglichst schnell nach Straßburg zu gelangen.
+
+Das bessere Teil fiel dabei Heinrich und Johannes zu, denn ihnen
+erblühte mit dem in Aussicht genommenen Wege das Glück, in anmutiger
+Gesellschaft bis in die Heimat zusammenreisen zu können. Es waren die
+Damen von Walldorf, des Feldobristen von Walldorf zu Braunschweig
+Ehegemahl und seine liebreizende und lebensfrische Tochter Richenza.
+
+Man lernte die Damen in dem gastlichen Hause des Professors von
+Wendelin kennen, der am +Collegium germanicum+ der welschen
+Universität die Rechte lehrte. Bologna genoß, wie schon angedeutet,
+dermalen noch den Ruf, die berühmteste Rechtsschule der Welt in seinen
+Mauern zu beherbergen, und die meisten Nationen, so auch das Deutsche
+Reich, unterhielten dort Akademien, die der Universität angeschlossen
+waren.
+
+Professor Hieronymus von Wendelin weilte seit fast 30 Jahren als
+berühmter Lehrer in Bologna, und zu seinen Füßen hatte Johannes seit
+mehr als zwei Jahren gesessen.
+
+Auch die Freunde verdankten, was sie an geistiger Nahrung dort
+genossen, in vornehmster Weise Wendelin. Viel war das freilich bei
+Gottfried Kristaller nicht, und noch weniger hatte sich Heinrich
+Achtermann mit der trockenen Rechtswissenschaft den Magen verdorben.
+Er war Studierens halber in Italien, in Bologna seinetwegen, aber
+das Studium beschränkte sich nach seiner Ansicht nicht darauf, den
+spröden Stoff des römischen und kirchlichen Rechts zu zergliedern,
+wie es Wendelin und andere gelehrte Herren versuchten, sondern für
+ihn schloß es auch das Studieren von Land und Leuten in sich, und
+unter diesen wieder nahmen die Frauen sein Hauptaugenmerk in Anspruch,
+die ~schönen~, wie sich versteht. Und so beharrlich schaute er
+den liebreizenden Bologneserinnen in die glänzenden Augen, bis die
+Besitzerinnen, was freilich nicht oft geschah, verwirrt die dunklen
+Wimpern über die leuchtenden Sterne herabsenkten oder er erforscht
+zu haben glaubte, was auf ihrem tiefsten Grunde an Geheimnissen und
+Seelenregungen geschrieben stand.
+
+Gottfried Kristaller, der leichtlebige, bewegliche Alemanne, suchte
+es ihm darin gleichzutun. Was er an Wissen mit sich nahm, drückte ihn
+gewiß nicht nieder; aber er hoffte, die Lücken in seinen Kenntnissen
+daheim, in der gleichförmigen Ruhe des Vaterhauses bald ausfüllen zu
+können. So ergab es sich, daß er und Heinrich Achtermann in Wahrheit
+die Unzertrennlichen waren. Gemeinsam durchtollten sie die Nächte,
+gemeinsam verübten sie ihre losen Streiche, von denen dieser oder
+jener sie in nicht unbedenkliche Händel zu verwickeln drohte. Aber ihr
+unverwüstlicher Frohsinn half ihnen über alle Schwierigkeiten hinweg,
+und vor dem Freimut, mit dem sie ihre Sünden bekannten, glättete sich
+auch die düsterste Stirn.
+
+Nur selten eilten Heinrichs Gedanken in die ferne Heimat. Und was vor
+ihm alsdann auftauchte an altmodischer Tracht und Sitte im Vaterhause,
+vermochte ihn nicht lange zu fesseln. Er kehrte immer wieder schnell
+in die Wirklichkeit zurück, die ihn lachend und schmeichelnd umgab.
+Daheim lebte ihm der würdige Vater, immer und allerorts bestrebt,
+seiner Stellung als Ratsherr und Patrizier nichts zu vergeben, ihn,
+den Sohn und Erben, schon jetzt immer ermahnend, auf seinen künftigen
+Rang Rücksicht zu nehmen. Dort waltete die Mutter, die in ähnlicher
+Fürsorge an ihm arbeitete. Dort war alles auf die Form, auf den Anstand
+zugeschnitten, hier aber umgab ihn das lachende, sorglose Leben der
+Italiener, die in heiterer Ungebundenheit jeder Regung des Herzens
+unverhüllt und ungeschmält Ausdruck verleihen durften. Wäre es nach ihm
+allein gegangen, er hätte das sonnige Land noch länger zu seiner Heimat
+erwählt.
+
+Auch eine Schwester war ihm beschieden, nur wenig jünger als er und im
+Wesen ihm nicht unähnlich. Aber die beiderseitige Lebhaftigkeit trug
+nur dazu bei, daß sie sich nach Geschwisterart ständig in den Haaren
+lagen, ohne daß eigentlich ernstliche Zerwürfnisse zwischen ihnen
+vorkamen. Doch Heinrichs Bedürfnis, zu necken und zu hänseln, erregte
+immer wieder den hellen Zorn des Schwesterleins, namentlich, wenn er es
+sich einfallen ließ, in ihr Zimmer zu kommen, während Freundinnen zu
+Besuch da waren. Drang er alsdann unbefugterweise ein, so konnte man
+darauf wetten, daß sein Abzug zuletzt ein unfreiwilliger war, der unter
+Schelten der Mädchen vor sich ging. Ihn aber focht das nicht weiter an,
+und noch heute gedachte er mit Schmunzeln der mancherlei Szenen, die es
+dabei gegeben hatte. Am lebhaftesten stand ihm die letzte vor Augen,
+die sich kurz vor seiner Abreise abspielte. Und auch die Gestalt der
+Freundin, um die es sich dabei handelte, war ihm in aller Lebendigkeit
+gewärtig.
+
+Ein eigenartiges Mädchen, diese Venne Richerdes, wie sie ihm in der
+Erinnerung vorschwebte, lang aufgeschossen und noch ohne jede Rundung
+in den Formen. Weshalb gerade diese ihm besonders vor Augen stand,
+hätte er selbst nicht zu sagen vermocht. Vielleicht entwickelte sich
+das junge Ding noch einmal zu einer annehmbaren Mädchengestalt. Vorab
+aber fiel sie nur auf durch ihr sprödes, zurückhaltendes Wesen, das
+nicht selten sich in schroffen Meinungsäußerungen gefiel, besonders
+wenn sie mit seinesgleichen zusammengeriet.
+
+Doch, eins hob sie aus dem Rahmen der übrigen hervor, das war die
+unnachahmliche Haltung des Kopfes mit dem wundervollen Rund der Zöpfe,
+die sich wie eine Krone um das Haupt legten, und dann das Spiel der
+Augen. Diese Augen, in deren unergründlicher Tiefe jetzt verhaltene
+Wehmut schlummerte, jetzt schalkhafte Teufelchen ihr Wesen zu treiben
+schienen und die in Augenblicken der Erregung flimmernde Blitze zu
+sprühen begannen. Ihm selbst war aus ihnen auch oft der Zornteufel
+entgegengefahren, wenn er sich nach seiner Art mit irgendeiner ihrer
+kleinen Eigenheiten beschäftigte. Selbst der Abschied von ihr verlief
+als ein solches Gewitter. Ja, zum Abschiednehmen kam es eigentlich
+gar nicht; denn als er sie am Tage vor seiner Abreise zufällig bei
+der Schwester traf, trat die zornige Spannung in ihrem Gesicht von
+Minute zu Minute deutlicher hervor. Die Schwester suchte ihn, wie so
+oft schon, auf schickliche Weise, hinauszubugsieren; aber in seiner
+behaglichen Dickfelligkeit pflanzte er sich nun erst recht breit in
+einen Sessel. Als das Gespräch zwischen den beiden Mädchen einen
+Augenblick stockte, suchte er es durch eine seiner gewöhnlichen
+Neckereien wieder in Fluß zu bringen. Noch schwieg die kampfbereite
+Venne, doch in ihren Augen wetterleuchtete es unheilverkündend, wie er
+mit innerer Freude feststellte. Nun bedurfte es nur noch geringer Mühe:
+hierhin einen kleinen Stich und dort einen Hieb, da war die Entladung
+da. Noch ein Wort, und Venne sprang auf und eilte zur Tür, ohne ihn
+eines Wortes zu würdigen; nur ein funkelnder Blick traf ihn dort noch,
+vor dem er sich, wäre er weniger dickfellig gewesen, hätte verkriechen
+sollen.
+
+Der Erfolg verblüffte selbst ihn: Teufel auch, war das eine hitzige
+Kröte! Und nun setzte noch das Schmälen und Schelten der Schwester ein,
+daß er alle ihre Freundinnen weggraule. Es endigte zuletzt damit, daß
+sie ihn wutentbrannt aus dem Zimmer jagte. Er ging in dem nicht sehr
+behaglichen Gefühl, daß er vielleicht doch etwas zu weit gegangen sei,
+und es tat ihm halbwegs leid, daß sein Abschied von diesem Mädchen, das
+ihn durch ihre Eigenart immer wieder anzog, sich in so unfreundlicher
+Weise vollzogen hatte und daß sie seiner vielleicht mit Groll gedenke;
+denn Heinrich Achtermann war ein durchaus gutmütiger Gesell, dem es
+nicht entfernt beikam, einem Menschen absichtlich Unrecht zuzufügen.
+
+Heute freilich lächelte er in der Erinnerung an jene dramatische Szene:
+Wetter noch einmal, hatte das Ding Temperament! -- Wie mochte sie sich
+übrigens wohl inzwischen entwickelt haben? Ob sie seiner noch immer in
+unauslöschlichem Groll gedachte! -- Da kehrten seine Gedanken in die
+Umwelt zurück und fanden sogleich das Ziel seiner Sehnsucht und Wünsche
+von heute, Richenza von Walldorf.
+
+Ja, die wenigen Wochen ihres Aufenthaltes im Hause der Wendelins und
+der rege Verkehr mit den Damen hatte genügt, um sein Herz lichterloh
+für die schöne Tochter des Obristen brennen zu lassen. Vergessen waren
+die liebreizenden Bologneserinnen, verdrängt von der lebensfrischen,
+sprudelnden Nichte des Professors.
+
+Sie war zur Zeit unbeschränkte Alleinherrscherin in seinem Herzen. Auch
+die Freunde merkten seinen Gemütszustand und ließen es an harmlosen
+Neckereien nicht fehlen. Daß die kluge Richenza allein die Verheerung
+nicht erkannt hätte, die sie angerichtet, war kaum zu glauben. Sie
+ließ sich die Huldigungen des stattlichen Jünglings gern gefallen.
+Freilich besorgte sie nicht, daß er dauernd seinen Seelenfrieden an
+sie verlieren werde; denn die gelegentlichen Äußerungen der Freunde
+verrieten ihr, daß sie nicht die erste Rose sei, die er zu pflücken
+begehre. Über ihre eigenen Gefühle war sie sich nicht ganz im klaren,
+aber sie traute sich die Zurückhaltung zu, die gegebenenfalls, auch
+während der engeren Berührung, wie sie die gemeinsame Heimreise
+notwendig bringen mußte, eine Schranke festhalten würde, um ein allzu
+ungestümes Werben zu verhindern. Jetzt sahen sie sich täglich, ja
+die letzten Tage, seit die Studenten ihrer Verpflichtungen gegen
+die Universität überhoben waren, mehrmals am Tage, nachmittags bei
+gemeinsamen Spaziergängen, abends im Hause der Wendelins.
+
+Ein besonderer Anlaß hatte die Walldorfschen Damen nach Italien
+geführt. Daheim lag das Brüderlein an langem Siechtum darnieder.
+Keine ärztliche Kunst konnte ihm Heilung bringen. Da riet der ihnen
+befreundete Prior eines Klosters der frommen Mutter, sie solle eine
+Wallfahrt nach Rom unternehmen, um den Segen des Papstes und die
+mächtige Fürbitte der Heiligen zu gewinnen. Der Vater, der rauhe
+Kriegsmann, murrte und sprach von pfäffischem Firlefanz, aber die
+Mutter ließ sich nicht beirren und brach mit der Tochter auf.
+
+Rom lag hinter ihnen, und ihre Herzen waren voll froher Hoffnung; denn
+nicht nur hatten sie sich die Fürsprache im Himmel gesichert, sondern
+sie brachten auch die Vorschriften eines berühmten Arztes mit, von
+dessen Heilkunst sie in Rom erfuhren. Nach genauer Erkundigung über die
+Art des Leidens gab er ihnen seinen ärztlichen Rat mit auf den Weg.
+
+Angesichts der Beschwerden der Reise war es für die Damen eine große
+Erleichterung, daß sie in den Wendelins Verwandte fanden, die ihnen
+auf der Hin-, wie auf der Rückreise gern Gastfreundschaft erwiesen.
+Dieser Aufenthalt bei dem berühmten Rechtsgelehrten, den sie, besonders
+Richenza, bisher kaum mehr als dem Namen nach gekannt hatten, bot ihnen
+nicht nur willkommene Rast, sondern zwischen der Tochter des Hauses,
+der lieblichen Gisela, und Richenza war eine aufrichtige Freundschaft
+und eine fast schwesterliche Liebe aufgeblüht.
+
+Lag, als sie nach Rom wollten, noch die Sorge um den Sohn und
+Bruder wie ein Druck auf ihnen, so gab sich Richenza jetzt mit der
+ungebundenen Fröhlichkeit, die ein Grundzug ihres Wesens war. In den
+jungen Deutschen, die im Hause Wendelin ein und aus gingen, fand sie
+das willkommene Gegenstück zu ihrem eigenen Frohsinn, und Heinrich
+Achtermann wie Gottfried Kristaller waren immer bereit, auf ihre
+tausend Neckereien und Scherze einzugehen, während Johannes mehr zu der
+stilleren Gisela stand.
+
+Die Aussicht, mit den beiden Goslarern die Heimreise antreten zu
+können, erfüllte Richenza mit heller Freude; denn auf die Dauer war
+von der frommen Mutter und dem bewährten Diener, den sie mitgebracht
+hatten, nicht allzuviel Kurzweil zu erwarten. Man beredete alle
+Einzelheiten der Fahrt, und der Tag der Abreise stand fest, da wurden
+ihre Pläne noch im letzten Augenblick über den Haufen geworfen.
+
+Heinrich und Johannes wohnten in einem Hause der Karmelitergasse.
+Die Verbindung mit der Heimat war während ihres Aufenthaltes in der
+Fremde nicht allzu eng gewesen, ein Schreiben hin und her im Jahre oder
+deren zwei, das erschien beiden Teilen ausreichend, um sich von dem
+gegenseitigen Wohlergehen unterrichtet zu halten. Um so größer daher
+das Staunen, als Heinrich Achtermann kurz vor der Abreise noch einen
+Brief des Vaters ausgehändigt erhielt, der den letzten Teil seines
+Weges, von Trient ab, sogar mit besonderem Boten befördert worden
+war, da der Wagenzug der Kaufleute, die bis dahin den freundwilligen
+Beförderer abgegeben hatten, linksab, ins Val Sugano, einbog, um nach
+Venedig zu gelangen. Heinrich erbrach das Siegel voller Erregung, denn
+er ahnte, daß in dem Briefe Ungewöhnliches stehen werde. Kaum hatte er
+ihn durchflogen, da eilte er auch schon zu Johannes und pochte ungestüm
+an das noch verschlossene Zimmer.
+
+»Auf, Langschläfer, mach' auf!« Und als der drinnen etwas von
+»Ruhestörer« murrte, rief er noch dringlicher: »Eile Dich, wichtige
+Nachricht von daheim!«
+
+Da öffnete Johannes, der erst notdürftig bekleidet war, die Tür, und
+schon sprudelte ihm Heinrich die Neuigkeit entgegen.
+
+»So lies doch, Mensch, lies doch«, drängte er, fuchtelte dabei aber
+mit dem Schreiben umher. Ruhig nahm es ihm Johannes aus der Hand und
+schickte sich an zu lesen, doch schon unterbrach ihn der Freund
+wieder: »Denk' doch, unser ganzer Reiseplan ist über den Haufen
+geworfen; nach Mailand sollen wir, über den Gotthardt, mit dem Ernesti
+ziehen!«
+
+Etwas unwillig wehrte ihn Johannes ab: »Soll ich nun lesen, oder willst
+Du erzählen?«
+
+Da ließ jener von ihm ab, konnte sich aber nicht enthalten, über dem
+Lesen immer wieder einen kleinen Fluch oder ein erregtes »Was sagst
+Du dazu?« einzuschalten. Johannes ließ sich indes nicht beirren,
+sondern las den Brief mit aller Gründlichkeit, und als er am Ende
+war, begann er noch einmal. Aber wiederum vermochte er nichts anderes
+herauszudeuten, als was er schon zum ersten Male gelesen.
+
+Also schrieb aber der Vater und Ratsherr Heinrich Achtermann zu Goslar
+an seinen Sohn Heinrich:
+
+»... demnach wir darauff gefaßt seyn undt erwarten, daß Deine
+Rückkehr, viellieber Sohn, sich noch umb mehreres verzögern werde,
+wasmaßen wir wünschen müssen, daß Du, ohngeachtet der größeren
+Strapazen undt Fatiguen, von Bologna den Weg uber Mediolanum, welches
+man jetzo heyßet Maylant, undt weyter uber den Sankt Gotthardtsperg
+wählen mögest, weyl Du in obgemeldeter Statt zum Anfang octobris den
+wohledlen undt wohlachtbaren Herrn Henricus Ernesti würst treffen, als
+welcher, nähmlich Herr Henricus Ernesti, dem hohen Rahte der Statt
+Goslar günstige Bottschaft von der römischen Curia, auch des Papstes
+Heyligkeyt zu erlangen beauftraget undt gewillt ist.
+
+Obzwar nun vorbemeldeter Herr Henricus Ernesti unß solche Bottschaft
++in persona+ zu uberbringen bereyt, auch gehalten ist, er unß
+aber bittet, ihn vors erste davon zu befreyen, sintemalen er noch in
+denen hollandtschen Stätten zu weylen obligieret sey, haben wir unß
+dahin resolvieret, daß Du, viellieber Sohn, die obgemeldete Bottschaft
+uns, +sigillo+ wohl verwahret, unversehret uberbringen mögest,
+undt seyn wir gewärtig, daß Du Dich der hohen Ehre, so Dir damit
+widerfähret, würst wohl gewachsen zeygen. Tun Dir auch zu wissen, daß
+es des Herrn Doctor Rudolpfus Hardt, als des Vaters Deynes Freundes
+undt Gesellen Johannes Hardt, Wille undt Befehl ist, selbiger möge Dir
+das Geleyt geben auf der Reyse gen Maylant zum Herrn Henricus Ernesti.
+Auch verhoffen wir, daß Ihr alle Fährlichkeyten der Fahrt möget wohl
+bestehen undt bey unß in Gesundtheyt werdet eyntreffen ...« Also
+schrieb der Ratsherr Achtermann an seinen Sohn Heinrich unter dem 25.
+Juni des Jahres 1515.
+
+Johannes rieb sich die Stirn: Das warf ihre Reisepläne allerdings
+gründlich über den Haufen! Ihm selbst machte es ja schließlich nicht
+viel aus, ob er einige Monate früher oder später in Goslar eintraf, und
+da ihm Gelegenheit geboten wurde, das mächtige Handelszentrum Mailand
+zu sehen, wie die Schweiz und den Rhein, so sagte ihm die Änderung
+von Minute zu Minute mehr zu. Aber er verstand den Groll Heinrichs
+ebensosehr, kam dieser doch um die Möglichkeit, mit seiner neuen
+Herzenskönigin, der schönen Richenza, noch länger zusammenzusein.
+
+Natürlich mußte auch Gottfried Kristaller sogleich von der veränderten
+Lage unterrichtet werden! Sie fanden ihn beim Frühstück. Er gewann der
+Sache sofort die beste Seite ab. »Aber das ist ja herrlich, prächtig,
+ihr Leute«, rief er begeistert. »Da reisen wir ja zusammen, und ich
+kann Euch unser altes, liebes Straßburg zeigen.«
+
+»Du hast gut reden«, murrte Heinrich. »Dir mag es gelegen kommen, aber
+mir verdirbt es die ganze Rechnung.«
+
+»Ach ja, ich verstehe,« schaltete Gottfried gutmütig lachend ein, »Du
+meinst, nun geht Dir das trauliche Zusammensein mit Richenza Walldorf
+verloren. Herzliches Beileid! Aber ich schaffe Dir Ersatz in unsern
+schönen Straßburgerinnen.«
+
+»Geh mir mit Deinen Dummheiten. Was gehen mich Deine Straßburger
+Gänschen an!« grollte er. »Oho,« zürnte da Gottfried, dem der Schelm im
+Nacken saß, »das laß nur mein Schwesterlein hören! Gerade ihr wollte
+ich Dich präsentieren, von den noch schöneren Bäschen und Freundinnen
+ganz zu schweigen. Doch wenn Du nicht willst, so habe ich noch ein
+anderes Lockmittel: Unsern Wein wirst Du nicht verschmähen, und der
+wird Deine Lebensgeister schon wieder heben. Erst wird gehörig Rast
+im alten Straßburg gehalten, und dann mögt Ihr zu Euren Hyperboräern
+heimziehen. Mich friert jetzt schon, denke ich nur an Eure Eiswüsten da
+oben im Norden!«
+
+Da mischte sich Johannes ins Wort. »Nun gebt einmal Ruhe, Ihr
+Streithähne, und laßt uns überlegen, was zunächst zu tun ist. Ich
+meine, vor allem müssen wir die Walldorfschen Damen von der Neuigkeit
+unterrichten.« Und das geschah denn auch.
+
+Man war natürlich im Hause Wendelin nicht weniger überrascht, und
+besonders Richenza tat unzufrieden, daß die schönen Pläne ins Wasser
+fielen. Aber es zeigte sich doch, daß die Wunde, die ihrem Herzen
+geschlagen war, nicht allzu tief ging. Während die Mutter noch klagte,
+daß sie nun der angenehmen Begleitung und des Schutzes verlustig
+gingen, fand Richenza schon wieder ein munteres Wort. »Ei, so müssen
+wir uns also des Wiedersehens daheim getrösten, in Goslar oder in
+Braunschweig. Und nun wollen wir nicht länger Kopfhänger sein«, schloß
+sie herzhaft. »Die Tage schwinden schnell dahin, die uns noch bleiben.
+›+Carpe diem+‹, heißt's nicht so, Ihr gelehrten Herren? Ich
+hörte es immer vom Oheim in Braunschweig, wenn ihm die Schaffnerin
+noch heimlich eine Flasche des guten Weines holen mußte, ohne daß es
+die Gattin sah. Also ans Werk, das heißt: Was wollen wir heute noch
+unternehmen?«
+
+Die Auswahl war nicht groß in Bologna. Die dumpfen, glutheißen Straßen
+der Stadt boten kaum des Abends Erholung, und die Elemente, welche sie
+alsdann belebten, waren, wie andererorts, kein Anreiz für Damen. Es
+blieben nur die Uferwaldungen am nahen Reno übrig, dessen schattige
+Gänge man also am Spätnachmittage aufsuchen wollte. Der Fluß selbst
+war, wie die meisten Wasserläufe, die der Apennin speist, jetzt zu
+einem dünnen Rinnsal zusammengeschrumpft.
+
+Der Schicklichkeit halber begleitete Donna Wendelin, die Mutter
+Giselas, die Ausflügler, obwohl diese lieber unter sich gewesen wären.
+Dem guten Gottfried fiel die Ehre zu, die Dame zu führen. Er machte
+zuerst ein etwas sauersüßes Gesicht, doch er fand sich bald mit Anstand
+in seine Würde, zumal er wußte, daß er den Freunden, mindestens
+Heinrich Achtermann, einen Gefallen erwies. Auch war Frau von Wendelin
+noch eine sehr hübsche Frau zu nennen, der man die erwachsene Tochter
+nicht ansah. Gottfried spielte seine Rolle als galanter Ritter so
+anmutig und war so unerschöpflich in seinen drolligen Einfällen, daß
+Frau von Wendelin aus dem Lachen nicht herauskam.
+
+Die beiden anderen Paare gingen bald langsamer, bald schneller
+und beredeten, was ihnen am Herzen lag. Heinrichs Ungestüm drängte
+immer wieder zu einem entscheidenden Wort, aber Richenza hielt ihn
+mit ebensoviel Anmut wie Geschicklichkeit in Schranken. Als er dann
+doch von seiner Liebe zu reden begann, unterbrach sie ihn schelmisch
+lächelnd, wie wohl auch ihr bei seinen Worten ums Herz war.
+
+»Ich bitte Euch, sprecht nicht weiter. Wir wollen den Tag nicht durch
+so ernste Dinge belasten. Ihr seid mir gut, das will ich glauben,
+wenngleich ...« -- Heinrich wollte beteuern, da fuhr sie heiter fort:
+»Um Gottes willen, nur nicht auch noch einen schweren Eid bei dieser
+schrecklichen Hitze; ich will's Euch glauben, auch unbeschworen. Doch
+im Ernst, wir wollen jetzt vernünftig sein. Laßt erst einmal die Reise
+zwischen unserer jungen Freundschaft liegen, dann mag's sich erweisen.
+Übrigens wird auch mein Herr Vater noch ein Wort mitreden wollen,
+ein gar gestrenger Herr!« -- Die Schelmin wußte, daß sie den Vater
+bisher immer noch dahin brachte, wohin sie ihn haben wollte, und sie
+verschwieg auch, daß just in diesem Augenblick das hübsche Gesicht
+eines Vetters von daheim vor ihr auftauchte, der ihr seine Neigung mit
+noch heißeren Worten kundgetan hatte, ohne daß sie auch darüber gerade
+ungehalten gewesen wäre.
+
+Seufzend ergab sich Heinrich in sein Schicksal und machte ein so
+betrübtes Gesicht, daß die muntere Richenza hellauf lachte. »Um Gott,
+nicht diese Leichenbittermiene. Ich verschwöre es ja nicht, Euch
+später anzuhören, nur Geduld sollt Ihr haben. Vielleicht sehen wir uns
+demnächst in Braunschweig wieder, und vielleicht müßt ihr mich dort im
+edlen Wettbewerb mit andern zu erringen suchen, die auch mich garstige
+Person ins Auge gefaßt haben. Ich freue mich schon jetzt auf die Rolle
+der minniglichen Richterin über euch.« Das war wieder ganz der Schelm
+Richenza, und nun fand sich auch Heinrich wieder.
+
+Währenddessen gingen Gisela und Johannes miteinander. Ihr Gespräch floß
+nicht so leicht dahin wie das der Übrigen. Namentlich Gisela wollte
+bisweilen, wie es schien, das Wort versagen.
+
+Sie waren in der langen Zeit, seit Johannes in Bologna weilte, in ein
+fast kameradschaftliches Verhältnis zueinander gekommen. Als der junge
+Student vor nunmehr mehr als zwei Jahren ankam, brachte er die Grüße
+und Empfehlungen seines Vaters mit, der, jetzt ein gesuchter Arzt
+in Goslar, einst mit dem Professor von Wendelin in Leipzig zusammen
+studiert und Freundschaft gehalten hatte. Diese alte Bekanntschaft
+öffnete Johannes sogleich das Haus der Wendelins, und er ging dort bald
+wie ein Sohn ein und aus.
+
+Die Studenten des +Collegium germanicum+ hielten gleich denen der
+andern Nationen eng zusammen, und die Professoren, zumeist Deutsche,
+wie Herr von Wendelin, stützten diesen Zusammenschluß dadurch, daß sie
+die jungen Leute an sich zogen, blieb ihnen doch selbst die Verbindung
+mit der alten Heimat erhalten.
+
+Nicht alle die wilden Gesellen jener Zeit der Scholaren und Vaganten
+vermochten sich im Zaum zu halten. Aber die Gutgearteten unter ihnen
+und die aus gesitteten Familien waren doch froh, daß sich ihnen hier im
+fernen Welschland ein Haus auftat, in dem deutsche Laute erklangen und
+deutsche Art gepflegt wurde. Auch die rohen Elemente vergaßen selten
+eine Wohltat, die ihnen von den Professoren erwiesen wurde. Und Herr
+von Wendelin hatte sich in dieser Hinsicht in mehr als einem Herzen
+ein Denkmal der Dankbarkeit gesetzt.
+
+Von all diesem sprach Johannes heute zu Gisela, und aus seinen Worten
+erklang eine aufrichtige, ehrliche Dankbarkeit, daß es ihr warm ums
+Herz wurde bei so viel Anerkennung ihres geliebten Vaters. Und dann kam
+Johannes auf sie selbst zu sprechen und ihre Freundschaft, und er gab
+ihr seinen heißen Dank zu erkennen, daß sie ihn dieser Freundschaft
+gewürdigt habe. Einem Impulse folgend, ergriff er ihre Hände und
+sprach, während er sich zu ihr neigte: »Habt Dank für alles, was Ihr
+mir erwiesen. Ich weiß nicht, wie ich die Trennung von Euch und Euren
+lieben Eltern werde ertragen können. In meinem Herzen bleibt Ihr für
+immer. Bewahrt auch mir ein freundliches Gedenken.«
+
+Gisela war unter den Worten ihres Begleiters errötet und erblaßt. Sie
+vermochte kein Wort zu sagen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Da
+kam ihrer Verwirrung Gottfried zu Hilfe, der sich gerade näherte. Sie
+suchte sich zu fassen und zwang sich sogar ein Lächeln ab, als jener
+eine launige Bemerkung fallen ließ. Dann schickte man sich zur Rückkehr
+an.
+
+ * * * * *
+
+Dies war nun der letzte Abend, den die jungen Deutschen in Bologna
+verlebten. Er beschloß die schönen Tage, welche dem Abschiede
+vorhergingen, und fand sie, wie begreiflich, im Hause der Wendelins.
+
+Alle bemühten sich, den Scheidenden die Stunden so angenehm wie
+möglich zu machen. Aber sie konnten es doch nicht verhindern, daß
+ein Hauch leiser Wehmut über dem kleinen Kreise lag, je weiter die
+Stunden vorrückten. Besonders Gisela zerdrückte mehr als einmal eine
+stille Träne, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Dann glitt wohl
+ein schneller, heimlicher Blick nach dem Platze, wo Johannes neben
+der Mutter saß: Ach, er wußte ja nicht, wie ihm ihr junges Herz
+entgegenschlug und wie schwer sie an dem Gedanken trug, ihn morgen
+vielleicht für immer zu verlieren.
+
+Die Mutter ahnte nicht, welche Verwirrung der junge Deutsche im Herzen
+ihres Töchterchens angerichtet hatte. Sie unterhielt sich mit ihm über
+die ferne Heimat ihres Gatten und sah sie durch den Mund des Freundes
+neu, in begeisterter Schilderung vor sich erstehen. Aber immer mehr
+senkten sich, von den Augenblicken angeregter Rede abgesehen, die
+Schatten wehmutsvoller Trauer herab. Noch einmal suchte die fröhliche
+Richenza die Stimmung zu retten mit einem Appell an die Jugend, wobei
+sie ihre Freundin Gisela besonders ins Auge faßte.
+
+»Euch ist wohl heute nachmittag der letzte Trost auf dem Reno
+davongeschwommen, als wir an seinen Ufern uns ergingen. Laßt Euch
+nicht an Seelenstärke von einem schwachen Mädchen, wie ich es bin,
+übertreffen. Droht uns doch, meinem lieben Mütterlein, wie mir, in
+gleicher Weise die Stunde des Abschieds von diesem gastlichsten aller
+Häuser im Lande Italia. Ich aber habe mein Herz gewappnet gegen alle
+Trübsal und helfe mir über die Wehmut des Augenblicks mit einem
+herzhaften ›Auf Wiedersehen‹ hinweg.«
+
+»Mach' es wie ich,« wandte sie sich nunmehr direkt an ihre Base, die
+liebliche Gisela, deren Gesicht sich bei den Worten der Freundin noch
+mehr mit Trauer überschattet hatte, »verhärte dein Herzlein, daß die
+Herren nicht meinen, sie hätten uns bezwungen.«
+
+Doch damit beschwor sie das Unheil erst recht herauf. Hatte sich
+Gisela bis jetzt noch tapfer gehalten, so rannen ihr nunmehr die
+Tränen unaufhörlich über die Wangen, und sie stürzte fluchtartig aus
+dem Zimmer, um ihr Herzeleid den übrigen zu verbergen. Bestürzt sahen
+diese ihr nach. Wohl hatten die Eltern bemerkt, daß eine Freundschaft
+zwischen ihrem Töchterlein und dem jungen Deutschen sich entwickelte;
+aber der unbefangene, fast kameradschaftliche Ton, in dem sie sich
+äußerte, ließ sie nicht ahnen, daß die Herzensruhe ihres Lieblings
+ernstlich gestört wurde. Nun schien dies dennoch der Fall.
+
+Die Mutter wie Richenza eilten der Entflohenen nach. Der Vater blieb
+allein zurück mit den jungen Freunden.
+
+Auch die Männer blickten betroffen drein. Der Vater erkannte, daß sich
+eben vor seinen Augen der Anfang eines Dramas abzuspielen begann,
+dessen Ausgang im dunkeln lag. Aber bei der Gefühlstiefe, die er an
+seinem Töchterchen als ein Erbteil seiner selbst zu jeder Zeit bezeugt
+gesehen hatte, mußte er besorgen, daß ihr schwere Stunden bevorstanden.
+
+Heinrich Achtermann und Gottfried Kristaller waren am meisten
+überrascht. Daß die Tränen nicht ihnen galten, wußten sie genau. Ihre
+eigenen Angelegenheiten hatten sie immer so sehr in Anspruch genommen,
+daß sie auf Johannes und Gisela nicht sonderlich achtgaben. Nun zeigte
+es sich, daß die arme Gisela, die ihnen um ihrer anspruchslosen
+Hilfsbereitschaft und Uneigennützigkeit willen ans Herz gewachsen
+war, ein Kummer bedrückte, der sie nach ihrer Eigenart besonders
+schwer treffen mußte. Sie schieden beide nur mit leichter Bürde auf
+dem Herzen, wenn auch Heinrich im Augenblick meinte, ohne Richenza
+nicht leben zu können. Doch ihm stand ja die Aussicht offen, sie in
+Deutschland wiederzusehen, während für Gisela und Johannes morgen der
+Abschied für immer bevorstand. Das tat ihm von Herzen leid.
+
+Johannes durchzuckte ein Gefühl, halb des Schreckens, halb der Freude,
+als Gisela davoneilte. Hatte er bisher eine Art schwesterlichen
+Empfindens für sich bei ihr vorausgesetzt, so war er zuerst hieran
+irre geworden, als sie vor einigen Tagen am Reno ihre Gedanken über
+seine bevorstehende Abreise austauschten. Er sah ihre seltsame Erregung
+und Verwirrung und war geneigt, sie als eine Äußerung nicht nur rein
+freundschaftlicher Zuneigung zu deuten. Worüber er sich selbst nie
+zuvor klar geworden, was er für sich nie zu erhoffen gewagt hätte,
+das schien in ihrem Herzen Wurzel geschlagen zu haben. Damals schon
+durchzuckte ihn der Gedanke, sie könne ihn lieben, sie wolle ihm
+angehören, mit einem heißen Glücksgefühl. Jetzt fand er bestätigt, was
+er nicht auszudenken gewagt hatte.
+
+Dieses junge Menschenkind, über das eine gütige Fee alle Holdseligkeit
+der Jugend ausgebreitet zu haben schien und das in seiner Brust
+gleicherweise die edelsten Gefühle echter Weiblichkeit barg, war ihm
+mehr als die Genossin frohseliger Jugendstunden, sie brachte ihm das
+Geschenk einer ersten, keuschen, zarten Liebe dar. Aber zugleich
+bestürmte ihn auch der Schmerz, daß er morgen schon verlieren sollte,
+was er eben erst gewonnen hatte. Die Trauer griff ihm ans Herz, denn er
+mußte sich bezwingen, um ihren Frieden nicht noch mehr zu stören, wie
+er sich Zwang angetan hatte, seit er selbst erkannte, daß die Liebe zu
+dem holdseligen Geschöpf seine Brust durchzittere.
+
+Inzwischen waren die Mutter und Richenza um Gisela bemüht. Da sie
+argwöhnte, daß der junge Deutsche ihre Tochter durch seine Schuld um
+ihre Herzensruhe gebracht habe, wallte zuerst der Unmut gegen jenen in
+ihr auf. Aber beim ersten Wort, welches sie in dieser Hinsicht fallen
+ließ, warf sich Gisela sofort zum Verteidiger des heimlich Geliebten
+auf.
+
+»Er ist gewiß ganz unschuldig an der Sache, die Schuld habe ich dummes
+Mädchen allein. Weshalb wußte ich meine Gefühle nicht besser zu
+verbergen. Nun habe ich zu dem Schmerz auch noch den Spott, denn die
+Freunde werden sich gewiß über mich einfältiges Ding lustig machen.«
+
+»Das werden sie nicht tun,« fiel ihr Richenza ins Wort, »dazu sind sie
+viel zu ehrlich und anständig. Und Dein Johannes im besonderen, so darf
+ich ihn hier doch wohl nennen, denkt zuletzt daran; denn ich müßte eine
+schlechte Beobachterin sein, wenn nicht auch ihm der Abschied von Dir
+recht naheginge.«
+
+Gisela wehrte unter Tränen lächelnd ab, doch die Freundin ließ sich
+nicht beirren. »Ich weiß, was ich weiß. Übrigens kann ich ihn ja
+erforschen, wenn Du es wünschest.« Erschrocken wehrte Gisela ab,
+während tiefe Röte ihr Gesicht überflutete.
+
+»Daß Du Dich nicht unterstehst! Ich müßte mich ja zu Tode schämen;
+denn gewiß würde er glauben, Du handeltest in meinem Auftrage, um ihn
+auszuforschen.«
+
+Richenza versprach zu schweigen. »Nun aber auch wieder ein fröhliches
+Gesicht aufgesteckt, daß die Herren sich nicht einbilden, Du habest um
+sie Dein Tränenkrüglein gefüllt. Ich weiß zudem noch einen Trost für
+Dein Leid. Es muß ja morgen nicht für immer geschieden sein. Wenn die
+Eltern es erlauben, besuchst Du uns daheim in Braunschweig. Der Weg zu
+uns ist nicht weiter als von uns zu Euch, und Du siehst, ich bin heil
+hier angelangt und hoffe, auch unversehrt wieder im alten Braunschweig
+einzutreffen. Von da nach Goslar ist's ein Katzensprung. Wollt Ihr
+also, so gibt es im nächsten Jahr ein frohes Wiedersehn bei uns
+daheim.«
+
+Gisela lächelte schwermütig zu den Zukunftsplänen der Base. »Du glaubst
+ja selbst nicht, daß der Plan gelingen wird.«
+
+»Das tue ich allerdings; es hängt nur von Dir und Deinen Eltern ab,
+ob und wann er in Erfüllung gehen soll. Ihr seht doch an mir und der
+lieben Mutter, daß auch ein Frauenzimmer den Weg über die Alpen wagen
+kann. Außerdem wirst Du immer reiche Gesellschaft finden, denn die
+Straße über den Brenner ist so begangen, daß jede Gefahr ausgeschlossen
+ist. Wenn Dich also nicht jedes Murmeltierchen schreckt, das ein
+Steinchen zum Herabrollen bringt, so mach' Dich getrost auf die Reise.
+An Kurzweil wird's Dir bei uns nicht fehlen. Nun aber laßt uns wieder
+zu den Herren hineingehen, daß sie nicht auf falsche Gedanken geraten.«
+
+Auch die Mutter trieb dazu. Ihr Herz war von mehr Sorge erfüllt, als
+sie zu erkennen gab; denn sie kannte ihr Kind zu genau, um nicht zu
+wissen, daß die Wunde zu tief ging, um ohne ernsten Schaden geheilt
+werden zu können.
+
+Im Zimmer ergriff Richenza sogleich wieder das Wort und suchte die
+Situation zu klären.
+
+»Das sind die dummen Schwächen, unter denen wir Frauenzimmer leiden.
+Kaum freut man sich einmal wirklich, ist auch gleich so eine Migräne
+da, die uns bis zu Tränen niederzwingt. Aber, Herr Oheim, wir haben
+indes schon ein Plänchen ausgeheckt, das unsere Gisela heilen wird.
+Sie muß einmal heraus aus eurer Tropenluft hierzulande. Erlaubt, daß
+sie uns besuche daheim im lieben Braunschweig, wo ja auch Eure Wiege
+stand. Dann mögen Euch ihre roten Wänglein bei der Rückkehr verraten,
+daß wir gute Pflege gegeben haben; und was dabei noch für Euch, Herr
+Oheim, abfällt an lebendigen Erinnerungen an Eure liebe Heimatstadt,
+das nehmt als gern gegebene Draufgabe. Also entscheidet Euch kurzerhand
+und gebt die Erlaubnis. Ist's nicht für sogleich, so schenkt uns die
+Gisela für das kommende Jahr. Und wenn es die Herren Studiosi und
+Doctores gelüstet, uns zu besuchen, so wissen die Herren, daß es von
+Goslar nur ein Ritt von wenigen Stunden ist. Herr Kristaller muß sich
+allerdings schon von seinem fernen Straßburg herbemühen, will er, daß
+der lustige Kreis von Bologna in Braunschweig aufs neue erstehen soll.«
+
+Der Vater war überrascht und suchte nach Einwendungen. Aber da er die
+leuchtenden Augen seines Lieblings während der Worte Richenzas sah,
+hielt er mit lauten Bedenken zurück und hoffte, daß die Zeit ihn der
+Notwendigkeit überheben werde, die endgültige Zustimmung zu erteilen.
+Doch nun legte sich auch Johannes für den Plan ins Zeug. Das war ja
+die Erfüllung einer Hoffnung, die er selbst gar nicht zu hegen gewagt
+hätte. Und den vereinten Anstrengungen gelang es, die endgültige Zusage
+zu erhalten. Er ahnte nicht, daß die Ausführung unter viel trüberen
+Umständen wirklich erfolgen sollte.
+
+Die Stunde des Abschieds war gekommen. Als Johannes sich über die
+Hand Giselas neigte, flüsterte er ihr zu: »Ich weiß, daß wir uns
+wiedersehen; das macht mir den Abschied leichter. Bewahrt mir bis dahin
+ein Plätzchen in Eurem Herzen.«
+
+Ein lichtes Rot der Freude überflog das Gesichtchen Giselas, und eine
+reizende Verwirrung ließ sie noch lieblicher erscheinen. Aufs neue
+füllten Tränen ihre Augen, aber es waren Tränen seligen Glücks. Dann
+schloß sich hinter den Freunden das Tor des alten Palazzo Faba, in dem
+der Professor wohnte.
+
+
+
+
+Als am andern Morgen die Glocken von San Giacomo Maggiore die Frühmette
+einläuteten, traten Johannes und Heinrich, wie auch Gottfried, aus
+ihrer Wohnung und bestiegen die schon bereitgehaltenen Pferde, denen
+ihre Felleisen, das einzige Reisegepäck, welches sie persönlich mit
+sich führten, sorgsam aufgeschnallt waren.
+
+Das Tor wurde gerade von dem halbverschlafenen Wächter geöffnet, als
+sie die Stadt auf dem Wege verließen, der als die uralte Via Aemilia
+vor dem Apennin entlang führt und nur jeweils in den Städten, die
+sie durchkreuzt, sich eine Abweichung von der schnurgeraden Richtung
+gefallen lassen muß, in der sie als ein endloses, weißes Band sich
+dahinzieht. Mit ihnen ging noch ein Mönchlein aus der Stadt, das dort
+wohl übernachtet hatte und nun in sein Kloster zurückkehren wollte. Es
+hielt indes nur kurze Zeit Schritt mit den rüstig ausgreifenden Rossen,
+und sie waren allein. Noch lag der Schatten des frühen Morgens mit
+seiner Kühle auf der Straße, und ein Frösteln überflog ihre Glieder.
+Aber munter ging es weiter.
+
+»Du sinnst wohl noch über den Abschied von der lieblichen Gisela nach?«
+unterbrach Gottfried das Schweigen. Doch Johannes verspürte keine
+Neigung auf den scherzhaften Ton einzugehen. »Laß die Geschichte; Du
+tust mir weh mit dieser Art davon zu sprechen.« Da brach Gottfried das
+Gespräch ab, und sie ritten schweigend fürbaß. Auch Heinrich Achtermann
+zog wider seine sonstige Gewohnheit mürrisch und wortkarg dahin.
+
+Noch war nichts Lebendes auf der Straße zu sehen. Doch jetzt blitzte
+es im Morgennebel vor ihnen, und trapp, trapp, trapp kam es zu ihnen
+heran. Es waren Speerreiter des Podesta von Bologna, die ein paar
+armselige Lumpen mit sich führten. Auf einer nächtlichen Streife im
+Banngebiet der Stadt auf frischer Tat ertappt, trabten sie jetzt
+trübselig hinter den Pferden drein, an deren Schweif sie kurzerhand
+gebunden waren. Auch andere Frühaufsteher tauchten bald auf der Straße
+auf, Landleute, die ihr Geschäft in die Stadt führte, Bauern mit
+Ochsenkarren, welche Getreide und sonstige Früchte den Kaufleuten in
+Bologna bringen wollten, junge, rüstige Dirnen und alte Weiber, die
+Melonen und andere Früchte heimischen Fleißes am selben Ziel in Geld
+umzusetzen hofften.
+
+Inzwischen war die Sonne hervorgebrochen und übergoß Land und Straße
+mit ihren wärmenden Strahlen.
+
+Langes Schweigen war wider die Natur des lebhaften Gottfried.
+
+»Wißt ihr übrigens, daß wir in unserm Stumpfsinn auf
+geschichtsschwangerem Boden dahinreiten? Hier erklang schon vor
+anderthalbtausend Jahren der eherne Tritt römischer Legionen, die auf
+Eroberung auszogen, und wieder um ein beträchtliches später zogen in
+umgekehrter Richtung die Gewappneten der deutschen Kaiser sie entlang,
+um in das Land Italia einzudringen?«
+
+Die lachende Septembersonne verscheuchte auch die Grübeleien, in die
+Johannes versunken war, und die jugendliche Hoffnungsfreudigkeit siegte
+über die Zweifel, die sich ihm aufgedrängt hatten: Es würde doch alles
+gut werden, wie er es selbst gestern Gisela gesagt hatte. Und er konnte
+auf den fröhlichen Ton des Freundes eingehen.
+
+»Da kennst Du unsern guten Magister Sutor schlecht -- den schlichten
+›Schuster‹ vertrug seine Gelehrsamkeit schlecht, und wenn er uns einmal
+aus Unachtsamkeit oder Bosheit über die Lippen glitt, saß uns der Bakel
+schon auf dem Buckel. -- Er hat uns haarklein den Weg gezeigt, den der
+große Cäsar mit seinen Heeren nahm, und die Tuben der Legionen des
+Varus hörten wir schon erklingen, wenn sie noch diesseits der Alpen,
+meinetwegen auf der alten Via Aemilia, ertönten, auf der wir jetzt
+selbst dahintraben. Ich wollte nur, ich hätte gleich ihnen erst die
+Alpen überschritten und zöge dem alten Goslar zu.«
+
+Unterdes war die Sonne höher und höher gestiegen und sandte ihre
+Strahlen mit einer Glut auf die Reisenden herab, daß ihr Gespräch
+wieder versiegte. Auf den Feldern arbeiteten Bauern mit ihrem
+Ochsengespann, vor ihnen lag das weiße, schattenlose Band der Straße,
+auf der sich kaum ein Lebewesen zeigte, denn alles floh vor der
+sengenden Hitze.
+
+Die Freunde hatten sich als Ziel des Tages Parma gesetzt; aber als
+sie Modena, etwa halbwegs zwischen Bologna und Parma, gegen Mittag
+erreichten, fühlten sie doch, daß sie gut täten, den Pferden, wie
+sich selbst nicht noch eine gleich große Wegstrecke zuzumuten, und
+sie blieben dort bis zum nächsten Morgen. Nach zwei weiteren, gleich
+ermüdenden Tagereisen trafen sie in Piacenza, der alten Brückenstadt am
+Po, ein, wo ihre letzte Raststätte vor Mailand sein sollte.
+
+In Piacenza erfuhren sie in der Herberge von deutschen Landsleuten, die
+von Genua angekommen waren, daß der Kaufherr Ernesti tags zuvor hier
+eingetroffen, aber schon nach Mailand vorausgeeilt sei, weil er dort
+noch Geschäfte zu erledigen habe.
+
+Unterwegs schon hatte Gottfried nach diesem Ernesti gefragt, aber
+Heinrich wie Johannes vermochten ihm keinen Aufschluß über den
+seltsamen Mann zu geben, der als einfacher Kaufmann mit den Mächtigsten
+der Erde verhandelte, wie es sonst nur die Aufgabe kaiserlicher
+Ambassaden war. Wohl hatten sie in Goslar den Namen des Mannes
+aussprechen hören, doch nach Art der Jugend kümmerten sie sich wenig
+um Dinge, die sie und ihre Jahre nicht berührten. Beide, besonders
+Heinrich, fesselten viel mehr, da sie noch in der Münsterschule
+zu Goslar saßen und unter dem Joch des gestrengen Magisters Sutor
+seufzten, die Spiele mit den Altersgenossen und die Reigen mit den
+hübschen Goslarer Bürgermädchen, besonders der Lange Tanz, ein Reigen
+aus alter Zeit, welcher der Sage nach die immerwährenden Kämpfe
+zwischen den einheimischen Sachsen und den zugewanderten fränkischen
+Bergleuten beendet hatte. Alljährlich zur Fastnachtszeit fand er statt,
+und selbst ein hochweiser und gestrenger Rat sah dem lustigen Treiben
+wohlgefällig zu, das sich vor seinen Augen abspielte in dem anmutigen
+Schreiten und Sichneigen und Hüpfen lieblicher Jungfräulein und
+kühnstolzer Jünglinge, die jene geleiteten.
+
+Man konnte also die Wißbegier des Freundes hinsichtlich Ernestis nicht
+befriedigen. Auch das, was die mitreisenden Kaufleute nächsten Tages
+auf der Reise von Piacenza nach Mailand über ihn zu sagen wußten,
+ließ noch vieles an diesem Manne im dunklen. Daß er ein seltsamer
+Mensch sei, erhellte zur Genüge aus ihren Worten, aber auch, daß er
+weltbefahren und über das gewöhnliche Maß hinaus angesehen und mächtig
+sein müsse, blieb demnach nicht zweifelhaft. Seine Beziehungen reichten
+von Italien bis Frankreich, und er war in den Handelsplätzen der
+Niederlande gleich bekannt wie in der berühmten Stadt Nowgorod am
+Ilmensee im fernen Reiche der reußischen Zaren.
+
+Daß Ernesti in besonders wichtiger Mission vom Rate der Stadt Goslar
+zur Päpstlichen Kurie in Rom entsandt worden war, wußten sie aus dem
+Briefe von daheim. Heinrich ließ darüber den Kaufleuten gegenüber
+nichts verlauten, da er nicht wußte, ob das der Sache dienlich war, und
+Johannes schwieg ebenso selbstverständlich. Die Kaufherren erzählten,
+daß Ernesti als Heimweg von Rom nicht den Weg über die Abruzzen
+gewählt habe, wiewohl dieser der kürzere war, sondern in einem kleinen
+Küstenklipper nach Genua gefahren sei, um dort im Dogenpalast noch
+etwas zu erledigen. -- Fürwahr, ein seltsamer, geheimnisvoller Mann,
+dieser Ernesti, dachte auch Johannes, dessen Gedanken sich allmählich
+mehr und mehr mit ihm beschäftigten, dem die Sache seiner Vaterstadt
+anvertraut war und mit dem ihn das Leben wahrscheinlich auch künftig
+noch mehr als einmal zusammenbringen würde, wenn er erst, wozu seine
+Studien den Weg bereitet hatten und was sein Vater sehnlich wünschte,
+im Rate der Stadt Goslar Sitz und Stimme hätte.
+
+Der Wagenzug war durch ein Hindernis ins Stocken geraten. Während die
+Knechte unter der Aufsicht der Kaufherren noch mit der Beseitigung des
+Hindernisses beschäftigt waren, ritt Johannes mit den Freunden langsam
+voraus. Noch klangen in seinen Ohren die Worte der Mitreisenden über
+Ernesti wieder, aber seine Gedanken blieben an der alten, wehrhaften
+Stadt am Harz haften, die jenen gesandt hatte und durch ihn selbst von
+dem Ausfalle des Auftrages Kunde erhalten würde. Wie mochte es dort
+aussehen, was die Freunde und Gespielinnen treiben, von denen er nun
+schon manches Jahr fern weilte; denn auch vor den Jahren, die er in
+Bologna verlebte, sah ihn die Heimat nur selten, wenn er in den Ferien
+von der Universität Wittenberg zu Besuch kam. Die seltenen Briefe
+der Eltern gaben nur unvollkommen Auskunft über das, was gerade ihn
+interessierte.
+
+ * * * * *
+
+Sollte Heinrich die Wahrheit sagen, so war er von Ernesti enttäuscht,
+als er ihn zum ersten Male im »Leuen« zu Mailand sah, und Johannes
+schien dieselben Empfindungen zu haben. Der Fremde entsprach in seinem
+Äußern durchaus nicht der Gestalt, die der junge Goslarer sich von
+ihm gebildet hatte. Ein Mann von der Bedeutung Ernestis müsse, so
+glaubte jener, neben der ragenden, gebietenden Größe, dem kühnen,
+entschlossenen Gesicht, auch in Wort und Ton die Macht zum Ausdruck
+bringen, die ihm eigne. Und nun trat ihm ein Mensch entgegen, der von
+alledem wenig oder gar nichts an sich trug. Schon am Abend der Ankunft
+in Mailand bekamen sie ihn zu Gesicht. Ein etwas mürrischer, wie es
+schien, sehr verschlossener Mann kam herein. Von Gestalt war er nicht
+mehr als mittelgroß; in dem fast alltäglichen Gesichte verriet nur das
+Spiel der beweglichen, ein wenig stechenden Augen den Reichtum der
+Gedanken, die sich hinter der hohen, kahlen Stirn bergen und kreuzen
+mochten.
+
+Ernesti wandte sich alsbald mit einigen freundlichen, gleichgültigen
+Worten an die jungen Leute. Auf den Hauptzweck ihres Zusammentreffens
+hier ging er nur mit einer kurzen Bemerkung ein.
+
+»Es tut mir leid, daß ihr die Beschwerden der Reise in höherem Maße
+auf euch nehmen müßt, als ohne den euch gewordenen Auftrag nötig wäre.
+Aber ich selbst kann die Botschaft an den Rat eurer Vaterstadt nicht
+persönlich überbringen, und sie verlangt eine zuverlässige Hand. Ich
+bin überzeugt, daß er keine besseren Boten hätte finden können, und ihr
+werdet euch des Vertrauens würdig erzeigen, das der Hochmögende Rat
+euch bei eurer Jugend bezeugt. In Köln werde ich euch das Schriftstück
+aushändigen. Ich hoffe, daß man in Goslar mit dem Inhalte wohl
+zufrieden sein wird. Von Köln ab habt ihr Gelegenheit, mit einem Zuge
+flandrischer Kaufleute, die nach Goslar wollen, um euer berühmtes
+Kupfer zu holen, die Weiterreise fortzusetzen.«
+
+Das hieß mit anderen Worten, sie, Heinrich und Johannes, durften das
+wichtige Schriftstück unter den Augen und dem Schutz anderer tragen,
+von dem Inhalte erfuhren sie nichts. Einen Augenblick wollte etwas wie
+Unmut in Heinrich aufsteigen, aber schnell überwand er die Anwandlung,
+zumal in diesem Augenblick sein Freund Gottfried die Runde an seinem
+Tische mit einem Scherze zu lustigem Gelächter verleitete.
+
+Am frühen Morgen des nächsten Tages ging die Reise nordwärts bis an
+das Südufer des Langen Sees, den man in einem der plumpen Schiffe
+hinauffuhr. Hier trat den Reisenden zuerst wieder die Majestät der
+Alpen vor Augen, namentlich im nördlichen Teil des Sees, wo die
+Felsenberge in jähem Absturz den engen See fast erdrücken durch
+ihre Wucht. Aus der Ferne dräute in ernstem Weiß der schimmernde
+Monte Leone, der nach dieser Seite hin die Vorhut bildet der noch
+gewaltigeren Monte-Rosa-Gruppe und all der anderen Riesen der Walliser
+Berge. In Locarno herrschte noch die fast sommerliche Glut des
+italienischen Frühherbstes. An der Straße ungeschützt die Palmen.
+Aus den laubdunklen Weingehegen lockten die schwellenden Trauben:
+»Nimm mich, nimm mich!« Doch die Reisenden hatten nicht Zeit, die
+Herrlichkeiten zu genießen, die ihnen das lachende Seegestade darbot.
+Noch einmal wurden die Warenballen auf plumpe Karren geladen.
+Aber das immer enger werdende Tessintal, in welchem die Fahrzeuge
+dahinrumpelten, setzte dieser Art von Beförderung bald ein Ende. Bis
+Biasca mühten sich die Zugtiere noch ab, die Wagen auf der holperigen,
+oft von tiefen Schründen durchsetzten Straße, die doch keine solche
+war, dahinzuzerren. Dann mußte man endgültig zu den Saumtieren seine
+Zuflucht nehmen.
+
+Auch die menschlichen Siedlungen blieben immer mehr zurück und
+verschwanden von der Wegseite. Hatten bis dahin die Augen an den auf
+jähem Felsen wie ein Adlerhorst gebauten Schlössern und Burgen und den
+einsamen Kirchlein, die in gleich trutziger Lage von dem frommen Sinn
+des Erbauers zeugten, sich geweidet, so wurde nunmehr der Weg nur noch
+von kahlen Felsen begleitet, die in grausigem Absturz das enge Tal zu
+begraben drohten. Hier und da gab ein schmales Seitental den Einblick
+in eine gleich furchtbare Einsamkeit frei. Nur einmal noch traf das
+Auge der Reisenden auf menschliche Wesen, unweit Airolo, wo das wilde
+Val Tremola, das ›Tal des Zitterns‹, den Weg freigibt zum Aufstieg auf
+den St. Gotthardt. Es war ein Bild, das Johannes lange nicht vergessen
+konnte: Unter dem lärmenden Zuruf der welschen Treiber kletterten die
+Saumrosse das Tal empor. Da hockten am Wegesrande einige zerlumpte
+Gestalten, unter ihnen ein Mädchen von madonnenhafter Schönheit. Die
+Gesichter mehrerer von ihnen waren mit Lappen maskenartig verhüllt,
+nur die schwarzen Augen funkelten durch Löcher, welche in jene Lappen
+geschnitten waren. Von dem Rauschen des Gebirgsflusses halbverschlungen
+klang ihr klägliches »+prego, prego+« Johannes entgegen, der ein
+wenig der Karawane vorausritt. Doch schon eilten die welschen Treiber
+mit drohend geschwungenen Knütteln herbei und verscheuchten die Ärmsten
+in das nahe Seitental, aus dem sie gekommen sind und in dem sie, fernab
+von allen anderen menschlichen Wesen, sich vor ihren Mitmenschen
+bergen und einsam dem Tode entgegensiechen mochten. Ehe Johannes dazu
+gekommen war, ihnen eine Gabe zuzuwerfen, waren sie schon ein Ende zur
+Seite gewichen. »+Leprosi, Leprosi+«, heulten die Treiber noch
+immer, als ob es gälte, wilde Bestien zu verscheuchen. Die Aussätzigen
+hasteten weiter; aber Johannes fing noch einen Blick des schönen
+Mädchens auf, so voller Schmerz und Verzweiflung, daß er den Gedanken
+an das erschütternde Bild den ganzen Tag nicht los wurde. Er sah an
+ihrer Stelle Gisela, verlassen, verfolgt, dem Elend preisgegeben, und
+tiefstes Mitleid durchschnitt ihm das Herz.
+
+Über die Paßhöhe, das Urserntal hinab auf der Nordseite, wo die junge
+Reuß ihre Kinderstube hat und längs des Saumpfades gischtet und tobt,
+und dann stetig ihr folgend, stieg man hinab bis dahin, wo in der
+Talsohle das flammende Rot der Edelkastanien das große Sterben in der
+Natur ankündete. Über den Vierwaldstätter See brachte sie eine der
+großen, sturm- und wettererprobten Nauen gen Luzern, und weiter ging
+die Fahrt bis an den grünen Rhein, den man bei der alten Handelsstadt
+Basel zuerst zu Gesicht bekam, aber nicht überschritt; denn die Fahrt
+ging ins Elsaß hinein, geradewegs auf das alte Straßburg zu.
+
+Gottfried Kristaller hatte recht prophezeit, als er in Bologna verhieß,
+Freund Heinrich werde über den schönen Augen der Straßburgerinnen den
+alten Schmerz vergessen. Im lustigen Geplauder mit Gottfrieds Schwester
+und ihren Freundinnen schwand der letzte Unmut aus seinem Herzen. Der
+neue Tag fand ihn schon völlig eingebürgert in der neuen Umgebung, und
+als man am Morgen des dritten Tages von dannen zog, war der Abschied
+so warm und lebhaft, als ob eine alte Freundschaft ihre erste Trennung
+erfahre. Johannes hielt die Hand Gottfrieds lange in der seinen. Er
+war kein Mann überschwenglicher Gefühlsäußerungen, aber wer seine
+Freundschaft erworben hatte, der konnte für immer auf ihn zählen, und
+Gottfried war ihm ein Freund geworden in Bologna trotz aller äußeren
+und inneren Verschiedenheiten.
+
+Nun ging die Fahrt zu Schiff den Rhein hinab im breiten Graben der
+Oberrheinischen Tiefebene mit seiner melancholischen Weite. Sie
+bot wenig Kurzweil; denn die Reihen der Kaufleute war in Luzern
+wie in Basel und Straßburg bedenklich gelichtet worden, und die
+übriggebliebenen, die vom Niederrhein und aus Westfalen, hatten mit
+ihren eigenen Angelegenheiten so viel zu tun, daß sie sich um die
+beiden Goslarer wenig kümmerten. Um so mehr war es anzuerkennen, daß
+Herr Ernesti sich ihnen mehr zuwandte als bisher. Er hatte die drei
+Gesellen auf der Reise von Mailand her im Auge behalten und sie nach
+ihrer Eigenart zu bewerten Gelegenheit gehabt. So war es ihm nicht
+zweifelhaft, daß der Stetigere, Zuverlässigere Johannes Hardt sei. An
+ihn waren daher auch im Anfang zumeist seine Worte gerichtet. Heinrich
+Achtermann war darob nicht böse; denn der Gesprächsstoff nahm ihn, der
+gewohnt war, in seiner Umwelt zu leben, nicht immer gefangen. So kam
+es, daß sich zwischen dem berühmten Kaufherrn und Agenten und Johannes
+ein Verhältnis anbahnte, das mit jedem Tage freundschaftlicher wurde.
+Diesem gegenüber ließ Ernesti seine sonstige Zurückhaltung fallen und
+sprach mit ihm über seine Reisen und Erfahrungen.
+
+Auch den Mitreisenden fiel der enge Verkehr zwischen den beiden
+auf, und sie gaben wohl gelegentlich ihrer Verwunderung Ausdruck.
+»Euer Freund muß es ja dem Ernesti angetan haben, daß er so gegen
+seine Gewohnheit redselig wird. Was besprechen denn die beiden nur
+immer?« Heinrich bemerkte wohl, daß unbefriedigte Neugier aus ihren
+Worten klang, und er gab nur eine allgemeine Antwort: »Das weiß ich
+ebensowenig wie Ihr, denn Ihr seht ja, daß ich mich wenig daran
+beteilige. Der Stoff ist mir zu langweilig.«
+
+Aber das änderte sich doch, als sich das Gespräch mehr und mehr
+Goslar zuwandte. Ernesti selbst regte diesen Gegenstand immer wieder
+an, und so konnte sich Heinrich nicht enthalten, etwas neugierig und
+ungeschickt zu fragen:
+
+»Weshalb verfiel der Rat von Goslar gerade auf Euch mit der wichtigen
+Sendung nach Rom? Ich sollte meinen, es hätte sich doch auch unter den
+Bürgern der Stadt jemand finden lassen, der sich der Aufgabe unterzogen
+hätte?«
+
+»Daß er jemand gefunden hätte, bezweifle ich nicht«, erwiderte Ernesti
+mit einem leichten Lächeln. »Ob er aber auch Erfolg gehabt hätte, ist
+eine andere Sache. Euer Rat wird sicher gewußt haben, weshalb er mich
+wählte und nicht einen anderen. In Rom ist es mit dem Reden nicht
+allein getan. Man muß zugleich alle Sinne angespannt halten, um nicht
+ins Hintertreffen zu geraten. Das unscheinbarste Wort will auf seinen
+besonderen Wert hin gedeutet, die harmloseste Miene auf ihre versteckte
+Bedeutung hin geprüft und beobachtet sein. Ich bin im Verkehr mit
+den Großen der Erde, wie Euch die Schwätzer und Neider unter meinen
+Gefährten gewiß schon zugeraunt haben, nicht gerade unbeholfen; aber
+über jeden kleinsten Erfolg, den ich im Lateran davontrage, bin ich
+doppelt froh, und erkenne ich nachher, daß er nicht zu teuer erkauft,
+um ein Mehrfaches. Bei dem Auftrage, den ich für Goslar auszurichten
+hatte, will mir das scheinen, und ich gestehe Euch, daß mich das
+besonders freut.«
+
+»So gestattet auch mir eine Frage, Herr Ernesti«, fügte Johannes hinzu.
+»Weshalb nehmt Ihr an Goslar dieses besondere Interesse? Soviel ich
+weiß, verbinden Euch doch nicht besondere Bande mit meiner
+Heimatstadt!«
+
+»Gewiß,« entgegnete Ernesti, »ich verstehe Eure Verwunderung.
+Vielleicht raunte man Euch auch zu, ich täte es um des blanken Goldes
+willen.« Johannes wehrte ab, doch jener fuhr unbeirrt fort: »Ihr
+braucht weder Euch noch jene zu verteidigen; denn natürlich erhalte ich
+von Eurem Rat eine angemessene Entschädigung, wenn auch in anderer Art,
+als Euch vorschwebt. Derartige kostspielige und nicht ungefährliche
+Aufträge übernimmt ein guter Kaufmann und Familienvater nicht um
+bloßen Gotteslohn. Aber ich würde mich doch bedacht haben, nach Rom zu
+reisen, wenn ich nicht für Goslar ein absonderliches Interesse hegte.
+Ihr seid schon zu lange von Goslar fort und seitdem nicht oft wieder
+dort gewesen, um über meine Beziehungen zu Goslar unterrichtet zu sein.
+Ich bin in der Tat nicht selten dagewesen, auch als Ihr selbst noch
+dort weiltet; aber die Größe der Stadt -- Ihr werdet Euch inzwischen
+ja selbst überzeugt haben, daß Goslar zu den ganz großen gehört -- und
+Eure jugendliche Unbefangenheit hat mich Euch wohl verborgen gehalten.
+
+Ich komme gern nach Goslar und bedauere, daß es mir nicht vergönnt ist,
+die römische Botschaft persönlich zu überbringen; es wäre mir eine
+besondere Freude gewesen. Weshalb ich gern bei Euch weilte und weile?
+-- Nun, einmal sind es verwandtschaftliche Beziehungen, die mich mit
+Goslar verbinden. Meine Vorfahren lebten bis auf den Großvater in Eurer
+Stadt. Das Geschlecht der von Ildehusen, das in der Geschichte Goslars
+nicht unrühmlich bekannt ist, gab uns den Ursprung, und wir haben mehr
+als einen Bürgermeister und Ratsmann gestellt, die am Aufbau Eurer
+mächtigen Vaterstadt mithalfen. Den Großvater verschlug das Schicksal
+nach der Stadt Soest am alten Hellweg. Übrigens haben wir noch heute
+nicht alle Beziehungen zu Goslar verloren. Mir lebt dort ein Vetter
+Richerdes, bei dem ich, weile ich im Harz, gern absteige.«
+
+»Ist das etwa der ehemalige Ratsherr oder Sechsmanne Richerdes von
+der Gundemannstraße?« fragte Heinrich lebhaft. »Ganz recht«, lautete
+die Antwort. »Ei, so kennt Ihr ja auch die Venne Richerdes, meines
+Schwesterleins liebste Gespielin.« -- »Und vielleicht auch Euch selbst
+nicht zuwider«, fiel ihm Ernesti lächelnd ins Wort. »Freilich kenne
+ich sie, ist's doch mein liebes Niftel, das ich selbst aus der Taufe
+gehoben habe, und über dessen prächtiges Gedeihen ich mich freue, wann
+immer ich sie sehe.«
+
+»Da wundere ich mich nur um so mehr, daß ich Euch nie sah; freilich
+Euer Name fiel wohl auch aus dem Munde der Venne, aber ich gab des
+nicht acht.«
+
+»Also liegt die Schuld immer wieder bei Euch; denn ich pflege nicht den
+Unsichtbaren zu spielen, wenn ich in Goslar bin. Doch Ihr hattet wohl
+Wichtigeres zu tun, als Euch um den fremden Mann zu kümmern. Und -- Ihr
+seid mir noch die Antwort schuldig -- was haltet Ihr selbst von der
+Venne?«
+
+»Als ich Goslar verließ, verhieß sie, mit der Zeit vielleicht ein
+schönes Mädchen zu werden. Ich habe sie oft bei uns gesehen, und als
+Kinder haben wir auch bei ihnen, besonders in ihrem schönen Wallgarten,
+unsere Spiele getrieben. Ich fürchte nur, daß ich bei ihr nicht in
+dem Rufe unbedingter Ritterlichkeit stehe; denn wir Knaben waren arge
+Rangen, und die Mädchen, auch Venne, haben unser Ungestüm oft zu büßen
+gehabt. Von dem Abschied vollends wage ich gar nicht zu sprechen. Soll
+also Eure Frage ergründen, ob ich bei ihr in besonderer Gunst stehe, so
+kann ich das nur mit allem Vorbehalt zusagen.«
+
+»Gut reserviert«, lobt der andere. »Ich sehe, Ihr habt Eure Studien
+nicht umsonst erledigt und werdet dermaleinst es verstehen, knifflige
+Fallen zu meiden. Auf jeden Fall darf ich Euch aber, da Ihr Goslar
+eher erreichen werdet als ich, bitten, den Richerdes meine Grüße
+auszurichten. Vielleicht nimmt Euch dann mein Niftel ob dieses
+Liebesdienstes wieder ganz zu Gnaden an.«
+
+Dann kehrte man wieder zu ernsteren Dingen zurück. »Ihr fragtet mich
+nach dem Inhalt des Schreibens der römischen Kurie an den Rat zu
+Goslar. Glaubt mir, Ihr jungen Freunde, es ist nicht Geheimniskrämerei,
+die mir den Mund verschließt. Aber ich habe den Auftrag, Euch die
+Botschaft verschlossen zu übergeben, und ich weiß, daß es zu Eurem
+Besten ist, wenn Ihr ohne Kenntnis von dem Inhalte seid. Es sind
+überall Späher, auch um uns herum, und ein unvorsichtiges Wort könnte
+den ganzen Erfolg meiner Reise in Frage stellen; denn an der Auswirkung
+ist nicht Goslar allein interessiert.
+
+Ihr seid stolz auf die machtvolle Stellung eurer Stadt, mit Recht.
+Doch so viel werdet Ihr trotz Eurer Jugend auch schon gehört und
+gesehen haben, daß Goslars Glanz und Vormachtstellung mit dem Silber
+und Kupfer des Rammelsberges steht und fällt und daß als zweite
+unerläßliche Vorbedingung für ein weiteres Blühen Eures Gemeinwesens
+der ungestörte Besitz und die Nutzung der gewaltigen Forsten, welche
+Goslar umgeben, ist. Von dem ersteren, der Bedeutung des Bergwerks
+werdet Ihr in Köln aufs neue einen Beweis erhalten, wenn Ihr mit den
+flandrischen Kaufleuten zusammentrefft. Sie sind auf dem Wege zu Euch,
+um das ›+keuvre de Gosselaire+‹, das goslarsche Kupfer, zu holen,
+um es in den Kupferschlägereien zu Dinant und in den anderen Städten
+Flanderns und der Niederlande zu verwenden. Und kämet Ihr nach London
+oder gen Nowgorod im Reußenlande, so würdet Ihr dort den Namen ›Goslar‹
+und ›goslarsches Silber oder Kupfer‹ mit derselben Geläufigkeit und
+Häufigkeit nennen hören. Euer Reichtum und Eure Macht sind aller Welt
+bekannt, es kennen ihn aber auch Eure Feinde und Neider, die Ihr zum
+Teil nicht weit zu suchen habt.
+
+Es muß Eurem Rat nachgerühmt werden, daß er schon frühzeitig die Lage
+erkannt und danach zu handeln bestrebt gewesen ist. Schon unter König
+Wenzel, vor mehr als hundert Jahren, verstand es Goslar, sich eine
+Reihe von Gnadenbriefen zu verschaffen, welche der Stadt den Genuß
+ihrer Rechte auf Berg und Forst sicherten. Indes, wie Ihr wissen
+werdet, haben auch die Braunschweiger Herzöge verbriefte Rechte und
+Privilegien auf Berghoheit und den Zehnten. Zur Zeit sind diese Rechte
+nach dem Rate von Goslar verpfändet, und die ewige Geldnot der Herzöge
+hinderte sie bis jetzt, den Pfandschilling zu erstatten, aber laßt
+sie nur zu Atem kommen und den Appetit sich regen, dann wird sich's
+bald ändern. Ich fürchte, ich fürchte, die Anzeichen dazu sind schon
+wahrzunehmen.
+
+Damals, als die Braunschweiger das Geld nahmen, wäre es ein leichtes
+gewesen, ihnen ihre Rechte um ein billiges abzukaufen, statt sie
+in Pfand zu nehmen; denn damals stand es schlecht um den Bergbau:
+Wassereinbrüche, deren man nicht Herr werden konnte, leere Erzgänge
+ließen das Ganze als wertlos erscheinen in den Augen Uneingeweihter.
+Damals war es Zeit zum Zugriff, damals mußte Goslar das Ganze an sich
+bringen, statt Pfandschillinge zu nehmen und eine Gewerkschaft zu
+gründen mit Bürgern und fremden Herren. Nun rächt sich die Versäumnis
+nach jeder Richtung hin.
+
+Ihr habt einmal einen großen Mann gehabt, der die Aufgabe Eurer Stadt
+richtig erkannte. Hermann Werenberg hieß er und war Stadtkanzler; Ihr
+werdet seinen Namen gehört haben. Glaubt mir, er war einer der ganz
+Großen in der Geschichte Eurer Stadt. Was Goslar heute ist, verdankt
+es in erster Linie diesem Manne. Er bewies eine Staatskunst, die ihn
+auch befähigt hätte, ein größeres Staatswesen, als es Eure kleine
+Stadtrepublik ist, auf die Höhe irdischer Macht zu bringen und dort
+zu erhalten. Daß er dabei, wieder nach Art der wirklich Großen, alle
+Mittel nutzte, um die Gerechtsame auf Berg und Forst in den Besitz der
+Stadt zu bringen, wird ihm nur der kleine Geist als Schuld anrechnen.
+
+Die Bahn war frei, aber Werenbergs Leben ward ein Ziel gesetzt, ehe der
+Erfolg im ganzen Umfange gesichert war. Er starb, und seine Nachfolger
+verstanden nicht, das Erworbene festzuhalten und auszubauen. Sie
+hätten die geldhungrigen Herzöge von Braunschweig abfinden, die
+Gewerken, unter denen das Kloster Walkenried und das reiche Domstift
+Simon und Juda in Goslar selbst zu nennen sind, aufkaufen sollen, ehe
+das Bergwerk wieder das wurde, was es war und jetzt ist: eine ungeheure
+Goldgrube für den, der es besitzt. Jetzt ist's zu spät, will mir
+scheinen. Niemand wird noch seine Rechte an die Schatzkammer aufgeben
+wollen, zu der er einen Schlüssel in der Hand hat, weder Kloster, noch
+Fürst, noch Bürger; denn auch diese sitzen unter den Gewerken noch
+heute. Es mag von geringem Sinn für das Wohl des Ganzen zeugen, daß sie
+sich sperren, ihre Rechte in die Hand des Rates zu geben, aber es ist
+so. Mein eigener Vetter, der Sechsmanne Richerdes, zählt ja auch zu
+ihnen.
+
+Es ist zu spät, sage ich; denn wenn schon die eigenen Bürger nicht von
+Euch veranlaßt werden können, ihren Eigennutz hinter das gemeine Wohl
+zu stellen, so habt Ihr von den Fürsten erst recht nichts Gutes zu
+erwarten. Wenn mich die Anzeichen nicht trügen, rüstet man im Schlosse
+zu Wolfenbüttel bereits zu entscheidenden Schritten. Den Pfandschilling
+aufzubringen, wird ihnen nicht schwer fallen, denn es sitzen der
+Geldgeber genug in deutschen Landen, die auf ein so gutes Unterpfand
+hin gern helfen werden. Dann hat Goslars Schicksalsstunde geschlagen.«
+
+Die Gesichter der Zuhörer verdüsterten sich unter den Worten Ernestis
+sorgenvoll. So hatten sie allerdings das Geschick der Heimat nicht
+gewertet, und so schien es auch niemand daheim einzuschätzen, alles war
+auf Freude und Stolz an der Blüte eingestellt.
+
+»Ich sehe,« fuhr der andere fort, »daß Ihr bekümmert seid; aber es
+tut nicht gut, mit verbundenen Augen in das Leben einzutreten. Doch
+ich will Euch auch nicht ohne Trost lassen. Wie sehr und weshalb ich
+an Goslar hänge, ist Euch bekannt, und was ich tun kann, um das Unheil
+abzuwenden, wird geschehen. Mein Einfluß reicht weit, wie Ihr selbst
+schon gemerkt habt. Holte ich Hilfe aus Rom für Euch, so werde ich auch
+in der Nähe nützen können. Der Himmel hat dafür gesorgt, daß auch der
+Stolz der Herzöge nicht zu sehr ins Kraut schießt. Ihre liebe Stadt
+Braunschweig macht ihnen viel zu schaffen und wird, faßt man es richtig
+an, Euch von größtem Nutzen sein. Aber in einem könnt Ihr, das sage ich
+noch einmal, Euch nur allein helfen, das sind die Zustände in Goslar
+selbst.
+
+Will man sich des Besitzes einer Sache ungestört erfreuen, so darf
+sie nicht der Gegenstand des Neides anderer sein, wie ich Euch
+schon sagte. Man muß sie im Urteil der Neidlustigen als minder
+begehrenswert hinzustellen verstehen oder die Zeitläufte benutzen,
+um die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken. Beides haben die Goslarer
+vormals nicht versäumt. Als die große Bewegung der Kreuzzüge die Massen
+durchzitterte und aller Augen nach dem Morgenlande gerichtet waren,
+hat Goslar seine Position Schritt um Schritt verstärkt. Als dann die
+öffentliche Meinung vom Bergwerke als einer verlorenen Sache sprach,
+brachten sie die Gerechtsame des Berges an sich. Sehr schön, aber die
+Nachfahren haben nicht zu nutzen verstanden, was die Väter schufen.
+Jetzt ist's umgekehrt wie ehedem: Der Nachbar sieht dem Nächsten auf
+den Bissen, die Großen beneiden die Größten, und der Kleinen Begehr
+steht nach dem, worauf die Großen überlaut und unvorsichtig als ihr
+Eigen pochen.
+
+Erst waren es die Gilden. Nachdem sich Gevatter Schneider und
+Handschuhmacher durch das Aufblühen der Stadt den Beutel gefüllt
+hatten, kam ihnen auch der Machtkitzel, und sie wollten mitregieren,
+ob sie es auch nicht verstanden. Nun regieren sie mit, daß es Gott
+erbarme. Und schon regt sich's abermalen machtlüstern und beutegierig.
+Was dem Handwerker gelang, ließ auch die Masse des gemeinen Volkes
+nicht ruhen. Kommt sie zur Macht, dann gnade Gott Euch Goslarern,
+wie allen denen, wo die Plebs ihr Haupt siegreich erhebt. +Videant
+consules!+ -- der Rat mag sehen, daß er Herr der Lage bleibt. Reicht
+er der unvernünftigen Masse den kleinen Finger, so ist es um die ganze
+Hand geschehen. Mit dem Volke ist es wie mit den Kindern: Was das Kind
+hat, dünkt ihm nichts, sieht es in anderer Hand etwas, das es selbst
+nicht besitzt. Man gebe ihm, worauf es vernünftigerweise ein Recht hat,
+sonst ein hartes ›Nein‹. Euch fehlt ein Werenberg. Der würde wissen,
+was den Kindern, will heißen der Masse, frommt und was man ihnen geben
+darf, ohne daß sie sich den Magen überladen und das Gemeinwohl zu
+Schaden kommt.«
+
+Das Schiff bog in den Rheingau ein. In der Ferne tauchten die Kuppeln
+und Türme des heiligen Mainz auf, übergossen von dem goldigen Glast der
+Abendsonne. Johannes stand an die Verschanzung gelehnt und nahm das
+glänzende Bild in sich auf, das mählich aus den Fluten des Rheins, wie
+es schien, aufstieg. Bald legte das Fahrzeug an, und das geschäftige
+Leben, das mit der Ankunft eines jeden Schiffes verbunden ist, riß die
+Reisenden auseinander.
+
+Wieder hatte sich die Zahl der Kaufleute gelichtet. Dafür fand sich
+allerlei anderes Volk ein, Niedere wie Vornehme. Auch ein paar
+Domherren waren darunter, die nach Köln wollten. Ernesti stand im
+Gespräch mit ihnen.
+
+»Ihr seht,« flüsterte einer der alten Bekannten Heinrich zu, »Euer
+Gönner hält es allerorten und immer mit dem Krummstab. Möchte wohl
+wissen, was er alles an geheimen Gängen hinter sich hat, die wenigen
+Stunden, die wir in Mainz waren und während wir uns einen ehrlichen
+Trunk gönnten.«
+
+Eine Antwort wurde nicht erwartet, und Heinrich hätte sie auch nicht
+gefunden, denn ein abfälliges Wort über den Mann zu sagen, der ihnen so
+viel gegeben hatte, wäre ihm als schwarzer Undank vorgekommen. Übrigens
+kam Ernesti in gewisser Weise selbst darauf zurück; er hatte wohl
+gesehen, daß man über ihn sprach.
+
+»Ich hatte mit der Erzbischöflichen Kurie zu tun, in nicht unwichtigen
+Fragen, wie Ihr Euch denken mögt. Mancher meint vielleicht, es sei
+mir bei den vielerlei politischen Dingen, die durch mich Erledigung
+oder Förderung finden, um das blanke Gold zu tun; ich lasse ihn reden,
+wie seine Mitschwätzer. Eins aber sei Euch beiden als Erinnerung an
+Mainz mit auf den Weg gegeben, und das sei die dritte und letzte der
+langatmigen Mahnungen, die ich Euch gab: Verderbt es in Goslar nicht
+ernstlich mit der Kirche.
+
+Wir leben in einer unruhvollen Zeit: Kampfstimmung überall, wohin Ihr
+blickt, und nicht nur auf dem Gebiete weltlicher Machtkonflikte, auch
+die Kirche, die Religion ist davon betroffen, und es sind dunkle Kräfte
+am Werk, um ihre Grundpfeiler zu stürzen. Ich bin ein treuer Sohn der
+Kirche. Das hindert mich nicht, die ernsten Schäden zu erkennen, die
+ihr anhaften und wie böse Geschwüre an ihrer besten Kraft zehren. Das
+Schisma, die Spaltung in der Nachfolge Petri, hat den Boden bereitet,
+auf dem Blasphemie und Abtrünnigkeit ihre giftigen Blüten treiben
+können; die Völlerei und Zuchtlosigkeit in den Klöstern und unter dem
+Klerus haben gleicherweise dabei mitgeholfen. So finden die falschen
+Apostel gläubige Ohren, wo immer sie ihr Unkraut unter die Menge
+werfen. Auch in Niedersachsen blüht ihr Weizen, wie ich höre. Doch die
+Kirche ist zu fest gegründet, als daß sie nicht der Widerwärtigkeiten
+und Widerspenstigen Herr werden wird. Denn ihre Sache ist gut, und der
+Brunnen nur verunreinigt, der die ewigen Heilswahrheiten birgt. Aber
+nicht der Eifer des Zeloten und nicht der unreine Mund des Hetzers wird
+die Gesundung bringen, sondern die stetige, von echter Frömmigkeit
+und Liebe zur Mutter Kirche getragene Sorge, daß das Gefäß nicht
+zertrümmert werde, das so kostbaren Inhalt birgt. Die Kirche wird über
+alle Fährlichkeiten hinwegschreiten, weil sie siegen muß. Dann aber
+wehe denen, durch die Ärgernis gekommen ist; wehe auch den Städten, die
+als ungehorsame Töchter sich erwiesen, ihr Unglück ist besiegelt!
+
+Auch bei Euch in Goslar werden die Schwarmgeister am Werke sein. Störet
+ihre Arbeit, wo und wie Ihr könnt; es ist zum Frommen der Stadt. Ihr
+habt der Feinde und Neider schon genug, ladet Euch nicht auch noch die
+Abgunst der Kirche auf; Ihr würdet sie nicht tragen können.«
+
+»Ich fürchte, daß Ihr nur zu recht habt mit allem, was Ihr betreffs
+unserer Stadt sagtet«, antwortete Johannes dem Vielerfahrenen. »Sicher
+trefft Ihr ins Schwarze mit der Vermutung, daß Goslar selbst zuletzt
+den Schaden wird zu bezahlen haben. Die Klöster daheim, vornehmlich das
+reiche und mächtige Domstift, sind der Stadt schon sehr gram, weil der
+Rat manche ihrer Privilegien kürzte. Das Sankt-Jürgen-Kloster, wie die
+Chorherren des Petersstiftes liegen dem Bischof von Hildesheim seit
+langem in den Ohren ob angeblicher Mißachtung und Verletzung ihrer
+Rechte und respektwidriger Verunglimpfung durch die Bürger. Der Bischof
+selbst ist uns gram wegen unseres Verhaltens in der Stiftsfehde, die
+Euch bekannt sein wird. Fänden alle diese Mißgünstigen sich zusammen,
+diese offenen und geheimen Gegner, und einigten sie sich mit den
+Herzögen, die uns jetzt schon zwicken und zwacken, wo sie können, so
+wäre der Anfang vom Ende gekommen. Eure Mahnungen treffen also keine
+tauben Ohren. Auch der Vater sprach wohl schon mit mir über diese
+Dinge. Wir werden tun, was unsere Jugend zu leisten vermag, davon seid
+überzeugt, wie auch von der Aufrichtigkeit unseres Dankes für Euren
+freundlichen und weisen Rat.«
+
+Kalte Oktoberstürme brausten das Tal des Rheins entlang und drängten
+die Wellen zuhauf, als wollten sie umkehren von dem Wege, den der
+ihnen innewohnende Drang nach dem Meere vorschrieb. Die Wälder an
+den Berghängen wurden des letzten Blättchens beraubt, das ihnen noch
+geblieben war von dem sommerlichen Festgewande; alles wies auf Tod
+und Sterben und Ruhe in der Natur. Langsam glitt das Schiff zu Tal.
+Man hoffte, vor Einbruch der Nacht noch in Köln zu sein; aber fast
+schien es, als solle man noch eine Nacht auf dem unwirtlichen Flusse
+verbringen. Da gab endlich eine letzte Biegung den Blick auf die alte
+Stadt mit ihren unzähligen Türmen und Zinnen frei. Sankt Severin, Sankt
+Georg, Sankt Maria im Kapitol, Sankt Gereon, so tauchten sie aus dem
+Grau des Abendhimmels auf, überragt von dem gewaltigen Bau des Doms,
+der mit den ungefügen Stümpfen seiner Türme wie ein gefesselter Riese
+die Hände gen Himmel hob.
+
+Dann kam der Abschied von Ernesti. Wie hatte sich das Verhältnis zu dem
+fremden Manne seit der Abreise von Straßburg geändert! -- Der ernste,
+zurückhaltende Mann war ihnen nahegerückt, als sei es ein lieber
+Verwandter. In schier väterlicher Weise hatte er die Jünglinge an die
+Hand genommen und in die Tiefen des politischen Lebens blicken lassen,
+die ihnen ohne diese Hilfe gewiß erst viel später und mit schmerzlichen
+Erfahrungen sich erschlossen hätten. Sie bereuten es nicht, den Umweg
+über den Gotthardt gemacht zu haben. Der Händedruck, der den Abschied
+besiegelte, trennte Freunde. Sorglich vermittelte Ernesti noch die
+Bekanntschaft mit dem Führer der flandrischen Händler, mit denen
+Heinrich und Johannes in die Heimat reisen sollten.
+
+
+
+
+ »+Bella gerant alii; tu, felix Austria, nube!+«
+ Kriege laß die andern führen; du, glückliches Österreich, freie!
+
+
+Ein gewaltiges Gebäude war durch die Heiratspolitik der Habsburger
+im 15. Jahrhundert aufgeführt worden, das noch ungeheuerlicher wurde
+durch die Entdeckung Amerikas. Die Krone von fünfzehn Ländern ließ der
+alternde Kaiser Maximilian, der ›Letzte Ritter‹, für die Häupter seiner
+Enkel Karl und Ferdinand zurück. Doch in diesem Hause wohnte nicht
+Glück und Eintracht beieinander, sondern Unfriede und Haß wucherten
+überall wie üppige Giftblumen. Die Kirche war auf dem besten Wege, den
+Rest ihres Ansehens zu verlieren. Sie trug selbst die Schuld daran,
+aber es kam damit einer der Grundpfeiler aller bestehenden Ordnung ins
+Wanken. Daß durch diese Ordnung der Dinge sich alles in eine völlige
+Unordnung verkehrt hatte, war nur zu einem kleinen Teile der Kirche
+als Schuld beizumessen. Ein Teil der Deutschen fühlte sich bei diesem
+Zustande durchaus wohl, die Masse aber war in Elend versunken und
+suchte sich, dem Ertrinkenden gleich, durch gewaltsame Anstrengungen
+das Leben zu erhalten.
+
+Im Gegensatz zu Westeuropa war in Deutschland eine Vielzahl von
+kleinen Machtzentren entstanden. Der Fürstentümer, Grafschaften und
+Herrschaften war Legion, nicht zu rechnen die Freien Reichsstädte,
+die hinter ihren trutzigen Mauern und festen Toren ungestört ihrem
+Handel und Wandel nachgingen, Reichtum und Macht aufhäuften und sich
+um Kaiser und Reich, um Fürsten und Große nur kümmerten, wenn es ihre
+Belange forderten. Alle diese waren sich, die Großen wie die Kleinen,
+in einem gleich: in dem Bestreben nämlich, die eigene Machtfülle zu
+mehren, um die eigene Person mit Schimmer und Glanz zu umgeben.
+
+In den Städten lag die Herrschaft mit der Sicherheit des Erbes in
+der Hand weniger Familien. Der Handwerker, in zielstrebigen Gilden
+vereinigt, hatte Zeit gehabt, Kisten und Kasten zu füllen. Nun waren
+sie auf dem Wege, auch die Ratssessel einzunehmen, getrieben von
+eigenem Ehrgeiz und vielleicht auch auf das Drängen des Ehegesponses
+und der Töchter, die so der strengen Kleiderordnung entgehen zu können
+hofften und demnächst ein Fältel mehr am Gewande, eine Pelzverbrämung
+mehr am winterdichten Mantel dem Neide der Nachbarinnen preisgeben
+durften.
+
+Neben ihnen und unter ihnen, in den lichtlosen Hinterhäusern, in den
+dumpfigen Hütten, die an die Stadtmauer sich schmiegten, wie die
+Küchlein an die Henne, das städtische Proletariat, das von den Brosamen
+seiner glücklichen Mitbürger lebte und die staunende, bewundernde
+Masse abgeben durfte bei dem Gepränge des Rates, bei den Schauzügen
+der Gilden. In ihr gor und glomm es, und es bedurfte nur des Funkens,
+um die Flammen des Aufruhrs emporlodern zu lassen. Auf dem Lande aber,
+unter der Botmäßigkeit des Herrn, ob Graf oder schlichter Edelmann,
+seufzte der hörige Bauer in unerträglicher Frone, der geringsten
+persönlichen Freiheit beraubt für sich, für Frau, Tochter und Sohn.
+War der Herr vernünftig und zugänglich, so ließ er seinen Leibeigenen
+wenigstens so viel vom sauer Erworbenen, daß die Arbeitslust und
+Körperkraft nicht zu schnell sich abnutzte. Viele aber, sehr viele der
+Gebieter sahen in ihren Bauern und deren Angehörigen nur das Material,
+um ein bequemes Leben zu führen und der Wollust nach ihrem Belieben
+bei ihren Töchtern die Zügel schießen zu lassen. Und allen endlich
+lieferte er mit seinem Leibe das Rüstzeug, wenn es galt, Fehde und
+Streitigkeiten mit anderen im Kampfe Mann gegen Mann auszutragen.
+
+Der Druck war unerträglich, und der Gegendruck aus der Masse der
+Unterdrückten machte sich immer mehr wahrnehmbar; es gor und brodelte
+unter ihnen und schuf sich Luft nach oben in schrecklichen Taten der
+Verzweiflung, die wie die Blasen aus dem trüben Schlamm des Morastes
+aufstiegen und doch zuletzt wirkungslos zerplatzten. Der ›Arme Konrad‹,
+der ›Bundschuh‹ sind die Namensprägungen, unter denen sich die Bauern
+zusammenschlossen. Ihr verworrener Zorn griff die verrottete Kirche
+an, er stürmte an gegen die Gewalthaber jeglicher Art, er traf die
+Städter, wo er sie treffen konnte. Die Organisation der Bauern war
+eine wirre, unklare. Neben der großen Masse zogen sie in zahllosen
+Einzelhaufen durch das Land. Sie fanden sich zusammen, wie der Wolf
+sich zum Wolf gesellt, um gemeinsam auf Beute auszuziehen. Wen sie
+trafen, den schlugen sie nieder und bemächtigten sich seines Besitzes,
+und wer es konnte, der schlug sie tot wie tolle Hunde. Die Sicherheit
+im Lande, auf den Straßen war wieder einmal im deutschen Lande geringer
+denn je, und sie wurde noch verringert durch die adligen Schnapphähne,
+die bei der Aufteilung der Machtbelange unter ihre mächtigeren und
+einflußreicheren Standesgenossen übergangen waren. Sie lebten von der
+Hand in den Mund und hungerten und lungerten auf ihren zerfallenen
+Raubnestern, bis der Turmwärtel oder Spione das Herannahen einer Beute
+meldeten. Dann stiegen sie hinab, lauerten den Ankommenden auf, suchten
+die Beute zu erhaschen, schlugen, erschlugen oder wurden erschlagen.
+
+Das größte Risiko bei dieser Art adliger oder bäuerlicher Wegeaufsicht
+trugen die Städter, wenn sie ihre festen Mauern verließen, um mit
+gefüllter Geldkatze im Osten oder Süden, im Norden oder Westen
+einzukaufen, oder wenn sie mit den erworbenen Warenballen oder
+Gewürzsäcken heimkehrten. Wer nicht reisen mußte, hockte daheim hinter
+dem Ofen; wen aber die Notwendigkeit veranlaßte, den Schutz der
+Stadtmauer aufzugeben, der sah sich nach genügendem Schutz um, damit er
+der Gefahr begegnen könne.
+
+ * * * * *
+
+Auf dem Deutzer Ufer des Rheins lagerte und lungerte an einem der
+letzten Oktobertage des Jahres 1515 ein bunter Haufen kriegerischer
+Gestalten. Sie lagen und standen umher, wie es ihnen einfiel. Alle
+blickten nach dem gegenüberliegenden Köln, da, wo das Frankentor gegen
+den Strom zu den Austritt aus der Stadt freigab. Es waren deutsche
+Knechte, die in Frankreich abgelohnt wurden, nachdem der Herzog von
+Burgund mit dem jungen König Ludwig +XII.+ einen Vergleich
+geschlossen hatte. Der Obrist konnte den rückständigen Sold nicht
+zahlen, dieweil der Burgunder die Zahlung weigerte, nun er die fremden
+Söldner nicht mehr gebrauchte. Die Truppe meuterte, der Hauptmann, der
+zu vermitteln suchte, wurde erschlagen. Dann waren sie gegen Osten zu
+gezogen, marodierend und schatzend, wo sie es konnten und wo sie es
+wagen durften. In den Städten ließ man sie nicht ein; es waren zu wilde
+Gäste, denen die eigenen Stadtsoldaten nicht gewachsen gewesen wären.
+Auch das erzbischöfliche Köln hielt ihnen die Tore verschlossen. Sie
+wurden unter geeigneter Bedeckung um die Stadt geleitet an den Rhein.
+Dort überließ man sie sich, nachdem man unter gegenseitigem Grüßen, wie
+»Pfaffenknecht« oder »Meuterer«, voneinander Abschied genommen hatte.
+Von den Bastionen spähten die Stadtsoldaten mit brennender Lunte zu
+ihnen herab, um einen Annäherungsversuch unfreundlich zurückzuweisen.
+Der Fährmann mit seinen Knechten war seitens der Stadt gedungen, sie
+unentgeltlich an das andere Ufer überzusetzen; so hoffte man, bald den
+großen Strom zwischen der Stadt und den wilden Gesellen als schützenden
+Wall zu haben.
+
+Vielleicht aber hätten die fremden Gäste sich doch nicht so mit der
+Überfahrt beeilt, wenn ihnen nicht ein besonderes Angebot die Sache
+annehmbar gemacht hätte.
+
+In Köln weilten zur Zeit die flandrischen und wallonischen Kaufherren
+aus Gent, Antwerpen, Brügge, Dinant, und wo immer sonst das Kupfer
+des alten Rammelsberges Verwendung finden mochte. Sie kamen mit
+gespickten Geldkatzen und kostbaren Warenballen, um im Tausch für sie
+das wertvolle Metall einzuhandeln oder die Erzeugnisse ihres eigenen
+Gewerbfleißes zuvor in den Städten Westfalens und des Niedersächsischen
+Kreises in Geld umzusetzen und dann mit dem Verdienten in Goslar das
+Gewünschte zu erwerben. Ihre Gesichter wurden besorgter, je mehr sie
+sich den Grenzen Deutschlands näherten; denn was sie über die Zustände
+im Reiche hörten, mußte sie mit den größten Bedenken hinsichtlich
+ihrer Person wie ihres Eigentums erfüllen. Sie zogen zwar unter dem
+reisigen Geleit einer Anzahl Gewappneter dahin, aber diese boten
+allenfalls Schutz gegen die landesübliche Unsicherheit einzelner Trupps
+von Wegelagerern und adligen Strauchdieben. Im Kampfe mit großen Haufen
+verzweifelter und verwilderter Bauern mußten sie erdrückt werden.
+
+Da kam einer der Wagenknechte, der, vor der Stadt sich ergehend, den
+seltsamen Zug der Landsknechte gesehen und von ihrem Wegziel gehört
+hatte, auf den guten Gedanken, dem Herrn diese wagemutigen Gesellen
+als Geleit für den Weg vorzuschlagen. Sein Vorschlag fand Anklang,
+wenn auch mancher der Kaufleute abriet, sich der wilden Soldateska
+anzuvertrauen. Ein Versuch sollte wenigstens gemacht werden. So
+wurde ein Unterhändler zu ihnen geschickt. Was er berichtete, klang
+vertrauenerweckender, als man erwartet und gehofft hatte. Die meisten
+Leute wollten nach Niedersachsen, woher sie stammten. Sie waren des
+Kriegslebens müde und sehnten sich nach Ruhe, wenigstens zur Zeit.
+Die Bewaffnung sei gut, der Webel, der die Führung habe, besitze
+Gewalt über die Leute, und die Soldaten selbst machten keinen allzu
+schlechten Eindruck. Gegen ein gutes Handgeld und entsprechende
+Ablohnung nach Erfüllung des Auftrages seien sie bereit, den Schutz
+des Zuges zu übernehmen, mit der Einschränkung allerdings, daß es dem
+einzelnen freistehe, abzuschwenken, wenn die Heimat erreicht sei. Da
+indes die meisten, wie erwähnt, aus den braunschweigischen Ländern und
+noch darüber hinaus waren, so blieb bis in die Nähe von Goslar ein
+wirkungsvolles Geleit gesichert. Das Handgeld war ausgezahlt, und die
+Knechte warteten ihrer Schützlinge.
+
+Unter ihnen waren auch einige Blessierte und Schwerverletzte. Im
+Hintergrunde hielt der Wagen der Marketenderin, eines kräftigen
+Frauenzimmers. Immecke Rosenhagen hieß sie und stammte aus Salzwedel.
+Den Eltern war sie vor nunmehr manchem Jahre davongelaufen mit einem
+Gesellen des Vaters, der aus dem Stolz des eingeborenen Gildemeisters
+heraus sich dagegen sträubte, die einzige Tochter einem zugereisten
+Fremden zur Frau zu geben. Der Geliebte griff zur Hellebarde, sie
+bestieg das Wägelchen, in welchem sie allerlei Trink- und Eßbares für
+das Fähnlein mitführte. Übrigens hatte die beiden ein schnellbereiter
+Feldkaplan in christlicher Ehe zu Mann und Frau gemacht. Des
+Mägdeleins, das ihrer Liebe entsprossen, konnte sich der Vater nicht
+allzulange erfreuen; eine Stückkugel zerriß ihm vor den Wällen von
+Maastricht die Brust.
+
+Immecke und ihr Töchterlein Monika blieben dem Regiment treu und zogen
+mit ihm von einem Kriegsschauplatz zum andern. Wo immer die Kartaunen
+rasaunten und die Hakenbüchsen krachten, hielt ihr Wägelchen in der
+Nähe. Manchen Verwundeten hatte sie gepflegt, manchem Sterbenden
+die brechenden Augen zugedrückt. Und es war rührend, wie das rauhe
+Soldatenvolk diese Treue vergalt. Wehe dem, der sich gegen Immecke oder
+ihre Monika vergangen hätte. Die Mutter hatte zwar selbst einen allzeit
+schlagfertigen Mund, um sich etwaiger Ungebührlichkeiten zu erwehren;
+aber dazu wurde ihr kaum Gelegenheit gegeben; sie war Respektsperson im
+ganzen Regiment und besonders des Fähnleins des Hauptmanns Hennecke,
+unter dem ihr seliger Mann gedient hatte und dem sie sich infolgedessen
+auch zugeschrieben erachtete. Selbst der Spitz, der unter dem Wagen
+daherlief, war in diesen Schutz eingeschlossen.
+
+Immecke Rosenhagen gab mehr als einmal die Schlichterin bei bösen
+Händeln ab, wie sie Würfelspiel, Trunkenheit oder die Dirnen des
+Trosses wohl hervorriefen. Hätte sich eins dieser losen Weiber einmal
+unehrbietig gegen Immecke oder ihr Töchterlein benommen, es wäre
+ihm teuer zu stehen gekommen. Die Meuterei, bei welcher der wackere
+Hauptmann Hennecke das Leben eingebüßt hatte, verzieh sie ihren
+Kindern, wie sie ihre Soldaten zu nennen pflegte, lange nicht. Zwar war
+der tödliche Streich nicht von einem Angehörigen des eigenen Fähnleins
+geführt worden. Indes die Leute auch des Hauptmanns Hennecke hatten
+sich an dem Aufruhr beteiligt. Sie selbst war zur Zeit der Tat auf
+Einkauf fortgewesen und hörte erst bei der Rückkehr von dem Tumult.
+Die Tat war geschehen, und den guten Hennecke rief niemand mehr ins
+Leben zurück. Aber den Knechten seines Fähnleins wurde von Immecke eine
+Predigt darob gehalten, die sie lange nicht vergaßen.
+
+»Ihr wollt ehrliche, deutsche Knechte sein? Eidbrüchige Schufte seid
+Ihr, die mit Mordbuben gemeinsame Sache machen, wenn sie die paar ihnen
+zustehenden Gulden nicht sogleich erhalten. Kann der Herr Obrist dafür,
+wenn ihm der welsche Fürst das gegebene Versprechen nicht hält? Hat
+der Hauptmann nicht allezeit wie ein rechter Vater für Euch gesorgt?
+Nun liegt er erschlagen vor Euch, und daheim warten Frau und Kind
+vergeblich auf die Wiederkehr. Pfui über Euch!«
+
+Die Knechte krauten sich verlegen hinter dem Ohr und schlichen beschämt
+zur Seite. Seit dem Tage hatte Immecke sie noch fester in der Hand.
+Sie war die eigentliche Führerin auf dem Marsche in die Heimat, wenn
+auch der Weibel die äußere Leitung beibehielt. Alle waren kriegsmüde,
+die Soldaten wie die Marketenderin. Wo sie ihr Haupt niederlegen würde,
+wußte Immecke noch nicht. Aber sie wollte ihrer Monika eine Heimat
+geben.
+
+Vor dem Wagen, auf dem sie hantierte, standen einige Knechte und
+leerten den Becher mit Branntwein, der ihnen die Morgensuppe ersetzen
+mußte.
+
+»Nun geht's zur Mutter, Immecke«, rief ihr Klaus Bolte zu, der in
+Osterode am Harz zu Hause war.
+
+»Na, die wird sich recht freuen, wenn Du mit Deiner zerhackten Visage
+vor ihr auftauchst. Sieh nur zu, daß wenigstens die Nase wieder etwas
+ins Gerade gerückt wird, sonst läuft selbst der Kater mit Grauen
+davon.«
+
+»Schadet nichts, Mutter Immecke«, erwiderte Klaus ungerührt. »Freuen
+wird sie sich doch, denn zuletzt ist doch noch manches an dem Kerl
+geblieben, was sich sehen lassen kann. Wird für den verlorenen Sohn
+kein Kalb geschlachtet, so doch hoffentlich ein tüchtiges Stück
+Schinken aus dem Rauchfange geholt. Und der Vater soll's nicht zu arg
+machen. Dem Stöcklein sind wir mit der Zeit entwachsen; könnte uns
+ansonst gleich wieder die Klinke in die Hand drücken. Neugierig bin ich
+nur, wie wohl das Schwesterchen ausschaut, das ich vor Jahren als ein
+kleines Hutzelchen verließ. Muß etwa so alt sein wie Eure Monika. Ob
+sie freilich auch so schier und blank dareinschaut wie diese, weiß ich
+nicht.«
+
+Da lief ein Schmunzeln über Immeckes Gesicht, und sie reichte Klaus
+Bolte einen Becher Branntwein. »Da, nimm's und trink's auf ihr Wohl, so
+verkühlst Du Dir den Magen nicht in diesem Schandwetter. Ansonst die
+Mutter Dich mit Kamillentee zurechtpäppeln muß, statt des Schlegels
+vom geschlachteten Kalbe.« Klaus lachte über das ganze Gesicht und
+setzte den Becher an die ewig durstigen Lippen.
+
+Währenddessen war die Tochter, von der die Rede war, um einen
+Schwerblessierten beschäftigt, der mit noch zwei anderen auf einem
+Beiwagen im Stroh lag. Ihm war bei dem letzten Treffen das linke
+Bein zerschmettert, und die Säge des Feldschers hatte ihm nur einen
+armseligen Stumpf davon übriggelassen.
+
+»Nun, wie geht's mit der Wunde, habt Ihr noch arge Schmerzen?« fragte
+das Mädchen mitleidig, während sie ihm das Strohkissen zurechtrückte,
+daß er bequemer sitze.
+
+»Wie soll's anders sein,« murrte der alte Doppelsöldner, »natürlich
+zwickt's noch höllisch; aber das ist's nicht, was mich niederdrückt.
+Die Aussicht, den Bettelmann künftig zu spielen, als Lump hinter einer
+Hecke zu verrecken, das ist es, was einen ehrlichen Kriegsmann wurmt
+und auffrißt! Man hätte mich verbluten lassen und mit dem, was von mir
+da hinten bei Nanzig blieb, beiroden sollen!«
+
+»Pfui doch, der garstigen Rede«, sagte Monika, während sie begütigend
+über das struppige Haar strich. »Dankt vielmehr Eurem Gott, daß er Euch
+das Leben ließ. Der wird auch weiter für Euch sorgen. Ihr habt doch
+noch Leute zu Hause, die für Euch sorgen werden.«
+
+Der alte Veteran blickte gerührt zu ihr auf. »Du bist doch unser
+Engelein, Monika! Hast recht, so ganz verlassen bin ich nicht. Noch
+lebt mir das alte Mütterlein daheim; die freut sich, bringt ihm der
+Sohn auch statt güldener Ketten und anderer Schätze, die er auszog zu
+erwerben, nur ein Stelzbein mit. Und der Bruder, der das väterliche
+Anwesen erbte und bewirtschaftet, war auch keiner der Schlechtesten.
+Ist die Frau, die er inzwischen heimführte, von ähnlicher Gesinnung, so
+mag auch bei ihnen ein Plätzchen hinter dem Ofen für mich bereit sein,
+und den Kindswärtel kann ich zur Not auch noch spielen. Sag's nur der
+Mutter nicht, in welcher Laune Du mich getroffen, sonst setzt es noch
+ein Donnerwetter von ihr. Du weißt ja, wie sie ist.«
+
+Immecke war derweil mit einem andern ins Gespräch geraten, der eine
+Binde über dem linken Auge trug.
+
+»Wohl bekomm's, Erdwin Scheffer«, wünschte sie dem Einäugigen zugleich
+mit dem Becher, den sie ihm reichte. »Nun, freust Du Dich, daß wir
+glücklich über den Rhein sind? Jetzt geht's mit Macht der Heimat zu.
+Die Eltern werden sich freuen, wenn sie Dich wiederhaben.«
+
+Ein verbissenes Lachen war die Antwort.
+
+»Natürlich, die werden alle Türen bekränzen, wenn der Hansdampf
+in allen Gassen flügellahm wiederkehrt, der ihnen ausriß, weil es
+ihm daheim zu wohl war und weil er ihren gutgemeinten Plänen nicht
+gehorsamen wollte. Und die Freunde erst und die Jüngferlein, wie werden
+die sich um mich reißen, den Krüppel.«
+
+»Laß die Mutter aus dem Spiel bei Deinem gottlosen Reden«, widerriet
+Immecke ernst und nachdrücklich. »Was weißt Du, was eine Mutter für ihr
+Kind im Herzen trägt.«
+
+Sie kam nicht weiter mit ihrer Ermahnung, denn in diesem Augenblick
+begann am jenseitigen Ufer vor sich zu gehen, worauf alles schon
+wartete. Das Frankentor öffnete sich und ließ die Karren und Wagen
+der flandrischen Kaufleute heraus. Sie rumpelten nacheinander das
+abgeflachte Steinufer zur Fähre herab, die sie übersetzen sollte.
+Man sah, wie die Pferde unruhig aufstiegen, als sie das schwankende
+Gerüst betreten sollten. Dann kam die erste Last über den Strom und
+landete nach langer Zeit am Deutzer Ufer. Einmal nach dem andern fuhr
+der Fährmann mit seinen Knechten herüber und zurück, denn der Zug war
+lang, und die Fähre trug nicht mehr als zwei Gefährte zugleich. Es ging
+schon auf den Nachmittag, als der letzte Wagen den Uferrand bei Deutz
+heraufrollte.
+
+Manches derbe Scherzwort fiel bei den Kriegsknechten über das Bild, das
+sich vor ihnen abspielte.
+
+»Was mögen wohl die Ballen und Kisten an Kostbarkeiten bergen?« meinte
+neugierig lüstern Abel Wüstemann aus Zerbst. »Das kann Dir gleich
+sein«, fiel ihm Immecke ins Wort. »Für Dich ist's jedenfalls nicht
+bestimmt. Laß also Deine Gedanken und Finger davon, das rate ich Dir.«
+
+»Nun, nun, man wird doch noch seinen Mund auftun dürfen«, brummte der
+also Gemaßregelte.
+
+»Besser ist's schon, Du befolgst meinen Rat und behältst Deine Gedanken
+für Dich; wir kennen uns doch von Arras her, wo ich Dich durch ein
+gutes Wort vor dem Profosen rettete, als Du ein wenig von des Nächsten
+Gut an Dich gebracht hattest. Ein zweites Mal wird Dir meine Fürsprache
+fehlen. Wir wollen als ehrliche Leute in die Heimat ziehen.« Da schlich
+er beschämt zur Seite.
+
+Verdrossen glitt der Blick Erdwin Scheffers über das Treiben am
+Strande. Unschlüssig stand er da über seine Hellebarde gebeugt, in
+seiner Lässigkeit doch die Kraft verratend, die in seiner schlanken,
+sehnigen Gestalt gefesselt stak. Das hübsche Gesicht wurde nicht einmal
+durch die schwarze Binde merklich entstellt. Die Hand glitt verloren
+durch das Bärtchen, welches die Lippen zierte. Monikas Blick folgte dem
+Abseitsstehenden. Sie wischte sich verstohlen die Augen, die ihr feucht
+geworden waren im Gedanken an sein Unglück; was war aus dem lustigen
+Gesellen geworden, der zu ständiger Kurzweil früher geneigt war. Ihr
+selbst kaum bewußt, schlug ihm ihr junges, unschuldiges Herz entgegen.
+
+Erdwins Gedanken weilten indes weitab von ihr und vom Rhein. Die Berge
+des Harzes stiegen vor ihm auf und die Stadt mit den vielen Türmen,
+aus der er in trotzigem Übermut und Groll entwichen war. Wie mochte
+es jetzt daheim aussehen, was die Mutter sagen und der Vater denken,
+dessen starrer Sinn ihn beim eigenen Handwerk festhalten wollte, um
+ihn durch die Hand der Nachbarstochter noch unlöslicher mit der Heimat
+zu verbinden? Denn er kannte den unruhigen Sinn des Sohnes, der in die
+Ferne strebte und in unklarer jugendlicher Abenteurerlust jenseits der
+Berge die blaue Blume zu pflücken hoffte, von der die Mär erzählte.
+Erdwin hatte längst eingesehen, daß diese Blume im Lande Nirgendwo
+blühe und daß der ehrsame, gestrenge Vater zuletzt doch das Richtige
+mit ihm im Sinn hatte. Aber Trotz und Scham hielten ihn davon ab, als
+reuiger Sohn zurückzukehren, und auch die Aussicht, doch noch das
+Opfer der väterlichen Heiratspläne zu werden. Die breithüftige Maria
+Hellvogt, die man ihm zugedacht hatte, mit den guten, blauen Augen im
+rundlich-dummen Gesicht, konnte ihn auch heute noch nicht locken, zumal
+wenn er sie mit der zierlichen Monika verglich, die ihm in den Jahren
+der gemeinsamen Kriegsfahrt mehr als ein guter Kamerad geworden war.
+Nun kehrte er als ein Schiffbrüchiger heim, und er mußte vorliebnehmen,
+was ihm von der Eltern Gnade übrigblieb, wenn sie ihm nicht gar ganz
+die Tür verschlossen.
+
+Ingrimmig stampfte er mit der Waffe auf; da fiel sein Blick auf
+einen der Männer, die ihre Rosse von der Fähre die Uferböschung
+hinaufführten: Wenn's nicht gar so närrisch wäre, sollte man meinen,
+das sei ein alter Bekannter von daheim. Noch einmal sah er hin und noch
+einmal. Wahrhaftig, kein Zweifel, das war ja der Heinrich Achtermann,
+des Ratsherrn Sohn, und der da neben ihm, war das nicht Johannes Hardt
+von der Poppenbergstraße? Und schon klang es auch von seinen Lippen:
+»Heinrich Achtermann, Johannes, Herr Johannes Hardt, bist Du es, seid
+Ihr es wirklich?«
+
+Hallo, wer rief hier, in der Fremde, ihren Namen? Heinrich blickte sich
+erstaunt um.
+
+Die Freude, einen Bekannten aus der alten Heimat, einen Jugendgespielen
+unvermutet zu sehen, überwog bei Erdwin jedes andere Gefühl. Eilig trat
+er näher. »Bei Gott, das nenn' ich eine Freude in all der Trübsal«,
+sprudelte er hastig hervor. »Aber sagt, erkennt Ihr mich denn immer
+noch nicht, den Erdwin Scheffer von Sankt Ägidien, mit dem Ihr so oft
+in des Nachbars Garten auf Raub gezogen und der ebensooft vom Vater
+den Buckel zerbleut bekam, weil er dem Stadtweibel eine Nase gedreht
+oder die Zöpfe der dummen Mädel aneinander festgebunden hatte, daß sie
+zeterten und schrien, als sei der Habicht unter die Hühner gestoßen?«
+
+Nun erkannten auch sie den Jugendgespielen, und die Freude war nicht
+minder groß. Das gab ein Fragen hin und her. Über die Heimat wußten sie
+freilich beide wenig Neues; im Vordergrunde standen die Erlebnisse in
+der Fremde.
+
+»Was hast Du denn mit dem Auge?« fragte Johannes.
+
+»Das ist das traurigste Kapitel aus meiner Irrfahrt. Es ist dahin, und
+nicht einmal im ehrlichen Kampfe vor dem Feinde verloren, sondern
+ein eidbrüchiger Schuft stieß mir sein Messer hinein, als ich einen
+ehrlichen Mann, unsern Hauptmann, aus den Krallen der meuterischen
+Knechte befreien wollte. Er hat zwar seine Tat mit dem Leben gebüßt,
+denn die Kameraden schlugen ihm gleich danach den Schädel ein, aber ich
+bin ein Krüppel fürs Leben und weiß noch nicht, wie ich es trage und
+vor die Eltern treten soll, denen ich im aufgeblähten Stolz vor mehr
+als fünf Jahren davonrannte.«
+
+Man sprach ihm gut zu, und die düstere Falte auf der Stirn glättete
+sich allmählich unter dem lebhaften Austausch von gemeinsamen
+Erinnerungen und dem »Weißt Du noch?« »Besinnst Du Dich?« Niemand aber
+war froher als das wackere Paar am Marketenderwagen, als sie sahen, daß
+ihr Liebling wieder etwas frohmütiger dreinblickte, und Monika rechnete
+es dem Heimatsgenossen als besonderes Verdienst an, daß ihm dies
+gelungen war.
+
+
+
+
+Der Zug der Kaufleute hatte das Bergische Land durchquert und war
+in die Soester Börde hinabgestiegen, vorbei an mehr als einem der
+Raubnester, die über den tiefen Taleinschnitt am Felsen klebten wie das
+Nest der Mauerschwalbe. Manch begehrlicher Blick eilte ihnen von da
+oben entgegen und geleitete sie im Vorbeiziehen, aber man wagte sich
+nicht an die Fremden heran, die wie ein kleiner Heereszug stattlich und
+sicher dahinzogen. Es waren der Kaufleute gar viele, die aus Flandern
+und Frankreich solchergestalt ins Reich zogen, denn manche von ihnen
+zogen noch über Goslar hinaus bis Leipzig, um dort auf den großen
+Märkten, den Vorläufern der heutigen Messe, den Warenaustausch bis
+nach dem fernen Osten hin zu vermitteln. Gemeinlich fand nur einmal im
+Jahre ein solcher Zug aus dem Westen her statt. In Goslar hielt man
+sich monatelang auf und handelte dort wie in Braunschweig und anderen
+Städten der Nachbarschaft, bis die Ostgänger wieder zurück waren und
+man nun mit dem begehrten Kupfer und anderen Schätzen die Rückreise
+antreten konnte.
+
+In Goslar pflegten die Fremden bei ihren Geschäftsfreunden abzusteigen,
+während die Knechte und Handlungsgehilfen in den Herbergen Unterkunft
+fanden. Manche engen Beziehungen waren so entstanden zwischen Goslarer
+Familien und Häusern in Brabant oder Nordfrankreich. Fäden liefen hin
+und her, die nicht leicht zerrissen. Der bedächtige Kaufmann vertraute
+seine Sachen nicht gern fremden Händen an, und erst wenn das Alter zu
+sehr drückte oder der Sohn und Nachfolger Gewähr bot, daß die Geschäfte
+mit gleicher Gewissenhaftigkeit erledigt werden würden, trat der Alte
+zurück und überließ der jungen Kraft die Beschwerden der Reise. So
+kam es, daß Heinrich und Johannes Hardt auch Bekannte unter ihnen
+antrafen. Da war der weißhaarige Herr Jan Uytersprot aus Brügge, der
+beim Nachbar Borchardt abzusteigen pflegte und sich so gern mit den
+Kindern beschäftigte. Noch heute rechnete es ihm Heinrich hoch an, daß
+er sein Versprechen, ihm einen richtigen Bogen mit Köcher aus Brabant
+mitzubringen, getreulich gehalten hatte. Und Herr Gérard Dietvorst aus
+Dinant und Felix Vandepere aus Löwen und noch andere, sie alle tauchten
+vor ihm mit bekannten Gesichtern auf. Er selbst mußte sich freilich
+ihnen erst wieder in Erinnerung bringen, denn seit der Kindheit war
+manches Jahr dahingerauscht, und den aufwachsenden und in die Fremde
+ziehenden Jüngling hatten sie aus dem Gesicht verloren. Von seinem
+Auftrage war natürlich nicht die Rede, und ihre Geschäfte nahmen sie
+mehr in Anspruch als der Gedanke, wie die jungen Goslarer hier in ihren
+Zug kamen.
+
+In Soest fand Heinrich Achtermann Gelegenheit, die Grüße des Vaters im
+Hause Ernestis zu bestellen und sich zu überzeugen, welches geschäftige
+Leben in der alten Hansestadt pulsierte. Ernestis Wohnwesen stellte mit
+seinen Höfen, Speichern und Stallungen eine Handelsburg für sich dar.
+Der Mann mußte ein ganz Großer unter seinen Berufsgenossen sein!
+
+An der Weser gab es unerwünschten Aufenthalt, denn die Brücke bei
+Höxter war wieder einmal abgetragen oder davongeschwemmt. Argwöhnisch
+schielte man sich von beiden Ufern an: hier die kurmainzischen Mönche
+von Corvey mit den erzbischöflichen Knechten in der Stadt, drüben die
+Mannen des braunschweigischen Vogts. Also galt es, noch einmal auf der
+Fähre den Fluß zu überqueren.
+
+In Köln hatte sich dem Zuge auch ein Händler Hans Römer aus Helmstedt
+angeschlossen, der die günstige Gelegenheit zur Heimreise benutzen
+wollte. Seine Gewandtheit und seine Kenntnis des Flämischen wie des
+Französischen machte ihn zu einem willkommenen Begleiter für diesen
+und jenen der Kaufleute, denen das Deutsch etwas polterig vom Munde
+floß. Dabei war er am Rhein mit Land und Leuten ebenso vertraut wie in
+Westfalen, und seine Beweglichkeit half manchen Zusammenstoß mit den
+Landesbewohnern wie mit Behörden vermeiden. An Heinrich und Johannes
+schien er einen besonderen Gefallen gefunden zu haben. Wo es nur
+anging, hielt er sich in ihrer Nähe auf und verstand es auch meistens,
+in derselben Herberge mit unterzuschlüpfen. Johannes vergalt diese
+Freundlichkeit nicht mit gleichem Entgegenkommen. Es lag etwas im Wesen
+des Mannes, was ihn abstieß; war es der unsichere Blick der ewig auf
+der Wanderung befindlichen Augen oder die aufdringliche Zutraulichkeit;
+er wußte es selbst nicht. Heinrich war weniger mißtrauisch. Seine
+Vertrauensseligkeit hatte bisher noch keinen groben Stoß im Leben
+erlitten. Einmal wurde allerdings auch sein Argwohn rege, als er
+den Helmstedter im Morgengrauen, da alles noch schlief, bei seinen
+Habseligkeiten fand. Römer war um eine Ausrede nicht verlegen, als
+Heinrich ihn fragte, was er an seinen Sachen zu tun habe. Es lag
+natürlich ein Versehen vor, das sich aus dem unsicheren Licht erklärte,
+und tatsächlich befand sich das Bündel des Mannes dicht dabei, so daß
+ein Irrtum möglich war.
+
+Der Argwohn erhielt aber neue Nahrung durch eine Mitteilung Erdwin
+Scheffers, dem es Monika Rosenhagen sagte. Sie hatte Römer mehrere Male
+im geheimen Gespräch mit einigen Landsknechten gesehen und dabei auch
+den Namen »Achtermann« deutlich vernommen. Da jener Wüstemann dabei
+gewesen war, dem die Mutter eine unreine Hand nachsagte, so nahmen sie
+an, daß irgendein Schelmenstück geplant werde. Man konnte aber zunächst
+nichts weiter tun, als die Augen offen halten. Und das taten Monika mit
+ihrer Mutter wie Erdwin Scheffer und Johannes Hardt seitdem noch mehr
+als Heinrich selbst.
+
+Die Zahl der Landsknechte verringerte sich inzwischen mählich, aber
+stetig in dem Maße, wie die Heimat des einzelnen näher kam. Als man
+sich dem Harz zuwandte, waren es nur noch ihrer dreißig. Man mußte
+der wilden Schar nachrühmen, daß sie ihre Aufgabe auf der langen
+Reise redlich erfüllt hatte. Freilich hatten die Kaufleute tüchtig in
+den Beutel greifen müssen, aber die Vorsicht lohnte sich doch, und
+man konnte hoffen, die Mehrkosten wiedereinzubringen, sei es durch
+vorteilhafte Einkäufe in Goslar oder durch Aufschlag auf die Waren
+daheim. Ein Jauchzen rang sich von den Lippen Heinrichs, als die Berge
+des Harzes jenseits Gandersheim in der Ferne aufblauten.
+
+»Die Heimat, Kinder, die Heimat winkt uns«, rief er den Gesellen zu,
+die in seiner Nähe gingen.
+
+»Für Dich ja, aber für mich?« erwiderte Erdwin traurig. »Auch für Dich,
+guter Erdwin«, redete Johannes ihm tröstend zu. »Auch für Dich wird
+sich noch alles zum besten wenden. Jetzt freue dich mit uns, daß wir
+dem alten, lieben Goslar näher kommen.«
+
+Man kam durch Ildehausen, wo ehedem Ernestis Ahnen hausten. Vor ihnen
+erhoben sich die Berge in immer machtvollerer Fülle, und dann zogen
+sie in das kleine Städtchen Seesen ein, das die letzte Raststätte vor
+Goslar sein sollte.
+
+In Seesen verließen noch einige Landsknechte die Gesellschaft. Da man
+aber dem Ziel nahe war und die unsicheren Gebiete hinter sich wußte,
+glaubte man das Endstück der Reise unter dem Schutze der eigenen
+Bewaffneten und des Restes der Soldaten wohl zurücklegen zu können.
+
+In diesem Städtchen verschwand auch Römer, und man trauerte dem
+unleidlichen Gesellen nicht nach. Erdwin Scheffer war noch immer nicht
+ganz beruhigt. »Ich kann mir nicht denken, daß der Kerl irgendeinen
+Plan hegte und nun ohne weiteres auf die Ausführung verzichtet, ohne
+den ernstlichen Versuch zu seiner Ausführung unternommen zu haben.«
+Aber Heinrich, wie jetzt auch Johannes, waren guten Mutes, und man
+verließ anderen Morgens die kleine Stadt. Sie hofften, schon in den
+frühen Stunden des Nachmittags in Goslar einzutreffen; doch ein
+Radbruch beim Neuen Kruge gab unliebsamen Aufenthalt, und es sanken
+schon die frühen Schatten des Novembertages herab, als man sich den
+Goslarer Bergen näherte.
+
+Der Vogt des festen Hauses in Langelsheim, das den Braunschweigern
+gehörte, gab mürrischen Dank auf den Gruß, den man ihm bot.
+
+»Wie seine Herren«, sagte Heinrich lachend, dessen frohe Ungeduld mit
+jedem Schritt wuchs. Vor ihnen verließen ein paar Bewaffnete den Ort,
+wahrscheinlich Knechte des Herzogs, die mit Botschaft nach Langelsheim
+gekommen waren oder solche mit sich nahmen. Sie ritten, daß die Funken
+stoben. »Die haben es eilig, daß sie unsere Gesellschaft meiden«, rief
+Erdwin hinter ihnen her.
+
+Als man in den hohlen Fahrweg einbog, der das letzte Stück des Weges
+vor Goslar bildete und etwas westwärts vom Kloster Riechenberg begann,
+war die Dunkelheit völlig hereingebrochen. Der Weg führte in der tiefen
+Rinne dahin, die vom Wasser in der Hauptsache gegraben war und ihm auch
+weiter als Abflußrinne diente. Die Wagenknechte suchten fluchend die
+Laternen hervor und hieben auf die müden Gäule ein. Da durchschnitt
+plötzlich ein schriller Pfiff die Luft. An der Spitze des Zuges
+krachten Schüsse, und alles geriet ins Stocken. Von der Höhe sprangen
+Bewaffnete herab und schleuderten Feuerbrände in den Wirrwarr auf der
+Talsohle. Die Pferde scheuten und suchten durchzubrechen. Überall
+Kampfeslärm und Waffengeklirr. Man dachte zunächst nichts anderes, als
+daß man zuletzt doch noch das Opfer eines Überfalls von Strauchdieben
+geworden sei.
+
+Heinrich ritt mit Johannes ziemlich an der Spitze des Zuges; denn die
+Ungeduld trieb sie voran. In ihrer Nähe war auch Erdwin Scheffer mit
+noch anderen Knechten. Sie wollten umkehren, um die Wagen zu schützen;
+aber da traten ihnen mehrere Bewaffnete entgegen. »Der da ist es«, rief
+einer der Fremden mit einer Stimme, die Heinrich bekannt vorkam. Sie
+warfen sich auf ihn und suchten ihn zu überwältigen. Heinrich wehrte
+sich kräftig, doch die Überzahl war zu groß. Ihm schwanden die Sinne,
+er merkte nur noch, daß ihm die Brusttasche entrissen wurde. Da kam
+Hilfe von Erdwin und Johannes, die sich bis jetzt selbst ihrer Gegner
+zu erwehren gehabt hatten. »Dachte ich's doch, daß der Schuft seine
+Hand im Spiele habe.« Damit warf er sich auf die Angreifer und drang
+bis zu Heinrich vor; denn er sah, daß der, den er meinte, es war der
+Helmstedter, mit seiner Beute davonwollte. Da holte diesen ein Schlag
+mit der Hellebarde herab. Mit gespaltenem Schädel sank er zu Boden.
+
+Mit dem Falle des Anstifters schwand auch die Angriffslust der
+übrigen. Sie suchten nur noch ihren Rückzug zu decken und klommen
+kämpfend den steilen Hang hinan. Erdwin, in dem die alte Kampfeslust
+erwachte, drängte hitzig nach. Hier und da krachte noch ein Schuß,
+zersplitterte noch ein Lanzenschaft. Noch ein Feuerstrahl zuckte aus
+einer Hakenbüchse auf, er galt und traf Erdwin Scheffer. Als letzter im
+Kampfe sank er dahin. »Die Tasche!« flüsterte er noch dem Nächsten zu,
+dann brach er zusammen. Man hörte den Galopp von fortjagenden Reitern,
+dann blieb die Nacht allein mit den Überfallenen zurück. Man suchte zu
+ordnen, so gut das bei dem Wirrwarr und der Dunkelheit ging. Johannes
+war um Heinrich Achtermann bemüht, den er für schwerverletzt hielt;
+Erdwin Scheffer blieb zunächst sich selbst überlassen.
+
+Der nächtliche Kampf hatte leider nicht nur blutige Köpfe gekostet,
+einige Knechte waren tot. Verwundete ächzten und riefen um Hilfe.
+Herabgezerrte Warenballen sperrten den Weg. Angstvoll suchte Monika
+im Hohlwege vorzudringen. Ihnen war nichts geschehen, der Angriff
+hatte sich von vornherein auf die Stelle gerichtet, wo man Heinrich
+Achtermann vermutete. Ihre Sorge galt Erdwin Scheffer, dem fröhlichen
+Gesellen mancher kurzweiligen Stunde im Tumult des Krieges, dem
+Geliebten ihres Herzens, wie sie in der Stunde der Gefahr mit
+blendender Klarheit erkannte. Ihr Fuß strauchelte über Wurzeln, sie
+versank in Rinnsale des Weges, aber sie ruhte nicht, bis sie ihn
+gefunden hatte. Und als sie ihn vor sich liegen sah, mit wunder Brust,
+aus dem der warme Strahl hervorsickerte, da sank sie mit einem
+Aufschrei über ihn hin.
+
+»Erdwin, mein Erdwin, bleibe bei mir, verlaß mich nicht, Einziger Du!«
+Irre, hilfesuchend blickten ihre Augen umher im Dunkel der Nacht.
+War denn niemand da, der helfen konnte? Da kam die Mutter heran, die
+Vielerfahrene. »Laß ihn mir, Monika. Wenn ihm zu helfen ist, bringe ich
+ihm Rettung.«
+
+
+
+
+Die steile Höhe des Erzweges hinauf, der vom Granetal über das Joch
+zwischen Hessenkopf und Thomas-Martinsberg ins Tal der Gose führt,
+erklangen die Glöckchen der Grautiere, die ihrer Last ledig waren,
+welche sie auf dem geduldigen Rücken von den Gruben des Rammelsberges
+zu den Erzrösten im Granetal geschleppt hatten. Rüstiger schritten
+sie aus, als die Höhe erreicht war. Auf dem Rückwege drückte nur
+leichte Bürde ihren Rücken: Kupferbarren, Bleibrote, der Gewinn aus
+der umständlichen und unvollständigen Art der Verhüttung, waren ihnen
+anvertraut. Vergnüglich klang das »I--ah« des Leitesels in die kühle
+Novemberluft, als wolle er seiner Freude Ausdruck geben über den warmen
+Stall und die gutgefüllte Krippe, die seiner harrten.
+
+Unten im Granetal verhallten die letzten Axtschläge der Holzfäller an
+den Berghängen, die in den Waldungen der Silvanen, der Waldherren, das
+Holz fällten, welches zum Rösten und Sintern des Erzes nötig war. Vom
+Glockenbrunnen her, der das klare Wasser des Glockenberges dem Tage
+wiedergibt, lagerten sich die dicken Schwaden schwefligen Rauches über
+der Talsohle, wo die Rosthaufen des Erzes unter der Hut rußiger Wächter
+schwelten.
+
+Zwei Männer verließen die Stätte und wandten sich ebenfalls dem Erzwege
+zu. Mager und langstelzig der eine, kurz und rundbäuchig der andere.
+
+»Gemach, gemach, Nachbar Richerdes«, mahnte der kleine Dicke. »Wir
+wollen kein Wettrennen veranstalten. Ihr kommt noch rechtzeitig in der
+Bergstraße an, um Euch von der Eheliebsten den Abendtrunk kredenzen zu
+lassen.«
+
+Der Lange verhielt etwas im Schritt, bis der Begleiter ihn wieder
+eingeholt hatte. »Wollte hoffen, es wäre so«, sprach der Hagere
+grämlich. »Aber Ihr wißt doch, daß die Frau seit Monaten siecht. Zu
+Hause sehe ich schon lange kein fröhliches Gesicht mehr.«
+
+»Entschuldigt, Nachbar, es war nicht böse gemeint«, begütigte der
+Waldherr Ludecke Bandelow. »Ihr habt aber doch wenigstens die Venne;
+die muß Euch doch ein wahrer Augentrost sein in diesem Ungemach, Euch
+und Eurer Frau.«
+
+»Ich will es nicht leugnen und danke Gott, daß er sie uns schenkte
+für diese Zeit der Trübsal, doch lange wird ihr jugendlicher Frohsinn
+auch nicht mehr vorhalten, fürchte ich. Die Mutter aufheitern und den
+grämlichen Vater beruhigen, das ist nicht Jugendarbeit auf die Dauer.
+Ihr seht, ich male mich selbst nicht schöner, als ich bin. Aber der
+Henker soll auch die gute Laune behalten bei all dem Ärger mit dem
+Berge und dem Rat.«
+
+»Wie steht Ihr denn jetzt mit ihm?« forschte Bandelow.
+
+»Das könnt Ihr Euch leicht vorstellen, solange Karsten Balder
+regierender Bürgermeister ist. Ihr wißt ja, wie er es, offen und
+versteckt, gegen mich hat, er wie seine Freunde. Sein Gelüste kenne
+ich, ihm steht der Sinn nach meiner Gerechtsamen; die Ursachen liegen
+tiefer: mich trifft er, aber eine andere will er treffen.«
+
+»Ich weiß, ich weiß, es gilt Eurer ...«
+
+»Wozu die Namen?« unterbrach ihn Richerdes, »das ändert nichts an der
+bestehenden Gegnerschaft. Die Hauptsache ist, daß man den Gegner als
+solchen kennt.«
+
+»Ja, das ist das schlimme, daß es möglich ist, ehrsamen und
+pflichttreuen Bürgern das Leben schwer zu machen unter der Flagge
+der Fürsorge für die Stadt. Eine nette Fürsorge das, die darauf
+hinausläuft, einem das bißchen Eigentum zu nehmen. Das scheint ja
+freilich im Zuge der Zeit zu liegen; denn wie man bestrebt ist, Euch
+die Berg- und Grubengerechtsame abzujagen, so will man uns unsere
+wohlerworbenen Anrechte auf die Forst abnehmen. Aber gebt nicht nach,
+keinen Zoll breit. Mit uns hat es der wohlweise Rat ja ähnlich vor;
+solange ich jedoch da bin, erhält er nichts.«
+
+»Nun, ›abjagen‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort,« fiel Richerdes
+ein, »Ihr wißt ja, daß er mich und andere auskaufen will. Daß der Preis
+nicht zu hoch gehalten ist, dafür sorgt aber schon der Regierende. Es
+sei im Interesse der Stadt, der Allgemeinheit, so bemänteln sie es
+gar schön. Aber ich kann und will das nicht einsehen. Weshalb soll
+denn jetzt auf einmal verkehrt sein, was man vor nicht gar zu langer
+Zeit selbst betrieb. Damals, als es hieß, Geld zu finden, Gewerke
+zusammenzubringen, war mein Vater gut genug zur Hergabe des Geldes. Ich
+weiß von ihm selbst, wie er sich gesperrt und gesträubt hat, ehe er
+den Beutel zog. Damals drängte und mahnte der Rat, es sei eine Tat für
+das Gemeinwohl; jeder Bürger, der es könne, müsse einspringen. Jetzt
+wollen sie es nicht recht haben, jetzt, wo die Sache nach den vielen
+Scherereien und Opfern sich als ergiebig zeigt.«
+
+»Das ist's, damit habt Ihr ins Schwarze getroffen: sie gönnen Euch den
+Gewinn nicht, und da muß das Gemeinwohl herhalten. Bleibt nur fest wie
+ich. Meinen Anteil an der Forst bekommen sie nicht, und wenn sie noch
+so viel darum tun. Recht muß Recht bleiben.«
+
+So tauschten die beiden wackeren Bürger ihre Meinungen aus über den
+habgierigen Rat, wie sie sein Vorgehen deuteten, und stiegen von
+der Höhe herab, vorbei an der Ratsschiefergrube, die schon von den
+Werkleuten verlassen wurde; denn die Schatten des Abends sanken
+immer mehr herab. An der Gose entlang klapperten der Wassermühlen
+unermüdliche Räder.
+
+An dem Stadtgraben trennten sie sich mit einem Handschlag, denn
+Bandelow hoffte noch durch das Mauerpförtchen an der Frankenberger
+Kirche Einlaß zu gewinnen, die ragend und dräuend von der Höhe durch
+das Grau des Abends herabdämmerte. Richerdes aber folgte der Fahrstraße
+zum Klaustor, die seiner Wohnung in der Bergstraße näher lag.
+
+Das Haus in der unteren Bergstraße war schon versperrt. In der
+Dunkelheit des Abends konnte man von ihm nicht mehr erkennen als die
+gewaltigen Umrisse, die in der engen Straße doppelt stark wirkten.
+Ein großer Torweg zu oberst war schon verschlossen, wie Richerdes
+feststellte; also mußte er den Klopfer des Haustores in Bewegung
+setzen, daß ihm Einlaß wurde. Die Hausglocke schnepperte noch eine
+Weile in immer mehr verklingenden Tönen nach, als er über den mit
+Steinplatten abgedeckten Hausflur schritt, um noch einen Blick auf den
+Hof und in die Stallungen zu werfen.
+
+»Ist Besonderes vorgekommen?« fragte er eine Magd, die ihm begegnete.
+»Nein, nur die Frau hat des öfteren nach Euch gefragt.« Da gab er sein
+Vorhaben auf und wandte sich sogleich der Wohnung zu, die um wenige
+Stufen höher, zur Seite des Flures lag. In dem großen Wohnzimmer
+sandten die Kerzen eines mehrarmigen Leuchters ihre Strahlen umher.
+Sie scheiterten indes bei dem Versuch, bis in die dunkeln Ecken des
+Gemaches zu dringen. So dunkel war es nach der Rückwand zu, daß man
+kaum die Tür bemerkte, welche dort in die Schlafkammer führte. Sie
+öffnete sich in diesem Augenblick, und Venne, die Tochter, trat heraus,
+um den Vater zu begrüßen, da sie die Hausglocke gehört hatte.
+
+»Wie geht es der Mutter?« war die erste Frage.
+
+»Sie ist etwas unruhig, seit Ihr fort seid. Ich war froh, daß in Eurer
+Abwesenheit Schwester Jutta vom Kloster Mariengarten hier war. Ihr
+wißt ja, daß sie auf Mutter immer einen wohltätigen Einfluß ausübt.
+Auch heute legte sich unter ihrem gütigen Zuspruch die Gespanntheit
+der Nerven. 's ist eine gute Frau, diese Jutta; wir schulden ihr einen
+Gotteslohn. Ist es nicht gerade, als ob unter ihrer kühlen Hand und dem
+gütigen Trostwort alles Ungemach davonfliege?«
+
+»Ja, wir haben allen Anlaß, ihr dankbar zu sein in dieser schweren
+Zeit«, antwortete der Vater. »Ich weiß nicht, wer durch diese treue
+Freundschaft mehr geehrt wird, die Mutter, der die fromme Frau auch
+unter dem Schleier noch die Zuneigung bewahrt, oder jene selbst, deren
+edle Eigenschaften durch diese Pflege alter Beziehungen in ein um so
+schöneres, helleres Licht gerückt werden. Aber jetzt geht es ihr doch
+besser, der Armen, Leidgeprüften?« fragte er besorgt.
+
+»Sie schläft. Ich mußte sie über Euer langes Ausbleiben beruhigen,
+wolltet Ihr doch schon am Nachmittage zurück sein.«
+
+»Wollte ich auch, und wäre ich auch, wenn ich nicht den Montanen, Herrn
+Bandelow, getroffen hätte, mit dem es ein langes und breites über
+Holzleistungen und -lieferungen zu besprechen gab, und auch sonst ist
+noch manches zwischen uns beredet worden.«
+
+»Dachte ich's mir doch, daß Ihr einem Schwätzer wie dem in die Hände
+gefallen wäret. Laßt Euch mit dem nur nicht zu sehr ein; ich werde die
+Sorge nicht los, daß Euch und uns durch seine Einmischung zuletzt noch
+Übles widerfährt«, hielt Venne dem Vater entgegen.
+
+In Richerdes' Augen war ein froher Glanz getreten, als er die Tochter
+bei ihrem Eintritt ins Zimmer mit dem Blick umfaßte. Der ganze Mann
+schien geändert, seitdem er das Zimmer betreten hatte; nichts mehr von
+der düsteren, grämlichen Stimmung, die ihn im Gespräche mit Bandelow
+beherrschte. Es war für ihn ein ungeschriebenes Gesetz, alles, was er
+an Verärgerung draußen erlebte, nicht über die Schwelle des Hauses
+dringen zu lassen. Nur über seine Gegensätze zu dem regierenden
+Bürgermeister war die Tochter durch die Mutter unterrichtet. Darauf
+bezogen sich auch wohl ihre besorgten Worte. So lautete auch die
+Erwiderung auf Vennes letzte Worte mehr zärtlich freundlich als
+abweisend:
+
+»Du gibst es ja Deinem alten Vater tüchtig, kleiner Schulmeister; doch
+sei unbesorgt, was ich mit Bandelow besprochen habe, brauchte nicht
+das Licht zu scheuen. Daß er den Mund gern etwas voll nimmt, weiß
+ich besser als Du und richte mich von vornherein darnach. Aber das
+Geschäftliche muß schon mit ihm beredet werden; und Du weißt ja, daß
+er mein hauptsächlicher Holzlieferant ist. Die Verhältnisse im Berge
+liegen leider so, daß ich mehr auf ihn angewiesen bin, als mir lieb
+ist. Doch nun genug vom Geschäft und seinem Ärger.«
+
+Venne strich ihm zärtlich über das Haar. Es war ein großes, schlankes
+Mädchen, das hier von dem gelben Lichte der Kerze übergossen wurde.
+
+Wer die Venne Richerdes nach dem Bilde sich vorstellte, welches
+Heinrich Achtermann von ihr mit in die Fremde nahm, würde sie kaum
+wiedererkannt haben. Nur die stolze Haltung des Köpfchens und die
+seelenvollen Augen, über die im Augenblick noch ein Schatten der Trauer
+um die kranke Mutter gebreitet lag, erinnerte an die Venne von ehemals.
+Aus der unscheinbaren Puppe hatte sich ein glänzender Schmetterling
+entwickelt. Nichts mehr gemahnte bei Venne an das eckige, unbeholfene
+Ding, das vor Heinrich Achtermann davongelaufen war.
+
+Das lang herabwallende, faltige Hausgewand, das sich lose um die
+königliche Gestalt schmiegte, ließ die edlen Formen des Körpers
+erraten. Mit lässiger Anmut bewegte sie sich um den Vater, während sie
+mit der klangvollen Stimme ihm Rede und Antwort stand auf seine Fragen.
+
+»Soll ich uns den Abendtisch decken lassen?« fragte sie weiter. In
+diesem Augenblick erklang durch die angezogene Tür des Schlafgemaches
+die Stimme der Kranken, die nach dem Vater fragte. Statt der Antwort
+trat dieser sogleich zu ihr herein. Behutsam beugte er sich zu ihr
+nieder, und alle Zartheit und Liebe, die er für diese Frau empfand,
+klang aus seiner Stimme. Sie mußte ehedem eine schöne Frau gewesen
+sein; jetzt lagen die Schatten der langen Krankheit auf ihrem blassen
+Gesicht. In Venne stand ihr verjüngtes Ebenbild vor ihr. Nur ein
+leichter, kritischer Zug um den Mund unterschied diese von der Mutter.
+An der Kranken war, von dem leidenden Zug abgesehen, der seine Runen
+in ihr Antlitz gegraben hatte, alles Weichheit, Hingabe, während Venne
+über eine nicht alltägliche Entschlossenheit gebot, die ihr, dem
+jungen Mädchen, den Gehorsam des Hauspersonals sicherte, vom letzten
+Eseltreiber bis zur alten Katharina in der Küche, ihrer Kindsmagd, mit
+der sonst niemand anzubinden wagte und von der selbst der gestrenge
+Hausherr ein Wort mehr annahm, als er sonst von irgend jemand gelten
+ließ.
+
+»Wie geht es Dir, Liebste? Ich höre von Venne, daß Du wieder besonders
+mit Dir zu tun gehabt hast. Schwester Jutta hatte ja, wie so oft, ihr
+Bestes an Dir getan, aber soll ich nicht doch noch den Doktor Henning
+holen lassen?«
+
+»Nein, nein, ich bitte Dich. Mir ist jetzt nach dem kurzen Schlaf sehr
+wohl. Es war auch weniger das Leiden, das mir zusetzte, als eine innere
+Unruhe, die wuchs, je länger Du ausbliebest. Es lag auf mir wie die
+Vorahnung von einem Unheil.«
+
+»Nun bekomme ich von Dir auch noch eine Strafpredigt,« scherzte
+Richerdes gutlaunig. »Vorhin hat mich Venne schon ins Gebet genommen.
+Wenn ich nun Besserung gelobe für die Zukunft, willst Du dann auch mein
+braves Weib sein und Dich alsogleich völlig beruhigen?«
+
+Ihm zärtlich von ihrer Lagerstätte zunickend, ließ sie den Blick an
+seiner hohen Gestalt emporgleiten. Ein leiser Seufzer entrang sich
+ihrer Brust. »Was hast Du noch?« fragte er aufs neue besorgt. »Nichts,
+es ist nur der Kummer, daß ich Euch das Leben mit meinem Siechtum
+belaste. Ihr könnt das gar nicht auf die Dauer ertragen.«
+
+»Das ist mir das rechte Medikament«, rief der Gatte gutmütig polternd.
+»Jetzt habe ich meine ganze ungeschlachte Liebenswürdigkeit an diese
+eigensinnigste aller Frauen verschwendet, um nun zum Dank von ihr zu
+hören, daß sie uns lästig falle. Nun sprich Du ein Machtwort, Venne;
+vielleicht, daß Du Dir mehr Respekt verschaffst.«
+
+Venne umschlang die geliebte Mutter zärtlich behutsam und barg ihr
+Gesicht an der Wange. »Ach, böses, liebes Mütterlein, der Vater hat
+nur zu recht. Wie sollten wir unsere Liebe zu Euch besser zum Ausdruck
+bringen, als daß wir Euch umhegen und umgeben mit unserer Pflege. Ihr
+sollt uns ja bald gesund sein und werdet uns gesunden; aber, daß ich's
+sage, Gott verzeihe mir die Sünde: ich wünschte nicht, daß Ihr krank
+gewesen wäret oder je wieder würdet; doch desungeachtet möchte ich,
+und der Vater gewiß mit mir, nicht diese Zeit missen, wo wir Euch Eure
+Liebe wenigstens zu einem kleinen Teile vergelten konnten. Nun fügt
+Euch nur noch eine kurze Zeit unserer strengen Vormundschaft, und dann
+wird eines Tages mein Mütterlein wieder rüstig und flink durchs Haus
+trippeln, und wir werden uns auf die Bärenhaut legen; gelt, Vater?«
+
+Gerührt blickte die Kranke auf ihr Mägdelein, und eine Träne rann über
+die blasse Wange.
+
+Ach, wenn es doch so käme, wie Venne es ihr prophezeite!
+
+In diesem Augenblick wurden sie durch wirren Lärm von der Straße
+aufgescheucht. Stimmen und Schreie erklangen durcheinander, und alsbald
+erhob die Sturmglocke der benachbarten Marktkirche ihre wimmernde
+Stimme. Angstvoll schrak die kranke Frau zusammen und griff nach dem
+Herzen. Venne eilte ihr sogleich zu Hilfe. Auch ihr wie dem Vater war
+sehr bange, denn man glaubte nicht anders, als im nächsten Augenblick
+das gefürchtete »Feuerjo« draußen zu hören, welches verriet, daß der
+schlimmste Feind der mittelalterlichen Städte sein rotes Banner auf
+den Dächern der Stadt aufgepflanzt habe. Richerdes, der zu den Führern
+der Feuerwehr gehörte, die pflichtmäßig alle nicht bresthaften Bürger
+mit den ledernen Feuerlöscheimern zur sofortigen tätigen Hilfe bei
+Ausbruch eines Brandes veranlaßte, stürzte nach einem kurzen, hastigen
+Abschiedswort davon und ließ die Frauen in banger Spannung zurück.
+Der Lärm draußen verlor sich bald, und auch das Gewimmer der Glocke
+erstarb. Die Annahme, daß eine Feuersbrunst ausgebrochen war, schien
+demnach irrig zu sein; wahrscheinlich handelte es sich um irgendeinen
+Angriff oder Überfallversuch, wie die unruhigen Zeiten ihn nicht
+selten brachten. In angstvoller Erwartung harrten die beiden Frauen
+der Rückkehr des Vaters und Gatten. Endlich, viel zu spät für ihre
+Ungeduld, ertönte der Klopfer, und Venne beeilte sich, zu öffnen, da
+das Gesinde inzwischen zur Ruhe gegangen war. Der Überfall auf die
+flandrischen Kaufleute bei Riechenberg hatte den Tumult veranlaßt.
+Noch kannte man nicht alle Einzelheiten. Es sollte viele Tote und
+Verwundete gegeben haben und Plünderung der Waren, wie das Gerücht
+bei solchen Anlässen zu wüten pflegt. Die Kunde war von einem Knechte
+überbracht worden, der auf schweißbedecktem Roß vor dem Sankt-Viti-Tor
+in der Dunkelheit auftauchte und um eilige Hilfe und Schutz bat. Die
+Stadtsoldaten unter ihrem Hauptmann und ein großer Haufen bewaffneter
+Bürger waren sofort ausgezogen, und zur Stunde, so durfte man hoffen,
+hatten die Bedrängten schon Hilfe gefunden, und sie selbst waren unter
+sicherer Bedeckung im Anzuge gegen die Stadt.
+
+Richerdes kehrte nur zurück, um die Frauen zu unterrichten und sie zu
+beruhigen. Er verließ bald darauf wieder das Haus, um den Ausgang
+und weitere Aufklärung des Falles zu erfahren. Auch bei ihm sprach
+seit Jahren einer der Kaufleute vor, der auch dieses Mal dabeisein
+mußte. Noch mehr Grund also, zur Stelle zu sein, wenn die Überfallenen
+ankamen, um dem alten Geschäftsfreunde zugleich hilfreich zur Seite zu
+stehen, wenn er die Stadt betrat.
+
+
+
+
+Im Kamin prasselte ein lustiges Feuer und verbreitete eine angenehme
+Wärme über den Raum, in dem die Familie Richerdes am reichgedeckten
+Frühstückstisch mit dem Gaste, Herrn Emile Delahaut aus Dinant, saß.
+Das Gespräch drehte sich natürlich um den gestrigen Überfall. Er war
+so weit geklärt, daß man wußte, das Stücklein ging, wie man gleich
+vermutete, von dem berüchtigten Bandenführer Hermann Raßler aus,
+der, wie jedermann bekannt war, im geheimen Dienste des Herzogs von
+Braunschweig stand und die Goslarer schatzte, daß ihnen der Atem
+auszugehen drohte. Zwei seiner Knechte, mit denen er den frechen
+Überfall gewagt hatte, blieben verwundet in den Händen der Goslarer,
+und aus ihrem Munde erfuhr man alle Einzelheiten. Demnach war der
+eigentliche Urheber des verruchten Planes jener Händler aus Helmstedt,
+der selbst bei der Tat seinen Lohn erhalten hatte. Er traf morgens in
+aller Frühe in Riechenberg ein, wo man ihm den Schlupfwinkel Raßlers
+anzeigte. Die Knechte, die beim Herannahen des Zuges in Langelsheim so
+eilig Fersengeld gaben, waren Kundschafter, die melden sollten, wann
+mit dem Eintreffen am Hohlwege zu rechnen sei. Es stellte sich nunmehr
+als sicher heraus, daß der ganze Überfall nicht den Kaufleuten, sondern
+Heinrich Achtermann gegolten hatte und jedenfalls dazu dienen sollte,
+ihm das wichtige Dokument abzunehmen. Was unterwegs mit List nicht
+gelungen, das wollte man zum Schluß mit Gewalt herbeiführen.
+
+Damit war auch der Auftraggeber ohne weiteres erkannt: es konnte
+nur der Braunschweiger sein, dem an der Vernichtung des päpstlichen
+Schreibens allein lag. Durch seine Spione in der Stadt mußte er
+irgendwie von dem Auftrage und dem Wege der Heimreise Heinrichs Kunde
+erhalten haben und hatte danach seine Maßnahmen getroffen. Sein
+unmittelbarer Vorfahre, Heinrich der Ältere, hatte den besonderen
+Schutz der Stadt Goslar noch für 400 Gulden im Jahre 1497 auf zehn
+Jahre übernommen. Die Herzöge Philipp und Erich ließen sich noch vom
+Jahre 1500 ab zehn Jahre lang für die gleiche Leistung 1200 Gulden
+im voraus geben. Heinrich der Jüngere trat in diesen Vertrag ein.
+Das hinderte ihn aber nicht, im geheimen seine Blut- und Beutehunde
+gegen die Stadt loszulassen. Der Streich war mißglückt, doch man
+wußte, wessen man sich in Goslar von dieser Seite zu versehen hatte
+trotz aller Schutzbriefe. Da der Angriff auf herzoglichem Gebiete
+erfolgte, der Nachweis geführt war, daß Raßler der Anstifter gewesen
+und offenbar bei den dem Herzoge befreundeten Mönchen von Riechenberg
+Unterstützung genossen hatte, ging ein geharnischter Protest des Rates
+nach Wolfenbüttel ab, wo der Herzog residierte. Der Erfolg war freilich
+vorauszusehen. Der Herzog lehnte mit der für diesen Fall gebotenen
+Entrüstung jede Mitwissenschaft und Teilnahme ab. Die wirklich
+Leidtragenden waren die beiden Schelme, die man gefangen hatte; sie
+baumelten bald darauf am Galgen, der sein Gerüst auf dem Georgenberge
+drohend ins Land reckte.
+
+Auch der Fremden wegen erhob man den Einspruch beim Herzoge, um ihnen
+zu zeigen, daß man alles tue, um ihnen Genugtuung zu geben. Denn sie
+führten natürlich auch ihrerseits, sei es auch nur, um ihr Geschäft
+günstig zu beeinflussen, bewegliche Klage über die erlittene Unbill
+und die Unsicherheit der Wege in unmittelbarer Nähe der Stadt; Schaden
+an Eigentum war kaum erlitten, abgesehen von einigen Warenballen,
+die von den Wagen gestürzt und etwas beschädigt waren. Dem Anschein
+nach hatten die Raubgesellen, obwohl ihr Auftrag nur dahin ging, sich
+des goslarschen Gesandten zu bemächtigen, doch ihrer oft bewiesenen
+Beutelust nicht widerstehen können, zu nehmen, was sich ihnen bot. Der
+steile Hang und der fluchtartige Rückzug hinderten sie dann aber an der
+Mitnahme.
+
+Über der Besprechung des gestrigen Ereignisses vergaß man nicht, den
+guten Sachen Ehre anzutun, die der Tisch bot. Venne ging ab und zu, um
+nach der Mutter zu sehen und den Mägden eine Anweisung zu geben. Im
+hellen Licht des Tages sah man erst, welch vollendete Schönheit sie
+war. Die Anmut ihrer Bewegungen, der Wohllaut ihrer Stimme vereinigten
+sich gleichermaßen, um den Fremden gefangenzunehmen.
+
+»Wetter noch einmal,« warf er dem Gastfreunde zu, als Venne sich auf
+einen Augenblick entfernt hatte, »ist das ein Mädel geworden, seit ich
+sie zuletzt sah! Wie das den Kopf trägt und sich bewegt! Wahrhaftig,
+wenn ich nicht schon ein alter Knabe wäre, könnte mich Eure Venne noch
+zu Abenteuern verleiten. Verwahrt den Schlüssel zu ihrem Herzen gut,
+sonst fliegt sie Euch über Nacht davon. Lange werdet Ihr sie sowieso
+nicht mehr halten, sonst müßten Eure Jungen hier Fischblut in den Adern
+haben.«
+
+Richerdes lächelte behaglich zu dem Lobe der Tochter: »Vorläufig
+scheint ihr selbst noch wenig an dem Ausfluge aus dem Elternhause zu
+liegen, dazu hält sie die Pflege der kranken Mutter viel zu fest.
+Findet sich aber einmal der Rechte, so werden wir sie nicht halten
+wollen. Denn es ist der Eltern wie der Kinder Los, sich trennen zu
+müssen, wenn sie des anderen Wert erkennen.«
+
+Man kam noch einmal auf das gestrige Abenteuer zu sprechen und auf
+die Goslarer, die dabei zu Schaden gekommen, Heinrich Achtermann und
+Erdwin Scheffer. Dieser, der Sohn eines achtbaren Mitgliedes der
+Schustergilde, war am übelsten davongekommen, und man wußte nicht, ob
+er am Leben bleiben werde. Heinrich Achtermann dagegen hatte, wie es
+hieß, keinen ernsten Schaden erlitten. Durch das Würgen der Angreifer
+und den Sturz auf einen Stein verlor er die Besinnung. Als die Hilfe
+aus der Stadt kam, war er schon wieder zum Bewußtsein zurückgekehrt.
+
+Nach dem Frühstück gingen die Herren zum Geschäftlichen über. Da
+schlüpfte Venne aus dem Hause, um sich in der Stadt umzuhören und bei
+den Achtermanns vorzusprechen, die mit ihrer Familie befreundet waren.
+Sie wurde beim Eintritt ins Haus von der Schwester Heinrichs begrüßt.
+Von ihr vernahm sie, daß es dem Bruder schon wieder leidlich gehe, und
+sie konnte sich selbst davon überzeugen, denn sie traf ihn im Zimmer,
+wo er mit den Eltern und dem flandrischen Gastfreunde zusammen saß.
+Die überstandene Gefahr hatte keine Spur zurückgelassen, außer einer
+leichten Blässe im Gesicht.
+
+Als Venne ihn unvermutet vor sich sah, war sie einen Augenblick
+befangen, denn die Stunde stand ihr vor Augen, als sie zuletzt die
+Flucht vor ihm ergriff. Sogleich stieg auch der alte Trotz wieder in
+ihr auf, und das herzliche Wort, das sie ihm zur Begrüßung gönnen
+wollte, wurde zu einem kühlen Gruß. Heinrich glaubte seinen Augen
+nicht trauen zu dürfen, als Venne eintrat, ja, er, der nie Verlegene,
+starrte sie einen Augenblick wie entgeistert an: War denn dieses
+Mädchen von vollendeter Schönheit das hagere, eckige Ding, das er
+vor langem verlassen hatte? Und er wäre nicht der Mann mit dem für
+Frauenschönheit empfänglichen Herzen gewesen, wenn nicht dieses holde
+Menschenkind sogleich in ihm höchste Bewunderung mit der Regung jener
+Sehnsucht gepaart hätte, die der Schönheit im eigenen Herzensschrein
+einen Altar zu errichten gewillt ist. Er war bisher der Schmetterling,
+der an allen Blüten naschte. Für die reizenden Bologneserinnen
+schwärmte er, der lebensfrischen Richenza Walldorf flog sein Herz
+entgegen, aber ihre Spur war verwischt, ausgelöscht vor dem wundersamen
+Geschöpf, das da vor ihm stand. Wie ein Schlag durchzitterte es seine
+Brust: Die hält Dein Schicksal in ihrer Hand, Venne Richerdes mußt Du
+besitzen oder keine!
+
+So standen beide sich einen Augenblick verwirrt gegenüber. Venne
+sah seine Blicke auf sich gerichtet, aber sie ahnte nicht, welche
+Gefühle ihn durchzitterten. Da fand Heinrich zuerst das Wort. Um seine
+Befangenheit zu meistern, griff er zu dem alten Mittel tändelnden
+Scherzes und war dabei in Gefahr, alles schon im ersten Augenblick zu
+verderben.
+
+»Euch trieb gewiß die Angst um mein Befinden hierher, aber Ihr seht ja,
+Unkraut vergeht nicht.« Venne suchte sich sogleich mit ihrer ganzen
+kühlen Unnahbarkeit zu wappnen. »Ihr irrt Euch; ich kam vor allem, um
+Eure Schwester zu besuchen. Daß mich auch Sorge um Euch erfüllte, will
+ich nicht leugnen; aber ich sehe ja, daß Ihr wohlauf seid, so will ich
+Euch auch mit meiner Teilnahme nicht lästig fallen.«
+
+»Gut gegeben, Jungfer Dornenhag«, antwortete Heinrich munter lachend.
+»Aber um Euch zu versöhnen, will ich Euch auch etwas Angenehmes sagen.
+Ratet nur, was!«
+
+»Ich bin nicht allzu begierig darauf, denn ich versehe mich keiner
+besonderen Schmeicheleien von Euren Lippen«, entgegnete Venne halb
+ablehnend.
+
+»Eine Schmeichelei ist's auch nicht, aber ein schöner, herzlicher
+Gruß von Eurem Oheim Ernesti. Eigentlich sollte ich auch den
+dazugehörigen Kuß mit überbringen,« log er hinzu, »aber das habe ich
+als lebensgefährlich abgelehnt.« Venne achtete auf die letzten Worte
+kaum noch. »Vom Oheim Ernesti und der Muhme wahrscheinlich? Oh, das
+ist schön. Erzählt doch nur gleich, wo Ihr ihn trafet und wie Ihr sie
+fandet.« Und Heinrich berichtete ausführlich über sein Zusammensein mit
+dem Oheim und seine Aufnahme in Soest.
+
+In diesem Augenblick trat Johannes Hardt ins Zimmer, der ebenfalls kam,
+um sich nach dem Befinden des Freundes zu erkundigen. Der Ratsherr
+forschte nach allen Einzelheiten der Reise und kam dann von Ernesti
+und dem gestrigen Überfall auf die Zeitläufte zu sprechen. Da überließ
+die Jugend die Alten ihren ernsten Gesprächen. Die Mädchen schlüpften
+hinaus in das Zimmer der Schwester. Für heute erhielten auch Heinrich
+und Johannes dort Zutritt, denn man war doch gar zu begierig, über ihre
+Erlebnisse im Wunderlande Italien Einzelheiten zu erfahren. Und die
+beiden Wanderer erzählten und erzählten, und ihre Zuhörerinnen wurden
+nicht müde, ihnen zuzuhören.
+
+»Aber eins fällt uns auf,« warf Venne, zu Johannes gewendet, schalkhaft
+ein. »Von den schönen Bologneserinnen haben wir bis jetzt gar nichts
+vernommen. Sind sie ausgestorben, oder habt Ihr ihnen dauernd Eure
+Gunst vorenthalten? Das wäre ja ein gräßliches Verbrechen.« Einen
+Augenblick wollte der junge Mann erröten, aber schon kam ihm Heinrich
+zu Hilfe: »Es gibt ihrer noch genug,« antwortete er, »sogar recht
+liebreizende, aber unsere Beziehungen zu ihnen werden wir Euch erst
+enthüllen, wenn Ihr uns verratet, in welchen Herzen Ihr Vernichtung
+angerichtet habt.«
+
+»Da werde ich lange auf Eure Enthüllungen warten können, denn ich bin
+mir nicht bewußt, irgendeinem Herzen Unglück zugefügt zu haben.«
+
+»Na, na,« warf da die Schwester lächelnd ein, »glaubt ihr nicht so
+ohne weiteres. Sie ist eine Heimliche. Ich möchte die Seufzer nicht
+auf meinem Herzen tragen, die ihr nachgeklungen sind. Und sie ist
+auch selbst nicht unversehrt geblieben, will mir scheinen. Ich müßte
+sonst die mancherlei Fragen mißdeuten, die sie immer wieder über einen
+gewissen abwesenden jungen Herrn stellte. Soll ich Namen nennen,
+Venne?« fragte sie neckend.
+
+»Daß Du Dich nicht unterstehst, du Garstige«, wehrte diese lachend ab,
+während ein tiefes Rot über ihre Wangen flammte. Die Verwirrung erhöhte
+noch ihre Lieblichkeit. »Zur Strafe für diese Verleumdung will ich
+auch gleich aufbrechen.« Aber sie gab doch dem Widerspruch der anderen
+nach; es hätte ja auch zu sehr nach einem Zugeständnis ausgesehen; und
+man blieb noch eine kurze Zeit in traulichen Gesprächen beisammen.
+Dann mußte sie Abschied nehmen, da die Mutter nicht lange ohne Wartung
+bleiben durfte. Auch für Johannes war es an der Zeit, sich festlich
+anzukleiden, denn er sollte mit Heinrich zusammen die besondere Ehre
+genießen, dem Hohen Rat die Schrift des Papstes, die sie mit Gefahr
+des Lebens verteidigt hatten, in der für die Mittagsstunde anberaumten
+Sitzung überreichen zu dürfen.
+
+Die Mitglieder des Goslarer Rates hatten in feierlicher Amtstracht sich
+im Sitzungsraum versammelt, und nun warteten sie des päpstlichen Boten
+mit der Antwort auf ihr Begehren.
+
+Die Jünglinge wurden von dem Ratsboten hineingeführt, die Ratsherren
+erhoben sich, und der regierende Bürgermeister, Karsten Balder,
+begrüßte sie mit freundlichen Worten.
+
+»Ihr seid Träger der Botschaft vom Heiligen Vater, die uns Herr
+Henricus Ernesti freundwillig vermittelt hat. Wir hören,« wandte er
+sich dann im besonderen an Heinrich Achtermann, »daß Euch zuletzt noch
+arges Ungemach getroffen hat. Empfangt mit unserem Bedauern über die
+erlittene Unbill zugleich unseren Dank für den wichtigen Dienst, den
+Ihr Goslar geleistet habt.
+
+Es geht um nichts Geringes in dem Schreiben, wie Ihr Euch denken könnt.
+Ihr habt das Geheimnis treulich an Eurer Brust gewahrt und mit Eurem
+Leibe verteidigt, so sollt Ihr und mit Euch Euer Freund auch der erste
+sein, der außer uns von dem Inhalt Kenntnis erhält.«
+
+Damit öffnete der Bürgermeister und gab den Inhalt der päpstlichen
+Bulle preis.
+
+Demnach versicherte Papst Leo X. seine fromme und getreue Stadt Goslar
+mit seinem Segen zugleich seines Schutzes, bestätigte in Erneuerung der
+Briefe des Königs Wenzel ihre ausschließlichen Vorrechte und Ansprüche
+auf das Bergwerk und die Forsten, versprach ihr seinen Beistand und
+drohte allen denen mit schweren Kirchenstrafen, welche sie im Genuß
+dieser Rechte stören oder sie ihnen streitig zu machen versuchten.
+
+Das war ein voller Erfolg. Befriedigt sahen sich die Ratsherren an:
+Dieses Schriftstück lohnte den Eingriff in den Stadtsäckel, den man
+getan hatte, um Henricus Ernesti in den Stand zu setzen, sein Anliegen
+nachdrücklich zu unterstützen. Nun mochten die Braunschweiger kommen;
+diese Stunde machte die letzte Nichtswürdigkeit wett, deren man den
+Herzog hier im Rate offen zieh.
+
+»Ihr habt Euch, Herr Heinrich Achtermann, und Ihr ingleichen, Herr
+Dr. Johannes Hardt, als ehrenfeste, tapfere Männer gezeigt. Der
+Stadt ist durch Eure Hilfe ein sehr wichtiger Dienst erwiesen, wie
+Ihr soeben hörtet. Sie wird sich ihres Dankes gegen Euch geziemend
+zu entledigen wissen. Ihr aber werdet, wie Euer Verhalten beweist,
+treue, zuverlässige Bürger sein, auf die sie allezeit mit Zuversicht
+zurückgreifen kann.«
+
+Rot und stolz vor Freude verließen die Freunde das Rathaus und kehrten
+zu den Ihrigen zurück.
+
+An ihre Stelle trat bald darauf eine Abordnung der fremden Kaufleute,
+um Beschwerde vorzubringen über den Unglimpf, der ihnen hart vor den
+Mauern der Stadt widerfahren war. Der Rat wies nach, daß der Überfall
+nicht auf Goslarer Gebiet vor sich gegangen sei, daß geharnischte
+Beschwerde an den Herzog abgehen, die ergriffenen Übeltäter
+hingerichtet werden würden und im übrigen er, der Rat, es als eine
+selbstverständliche Pflicht übernehme, allen erlittenen Schaden zu
+ersetzen. Daneben verhieß er tatkräftige Unterstützung bei dem Abschluß
+ihrer Handelsgeschäfte, bei denen der Rat ja zu einem großen Teile
+selbst in Frage kam. So zogen auch diese Männer befriedigt ab.
+
+Am Nachmittage besuchte Heinrich den armen Erdwin Scheffer, der
+inzwischen von seiner tiefen Bewußtlosigkeit erwacht war, die, wie
+anfangs zu befürchten schien, unmittelbar in den Tod überzuführen
+drohte. Die Sonde des Arztes hatte das Geschoß gefunden und es mit
+aller Sorgfalt entfernt. Unter den schmerzhaften Verrichtungen des
+Arztes war er abermals in Ohnmacht gesunken; jetzt schlief er. Der
+Doktor hatte zwar die Verwundung für sehr schwer erklärt, aber doch
+nicht alle Hoffnung aufgegeben. Nun mußte es sich zeigen, ob der junge,
+kräftige Körper dem Kranken zur Genesung verhelfen würde. Auch nach
+Monika erkundigte er sich: der Vater war unwirsch über die Dirne,
+die dem Sohne bis ins Haus nachlaufe. Sie sei schon am frühen Morgen
+dagewesen und habe angstvoll nach dem Kranken gefragt. Auch die Mutter,
+die in dem fremden Mädchen wenig mehr als eine fremde Landstreicherin
+sah, war ihr ablehnend begegnet. Nur Maria, die Schwester, hatte sich
+ihrer im Flur angenommen. Sie redete dem jungen Mädchen, das sich in
+seiner Angst und Sorge keine Hilfe wußte, herzlich zu.
+
+»Ich werde Euch auf dem laufenden halten über die Entwicklung der
+Krankheit«, sagte sie, indem sie Monika an sich zog. »Will's Gott, so
+wird doch noch alles gut.«
+
+Bald darauf fand sich auch Gelegenheit, die gute Immecke aufzusuchen.
+Sie hatte bei der Witwe eines ehrbaren Handwerksmeisters Wohnung
+gefunden. Noch war sie sich nicht schlüssig, wohin sie ihre Schritte
+lenken werde. Erst wollte sie abwarten, wie sich der Zustand Scheffers
+gestaltete, denn Monika erklärte, daß sie nicht von Goslar weichen
+werde, bis sie darüber im klaren sei. Die Wanderfahrt im Kriege hatte
+der braven Marketenderin manchen Gulden eingebracht, und wenn sie den
+Inhalt des Beutels wog, den sie wohlverwahrt hielt, war ihr um ihre und
+der Tochter Zukunft nicht bange.
+
+ * * * * *
+
+Die Herren aus Flandern und Frankreich prüften die goslarsche Ware und
+fanden wenig auszusetzen. Die Stapel der erworbenen Metallbarren wurden
+immer größer, die Geldkatze immer magerer. Hier und da erfuhr sie eine
+vorübergehende Auffüllung durch günstigen Absatz der mitgebrachten
+flandrischen Waren: Teppiche, Gewebe, feine Tuchstoffe, die in den
+benachbarten Städten wie in Goslar selbst willige Käufer fanden. Neben
+dem Erwerb des kostbaren Metalls war indessen die Aufmerksamkeit der
+fremden Kaufleute noch auf ein anderes gerichtet.
+
+Als der Rat von Goslar zur Wiederbelebung des namentlich durch
+Wassereinbrüche verunglückten Bergwerkes einen Zusammenschluß der
+Berechtigungen in einer Form erstrebte und ins Werk setzte, die man
+heute als Gewerkschaft bezeichnen würde, behielt er von vornherein
+das Ziel im Auge, die Anteile später durch stillen Ankauf in seine
+Hand zu bringen. Er wußte es daher mit Geschick zu erreichen, daß die
+Mehrzahl der Anteile, soweit er sie nicht selbst besaß, in den Händen
+von Bürgern blieb, von denen er sie später erwerben zu können hoffte.
+Daß er dabei bei mehr als einem auf hartnäckigen Widerstand traf,
+bewies der Montane Richerdes. Karsten Balder, derzeitiger regierender
+Bürgermeister, war durchaus nicht von der Voreingenommenheit gegen
+Richerdes beseelt, die dieser ihm unterschob. Zwar hatte er als
+Jüngling der schönen Mathilde von Hagen, des Ratsherrn und Silvanen
+von Hagen Tochter, gehuldigt, und sie als sein Eheweib heimzuführen,
+war sein sehnlicher Wunsch gewesen. Aber er fand sich längst damit ab,
+daß Richerdes ihm den Rang abgelaufen. Er lebte selbst in glücklicher,
+mit Kindern gesegneter Ehe, und sein gerader, ehrliebender Charakter
+hätte es nie zugelassen, seine Machtstellung in den Dienst der Willkür
+zu stellen, um für vermeintlich oder wirklich erlittene Unbill
+Vergeltung zu üben. Was er mit Richerdes wie mit anderen Berechtigten
+verhandelte, was er von ihnen forderte, lag im wohlverstandenen
+Interesse der Stadt. Er handelte schließlich nur als der Verwalter des
+von Werenberg hinterlassenen Erbes, wenn er dessen Pläne zur Ausführung
+zu bringen versuchte. Bei dem Argwohn, den ihm Richerdes von vornherein
+entgegenzubringen sich bemühte und den er auch seinen Angehörigen
+einzureden verstand, war es nicht zu verwundern, daß dieser in allem,
+was von Balder ausging oder vom Rathause kam, eine Falle witterte und
+daß der Verkehr mit dem Rate für ihn eine Quelle ständigen Ärgers war.
+
+Damals, als der Bergbau im argen lag und der Rat mit großen Kosten
+fremde Techniker heranzog, wie Meister Nikolaus von Ryden, um des
+Wassers Herr zu werden, war auch der Ertrag des Bergbaus sehr gering,
+und statt eines Gewinnes hatten die Gewerke dauernd Zubußen zu zahlen.
+Das goslarsche Kupfer, das sich den Weltmarkt zu erobern im Begriff
+gewesen war, verschwand mehr und mehr, und sein Name erklang weniger
+in den Kreisen derer, die darauf angewiesen waren. Jetzt aber bildete
+es eine der Lebensnotwendigkeiten für den gewerbfleißigen Westen. Die
+Zahl der Käufer wuchs von Jahr zu Jahr. Was Wunder, wenn den Flamen
+und Holländern der Wunsch kam, die Quellen selbst mit ausschöpfen zu
+können, Mitbesitzer des Bergwerks durch die Erwerbung von Anteilen zu
+werden. Beim Rate hatte sie, wie sie bald merkten, auf Erfolg nicht zu
+rechnen, da er in zielbewußter Verfolgung seiner Politik im Gegenteil
+darauf aus war, alle Anteile in seiner Hand zu vereinigen. Aber auch
+bei den Bürgern stießen sie auf Widerstand. Vergeblich bewiesen sie
+dem Besitzer des Anteils, daß die aus dem Kapital sich ergebende Rente
+besser sei als das in seiner Ergiebigkeit unsichere Recht. Je eifriger
+sie zuredeten, desto größer wurde der Widerstand.
+
+Auch der Gast- und Geschäftsfreund des Bergherrn Richerdes, Herr Emile
+Delahaut aus Dinant, suchte diesen zum Verkauf seiner Anteile oder
+eines Teiles derselben zu bewegen, doch auch er wandte vergeblich seine
+ganze Beredsamkeit auf. Richerdes wie die anderen Goslarer, deren
+Ansprüche die Freunde erwerben wollten, wurden durch das eifrige Werben
+nur um so mehr in ihrer Meinung von dem Werte ihrer Rechte bestärkt.
+So gelang es den Ostgängern, die alljährlich nach Goslar kamen, kaum,
+einen oder den anderen Anteil zu erwerben. Freilich waren Richerdes
+wohl einmal leichte Zweifel an dem dauernden Werte seines Anrechtes
+aufgestiegen, und letzthin hatten sie sich noch verstärkt. Wie er
+Ludecke Bandelow auf dem Heimwege vom Granetal her klagte, befriedigte
+der Erfolg seiner Grube seit längerer Zeit nur wenig; und einmal war er
+wirklich einen Augenblick schwankend geworden, vor nicht langer Zeit
+nämlich, als der Ratsherr Achtermann, ein Mann von großem Reichtum und
+Ansehen, bei ihm vorsprach, um mit ihm noch einmal über den Verkauf
+an die Stadt zu reden. Zunächst lehnte Richerdes, wie früher schon,
+schroff ab, aber Achtermann, vor dessen Geschäftstüchtigkeit auch
+jener große Achtung hatte, ließ sich nicht beirren.
+
+»Ich will Eure verstockte Voreingenommenheit gegen Karsten Balder,
+die ich wohl kenne, einmal außer acht lassen; versucht Ihr dasselbe.
+Ihr könnt ja zuletzt doch tun und lassen, was Ihr wollt. Daß uns viel
+an dem Besitz liegt, wißt Ihr; weshalb, ist Euch ebenfalls bekannt,
+wie endlich auch, daß wir ihn nicht geschenkt haben wollen. Wir
+wissen beide, daß es mit dem Gewinn aus Euren Gruben nicht zum besten
+aussieht, im Augenblick wenigstens nicht«, warf er auf eine ablehnende
+Bewegung von Richerdes ein. »Sie kann wieder ergiebiger werden, die
+Erzader kann sich aber auch ganz erschöpfen oder als taub ausweisen.
+Was dann? Dann seid Ihr ein armer Mann.
+
+Damit Ihr seht, daß ich es wirklich ehrlich meine, will ich ganz offen
+gegen Euch sein. Ihr habt eine hübsche Tochter, die Euch ans Herz
+gewachsen, ich einen Sohn, dem sie, wie ich glaube, nicht gleichgültig
+ist. Ich könnte mir vorstellen, daß hier etwas im Werden ist, das wir
+durch entschlossenes Eingreifen stören, durch stilles Gewährenlassen
+aber der Reife entgegenblühen sehen können. Ich will und werde mich
+nicht in Liebesgeschichten meines Sohnes einmischen; handelt Ihr
+ebenso, dann haben wir uns später nichts vorzuwerfen. Eure Venne ist
+mir lieb und wert und ich würde mich, ungeachtet der Unterschiede in
+unseren Verhältnissen, nicht bedenken, sie als Schwieger willkommen
+zu heißen. Ich werde aber nie einwilligen, daß mein Sohn die Tochter
+eines Bettlers heimführte. Entschuldigt das harte Wort, indes es muß
+gesprochen werden, denn Offenheit, zumal bei diesem heiklen Punkte,
+liebe ich vor allem.«
+
+Damit weckte aber Achtermann alles, was an Trotz und Widerspruchsgeist
+in Richerdes schlummerte. »Ich dränge meine Tochter niemand auf,
+jetzt nicht und niemals. Wenn Ihr also keine weiteren Gründe für Euer
+Anliegen vorzubringen habt, so hättet Ihr Euch die Mühe ersparen
+können.«
+
+»Nichts für ungut«, erwiderte Achtermann, ungerührt durch die
+Heftigkeit seines Gegenübers. »Ich sehe gern klare Verhältnisse
+vor mir.« Dann lenkte er, sich zum Aufbruch anschickend, mit einer
+teilnehmenden Frage nach dem Befinden der kranken Hausfrau auf ein
+anderes Gebiet über.
+
+»Ich hörte kürzlich in Braunschweig von einem neuen Mittel, das bei
+Leiden der Art Wunder wirken soll. Ich habe es im Augenblick vergessen,
+will mich aber, kann ich Euch damit einen Gefallen erweisen, gern
+danach umtun. Im übrigen halte ich mich Eurer armen Frau Eheliebsten
+bestens empfohlen, bitte, ihr auch von meiner Frau die besten Grüße mit
+dem aufrichtigen Wunsch baldiger Genesung ausrichten zu wollen. Sie
+hofft, bei guter Gelegenheit nächstens sich selbst nach ihr umsehen
+zu können. Und nun,« damit schied der Einflußreiche und versetzte ihm
+einen leichten Schlag auf die Schulter, »alter Murrkopf, einen schönen
+Gruß auch dem Töchterlein!« Lächelnd schied er, und lächelnd gab ihm
+Richerdes das Geleite. Dann kehrte er in die Stube zurück.
+
+Die Worte Heinrich Achtermanns gingen ihm durch den Kopf, und die Sorge
+wurde damit nicht geringer. Wenn die Befürchtungen des Ratsherren
+eintrafen, stand es allerdings schlecht mit ihm und den Seinen, und
+er selbst war dann, wenn kein Bettler, doch ein armer Mann, dessen
+Tochter zu freien, mancher sich scheuen würde. Was Achtermann von den
+Beziehungen zwischen den Kindern sagte, war ihm neu. Er beschloß, mit
+der treuen Lebensgefährtin auch dieses zu besprechen. Sie, die ihm so
+manches Mal schon guten Rat gewußt hatte, würde gewiß auch dieses Mal
+das Rechte treffen. Das Glück ihrer Venne stand beiden am höchsten,
+und diesem Glück sollte auch sein Eigensinn und sein Widerwillen gegen
+Karsten Balder nicht entgegenstehen; das nahm er sich vor.
+
+
+
+
+Der Tribut des Alters an die Zeit ist Verblassen und Verblühen, ist
+Schwinden von Schönheit und Kraft. Was im Werden und Vergehen des
+Menschen gilt, hat auch im Leben der Städte nur allzuoft eine traurige
+Bestätigung gefunden. Von der Herrlichkeit einer alten großen Zeit
+zeugen heute nur noch kärgliche Reste, hier und da ein brüchiger Turm
+oder die ins Leere starrenden Zinken einer Turmruine, ein Stückchen
+Stadtmauer, eine hochragende Kirche, welche die Armseligkeit der sie
+umlagernden Häuserzeilen nur um so greller hervortreten läßt. Das ist
+das Schicksal so mancher Stadt geworden, die einst wohlgegürtet hinter
+Wall und Mauer ihre Rechte verteidigte und mit Herzögen und Königen auf
+der Stufe des Gleichberechtigten verhandelte. Das schien auch Goslars
+Los zu sein. Von der Höhe seiner mittelalterlichen Macht war es durch
+schlimme Kriegsläufe und, damit zusammenhängend, durch das Versiegen
+seiner Geldquellen, des Bergwerkes und der endlosen Forsten, Stufe um
+Stufe herabgeglitten. Was um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts
+übrigblieb, wies alle Anzeichen eines schnellen unaufhaltsamen
+Verfalles auf. Die Zahl der Einwohner war erschreckend gesunken, in
+den weiten Mauern wohnte ein armseliges, müdes Geschlecht, das in
+seinem Elend mit dem Erbe einer großen Vergangenheit nichts Besseres
+anzufangen wußte, als daß es sich aus dem alten Gewande neue Stücke
+schnitt, um seine Blöße zu verbergen. Es ist die böse Zeit, wo
+die Brüderkirche niedergelegt, wo der ehrwürdige Dom auf Abbruch
+verkauft wurde. Die Domkapelle, die allein von dem alten Münster noch
+Zeugnis ablegt, läßt uns ahnen, was in jenen Jahren unwiederbringlich
+verlorenging. Gar manches Kapitäl oder Gesims, an verlorener Stelle in
+eine Gartenmauer eingefügt oder einem Speicher als Eintrittsschwelle
+dienend, erinnert an diese schlimme Zeit, wo das sterbende Goslar sich
+seines Schmuckes zu entkleiden begann, um als Bettler ins Grab zu
+steigen.
+
+In dieser Zeit des Verfalles, und noch später, ist vieles dem
+Unverstande wie der Not zum Opfer gefallen, auch von den ehemals
+geschlossenen Festungsanlagen; aber vieles blieb doch auch erhalten
+und legt noch heute Zeugnis ab von dem wehrhaften Sinn der Altvordern,
+so die gewaltigen Tortürme, deren am Breiten Tore, die Stirn dem
+Braunschweiger zugewandt, gleich ein ganzes Rudel auftritt. Sie ragen
+noch heute ebenso trutzig wie zur Zeit ihrer Errichtung in die Lüfte.
+
+Die stattlichsten unter ihnen, der große Turm am Breiten Tor, der Dicke
+Zwinger in der Nähe der Kaiserpfalz, dessen 24 Fuß starke Mauern noch
+heute das Staunen der Besucher erregen, der Papenzwinger, sie verdanken
+ihren Ursprung der Zeit, da unsere Geschichte spielt. Die Goslarer
+wollten ihre Stadt zu einer uneinnehmbaren Festung ausbauen. Sie hatten
+Anlaß dazu; denn die Zahl ihrer Feinde und Neider wurde größer in dem
+Maße, wie der Wohlstand und die Macht der Stadt wuchs. Ernesti hatte
+Johannes Hardt die Lage richtig geschildert, aber auch der Rat war sich
+der Gefahr wohl bewußt und suchte ihr durch geeignete Maßnahmen zu
+begegnen.
+
+Schon im Anfang des neuen Jahrhunderts war der Grundstein gelegt zu
+einem weiteren, mächtigen Bollwerk. Um die Herstellung der Anlagen,
+besonders der Zwinger, hatten sich jeweils einige Bürger verdient
+gemacht; so war der Papenzwinger der Aufsicht des Worthalters der
+Gemeinen, wie die Versammlung der Vertreter der Bürgerschaft hieß, Kips
+anvertraut gewesen. Das neue Bauwerk, das am neuerbauten Rufzen- oder
+Rosentor sich zu dessen Verstärkung erheben sollte, unterstand dem
+Schutze des Ratsherrn Achtermann. Er war nicht nur um die Weiterführung
+besorgt, sondern steuerte auch zu den Kosten einen erheblichen Teil
+bei. Es entsprach daher nur einem Akt der Dankbarkeit, wenn man das
+gewaltige Bauwerk ihm zu Ehren als ›Achtermann‹-Zwinger benannte. Es
+ist der dicke, ungefüge Geselle, der dem Rosentor vorgelagert ist und
+heute noch die Besucher Goslars beim Eintritt in die Stadt als erster
+Zeuge seiner ehemaligen Wehrhaftigkeit begrüßt.
+
+Mehrere Jahre hatte der Bau gedauert, einige Male mußte er unterbrochen
+werden. Jetzt stand er da, riesig und gewaltig, und das Ereignis der
+Beendigung sollte durch ein Fest besonders gefeiert werden. Die untere
+Halle, ein gewaltiger Rundraum, war mit Tannengrün festlich geschmückt.
+Kerzenglanz erhellte den düsteren Raum und ließ einen Abglanz auf den
+freudig erregten Gesichtern der Festteilnehmer.
+
+Ein üppiges Festmahl, ohne das in jener genußfreudigen Zeit ein Fest
+schwer denkbar war, leitete die Feier ein. Der Wein floß in Strömen,
+und die fremden Gäste, die flandrischen Kaufleute, die vertreten waren,
+konnten sich von der Freigebigkeit ihrer Wirte überzeugen. Auch das
+Volk draußen, welches den Turm umlagerte, erhielt seinen Anteil, und
+nach der Stärke des Jubels und freudigen Lärms zu urteilen, mußte es
+gleichfalls befriedigt sein. Der Rat saß zu oberst an besonderer Tafel.
+Die Reden, welche gewechselt wurden, galten der Wichtigkeit des neuen
+Bauwerks und dem Mann, dessen Tatkraft es in erster Linie zu verdanken
+war.
+
+Achtermann, der im Mittelpunkte der Feier stand, ließ die vielen
+Lobeserhebungen mit einem gewissen freudigen Gleichmut über sich
+ergehen; er wußte, was er geschaffen und weshalb er es geschaffen. Das
+neue Bollwerk bildete einen Markstein in der Befestigungskunst seiner
+Stadt, der Stadt, die er liebte, weil sie seine Heimat war und ihn zu
+Ehren und Ansehen gebracht hatte. Mit ihrer Wehrhaftigkeit, des war er
+sich in all dem Trubel sehr wohl bewußt, erhöhte er aber nicht nur ihre
+Sicherheit, sondern auch den Schutz des eigenen Besitzes, des Erbes der
+Väter, das er gut verwaltet und vermehrt hatte, so daß er es seinerzeit
+mit Stolz den Kindern überlassen konnte.
+
+Je länger die Feier dauerte, desto größer wurde die Ungeduld der
+Jugend, die den langatmigen und gewichtigen Reden der Alten nur
+wenig Geschmack abzugewinnen wußte. Hier und da hatten sie sich zu
+Gruppen zusammengefunden, liebreizende, weißgekleidete Jungfrauen und
+hübsche Jünglinge, denen das grüne oder schwarze Samtjäckchen mit
+den Längspuffen und den lang herabwallenden Ärmelschlitzen trefflich
+zu Gesicht stand, wie der Degen, auf dessen goldenen Knauf sie die
+Linke stützten. Alte Bekannte hatten sich gefunden, Johannes Hardt,
+der mit der Tochter des Bürgermeisters lebhaft plauderte und von
+Heinrichs Schwester Maria geneckt wurde, Venne Richerdes, die wie eine
+Lichtgestalt aus dem Schatten der Seitenwand mit Heinrich Achtermann
+heraustrat, gleichfalls in ein angelegentliches Gespräch versunken.
+Langsam schreitend kamen sie durch die Halle auf die anderen zu. In
+Marias Augen blitzte es schalkhaft auf, während die Tochter Karsten
+Balders verstimmt zur Seite blickte. Ihr Herz schlug dem schlanken
+Jünglinge entgegen, der an Vennes Seite in anmutiger, jugendlicher
+Kraft daherschritt. Bitter stieg es in ihr auf, als sie die beredten
+Blicke sah, mit denen Heinrich Achtermann auf die blühende Gestalt an
+seiner Seite blickte: Warum blieb ihr versagt, was jener mühelos, wie
+es schien, zufiel? -- Oder spielte sie nur die Spröde, um ihn um so
+sicherer an sich zu ketten?
+
+»Nun, Ihr Unzertrennlichen,« redete Maria sie mit liebenswürdigem Spott
+an, »wollt Ihr uns auch einmal die Ehre schenken?«
+
+Auf Vennes Stirn zeigte sich eine Falte des Unmutes. »Maria«, sagte sie
+nur vorwurfsvoll.
+
+»Nun ja, nur nicht gleich so empfindlich, Närrin«, fiel Maria ein.
+»Ist's denn eine Beleidigung von mir oder eine Sünde von Euch, wenn
+ich Euch nachsage, daß Ihr die letzten Male, da wir uns trafen, oft
+zusammenhocktet?«
+
+»Von mir ging das ›Zusammenhocken‹ sicher nicht aus«, erwiderte Venne
+empfindlich.
+
+»Die Jungfer Venne hat recht«, mischte sich da Heinrich Achtermann
+ein. »Ihr kann niemand nachsagen, daß sie sich aufdrängt. Ich will
+also reumütig alle Schuld auf mich nehmen; auch für heut bekenne ich
+mich schuldig. Übrigens ist es kein Geheimnis, was wir verhandelten.
+Ich möchte sogar Eure Hilfe in Anspruch nehmen, um ein unparteiliches
+Urteil herbeizuführen.«
+
+»Wir geloben feierlich, unbestechlich zu sein, selbst wenn es auf
+unsere, der Frauen, Kosten geht«, erklärte Maria übermütig, ehe noch
+die anderen ein Wort sagen konnten.
+
+»Das ist gut,« entgegnete Heinrich Achtermann, »denn um sie handelte
+es sich tatsächlich. Wir waren nämlich dabei, die hochwichtige Frage
+zu lösen, ob wohl die hiesigen Jungfrauen den neuen französischen
+Reigen, von dem Herr Dehard so begeistert sprach, nicht ebenso zierlich
+aufführen möchten wie die Pariserinnen. Jungfer Venne bestreitet es;
+ich plädiere dafür, daß sie es können.«
+
+»Natürlich können wir es«, rief Maria und andere junge Mädchen, die
+noch zu dem Kreise getreten waren. »Gebt uns nur einen richtigen
+Tanzmeister, dann werden wir es jenen schon gleichtun. Von Venne aber
+ist's eine Ketzerei, uns so herabzusetzen.«
+
+»Ich bekenne mich schuldig,« rief sie lachend, »aber ich dachte dabei
+nur an meine Ungeschicklichkeit.«
+
+»Ungeschicklichkeit, hört ihr's?« drohte Maria mit verstelltem Zorn,
+»ungeschickt sie, die uns immer voranschreitet im Reigen. Aber sie
+bekennet sich schuldig, und auf Schuld gehört Sühne. Wer nennt die
+Buße?«
+
+»Einen Kuß«, rief der Chor. »Wem?« fragte eine andere. »Uns allen«,
+hieß es von anderer Seite. »Nein, mir«, begehrte Achtermann kühn. »Also
+ihm,« entschied Maria, »denn er hat die Beleidigung gehört.«
+
+»Laß die Scherze«, sagte Venne unmutig. Aber Maria, welche die beiden
+zusammenbringen wollte, bestand darauf, auch daß die Buße heute abend
+noch gezahlt werden müsse. Da legte sich Heinrich selbst ins Mittel.
+»Ich schlage vor, daß wir den Ausgang abwarten. Zum Langen Tanz wird es
+sich zeigen können. Dann aber bestehe ich auf meinen Schein.«
+
+»Ich für meinen Teil erlasse Euch die Strafe schon jetzt«, entgegnete
+Venne spöttisch.
+
+Die Tafel war aufgehoben; die Jugend forderte nun ihr Recht. Die
+Paare traten zum Reigen an. Zunächst erschienen auch die Alten mit
+auf dem Plan. Wie die Ehre des Abends es gebot, führte den Reigen der
+regierende Bürgermeister, Karsten Balder. Ihm zur Seite schritt, der
+Auszeichnung sich wohl bewußt, die Frau des besonders zu Ehrenden, des
+Ratsherrn Achtermann.
+
+Das stattliche Paar fesselte nach Gestalt wie Gewandung die
+Aufmerksamkeit aller. Der strengen Kleiderordnung entsprechend,
+deren Übertretung durch eine Puffe oder eine Verbrämung man streng
+ahndete, durften nur diese vornehmsten der Frauen an sich zeigen, was
+die Kleiderkünstler an Glanz und Pracht für die Umrahmung weiblicher
+Schönheit oder Schwäche ersonnen. Gar stolz schritt die Patrizierin
+einher, zierlich geführt von dem hochmögenden Partner. Die Linke hielt
+den Überwurf, der auf der Unterseite blau abgefüttert war, zugleich mit
+dem gleichfarbigen bauschigen Kleide gerafft empor, um ein Schreiten zu
+gestatten. Goldene Sterne über das Ganze gesät, hoben sich leuchtend
+von dem Untergrunde ab.
+
+Die Büste war durch ein goldenes Band wirkungsvoll abgegrenzt. Um den
+weit ausladenden Halsausschnitt legte sich edles Geschmeide. Gleich
+kostbare Ketten hingen von der weißen, mit Goldstreifen verzierten
+Kappe herab, auf der ein goldener Bausch den stimmungsvollen Abschluß
+bildete.
+
+Der Bürgermeister war angetan mit einem schweren, dunkelverbrämten
+Samtmantel, mit breitem, umgelegtem Kragen seltensten Pelzwerkes. Die
+Linke hielt den weiten Mantel über der Brust verschränkt, indes die
+Rechte, auf deren Zeigefinger ein gewaltiger Siegelring im Flimmer der
+Kerze strahlte, die Dame zierlich geleitete.
+
+Langsam und stattlich bewegten sie sich dahin im Reigen. In bedächtigen
+Intervallen lud die Musik zum Schreiten, Sichneigen und Sichwenden,
+langsam, viel zu langsam für die Ungeduld der Jugend, die in verbotenem
+Übermut wohl das Kichern sich verbiß und sich heimlich stieß, in
+abfälliger Kritik über dieses oder jenes Paar der Würdigen, deren
+schlecht getragene Majestät der Bewegung ihre Lachlust reizte. Dann war
+dem Brauch Genüge geschehen, und das Alter wie die Würde zogen sich
+zurück zu der ihm besser anstehenden Art des Zuschauens. Die Herren
+verschwanden auch wohl in einer Ecke, einen ungestörten Trunk zu tun
+und in ernstem oder eifrigem Disput zu bereden, was ihnen am Herzen
+lag; wieder andere hockten an herbeigeholten Tischen, auf denen das
+Schachzabel aufgestellt wurde.
+
+Die Reigen, welche die Jugend aufführte, waren die alten, schönen
+Tänze unserer Altvordern, die der Persönlichkeit freien Spielraum
+ließen, sich im Rhythmus auszugeben. Ein Sichneigen, Sichheben und
+Drehen mit der Anmut und Geschmeidigkeit der Jugend, ein Sichfinden
+und Sichmeiden, das die Gefühle der jungen Herzen in liebreizendster
+Weise verkörperte. Die Stadtzinkenisten bliesen, die Geigen seufzten
+und jubilierten in einem Atem, die Flöten tirilierten, als wollten sie
+zerspringen vor Lust über so viel Jugend und Anmut, die sich zu ihren
+Füßen im Saal im Rhythmus durcheinanderwand.
+
+Immer höher stieg die Lust, immer kühner wurden die Blicke der
+Jünglinge, hingebender die Bewegungen der Jungfräulein; Terpsichore
+sank die Leier aus der Hand, Bacchus drohte die Herrschaft zu gewinnen,
+da gab Karsten Balder das Zeichen zum Schluß des Festes. Ungestüm
+bat und drängte die Jugend, man möge noch ein kleines verweilen; das
+eigene Töchterchen Karsten Balders wurde zum Ansturm auf das väterliche
+Herz vorgeschickt, aber der Angriff scheiterte an seinem Willen. Sein
+unbeugsames »Nein« verhinderte, daß das schöne Fest wie so viele
+seinesgleichen in jener Zeit wilden Genußlebens in eine Bacchanalie
+ausartete.
+
+Sittsam brach man auf; die kalte Nachtluft verscheuchte die losen
+Geister, die im Saale die Vernunft zu unterjochen drohten. Die
+Jungherren geleiteten ihre Damen, die unter züchtig gesenktem Blick
+das Verlangen verbargen, das eben noch in ihnen aufgewallt war.
+Ehrbar klangen die Worte, die Ohren der begleitenden Eltern von
+der Wohlanständigkeit des Begleiters überzeugend. Ein geflüstertes
+Wörtchen, ein leise gehauchter und verstohlen gewährter Wunsch entging
+trotzdem ihrer Aufmerksamkeit.
+
+Heinrich Achtermann schritt an der Seite Vennes. Der Vater war auf
+eigenen Wunsch daheim geblieben bei der kranken Mutter, trotz des
+Widerspruches Vennes. Sie sollte nicht um die Freuden der Jugend
+betrogen werden, da sie schon mehr als ihre Freundinnen Entsagung üben
+mußte durch die Pflege der geliebten Mutter.
+
+An dem stillen Abend, den der Mann am Lager der Kranken verbrachte,
+kam manches zur Sprache. Auch der Besuch des Ratsherrn Achtermann
+wurde erörtert und sein Hinweis auf ein enges Band zwischen den beiden
+Familien.
+
+»Wir sollten dem Glück unserer Venne kein Hindernis in den Weg legen«,
+meinte die Gattin. »Im Schoße des angesehenen Achtermanns ist sie
+nach irdischer Voraussicht wohl aufgehoben, und wir können, wenn wir
+abberufen werden, beruhigt die Augen schließen.«
+
+Richerdes sah das wohl ein; auch gegen die Person des Bewerbers ließ
+sich nichts Ernstliches einwenden, wäre nur nicht die Bedingung des
+Ratsherrn gewesen. Auch hier riet die Frau zur Nachgiebigkeit. »Du
+hast doch selbst in letzter Zeit nicht selten über die zunehmende
+Unergiebigkeit der Grube geklagt. Wie nun, wenn zuletzt doch
+Achtermann recht behielte mit einem gänzlichen Zusammenbruch unserer
+Erwerbsquelle?«
+
+»Aber Karsten Balder«, warf Richerdes ein.
+
+»Ja, Karsten Balder ist der störende Flecken in dem Bilde«, gab sie
+zu. »Aber sein Triumph, wenn er's so auffaßt, sollte uns doch nicht
+blind machen gegen den eigenen Vorteil. Und wer weiß, ob wir ihm
+nicht doch zuletzt unrecht tun. Ich habe in stillen Nächten wohl
+darüber nachgesonnen. Wir können ihm keinen greifbaren Beweis seines
+Übelwollens nachweisen, und der Argwohn ist zuletzt ein schlechter
+Berater. Soll ich ehrlich sein, so weiß ich mich aus der früheren
+Zeit keines Zuges zu entsinnen, der auf Arglist oder Hinterhältigkeit
+hindeutet.«
+
+»Daß er mich gern gemocht hat,« fügte sie mit einem errötenden
+Lächeln hinzu, das ihr Gesicht seltsam verschönte, »ist doch keine
+Todsünde, die ihm für immer vorbehalten bleiben müßte. Und über die
+Enttäuschung wird ihm gewiß seine Stellung wie das Glück in der Familie
+hinweggeholfen haben.«
+
+»Nun gehst Du auch mit fliegender Fahne in des Feindes Lager über«,
+klagte Richerdes mit einer scherzhaften Resignation. »Da werde ich mich
+wohl auf eine ehrenvolle Kapitulation einrichten müssen. Nun wollen wir
+aber das schwerwiegende Gespräch abbrechen, das dich gewiß erregt.
+Ich will's beschlafen, Mathilde. Zuvor aber gib mir noch ein Weilchen
+Urlaub für den Schreibtisch. Die stille Stunde gibt mir erwünschte
+Muße, über Geschäftliches nachzusinnen. Bis dahin kehrt wohl auch Venne
+zurück.«
+
+Venne war in der Begleitung einer befreundeten Familie zu dem Fest
+gegangen. Als man sich von ihr verabschiedet hatte, ging sie mit
+Heinrich Achtermann allein auf der nachtstillen Straße dahin.
+
+»Könnt Ihr mir nicht sagen, Jungfer Venne, was Ihr gegen mich habt?«
+unterbrach Heinrich das anfängliche Schweigen. Dieses Mal war die Frage
+in einem Tone gestellt, dem alle leichte Neckerei fernlag.
+
+Venne hatte den ganzen Abend über auch unter den Wogen immer höher
+gehender, jugendlicher Lust und Freude ihre herbe Sprödigkeit bewahrt,
+trotz allen heißen Werbens von seiten Heinrich Achtermanns. Es war
+ihre Natur, die Gefühle des Herzens in sich zu verschließen. Nur ein
+flüchtiges Lächeln bei den Scherzen aus seinem oder fremdem Munde
+huschte auch über ihre Züge. Hätte sie gewußt, wie entzückend dieses
+Lächeln gerade ihr zu Gesicht stand und wäre sie eitel gewesen wie
+manche ihrer Gefährtinnen, so hätte sie diesen freundlichen Schimmer
+sich dauernd zu eigen gemacht.
+
+Venne war nicht kühl im Inneren, wie man ihr nachsagte und Heinrich
+Achtermann es den ganzen Abend empfunden hatte; sie verbarg nur unter
+dem Mantel jungfräulicher, spröder Ablehnung das warme Gefühl, um
+es vor fremden Blicken nicht zu entweihen. Auch in ihr pulste das
+Blut der Jugend, und sie hätte kein Weib sein müssen, wenn ihr nicht
+die offen zur Schau gestellte Huldigung des stattlichen, schönen
+Ratsherrensohnes geschmeichelt hätte. Und noch mehr regte sich in ihrem
+Herzen für den hübschen Gesellen, als sie sich jetzt noch selbst in
+ihrem Herzen zugestehen mochte. Sie standen vor ihrer Haustür. Die
+Frage Heinrichs zwang zu einer Antwort, und so wappnete sie sich mit
+doppelt kühler Zurückhaltung gegen eine unvorsichtige Äußerung.
+
+»Ihr fragt kühn und begehrt viel zu wissen, Junker Achtermann«,
+suchte sie ihn zurückzuweisen. »Ließ ich mir irgendeine Unhöflichkeit
+zuschulden kommen, so wäre mir's leid.«
+
+»Nein, daß muß Euch der Neid lassen, Jungfer Venne, darin laßt Ihr es
+nicht an Euch fehlen. Aber mir wäre es lieber, Ihr vergäßet Euch ein
+wenig und legtet einmal für einen Augenblick diese stolze Höflichkeit
+ab, wenigstens mir gegenüber.«
+
+»Und weshalb soll ich gerade Euch gegenüber mich bezwingen und von
+meiner Art lassen?« -- Kaum war die Frage dem Munde entflohen, als
+sie ihre Worte auch gern zurückgenommen hätte, denn sie mußten den
+Gefragten dazu bringen, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
+
+»Weshalb fragt Ihr? Weil Ihr in meinem Herzen wohnt als die Göttin, der
+ich diene, die ich anbete. Ahnt Ihr nicht, wie es in mir aussieht, wie
+mein erster und mein letzter Gedanke Euch gilt?«
+
+Venne unterbrach ihn. Um nicht schwach zu werden, nahm sie zum Spott
+ihre Zuflucht: »Die wievielte bin ich, der Ihr Eure Neigung gesteht?«
+
+»Venne,« erwiderte er mit nachdrücklichem Ernst, den die Leidenschaft
+durchzitterte, »höhnt mich nicht noch, wollt Ihr mich nicht zur
+Verzweiflung treiben. Wahr ist es, ich tändelte hier und da und
+tauschte zärtliche Worte ohne tieferes Gefühl. Ihr seht, ich mache
+mich nicht besser, als ich bin. Aber laßt mir auch Gerechtigkeit
+widerfahren; ich bin zuletzt nicht schlechter als meine Freunde
+und Altersgenossen. Was ich bisher trieb, war jugendlicher
+Gefühlsüberschwang, leichte Tändelei. Bei Euch aber ist es anderes.
+Glaubt es mir, glaube mir, Venne Richerdes, Du hast es in der Hand,
+mich selig zu machen für immer oder mich zu verderben. Trage die
+Verantwortung dafür, wenn Du kannst, stelle mich auf die Probe, prüfe,
+aber weise mich nicht für immer zurück.«
+
+In Venne quoll es heiß empor unter der Glut seiner Worte; ein Gefühl
+von Glückseligkeit durchschauerte sie. Es zog sie zu ihm. War das
+die große, große Liebe, von der die Dichter sangen? Weich wurde ihr
+Blick und senkte sich in seine Augen. Heinrich hatte ihre beiden Hände
+ergriffen. Leidenschaftlich erregt beugte er sich vor. Venne schloß
+die Augen, wie ein seliger Schwindel überflog es sie. Da ließ sich ein
+Geräusch im Hause hören. Sie entzog ihm ihre Hände und bat ihn: »Geht,
+daß man uns nicht sieht.«
+
+Leise öffnete sie die Tür, mit einem traurigen Blick wandte sich
+Heinrich Achtermann ab. Da traf ein Flüsterton sein Ohr: »Geht, ich
+warte, daß Ihr die Probe besteht!« und mit einem leisen Kichern huschte
+sie ins Haus.
+
+Heinrich Achtermann zog beglückt von dannen. Um die Probe war ihm nicht
+bang. Übers Jahr, so hoffte er, war Venne sein geliebtes Weib.
+
+
+
+
+Im Schefferschen Hause am St.-Ägidien-Platz herrschte weiter drückende
+Sorge über dem kleinen Kreise, denn noch vermochte auch der Arzt nicht
+zu sagen, wie die schwere Verwundung Erdwins verlaufen würde. Die Lunge
+war durch den Schuß gestreift, und die dicke Winterluft bereitete dem
+schwer Atmenden große Pein. Langsam nur gewann er unter der liebevollen
+Pflege von Mutter und Schwester die verlorenen Kräfte wieder. Tiefe
+Blässe lag auf dem eingefallenen, einst so blühenden Gesicht.
+
+Der alte Arzt war mit dem Erfolge seiner Kur nicht zufrieden und
+behauptete, es müsse noch etwas anderes, Seelisches sein, das die
+Heilung verzögere. Aber er erhielt auf seine Andeutung keine Antwort,
+denn den alten, ehrenfesten Handwerker mutete es, mochte er auch auf
+die Erfüllung seines Lieblingsplanes betreffs der Heirat mit der
+Nachbarstochter verzichten, wie ein ihm persönlich angetaner Schimpf
+an, daß im Herzen seines Sohnes ein hergelaufenes Mädchen, die Tochter
+einer fahrenden Frau, sich eingenistet habe.
+
+Die Mutter wurde unter einem inneren Zwiespalt hin und her gezerrt. Im
+Herzen stand sie auf der Seite ihres Mannes; auch sie konnte sich von
+dem übererbten Vorurteil nicht frei machen, obwohl Monikas bescheidenes
+Wesen und der Liebreiz ihrer Erscheinung ihren Eindruck auf sie nicht
+verfehlten. Auf der anderen Seite jammerte sie der Zustand des Sohnes,
+der sich in Sehnsucht nach Monika verzehrte. Lange verbiß er den
+Schmerz, aber zuletzt brach er sich doch in herben Worten Bahn.
+
+Von der Schwester hatte er vernommen, daß die Geliebte schon am ersten
+Tage dagewesen sei. Was die Schwester ihm nicht sagte, die Abweisung
+durch die Eltern, verriet ihm die Verlegenheit der Mutter, so oft er
+das Gespräch auf sie brachte, sowie des Vaters verschlossenes Gesicht.
+Wo Monika mit der Mutter Immecke lebte und wie sie hausten, konnte
+ihm wieder die Schwester berichten, die sie ohne Vorwissen der Eltern
+in der Badeleber Straße besucht hatte. Sie brachte die Grüße der
+Frauen mit und ihre herzlichen Wünsche, aber sie konnte den Anblick
+der Geliebten nicht ersetzen. Immer tiefer fraß sich die Sehnsucht in
+sein Herz, und größer wurde der Groll gegen die, welche ihm sein Glück
+vorenthielten. Zuletzt brach's sich über die Lippen Bahn der Mutter
+gegenüber.
+
+»Eure Pflege ist zu nichts nutze. Laßt mich lieber schnell sterben,
+als daß ich mich langsam zu Tode quäle. Ich liebe Monika und lasse
+nicht von ihr. Glaubt doch nicht, daß Ihr mit Eurem Pfahlbürgerstolz
+trennen könntet, was in jahrelanger, ehrlicher Freundschaft und Liebe
+zusammengewachsen ist. Wollt Ihr sie weiter von mir getrennt halten, so
+laßt mich lieber aus dem Hause schaffen zu mitleidigen Menschen, auch
+auf die Gefahr hin, daß ich dabei mir den Tod hole. So ertrage ich's
+nimmer lange.«
+
+Da griff der Mutter die Angst ans Herz, und sie versprach, mit dem
+Vater zu reden.
+
+Der brave Meister Scheffer war höchst ungehalten über die Zumutung
+seiner Lebensgefährtin, er solle die hergelaufene Dirne in seinem Hause
+aufnehmen. Immer wieder wies er darauf hin, daß es Landstreichervolk
+sei, dem sie die Tür öffnen wolle. Aber sie blieb fest, aus Angst um
+das Leben des Sohnes, und sie erreichte endlich, daß er, wenn auch
+ingrimmig und grollend, seine Zustimmung gab. »Aber mich laßt aus dem
+Spiele«, entschied er unerbittlich. »Ich will mit der Narretei nichts
+zu tun haben und gehe aus dem Hause, wenn das Mädchen kommt.«
+
+Monika kam. Meister Scheffer sah unbeobachtet durch ein Guckfenster,
+das auf der hofwärts gelegenen Werkstatt den Überblick über die
+Vorgänge auf der Hausdiele gestattete. Das Mädchen war nicht
+übel, sein Auftreten bescheiden, und ohne den Groll im Herzen und
+die Voreingenommenheit hätte er zuletzt wohl die eigenen Wünsche
+zurückgestellt; aber der Gedanke, was die in gleich strengen
+Anschauungen aufgewachsenen Nachbarn und Gildebrüder dazu sagen würden,
+verscheuchte die weiche Regung, und er verließ durch die Hoftür das
+Haus.
+
+Das Wiedersehen zwischen Monika und Erdwin gestaltete sich
+erschütternd, obwohl die Schwester sie auf das Aussehen des Kranken
+vorbereitet und sie dringend gebeten hatte, jeden Gefühlsausbruch zu
+meiden. Als sie in das Zimmer trat und das bleiche Gesicht auf dem
+Lager sah, das sich von den bunten Kissen doppelt gespenstig abhob,
+sank sie mit einem Wehelaut am Lager des Geliebten nieder.
+
+»Mein Erdwin, mein Einziger«, war alles, was sie unter verhaltenem
+Schluchzen hervorbringen konnte. Ein glückliches Lächeln huschte über
+das Gesicht des Kranken, und er reichte ihr die abgezehrte Hand, die
+sie mit Küssen bedeckte. Auch der Schwester rannen die Zähren über die
+Wange, und selbst die Mutter wischte sich mit einem Zipfel der Schürze
+die feucht gewordenen Augen. Sie sprachen nur wenig miteinander, aber
+die Blicke sagten den anderen, wie tief die Liebe im eigenen Herzen
+wurzele.
+
+Die Mutter trieb zuletzt zum Aufbruch, aus Sorge, die Aufregung möchte
+dem Kranken schaden. Monika mußte versprechen, bald wiederzukommen.
+
+»Gern,« sagte sie mit einem rührenden Lächeln, »wenn Deine Eltern es
+gestatten.«
+
+Die Mutter war schon halb gewonnen und wiederholte auch ihrerseits die
+Einladung. Als der Vater heimkam, erzählte sie ihm von dem Wiedersehen
+und riet ihm dringend zur Nachgiebigkeit, aber noch blieb er
+halsstarrig und verstockt; es mußten noch andere Bundesgenossen kommen,
+um ihn gefügig zu machen.
+
+Es waren einmal Heinrich Achtermann und Johannes Hardt, die des
+Fahrtgesellen nicht vergaßen.
+
+Johannes fand Beschäftigung im Schreibzimmer des Oheims, der Pleban
+an der St.-Jakobskirche und +Notarius publicus+ war. Er hoffte,
+demnächst in die Kanzlei des Rates einzutreten. Die erfolgreichen
+Studien wie der wichtige Dienst, den er der Stadt geleistet hatte,
+waren eine Empfehlung, die ihm den Weg zu dem vom Vater gewünschten
+Ziele bahnten. Er vergaß über den eigenen Plänen und Hoffnungen den
+treuen Reisegefährten und Jugendfreund nicht. Wenn sich die Gelegenheit
+bot, sprach er bei Scheffers vor und verbrachte ein Stündchen am Bette
+des Verletzten. So war er über den Zwist wohl unterrichtet, und er, der
+Monika selbst und ihre uneigennützige, selbstlose Liebe werten konnte,
+half, wo er konnte, den Gegensatz auszugleichen.
+
+Neben der Angst um die Wiederherstellung, dem Gram um die Verirrung,
+wie Meister Scheffer die Liebe des Sohnes zur Tochter der Immecke
+Rosenhagen immer noch nannte, war es auch die Sorge um seine Zukunft,
+wenn er gesundet sei. Daß Erdwin für das Handwerk nicht in Frage
+kam, stand zu befürchten. Aber was sollte werden? Sollte er wieder
+hinaus in das wilde Leben, zu dem ihm nunmehr auch die körperlichen
+Vorbedingungen fehlten?
+
+Johannes suchte die Eltern über diesen Punkt zu beruhigen. Wozu seine
+Bescheidenheit in eigener Sache nie ausgereicht hätte, das tat er
+für den Freund gern und freimütig. Er war schon beim Rate vorstellig
+geworden, man möge für den Verletzten, wenn er wiederhergestellt sei,
+eine Verwendung im Dienste der Stadt vorsehen.
+
+Heinrich Achtermann hatte schon am Tage nach dem Überfall bei den
+Scheffers vorgesprochen und mit herzlicher Teilnahme von der Schwere
+der Verletzung gehört. Sein Mitleid galt nicht nur dem unerschrockenen
+Helfer in der Not, sondern es rang hier ein Menschenkind mit dem Tode,
+das ihm als lieber Jugendgespiele und Genosse tausend lustiger Streiche
+besonders ans Herz gewachsen war. Der gutmütige und weichherzige
+Heinrich sah keinen Abstand zwischen dem Sohn des Schuhmachers und
+sich, dem Abkömmling eines alten Patriziergeschlechtes. Er war daher
+bedacht, dem Kranken alle Hilfe zu verschaffen, die der Reichtum der
+Eltern gestattete, und immer wieder wanderten Körbe mit stärkenden
+Mitteln in das Haus am Ägidienplatz. Als sich die ersten Anzeichen der
+Genesung einstellten, lag er dem Vater in den Ohren, dieser möge darauf
+bedacht sein, für die Zukunft Erdwin Scheffers zu sorgen.
+
+Es hätte des lebhaften Mahnens gar nicht bedurft, denn auch der
+Ratsherr war dem Burschen wohlgewogen, der seinem Einzigen so mannhaft
+zur Seite gestanden hatte. So konnte es nicht fehlen, daß auch der
+hochmögende Rat diesem Ansturm von verschiedenen Seiten ein geneigtes
+Ohr lieh.
+
+Der regierende Bürgermeister, Karsten Balder, der überzeugt war, daß
+man die Rettung des kostbaren Schriftstücks nicht zuletzt dem Mut
+und der Umsicht Erdwin Scheffers verdanke, sprach selbst im Hause
+des Meisters vor und teilte dem matt Aufhorchenden die Belobigung
+und günstige Gesinnung des Rates mit. Aber trotz allem kam man nicht
+weiter. Wohl hatte sich der Kranke inzwischen so weit erholt, daß er,
+auf den Stock gestützt, vorsichtig im Hause umherwandeln konnte. Indes
+das Rot der Gesundheit wollte noch immer nicht in die blassen Wangen
+zurückkehren, und der alte Lebensmut fehlte nicht minder.
+
+Monika litt noch mehr unter der gedrückten Stimmung. Trotz aller
+liebevollen Zärtlichkeit der Schwester Erdwins, obwohl auch die Mutter
+allmählich den Widerstand schwinden ließ und sie freundlich begrüßte,
+wenn sie, was nur selten geschah, kam, trug sie dennoch schwer an dem
+Gefühl, daß sie im Hause des Geliebten nur geduldet sei.
+
+Die eigene Mutter litt mit ihr unter diesem schiefen Verhältnis, und
+sie, die tatkräftige und entschlossene Frau, die durch einen langen und
+ehrbaren Lebenswandel inmitten des rauhen und lockeren Kriegslebens
+reichlich gesühnt hatte, was ihr etwa ihr eigenes Gewissen an
+jugendlichem Leichtsinn vorwerfen konnte, trug doppelt schwer an der
+Lage, die sie zur Rolle des untätig wartenden Zuschauers verurteilte.
+Sie sah, daß das Gesichtchen Monikas täglich schmaler und blasser
+wurde. Sie hörte nachts, wenn sie schlaflos auf ihrem Pfühle lag, die
+Seufzer des geliebten Kindes. Das hielt sie nicht länger aus.
+
+Immecke Rosenhagen hatte das Fähnlein des erschlagenen Hauptmanns über
+den Rhein und weiter bis Goslar begleitet. Sie war des unruhvollen
+Kriegslebens mit seinen Bildern wilden Blutvergießens und roher Sitten
+müde. Sie wollte ihre Ruhe haben auf ihre alten Tage, vor allem aber
+sollte ihre Monika eine Heimat haben. Daß dies Goslar sein müsse, kam
+ihr zunächst nicht in den Sinn. Aber ausruhen wollte sie hier von der
+Mühsal des Marsches. Wohin sie alsdann ihren Stab setzen würde, war ihr
+selbst noch verschlossen. In die Heimat, nach Salzwedel, zog sie nichts
+Besonderes. Die Eltern waren längst tot, nähere Verwandte lebten ihr
+dort nicht. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte sie dieses
+nicht zur Rückkehr dorthin verlocken können. Denn was ihr die Tage in
+Goslar verleidete, würde sie dort in der Beschränktheit der kleinen
+Stadt, wo man ihre etwas abenteuerliche Jugendgeschichte kannte,
+doppelt treffen.
+
+Immecke war entschlossen, Goslar zu verlassen, denn sie wollte
+nicht länger untätig zuschauen, daß ihr Herzblatt sich abhärmte und
+dahinschwand. Doch als sie Monika gegenüber eine Andeutung dieser Art
+fallen ließ, traf sie auf einen so entschlossenen Widerstand, wie sie
+ihn von der schüchternen Tochter nie erwartet hätte.
+
+»Ich weiche keinen Schritt von hier, ehe Erdwin nicht gänzlich
+hergestellt ist, und trifft ihn das Schlimmste, so soll sein Grab von
+meinen Tränen genetzt werden.«
+
+»Nun, dann weiß ich auch, was ich zu tun habe«, antwortete die Mutter
+ebenso entschlossen. »Ich gehe selbst zu dem verdrehten und in seinem
+Bürgerstolz überspannten Scheffer und halte ihm seine Sünden vor.«
+Monika erschrak und bat die Mutter, davon abzusehen, aber alle Einrede
+war vergeblich.
+
+Die Rosenhagens wohnten bei einer Witwe in der Badeleber Straße; von
+dort machte sich Immecke an einem der nächsten Tage auf den Weg nach
+St. Ägidien. Sie wollte zunächst im guten mit dem Scheffer reden, war
+aber entschlossen, die Sache zu irgendeinem Ende zu bringen, und dann
+sollte, scheiterte ihr Versuch, sie kein längerer Einspruch Monikas vom
+Aufbruch von Goslar fernhalten.
+
+Es öffnete ihr die Schwester Erdwins, die sie von einem Besuch in
+der Badeleber Straße her kannte. Die Mutter wurde gerufen und mit
+ihr bekannt gemacht. Dann gingen sie zu Erdwin hinein. Es war das
+erstemal, daß Immecke ihn seit dem Tage von Riechenberg wiedersah. Auch
+sie erschrak, als sie ihn erblickte, obschon das Schlimmste längst
+überstanden war.
+
+»Armer Schelm, wie haben sie Dir mitgespielt, aber nun heißt es
+schnellstens gesund werden, ich will das Meinige dazu beitragen und mit
+dem Vater sprechen.«
+
+Erdwin stimmte lebhaft zu, die Mutter widerriet ängstlich, doch Immecke
+war entschlossen: »Ruft ihn also.« Aber die Mutter warnte, Erdwin der
+Aufregung auszusetzen.
+
+»Gut, so suchen wir den Löwen in seiner Höhle auf«, sagte sie resolut
+und ließ sich von der Frau den Weg zur Werkstatt zeigen, wo Meister
+Scheffer wütend auf das Leder losklopfte, als solle es für alle
+Widerwärtigkeiten büßen, die ihm widerfuhren.
+
+Sie klopfte, und ehe noch der Meister »Herein« gerufen hatte, stand sie
+schon im Zimmer. »Guten Tag, Meister Scheffer.« Er tat sehr erstaunt,
+aber sie hatte mit ihrem scharfen Auge wohl das Gesicht gesehen, das
+sich vorhin bei ihrem Kommen an das Guckfenster preßte, und da die
+Frau einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte, durfte sie annehmen,
+daß er den Besuch kenne.
+
+»Wir kennen uns durch unsere Kinder,« ging sie auf die Sache los, »und
+ihretwegen komme ich.«
+
+Meister Scheffer fühlte sich höchst unbehaglich unter dem scharfen,
+prüfenden Blick der Frau, die da so mir nichts, dir nichts bei ihm
+eindrang. Er hüstelte verlegen und suchte an ihr vorbeizublicken, als
+suche er nach einem Bundesgenossen. Aber Immecke Rosenhagen kannte ihre
+Leute und ließ ihn nicht aus den Augen.
+
+»Meister Scheffer, ich bin zu Euch gekommen, um von Euch zu hören, was
+Ihr gegen mich und mein Kind habt. Daß ich sie Euch nicht aufdrängen
+will, brauche ich nicht zu sagen. Indes, ich will nicht länger zusehen,
+wie zwei Menschenkinder, die mir beide lieb sind, an Eurem Starrsinn
+zugrunde gehen. So oder so will ich Klarheit schaffen.«
+
+»Ihr kommt einem arg grob«, meinte er ausweichend. »Was ich für Gründe
+habe? Nun, es wären ihrer mehrere. Wir kennen uns zu wenig, und Ihr
+seid nicht von hier.«
+
+»Ist das alles, so ist das kein Grund, Eure Zustimmung zu versagen.
+Oder ist es bei Euch verboten, durch frisches Blut von draußen Eure
+Stockfischigkeit zu bessern? Mir scheint das sogar sehr vonnöten, wie
+Ihr selbst beweist«, fuhr sie in ihrer derben Offenheit fort.
+
+»Nun ja, das mag sein, aber es wäre da noch so manches ...«
+
+»Und unter dem ›Manchen‹ ist eines für Euch die Hauptsache, gesteht
+es nur ruhig zu. Wer nicht seßhaft, gilt in Euren Augen als fahrendes
+Volk, und ich im besonderen bin Euch wohl gar verdächtig wegen der
+Herkunft meines Kindes. Seid unbesorgt, sie ist im Ehebett geboren so
+gut wie Eure eigenen. Und hegt Ihr Zweifel, so lest hier den Trauschein
+des ehrenwerten Feldkaplans Carolus Wintinger.«
+
+»Ja, ich sehe schon, da ist alles in Ordnung«, ächzte Meister Scheffer.
+»Aber da wäre doch noch, ich meine, es gilt doch auch die eigene
+Reputation; da sind zum Exempel die Nachbarn, was sollten sie, was
+werden sie ...« Schneidend lachend fiel ihm Immecke ins Wort, indes die
+Stirn sich vor Zorn rötete.
+
+»Da wäre doch noch, da ist zum Exempel,« höhnte sie, »da ist das
+Marketenderweib, das sich erdreistet, vor Euch zu treten und den
+vermessenen Gedanken zu haben, als wäre sie, als könnte sie ... Pfui
+Teufel der Wohlanständigkeit, die ihr Genüge darin findet, braven
+Leuten die Ehre zu kürzen. Aber nun beruhigt Euch, jetzt will ich
+nicht. Macht's mit Euch und Eurem Gott ab, wenn Euer Sohn darüber
+zugrunde geht. Doch über eines will ich Euch noch beruhigen. Ihr hättet
+Eurer Ehre nichts vergeben mit meiner Monika. Mir haben mehr vornehme
+Herren die Hand gedrückt und dankbar geküßt, als Euch vielleicht zu
+Gesicht gekommen sind.
+
+Was wißt Ihr hier in Eurem satten Behagen von dem Leben und Nöten
+draußen, den Nöten Eurer eigenen Kinder, die hinauslaufen, weil Ihr
+ihnen die Enge hier zu unerträglich macht.
+
+Euer eigener Sohn rannte so davon vor Euch, Meister Pechdraht, weil Ihr
+bange waret, sein Horizont möchte den eigenen überschreiten, könnte
+über die Sicht Eurer Türme hinausreichen. So lief er davon wie so
+mancher gute, deutsche, ehrliche Knabe, der in die Fremde ging, um auf
+welschem Schlachtfelde für welsche Fürsten sein Herzblut zu
+verspritzen.
+
+Ich habe sie gelehrt, daß es ein Vaterland gibt, ein Deutschland, dem
+unsere Kraft gehören müsse, ich habe ihnen diese Sehnsucht in das Herz
+gepflanzt. Ich habe sie in die Arme genommen, wenn das Heimweh sie
+packte und schüttelte, ich habe ihre Wunden verbunden, die welsche
+Waffen ihnen geschlagen; ich habe ihnen die Augen zugedrückt und sie in
+welscher Erde betten helfen wie die Mutter ihr Kind, ich, die Deutsche
+den Deutschen. Das ist die Marketenderin Immecke Rosenhagen vom
+Regiment Holzendorf. Und nun lebt wohl, unsere Wege scheiden sich.«
+
+Sie war draußen, ehe sich der gute Meister Scheffer von seiner
+Bestürzung und Beschämung erholt hatte. Die Haustür flog zu, daß die
+Glocke ängstlich wimmerte. Grimmig lächelnd schritt Immecke dahin, der
+Badeleber Straße zu. Nun war es zu Ende, und nun hieß es, einen Strich
+unter die letzte Vergangenheit machen, für sich und für Monika.
+
+Als die Tochter sie ins Zimmer treten sah, wußte sie schon, wie
+der Besuch verlaufen war. Sie brauchte gar nicht zu fragen, die
+Mutter begann sogleich zu erzählen. Und sie schloß mit der barschen
+Aufforderung: »So, nun ist's Schluß. Ich habe das Meinige getan. Nun
+hat das Herz zu schweigen, und die Vernunft tritt an seine Stelle.«
+
+Monika war so verschüchtert, daß sie vorab keine Silbe zu antworten
+wagte. Aber in der Nacht brach der Kummer sich Bahn, erst in einem
+stillen Schluchzen, daß die Schultern erbebten, und dann, als die
+Mutter sie ansprach, in lautem Weinen, so daß Immecke ihr doch ein
+gutes, tröstendes Wort sagen mußte. Auch am anderen Tage stand indes
+ihr Entschluß noch fest, Goslar zu verlassen. Denn: ein rascher,
+fester Schnitt ist besser als ein langsames Sich-dahin-quälen, dachte
+sie. Einen Augenblick kam ihr auch wohl der Gedanke, das alte Handwerk
+wiederaufzunehmen; aber davon ging sie bald wieder ab, wenn sie Monikas
+sich erinnerte. Da wurde sie in ihrem Vorhaben schwankend gemacht durch
+Heinrich Achtermann, der bei Scheffers von Immeckes Besuch und ihrem
+Mißerfolg gehört hatte. Er ging zu den Frauen und machte ihnen einen
+Vorschlag, der sie in Goslar festhalten sollte.
+
+»Ich habe gehört, daß der >Goldene Adler< an der Gudemannstraße
+zum Verkauf stehe. Es ist eine gutgehende, achtbare Herberge, die
+ihren Mann ernährt. Wie ich Euch kenne, wäret Ihr wohl imstande, ihr
+vorzustehen. Ihr könnt Euch ja einen Schaffner halten. Wie Ihr es mit
+der Anzahlung halten wollt, weiß ich nicht, aber vielleicht ist da auch
+manches zu machen durch Bürgschaft, die Euch von meinem Vater nicht
+fehlen würde.«
+
+»Da seid ohne Sorge,« entgegnete Immecke, »ich bin nicht mittellos. Ich
+habe einen guten Spargroschen, ehrlich verdientes Geld, das anzunehmen
+sich kein Goslarer Bürger zu bedenken braucht. Auf jeden Fall danke
+ich Euch für Euren guten Willen. Ich will mir's überlegen und Euch
+Nachricht geben.«
+
+ * * * * *
+
+Die Einbürgerung ortsfremder Personen, für welche die neue Zeit aus
+parteipolitischen Gründen heraus alle Schwierigkeiten zu beseitigen
+bestrebt ist, konnte früher nur schwer erreicht werden, und Immecke
+Rosenhagen hätte mit ihnen nicht weniger, ja, vielleicht sogar noch
+mehr zu kämpfen gehabt, als sie sich entschloß, den Vorschlag Johannes
+Hardts anzunehmen.
+
+Wer das Bürgerrecht einer Stadt wie Goslar erhielt, gewann damit einen
+Kranz von Rechten auch wirtschaftlicher Natur, die eine Auslese der
+Zuwandernden als sehr berechtigt erscheinen lassen mußte, abgesehen
+davon, daß man in jener unruhigen Zeit, die schon in der Masse der
+eigenen Bürger Keime gärender Ungeduld und Mißstimmung auf vielen
+Gebieten barg, sich hütete, noch fremde Schößlinge, deren Wesen nicht
+genug zu erkennen war, in den eigenen Garten zu pflanzen. Der Nachweis
+dieser »Würdigkeit« ist ein Erfordernis, das sich bis in unsere Tage
+in der Stadt Goslar erhalten hat und beispielsweise heute noch von neu
+anzustellenden Beamten verlangt wird.
+
+Diese »Würdigkeit« hatte also auch Immecke Rosenhagen zu erbringen, und
+sie konnte das in einer Weise, die sich für sie zu einer glänzenden
+Genugtuung gestalten sollte. Als sie zum Rathaus beordert wurde, mußte
+sie sich dort zunächst einem Verhör in der Kanzlei unterziehen, das
+durchaus nicht nach ihrem Geschmack war. Der Schreiber behandelte sie
+mit einer ausgesprochenen Nichtachtung, und als sie dann selbst auf
+sich aufmerksam machte, versuchte man sie in ein förmliches Kreuzverhör
+zu nehmen. Aber da kannten sie Immecke Rosenhagen!
+
+»Euch Schreibersleute scheint die Neugier arg zu plagen, aber
+befriedigt sie an einem anderen Objekt als bei mir. Ich habe Besseres
+zu tun, als müßige Leute zu unterhalten. Ich will zum Bürgermeister
+Karsten Balder, und wenn Ihr den Weg nicht wißt, suche ich ihn mir
+selber.«
+
+Das war eine im Rathause geradezu unerhörte Art des Auftretens, noch
+dazu von einem Frauenzimmer. Aber sie hatte durchschlagende Wirkung;
+man wies sie zum Regierenden. Dort brachte sie unwillig sogleich ihre
+Ansicht über diese Art von Behandlung vor, so daß auch Karsten Balder
+sie erstaunt anblickte.
+
+»Ich soll also meine ›Würdigkeit‹ nachweisen,« hub sie dann an, »ich
+denke, das soll heißen, ob ich nicht gestohlen oder betrogen oder sonst
+eine Missetat auf dem Gewissen habe. Dieses hier wird Euch hoffentlich
+darüber beruhigen.«
+
+Damit überreichte sie ihm zwei Schreiben, eines von dem Feldobristen
+von Walsrode im Regiment Holzendorf und das andere von dem
+Generallieutenant und Befehlshaber der gesamten deutschen Knechte in
+burgundischen Diensten, Herrn Friedrich von Uslar.
+
+Beide bestätigten, daß Immecke Rosenhagen, Marketenderin im Regiment
+Holzendorf, nicht nur ein braves, ehrliches und tapferes Frauenzimmer
+sei, sondern sich auch besondere Verdienste um das Wohl und Wehe der
+deutschen Knechte erworben und ihnen allzeit hilfreich zur Seite
+gestanden habe. Sie verdiene höchste Achtung, und ihr Lebenswandel sei
+ein untadeliger.
+
+Karsten Balder durchlas die Schreiben, dann trat er auf Immecke zu und
+reichte ihr die Hand:
+
+»Immecke Rosenhagen, was die Herren hier von Euch schreiben, ehrt Euch
+mehr, als viele Eures Geschlechtes von sich sagen können. Ihr seid
+herzlich willkommen in Goslar. Ich wollte, wir hätten mehrere Eurer Art
+in unseren Mauern. Mit diesem Handschlag begrüße ich Euch als Bürgerin
+von Goslar. Nehmt es zugleich als einen Ausgleich für die kleine Unbill
+von vorhin, für die Ihr ja aber selbst gleich Buße auferlegt habt«,
+schloß er lächelnd.
+
+Freimütig blickte ihm Immecke in die Augen. »Ich danke Euch, Herr
+Bürgermeister Karsten Balder, und ich hoffe, Ihr werdet Euer Wohlwollen
+nicht zu bereuen haben.«
+
+So wurde die Marketenderin Immecke Rosenhagen Bürgerin der Freien
+Reichsstadt Goslar und Besitzerin des ›Goldenen Adlers‹ in der
+Gudemannstraße. Und es erweist sich noch, daß sie dem Bürgermeister
+Karsten Balder nicht zuviel versprach.
+
+
+
+
+Über die Berge des Harzes hielt der Winter noch seine eisenharte Faust
+ausgestreckt, obwohl der Februar zu Ende war. Wohl brausten hin und
+wieder die Stürme des herannahenden Frühlings durch den düsteren Tann
+und nahmen den ragenden Waldbäumen die ungeduldig getragene Schneelast
+ab, aber der nächste Tag verdarb, was sein Vorgänger gutzumachen
+versuchte, und die gleichmäßige, weiße Kappe deckte wieder Wipfel und
+Strauch. Im Dickicht lagerte das abgemagerte Wild, dem der Weg zu den
+kärglichen Äsungsplätzen durch die hartgefrorene Eiskruste versperrt
+war. Und manch edler Geweihte lag mitsamt den Gefährtinnen im Wundbett,
+weil der nagende Hunger sie auf die Nahrungssuche getrieben und die
+Läufe beim Durchschreiten der Schneekruste von dieser aufgerissen
+waren.
+
+Das Raubzeug fand an ihnen willkommene Beute. Und dennoch war auch bei
+diesen Schmalhans Küchenmeister. Nicht einmal ein Mäuslein lief dem
+leise durch den Wald schliefenden Fuchs in den Weg. Das Eichkätzchen
+saß ihm unerreichbar im warmen Kobel, und der Häslein gab es auch in
+guten Zeiten nur wenige im wilden, rauhen Gebirge.
+
+Meister Reinekes größerer Bruder, der Wolf, stieg in die Ebene herab
+und fiel an, was ihm in den Weg kam. Bis in die Landwehr drangen sie
+vor, und, was seit Menschengedenken nicht vorgekommen, einmal verirrte
+sich sogar einer von diesen frechen Gesellen durch ein Mauerpförtchen,
+das über Mittag ein Viertelstündchen offen gestanden hatte, in die
+Stadt. Dort fielen die Hunde ihn wütend an, und er büßte sein Leben
+unter ihren Bissen ein trotz wilder Gegenwehr. Er war ein lebendiges
+Zeichen dafür, wie groß auch die Not unter dem Getier des Waldes sein
+mußte.
+
+Mit Sorgen sah der Jäger den Folgen dieses unbarmherzigen Winters
+entgegen. Mit Sorgen blickte aber auch der Hausherr auf den ständig
+sich mindernden Vorrat an Spaltholz, das der nimmersatte Kamin mit
+gefräßiger Eile verlangte, wollte man nicht zähneklappernd im eigenen
+Hause sich der Kälte überliefern. Schlimm für die Armen, die ansonst
+auch im Winter ihren Bedarf an Leseholz sich im Walde sammeln konnten.
+Schlimm für alle, welche ihr Beruf aus der Stadt heraustrieb, wie
+die Erz- und Hüttenleute, welche im Granetal und anderen waldreichen
+Flußtälern die Erzroste bedienten. Es gab keine Möglichkeit, in den
+tiefverschneiten Forsten das nötige Holz zu fällen und zur Talsohle zu
+schaffen. Sie alle froren unfreiwillig schon seit Monaten, und der
+Hunger bleckte grimmig durch die kleinen Fensterscheiben ihrer Hütten.
+
+Am Rammelsberge wurde der Grubenbetrieb notdürftig aufrechterhalten,
+denn seitdem das Pulver aufgekommen war, kam man immer mehr von dem
+uralten Brauch ab, das Erzgestein, welches abgebaut werden sollte,
+durch Feuer zu rösten und mürbe zu machen für den Angriff mit Spitzhaue
+und Brechstange. Aber das gewonnene Erz konnte nicht verhüttet werden
+und lag als lohnzehrendes, totes Material in Halden vor dem Berge.
+
+Nur ein Teil der Menschen, die unter dem harten Joche des Winters
+litten, gewann ihm Freuden ab und wünschte, daß er noch länger sein
+Regiment ausübe: die Kleinen. Wenn sie der strengen Zucht des Magisters
+oder Schulmeisters entschlüpft waren, wenn sie der Aufsicht und den
+Mahnungen der Mutter auf einen Augenblick entwischen konnten, ertönte
+ihr Geschrei und Jubel auf der Straße. Wo immer ein Hang sich senkte,
+wo eine gefrorene Pfütze blinkte, da sausten sie auf den flachkufigen
+Bretterschlitten, auf umgekehrten Schemeln herab oder glitten auf des
+Schusters Rappen über die blanke Fläche in endlosem Kreislauf, einer
+den anderen anfeuernd und überschreiend. Mochte ein strenger und
+wohlweiser Rat, dessen Verbote sonst immer Beachtung fanden, noch so
+oft Erlasse gegen das Schlittern und Schlittenfahren in den Straßen
+geben, die Stadtweibel ihnen nachspüren, die Rangen lachten ihrer aus
+sicherer Entfernung und verschwanden nur um die Ecke, um an anderer
+Stelle das gesetzwidrige Spiel wiederaufzunehmen.
+
+In den Häusern der Bürger war man des hartnäckigen Gesellen gleichfalls
+überdrüssig, nicht nur, weil der Holzvorrat zu Ende ging und die
+Erwerbsquellen vor den Toren für manche versiegt waren, auch die Jugend
+sehnte sein Ende herbei. Der Winter brachte zwar für das gesellige
+Leben in der reichen Stadt manche Gelegenheit, einander zu sehen und
+zu sprechen, neben dem Verkehr in den Familien, aber nachdem die
+Hauptfeier, das Festmahl des neugewählten Bürgermeisters, der mit dem
+andern im Amte verbleibenden für das nächste Jahr regieren sollte,
+begangen war, hatte der Winter für die Jugend, die flügge gewordene,
+seine Reize verloren, und sie harrte ungeduldig ~ihres~ Festes,
+des ›Langen Tanzes‹.
+
+Er ging in seinen Anfängen bis in den Anfang des vierzehnten
+Jahrhunderts zurück und wurde um die Fastnacht gefeiert.
+
+In gewöhnlichen Jahren war er der Vorbote des Lenzes, auch in Goslar.
+Heuer freilich sah es trübe aus, da der alte Griesgram Winter immer
+noch sein hartes Zepter schwang.
+
+So gab er dieses Jahr auch nur ein klägliches Abbild der sonst dabei
+herrschenden Lust und Freude, denn die Kälte war just an dem Tage,
+auf den er fiel, grimmig. Die Jünglinge mochten ihr noch standhalten
+in warmgefütterten Wämsen, die Mägdelein aber scheuten die Teilnahme;
+denn welches Jungfräulein besitzt so viel Aufopferungsfreudigkeit, ein
+blaugefrorenes Näslein der Spottlust der männlichen Jugend auszusetzen.
+Gegen die Kälte konnte man sich auch schützen durch ein wärmendes
+Kolett, das, um die Schultern gelegt, den zarten Hals und die Brust
+schützte. Aber sollte man so das Geschmeide verdecken, das bestimmt
+war, die Schönheit der Trägerin zu heben. Und die duftigen Gewänder,
+die man sonst unter dem warmen Hauch der Frühlingssonne schon anzulegen
+wagen durfte, sie schieden für dieses Mal gänzlich aus.
+
+Nur das geringere Volk, das nicht so empfindlich gegen die Unbilden der
+Witterung war, ließ sich sein Recht nicht nehmen. An der Spitze gingen
+die jungen Bergleute. Mit Zithern, Geigen und anderen Instrumenten
+zogen sie musizierend durch die Stadt, aber gar oft setzte einer der
+Musikanten aus, um die klamm gewordenen Hände zu wärmen. Auch die
+Lieder klangen dünn durch die harte Winterluft. Natürlich fehlte das
+alte Spottlied nicht, das auf die von Kaiser Karl +IV.+ vollzogene
+Verpfändung Goslars an Graf Günther von Schwarzburg Bezug hatte:
+
+ »Kaiser Karolus hochgeboren,
+ Der Goslar hät vom Rike einst verloren,
+ Der Rammelsbereg hät einen silbernen Fot,
+ Darummen tragen wir einen frischen Moht.
+ Mit düssen hübschen Jünferlein
+ Maken wir von Tannen ein Krenzelein
+ Wents thaun andern Jahre,
+ Sau tanzen wir mit twei Paare.
+ Wie wilt woll darup denken,
+ Wie wilt öhn dat wieder schenken.«
+
+Da die Töchter und Söhne der vornehmen Bürger sich vom ›Langen Tanz‹
+dieses Mal fernhielten, konnte auch der Streitfall zwischen Venne
+Richerdes und Heinrich Achtermann nicht entschieden werden; aber man
+hoffte, das Versäumte zum Maienfest nachzuholen.
+
+ * * * * *
+
+Auch die Ostgänger aus Flandern waren dieses Mal durch den langen
+Winter in Goslar festgehalten worden, sobald jedoch der erste
+Lenzeshauch Wege und Stege von der winterlichen Sperre befreite, zogen
+sie davon. Während aber in der Ebene schon die Boten des Frühlings
+Einzug gehalten hatten, zeigten die Berge im Hintergrunde noch Reste
+des winterlichen Schmuckes. Der Tann ragte düster starr gen Himmel,
+der Frühlingswind wehte ungehemmt durch das kahle Geäst der Eichen im
+Gosetal.
+
+Doch mählich regte sich's auch hier im Harzwalde. Überall rieselten
+die Bächlein des Schmelzwassers geschäftig zu Tal. Wo die Sonne
+lockte, wagte wohl ein Hälmlein sein duftiges Grün zu zeigen, hob ein
+Buschwindröschen das zierliche Glöckchen, um es zum Frühlingsgeläut zu
+stimmen. Die Meise hüpfte geschäftig durch das Gezweige des einsamen
+Tanns. Das Eichkätzchen verließ sein Winterquartier, fand, daß es recht
+mager geworden sei durch das lange Fasten. Es rasselte muckernd vom
+Stamm herab, um zu sehen, ob nicht ein Tannenzapfen übriggeblieben,
+um den nagenden Hunger zu stillen. Und wieder über ein kleines, da
+steckten die Tannen und Fichten grüne Spitzen auf und rote Kerzen zu
+Tausenden: Nun war der Lenz auch hier zur Macht und Herrschaft
+gekommen.
+
+Maiengrün, Maienduft, welch unnennbarer Zauber umschließt das Wort.
+In den Tälern zu Rudeln vereint, im düsteren Tannenforst einzeln sich
+zum Lichte durchbrechend, grüßen die Birken von den Hängen mit ihrem
+ersten duftenden, hellgrünen Laub. Lenzesboten, sie sind's auch heute
+noch im winterharten Harz. Erst wenn die grünen Buschen und Bäume die
+Straßen und Häuser schmückten, ist dem Harzer das Bewußtsein ins Herz
+gepflanzt, daß der Frühling wirklich eingezogen ist.
+
+In Goslar schickte man sich an, das Fest der Maienkönigin zu begehen.
+Draußen vor dem Tore, aber im Schutze der Landwehr, erhoben sich
+lustige Zelte, mit Maien geschmückt und mit Teppichen behängt; von
+ihrer Spitze flatterten lustig die schwarzgelben Wimpel.
+
+Am Nachmittage zog die Jugend aus, die Mägdelein im duftigen
+Sommergewande. Die Jünglinge in prächtigen, enganliegenden Seidenwams,
+das Federbarett kühnlich auf dem Haupte, boten zwar der strahlenden
+Sonne ein willkommenes Objekt, aber kühn und zuversichtlich schritten
+sie an der Seite ihrer Dame einher. Lustig ließen die Stadtmusikanten
+ihre Weisen erklingen. Auf dem Plan vor dem Rufzentore sollte sich's
+entscheiden, wem heuer die Krone der Anmut und Schönheit zuerkannt
+werden würde.
+
+Die Alten, die Väter namentlich, zogen sich auf dem Festplatze
+alsogleich in die Zelte zurück, in das eigene, das des Nachbarn oder in
+die, welche zur öffentlichen Bewirtung der Gäste harrten. Die Jugend
+aber bewies, nach Geschlechtern getrennt und im bunten Durcheinander
+der Jünglinge und Mägdelein, daß der lange Winter die Geschmeidigkeit
+der Glieder und die Anmut der Bewegung nicht hatte ertöten können.
+
+Die Reigen lösten einander ab, und auch der neue französische
+Tanz wurde von einem kleinen auserlesenen Kreise vorgeführt. Ein
+durchreisender Tanzmeister aus Paris war in Goslar angehalten worden
+und hatte sein Bestes getan, um die Pariser Grazie auch im rauhen
+Deutschland nicht ins Gegenteil verkehren zu lassen. Durfte man seinem
+Urteil glauben, so tanzte die Goslarer Jugend dieses zierliche Menuett,
+das, aus dem schönen Poitou stammend, in Paris eine veredelte Gestalt
+erhalten hatte, trotz einem Pariser und einer Pariserin.
+
+Heinrich Achtermann war der Partner Vennes. Voller Entzücken hingen
+seine Augen an ihr, die die verkörperte Lieblichkeit und Grazie
+schien. Bei den Reprisen fand sich auch wohl Gelegenheit, ihr ein Wort
+zuzuflüstern. Noch hielt sie ihn in Schranken mit einem unmerklichen,
+aber unwilligen Schütteln des Kopfes oder leicht gerunzelter Stirn;
+aber je höher die Wogen der Freude und Lust gingen, desto wärmer wurde
+auch ihr ums Herz, und ein schneller, froher Blick streifte ihrerseits
+den Gesellen.
+
+Als der Tanz zu Ende war, brach lauter Jubel los, und die umstehenden
+Bürger beteiligten sich ebenfalls wacker an dem Beifall.
+
+»Ein hübsches Paar, unsere Kinder,« flüsterte der Ratsherr Achtermann
+dem Bergherrn Richerdes zu. »Wie geschaffen füreinander. Und zum
+Sichfinden scheint es bei den beiden auch nicht mehr weit zu sein.
+Sollen wir abwiegeln oder helfen, Nachbar?«
+
+»Es schlüge den Tatsachen ins Gesicht, wollte ich Euch widersprechen,
+Ratsherr, und dazu bin ich als Vater nicht bescheiden genug. Gewiß,
+ein stattliches Paar, und was das andere anbetrifft, so wird unsere
+Zustimmung den beiden sicher nicht ungelegen kommen. Aber da ist noch
+manches zu reden.«
+
+»Gewiß,« fiel ihm Achtermann in die Rede, »doch ich hoffe, daß sich's
+ausgleichen läßt.«
+
+»Nachbar,« sagte darauf Richerdes nicht ohne Ernst, »die Aufnahme
+meiner Tochter in Eurem Hause ehrt mich. Aber auf eins laßt mich mit
+allem Nachdruck hinweisen. Ihr seid reich, ich demgegenüber kaum
+wohlhabend. Ich will nicht, daß meiner einzigen Tochter später aus
+diesem Mißverhältnis Ärger erwächst. Könnt Ihr mir das versprechen, so
+mag die Sache ihren Lauf haben.«
+
+»Ihr sprecht wie ein Mann, Richerdes, das ehrt Euch. Aber Ihr schickt
+Eure Tochter ja nicht mit leeren Händen. Wäre Venne arm, so würde
+ich aus demselben Grunde der Heirat widerraten; denn ist es schon
+bedenklich, wenn ein reiches Mädchen einen armen Schlucker freit, so
+taugt es niemalen und nimmer, wenn die Braut als Jungfer Habenichts
+einem reichen Mann die Hand reicht. Darüber seid also beruhigt. Könntet
+Ihr mich nur auch in diesem Augenblick befriedigen betreffs Eurer
+Gruben.«
+
+»Ich habe mir auch die Sache inzwischen durch den Kopf gehen lassen«,
+sagte Richerdes, »und finde, daß Ihr vielleicht nicht unrecht habt.
+Doch da ist noch manches Beding zu erfüllen.«
+
+»Das ist vortrefflich, Nachbar, das freut mich,« antwortete Achtermann,
+»das Weitere überlaßt nur mir. Sind wir über die Hauptsache im reinen,
+werden wir über Kleinigkeiten nicht stolpern. Nun aber kommt, hier ist
+unsere Arbeit getan. Wir wollen dem einen wie dem anderen einen edlen
+Trunk weihen. Seid mein Gast, Schwäher.«
+
+Sie traten in das Zelt Achtermanns ein, und bald saßen sie hinter dem
+Becher mit funkelndem Wein und pflegten freundschaftliche Zwiesprache.
+
+Auf dem Platze gingen die Reigen zu Ende. Noch war die Königin des
+Festes zu küren. Es gab kein langes Beraten unter den Richtern, wem sie
+den Preis zuerkennen sollten.
+
+»Venne Richerdes ist die Schönste, Venne Richerdes soll Maienkönigin
+sein!«
+
+Ein Jubel ohnegleichen erhob sich bei diesem Urteilsspruch. Freudig
+umdrängten sie die Freundinnen. Nur wenige standen mit einer Regung
+des Neides beiseite. Zu ihnen gehörte auch Alheid Karsten, die Tochter
+des Bürgermeisters. Nicht neidete sie Venne, daß sie die Schönste sein
+sollte; auch sie hätte ihr den Preis zuerkannt. Aber alles vereinte
+sich, um jene begehrenswert zu machen in den Augen der Männer, und
+dieses Lob heute trug noch mehr dazu bei, den von ihr heimlich
+Geliebten, Heinrich Achtermann, an sie zu ketten.
+
+In lieblicher Verwirrung hielt Venne dem Ansturm der Jünglinge und
+Freundinnen stand. Heinrich Achtermann trat als letzter zu ihr heran.
+
+»Nun, Königin, seid Ihr zufrieden? Die Herrscherin seid Ihr im Reiche
+der Schönheit, die Gebieterin im Bereiche der Grazie und Anmut. Nun
+werdet Ihr's glauben müssen, und nun begehre ich mein Recht.«
+
+Venne tat überrascht. »Euer Recht? Wofür?«
+
+»Muß ich Euch mahnen an den Abend im neuen Turm am Rosentore? Da wurde
+es abgemacht und von Euch zugestanden; würde das Menuett von Euch
+getanzt, gleich einer Pariserin, so sollte ich mir die Buße von Euren
+Lippen holen.«
+
+»Aber ich bin der Ansicht, daß der Richter irrte und falsch urteilte«,
+widersprach sie errötend.
+
+»Nicht auf Euch kommt es an, Venne, Euer Urteil ist befangen, Ihr seid
+Partei; ich halte mich an den öffentlichen Spruch und begehre mein
+Recht!« Er trat einen Schritt näher, als ob es ihm ankomme, schon jetzt
+sich die Buße einzulösen. Erschrocken wehrte Venne ab. »Aber Ihr wollt
+doch nicht hier vor allen Leuten ...«
+
+»Nein, Venne, holde Venne«, flüsterte er ihr mit heißem Blick zu. »Wenn
+ich Deinen süßen Mund küsse, soll kein neidischer Lauscher zugegen
+sein. Heute aber, heute abend noch wird's geschehen!«
+
+Erschauernd hörte Venne ihm zu. In seliger Ohnmacht ließ sie seine
+Worte über sich ergehen. Ja, sie wußte es, heute abend würde sie die
+Seine werden!
+
+Immer höher gingen die Wogen der Freude. In den Zelten herrschte
+Bacchus unumschränkt; seine Jünger hatten ihm geopfert, daß die Köpfe
+zu zerspringen drohten. Auch die Jugend war in einen wilden Rausch des
+Weines und der Freude gesunken. Die Besonnenen mahnten zum Aufbruch,
+und als die Schatten des Abends herabsanken, zog der lange Zug in die
+Stadt zurück in toller, ungebändigter Lust.
+
+Venne ging versonnen und schweigsam neben Heinrich, die Brust
+geschwellt von süßen Schauern. Es war schon dunkel, als die Trennung
+von Freund und Freundin auf dem Marktplatz vor sich ging. Nun
+schritten Venne und Heinrich still nebeneinander dahin. Kein Laut
+störte die laue, wunderbare Nacht. Als sie aber das Dunkel der
+Bulkengasse aufnahm, da riß Heinrich die Holde an sich und raubte ihr
+hundertfältig, was ihm doch nur einmal zustand. Selig seufzend ergab
+sich Venne dem Liebessturm.
+
+»Venne, meine einzige Königin, meine holde geliebte Venne!«
+
+Da durchbrach auch die Liebe bei ihr die lange gezogene und mühsam
+gehaltene Schranke.
+
+»Geliebter, mich dürstet nach Deinen Küssen!«
+
+In einem süßen Taumel vergingen die Minuten. Endlich löste sich Venne
+aus seinen Armen.
+
+»Wir müssen scheiden«, flüsterte sie, aber Heinrich widersprach
+ungestüm. »Habe ich so lange gedarbt, um Dich nach einem Augenblick
+schon wieder zu verlieren!« Da warf sie sich ihm in die Arme:
+»Heinrich, mein Einziger, ich liebe Dich, liebe Dich mehr, als Du
+ahnst. Aber schwöre mir in dieser seligen Stunde, daß Du mich nie
+verlassen willst; es bräche mir das Herz!« Ein heißer Kuß war die
+Antwort. »Du siehst die Sterne da oben am Himmelszelt; eher werden sie
+aus ihrer ewigen Bahn gerissen, als die Liebe zu Dir aus meiner Brust.«
+
+Aber dann kam doch der Abschied. In einem langen Kuß trank ihre
+Sehnsucht sich satt; Venne schlüpfte ins Haus. Zum ersten Male seit
+langem eilte sie an der Kammer der Mutter vorbei, ohne ihr noch gute
+Nacht zu wünschen; ihr Herz war zum Zerspringen voll von dem, was sie
+erlebt. Geräuschlos gewann sie ihr Stübchen. Doch eine wachte noch wie
+immer im Hause und kam, um ihr beim Auskleiden zu helfen. Katharine war
+es, die alte Magd, die sie als Kind schon gewartet hatte. Trotz des
+Widerspruchs Vennes machte sie sich daran, die Bänder zu lösen und die
+goldenen Schnallen der Schuhe zu öffnen. Versonnen lächelnd blickte
+Venne in die Weite, die Hand auf das ungestüm pochende Herz gedrückt.
+
+»Du bist so seltsam heute«, unterbrach die alte Vertraute die Stille.
+»Darf Deine alte Katharine nicht wissen, was Dich bewegt?«
+
+»Ach, Katharine, Du verstehst mich doch nicht, was soll ich Dir also
+bekennen?«
+
+Da entgegnete die Alte unwillig: »Ich soll Dich nicht verstehen, da ich
+doch Deine Regungen und Gefühle von Deinem ersten Tage an in Dir habe
+entstehen und sich regen sehen? Meinst Du, ich bin blind? Also, hat er
+endlich gesprochen, der Herr Heinrich?«
+
+Erschrocken blickte Venne sie an. »Aber woher weißt Du denn ...?« »Also
+habe ich doch recht«, fuhr Katharine unbewegt fort. »Seine Wünsche
+kenne ich von anderen, und was Du für ihn empfindest, war mir auch
+längst bewußt. Aber er soll sich hüten,« fuhr sie fast drohend fort,
+»sich Deiner unwert zu zeigen oder Dich zu kränken, dann komme ich über
+ihn.« Lächelnd, voller Zuversicht wehrte Venne ab: »Wie kommst Du zu
+solchem Argwohn, Katharine?«
+
+»Ich hatte einen bösen Traum. Aber es steht bei ihm, daß der Traum sich
+nicht erfülle.« Damit verließ sie die Glückliche.
+
+
+
+
+ Zweites Buch
+
+
+
+
+Vor den offenen Arkaden des +Collegio di Spagna+ lösten sich die
+Sänften und Karossen der Bologneser in ununterbrochener Folge ab und
+entleerten sich ihres lebendigen Inhalts. Schöne Frauen schlüpften
+heraus in kostbarsten, duftigen Gewändern, das liebliche Antlitz
+den gaffenden Zuschauern unter einem leichten Schleier verbergend.
+Würdenträger schritten die Stufen hinan in ihrer reichen Amtstracht.
+Würdige Gelehrte, Geistliche im schlichten dunklen Gewande, kühn
+blickende Jünglinge in der modischen Tracht der Zeit, sie alle hatten
+dasselbe Ziel: die Festgemächer in dem spanischen Kollegium der
+Universität, in denen heute, wie alljährlich, der neue Dekan seinen
+Amtsantritt festlich beging.
+
+Im Empfangssaale, dessen kristallene Kronleuchter das Gold der Decke
+wie das Marmorgetäfel der Wände widerspiegelten, wartete der Hausherr
+mit seiner Familie der Gäste und begrüßte sie, je nach Rang und Stand,
+mit besonderer Höflichkeit oder freundlicher Herablassung, aber immer
+mit der unnachahmlichen Zuvorkommenheit und Würde, die dem Spanier vor
+anderen eignet.
+
+Ein lebhaftes Stimmengewirr in vielen Sprachen durchzog bald den Raum,
+gedämpft indes durch die Rücksicht, die man sich und den anderen
+schuldete, um nicht als unhöflich aufzufallen.
+
+Das Festmahl, das in einem herrlich geschmückten, großen Saale vor sich
+ging, sah alles vertreten, was die alte Stadt an Anmut und Würde,
+an Reichtum und Gelehrsamkeit in ihren Mauern barg. An der Tafel
+wechselten die auserlesensten Gerichte, in den Kelchen funkelte edler
+Wein.
+
+Wo die Jugend saß, ging die Unterhaltung am lebhaftesten vor sich.
+Perlend flossen die Neckereien vom Munde der schönen Damen, mit
+witziger Anmut übten die Herren die Gegenwehr aus. Ernster floß
+der Rede Strom, wo Gelehrte über Fragen der Zeit das Wort führten.
+Hier schwärmte ein Jünger im Apoll seiner Dame von der Schönheit
+Petrarkischer Sonette vor, dort bewies ein Kriegsmann in glänzendem
+Gewande, daß sein Beruf der allein des strebenden Menschen würdige sei.
+
+Gisela von Wendelin mit ihren Eltern zählte zu den Gästen. Ihr
+Kavalier, der Sohn des Podesta, unterhielt sie lebhaft, aber sie
+schenkte ihm nur zerstreut Gehör. Ihre Gedanken eilten über die Alpen
+in die norddeutsche Stadt, wo der heimlich Geliebte, nie Vergessene nun
+schon seit langem weilen mußte. Noch hatte sie kein Lebenszeichen von
+ihm wieder erhalten. Und außerdem lastete es auf ihr wie ein Druck,
+wie die Vorahnung kommenden Unheils, ohne daß sie sich Aufschluß über
+ihre Gefühle zu geben vermochte. Ihre Blicke kreuzten sich mit dem des
+Vaters, der ihr in einiger Entfernung gegenübersaß. Gütig lächelnd
+nickte er ihr zu, da wuchs auch ihr wieder die Zuversicht.
+
+Die Freude des Abends stieg mit der Dauer des Festes; sie schimmerte
+wieder in den glänzenden Augen der Damen, sie erklang aus den frohen
+angeregten Gesprächen der Männer. Da ging noch ein letzter, einsamer
+Gast in das Haus. Unhörbaren Schrittes und ungesehen schritt er an der
+Reihe der Diener vorüber, ungesehen betrat er den Saal.
+
+Sein glühender Blick überflog die Gäste. Dann näherte er sich der
+Festtafel. Hinter der schönsten der Damen hielt er an und beugte sich
+zu ihr nieder. Sie erblich unter seinem Hauch, und der zarte Leib
+erschauerte in Entsetzen. Und weiter ging der Gast. Dieses Mal war
+ein würdiger Ritter sein Ziel. Der zuckte zusammen und griff nach dem
+Herzen, aber er behielt sein Geheimnis für sich. Und weiter schritt der
+Unheimliche und beugte sich hier und beugte sich da. Und wo immer sein
+Hauch das Antlitz eines Gastes streifte, da erblichen die Wangen und
+erlosch die Freude. Und dann ging der Fremde davon, wie er gekommen,
+ungesehen und ungehört von den Dienern und nicht erkannt von der Menge
+der Gaffer. Das Fest aber wurde abgebrochen, weil, unbegreiflich
+und unerklärlich, ein Unwohlsein die Gäste befiel, die der Fremde
+gezeichnet. Am nächsten Tage schon in der Frühe, da wisperte es in der
+Stadt und raunte und ging in laute Wehklagen über: »Der Schwarze Tod
+ist da, die Pest ist in der Stadt!«
+
+Wir nüchternen und klugen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts wissen,
+wo diese Geißel des Menschengeschlechts ihre Heimat hat, wenn wir ihrer
+auch noch nicht Herr geworden sind. Zwischen dem Tianschan-Gebirge
+und dem Altai, im fernen Asien, im Osten auf das Sandmeer der Wüste
+Gobi blickend, im Westen auf die Kirgisensteppe herabschauend, erhebt
+sich der Tarbagatai, das Murmeltiergebirge, nach dem Tarbagan, dem
+Murmeltier, benannt. Dieses Tierchen, das zu Millionen dort haust, ist
+der Träger des Pestkeimes. Und wenn es selbst dieser Seuche erlegen,
+wirkt noch sein kleiner Leichnam als Überträger an allem, was in seine
+Nähe kommt, Tier und Mensch. Die Menschen fliehen aus ihren Siedlungen
+und tragen den Krankheitsstoff zu ihren Nachbarn. Und alles muß der
+Schrecklichen dienen, was Bewegung hat, Wind und Wasser, um ihre
+Herrschaft auszubreiten.
+
+Unsere Vorfahren standen dem furchtbaren Würger in ohmächtigem Grausen
+und Entsetzen gegenüber; nichts anderes wußten sie ihr entgegenzusetzen
+als dumpfe Verzweiflung, wildes Wehklagen, brünstige Frömmigkeit oder
+tierische Lust. Wehe dem Ort, den diese Geißel überfallen, wehe der
+Stadt, in deren enge Gassen und dumpfe Häuser sie Einkehr hielt.
+
+Sie kam nicht ohne Vorzeichen, so wußte es das Volk: Geflügelte Rosse
+am nächtlichen Himmel, mit seltsamen Reitern auf ihren Rücken, zogen
+unter Horrido mit der Meute auf den Wolken dahin. Öffnete man einen
+Rosenapfel, so entwich daraus wohl eine winzige Spinne. Dann war die
+Pest nahe. Sie wurde von Teufeln und bösen Geistern in die Brunnen
+gepflanzt; auch schlimme Menschen, Hirten, Hexen, Zigeuner und Juden
+vergifteten das Wasser.
+
+Man suchte sie abzuwehren durch verdoppelte Frömmigkeit, Fürbitten der
+Heiligen und Wallfahrten. Aber eines guten Tages war der unheimliche
+Gast da. Wer es konnte, floh von der Stätte, wo sie einbrach, doch er
+war seines Lebens darum nicht viel sicherer; denn die anderen draußen
+erschlugen ihn, wenn sie erfuhren, daß er aus einem verseuchten Orte
+kam, um mit dem Träger die Krankheit am Vordringen zu hindern.
+
+Wehe, dreimal wehe aber den Kranken selbst und den Häusern, in die der
+Schwarze Tod Einzug gehalten! Sie wurden gezeichnet, versperrt, daß
+niemand hinaus oder herein könne. Der Kranke mit seinen Angehörigen war
+von aller Welt abgeschlossen, und sie konnten verhungern, wenn sich
+nicht eine barmherzige Seele fand, die ihnen heimlich Nahrung zutrug.
+
+In Bologna wütete die Seuche wie nie zuvor. Anfangs kündeten noch die
+Glocken, daß wieder ein Bewohner der Stadt ihr zum Opfer gefallen sei;
+aber dann schwiegen auch sie, denn ihr klagendes Gewimmer hätte sonst
+den Tag und die Nacht durchgellt. Die Stadt war tot. Vermummte Träger
+durchzogen mit Bahren und Karren die Straßen und lasen die Toten auf,
+die aus den Fenstern gestürzt wurden. Es lag auch wohl einmal einer
+unter ihnen, aus dem noch nicht alles Leben entflohen war: sie achteten
+des nicht, wer auf den Bahren und Karren lag, wanderte auch in die
+großen, mit Kalk gefüllten Gruben vor den Toren.
+
+Die Pest, die wie ein hungriges Raubtier sich auf die unglückliche
+Stadt gestürzt hatte, zog nach Monden wie ein satter Gläubiger davon,
+der dem armen Schelm den Rest der Schuld stundet, bis es ihn gelüstet,
+wiederzukehren, um sich auch das Letzte als verfallenes Pfand zu
+holen. Verödet lagen die Häuser, verlassen die Straßen. Familien waren
+ausgetilgt, Geschlechter erloschen. Noch wich der Nachbar dem Nachbarn
+aus, wenn er ihn von fern sah. Aber leise, leise regte sich doch die
+Hoffnung, daß der Würger gegangen, und langsam keimte die Freude, daß
+der eigene Leib nicht von der Geißel geschlagen sei.
+
+Giselas Vater war einer der ersten gewesen, welche dem grausigen Gaste
+auf seinen Wink folgten. Wenn das Wort nicht trügt, daß die Ängstlichen
+der Krankheit am ersten verfallen, so bewahrheitete es sich auch an der
+Mutter. Scheu hielt sie sich von dem einst so sehr geliebten Gatten
+fern, und laut ertönte ihr Jammern, als die ersten Anzeichen der Seuche
+sich auch bei ihr zeigten.
+
+»Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!« so gellte ihr
+klagender Ruf durch das Haus. Aber vergeblich erklang ihr Flehen und
+Wimmern, auch sie trugen die schwarzen Männer nach einigen Tagen davon.
+
+Nun war Gisela ganz allein in dem großen, leeren Hause. Sie hatte den
+Vater gepflegt, und sein letzter, dankbarer und trauriger Blick galt
+der treuen Tochter. Sie wich auch nicht vom Lager der Mutter, bis diese
+die Augen schloß. Unheimlich war es in dem öden Hause. Die Diener
+geflohen, die Mägde gestorben oder davongelaufen. Sie wäre verhungert,
+hätte ihr nicht eine fromme Frau aus dem Kloster der Ursulinen,
+erwiesener Guttaten eingedenk, heimlich Nahrung gebracht. Als die
+Sperre von den Häusern genommen wurde, als die Tore sich öffneten, da
+fand sie sich als eine einsame Waise unter Fremden; die Befreundeten
+und Verwandten tot, die Bekannten, soweit sie lebten, an fernen Orten.
+Hilflos, einsam wohnte sie im Hause der Eltern und hätte des Trostes
+mitleidiger Menschen doch so sehr bedurft.
+
+Was hielt sie noch in dieser Stadt, die ihr fremd geworden, wo die
+gespenstig leeren Häuser und Straßen ständig an das Unglück gemahnten,
+das sie betroffen? -- Da stieg die Sehnsucht in ihr auf nach dem fernen
+Deutschland, nach der liebevollen Base und die Erinnerung an den Mann
+im selben Lande, dem ihr Herz noch in gleicher Liebe entgegenschlug wie
+einst. Und sie faßte den Plan, der Freundin zu schreiben, sie um Obdach
+zu bitten, und so kam dieser Plan zur Ausführung.
+
+
+
+
+Nachdem das Gebirge die Oker aus der engen Haft entlassen hat, in der
+sie sich, vom Bruchberge herabhüpfend, zwischen steilen Bergen und jäh
+abstürzenden Felswänden dahinwand, lacht bei dem rauchigen Hüttenort
+Oker die Freiheit. Fröhlich eilt sie in die lockende Weite, und über
+dem Staunen ob der neuen, fremden Welt, entgleitet ihr alles, was sie
+tändelnd und spielend an sich hielt, glattrunde Kiesel und feinkörniger
+Kies. Denn die Wasserfrauen haben ihr ins Ohr geraunt, da draußen,
+unter den Menschen, müsse man sich ehrbar und gesittet benehmen, wolle
+man Achtung genießen.
+
+So wird aus dem wilden Gebirgskinde ein ruhig dahinziehendes Wasser.
+Aber hat es die Wildheit abgetan, so ist ihm dafür die Eitelkeit in
+die Glieder gefahren. Kokett sich drehend und windend, als wolle es
+mit eigenen Augen die rückwegige Schönheit bewundern, durchmißt es das
+Stück von Börßum bis nordwärts Braunschweig. So geht der Weg dahin
+zwischen flachbordigen Talwangen, bis es weiter nordwärts in die Heide
+kommt und nun sich vollends den Erwachsenen zurechnet. Unter dem
+ernsten Heidevolke ist auch die Oker ein stilles, ernstes Gewässer
+geworden.
+
+Doch bevor sie das beschauliche Dasein eines besinnlich und bedächtig
+seines Weges schreitenden Alten erreichte, hatte sie schon zu jener
+Zeit nützliche Arbeit unter den Augen der Menschen zu leisten. Vor der
+Festung Wolfenbüttel wurde sie in viele Arme zerteilt, die das Schloß
+der braunschweigischen Herzöge, wie die Festung selbst mit einem
+schützenden Wassergraben umzogen oder in der Stadt die Mühlen trieben.
+
+Gleiche Dienste fielen ihr auch in der einige Wegstunden nordwärts
+gelegenen Stadt Braunschweig zu. Suchte sich der Herzog gegen Angriffe
+von seinesgleichen zu schützen, so trieb die Braunschweiger bei der
+Sicherung ihrer Stadt, je länger, desto ausgesprochener, der Wille und
+Wunsch, dem eigenen Landesherrn Trutz bieten zu können. Wenn der Welfe
+auf die Höhe des Lechelnholzes ritt, eine halbe Stunde nordwärts seines
+eigenen Schlosses, konnte er den Turm von St. Andreas in die Lüfte
+ragen und die Stümpfe des Domes Sankt Blasius, wie das Heer der anderen
+Kirchen sich erheben sehen. Dann wallte wohl in ihm der Groll auf über
+die ungehorsame Tochter, die sich ihm verschloß und seine Gesandten
+abschlägig beschied auf sein an den Rat gerichtetes Ansinnen oder sie
+gar mit höhnischer Antwort heimschickte.
+
+Und dabei mußte er seinen Zorn in sich hineinwürgen, denn es gab
+kein Mittel, um die Widerspenstige zu zähmen oder zu überwinden, im
+Gegenteil, die Erfüllung dieses Wunsches rückte in immer größere
+Fernen, je mehr die Macht der Stadt stieg. Übel lohnte sie es den
+Nachfolgern Heinrichs des Löwen, der ihr die erste Befestigung gegeben
+und den prächtigen Dom errichtet hatte, so mochte der Nachfolger selbst
+urteilen.
+
+Aus der kleinen Siedlung, die der Herzog Bruno zur Zeit der
+Karolinger gegründet haben sollte, war ein mächtiges und volkreiches
+Menschenzentrum geworden. Die große Heerstraße, die nördlich des Harzes
+und hart am Südrande der menschenleeren, unwirtlichen Lüneburger
+Heide das Deutsche Reich von Westen nach Osten durchzog, wie die Wege
+nordwärts zu den Handelsplätzen der Nord- und Ostsee schrieben ihr die
+Rolle vor, die sie zu spielen berufen war. Der Anschluß an die Hansa,
+deren Quartierstadt im niedersächsischen Kreise sie bald wurde, hob ihr
+Ansehen und ihre Schönheit.
+
+Mit Goslar, zu dem es viele Handelsbeziehungen unterhielt, verbanden es
+freundnachbarliche Bande, die um so enger wurden, je mehr der Ärger des
+Herzogs auf sie selbst und sein Neid auf die reiche Stadt am Harz, ihr
+Bergwerk und ihre Forsten offenbar wurde und gleiche Gefahr für beide
+kündete.
+
+Der Reichtum seiner Bürger war fast sprichwörtlich geworden, und sie
+steuerten davon gern und willig nach den Schatzungen ihres Rates, um
+die Selbständigkeit der Stadt zu sichern. Wohl ausgestattete Arsenale,
+eine stattliche Zahl von Söldnern unter kriegserprobten Offizieren,
+denen im Falle der Not die wehrhafte Bürgerschaft sich noch zugesellte,
+hatte sie befähigt, den Herzögen auch im offenen Felde mehr als einmal
+standzuhalten.
+
+Groß war die Zahl seiner Einwohner, zu groß fast für die Enge der
+Mauern und die Erwerbsmöglichkeit. Daher zogen viele seiner Söhne
+hinaus in die Fremde, um als tapfere Landsknechte Beute und Reichtümer
+zu erwerben. Ganze Fähnlein marschierten aus den Toren, unter
+heimischen Hauptleuten. Viele gingen in den Wirren und Kämpfen auf den
+Kriegsschauplätzen in aller Herren Länder zugrunde. Manche kehrten
+zurück nach einem Leben der Wanderung und Mühsal, um in der Heimat,
+fern dem Kampfeslärm, ihre Wunden zu heilen und der Ruhe zu pflegen;
+wenige nur unter ihnen sahen ihre Träume erfüllt.
+
+Von den Offizieren stieg mancher zu hohem Ansehen. Der Name
+›Braunschweigischer Hauptmann‹ hatte draußen einen guten Klang. Mehr
+als einer von ihnen führte ein Regiment oder war gar zum General
+aufgerückt. Verschlang sie nicht der Krieg, so kehrten sie wohl zuletzt
+auch in die Heimatstadt zurück, um in behaglicher Ruhe von erkämpften
+Siegen und gewonnenem Ruhm zu träumen. Zu ihnen gehörte auch der Obrist
+von Walldorf, dessen Damen in Bologna den neugebackenen Doktor juris
+Johannes Hardt von dem Hause Wendelin Abschied nehmen sahen.
+
+Die Walldorfs wohnten in einem behaglichen Patrizierhause an der
+Echternstraße. Die Wallfahrt nach Rom hatte gute Dienste getan, und
+Glück und Zufriedenheit herrschten in dem gastlichen Hause. Johannes
+hatte einmal bei ihnen vorgesprochen. Er war schon seit Jahresfrist
+in den Dienst seiner Stadt getreten, und der Rat schickte ihn, in
+Erinnerung seiner bewiesenen Zuverlässigkeit, mit einem wichtigen
+Schreiben an die Braunschweiger dorthin.
+
+Wenn Johannes gehofft hatte, bei dieser Gelegenheit etwas von Gisela zu
+hören, so sah er sich in dieser Erwartung getäuscht, denn es war noch
+kein Lebenszeichen von den Wendelins über die Alpen gekommen, seit die
+Damen zurückkehrten.
+
+Trauer bemächtigte sich seiner, wenn er sah, wie die Erfüllung seiner
+Hoffnungen in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt blieb, während
+alle diejenigen daheim, denen er nahestand, dem Ziele ihrer Wünsche
+nahegekommen oder es erreicht hatten. Venne Richerdes war dem Heinrich
+Achtermann verlobt, und es schien nur noch eine Frage von kurzer Zeit,
+daß die Hand des Priesters sie zusammengab. Erdwin Scheffer hatte seine
+Monika heimgeführt und war wohlbestellter Weibel des Rates. Wenn
+die Zeit es erlaubte und die Gäste im ›Goldenen Adler‹ sie nicht zu
+sehr in Anspruch nahmen, schlüpfte Immecke Rosenhagen in die Wohnung
+des jungen Paares, um sich des Glücks ihrer Kinder zu freuen und das
+kleine Großtöchterchen auf ihren Armen zu wiegen, das das leibhafte
+Ebenbild ihrer Monika zu werden versprach. Allen hatte das Glück
+seine Tore geöffnet, nur ihm blieben sie verschlossen. Traurig und
+niedergeschlagen kehrte Johannes nach Goslar zurück.
+
+Wenige Wochen darauf traf in Braunschweig der Brief Giselas mit der
+erschütternden Kunde des Todes ihrer Eltern ein. Die Antwort, daß sie
+bei den Walldorfs herzlich willkommen sei, ging sogleich nach Bologna
+ab, aber es verlief doch der Winter, ehe sie selbst ankam.
+
+Richenza hielt es für selbstverständlich, an Johannes Hardt sogleich
+Nachricht von der bevorstehenden Ankunft der Geliebten gelangen zu
+lassen. Aber hieß es für ihn sich in Geduld fassen, bis der hoffentlich
+nicht ferne Tag gekommen, wo er sie selbst von Angesicht zu Angesicht
+schauen würde. Als dann der Ruf der Freundin kam, fand er ihn voller
+Ungeduld. Dieses Mal wartete er keinen besonderen Auftrag des
+Hochmögenden Rates ab, sondern er brach nach Braunschweig auf, sobald
+es sich einrichten ließ. Bevor er abreiste, sprach er mit den Eltern
+über seine Pläne und Wünsche.
+
+Des Vaters Absichten gingen andere Wege. Er hätte es lieber gesehen,
+daß der Sohn eine Einheimische freite, aus alter Familie, deren Einfluß
+und Ansehen dem Sohn gewiß auch für seine weitere Laufbahn förderlich
+gewesen wäre. Aber sein Zureden scheiterte an der Entschlossenheit des
+Sohnes, der erklärte, daß er Gisela zum Weibe wolle oder gar keine.
+Mit einem Seufzer gab jener zuletzt nach. Ob er einen besonderen Wunsch
+dabei zu Grabe trug, blieb Johannes verborgen.
+
+Noch war er freilich auch der Zusage Giselas selbst nicht sicher.
+Wenn er aber des Abschieds in Bologna gedachte, schwanden alle
+Zweifel. Zu offen hatte ihr Herz ihm damals entgegengeschlagen, und er
+durfte hoffen, daß kein anderer inzwischen von ihm Besitz ergriffen
+hatte, sonst hätte sie wohl kaum den Weg nach dem fernen Deutschland
+eingeschlagen.
+
+Die Brust geschwellt von seliger Erwartung und im Herzen tiefes Mitleid
+mit der vom Schicksal so Schwergeprüften, brach er nach der alten Stadt
+an der Oker auf.
+
+Johannes war erschüttert, als er der Geliebten zuerst entgegentrat:
+Was hatte die Zeit aus dem lebensfrohen, lieblichen Geschöpf gemacht,
+das er vor einigen Jahren in Bologna verließ? Ein blasses Gesichtchen,
+aus dem die dunkeln Augen von tiefen Schatten umlagert, Mitleid
+heischend und hilfesuchend ihn anblickten, tauchte vor ihm auf. Als
+sie den Langersehnten, immer Geliebten vor sich sah, den Zeugen ihrer
+glücklichen Jugend im trauten Familienkreise, kamen ihr die Tränen aufs
+neue. Ein stilles Schluchzen erschütterte ihren zarten Körper. Johannes
+trat zu ihr und ergriff stumm ihre Hände. Aber als sie allein waren, da
+fanden sie Worte. Vor ihm entrollte sich das furchtbare Bild der Seuche
+in Bologna, und er vernahm aus ihrem Munde, wie grausig das Ende ihrer
+Eltern gewesen war. Da hielt er nicht länger an sich. Sanft zog er sie
+an sein Herz und träufelte ihr süßen Trost in die schmerzerfüllte
+Brust.
+
+»Habe Vertrauen zu mir, Geliebte. Unter meinem Schutz wirst Du
+vergessen lernen, und die Vergangenheit liegt bald wie ein böser
+Traum hinter Dir. Mein Mütterchen wird Dich an ihr Herz schließen als
+zweite Tochter, und in der Schwester gebe ich Dir eine Freundin, die
+mir beistehen wird, den letzten Gram in Deiner Brust zu tilgen.« Da
+lächelte sie ihn unter Tränen an. Doppelt liebreizend war sie in ihrer
+rührenden Hilflosigkeit. Aber eine leise Röte der Zuversicht und Freude
+stieg in die blassen Wangen.
+
+»Oh, wie danke ich dem Himmel, daß er Dich mir schenkte. Ich weiß
+nicht, wie ich die furchtbare Bürde allein weiter hätte tragen sollen.
+Habe Dank mein einzig Geliebter, habe Dank!«
+
+Innig drückte sie sich an ihn, und Johannes besiegelte seine Schwüre
+mit einem heißen Kuß.
+
+Diesmal war der Abschied für ihn nicht so schwer. Er ließ die Geliebte
+in treuer Hut zurück. Es galt nur noch, das Nest zu bereiten für ihr
+Glück. Bald, so hoffte er und vertraute sie, hatte auch für sie die
+Zeit der Trennung ein Ende für immer.
+
+
+
+
+Neben den Beziehungen freundschaftlicher und politischer Art, die
+zwischen den Städten Braunschweig und Goslar bestanden, liefen Fäden
+hin und her vom Schlosse des Welfenherzogs zu Wolfenbüttel nach der
+alten Reichsstadt am Fuße des Rammelsberges, von denen der Rat nichts
+wußte oder die doch so geheim gesponnen wurden, daß er sie nicht
+zerschneiden konnte. Nach Wolfenbüttel und noch nach einer anderen
+Stätte hin reichten sie, die wiederum nur dem Herzog und seinem
+Vertrauten und einigen wenigen bekannt waren. Die aber hüteten sich
+weislich, mit ihrer Kenntnis hervorzutreten; denn es wäre ihnen nicht
+nur eine angenehm fließende Geldquelle dadurch verschüttet worden,
+sondern sie hätten sich auch der Gefahr ausgesetzt, daß sich Meister
+Rotmantel ihrer annahm, der in jener Zeit, wie seine Berufsgenossen
+andernorts, in Goslar sein gutgehendes Geschäft ausübte, darin
+bestehend, daß er die Neugier eines wohlweisen Rates über ihre
+Tätigkeit in Gegenwart von den Bevollmächtigten des Rats zu befriedigen
+suchte, wobei er nur durch freundliches, aber dringendes Zureden zur
+Antwort mahnte.
+
+Es gab da allerhand Mittel und Mittelchen, um auch die Schweigsamsten
+zum Reden zu bringen, von den Daumenschrauben bis zum Strecken des
+Körpers, wobei die Glieder allerdings aus ihren Gelenken gerissen
+wurden. Und half das noch nichts, so griff man noch zu gröberen
+Mitteln, die wir auszuführen Bedenken tragen, um nicht die nächtlichen
+Träume leicht erregbarer Leserinnen mit allerhand fragwürdigen
+Gestalten zu erfüllen.
+
+Im übrigen ging alles nach einer peinlich festgesetzten Ordnung, auch
+das Bezahlen. Der Henker wußte genau, was er nach getaner Arbeit vom
+Säckelmeister eines Hochmögendes Rates zu erwarten hatte oder was er,
+nachdem das Erforderliche der Frau Eheliebsten abgeliefert war, in der
+Herberge oder im Ratskeller aus dem angeketteten Becher sich zugute tun
+durfte.
+
+Zu solchen Personen, welche ihre Tätigkeit vor der Neugier des Rates
+ängstlich verbargen, gehörte zum Beispiel die Gittermannsche aus der
+Dröwekenstraße, wie ihr Vetter, der Schäfer Hennecke Rennenstich, der
+»Up den Ymminghove« Wohnung und Beschäftigung fand.
+
+ * * * * *
+
+Von dem Nordabhang des Lindthalskopfes, der seine steile Stirnseite
+dem tiefen Graben des Innerstetales zukehrt, hüpft eilenden Laufes der
+Steimkerbach herab. Die Sonne bekommt dieser muntere Geselle erst zu
+sehen, wenn er den Gebirgswald verläßt; denn bis dahin überschatten
+ernste Tannen und laubdunkle Buchen und Eschen sein schmales
+Bett. Verträumt blinzelt er auf und eilt dann, im vollen Lichte
+des Tagesgestirns und doch ungesehen, unter Lattich und hängenden
+Weidenbüschen durch die Wiesen dahin, bis unfern des Dorfes Lutter am
+Barenberge er sich der Neile vermählt.
+
+Frei geboren und frei geblieben bis zu der Stelle, wo er seinen Lauf
+beendet, darf das Wässerchen von sich rühmen; denn des Menschen Hand
+hat ihm kein Joch auferlegt. Dasselbe gilt auch von dem Dolgerbach, der
+in kurzem Lauf mit dem Kiefbach zusammen den Steimkerbach aufsucht.
+Aber der Dolgerbach war nicht immer frei. Vor Jahrhunderten, als noch
+das Dorf Dolgen stand, mußte er eine Mühle treiben, die unweit des
+Dorfes gelegen war.
+
+Damals war das Tal des Steimkerbaches noch düsterer und finsterer als
+heute. Urwaldartig deckte der Wald die Hänge und die Talsohle, und den
+Eingang am Waldessaum versperrte dichtes Gestrüpp. Nur der Hirsch,
+der zur Tränke zog, und der Eber, der in seinem Sumpf suhlte, störten
+die Stille, welche das Tal füllte. Menschen verirrten sich nicht
+dorthin, und selbst der herzogliche Jäger, der im Dorf Dolgen hauste,
+mied die Stätte, denn es war dort nach seinen eigenen Wahrnehmungen
+nicht geheuer. Wer Mut besaß, die Geister zu bestehen, die dort ihren
+Spuk treiben sollten, der fand an diesem Tal eine Stätte, in die ihm
+keines Fremden Neugier folgte. Und es gab solche Männer, die einen
+Unterschlupf fanden, wenn ihnen der Boden draußen in der Ebene zu heiß
+wurde, wilde Gestalten, denen das Wasser ein Feind und der Bartscherer
+eine unbekannte Größe waren.
+
+ * * * * *
+
+Man mußte wohl eine Stunde weit das Tal hinaufdringen und durfte ein
+zerschundenes Gesicht nicht scheuen, wollte man an das seltsame Heim
+dieser Menschen gelangen. Aber dann war man auch überrascht über das,
+was die Wildnis bot. Unter einem überhängenden Felsen, etwas abgekehrt
+vom Bache, erhob sich eine feste Hütte, aus Stämmen roh aufgeführt, die
+Fugen mit Moos verstopft.
+
+Kleine Öffnungen, die verschlossen werden konnten, ließen etwas
+Helligkeit in das Innere, aber man war unabhängig davon: Fackeln
+und Kerzen ersetzten das Tageslicht, und wenn man nicht allzu große
+Ansprüche stellte, konnte man es sogar wohnlich drinnen finden. Die
+Wände waren mit Teppichen verhängt; mit Teppichen verschloß man auch
+die Fensteröffnungen im Winter, noch hinter den vorgelegten Läden, um
+die kalte Luft abzuwehren. An den Seiten liefen Bänke entlang, vor
+denen festgefügte Tische standen. Ebenso rohgezimmerte Holzschemel
+vervollständigten die Inneneinrichtung, abgesehen von einem offenen
+Herde, in dessen Nähe eisernes Kochgeschirr, Bratpfannen und irdene
+Näpfe verrieten, daß man ihn zu benutzen verstehe.
+
+Der Rauch suchte sich einen Ausweg nach oben, wo und wie es ihm
+gefiel. Freiheit zu tun und zu lassen, was dem einzelnen beliebte,
+war überhaupt oberster Grundsatz in dieser Behausung. Wer schlafen
+wollte, erhob sich vom Tisch und suchte sein Lager auf Heu und Decken,
+wo es ihm gefiel und wo ein Platz sich bot. Nur ein kleiner Verschlag
+blieb davon ausgenommen, wo die Hausfrau ihr Lager aufschlug. Diesen
+Raum wagte ohne besondere Erlaubnis keiner der Gesellen zu betreten,
+denn die Eigentümerin war eine Respektsperson, selbst für diese wilden
+Männer.
+
+Ein seltsames Frauenzimmer, das mit ihnen hier in der Wildnis
+wirtschaftete. Mit Schönheit war die Frau nicht überladen. Aus
+verrunzeltem Gesicht blickten schwarze, scharfspähende Augen den
+Besucher an. Die beiden gelben langen Eckzähne, die ihr von dem
+einstmaligen Reichtum geblieben, trugen auch nicht gerade zur Erhöhung
+ihrer äußeren Reize bei.
+
+Hätte sie unter Menschen gelebt in einer Stadt, so wäre sie durch den
+Leumund der lieben Nächsten gewiß schon der Hexerei geziehen und dem
+hochnotpeinlichen Gericht wie dem Henker vorgeführt worden. Danach
+trug sie aber kein Verlangen, denn sie war Meister Rotmantel schon
+einmal überantwortet gewesen. Damals hatte man ihr allerlei Untugenden
+vorgehalten, wie zum Exempel, daß sie es mit der Ehrbarkeit nicht allzu
+genau nehme; sie war gestäupt und gebrannt worden, und man entließ sie
+mit der ernstlichen Vermahnung, immer eine gewisse Entfernung zwischen
+sich und der Stadt zu beobachten.
+
+Diesen Rat befolgte Luke Meyse ehrlich, denn ihr lag wenig daran, sich
+bei Meister Rotmantel und seinen Knechten noch einmal in Behandlung zu
+geben.
+
+Luke Meyse war wirklich einmal schön gewesen, sehr schön sogar, aber
+die Schönheit wurde ihr zum Verderben. Sie stieg ihr so sehr zu Kopfe,
+daß sie, ehrlicher, einfacher Leute Kind, meinte, sie sei zu etwas
+Höherem geboren, als des Nachbars Sohn Tyle zu freien. Es kam auch
+ein Höherer und nahm sich ihrer Schönheit an, ein richtiger Edelmann.
+Aber als er sie genossen hatte, warf er sie beiseite. Nun war sie auch
+Tyle nicht mehr schön genug, und sie ging mit ihrer Schande auf und
+davon. Es fanden sich auch nachher noch Männer, denen die Reste ihrer
+Schönheit zusagten, doch sie sank dabei immer mehr, bis der Henker ihr
+das Mal aufbrannte.
+
+Nun lebte sie schon seit vielen Jahren in dieser Wildnis, und ihre
+Gesellschaft waren Gesellen, die vor einer Berührung mit den Behörden
+oder mit Meister Rotmantel nicht minder bescheiden zurückwichen.
+Ihre Zahl schwankte je nach der Jahreszeit und ihren »Geschäften«.
+Nur selten erlitt sie auch eine plötzliche Einbuße, weil einem
+ihrer Genossen bei seinen »Geschäften« ein Stück Blei zwischen die
+Rippen gefahren war oder er seine Widerstandsfähigkeit gegen einen
+Hieb mit Schwert oder Hellebarde überschätzt hatte. Dann blieb sein
+Platz unbesetzt, oder ein anderer rückte an seine Stelle. Lange
+Gedächtnisreden wurden nicht gehalten. Ein Fluch über das Mißgeschick,
+und die Sache war abgetan. Kehrte einer oder der andere mit einer Wunde
+zurück oder litt er sonst an einer Gebreste, so brachte ihn Luke wieder
+zuwege.
+
+Langeweile litt Luke Meyse nicht; denn einer oder der andere der
+Gesellschaft war immer anwesend, mindestens der einarmige Brand
+Cramer, dem sie bei einem Zusammentreffen mit Bauern dieses wertvolle
+Körperglied zerschmettert hatten. Er war Schaffner des Hauses und
+Stallmeister in einer Person. Denn auch Pferde fanden in einem an den
+Felsen gelehnten Schuppen Unterkunft.
+
+Und dann gab es da noch ein junges Ding, Ylsebe genannt. Wie sie sonst
+noch hieß, wußte niemand. Man hatte sie an der Straße aufgelesen,
+wo sie neben der erschlagenen Mutter jämmerlich schrie. Sie war der
+Liebling Luke Meyses und der Verzug der ganzen Bande. Wild und lustig,
+mit krausem Haar und schwarzfunkelnden Augen, bildete sie das belebende
+Element der Hütte. Übergriffe gegen sie wußte Luke kurz und bündig
+abzuweisen. Wurde es Ylsebe zu langweilig im Steimkerbachtale, dann
+eilte sie wohl auf einen Sprung und einige Stunden nach der Dolgermühle
+zu ihrer Freundin, der roten Aleke Swarte, des Müllers Tochter, die ihr
+an Wesen gleichkam.
+
+In der Dolgermühle traf sie sicher auch noch andere lustige
+Gesellschaft, denn dort fand sich auch gemeinlich allerlei Volk
+zusammen, ähnlich dem im Tale des Steimkerbaches. Die Mühle war
+verwahrlost, die Bauern gingen mit ihrem Korn lieber zur entfernten
+Pöbbeckenmühle, wo sie schneller und redlicher bedient wurden. Der
+Müller zürnte ihnen deshalb nicht allzu sehr, denn an der Ausübung
+seines Handwerks lag ihm wenig: Wozu sollte er die Mahlgänge bedienen,
+nachts den Schlaf versäumen, wenn er auf andere Weise bequemer und
+lustiger zu Gelde kam? Denn lustig ging es her bei ihm bei Essen und
+Zechen und Würfeln. Die Besucher ließen sich nicht lumpen für die
+schönen Sachen, die ihnen des Müllers Weib briet oder der Müller selbst
+aus dem versteckten Keller hinter der Scheune vorsetzte. Aber das waren
+nur die Nebeneinnahmen.
+
+Den Hauptteil warfen die »Geschäfte« ab, die mit den Besuchern von
+ihm als vollgültigem Partner abgeschlossen wurden. Bei ihm wurde
+nämlich alles geplant, was heranreifte oder was sich zufällig bot.
+Wenn irgendwo in der Umgebung ein Überfall vor sich ging, ein Haus
+in Flammen aufloderte, ein reicher Bauer in seinem Bett erschlagen
+aufgefunden wurde, wenn die Städter mit ihren Herden in Seesen und
+Goslar geschatzt, ihre Wagenzüge angehalten und überfallen wurden, so
+war der Plan dazu sicher in der Dolgermühle ausgeheckt worden.
+
+Hin und wieder tauchte ein Mann auf, der ein besonderes Ansehen besaß.
+Daß er unter den Gesellen eine bevorrechtete Stellung einnahm, ging
+schon aus der Anrede hervor. Er wurde als »Herr Hermann«, auch »Herr
+Raßler« angesprochen. Raßler war ein Mann von gedrungener Gestalt,
+dem die wilde Entschlossenheit aus den Augen leuchtete. Das gebräunte
+Gesicht wäre hübsch zu nennen gewesen ohne eine tiefe Narbe, welche
+die Stirn fast wagerecht durchzog. Er besaß alle Eigenschaften eines
+Führers: scharfes Urteil, schnelle Beobachtungsgabe und einen großen
+Mut.
+
+Als Sohn eines Arztes in Hildesheim hatte er das juristische Studium
+ausüben sollen, wurde aber durch viele böse Streiche anfangs schon
+aus dieser Bahn herausgeschleudert und relegiert; doch er war kein
+Verbrecher von gewöhnlichem Schlag wie seine Leute. Er sah in sich
+ein Rachewerkzeug gegen die menschliche, verderbte Ordnung. Auf den
+Erwerb von Beute und Reichtum legte er nur insoweit Wert, als sie ihn
+befähigten, seinen Weg zu gehen.
+
+Deshalb, weil er nie einen besonderen Anteil beanspruchte und seine
+Hilfsbereitschaft jederzeit sich äußerte, erkannten sie in ihm die
+Führernatur, die ihnen Gewähr bot, daß die ausgeheckten Pläne meistens
+ohne große Opfer durchgeführt werden konnten.
+
+Hermann Raßler war kein Wegelagerer gewöhnlichen Schlages. Das erwies
+sich aus der Kühnheit seiner Pläne, wie der Art ihrer Durchführung. Er
+selbst trat nur bei den großen und wichtigen Sachen in Tätigkeit, die
+Kleinigkeiten überließ er seinen zahlreichen Helfershelfern. Wo sein
+eigentlicher Wohnsitz war, wußten nur wenige Vertraute. Er kam und
+verschwand, und niemand fragte, wo er bleibe. Daß er zur rechten Stunde
+zur Stelle sein werde, war ihnen Gewähr genug.
+
+Die kleinen Untaten fielen nicht eigentlich auf sein Konto; er duldete
+sie, weil er seine Leute bei Laune halten mußte. Meistens richteten
+sie sich gegen Menschen, die sich durch Habsucht oder eine ähnliche
+Untugend verhaßt gemacht hatten. Sie bedauerte er nicht; denn er gefiel
+sich je länger desto mehr in der Rolle des Schicksalswalters, der
+berufen war, über die Ungerechtigkeit der Welt zu Gericht zu sitzen.
+
+Raßler war ein weithin gefürchteter Bandenführer, und der Ruf seiner
+kühnen Streiche veranlaßte mehr als einen der Großen, sich seiner
+Dienste zu bedienen, um einem Gegner im geheimen Abbruch zu tun an
+seinem Eigentum. Kleine Städte und reiche Dörfer sollten ihm, so hieß
+es, um sich seiner Huld zu versichern, Tribut zahlen.
+
+Zu seinen »Kunden« zählte auch der Herzog von Braunschweig. Er bediente
+sich seiner gegen die Stadt Braunschweig, namentlich aber gegen das
+reiche Goslar, um die Bürger mürbe zu machen zur Annahme seines
+fürstlichen Schutzes. Raßler übernahm diese Aufgabe besonders gern und
+willig, denn mit dem Rate in Goslar hatte er ein Hühnchen zu rupfen.
+Die Goslarer hatten ihm nicht nur, wie bei dem Treffen im Hohlwege bei
+Riechenberg, wertvolle Leute erschlagen oder aufgeknüpft, sondern er
+war ihnen besonders deshalb gram, weil bei einer dieser Gelegenheiten
+auch sein einziger, wirklicher Freund, der gleich ihm aus der Bahn
+geriet, in ihre Hände fiel und schimpflich gerichtet wurde.
+
+Im Schlosse zu Wolfenbüttel war Raßler keine unbekannte Persönlichkeit,
+wenn er dort auch unter anderem Namen aus- und einging. Durch des
+Herzogs Spione in Goslar, die zum Teil recht angesehene Bürger waren,
+wie auch aus eigenen Quellen wurde Raßler über die Vorgänge in der
+Stadt immer im voraus gut unterrichtet. In seiner Kühnheit hatte er
+sich auch mehrmals selbst in die Höhle des Löwen gewagt, um an Ort und
+Stelle Erkundigungen einzuziehen. Allerlei geschickte Verkleidungen
+ermöglichten es ihm, ungefährdet und unerkannt in die Stadt zu
+gelangen und aus ihr wieder zu entweichen. Verrat von der Seite seiner
+Spießgesellen in Goslar brauchte er nicht zu fürchten, denn im Falle
+der Entdeckung war ihr eigener Kopf auch verwirkt.
+
+
+
+
+Um Magda Richerdes, die Ehefrau des Bergherren, stand es nicht gut. Auf
+eine geringfügige Besserung, kurz nach Vennes Verlobung, folgte bald
+eine Verschlimmerung ihres Zustandes. Der Arzt war ratlos, die Familie
+nicht weniger. Venne ging mit verweintem Gesicht einher; auch der
+Zuspruch ihres Verlobten vermochte sie nicht über die Angst und Sorge
+um das Leben der Mutter wegzubringen.
+
+Die Kunst der Ärzte jener Zeit stand nicht hoch. Soweit sie sich über
+den Rahmen bloßer Scharlatanerie erhob, reichte sie doch nicht im
+geringsten aus, um durch eine von Sachkenntnis getragene Diagnose und
+die danach anzusetzenden Mittel eine Krankheit zu bekämpfen, deren
+Wesen nicht durch äußere Merkmale sich von selbst verriet.
+
+Die Reinigung des Blutes durch Purganzen aller Art galt als Mittel zur
+Verhütung von Krankheiten, wie zur Erhaltung der Gesundheit. Schlimm
+wurde es erst, wenn der Aberglaube im Verein mit der Dummheit auf der
+Seite der Kranken diese einem der dunklen Kurpfuscher in die Hände
+gab, die mit albernen Beschwörungsformeln und Mitteln aus pflanzlichen
+und anderen Stoffen heilen wollten, deren Wirkung auf den Körper des
+Menschen durchaus nicht feststand.
+
+Überall im Lande saßen die Männer und Frauen, die auf die
+Unerfahrenheit und die Angst um die Erhaltung des Lebens ihrer
+Nächsten spekulierten und ein Wissen ärztlicher Art vortäuschten, das
+günstigstenfalls nichts nützte, oft aber die vielleicht noch heilbare
+Krankheit in lebenslängliches Siechtum verwandelte oder gar den Tod
+herbeiführte. Der Scharfrichter, die Schäfer, alte Weiber üblen Rufes,
+denen man Umgang mit dem Bösen, auch übernatürliches Wissen nachsagte,
+das waren die am meisten begehrten Berater der Kranken jener Zeit.
+
+Auch in Goslar gab es solche »Wissende«, und zu ihnen zählte die
+Gittermannsche in der Fröweckenstraße, wie auch der Schäfer Hennecke
+Rennenstich auf dem Ymminghove. Ihre Kunst und ihr Wissen gründeten
+sich auf überkommene Sprüche und Tränke aller Art, zu denen sie
+die Kräuter selbst suchten oder sich zu verschaffen wußten. Ihre
+Hauptberaterin und Lieferantin war Luke Meyse vom Steimkerbach, die
+einstmals von Goslar einen wenig befriedigenden Abschied nehmen mußte.
+
+Die Zeit hatte die Beziehungen zwischen ihr und der Gittermannschen
+nie ganz zerstört, und die geheimen Boten, welche Goslar von Zeit zu
+Zeit im Auftrage Hermann Raßlers aufsuchten, sorgten dafür, daß die
+Fäden zwischen diesen beiden würdigen Frauenzimmern und Freundinnen
+nicht zerrissen. Sie überbrachten auch jeweils Mittel, die von der
+Gittermannschen bei ihren Gewaltkuren benutzt wurden.
+
+Venne wie den Vater bedrückte es über die Maßen, daß der Mutter nicht
+geholfen werden konnte, und als der Arzt seine Ohnmacht erklärte, waren
+sie bereit, wenigstens Venne, auch andere Mittel zu nehmen, wenn es
+hülfe. Zunächst wurde Immecke Rosenhagen zu Rate gezogen, von deren
+heilkundiger Hand sie von den Hardts gehört hatten. Immecke kam, besah
+sich die Kranke, gab auch einige schmerzlindernde Mittel an, gestand
+aber im übrigen, daß sie des Leidens nicht Herr werden könne. Da
+verfiel die alte Katharina, die nächst Venne ihrer Herrin über alles
+zugetan war, auf den Plan, die Gittermannsche zu befragen, die ihr von
+guten Bekannten empfohlen wurde.
+
+Katharina mußte die Art der Krankheit genau beschreiben, doch erklärte
+jene, es sei äußerst wichtig, daß sie die Kranke selbst sehe und
+spreche. Da wurde die treue Alte vor dem eigenen Mut bange, denn sie
+handelte ja ohne Ermächtigung ihrer Frauen. Doch die Liebe zu diesen
+und der brennende Wunsch, der Kranken Heilung zu verschaffen, überwog
+zuletzt die Bedenken. Was sie aber selbst noch an Mißtrauen gegen die
+geheimnisvolle Frau hegte, verscheuchte sie durch die drohenden Worte:
+»Das sage ich Euch, Gittermannsche, tut Ihr meiner Frau ein Leid an, so
+habt Ihr es mit mir zu tun, und mit mir ist nicht zu spaßen.«
+
+Jene antwortete nur mit einem überlegenen Lächeln, als ob ihre Kunst
+für sie außer Zweifel stehe.
+
+Venne schalt die alte Magd tüchtig, als sie von dem Besuche hörte, und
+die Kranke weigerte sich, mit der Frau in Berührung gebracht zu werden,
+die doch eine Hexe sei. Aber das Leiden wurde schlimmer, und Katharina
+kam hartnäckig immer wieder auf die Sache zurück. Schließlich gaben die
+beiden nach, und man einigte sich, daß zunächst Venne mit der Getreuen
+-- im Dunkel des Abends natürlich -- die Gittermannsche aufsuchen
+solle.
+
+Die alte Vettel war von einer überraschenden Liebenswürdigkeit, denn
+ihr lag viel daran, in dem angesehenen Hause Zutritt zu erhalten.
+Auf Venne wirkte indes gerade diese Art widerlich und abstoßend,
+aber sie bezwang ihren Abscheu, um der Mutter zu helfen. Mit großer
+Zungenfertigkeit pries die Gittermannsche ihre Kunst und zählte
+tausend Mittel und Sprüche auf, die unfehlbar, schnell oder langsam
+helfen müßten.
+
+Venne wirbelte der Kopf von all dem Gehörten, aber sie gewann doch
+die Hoffnung, daß das Weib vielleicht die Heilung in der Hand habe.
+Es wurde also verabredet, daß sie auf besondere Botschaft hin kommen
+solle. Nun galt es noch, der Mutter endgültige Zustimmung zu erlangen.
+Der Vater wurde nicht ins Vertrauen gezogen; man hoffte es so
+einrichten zu können, daß er nichts von dem Besuche erfuhr. Später,
+wenn, wie Venne hoffte, eine Besserung eingetreten war, sollte auch er
+davon hören.
+
+Als die Gittermannsche an dem verabredeten Abend vorkam, hätte Venne
+ihre Zusage am liebsten zurückgenommen, denn sie sah hier in der
+sauberen Wohnung fast noch unheimlicher und schmutziger aus als in
+ihrer Behausung. Die Mutter tat ihr doppelt leid, die sich von diesem
+Geschöpf behorchen und befühlen lassen mußte. Aber die ließ alles so
+teilnahmslos über sich ergehen, daß sie die Einzelheiten gar nicht
+wahrzunehmen schien.
+
+Als die Megäre mit der Untersuchung fertig war, sann sie nach, wobei
+sie den schmutzigbraunen Finger an die Nase legte. Venne sah ihr
+angstvoll zu, als ob ihr eigenes Leben von dem Ausspruch abhänge. Dann
+kramte jene ihre Weisheit aus.
+
+»Der Fall liegt schwer; doch ich hoffe, das Übel mit der Wurzel zu
+fassen. Habt Ihr, Frau, etwa böse Neider oder eine Feindin, die Euch
+das Übel angetan hat? Denn ohne Zweifel seid Ihr versehen worden.«
+
+Frau Richerdes antwortete, sie sei sich nicht bewußt, sich jemandes
+Feindschaft zugezogen zu haben, auch wisse sie keinen Menschen, dem
+sie so Böses zutrauen könnte. Da legte sich aber Katharina ins Wort.
+»Ihr vergaßet das Zigeunermensch, das wir damals fortjagten, weil die
+Frau, als sie, Euch wahrzusagen, sich in die Stube gedrängt hatte, es
+verstand, sich ein seidenes Tuch anzueignen, das in ihrer Nähe lag. Ihr
+waret gutmütig genug, sie straflos laufen zu lassen. Aber ich erinnere
+mich noch genau des bösen Blickes, den sie auf Euch warf, und geheime
+Worte murmelte sie auch im Weggehen.«
+
+»Dacht' ich mir's doch,« sagte die Gittermannsche. »Die Zigeunerinnen
+verstehen sich besonders auf die Kunst des bösen Blickes, und einen
+Zauberspruch wird sie Euch auch noch auf den Hals geschickt haben,
+ohne daß Ihr es merktet. Da werden wir es gleich mit kräftigen Mitteln
+versuchen müssen, um der Sache Herr zu werden. Und es soll mit dem
+Teufel zugehen, wenn es uns nicht gelingt.«
+
+Bei dem Worte ›Teufel‹ fuhren die Frauen zusammen, und die ängstliche
+Katharina erklärte energisch: »Wir sind gute Christen und wollen mit
+dem Gottseibeiuns nichts zu tun haben.«
+
+»Ach, geht mir mit Euren Einwänden,« entgegnete die Gittermannsche.
+»Meint Ihr, ~ich~ habe mit dem Teufel zu tun oder will Euch ihm
+verschreiben? Aber was von ihm kommt, muß zu ihm zurück. Das werdet
+Ihr doch auch wohl gelten lassen, oder wollt Ihr's für Euch behalten?
+Ich werde Euch eine Brühe kochen, mit der Ihr Eure Schwelle besprengt.
+Daneben reibt Ihr der Kranken die Herzgrube mit der Salbe, die Ihr
+gleichfalls bekommen sollt. Die Salbe ist wunderlich zusammengesetzt,
+und ihr Geheimnis behalte ich für mich. Die Brühe aber mögt Ihr selbst
+kochen; also wisset, wie man's macht.
+
+Kauft in Gottes Namen eine Muskatnuß, ohne um den Preis zu feilschen,
+schneidet sie durch und zerstoßt sie mit Buchenasche, die im Sommer
+gewonnen ist. Kocht das Ganze in einem Eimer fließenden Wassers und
+gießet es an einem Donnerstag in Gottes Namen auf Eure Schwelle, indem
+Ihr also sprecht:
+
+›Dat et nu vorgae unde dem duvel nicht bestae. Im Namen des vaders
+unde des sones unde des hilghen gheistes.‹ Handelt genau nach meiner
+Vorschrift und wartet die Wirkung ab.«
+
+Eine Belohnung wollte die Gittermannsche nicht nehmen, nein, es war ihr
+nur um die christliche Barmherzigkeit zu tun, und sie freue sich, einer
+so ansehnlichen Frau zu helfen. Katharina aber sorgte dafür, daß ihre
+Schürze in der Küche mit allen möglichen nützlichen und schönen Sachen
+gefüllt wurde.
+
+So gewann die Gittermannsche Zutritt und Einfluß im Hause Richerdes.
+Hätte die gute Katharina geahnt, welchem Unheil sie damit die Tür
+öffnete, sie hätte jene nicht gerufen, selbst nicht um den Preis der
+Wiederherstellung ihrer Frau.
+
+
+
+
+Auf dem Vater Vennes lasteten noch mehr Sorgen als die Krankheit der
+Frau. Was er damals dem Ratsherrn Achtermann zugesagt hatte, war in
+Verhandlungen mit dem Rate der Stadt herangereift. Richerdes wollte
+sein Grubenrecht um zweitausend Mark lötigen Silbers abtreten. Es
+handelte sich noch darum, die genaue Abgrenzung seiner Gerechtsame im
+Berge markscheiderisch festzulegen. Solange ging der Betrieb auf seine
+Kosten weiter.
+
+Er konnte sich nicht verhehlen, daß der Ertrag immer geringer und
+zweifelhafter wurde, und es fiel ihm schwerer und schwerer, die Löhne
+und Gelder für Grubenholz aufzubringen. Der Silvane Bandelow, der ihm
+so viel von Freundschaft und nachbarlicher Gesinnung vorgeredet hatte,
+drohte mit der Einstellung der Holzlieferungen. Die Verhandlungen
+mit dem Rat kamen ihm dabei als Ausrede sehr gelegen. »Er habe ja
+abgeredet, zu verkaufen; ja, wenn Richerdes das Werk weiterbehalten
+wolle, aber so ...« Es mußte also Geld beschafft werden. Die Bekannten
+zeigten sich nicht geneigt, zu helfen; auch Achtermann gab unter
+allerhand Ausreden nichts her. Da blieb kein anderer Weg offen, als
+sich an die gewerbsmäßigen Herleiher zu wenden, wenn es auch vielleicht
+unchristliche Zinsen kostete.
+
+Der Zuzug der Juden nach Goslar wurde von dem Rat immer von Fall zu
+Fall und mit zweckdienlicher Zurückhaltung geregelt. Er hatte sich
+dabei bislang immer durchaus als ein guter Geschäftsmann gezeigt, der
+eine Leistung nicht tut ohne Gegenleistung. Das bedeutet für die
+vielgejagten und verfolgten Kinder Israels nichts anderes, als daß sie
+zahlen und nochmals zahlen mußten, um die Erlaubnis zur Ansiedlung zu
+erlangen. Und da der Kaiser auch für seinen Schutz noch eine besondere
+Steuer ihnen auferlegte, so ergab sich für diese Schutzjuden des
+Rates und des Kaisers die Pflicht, zu zahlen und zu zahlen, um nur
+ein Obdach zu haben. Was Wunder also, daß sie daraus für sich die
+Erlaubnis ableiteten, zu nehmen, wo sich's ihnen bot, das heißt, ihren
+christlichen Mitmenschen ihre Hilfe in Form von Darlehen um Zinsen zu
+gewähren, bei denen jenen leicht der Atem ausgehen konnte.
+
+Das Ghetto der goslarschen Juden war die Hokenstraße. Dort hausten
+sie zusammen, so viele oder so wenige ihrer in der großen Reichsstadt
+wohnten, gemieden von den Einwohnern, nur sich selbst lebend und ihren
+Geschäften. Verirrte sich ein Christ in diese enge, dunkle Straße,
+so geschah es sicher nur, um die Hilfe der Hebräer in Geldsachen in
+Anspruch zu nehmen.
+
+Es war dem ehrenfesten, angesehenen Bürger und Bergherrn Richerdes ein
+hartes Angehen, den Weg zu dem Juden Asser anzutreten. Dieser wohnte
+mit seinem Weibe Lusse in einem dunklen Hause nach dem Fleischscharren
+zu.
+
+Er trat dem ernsten Mann, der da in der Dämmerung ins Haus trat, mit
+all der unterwürfigen Geschmeidigkeit entgegen, die den Leuten seines
+Stammes eignet im Verkehr mit anderen, vor deren Stellung und Person
+sie sich noch eine Förderung oder Schädigung ihrer Interessen versehen.
+
+Auf dem Untergrunde seiner lebhaften, dunklen Augen glomm ein Schimmer
+wilder Freude, daß wieder einer der Andersgläubigen den Weg zu ihm,
+dem Verachteten, Geschmähten, fand in seiner Not und daß er auch in
+dessen Schicksal werde eingreifen können, um, wenn die Stunde gekommen
+war, den Anteil seiner Rache an dem verfluchten Christenvolk zu üben,
+zu der die ein Leben lang getragene Schmach und der durch Jahrhunderte
+vererbte Wunsch, den unauslöschlichen Haß zu löschen, trieben. Über die
+mißliche Lage seines Gegenübers, den er mit vollendeter Höflichkeit auf
+den Ehrenplatz nötigte, war er längst unterrichtet.
+
+Asser -- die Juden hatten zu jener Zeit noch nicht das Recht, sich
+andere Namen zuzulegen -- hörte den Bergherrn ruhig an. Nur das nicht
+bezwungene Spiel seiner Augen verriet, daß er bei der Sache war.
+Richerdes schloß fast barsch: »Also, Jude, willst Du mir Geld leihen
+oder nicht? -- Daß es Dein Schade nicht sein wird, weißt Du selbst am
+besten.«
+
+Auf einmal war Asser ganz zurückhaltender, kühler Geschäftsmann, wenn
+er auch in seinen Worten der geschmeidige, unterwürfige Jude blieb.
+
+»Herr, es ist mir eine große Ehre, die Ihr mir Unwürdigem wollt antun;
+aber ich fürchte, ich werde Euch müssen enttäuschen. Jahve hat meiner
+Hände Arbeit gesegnet, das ist wahr. Aber was Euch erzählt haben andere
+Menschen von meinem Reichtum, ist Fabel. Gott der Gerechte soll mich
+strafen an meinem Samen, wenn ich habe in Besitz, was Ihr begehrt. Ihr
+wißt, daß der Hohe Rat, daß der Herr Kaiser in Wien haben auferlegt den
+armen Juden, große, schwere Lasten zu tragen, als wie will heißen, daß
+wir müssen zahlen große Summen, nur daß wir dürfen wohnen an solchem
+Ort wie Goslar. Wie soll ich da kommen zu Geld, um es zu geben Ew.
+Edelgeboren!
+
+Auch ist mir bekannt, wie ich habe gehört, daß Eure Sach' nicht stehet
+zum besten, daß Euer Bergwerk nicht mehr lohnt die Kosten. Wie heißt
+da Geschäft, wenn nichts ist da, als womit man kann sich assekurieren
+gegen Verlust?«
+
+Richerdes schwoll die Ader über dieses Wort, die seine
+Zahlungsfähigkeit in Frage stellte.
+
+»Glaubst Du, verfluchter Jude, ich wäre zu Dir gekommen, um Dich zu
+betrügen?«
+
+»Gott soll mich bewahren, daß ich sollte haben solch schwarzen
+Gedanken,« antwortete der andere geschmeidig, »aber man wird doch
+dürfen sprechen vom Für und Wider, wenn es sich handelt um ein
+Geschäft. So muß handeln ein ehrlicher Jud, der ich bin gewesen all
+mein Leben lang, und so wird sprechen jeder Kaufmann, der etwas
+versteht vom Geschäft. Mag sein, daß man mir hat geschildert viel zu
+schwarz Eure Lage, aber ich muß rechnen, was spricht dafür und was
+spricht dagegen.
+
+Doch ich will Euch helfen, beim Gotte Abrahams, was steht in meinen
+Kräften. Wieviel wollt Ihr haben? Vielleicht, daß ich bringe zusammen
+das Geld von Freunden unter unseren Leuten. Doch müßt Ihr Euch begnügen
+mit weniger. Was wünschtet Ihr doch zu haben, günstiger Herr, daß ich's
+noch mal höre?«
+
+»Hundert Mark Silber«, entgegnete Richerdes kurz, doch etwas
+besänftigt.
+
+»Hundert Mark«, klagte der Jude. »Wo sollte ich hernehmen hundert Mark!
+Sagen wir fünfzig, fünfzig Mark. Das ist eine ansehnliche, glatte
+Summe, mit der Ihr werdet wirtschaften, bis daß es Euch geht besser
+oder Ihr habt Euer Geld vom Hochweisen Rat.«
+
+»Was weißt Du, Jude, von meinen Verhandlungen mit dem Rat?« fragte der
+Bergherr unangenehm überrascht. »Nun nichts für ungut, Ew. Gnaden«,
+wandte Asser demütig ein. »Aber man hört ja dies und jenes; es braucht
+ja nicht immer zu sein wahr, aber man weiß doch gern, was geht vor
+sich.«
+
+»Also, dann her mit dem Geld«, begehrte Richerdes barsch.
+
+»Gott der Gerechte,« jammerte da der Jude, »wie soll ich kommen zu so
+grausam viel Geld, und wenn ich wollte kehren um mein Haus vom Dach
+bis zum Keller. Ich muß es mühselig mir selbst borgen zusammen. Kommt
+also morgen oder übermorgen, es abzuholen. Und, daß es nicht werde
+vergessen, der Ordnung halber, bringt auch gleich mit das Geschriebene,
+daß ich mag ruhig schlafen.«
+
+»Es ist gut, Asser, ich werde morgen hier sein. Halte das Geld bereit,
+der Pfandschein soll Dir nicht fehlen.«
+
+ * * * * *
+
+Auch das Geld des Schutzjuden Asser vermochte den Lauf der Dinge nicht
+aufzuhalten. Das Erzlager in der Richerdesschen Grube lief immer
+spitzer zu, und es war der Tag abzusehen, wo sie gänzlich zum Erliegen
+kommen würde.
+
+Mit dem geliehenen Gelde konnte der Bergherr noch einige verzweifelte
+Versuche machen, durch Seitenschläge eine andere Erzader zu
+erschließen; doch auch diese Anstrengungen verliefen erfolglos. Nun
+drängte Richerdes selbst darauf, daß der Rat den Ankauf vollziehe, aber
+die Ratsherren waren auch über die Sachlage unterrichtet und trugen
+Bedenken, ein so unvorteilhaftes Geschäft für die Stadt abzuschließen.
+Vergeblich wies Richerdes darauf hin, daß der Verkauf ohne Vorbehalt
+hätte abgeschlossen werden sollen; vergebens auch bemühte er sich,
+darzutun, daß in vielen anderen Fällen schon neben einem sich
+totlaufenden Lager eine neue Ader gefunden sei, daß mindestens Aussicht
+bestehe, auf einer tieferen Sohle zu finden, was auf der jetzigen
+abgebaut sei; die Herren blieben bei ihrer Ansicht bestehen, daß der
+Vertrag noch nicht abgeschlossen sei und also die daraus für Richerdes
+erwachsenden Vorteile nicht gewährt zu werden brauchten.
+
+Was der Ratsherr Heinrich Achtermann ihm früher als drohendes Gespenst
+vorgehalten hatte, um ihn zu einem Verkauf gefügig zu machen, das trat
+jetzt trotz seiner Nachgiebigkeit ein: Richerdes, der angesehene Bürger
+und Montane, war ruiniert, zahlungsunfähig.
+
+Das lauteste Geschrei erhob der Schutzjude Asser, der sich um sein Geld
+sorgte. Jetzt, wo er glaubte, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen
+auf den einst angesehenen Bürger und Christen, zeigte sich der ganze
+aufgespeicherte Haß seines Volkes. Er raufte sich das Haar, nannte sich
+den unglücklichsten aller Söhne Abrahams und schimpfte seinen Schuldner
+einen abgefeimten Spitzbuben und Betrüger. Diese Tonart wurde ihm
+allerdings bald verleidet durch eine Buße von mehreren Mark Silber, die
+der Rat über ihn verhängte wegen Kränkung eines Christen und bis dahin
+unbescholtenen Bürgers.
+
+Er erhielt auch sein Geld, und zwar zahlte ihn der Ratsherr Heinrich
+Achtermann aus. Das geschah allerdings nicht aus christlicher
+Barmherzigkeit; er tat es auch nicht der nahen verwandtschaftlichen
+Beziehungen wegen, die durch das Verlöbnis nach der Anschauung jener
+Zeit als damit bestehend angesehen wurden. Er zahlte, weil er nicht
+wollte, daß der Vater der mit seinem Sohne verlobten Tochter in den
+Schuldturm wandere. Über die weitere Entwicklung der Dinge war er sich
+für seine Person völlig im klaren. Im übrigen sicherte er sich gegen
+Verlust durch ein Pfand auf das Anwesen des Bergherren.
+
+Richerdes war durch das Unglück völlig niedergebrochen. In diesen
+Tagen, da das Unheil wie eine schwere Wolke über dem Hause in der
+Bergstraße lastete, zeigte sich Venne als eine wahre Heldin. Sie suchte
+den Vater aufzurichten, und sie pflegte die Mutter, deren Zustand sich
+infolge der Aufregungen immer mehr verschlimmerte.
+
+Venne hatte niemand, um ihm ihr übervolles Herz auszuschütten, als
+die alte Vertraute ihrer Kindheit, die brave Katharina. Noch einmal
+wurde die Gittermannsche zu Rate gezogen, noch einmal versuchte es
+diese mit einer neuen Salbe, einem neuen kräftigen Spruch; aber das
+Ende war nicht aufzuhalten. Als die Blätter im lustigen Todestanze zur
+Erde wirbelten, schloß auch diese müde Erdenpilgerin die Augen für
+immer. Und es war zu erkennen, daß der Vater, an dem die Schmach der
+unschuldig erlittenen Verarmung und Erniedrigung zehrten, sie nicht
+lange überleben würde.
+
+Auch die tapfere Venne drohte dem ungleichen Kampfe mit dem widrigen
+Schicksal, in dem sie allein auf dem Plan stand, zu unterliegen. Die
+einzige Wohltat, die ihr in dieser Zeit widerfuhr, war die treue
+Freundschaft, welche ihr von den Hardts entgegengebracht wurde.
+
+Auch Immecke Rosenhagen bewies in diesen Tagen der Not, daß sie zur
+Stelle sei, wenn man sie brauchen konnte. Sie hatte längst erkannt, daß
+der Mutter nicht zu helfen war. Sie half mit einem stärkenden Trank,
+mit einer schmerzstillenden Salbe. Was die Gittermannsche anpries,
+war in ihren Augen und nach ihren Worten Schwindel. Sie redete den
+Frauen auch ab, sich mit der Person einzulassen, da man daraus
+Unannehmlichkeiten haben könne. Wenn Venne gegen ihren Rat handelte, so
+geschah es aus dem heißen Wunsche heraus, das teure, schwindende Leben
+so lange festzuhalten, wie sie konnte.
+
+Und wo blieb Heinrich Achtermann, der Verlobte Vennes?
+
+Seine Liebe war nicht geschwunden. Der Schmerz, der über dem süßen
+Antlitz Vennes lagerte, je trostloser der Zustand der Mutter wurde,
+machte sie ihm noch begehrenswerter. Doch die Pflege der Mutter nahm
+sie so in Anspruch, daß sie nur selten Gelegenheit fand, ihn zu
+sprechen. In heißem Mitleid schloß er sie dann in die Arme.
+
+»Mein armes Herz, was kann ich nur tun, um Dir die Last tragen zu
+helfen, die Dich erdrücken muß? Laß mir doch den mir gebührenden Anteil
+an Deinem Leid. Du weißt, geteilter Schmerz ist halber Schmerz.«
+
+Venne lächelte ihm dankbar unter Tränen zu. »Du kannst mir nicht
+helfen, jetzt noch nicht. Wer weiß, ob es nicht noch schlimmer kommt.
+Versprich mir nur das eine, daß Du mich nie verlassen wirst.«
+
+»Deine Worte verdienen eigentlich Strafe,« zürnte Heinrich. »Hältst
+Du mich für einen solchen Schurken, daß ich Dich im Unglück aufgeben
+könnte?«
+
+Beseligt nickte Venne ihm zu: Nein, sie war beruhigt, Heinrich
+Achtermann war einer solchen Sünde wider göttliches und menschliches
+Recht nicht fähig!
+
+Der junge Achtermann, dem die Ratsherrnwürde in der Reichsstadt Goslar
+so sicher zufallen mußte wie das Erbe seines Vaters, war von der
+Aufrichtigkeit seiner Worte selbst völlig durchdrungen. Er liebte Venne
+mit all der Innigkeit und Glut, mit der er zuerst die Holde an sein
+Herz gezogen hatte. Wer ihm gesagt hätte, er werde die Braut verlassen,
+den würde er als persönlichen Feind behandelt haben. Aber er konnte
+nicht hindern, daß der Vermögensverfall des Vaters seiner Venne auch
+ihn in seine Kreise zog. Es fanden sich gute Freunde, die ihm unter
+dem Mantel teilnehmender Worte das Gift ihres Hohnes einträufelten.
+Manche vermeintliche oder wirkliche Kränkung, die ihnen von Venne in
+der harmlosen Sieghaftigkeit ihrer jugendlichen Anmut unbewußt zugefügt
+war, manche Zurücksetzung, die ihretwegen neidische Freundinnen
+erfahren hatten, fanden jetzt Gelegenheit zu unschöner Vergeltung.
+
+Heinrich Achtermann widerstand tapfer; er wies alle Andeutungen, daß
+er Venne aufgeben müsse, entrüstet zurück. Aber der Stachel blieb doch
+sitzen, und die Überlegung in den stillen Stunden der Nacht konnte
+jenen nicht unbedingt unrecht geben: Hatten sie nicht recht, war es
+nicht eine sehr zweifelhafte Sache, die Tochter eines verarmten Mannes
+zu freien, welcher der schimpflichen Schuldhaft nur durch die Hilfe
+des Vaters entgangen war? Und würde es je gelingen, die Lästermäuler
+zum Schweigen zu bringen? -- alles Gedanken, deren Gewicht er nicht
+verkannte. Ein gewichtiger Helfer aber erwuchs denen, die aus Bosheit
+oder Rachsucht das Band zwischen ihm und Venne Richerdes zu zerreißen
+suchten, im Vater.
+
+Der Ratsherr Heinrich Achtermann hatte selbst den Freiwerber für seinen
+Sohn gemacht, so hätte ihm Richerdes entgegenhalten können. Er zeigte
+sich der Vereinigung geneigt, denn die hübsche Venne tat es auch ihm
+mit ihrem Liebreiz an. Zwar war der Bergherr kein reicher Mann, aber
+das brauchte bei der eigenen Vermögenslage kein Hindernis zu sein. An
+Ansehen standen ihm die Richerdes nicht nach; auch ihre Familie hatte
+der Stadt mehr als einen Ratsherrn und Bürgermeister gegeben.
+
+Das alles änderte sich indes, als der angehende Schwäher ein armer
+Mann wurde mit all den unglückseligen Begleitumständen, die wir
+kennen. Wandte er auch mit eigenem Gelde das Schlimmste von jenem ab,
+so kam der Montane als Verwandter für ihn nicht mehr in Betracht.
+Sein Patrizierstolz hätte es nie verwunden, daß man hinter der
+Schwiegertochter, wenn auch im geheimen, herzischelte als der Tochter
+eines fallit gewordenen Bürgers.
+
+Achtermann hoffte, daß der Sohn selbst so viel Einsicht haben
+werde, das Band zu lösen; er, der Vater, wäre dann wohl auch noch
+zu besonderen Opfern bereit gewesen, um die Angelegenheit möglichst
+geräuschlos zu regeln. Als er aber zum ersten Male mit Heinrich darüber
+sprach, brauste dieser auf und erklärte, er werde nun und nimmer
+die Braut im Stich lassen. Der Vater ließ ihn ruhig reden, in der
+Überzeugung, daß der Überschwang seiner Gefühle sich unter dem Einfluß
+der Zeit schon ausgleichen werde.
+
+Es war dem Sohne, als ob die kühlen Worte des Vaters, der die Sache
+wie ein Geschäft behandelte, Venne selbst in ihrer Abwesenheit
+träfen, und er suchte noch am selben Abend Gelegenheit, die Geliebte
+seiner unwandelbaren Treue zu versichern. Er fand sie nicht, denn
+der Zustand des Vaters -- die Mutter hatte man wenige Wochen vorher
+zu Grabe getragen -- erschien ihr gerade an diesem Abend besonders
+besorgniserregend. Heinrich ging davon, etwas verstimmt, daß seine gute
+Absicht nicht zur Ausführung kam.
+
+Auch Venne selbst war die Sorge gekommen, ob die Vereinigung mit dem
+Geliebten werde zustande kommen; denn auch ihr blieben natürlich die
+Demütigungen nicht erspart und versteckte Anspielungen, es sei ihre
+Pflicht, den Ratsherrnsohn freizugeben. Es tauchte ihr auch wohl selbst
+der Gedanke auf, das Opfer nicht anzunehmen, und herber Trotz gegen
+alle Welt, auch gegen den Geliebten, ließ sie mit dem Gedanken spielen,
+Verzicht zu leisten. Aber dann quoll die Angst um so heißer in ihr auf
+und die Sehnsucht nach dem Geliebten.
+
+In diesem Widerspruch der Empfindungen traf sie eine Botschaft des
+alten Achtermann ins Herz, der ihr zuraunen ließ, sie möge den Sohn
+freigeben, er werde sich die Sorge um ihre Zukunft angelegen sein
+lassen. Das wirkte wie ein Schlag ins Gesicht auf die stolze Venne. In
+ungebändigtem Trotz ließ sie dem Ratsherrn sagen, sie werde sich dem
+Sohn nicht an den Hals werfen; das Anerbieten aber, für sie sorgen zu
+wollen, weise sie als eine besondere Kränkung zurück. Der Alte ließ
+sich dadurch nicht beirren, »Mädchenüberschwang«, dachte er. »Das wird
+sich schon zurechtgeben.«
+
+Heinrich, der Sohn, wußte von dem Vorgehen des Vaters nichts. Er
+versuchte mehrmals die Geliebte zu sprechen, erfuhr aber durch
+Katharina jedesmal eine mehr oder weniger mürrische Abweisung. Da
+setzte er es einmal doch durch, daß er vorgelassen wurde. Venne empfing
+ihn mit verweinten Augen. Auf seine Frage, was ihr sei, hielt sie
+zunächst zurück. Doch dann durchbrach das aufgehäufte Weh und der Zorn
+über die Demütigung die Schranken, und sie klagte mit bitteren Worten
+den Vater an. Heinrich war erschrocken und empört, und er bat Venne,
+ihm zu vertrauen.
+
+»Ich schwöre Dir bei allem, was mir heilig ist, daß ich von dieser
+Niedertracht nichts weiß und nichts ahnte. Glaube mir doch, Geliebte,
+ich stehe zu Dir, und wenn sich alles gegen Dich vereint.«
+
+Mit heißen Küssen besiegelte er seine Schwüre, und in Venne stieg ein
+Gefühl des Glückes auf, blieb ihr doch wenigstens dies Allerschwerste
+erspart!
+
+Zu Hause stellte Heinrich den Vater zur Rede. Der Ratsherr leugnete gar
+nicht, daß er wirklich die Botschaft geschickt habe.
+
+»Wenn die Kinder die Vernunft verlieren, müssen die Eltern für sie
+denken und handeln.«
+
+Heinrich begehrte auf und erklärte, daß er nie und nimmer von Venne
+lassen werde, der Vater blieb ganz kühl und ruhig.
+
+»Vorläufig ist es bei uns noch Sitte und Gesetz, daß die Eltern
+bestimmen, was aus ihren Kindern werden soll, und ich lasse mir dieses
+Recht nicht schmälern.«
+
+»Und doch wirst Du mich nicht zwingen. Zuletzt steht mir der Weg in die
+Welt offen, und ich werde mit Venne davongehen«, antwortete Heinrich um
+so erregter. Da lachte der Vater spöttisch auf: »Das gäbe eine nette
+Wandergesellschaft: Du ein Junker Habenichts und sie eine Jungfer
+Bettlerin. Da werdet Ihr Euch allabendlich Euer Nest am Straßenrain
+bereiten müssen. Aber wir wollen das Thema heute abbrechen, es führt im
+Augenblick doch zu nichts.« -- Er wußte, daß die Zeit für ihn arbeiten
+werde.
+
+
+
+
+Das Leben des Bergherrn Richerdes war seit dem Hinscheiden seiner Frau
+nur noch ein langsames Sich-zu-Tode-Quälen. Der schon in gesunden
+Tagen hagere, große Mann war abgemagert zum Skelett. In gelblichen
+Falten lagerte die Haut auf dem Gesicht, aus dem die spitze Nase
+drohend hervorragte. Neuerdings litt er an Verfolgungsideen, in denen
+der Jude Asser, Achtermann und Karsten Balder die Schreckgestalten
+waren. Er weigerte sich, Nahrung zu nehmen, weil er seine Schulden
+nicht vermehren wolle; dann wieder hielt ihn der Argwohn davon ab,
+seine Feinde könnten Gift hineingetan haben. Die arme, tapfere Venne
+durchlebte eine Zeit schlimmsten Martyriums. Endlich, ein halbes Jahr
+fast nach dem Heimgange der Frau, glitt auch ihm der Pilgerstab aus den
+müden Händen. In seinen letzten, lichten Augenblicken mahnte er noch
+Venne, sie solle sein Recht dem Rat gegenüber nie vergessen. »Bedenke,
+mein Kind, daß Du es meinem Andenken schuldig bist, dieses Recht zu
+verfechten. Versprich es mir in die Hand, es nie aufzugeben, damit ich
+ruhig sterben kann.«
+
+Nun war Venne ganz allein in ihrer Trostlosigkeit und dem Bewußtsein,
+daß sie aus dem Kreise aller derer ausscheide, bei denen sie bis zu dem
+Unglück ihres Vaters ein gern gesehener und umworbener Gast gewesen.
+
+Das alles hätte sie noch ertragen, wäre nicht die Angst und die
+quälende, beschämende Sorge gewesen, daß auch Heinrich, der Verlobte,
+ihr entgleite. Noch halten ihn seine Schwüre, noch kommt er, sie zu
+sehen, noch ist er voller Liebe und Mitleid. Sie trinkt seine Küsse wie
+eine Verdürstende, wenn er sie umschließt, und hängt an seinem Munde,
+um von ihm immer wieder zu hören, daß er sie noch liebe. Begütigend,
+tröstend, voll zarter Teilnahme streicht er über ihr Haar und
+versichert sie seiner Treue. Und immer wieder drängt es sich aus ihrem
+Munde: »Verlaß mich nicht, bleibe mir treu!«
+
+Und er schwört ihr mit neuem, heiligem Schwur, daß nichts sie trennen
+soll, nicht der Vater, nicht die hämische, neidige Welt. Dann seufzt
+sie glücklich, wie aus tiefster Seele befreit, auf, und sie schwört ihm
+und sich selbst zu, Vertrauen zu haben. Aber kamen dann die dunklen
+Stunden der Nacht, lag sie schlaflos auf ihrem Lager, dann stürzten
+sich die Zweifel wie gierige Wölfe auf sie und zermarterten ihr armes
+Herz.
+
+Seit dem Tode des Vaters hauste sie allein mit Katharina in dem großen,
+leeren Hause. Die Mägde waren entlassen, die Knechte gegangen. Sie
+fürchtete sich und hatte die alte Magd gebeten, bei ihr zu schlafen.
+Katharina hörte, wie die von ihr über alles geliebte Herrin sich
+ruhelos auf ihrem Lager wälzte, sie vernahm ihre Seufzer und ihr
+stilles Schluchzen. Sie wäre für Venne in den Tod gegangen, hätte sie
+ihr damit das Glück erkaufen können. Verzweifelt drängte sie in Venne,
+ihr zu sagen, was sie bedrücke, Venne schwieg.
+
+»Ist Heinrich Achtermann auch von Dir abgefallen?« fragte sie mit
+verbissenem Grimm.
+
+»Nein, nein, er ist mir treu und wird mich nicht verlassen, wenn man
+ihn nicht dazu zwingt.«
+
+»Wie soll man ihn zwingen, wenn er selbst nicht will? Oder meinst Du,
+man könne ihm im geheimen Zwang antun?«
+
+Venne antwortete nicht darauf, aber Katharina schloß daraus, daß diese
+Befürchtung zutreffe.
+
+»So wird man unsererseits darauf sehen müssen, daß er nicht von Dir
+lassen kann«, murmelte sie für sich. Und es ward ihr zur fixen Idee,
+daß sie alles daransetzen müßte, um Heinrich bei ihrer Venne zu
+halten. Dieser durfte sie von ihren Plänen nichts sagen, Venne würde
+es ihr verbieten; aber sie wußte, was sie zu tun hatte. Klang ihr
+nicht ein Wort der Gittermannschen in den Ohren: »Ich habe auch Mittel
+anderer Art zu Gebote; gilt es zum Beispiel den ungetreuen Liebsten
+zurückzubringen oder einen, den man begehrt, an sich zu fesseln, so ist
+die Gittermannsche da mit ihrem Spruche.«
+
+Damals belächelte Katharina diese Anpreisung ihrer Kunst, sie, wie
+Venne: Wie sollte sich für diese je die Notwendigkeit bieten, von der
+Gittermannschen dunkler Kunst Gebrauch zu machen, da doch Venne auf
+dem Gipfel der Glückseligkeit zu stehen und ein Sturz von dieser Höhe
+unmöglich schien.
+
+Jetzt aber war es so weit, und sie suchte die verrufene Alte aufs neue
+auf. Zunächst sperrte sie sich und redete von Undank und Gefahr, in die
+man sie bringe, denn die alte Katharina hatte ihr, als ihre Mittel sich
+bei Frau Richerdes doch nicht bewährten, mit drastischen Worten ihre
+Meinung gesagt. Als sie indes vor den Augen der habgierigen Hexe ein
+Stück Geld glänzen ließ, änderte sich Wort und Miene der Gekränkten.
+Man verabredete die Einzelheiten.
+
+Natürlich müsse sie den Namen desjenigen wissen, dem das Mittel gelte.
+Ungern nannte Katharina den Namen Heinrich Achtermanns, aber die
+Gittermannsche bestand darauf.
+
+»Dachte ich's mir doch«, höhnte die Alte. »Solange das Täubchen im
+Glück saß und sein Gefieder goldig schimmerte, war das Herrlein
+begeistert; nun, da der Glanz erblichen ist, tritt er den Rückzug an.«
+
+»Ihr tut ihm vielleicht unrecht«, warf Katharina ein. »Nach dem, was
+meine Venne meint, ist es vielmehr der Vater, der sie trennen will.«
+
+»Natürlich, der dickgeschwollene Protz fürchtet, daß sein Geldsack
+eine Falte bekommt, wenn er dem armen Mädchen beisteht. Doch zum Glück
+sind wir noch da, wir, die Gittermannsche, und wir wollen es ihm schon
+zeigen. Also, die Sache ist so: was ich Euch geben werde, muß Eure
+Venne dem Liebsten heimlich beibringen.«
+
+»O nein, o nein,« wehrte Katharina ab, »das ist schon gefehlt. Die
+Venne bringe ich nie dazu, daß sie Heinrich Achtermann etwas eingibt,
+um ihn zu fesseln. Das verbietet ihr der Stolz und auch ihr Trotz.«
+
+»Ei, ist die Schöne noch so wenig kirre?« höhnte das Weib. »Ja, da
+wird wenig zu machen sein, wie ich's im Augenblick übersehe. Ich kenne
+es bis jetzt nicht anders, als daß das Liebchen sich selbst der Sache
+annimmt. Und ich begegnete auch bisher nie einem Widerstreben. Im
+Gegenteil, keine hätte einem anderen anvertraut, was ihr selbst dienen
+sollte.«
+
+»Sie ist auch nicht ›keine andere‹, sondern meine stolze Venne,«
+entgegnete Katharina, »und was auf andere zutrifft, paßt auf sie noch
+lange nicht. Also besinnt Euch, ob es nicht einen anderen Weg gibt,
+sonst muß ich auf Euren Dienst verzichten.« Damit ließ sie das Geld in
+ihrer Tasche verschwinden.
+
+Habgierig folgten die Augen der unholden Frau ihrer Bewegung. »Nun,
+vielleicht geht's doch, laßt mir nur einen Augenblick Zeit zum
+Nachdenken. -- Doch, so wird es sich machen lassen. Venne ist, so sagt
+Ihr, dem Verlobten in heißer Liebe zugetan; ihre Gedanken bewegen
+sich um ihn. Da kommt es darauf an, daß sie zu der Stunde, wo dem
+Bräutigam mein Trank gegeben wird, all ihr Sinnen auf ihn richtet.
+Vermögt Ihr das, indem Ihr selbst das Gespräch auf Heinrich Achtermann
+bringt, so ist uns geholfen. Und dann bedarf es natürlich noch, was die
+Hauptsache ist, einer zuverlässigen dritten Person, die jenem den Trank
+verabreicht. Habt Ihr oder kennt Ihr jemand im Hause Achtermann, dem
+wir das anvertrauen können?«
+
+»Daran habe ich schon gedacht, als ich zu Euch kam. Eine alte Bekannte
+von mir lebt als Magd im Hause der Achtermanns. Wie ich die kenne, so
+hat sie den Heinrich großgewartet. Ihr darf ich mich anvertrauen, und
+sie wird sich bereit finden, ihm den Trank zu reichen, vorausgesetzt,
+daß er nichts die Gesundheit Schädigendes enthält. Dann würde übrigens
+auch ich dazu die Hand nicht bieten«, antwortete Katharina.
+
+»Meint Ihr, ich wolle mich selbst um den Hals bringen? Vielleicht setzt
+es ein wenig Bauchgrimmen; aber auch das ist bei dem kräftigen Mann
+nicht zu befürchten. Übrigens sollt Ihr, damit Ihr wißt, daß nichts
+Giftiges hineinkommt, das Rezept erfahren, und Ihr mögt, wenn Ihr
+wollt, den Trank selbst brauen. Also hört nun.«
+
+»Nicht doch,« rief Katharina erschrocken, »des vermäße ich mich nicht.
+Meine alten Augen möchten mich trügen oder die Hände zittern bei dem
+Zumessen der Sachen. Macht ihn nur fertig, ich will das Weitere schon
+besorgen.«
+
+»Ach,« sagte die Gittermannsche, »stellt Euch nicht zimperlich an.
+Wollt Ihr es nicht, so tue ich es. Sorgt dann aber, daß er auch von
+dem Rechten genossen wird. Immerhin mögt Ihr wissen, was darinnen
+sein wird.
+
+Ihr holt in der ersten Nacht des abnehmenden Mondes einen Eimer
+fließenden Wassers, das über Steine floß, und kocht es über drei
+Steinen, aus demselben fließenden Wasser genommen. Von dem kochenden
+Wasser mischt Ihr, wenn es wieder kalt geworden ist, in etwas Bier, tut
+dazu einiges von der Blume Fatur, nehmt auch neun Fliegen, Erde von dem
+Kirchhofe und ein Stückchen von der Haut einer Natter, -- ich kann sie
+Euch verschaffen. Diesen Trank laßt Ihr dem Bräutigam reichen.
+
+Da Eure Venne nicht selbst handelnd auftreten soll, so will ich den
+Spruch so wählen, daß alles ohne ihr Zutun sich abspielen kann. In
+der Nacht darauf, nachdem der Trank gekocht ist, soll ihn Heinrich
+Achtermann vorgesetzt bekommen. Ihr aber geht in derselben Stunde unter
+einen Ahornbaum und sprecht zugleich, während Ihr in einem von Euch
+dort angemachten Feuer stochert, wobei Ihr an Heinrich Achtermann
+denkt:
+
+ ›Ahorn du blôte, ik bidde dik dorch dine sote,
+ Dat ik moge affbreken unde heime dragen
+ Sin barnede leve in Vennes Schragen.‹«
+
+Mit einem leisen Grauen hörte Katharina der Frau zu, die mit dumpfer
+Stimme den Spruch hersagte. »Ist es auch wirklich nichts Böses, was
+ich da tun soll? Und schadet es den beiden nicht?« fragte sie
+ängstlich.
+
+Da fuhr sie jene zornig an: »Nun hört aber endlich auf mit Eurem
+Gefasel von ›Schaden tun‹. Ich werde Euch den Trank geben, ob Ihr ihn
+dann ausschüttet oder weitergebt, soll mir gleich sein, wenn ich nur
+mein Geld bekomme.«
+
+
+
+
+Venne Richerdes wußte nichts von dem, was die gute Katharina ersonnen,
+um Heinrich Achtermann unauflöslich an sie zu ketten. Sie saß in ihren
+Gram versenkt in dem düsteren Hause und nahm keinen Anteil an dem
+Leben außerhalb desselben. Vom Vater hatte sie den verderblichen Hang
+geerbt, im Unglück sich in sich zurückzuziehen, sich mit einer Regung
+wollüstiger Gier in die Rolle des Märtyrers zu versenken, ohne ihn
+wirklich spielen zu wollen. Sie vergaß, daß sie selbst es war, die
+eine Mauer um sich aufbaute durch ihr herbes Sichabschließen gegen die
+Nächsten.
+
+Die Mitmenschen, die gutherzigen, sind wohl geneigt, uns mit ihrem
+Trost beizustehen. Nur wenige von ihnen aber geben sich die Mühe,
+hinter dem Wall verbitterten Stolzes das wunde Herz aufzusuchen, es in
+die Hand zu nehmen und ihm in gütiger Geduld Heilung zu bringen. Sie
+urteilen nach dem Schein: Sie will nichts von uns wissen, also mag sie
+für sich bleiben!
+
+Zum Glück für Venne Richerdes lebten ihr aber wahre Freunde in der
+Stadt, die sich durch ihre Herbheit nicht abschrecken ließen, sondern
+zu ihr durchdrangen und sie, je nach ihrer Gemütsart, durch ruhigen,
+sanften Zuspruch oder durch herzhaftes Zugreifen aus ihrem Trübsinn
+herauszureißen versuchten. Da war zum Beispiel die gute Immecke
+Rosenhagen. Wem die einmal ihr Herz geöffnet hatte, der behielt seinen
+Platz darinnen, und die Scheelsucht und Schmähsucht der Welt steigerte
+höchstens noch ihre Zuneigung zu dem Mädchen, das es ihr mit seiner
+Schönheit, vor allem aber mit seinem freimütigen, gar nicht stolzen
+Wesen ihr gegenüber angetan hatte. Jetzt mußte sie ihre Zeit teilen
+zwischen dem ›Goldenen Adler‹, wie den unbändigen Enkelkindern und der
+einsamen Frau in der Bergstraße.
+
+Ihr gutes Herz erkannte Venne den Löwenanteil zu. Jeden Tag hockte sie
+in dem Hause, das jetzt so still dalag, und suchte Venne aufzuheitern
+mit drastischem Zuspruch und weichem, lindem Trost. Merkwürdig, selbst
+ihre barschen Worte, wenn sie einmal ungeduldig mahnte, jene solle
+nun endlich das Kopfhängen lassen, erreichten mehr als vielleicht
+die mitleidig klingende Äußerung eines anderen, der aber nach Vennes
+Argwohn die innere Wahrheit fehlte.
+
+Bei der alten Dienerin erkundigte sie sich nach vielen Einzelheiten, um
+den Schlüssel zu der abgrundtiefen Verzweiflung zu finden, in die Venne
+versunken war. Katharina verhehlte ihr nicht, daß ihr Verhältnis zu dem
+Verlobten wohl der Hauptanlaß sei, und es entschlüpfte ihr auch wider
+Willen eine Andeutung über ihr Vorhaben, zu dem die Gittermannsche
+die Hand bot. Immecke war erschrocken und riet dringend ab: »Von der
+Frau kommt nichts Gutes. Und was sie Euch vorredet von ihrer schwarzen
+Kunst, ist eitel Geschwätz. Ihr nützt nichts, richtet aber vielleicht
+großes Unheil an.«
+
+Da wurde Katharina wieder schwankend, denn sie hielt von dem Urteil der
+weitgereisten und weltklugen Immecke Rosenhagen viel. Als dann indes
+die unheimliche Frau mit ihrem Trank kam, ließ sie sich doch überreden,
+ihn ihrer guten Freundin im Hause Achtermann zu geben.
+
+Aber Immecke war nicht die einzige, die sich der armen Venne annahm.
+Auch das Haus Hardt bewies ihr in diesen Tagen, wessen wahre
+Freundschaft fähig ist.
+
+Seit Jahresfrist weilte auch Gisela von Wendelin in der Stadt am
+Harz. Sie hatte liebevollste Aufnahme gefunden im Schoße der Familie
+Hardt. Auch der Vater, der Arzt, erschloß ihr bald sein ganzes Herz,
+nachdem er kurze Zeit die Fremde, die aus weiter Ferne her, gegen
+das Herkommen, Einlaß in die goslarsche Gemeinschaft heischte, etwas
+zurückhaltend beobachtet hatte. ›Heischte‹ hieß ihr übrigens unrecht
+tun; denn sie kam, obwohl die Liebe ihres Johannes sie umhegte, wie ein
+schüchternes, verscheuchtes Vöglein, das sein Nest verloren hat. Gerade
+diese hilflose Schüchternheit, die sich der Anmut nicht bewußt war, in
+die sie gekleidet, gewann ihr die Herzen im Fluge.
+
+Als Gisela in Goslar eintraf, war im Hause Richerdes noch das Glück
+zu Gaste. Zwar siechte die Mutter, aber selbst ihr Leiden wurde
+verklärt durch die frohe Erwartung, die sich auf dem Antlitz Vennes
+widerspiegelte. Auch der Vater war trotz manchen täglichen Ungemachs
+gehobener Stimmung, bestand doch die Aussicht, daß mit dem Verkauf
+an die Stadt die Quelle aller Widerwärtigkeiten gänzlich verstopft
+werden würde. Dann brach das Unglück über sie herein. Die Bekannten
+zogen sich zurück. Freunde, auf die man gerechnet hatte, erwiesen sich
+als treulos. Da enthüllte sich die Lauterkeit Giselas am reinsten und
+schönsten. War sie schon vorher mit Venne befreundet, so wurde sie ihr
+jetzt eine starke Stütze. Sie kannte selbst die Schule des Leides; sie
+hatte es an sich selbst erlebt, was es heißt, in der bittersten Not
+einsam und verlassen zu sein. Unendliches Mitleid mit der Mitschwester
+erfüllte ihr Herz und ließ sie alles versuchen, jene aufzurichten.
+
+Ihr gegenüber sprach Venne auch von Heinrich Achtermann und ihren
+Sorgen. Gisela hatte nur Worte zuversichtlicher Hoffnung. »Wenn er Dich
+lieb hat, wie Du es sagst, und wenn er so ist, wie Du ihn schilderst,
+verstehe ich Deine Bedenken nicht. Er wird Festigkeit genug in sich
+fühlen, um auch den Widerstand des Vaters zu besiegen. Nimm aber
+auch Du ihm nicht die Hoffnung, daß Du selbst nicht in dem Kampfe
+unterliegen wirst. Mir will es scheinen, als ob Deine Zurückhaltung ihn
+kränken, in ihm die Meinung hervorrufen muß, daß Deine eigene Liebe zu
+erkalten drohe. Wecke diese Stimmung nicht in ihm, es könnte zuletzt
+der Trotz in ihm erwachen und dem Vater ein wertvoller Bundesgenosse
+werden.«
+
+Venne versprach, ihrem Rate zu folgen, und als Heinrich wieder bei
+ihr anklopfte, gab sie sich unter dem Eindruck der Zuversicht, welche
+Gisela in ihr geweckt hatte. Heinrich, der unter dem Widerstand des
+Vaters und der herben Zurückhaltung der Geliebten in einen Widerspruch
+der Gefühle gekommen war, der ihn aufs tiefste bedrückte, atmete auf.
+Sie verlebten eine Stunde ungetrübten, reinen Glücks. Und Heinrich
+schied von ihr mit dem zuversichtlichen: »Du sollst sehen, meine
+einzige Venne, auch uns lacht wieder die Sonne.« Da verdarb die gute
+Katharina vollends, was sie ehrlich bemüht war, gutzumachen.
+
+
+
+
+Zu Worms, wo Siegfried um die Burgundentochter gedient und gefreit, wo
+Kriemhilde dem meuchlings Erschlagenen dreizehn Jahre nachgetrauert
+hatte, ehe sie in ihrem brennenden Schmerze, zur Sättigung ihrer Rache,
+sich dem Hunnen Etzel vermählte, zu Worms, der großen Kaiser- und
+Reichsstadt, war alles Leben und Bewegung. Wie so oft seit den Tagen,
+in denen sich die Rüstungen der reisigen Burgunder in den Fluten des
+Rheins spiegelten, war die Stadt ein gewaltiges Heerlager. Aus allen
+Gauen des gewaltigen Reiches kamen die Ritter und Herren, die Grafen
+und Fürsten, die Äbte, Bischöfe und Erzbischöfe mit ihrem Gefolge,
+ihren Gewappneten und dem Troß ihrer Knechte. In der volkreichen Stadt
+fanden längst nicht alle Unterkunft. Man schlug außerhalb ihrer Mauern
+Zelte auf, um die Gäste unterzubringen. In den Herbergen und Gasthöfen
+herrschte ein Leben, wie es selbst Worms kaum gesehen.
+
+Reichstag! -- Reichstage waren in Worms keine Seltenheit seit
+Jahrhunderten. Aber noch nie hatte einer die Welt derart in Spannung
+gehalten wie der des Jahres 1521. Eine neue Welt stieg empor. Die alte
+stand bereit, ihre Nebenbuhlerin zu bekämpfen und, war es möglich,
+zu zertrümmern. Und die Machtmittel der alten waren trotz Verfalls
+noch so gewaltig, schrecklich, daß Menschenmut und Menschenkraft
+nicht auszureichen schienen, sie zu bezwingen. Woher nun nahm der
+unscheinbare Dominikanermönch zu Wittenberg, von dessen Dasein vor
+wenig Jahren noch weder Kaiser noch Päpste eine Ahnung gehabt hatten,
+den abenteuerlichen Mut, gegen die größten Gewalten der Welt, seitdem
+die Menschen sich Fürsten gesetzt und der Autorität einen Thron
+errichtet hatten, anzugehen?
+
+Luther betrat eine Bahn, die nur für ihn selbst neu war. Er wurde
+in sie hineingestoßen nach schweren, inneren Kämpfen. Nicht
+Effekthascherei, nicht die Sucht nach einem deklamatorischen
+Theatererfolge führten ihn nach Worms, sondern die kindliche Gewißheit,
+sich mit seinem Gott eins zu fühlen, von seinem Geist und Willen
+Zeugnis ablegen zu müssen für das lautere Gotteswort, ließ ihn mit
+schier fröhlicher Zuversicht den Weg in die Höhle des Löwen antreten.
+
+»Mönchlein, Mönchlein, Du gehst einen schweren Gang!« -- Jeder, der
+die Unbekümmertheit kannte, mit der die Gewalthaber der römischen
+Kirche über Bedenken irdischer Art sich wegzusetzen gewohnt waren, wenn
+es galt, das Erbe Petri zu schützen; wie vor ihrem Willen auch ein
+kaiserliches Wort sich bog und gebrochen wurde, mochte die Worte des
+wackeren Frundsberg verstehen, als er den armseligen Mönch in den Kreis
+seiner Feinde treten sah.
+
+Hätte er freilich die Millionen zu seinem Schutze um sich gehabt,
+denen seine Lehre aus dem Herzen gesprochen war, ihm hätte trotz des
+Machtaufgebots, das ihn in Worms waffenstarrend erwartete, nicht
+bange zu sein brauchen. Nicht nur der gewaltige Kreis der Jünger, bei
+denen sein Wort in wenigen Jahren wie eine Fackel gezündet, standen
+bereit, sondern die Millionen in allen Ländern des Abendlandes, die
+unter dem unerträglichen Joch ihrer Zeit seufzten. Es hatte sich bei
+dem armen Bürgersmann wie bei dem Bauern seit Jahrhunderten ein Haß
+aufgespeichert, gegen den selbst die sozialen Gegensätze unserer Tage
+wie ein Kinderspiel anmuten mögen. Es war der Haß des städtischen wie
+des ländlichen Proletariats gegen die Besitzenden, Bevorrechteten,
+die Reichen in jeder Gestalt, vornehmlich aber die Geistlichen. Das
+›Pfaffenstürmen‹ fand schon lange vor Luther hier und da begeisterte
+Anhänger. Schaurig hallten die Verse der Bauern wider, welche durch die
+Aufruhrpredigt des ›Pfeiffers von Niklashausen‹ in Bewegung gesetzt
+waren:
+
+ »Wir wollen Gott im Himmel klagen,
+ Kyrie eleison,
+ Daß wir die Pfaffen nit sollen zu Tode schlagen,
+ Kyrie eleison.«
+
+Die Kirche wankte indes darum noch nicht in ihren Grundfesten, es waren
+Vorgänge von lokaler Bedeutung. Wehe aber, wenn sich der Mann fand,
+der alle diese Kräfte auf ein Ziel hin in Bewegung zu setzen verstand!
+Und wehe ihr, wenn er zu diesem Haufen verzweifelnder Existenzen auch
+noch das Heer derer gesellte, die nicht um irdischer Vorteile willen,
+sondern, um ihr Herz von dem inneren Widerstreit der Gefühle zu
+befreien, auf den Rufer harrten, der sie anführe zum Kampf gegen die
+verrottete Kirche.
+
+Die Schäden hatte auch Ernesti, der kluge und weitgereiste Kaufmann,
+erkannt und zugestanden; um den endgültigen Sieg der Kirche war
+ihm nicht bange. Und doch erwies sich sein Urteil als kurzsichtig.
+Das Klagelied von der Pfaffen Übermut und Üppigkeit, von ihrer
+Unbildung und Verrohung, von der Priester wie der Mönche und Nonnen
+Unflätigkeiten, dieses Lied, das auch die Päpste zu nennen sich nicht
+scheute, erklang allüberall und wurde gern gehört und mitgesungen.
+
+Vielleicht hatten den armen Bergmannssohn zu Eisleben diese Töne schon
+umklungen, und sie waren in ihm nachgehallt, als er in brünstigem
+Gebet sich in seiner Zelle zu Erfurt wand und um Erleuchtung flehte.
+Die Erkenntnis von der Verderbtheit der Diener der Kirche kam ihm,
+als er in Rom den Sündenpfuhl sah, in dem jene sich wälzten, und die
+Erleuchtung über das, was seine Aufgabe sei, in Wittenberg angesichts
+des schamlosen Treibens jenes Ablaßkrämers von Papstes Auftrag, und
+durch sein ehrliches, frommes Streben, die Wahrheit zu ergründen. Er
+fand sie in seinem Verkehr mit Gott und in dem Worte Gottes, wie es von
+den Vätern aufgezeichnet stand. Und im schlichten Vertrauen auf die
+Güte seiner Sache folgte er der kaiserlichen Ladung.
+
+Im Januar schon war der Reichstag einberufen, im Frühjahr brach Luther
+gen Worms auf. Überall unterwegs fand er die Spuren der Tätigkeit gegen
+sich, die der Kaiser eigenhändig gegen ihn gezeigt hatte.
+
+Noch dicht vor Worms warnte ihn sein Freund und Landesvater, der
+Kurfürst, er solle umkehren, das Schicksal Hus' würde auch das seinige
+sein. Aber: »Ich will hinein, und wenn so viel Teufel auf mich zielten,
+als Ziegel auf den Dächern sind.«
+
+Einer der größten Tage der Geschichte brach mit dem 18. April des
+Jahres 1521 an, als Luther gegen Abend zum anderen Male, nachdem
+er schon tags vorher vor die Reichsversammlung geführt war, in den
+bischöflichen Palast geleitet wurde. Im Saale brannten die Fackeln, als
+er hineintrat. Vor ihm saß die ganze Herrlichkeit des Reiches und der
+Kirche. Der Kaiser mit seinem Bruder Ferdinand, sechs von den sieben
+Kurfürsten, achtundzwanzig Herzöge, dreißig Prälaten, viele Fürsten,
+Grafen und städtische Abgeordnete.
+
+Am Tage vorher hatte sich an dem Mönche eine gewisse Befangenheit und
+Unsicherheit kundgetan; heute, so glaubte man, werde er widerrufen.
+
+Die Spannung war ungeheuer bei allen. Mochte auch der junge Kaiser
+verächtlich zum Bruder sagen: »Der soll mich nicht zum Ketzer machen«,
+er konnte sich, je länger Luther sprach, dem Eindruck nicht entziehen,
+daß ein außergewöhnlicher Mensch da vor ihm stehe, ein Mensch
+jedenfalls, der irdische Furcht nicht kannte.
+
+»Der Mönch redet unerschrocken und kühn«, entschlüpfte es ihm während
+der Verhandlung wider Willen.
+
+Ja, wahrlich, der Mann hatte nicht Menschenfurcht in sich. Der
+Offizial des Erzbischofs von Trier, Johannes Eck, benahm sich durchaus
+gemessen und vornehm, als er Luther die formulierte Frage vorlegte.
+Man hoffte, wenigstens einen teilweisen Widerruf zu erreichen. Aber
+der Mönch dachte nicht an Widerruf. Mehr und mehr gewann seine Stimme
+an Zuversicht, je länger der Disput dauerte. Man sah, hier half kein
+Disputieren mehr, kein Zureden noch Freihalten eines Rückzugweges für
+den Ketzer, hier mußte die Entscheidung klipp und klar gefordert und
+gegeben werden. Und so verlangte denn Eck eine bestimmte, deutliche
+Antwort. Und Luther gab sie: »Weil denn Ew. Kaiserliche Majestät und
+Ew. Gnaden eine schlichte Antwort verlangen, so will ich eine Antwort
+ohne Hörner und Zähne geben ...«
+
+Atemlose Spannung lag auf den Zügen der Versammlung, die meisten
+standen, um sich kein Wort, keine Miene des Mannes da vor ihnen
+entgehen zu lassen. Verklärte Freude die einen, verbissene Wut die
+Gegner auf dem Gesicht, so lauschten sie, bis das Schlußwort kam, jenes
+gewaltige, das sich wie ein brünstiges Gebet und Bekenntnis von seinen
+Lippen rang: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir.
+Amen!«
+
+Totenbleich war das Antlitz des kühnen Streiters, als er sich vor der
+Versammlung verneigte und den Saal verließ, aber es war nicht die
+Blässe der Furcht. Überirdisch leuchtete sein Auge: So blickte nur
+einer drein, der nicht Menschenfurcht in seinem Herzen trägt, sondern
+der weiß, daß Gott in ihm und um ihn ist.
+
+Gewaltig war der Eindruck seiner Worte auf die Hörer. In vieler Augen
+glühte die Begeisterung über den unerschrockenen Gotteskämpfer. In der
+äußersten Ecke, wo die Vertreter der Stadt und einige andere Zuschauer
+standen, lief ein gedämpftes Flüstern durch die Reihen. »Unglaublich,
+dieser Mut«, »herrlich, herrlich«, so klang es aus ihrem Munde.
+
+Unter den Zuschauern stand auch ein gedrungener Mann, an den sich eine
+Frau lehnte, von deren Gesicht man wenig sehen konnte. Der Gestalt
+nach war es ein junges Mädchen, das sich wohl auf den Vater stützte.
+Unentwegt hatte der Mann dem Mönch ins Auge geblickt, solange er
+redete; aufmerksam lauschte die Frau. Die Erregung teilte sich auch
+ihnen mehr und mehr mit. Bei den letzten Worten durchlief ein Schauer
+die Gestalt der Frau. Besorgt legte der Begleiter ihren Arm in den
+seinigen. »Laß uns gehen,« schlug er vor, da schon ein Teil der
+Zuschauer sich still entfernte, »es greift Dich an, wie ich sehe.«
+
+»Ja, laßt uns gehen«, fiel sie eilig ein und drängte zum Ausgange.
+
+Draußen umfächelte sie die Kühle des Aprilabends; beide atmeten in
+tiefen Zügen die frische Luft ein.
+
+Es waren Venne Richerdes aus Goslar und ihr Oheim Ernesti aus Soest,
+die hier in Worms auf die Straße traten, um nach ihrer Herberge zu
+gehen. »Das ist ein wahrhaft furchtbarer Mann«, unterbrach Ernesti das
+Schweigen.
+
+»Sagt das nicht, Ohm«, fiel ihm Venne ins Wort. »Wäre es nicht ein
+Ketzer und Ketzerei, was er betreibt, so möchte ich rufen: Welch ein
+herrlicher, großer Mann! Sahet Ihr nicht die glühende Begeisterung,
+die sich auf seinem Gesicht ausprägte? Merktet Ihr nicht, daß ihm
+jedes Wort aus dem tiefsten Herzen kam? -- So spricht kein Lügner und
+abtrünniger Mönch, der sich seiner Gelübde um irdischer Vorteile willen
+entzieht.«
+
+»Um so schlimmer für ihn und für uns«, antwortete Ernesti fast
+feierlich. »Weil er mit den Waffen deutscher Schlichtheit und
+Einfachheit ficht, wirkt er um so ansteckender und verheerender. Einem
+bloßen Worthelden würde bald der Atem ausgehen und die Gefolgschaft
+aufgesagt werden. Wieviel Ärgernis ist durch diesen Mönch schon
+über die Kirche gekommen! Das wird er vor dem höchsten Richter zu
+verantworten haben, wenn er der irdischen Gerechtigkeit entgeht. --
+Aber die Kirche wird doch zuletzt siegen, weil sie von Gott ist«,
+schloß er mit fast demselben Wort, das er einst dem jungen Goslarer
+gesagt hatte.
+
+»Aber wenn er recht hat, müssen doch seine Gegner sich irren,« fuhr sie
+zweifelnd fort, »und Ihr sagt doch selbst, daß seine Schlichtheit Euch
+gepackt habe. Mir sollte es leid tun, wenn dieser edle Mönch in dem
+Kampf zerbrochen würde.«
+
+»Bist Du auch schon auf dem Wege zu ihm?« fragte er grollend. »Hüte
+Dich, solche Gedanken laut werden zu lassen; sie möchten Dir teuer zu
+stehen kommen. Denn Du weißt, wir sind aus anderen Ursachen hier, und
+die Sache eines Abtrünnigen wird dem gut katholischen Kaiser nicht sehr
+am Herzen liegen.«
+
+»Seid nicht böse, Ohm,« lenkte Venne ein, »Ihr wißt, daß ich so gut wie
+Ihr treu zur alten Lehre stehe. Aber ich kann doch nicht dafür, daß
+dieser Mann aus Wittenberg einen solchen Eindruck auf mich macht. Ich
+bin manchmal fast irre an mir selbst. Ich will bei dem Glauben bleiben,
+dem ich mich als Kind gelobt habe, in dem Vater und Mutter gestorben
+sind; doch sehe ich, wie alles um mich wankt. Denn auch in Goslar
+hängen schon viele der neuen Lehre an. Die Masse des Volkes jubelt dem
+Reformator zu. In vielen Häusern zerfällt die Familie in Zwiespalt,
+weil die einen noch glauben, was die anderen schon ablehnen. Soll ich
+da nicht auch schwankend werden. Zu den schweren Sorgen, die mich schon
+bedrücken, ist jetzt noch diese Herzenspein hinzugekommen. Oh, rettet
+mich doch aus dieser Not oder, wenn Ihr es könnt, befreit mich von
+diesem schrecklichen Zwiespalt.«
+
+Ernesti sah sie mitleidig an. »Du tust mir von Herzen leid, mein Kind,
+helfen aber kannst Du Dir nur selbst. Mit Deinem Gott mußt Du allein
+fertig werden. Nimm Dein Herz fest in Deine Hand, blicke nicht rechts
+und nicht links; sage Dir immer wieder: Ich will meinem Glauben treu
+bleiben! Und Du wirst die Palme erringen.«
+
+In der Herberge gingen sie bald zur Ruhe, denn sie verspürten keine
+Lust, noch an dem lebhaften Meinungsaustausch teilzunehmen, der über
+den Mönch und sein Auftreten entbrannt war.
+
+
+
+
+Vieles war in Goslar vor sich gegangen, seit wir zuletzt Gisela
+Hardt und Immecke Rosenhagen bemüht sahen, Venne in ihrem Schmerz zu
+trösten. Der Rat hatte neue Scherereien mit dem Herzog Heinrich dem
+Jüngeren, der aus dem 1519 erneuerten Schutzvertrage die Verpflichtung
+für die Stadt ableitete, ihm zur Vollziehung der über den Bischof von
+Hildesheim vom Kaiser verhängten Acht Mannschaft und Geld zu liefern.
+Sie mischten sich höchst ungern in diese Sache, denn der Rat hatte mit
+der Unruhe in der Stadt genug zu tun.
+
+Es gor unter dem gemeinen Volk; die Lehre von Wittenberg war auch
+nach Goslar gedrungen, und wenn sie noch keine offenen Anhänger fand,
+zeigte sich doch die Wirkung in dem Verhalten der Einwohner gegen die
+Pfaffen und die Kirche. Bürger wie Proletarier spotteten laut über
+die heiligen Reliquien, die zum Peter-Pauls-Tage feierlich gezeigt
+wurden. Den Priestern tönten höhnende Worte in die Ohren, wenn sie
+sich sehen ließen, und ein paar Nonnen wurde der Schleier abgerissen
+und der Rosenkranz weggenommen, als sie in ihr Kloster zurückkehren
+wollten. Der Rat ließ die Täter gefangensetzen, aber die Quelle der
+Unruhe war damit nicht verstopft. Auch die Fahrt der Venne Richerdes,
+die natürlich nicht verborgen blieb, erweckte Unbehagen. Denn, wenn man
+sich auch im Rechte ihr gegenüber wußte, so blieb es doch unbequem, vor
+dem Reichstage hingestellt zu werden als eine Stadt, die ihren Bürgern
+Unbilliges zumute.
+
+Aber ebenso tief wurzelte in Venne die Überzeugung von ihrem Recht.
+Ihr Vater war sein Leben lang ein Ehrenmann gewesen, dem niemand
+nachsagen konnte, daß er fremdes Gut an sich gebracht habe. Auf dem
+Sterbebette noch beteuerte er, daß der Rat ihm zu Unrecht die Kaufsumme
+vorenthalte, und sie hörte seine Mahnung: »Vergiß nicht, Dir mein Recht
+zu holen, daß ich ruhig sterben kann.« Sie hatte zunächst in Goslar
+alles versucht, um zum Ziele zu kommen.
+
+Die Rechtslage war zweifelhaft. Der Oheim der Hardts nahm sich ihrer
+an und verfocht ihre Sache vor dem Rate, aber er erreichte nichts.
+Johannes riet ihr ab, weitere Schritte zu unternehmen; seine Frau
+Gisela schloß sich ihm an.
+
+»Du gehst daran zugrunde, Liebste, laß den Streit. Komm zu uns, bis Du
+Heinrich angehören darfst.«
+
+Doch Venne blieb eigensinnig bei ihrer Absicht, alle Mittel zu
+erschöpfen, um dem Vater ihr Wort zu halten.
+
+Den unmittelbaren Anstoß zu dem Appell an die höchste Stelle im
+Reich gab ihr eine jener Äußerungen, die Übelgesinnten so leicht und
+schnell vom Munde gleiten. Mit scheinbarem Mitleid, unter dem sich
+aber die Schadenfreude nur schlecht verbarg, fragte eine der ewig
+lästersüchtigen Nachbarinnen Venne, nachdem sie schon jene über dieses
+und jenes auszuforschen versucht hatte, wovon sie denn eigentlich
+lebe und weshalb sie sich eine Dienerin halte. Venne, die schon über
+die ganze Art der Fragestellerin ungehalten war, gab ihr eine kurze,
+ablehnende Antwort. Darauf antwortete jene sehr spitz: »Nun, nur nicht
+so hochmütig, Jungfer Obenhinaus, wir haben doch keinen Anlaß, so stolz
+zu sein, als Tochter eines Bettlers, der noch dazu die Stadt Goslar um
+viel Geld betrügen wollte.«
+
+Venne ließ die Boshafte hochmütig stehen, aber als sie nach Hause
+gekommen war, brach ihre mühsam bewahrte Haltung zusammen, und ein
+wildes Schluchzen ließ ihren Körper erbeben: So weit war es also
+gekommen, daß man ihres Vaters Ehrlichkeit anzutasten wagte.
+
+Nun gab es kein Besinnen mehr; sie wollte die höchste Stelle im Reich
+um ihr Recht angehen. Wieder riet der Oheim Johannes', der Notar,
+ab, und auch jener widersprach ihrer Absicht, doch dieses Mal blieb
+sie unbeirrbar bei ihrem Vorhaben. Die Ehre ihres Vaters durfte sie
+nicht antasten lassen. Die Freunde wußten sich keinen anderen Rat, als
+Heinrich Achtermann ins Vertrauen zu ziehen. Er war in der letzten Zeit
+mehrmals im Auftrage des Vaters verreist gewesen und hatte deshalb
+Venne längere Zeit nicht gesehen. Heinrich zeigte sich sogleich bereit,
+auf Venne einzureden, denn auch er lehnte innerlich den Plan ab.
+
+Es war eine leichte Entfremdung zwischen den beiden eingetreten,
+die der Verlobte auf die herbe Zurückhaltung Vennes zurückführte,
+während diese, in ihrer Empfindlichkeit und in ihrem fast krankhaften
+Argwohn, überall Geringschätzung und Ablehnung zu wittern, bei ihm
+die ersten Anzeichen dafür zu merken glaubte, daß auch Heinrich den
+Einflüsterungen Gehör schenke.
+
+Heinrich gab sich alle Mühe, unbefangen und herzlich zu sein. Auch
+Venne konnte sich seiner Aufrichtigkeit nicht entziehen und verlor
+allmählich ihre Verstimmung. Als er aber dann auf den eigentlichen
+Zweck seines heutigen Besuches zu sprechen kam, nahm sie sogleich
+wieder eine kriegerische Haltung an. Was er auch gegen ihre Absicht
+anführte, sie kehrte immer wieder zu dem eigensinnigen Einwande
+zurück: »Ich habe es dem Vater versprochen und bin es seiner Ehre
+schuldig.«
+
+»Venne, tue es mir zuliebe«, bat er sie. »Du schaffst nur noch
+Hindernisse für unsere Vereinigung. Der Vater, der im Rat ist und gewiß
+an dem Spruch gegen Deinen Vater mitgewirkt hat, wird es sicher als
+besondere Kränkung empfinden, wenn Du jenen verklagst. Ich bitte Dich
+herzlich, laß ab von Deinem Vorhaben, dessen Erfolg zudem noch sehr
+zweifelhaft ist, wie mir auch die Hardts gesagt haben.«
+
+Aber sie blieb unerschütterlich. »Hat Dein Vater gegen uns geurteilt,
+so muß er überzeugt werden, daß er unrecht tat. Wenn der Spruch,
+wie ich hoffe, gegen die Stadt ausfällt, wird er als Ehrenmann doch
+hoffentlich eingestehen, daß er irrte.«
+
+Heinrich sah ein, daß nichts zu erreichen war. Ihm lag daran, mit ihr
+noch etwas zu besprechen, was vielleicht sie bewegen konnte, doch von
+ihrem Vorhaben abzustehen. Sein Vater hatte nur noch selten mit ihm
+über sein Verhältnis zu Venne gesprochen, aber aus allem, was der
+Ratsherr sagte, konnte der Sohn klar erkennen, daß derselbe an nichts
+weniger dachte als ein Zurückziehen seines Widerspruches.
+
+In der Tat war Achtermann der Ältere mehr denn je entschlossen, das
+Verhältnis zu lösen. Einstweilen hoffte er noch, die Zeit werde ihm
+zu Hilfe kommen; Heinrich wußte indes, daß der Vater zur Not auch vor
+Gewalt nicht zurückschrecken werde. Die beste Hilfe versprach sich der
+Ratsherr von einer längeren Trennung der beiden. Und es kam ihm der
+Gedanke, Heinrich von Goslar zu entfernen. Seine Geschäfte reichten bis
+London, und es war ihm ein leichtes, einen Grund zu finden, der die
+Notwendigkeit des Aufenthaltes des Sohnes dort oder in einem anderen,
+entfernten Ort auch diesem als berechtigt erscheinen lassen konnte.
+Nun hatte er beiläufig mit Heinrich darüber gesprochen, und dieser, der
+die wahre Absicht des Vaters durchschaute, stellte Venne vor, daß ihre
+Anwesenheit ihm am Herzen liege, um dem Vater gegenüber die Festigkeit
+zu bewahren.
+
+Sie war erschrocken, aber ihr Trotz verbot ihr, nachzugeben. »Wenn
+Du mich liebst, wie Du beteuerst, wirst Du auch ohne mich dem Vater
+widerstehen. Vielleicht kommt Dir der Befehl des Vaters ganz gelegen«,
+schloß sie in wieder erwachendem Argwohn.
+
+Da wurde auch der Geliebte zornig. »Du sprichst wie ein ungezogenes
+Kind, Venne. Ich habe Dir, denke ich, noch nie den geringsten Anlaß
+zu Mißtrauen gegeben. Doch Du machst es mir schwer, unsere Sache zu
+verteidigen. Statt bei Dir Unterstützung zu finden in dem Kampf gegen
+den Starrsinn des Vaters, setzt auch Du Deinen Trotzkopf auf und
+behandelst mich, als hätte ich nicht ein Fünkchen vertrauensvoller
+Liebe verdient. Willst Du nicht auf mich hören, so trägst Du die Schuld
+an allem, was folgt. Ich gehe jetzt, denn es hat keinen Zweck, gegen
+Deine Unvernunft noch länger anzureden.«
+
+Da brach Venne in haltloses Weinen aus, daß Heinrichs Zorn in Mitleid
+zerschmolz. Zärtlich umarmte er sie und sprach ihr tröstend zu. »Ist es
+denn so schwer, meine gute, süße Venne, das Trotzköpfchen zu beugen?«
+
+»Ach, mein Einziger, sei mir doch nicht böse. Ich bin gewiß oft häßlich
+und lieblos zu Dir, aber glaube nicht, daß meine Liebe sich gemindert
+hat. Du kannst ja nicht in mein Inneres sehen und weißt nicht, wie ich
+unter dieser elenden Lage leide. Laß mich noch diesen einzigen Versuch
+machen; dann will ich gewiß nichts mehr von der Sache reden.«
+
+Heinrich sah, daß er nachgeben mußte; so sagte er nur: »Gut, Liebste,
+so wollen wir es gelten lassen. Du mußt jedoch damit rechnen, daß Du
+mich nicht triffst, wenn Du zurückkehrst. Dann verliere nicht den Mut,
+das mußt Du mir versprechen. Ich hoffe, daß wir den Widerstand des
+Vaters eher besiegen, wenn ich ihm jetzt zu Willen bin. Sieht er, daß
+auch die Trennung unserer Liebe keinen Abbruch tun konnte und bringst
+Du vielleicht noch einen Dir günstigen Bescheid mit, so muß er zuletzt
+nachgeben.« So endete der Abend mit einer vollen Versöhnung der beiden,
+und sie nahmen von einander in alter Zärtlichkeit Abschied.
+
+Venne traf alle Vorbereitungen zur Reise. Johannes Hardt, der
+Rechtsgelehrte, hatte ihr gesagt, daß man gegen reichsunmittelbare
+Stände, zu denen die Stadt Goslar als Reichsstadt gehörte, bei dem
+Reichskammergericht Einspruch und Klage erheben könne. Er riet indes zu
+dem schneller wirkenden Mittel, sich an den Kaiser selbst zu wenden,
+was in besonderen Fällen anging.
+
+Der Reichstag in Worms war für das Jahr 1521 angesetzt. Dort mußte
+sich Gelegenheit bieten, ihre Sache vorzubringen, statt sie vor dem
+sehr langsam arbeitenden Reichskammergericht zu Frankfurt am Main
+entscheiden zu lassen.
+
+»Habt Ihr einen Fürspruch an dem kaiserlichen Hofe,« sagte Johannes,
+»so wird es Euch nicht fehlen, vor den Kaiser gelassen zu werden.«
+
+Wer konnte da besser helfen als der Ohm Ernesti in Soest! Daher
+beschloß Venne, den Umweg über Westfalen zu wählen, um jenen dort
+aufzusuchen und ihn zu bitten, sie nach Worms zu begleiten.
+
+Ernesti war vor geraumer Zeit in Goslar gewesen und hatte verlauten
+lassen, daß er künftig weniger in der Welt umherreisen werde, da das
+Alter auch ihn allmählich drücke. Sie durfte also hoffen, ihn zu Hause
+zu treffen. Und sie zweifelte nicht, daß er ihretwegen sich noch einmal
+der Mühe einer Reise unterziehen werde.
+
+Venne Richerdes reiste ab. Bald nach ihr verließ auch ihr Bräutigam
+Goslar. Vor seiner Abreise ereignete sich jedoch noch etwas, was alle
+Zukunftspläne über den Haufen werfen sollte. Die alte Katharina hatte
+zwischen dem Wunsch, ihrer Venne zu helfen, und dem Zweifel, ob sie
+recht tue, der Gittermannschen zu folgen, ihr Vorhaben noch nicht
+ausgeführt, obwohl die alte Vettel ihr immer wieder zuredete.
+
+Als sie nun aber erfuhr, daß Heinrich eine große Reise antrete,
+schwanden alle Bedenken. Wer wußte, welche Gefahren draußen auf ihn
+lauerten, um seine Liebe zu ertöten! Daher besprach sie mit ihrer
+Freundin im Achtermannschen Hause alles Erforderliche, und diese gab
+dem jungen Herrn den Zaubertrunk. Doch die Wirkung war eine andere,
+als Katharina erwartete. Heinrich erkrankte heftig, so daß man an eine
+Vergiftung glaubte. Das war es wohl auch in der Tat.
+
+Die alte Magd bei Achtermanns erschrak aufs tiefste, denn sie hing
+an Heinrich nicht weniger als Katharina an ihrer Venne. Von Angst
+getrieben, bekannte sie, was sie angerichtet habe. Der Vater war außer
+sich vor Zorn. Er maß natürlich alle Schuld Venne bei.
+
+»Da siehst Du, mit was für einer Person Du es noch hältst«, höhnte er.
+»Wie eine Troßdirne buhlt sie um Deine Gunst. Sie schämt sich nicht des
+Umganges mit Hexen und Dunkelmännern. Den Trunk hat ihr gar wohl der
+Henker gebraut, zu dem ja alle feilen Dirnen in ihrer Brunst laufen.
+Aber die soll mir wiederkommen und auf Deine Hand Anspruch erheben. Vor
+das Peinliche Gericht bringe ich sie, den Prozeß lasse ich ihr machen!«
+so tobte er.
+
+Der Sohn versuchte, seine Braut zu verteidigen. »Vater, Du tust Venne
+gewiß unrecht. Sie weiß, daß sie sich meiner Liebe nicht erst durch
+Zauberei zu versichern braucht. Urteile nicht, bis sie selbst sich
+verteidigen kann.«
+
+Doch da kam er schlecht an. »Meinst Du, das Weibsbild werde ich noch
+eines Wortes würdigen. Für mich ist die Sache erledigt, und wehe ihr,
+wenn sie es wagt, an der Vergangenheit zu rühren.«
+
+Heinrich sah ein, daß jetzt nichts zu hoffen war. Nun konnte auch er
+allein von der Zeit eine Besserung erwarten. Er war von Vennes Unschuld
+überzeugt, aber er grollte ihr doch, daß sie ihn in dieser Stunde, wo
+ihr Glück in Scherben zu gehen drohte, allein gelassen hatte. Tief
+bekümmert traf auch er seine Anstalten zur Abreise. Er sollte in der
+Tat nach London fahren, um am Stahlhof die Achtermannschen Geschäfte
+wahrzunehmen. Es galt, sich auf eine lange Abwesenheit einzurichten.
+Aber er hoffte, daß bei seiner Wiederkehr die Wetterwolken verzogen
+waren. Er würde jedenfalls, das nahm er sich vor, nicht von Venne
+lassen.
+
+ * * * * *
+
+Der Ohm war bereit, Venne zu begleiten. Auch er entschied sich für
+Übergehung des Reichskammergerichtes. »Wenn wir die Sache dort anhängig
+machen, ist Aussicht vorhanden, daß vielleicht Deine Enkel einmal
+den Entscheid erhalten. Der Gerichtshof ist mit so vielen ungleich
+wichtigeren Sachen überlastet, daß sich auf die Akten Deines Prozesses
+der Staub von Jahrzehnten lagern würde. Wir wollen also versuchen, in
+Worms vorgelassen zu werden. Ist uns das Glück hold, so gelingt es mir,
+einen der fürstlichen Prokuratoren des Gerichts zu gewinnen, die ja
+selbstverständlich auf dem Reichstage auch anwesend sein werden.«
+
+Obwohl der Reichstag schon Ende Januar eröffnet worden war, kamen
+sie doch noch zeitig genug. Zunächst sollten die weltlichen großen
+Angelegenheiten erledigt werden. Da galt es zuerst eine Sache des
+Herzogtums Württemberg zu behandeln, dessen Herzog Ulrich der
+Schwäbische Bund vertrieben hatte; ferner tauchte zum soundsovielten
+Male die italienische Frage wieder auf.
+
+Zur Abwechselung hielt diesmal der Franzosenkönig Franz I., einer der
+Mitbewerber Karls um die Kaiserkrone, das Reichslehen Mailand besetzt.
+Das bedeutete eine Minderung des kaiserlichen Ansehens, die der junge
+Kaiser nicht hinnehmen wollte. Gegen eine entsprechende Gegenleistung
+bewilligten ihm die Kurfürsten zwanzigtausend Mann Fußvolk und
+viertausend Reiter zu einem Römerzuge. Für den Kaiser aber stand im
+Vordergrunde die religiöse Frage.
+
+Karl V. stand zu dem Vorgehen Luthers anders als sein Vorgänger.
+Maximilian I., der 1519 starb, hatte die Anfänge der Reformation
+erlebt. Er fühlte eine gewisse Schadenfreude darüber, daß der römischen
+Kurie, mit der er nicht besonders stand, durch den Mönchshader
+eine große Verlegenheit erstand. Den Mönch Luther gegen den Papst
+auszuspielen, das war die kaiserliche Politik.
+
+Anders Karl. Er empfand den gewaltigen Zulauf, den der Wittenberger
+überall fand, als persönliche Kränkung. Zudem darf nicht vergessen
+werden, daß er, ehe er deutscher Kaiser wurde, König war des streng
+katholischen Spaniens. Nun war der Mönch gehört worden, er hatte nicht
+widerrufen. Leider mußte man ihn auf Grund des kaiserlichen Wortes
+ziehen lassen. Aber schon am 8. Mai erfolgte durch das Wormser Edikt
+seine Ächtung.
+
+Während Luther auf dem Heimwege von Reisigen des Kurfürsten
+aufgegriffen und auf die Wartburg entführt wurde, gingen in Worms
+die Verhandlungen weiter. Noch immer kam Venne Richerdes nicht an
+die Reihe. In ihrer Herberge wohnte auch der Geheimschreiber des
+Bischofs von Hildesheim, ein Herr von Woltwiesche, der mit einigen
+Domherren beim Kaiser wegen Aufhebung der kaiserlichen Acht vorstellig
+werden sollte. Der Geheimschreiber war ein Mann von bestrickender
+Liebenswürdigkeit und weltmännischer Gewandtheit.
+
+Die schöne Goslarerin machte auf ihn vom ersten Augenblick an einen
+tiefen Eindruck. Er hatte bald erfahren, was sie nach Worms führte, und
+bot ihr seine Unterstützung an zur Förderung ihrer Sache. Insonderheit
+erklärte er sich bereit, ein Gesuch an den Kaiser abzufassen für
+den Fall, daß sie nicht Gelegenheit finde, ihre Sache persönlich
+vorzutragen.
+
+Ernesti sprach die bestimmte Erwartung aus, daß dies doch möglich
+sein werde; immerhin konnte es nichts schaden, wenn der Fall auch
+schriftlich geschickt behandelt wurde. Der Geheimschreiber beeilte sich
+also, das Gesuch niederzuschreiben, und der Ohm gestand Venne, daß es
+ein Meisterwerk in seiner Art sei. Venne nahm diese Dienste des Herrn
+von Woltwiesche mit gemischten Gefühlen an. Ihr gefiel der Mann nicht
+recht, trotz aller höflichen Zuvorkommenheit. Sie fing hin und wieder
+einen Blick von ihm auf, der voll glühender Begier zu sein schien.
+Freilich versuchte er immer sogleich mit einer harmlosen Wendung seine
+Ungebühr zu bemänteln. Nie vergaß er bei einem Wort, das er an sie
+selbst richtete, die Form peinlichster Höflichkeit und Ritterlichkeit.
+
+Endlich kam der große Tag für Venne.
+
+Sie war sehr befangen, als der Augenblick nahte, da sie vor den
+mächtigsten Herrscher des Abendlandes treten sollte. Der Oheim sprach
+ihr Mut zu, und auch Herr von Woltwiesche suchte sie zu beruhigen.
+
+Der Kaiser hatte einen leidenden, gequälten Zug im Gesicht. »Was will
+dieses Volk der Deutschen eigentlich alles von mir?« so konnte man
+seinen müden Blick deuten. »Will es mich schon auf diesem einen und
+ersten Reichstage, den ich abhalte, mit seinen Angelegenheiten zu Tode
+quälen?« Immerhin bot die Sache eine Abwechselung, da zum erstenmal
+eine Frau als Beschwerdeführerin auftrat.
+
+Ein Prokurator unterrichtete ihn kurz von dem Inhalt der Beschwerde.
+»Also soll sie reden!« ordnete er an. Aber zunächst ergriff Ernesti das
+Wort. Der Kaiser blickte erstaunt auf: »Wer ist der Mann?« -- Ein neben
+ihm Sitzender, es war der Kurfürst-Erzbischof von Mainz, flüsterte ihm
+zu, es sei ein sehr einflußreicher Deutscher, der auch dem hochseligen
+Herrn Maximilian wohlbekannt gewesen und ihm manche wichtige Dienste
+geleistet habe. Geduldig hörte Karl ihn an. Dann erhielt Venne das
+Wort.
+
+Während der Rede ihres Oheims hatte sie Zeit gefunden, sich zu sammeln.
+Aber noch jagten sich Erröten und tiefe Blässe auf ihrem Gesicht, als
+sie mit leiser Stimme zu sprechen begann.
+
+Der Kaiser sah sie unverwandt an, und seine Ratgeber merkten, daß ihm
+die schöne Frau offensichtlich gefiel. Frei blickte auch Venne dem
+Mächtigen ins Gesicht. Mehr und mehr gewann ihre Stimme an Festigkeit.
+Sie schilderte die Demütigungen, die ihr widerfahren, die Armut, der
+sie durch das Verhalten des Rates von Goslar ausgeliefert sei. Zuletzt
+schwoll ihre Stimme zu edler Entrüstung an.
+
+»Also klage ich den Rat der Stadt Goslar und insonderheit den
+Bürgermeister, Herrn Karsten Balder, an, daß sie mir und meinem Vater
+gegenüber fleißig und absichtlich das Recht gebeugt haben, auch üble
+Nachrede über meinen ehrenwerten Vater und mich ungehindert haben
+verbreiten lassen.
+
+Ich bitte Euch, Großmächtigster Herr Kaiser,« schloß sie endlich,
+»Ihr wollet mir armen Waise Euren gnädigen Schutz nicht versagen
+und dazustehen, daß mein Recht gewahrt und meines Vaters Ehre
+wiederhergestellt werde.«
+
+Mit einer tiefen Verneigung trat sie einige Schritte zurück. Der
+Kaiser blickte ihr einige Augenblicke sinnend nach. Dann besprach
+er sich kurz mit seinen Räten. Man sagte ihm, die Sache sei wohl
+juristisch nicht ohne weiteres zugunsten der Bittstellerin zu
+entscheiden; indes die Verdienste ihres Ohms und die Gutgläubigkeit
+bei den Vertragsverhandlungen, bei denen der Vater jedenfalls ohne
+Arglist vorgegangen war, wie auch endlich der Umstand, daß durch den
+Kauf des Richerdesschen Bergwerksanteils die reiche Stadt Goslar
+nicht wesentlich geschädigt werde, zumal man ja nicht wissen könne,
+ob nicht trotz der augenblicklichen Lage doch noch bergbauliche Werte
+darin enthalten seien, alles dieses lasse es mindestens zu, dem Rate
+dringend zu empfehlen, die Sache erneut zu prüfen und in einer die
+Erbin befriedigenden Weise zu Ende führe.
+
+Karl war über diesen Vorschlag erfreut; es hätte ihm leid getan, die
+kühne und schöne Bittstellerin abschlägig bescheiden zu müssen. Mit
+leutseligen Worten eröffnete er ihr das Ergebnis, gleichzeitig mit dem
+Bedeuten, daß sie die schriftliche Ausfertigung schon in aller Kürze
+aus der kaiserlichen Kanzlei erhalten könne. Außerdem werde der Rat
+noch durch ein besonderes Schreiben unterrichtet werden.
+
+Voll innigen Dankes eilte Venne zum Kaiser vor, kniete vor ihm nieder
+und küßte ihm die Hand mit dem großen Siegelring. Karl war überrascht,
+doch lächelte er ihr huldvoll zu; die Beisitzer blickten ebenso
+sprachlos drein: so etwas war angesichts der strengen Etikette bis
+dahin unerhört. Aber auch sie fanden sich mit dem hübschen Zwischenfall
+ab.
+
+Aufatmend verließ Venne den Saal. Draußen fiel sie in überströmendem
+Dank dem Oheim um den Hals. »Das habe ich Euch in erster Linie zu
+verdanken, teurer Oheim!«
+
+»Nun, nun, diese Form der Danksagung lass' ich mir schon gefallen;
+doch ich glaube,« fuhr er mit einem leisen Lächeln fort, »Dein
+spitzbübisch hübsches Gesicht hat auch ein wenig Anteil an dem Siege.
+Und dann vergiß auch hier den Herrn von Woltwiesche nicht, der uns
+manch trefflichen Wink gab!« -- So reichte sie auch diesem die Hand.
+Ehrerbietig neigte er sich darüber und flüsterte mit leiser, heißer
+Stimme: »Wollte Gott, ich dürfte noch mehr für Euch tun. Mein Leben
+sollte ein einziges Dienen um Eure Huld sein.« Da wandte sie sich
+verletzt von ihm ab.
+
+
+
+
+Venne trat die Rückreise mit wesentlich leichterem Herzen an, als
+sie nach Worms gekommen war. Mit dem Spruche des Kaisers, so meinte
+sie, war alles Unheil ausgetilgt. Nun mußte auch der stolze Patrizier
+Achtermann seine Bedenken gegen eine Verbindung seines Sohnes mit ihr
+aufgeben. Die Wolken, die so düster und unheilschwanger über ihrem
+Haupte hingen, begannen sich zu zerteilen! Ihre Gedanken eilten zu
+Heinrich: Wo mochte er wohl sein, wenn sie zurückkehrte? Sie gestand
+sich ein, daß sie ihm doch wohl oft unrecht getan habe mit ihrer ewigen
+Verärgertheit, und sie nahm sich vor, ihn durch verdoppelte Liebe zu
+entschädigen.
+
+Bis Frankfurt reiste sie zusammen mit dem Oheim. Dann nahm er Abschied
+von ihr, um durch das Rheintal den nächsten Weg in die Heimat zu
+suchen. »Jetzt herrscht hoffentlich bald wieder gut Wetter in Goslar«,
+scherzte er. »Übers Jahr spätestens hoffe ich eine Einladung zu Deiner
+Hochzeit zu erhalten.« Errötend nickte ihm Venne zu, er traf ja mit
+seinen Worten nur ihre eigenen, innigsten Wünsche!
+
+Vor der Abreise empfahl er seine Nichte dem Schutze ihrer
+Reisegefährten, besonders dem des Hildesheimers. Woltwiesche beeilte
+sich, zu versichern, daß er sein möglichstes tun wolle, um ihr die
+Reise so bequem wie möglich zu machen. Er werde auch den kleinen Umweg
+über Goslar nicht scheuen, um sich zu überzeugen, daß sie heil und
+unversehrt zu Hause angelangt sei.
+
+Die Reisegesellschaft war klein. Neben dem Bischöflichen bestand
+sie aus einigen Kaufleuten und dem alten Ratsherrn Bertold Sachs
+aus Magdeburg. Dieser würde den Weg mit ihr bis fast in die Heimat
+zurücklegen. Das war Venne ein wahrer Trost.
+
+Sie wollte dem Oheim nicht ins Wort fallen, als er den Geheimschreiber
+im besonderen zu ihrem Ritter ernannte. Ohne sich im einzelnen über
+das Gefühl ihrer Abneigung Aufschluß geben zu können, konnte sie doch
+diese innere Ablehnung des ganzen Mannes nicht loswerden. War es sein
+geschniegeltes, geziertes Wesen, stieß sie seine übergroße, fast devote
+Höflichkeit ab? -- Sie wußte es nicht, aber sie war willens, sich ihm
+so fern zu halten, wie es möglich sei. Deshalb schloß sie sich auch vom
+ersten Tage an mehr dem Ratsherrn an, dessen väterlich gütiges Wesen
+ihr Vertrauen weckte.
+
+»Sahet Ihr auch den Wittenberger?« brachte er am ersten Tage das
+Gespräch auf die Wormser Vorgänge. Venne bejahte und gab ihrer
+Bewunderung für den unerschrockenen Mönch Ausdruck.
+
+»Euch hat es vor allem, wie es scheint, sein Mut angetan. Der war auch
+zum Verwundern groß; ich weiß freilich nicht, ob er sich der Gefahr
+bewußt gewesen ist, in die er sich begab. Er soll ja, so hört man,
+freies kaiserliches Geleit zugesichert erhalten haben; indes wundern
+würde es mich nicht, wenn der Mann seine Heimat nicht wiedersieht.«
+
+»So meint Ihr, daß der Kaiser ihm das Wort nicht hält?« fragte sie
+erschrocken, denn ihrem Herzen gab es einen Stoß, daß derselbe Mann,
+der sich ihr so gnädig und gütig erwiesen hatte, in diesem Falle gegen
+seine Ehre handeln könne.
+
+»Der Kaiser braucht es nicht zu sein,« fuhr der Magdeburger fort. »Es
+gibt ihrer auch ohne den Kaiser genug, die ihm das Leben nicht gönnen
+werden, ja sie sind seine Todfeinde. Und ehe sie ihre Macht durch
+einen armseligen Mönch zertrümmern lassen, werden sie ihn selbst zu
+beseitigen suchen. Den Kaiser braucht darob nicht einmal der geringste
+Vorwurf zu treffen; denn wie soll er es verhüten, daß in seinem weiten
+Reiche ein Menschlein verschwindet. Schade freilich wäre es um diesen
+Mann.«
+
+»So seid Ihr auch der Meinung, daß er eine gute Sache vertritt?«
+forschte sie.
+
+»›Auch‹, -- demnach hat er es Euch also angetan?« -- Venne errötete ein
+wenig, aber der Ratsherr kam ihr zu Hilfe. »Ihr braucht Euch ob Eurer
+Teilnahme nicht zu schämen, noch weniger bedarf sie der Erklärung. Wer
+einer Wallung in seiner Brust fähig ist, dem mußte das Herz bewegt
+werden bei so viel tapferem Freimut und glühender Begeisterung. Ob er
+irrt, wer mag es wissen; aber heilige Überzeugung sprach aus jedem
+seiner Worte, und seine Worte haben die Herzen derer gepackt, die ihn
+hörten, es sei denn, daß sie sich mit Fleiß dagegen verhärteten.«
+
+»Das trifft auch auf den Oheim Ernesti zu, wie ich merkte«, fügte Venne
+schüchtern ein. »Er war ganz wild, als ich ihm zu erkennen gab, daß der
+Luther mich erschüttert habe.« Und dann erzählte sie, wie jener ihre
+Begeisterung für Luther aufgenommen habe.
+
+»Das glaube ich,« erwiderte Sachs, »hätte es bei ihm, den ich auch
+kenne, nicht anders erwartet. Er ist ja aber auch mit dem Papst und
+seiner Sache besonders eng verbunden, wie ich weiß. Und den rechten
+Starrkopf hat er obendrein.
+
+Endlich aber ist er, das wollet nicht vergessen, einer von den Alten,
+die so leicht nicht umlernen. Mir ist's ähnlich gegangen: Man wirft
+nicht ohne weiteres über Bord, woran man ein langes Leben sein Herz
+gehängt. Und vollends nun, wenn es das Beste, Heiligste ist, auf das
+man in dieser irdischen Kümmerlichkeit seine Hoffnung setzte.
+
+Ihr Jungen springt vielleicht mit Jauchzen in das neue Land, aber wir
+Abgängigen zaudern, den einen Schritt zu tun, der uns Befreiung bringen
+kann von aller Unwahrhaftigkeit und Seelennot, der uns aber auch trennt
+von all dem, was uns an das alte Gestade kettet.
+
+Mir ging ein treues Weib dahin, sie starb im alten Glauben. Wir
+begruben gemeinsam drei prächtige Kinder. Es war der Trost meiner
+Lebensgefährtin in ihrer Todesstunde, daß sie da oben ihre Lieblinge
+wiederfinden würde. Sie wartet auf mich mit gleicher Zuversicht. Soll
+ich sie, darf ich sie enttäuschen? Scheide ich mich für ewig von ihnen,
+wenn ich den neuen Glauben annehme? Meine Seele drängt zu Luther, mein
+Herz bebt zurück vor der möglichen Trennung. Wer löst mich von der
+Pein?«
+
+Wer löst mich von der Pein? -- Das war auch die Last, die ihr eigenes
+Herz bedrückte: Der Vater, die Mutter, sie hatten nacheinander den
+Pilgerstab aus der müden Hand gelegt und waren durch das dunkle Tor
+gegangen, das ihnen, wie sie glaubten und hofften, das Wiedersehen
+in einer lichten Welt schenken würde. Und sie, die Tochter, sollte
+sie nicht zur Seite ihres Mütterleins stehen, nicht mit dem geliebten
+Vater die seligen Freuden des Jenseits genießen dürfen? Und noch ein
+irdisches Bangen hemmte ihren Entschluß: Der Geliebte. Die Achtermanns
+hingen noch mit aller Zähigkeit am alten Glauben, und Heinrich? Ja,
+Heinrich liebte sie, und sie hoffte, in Worms die Hindernisse aus dem
+Wege geräumt zu haben, die sich ihrer Vereinigung entgegenstellten.
+Errichtete sie nicht eine neue, unübersteigbare Schranke, wenn sie der
+Regung ihres Innern nachgab? Und dann auch wieder der Zweifel: War das
+nun auch der rechte Weg? Freilich, gedachte sie der feurigen Worte des
+Mönches, sah sie seinen weltentrückten Blick vor sich, so fühlte sie
+sich als seine Jüngerin, und auch in ihr klang es wieder: »Ich kann
+nicht anders, Gott helfe mir! Amen!«
+
+Der Ratsherr sah die Kämpfe in ihrem Innern; das junge Weib dauerte
+ihn, aber Hilfe konnte auch er ihr nicht bringen. »So ist es nun,«
+murmelte er, »Licht will er uns bringen, Erlösung, der Feuerkopf, und
+stürzt uns doch in das Dunkel der Herzenskämpfe!« Und er ritt, in
+ernste Gedanken versunken, fürbaß.
+
+Venne und ihre Begleiter waren eine geraume Zeit nach Luther von Worms
+aufgebrochen. Er saß längst auf der Wartburg in sicherm Gewahrsam, als
+man ihn im Reich noch frei wähnte.
+
+In der Umgegend des Überfalls aber, der von Freunden zu seiner
+Sicherheit ausgeführt wurde, lief das Gerücht um, der Mönch sei
+aufgehoben und fortgeführt worden, von den Kaiserlichen natürlich, oder
+Papisten, so wähnte man. Andere wieder mutmaßten, es sei eine Finte,
+die von Freunden und Gesinnungsgenossen ins Werk gesetzt worden sei, um
+die Feinde irrezuführen.
+
+Auch die Reisenden erreichte das Gerücht, als sie sich der Grenze des
+Hessenlandes näherten. Venne war tief niedergeschlagen. Sachs seufzte
+auf.
+
+»So haben sich meine Befürchtungen schneller erfüllt, als ich annahm.
+Schade um den Mann! -- So schnell also erlosch das Licht, das uns in
+der Finsternis aufging!«
+
+Bei Venne brach sich der Zorn Bahn. »Das ist abscheulich vom Kaiser,
+wenn er es veranlaßt hat. Nie hätte ich ihm diese Doppelzüngigkeit
+zugetraut!«
+
+»Es muß ja nicht der Kaiser gewesen sein«, begütigte der Ratsherr. »Ich
+sagte Euch: die anderen, die Päpstlichen, sind ihm noch viel ärger
+gram. Endlich bleibt noch die geringe Hoffnung, daß ~die~ recht
+haben, die da meinen, nicht Feinde, sondern gute Freunde hätten ihn zu
+seinem Besten den Streich gespielt. Möge es so sein,« schloß er, »sonst
+ist der Menschheit ein großer Verlust widerfahren.«
+
+»Möchte es so sein!« -- das wünschte auch Venne in ihrem Herzen, und
+ihr Gebet am Abend schloß mit der innigen Bitte: »Lieber Gott, erhalte
+uns den Mann und errette ihn vor seinen Widersachern!«
+
+ * * * * *
+
+Während der ersten Tage war der bischöfliche Schreiber durchaus der
+aufmerksame Reisemarschall, der sich bemühte, der ihm Anvertrauten das
+Reisen so angenehm wie möglich zu machen. Aber als in Fulda einige
+der Reisegefährten zurückblieben und sie nunmehr auf den alten Sachs
+aus Magdeburg neben Woltwiesche angewiesen war, von dem Diener des
+Ratsherrn abgesehen, änderte sich sein Benehmen. Daß er den ganzen Tag
+über fast unausgesetzt an ihrer Seite zu bleiben suchte, konnte er mit
+dem Auftrage des Oheims begründen, auf seine Nichte Obacht zu geben.
+Doch er mißbrauchte jede Gelegenheit, um ihr seine Gefühle für sie
+immer eindeutiger zu zeigen. Für eine andere hätte vielleicht diese
+Art der Huldigung seitens des adligen Schreibers einen Reiz gehabt,
+aber Venne, der auch der ganze Mann widerstand, empfand sie als eine
+Belästigung. Als er ihr dann eines Tages unverblümt seine Neigung
+gestand, ließ sie ihn sehr ungnädig ablaufen.
+
+Ihre Ablehnung aber stachelte seine Glut noch mehr an. »Was habt
+Ihr gegen mich?« fragte er. »Kann ich Euch nicht ein angenehmes
+Leben bieten mit einer Stellung, welche die Eurige in Goslar weit
+überragt? Und es muß Euch doch auch daran liegen, aus der leidigen
+Stadt herauszukommen, wo Euch alles auf Schritt und Tritt an erlittene
+Kränkungen erinnert. Folgt mir nach Hildesheim, Ihr werdet es nicht
+bereuen.«
+
+»Spart Eure Worte, Herr von Woltwiesche, sie sind vergebens gesprochen,
+und sie beleidigen mein Ohr. Wollt Ihr aber den Hauptgrund meiner
+Ablehnung wissen, so denkt an die Äußerung meines Oheims. Ihr wißt, ich
+bin verlobt, und Ihr habt die Rechte eines Dritten zu achten.«
+
+»Der Teufel hole diesen Dritten, der Euch mir vorweg stahl. Hat er sich
+um Euch gekümmert, als Ihr in Worms um Euer Recht kämpftet? Ich stand
+Euch zur Seite, ~er~ nicht!« antwortete er grollend.
+
+»Es ist nicht vornehm von Euch gehandelt, mir Eure Dienste, die ich
+zudem nicht beansprucht habe, so ins Gesicht zu rühmen. Aber meinem
+Bräutigam tut Ihr unrecht. Hätte er gekonnt, so würde er gewiß dort
+nicht gefehlt haben. Doch er ist zur Zeit außer Landes«, wies sie ihn
+zurecht.
+
+»Ha, ha, ha,« lachte der Schreiber höhnisch, »das ist mir der rechte
+Liebhaber, der auf Reisen geht, während die Braut um ihr Leben kämpft!«
+
+Zornig fiel ihm Venne ins Wort: »Was erfrecht Ihr Euch, Herr, so
+über den Mann zu sprechen, dem ich verlobt bin! Was wißt Ihr von den
+Gründen, die ihn fernhalten? Dankt Eurem Schöpfer, daß er nicht hier
+ist, Eure Rede würde Euch schlecht zu stehen kommen.«
+
+Da in diesem Augenblick der Ratsherr, der vorangeritten war, hielt,
+um sich nach ihr umzusehen, brachen sie das Gespräch ab, der
+Geheimschreiber voller Unwillen, über Venne wie über den Störenfried.
+Sie hielt sich künftig, soweit das ging, noch mehr in der Nähe des
+älteren Begleiters. Der Schreiber erkannte ihre Absicht und knirschte
+mit den Zähnen, voller Wut, daß seine Absicht durchkreuzt wurde. Er
+war durch die Worte Vennes nicht abgeschreckt, sondern wartete nur auf
+einen günstigen Augenblick, um seine Pläne wiederaufzunehmen.
+
+Diese Gelegenheit bot sich erst einige Tage später, als man schon in
+die Nähe des Harzes gekommen war. Unversehens drängte er sein Pferd
+an das ihrige, und als sie es, unwillig über die erneute Frechheit,
+antrieb, fiel er ihr in den Zügel.
+
+»Ihr müßt mich anhören, und Ihr werdet mich hören«, sprach er
+entschlossen und mit wildglühendem Blick.
+
+Venne war erschrocken über die lodernde Gier, die ihr aus seinem Auge
+entgegenfunkelte; doch sie bezwang ihre Furcht und fragte spöttisch
+lächelnd: »Habt Ihr an der Absage von neulich noch nicht genug? Ich
+meine, Eure Würde als Edelmann sollte Euch abschrecken, eine neue
+Demütigung zu erleiden.«
+
+Aber unbeirrt fiel er ihr ins Wort: »Laßt den Hohn, Venne, Ihr wißt
+nicht, welch gefährlich Spiel Ihr treibt. Ihr habt es mir angetan, daß
+ich nicht von Euch lassen kann. Könntet Ihr in mein Herz sehen, so
+würde Euch mein jämmerlicher Zustand allein schon Mitleid einflößen.
+Stoßt mich nicht zurück, Venne, Ihr treibt mich sonst zum Äußersten.«
+
+»Ich kann meinem Herzen nicht gebieten, daß es Euch gewogen sein soll«,
+wehrte Venne ab. »Schämt Euch, daß Ihr Euch von einer flüchtigen Regung
+des Augenblicks so knechten laßt, um darüber zu vergessen, was eines
+Mannes und Ritters würdig ist.«
+
+In ihrer Entrüstung erschien sie ihm nur noch schöner und
+begehrenswerter. Das Blut stieg ihm in den Kopf, und er verlor die
+Besinnung über sich.
+
+»Was schiert mich Rittertum, was Manneswürde, Dich will ich haben,
+Du schönstes Weib!« Damit beugte er sich zu ihr herüber und riß sie
+an sich. Venne fühlte seine Lippen auf ihrem Munde brennen. Aber im
+nächsten Augenblick riß sie sich los. Zornbebend blitzte sie ihn an und
+schlug ihn mit der Reitgerte ins Gesicht. »Schuft!« rief sie ihm zu,
+dann sprengte sie davon zu den übrigen.
+
+Einen Augenblick war der Gezüchtigte wie betäubt, dann aber brannte ihn
+die Schmach, die er erlitten. »Das sollst Du mir büßen, Teufelsweib!
+Verschmähst Du meine Liebe, so soll Dich meine Rache um so sicherer
+treffen!«
+
+Den Ratsherrn bat Venne, mit ihr künftig allein weiterzureisen, da der
+Geheimschreiber sich ungebührlich gegen sie benommen habe. Sachs wollte
+jenen zur Rede stellen, aber Venne hieß ihm, davon abzulassen. »Wir
+wollen voranreiten, er wird uns nicht folgen.« So geschah es.
+
+
+
+
+Bei ihren Freunden und besonders bei der alten Katharina herrschte
+freudige Überraschung, als Venne in Goslar wieder eintraf. Kurz vor dem
+Ende ihrer Reise erlebte sie noch ein Abenteuer, das sich böse anließ,
+aber doch harmlos verlief. Sie hatte für den letzten Teil des Weges
+Gesellschaft und Schutz an einer Anzahl von Reisenden gefunden, die
+über Goslar weiter nach dem Osten wollten.
+
+Jenseits des Städtchens Seesen, wo die Straße am Fuße der Harzberge
+dahinzog, wurden sie plötzlich am hellen Tage von bewaffneten Reitern
+angehalten. Da die Angegriffenen sich zur Wehr setzten, wäre es gewiß
+zu einem Blutvergießen gekommen. Als die Männer noch in erregtem
+Wortwechsel begriffen waren, trat plötzlich ein neuer Ankömmling
+auf, der sich durch seine Kleidung von den Angreifern vorteilhaft
+unterschied. Überrascht sah er auf die schöne Frau, die erblaßt
+inmitten des Tumultes stand.
+
+Er war der Anführer oder besaß jedenfalls das Ansehen eines solchen,
+denn bei seinen ersten Worten gehorchten die wilden Männer sogleich.
+»Hört auf«, befahl er. »Die Leute sollen ungestört weiterziehen.«
+
+Als einer der Räuber nicht sogleich von seiner Beute abließ, fuhr er
+ihn mit harten Worten an:
+
+»Wirst Du Schuft gehorchen, oder willst Du meine Klinge spüren?«
+
+Sofort stand der Mann von seinem Vorhaben ab. Die Wegelagerer sahen
+sich erstaunt an: Was war denn in ~den~ gefahren? Das war ja das
+erstemal, daß er ihnen einen schon gelungenen Fang entgehen ließ. Sie
+murrten leise untereinander, aber, ihm gegenüber an blinden Gehorsam
+gewöhnt, zogen sie ab.
+
+Die Reisenden wollten für die unerwartete Hilfe danken, doch er wehrte
+ihnen ab. Sein Auge hing immer noch an Venne: »Vergebt, schönes
+Fräulein, so darf ich Euch doch nennen, daß Ihr die Belästigung
+erleiden mußtet; haltet es dem Mangel an Umgang mit Damen zugute, wenn
+sie sich ungeschliffen und tölpelhaft benahmen. Aber Ihr seht ja, es
+sind im Grunde nur ungeleckte Bären.«
+
+Nun die Gefahr vorüber war, gewann auch Venne ihre Fassung wieder. Die
+Sache kam ihr beinahe belustigend vor, und sie antwortete mit einem
+Lachen: »Ich möchte aber doch diesen Bären nicht begegnen, wenn ihr
+Führer fehlt. Euch gebührt jedenfalls mein Dank, daß Ihr Euch zur
+rechten Zeit einfandet, um sie tanzen zu lehren statt zu brummen. Doch
+ist es nötig, daß ich meinen Dank an Herrn ›Niemand‹ richte, oder darf
+man Euren Namen wissen, ohne neugierig zu sein?«
+
+»Wollet gestatten, Fräulein, daß ich für Euch der Herr ›Niemand‹
+bleibe. Was ist ein Name? Ich führe ihrer viele. Der eine aber, den ich
+Euch nennen könnte, würde Euch wahrscheinlich schrecken. Also begnügt
+Euch mit dem Bewußtsein, daß Ihr einem Abenteuer anheimfielet, bei dem
+ein Unbekannter Euch geringe Dienste leisten konnte, ein Unbekannter,«
+fuhr er leiser fort, »dem es Eure Schönheit auf den ersten Blick antat
+und der vieles darum geben würde, könnte er Euch einmal in einer
+wirklich großen Not beistehen. Ich will nicht hoffen, daß ein solcher
+Augenblick eintritt. Aber habt Ihr einen Helfer nötig, so ruft mich,
+und ich bin zur Stelle.«
+
+Venne hörte dem Unbekannten mit einer gewissen Neugier zu. Merkwürdig,
+die freimütige Art, in der er ihr huldigte, verletzte sie nicht
+annähernd so, wie die zierlichen Redewendungen des Herrn von
+Woltwiesche es von Anfang an getan hatten. Sein offener Blick schien
+trotz des düsteren Handwerks, mit dem er in Verbindung stand, nichts
+Falsches zu kennen. Als er geendet hatte, sagte sie, immer noch in
+einem fröhlichen, freundlichen Ton: »Aber wo finde ich denn den Herrn
+Unbekannt, wenn ich ihn nötig habe?«
+
+Der Fremde neigte sich zu ihr: »Dann fragt nur bei den Brüdern im
+Kloster zum Grauen Hofe nach; dort wird man Euch bescheiden können.
+Ihr seht also,« schloß er scherzend, »ich bin nicht immer in so
+verwahrloster Gesellschaft.«
+
+Als Venne den Goslarer Freunden von ihrem Abenteuer berichtete, wobei
+sie das Verhalten des Führers, oder was er gewesen, rühmend hervorhob,
+sagte Johannes Hardt sogleich: »Das war Hermann Raßler. Der hat
+gewiß geglaubt, uns wieder einen Tort antun zu können. Und Du darfst
+froh sein, daß Du als Goslarerin so glimpflich davonkamest.« Venne
+widersprach: »Ich glaube, daß er mich auch gleich ritterlich behandelt
+haben würde, hätte er gewußt, wer ich bin.«
+
+Die Freude über ihre glücklich erfolgte Heimkehr erlitt einen jähen
+Stoß, als sie von dem Unfall hörte, der Heinrich Achtermann vor seiner
+Abreise betroffen hatte. Und sie war vollends entsetzt, als sie die
+Einzelheiten vernahm, die ihn herbeiführten. Tränen der Scham und
+der Verzweiflung füllten ihre Augen. »Wie konntest Du mir das antun,
+Katharina! Nun ist alles aus zwischen Heinrich Achtermann und mir. Was
+wird er gedacht haben, daß ich ihn an mich kuppeln wollte, wie eine
+feile Dirne sich ihren Liebhaber sichert!«
+
+Katharina war untröstlich über den Schmerz, den sie, die es doch so
+gut gemeint hatte, ihrer Herrin bereitete. »Aber ich habe ja längst
+versucht, die Sache richtigzustellen und will gern mit dem Ratsherrn
+selbst sprechen, wenn Du es verlangst«, wimmerte sie.
+
+Doch Venne wehrte ab: »Laß um Gottes willen Deine Hände davon. Du
+würdest nur noch mehr verderben, als schon geschehen ist. Was noch zu
+tun ist, liegt mir selbst ob.«
+
+Entrüstet und bekümmert erzählte sie den Hardts, was Katharina
+angerichtet habe. Diese hatten davon noch nichts gehört. Achtermann
+mußte also verboten haben, darüber zu sprechen. Johannes wollte darin
+ein günstiges Zeichen sehen, doch Venne teilte diese Auffassung nicht.
+»Ihr kennt den Mann nicht in seinem Starrsinn, der an Bosheit grenzt.
+Wäre wenigstens Heinrich da, daß ich mich vor ihm rechtfertigen könnte,
+dann möchte es sich vielleicht noch zurechtgeben. Aber aufgeklärt
+werden muß die Sache, und da ich beschuldigt bin, werde auch ich selbst
+diese Aufklärung herbeiführen.«
+
+Daneben erhob sich die Frage, wie nun ihre Angelegenheit mit dem Rat
+behandelt werden müsse. Johannes Hardt stellte sich ihr zur Verfügung,
+riet aber, abzuwarten, bis das Schreiben des Kaisers eingetroffen sei.
+Inzwischen führte Venne ihren Vorsatz aus und suchte den Ratsherrn
+Achtermann auf. Es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, um nicht im
+letzten Augenblick umzukehren. Denn das Bewußtsein, daß sie dem Manne
+gegenübertreten sollte, der für das Scheitern ihres Lebensglücks
+verantwortlich zu machen war, lastete mit erdrückender Schwere auf
+ihr. Sie hatte einige Zeit zu warten, bis der Gefürchtete und beinahe
+Verhaßte durch eine kleine Seitentür ins Zimmer trat. Sein kühler,
+abweisender Blick sagte ihr, daß sie nichts Gutes von ihm zu erwarten
+habe.
+
+»Wie komme ich zu der zweifelhaften Ehre, Euch in meinem Hause zu
+sehen?« fragte er mit schneidender Kälte. Venne schoß das Blut ins
+Gesicht.
+
+»Ihr habt kein Recht, mich in dieser verletzenden Art und Weise zu
+empfangen, Herr Achtermann«, antwortete sie, sich mühsam beherrschend.
+»Ohne triftigen Grund sähet Ihr mich freilich nicht hier. Aber ich
+will mich gegen Verleumdungen verteidigen, die man über mich in meiner
+Abwesenheit in Umlauf setzte und an denen auch Ihr, wie ich höre, nicht
+unbeteiligt seid.«
+
+»Ich bin gespannt auf diese Verteidigung, wenngleich sie vor mir wenig
+angebracht ist«, sagte er mit unverändertem Hohn.
+
+Venne beteuerte, daß sie von dem ganzen Vorhaben nichts gewußt und erst
+jetzt davon gehört habe, zu ihrer großen Beschämung.
+
+»Ihr müßt schon einen Dümmeren suchen, als Ihr in mir findet, der Euer
+Märlein glaubt. Euch auf die Harmlose hinauszuspielen, steht Euch
+schlecht an.«
+
+Da verließ auch Venne die Ruhe: »Daß Ihr ein hartherziger Vater waret,
+wußte ich. Daß ihr ein elender Verleumder und Ehrabschneider seid,
+erfahre ich zur Stunde. Ich will nicht um Eure Gnade betteln. Sagt mir
+nur noch eins auf Euer Gewissen: Teilt Euer Sohn Eure Meinung von mir?«
+
+Dem Ratsherrn schwoll bei den kühnen und furchtlosen Worten des
+Mädchens die Zornesader. »Hütet Euch, mich noch zu reizen, Jungfer
+Richerdes; es möchte Euch teuer zu stehen kommen. Noch bewahre ich Eure
+Tat bei mir. Gebt mir nicht Anlaß, sie der Öffentlichkeit preiszugeben;
+es möchte Euch wenig frommen. Und was meinen Sohn anbetrifft, so könnt
+Ihr Euch sein Urteil selbst ausmalen. Eins sollt Ihr wenigstens wissen:
+Ehe Ihr in mein Haus als Schwieger einzieht, töte ich meinen Sohn mit
+eigener Hand. Aber daß das nicht nötig ist, dafür laßt mich allein
+sorgen.«
+
+Venne war leichenblaß geworden. »Ich danke Euch trotz allem für Eure
+Mitteilung. Nun sehe ich wenigstens klar, und Ihr mögt unbesorgt sein,
+daß ich Euer Haus je wieder betrete; doch für Eure Kränkungen und
+Beleidigungen«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, »sollt Ihr mir
+Rechenschaft geben, Herr Achtermann!«
+
+»Versucht das lieber nicht«, antwortete er grollend. »Seid froh,
+wenn ich Euch dazu nicht auffordere. Ich warne Euch vor unbedachten
+Schritten; es geht dabei um mehr, als Ihr zu wissen scheint oder wissen
+wollt.«
+
+Zornbebend verließ Venne das Haus. Sie vermochte kaum die Tränen der
+Wut und der Empörung zurückzuhalten. Zu Hause aber ließ sie ihrem
+Schmerz und ihrer Verzweiflung freien Lauf. Es überfiel sie ein
+Weinkrampf, und ihre klagende Stimme gellte durch das leere Haus. Die
+gute Katharina wußte sich keinen Rat, und sie weinte aus Erbarmen
+ebenfalls zum Herzzerbrechen.
+
+Zufällig kam Gisela Hardt um diese Stunde. Sie war zunächst ratlos
+gegenüber dieser wilden Verzweiflung, ihrem milden Trost und Zuspruch
+gelang es doch zuletzt, Venne etwas zu beruhigen. Sie hielt die
+Unglückliche in ihrem Arm und tröstete sie, wie man ein weinendes Kind
+zur Ruhe bringt. Als sie schied, ging sie mit schwerem Herzen davon.
+Denn hier versagte zuletzt wirklicher Trost, der auch das Mittel zur
+Heilung anzugeben weiß.
+
+Als die Botschaft aus Worms eingetroffen war, erhielt Venne eine
+Vorladung vor den Rat. Sie fühlte sich durch den Vorgang im Hause des
+Ratsherrn so zermürbt, daß ihr alles gleichgültig geworden war. Aber
+jetzt feuerte Johannes Hardt sie an, ihr Recht zu wahren. Er erbot
+sich, ihr mit allen seinen Kräften zur Seite zu stehen, und er hielt
+dieses Versprechen auch ehrlich bis zuletzt, auf die Gefahr hin, daß
+sein mannhaftes Eintreten ihm für seine weitere Laufbahn schaden könne.
+
+Das kaiserliche Schreiben an den Rat war maßvoll gehalten, und es
+ließ die Verhandlung zwischen beiden Teilen zu. Man erwog das Für
+und Wider, und schon schien es, als ob die Angelegenheit eine für
+Venne befriedigende Lösung finden werde. Da machte Achtermann alle
+Geneigtheit zunichte durch seinen rücksichtslosen Widerspruch. Er
+bewies noch einmal, daß sich die rechtliche Grundlage nicht zugunsten
+des Richerdesschen Anspruches geändert habe, und forderte unter
+Hinweis auf die Folgen eines solchen Präzedenzfalles Zurückweisung des
+Anspruches trotz des kaiserlichen Schreibens. Sein Einfluß siegte, und
+Venne erhielt den Bescheid, daß man nicht gesonnen sei, zu zahlen.
+
+Das Geld würde sie verschmerzt haben, wenngleich sie für die Zukunft
+bitterer Armut ausgesetzt war. Daß es ihr jedoch nicht gelingen sollte,
+die Ehre ihres Vaters rein zu waschen, das erfüllte sie mit namenlosem
+Zorn. Sie hockte in ihrem Zimmer, allein mit ihrer Verzweiflung und
+ihrem Grimm. Immer wieder stiegen ihr die Tränen auf in Erinnerung
+an all die Schmach, die man ihr angetan, und das Unglück, das sie
+unschuldig traf. Johannes Hardt wies sie zurück, und auch Gisela
+vermochte mit ihrem sanften Trost nichts über sie. »Laßt mich, Ihr
+könnt mir nicht helfen. Ich muß versuchen, allein durchzukommen.«
+
+Sie berührte kein Essen, immer tiefer fraß sie sich in ihre verbissene
+Wut. Von aller Welt kam sie sich verlassen vor, verhöhnt, gehetzt; es
+war die richtige Stimmung, um den Menschen zu verzweifelten Schritten
+zu verleiten.
+
+In dieser Stimmung besann sie sich der Worte jenes Fremden, der Hermann
+Raßler sein sollte. Er haßte gleich ihr den Rat von Goslar. Bei ihm
+würde sie Verständnis für ihre Lage finden. So machte sie sich auf den
+Weg zu dem in Waldeseinsamkeit gelegenen Kloster der Grauen Brüder, dem
+heutigen Grauhof.
+
+Man war dort über ihren Prozeß unterrichtet, und es schien, als ob auch
+der Fremde schon von ihrer Lage gehört hatte, denn er hatte genaue
+Anweisung für den Fall gegeben, daß Venne Richerdes nach ihm frage.
+
+»Ihr trefft, den Ihr sucht, in Wolfenbüttel in der Herberge zum
+›Anker‹. Fragt dort nach Herrn Starke, so wird Euch weitere Auskunft
+werden.«
+
+So trat Venne die Reise nach der herzoglichen Residenz an. Daheim und
+den Freunden gegenüber verschwieg sie alles, was sie vorhatte.
+
+
+
+
+Im Schlosse zu Wolfenbüttel residierte Herzog Heinrich der Jüngere,
+wenn er nicht mit seinen Reisigen im Felde lag gegen den Hildesheimer
+Bischof, gegen die Vettern seines eigenen Stammes im Kalenbergschen,
+im Göttinger Lande oder wo immer Bellona einen Vorteil verhieß und die
+Austragung alter Gegensätze erlaubte. Die Mauern und Wälle der guten
+Stadt Wolfenbüttel dünkten ihm und seinen Vorfahren noch nicht Schutzes
+genug gegen Gelüste, sich an seiner fürstlichen Person zu vergreifen.
+
+Dem Rat von Braunschweig, wie jedem einzelnen Braunschweiger, traute
+er ohne weiteres die Frechheit zu, daß sie, wenn sie es vermöchten,
+ohne ehrerbietigen Gruß bei ihm eindringen und ihn als gute Prise mit
+sich schleppen würden. So war das Schloß, das sich als ein gewaltiges
+Gebäudegeviert um einen kleinen Binnenhof lagerte, noch wieder eine
+Festung für sich, umspült von dem breiten Graben eines Okerarmes und
+in sich geschützt durch mächtige Mauern und starke Türme, an denen
+sich diejenigen, die dennoch die Stadt bezwungen hätten, erst noch
+ihre Dickköpfe einrennen mochten, ehe sie vor ihm selbst mit ihren
+unhöflichen Forderungen auftreten konnten.
+
+Im Schlosse selbst lag eine starke Guardia, eine Leibwache,
+einquartiert, unter dem Befehl eines Hauptmanns. An den zwei Toren,
+die den Einlaß zum Hofe und zum inneren Schlosse freigaben, standen
+Wachen, die jeden Ein- und Ausgehenden auf seine Zuverlässigkeit hin
+musterten. Ohne genügenden Ausweis gelangte kein Fremder durch das Tor.
+
+Der Ankömmling, der in diesem Augenblick die Wache unangehalten
+passierte, mußte also allen wohlbekannt sein, denn weder machte er
+Anstalt zu einer Legitimation, noch wagte einer der Wachleute ihn zu
+befragen. Auf dem Kopfe trug er eine dunkle Lederkappe, die mit einem
+Reiherstoß geschmückt war. An der Seite hing ihm in goldverziertem
+Gehänge der Degen.
+
+Die Wachen sahen ihm mit schlecht verhehltem Neide und Unwillen nach.
+»Das spreizt sich, als ob er des Herzogs leibhaftiger Vetter wäre«,
+murrte der Korporal Schünemann, der Wachthabende, zu dem Doppelsöldner
+Karsten Süßkind. »Unsereiner ist Luft für den Herrn, als ob man nicht
+mit Ehren seine Kampagnen hinter sich hätte.«
+
+»Er ist ja auch mehr als Ihr und ich, Korporal«, höhnte Süßkind. »Wir
+beide haben es noch nicht zum Hauptmann gebracht. Möchte freilich nicht
+mit ihm tauschen, denn zum Räuberhauptmann ist sich meiner Mutter Sohn
+doch zu schade.«
+
+»Der Herr Herzog nimmt aber keinen Anstoß daran,« mischte sich ein
+dritter ein, »ebensowenig wie der Herr Kriegsrat Tewes, der ja oft mit
+ihm konferiert.«
+
+»Herzog Heinrich wird schon seine Gründe haben, weshalb er den Raßler
+so oft bei sich sieht,« verteidigte der Korporal seinen Herrn, »und er
+wird mit dem Manne sich nicht weiter einlassen, als sein Interesse es
+fordert.«
+
+Der, von dem die Rede war, bog indes rechts ab in das Schloß und stieg
+die Treppe hinauf. Er mußte genau Bescheid wissen, denn er fand sein
+Ziel, ohne jemand zu fragen. An dem Zimmer, in welchem der Geheime
+Kriegsrat Tewes über Akten und Plänen saß, klopfte er kurz an und trat
+auf das »Herein« sofort mit energischem Schritt ein. Tewes blickte auf.
+Er ging dem Ankömmling sogleich entgegen. »Sieh da, Herr Raßler,« sagte
+er höflich, »das trifft sich gut. Wir hatten Sehnsucht nach Euch«,
+setzte er scherzend hinzu.
+
+Der Herr Kriegsrat galt als hochmütig, und es sprach für die
+Wertschätzung, welche Herr Raßler in dem Schlosse genoß, wenn er ihm
+das Prädikat »Herr« zuerkannte.
+
+»Da treffen sich die Wünsche gegenseitig,« entgegnete Raßler, »denn
+auch mich trieb es hierher.«
+
+»Famos, famos,« hüstelte das vertrocknete Männchen, »da können wir
+gleich ›in medias res‹, wie der Lateiner sagt, gehen.«
+
+»Nicht doch, Herr Tewes,« unterbrach ihn Raßler kurz. »Dieses Mal
+will ich zuvor mit dem Herzog sprechen. Nachher stehe ich Euch zur
+Verfügung.«
+
+Es gab dem Höfling einen Stich durch das Herz, daß der Unverschämte
+den ihm gebührenden Titel einfach unterschlug; aber er wußte, was
+der Mann beim Herzog galt, der ein für allemal angeordnet hatte, ihn
+recht glimpflich zu behandeln. So zwang er seinen Unwillen nieder und
+sagte höflich: »Der Herr Herzog sind im Augenblick sehr beschäftigt
+und würden eine Störung unliebsam empfinden. Vielleicht kommt Ihr zu
+gelegener Stunde morgen wieder.«
+
+»Ich denke, Ihr habt Euch nach mir gesehnt, Herr Rat,« fragte Raßler
+spöttisch, »da darf doch keine Minute verloren werden; und denkt Euch,
+was ich auf dem Herzen habe, erlaubt auch keinen Aufschub.«
+
+»So will ich versuchen, den Herrn zu melden«, fuhr Tewes gekränkt fort.
+
+»Tut das, Herr Tewes, aber nehmt es nicht übel, wenn ich alsdann allein
+mit dem Herzog zu sprechen wünsche.«
+
+Raßler fand den Herzog mit einem Apparat beschäftigt, der sein ganzes
+Interesse in Anspruch nahm.
+
+»Sieh da, der Raßler«, sagte er mit kurzem Aufblicken. »Wartet ein
+Weilchen; ich bin dabei, diese wunderbare Einrichtung zu studieren.
+Wißt Ihr, was es darstellt« fragte er dann, während seine Hände noch
+immer an Schrauben und Rädchen drehten und stellten.
+
+»Es muß wohl mit den Sternen zu tun haben, wie ich sehe. Wohl eines
+der neumodischen Dinger, von denen man jetzt so viel reden hört«,
+antwortete Raßler.
+
+»Ganz recht,« fiel ihm Heinrich ins Wort, »es ist ein Astrolabium, mit
+dem man sich und anderen das Horoskop stellt, um das eigene oder fremde
+Schicksal zu erkunden. Wäre es Abend, so könnte ich Euch ansagen, was
+Eurer harrt.«
+
+»Ich danke, Ew. Gnaden«, antwortete Raßler. »Gebt Euch die Mühe nicht.
+Mich verlangt es nicht, im voraus zu wissen, was aus mir wird. Das
+nimmt nur die Sicherheit und trübt den Blick.«
+
+»Wie Ihr wollt, wie Ihr wollt«, sagte der Herzog etwas gekränkt, daß
+der Besuch so wenig Gewicht auf seine Neuerwerbung legte. »Mir ist es
+jedenfalls von hohem Wert, daß ich im voraus weiß, woran ich bin. Ich
+finde mich leidlich mit dem Apparat zurecht. Lieber freilich wäre es
+mir, ich hätte einen tüchtigen Astrologen, der würde mir alles noch
+zuverlässiger deuten können.«
+
+»Vielleicht bleibt mir einmal ein solches Menschenkind im Netz, dann
+bringe ich ihn spornstreichs hierher.«
+
+»Sehr gut,« erwiderte Heinrich, »und Ihr könnt unseres Dankes sicher
+sein. Übrigens«, fuhr er fort, »kommt Ihr wie gerufen, wir hatten uns
+schon nach Euch erkundigt, haben eilige Arbeit für Euch.
+
+Da ist die Hildesheimer Sache. Die will nicht recht vom Fleck. Ihr
+wißt ja, wir haben die Reichsacht auszuführen gegen den störrischen
+Bischof. Sehr ehrenvoll, uns den Auftrag zu geben, aber die Mittel
+zu finden, überließ man großmütig uns. So sitzt der Herr mit seinem
+Krummstab ruhig in Hildesheim und lacht uns aus. Der vertrackte Rat von
+Goslar leistet nur widerwillige und mangelhafte Hilfe. Werden uns der
+Herren Pfeffersäcke wieder einmal etwas annehmen müssen, um sie kirre
+zu machen. Inzwischen sollt Ihr uns helfen, sollt dem Bischof mit Euren
+Leuten eine Laus in den Pelz setzen, daß er sich vor Jucken nicht zu
+helfen weiß.«
+
+»Ich stehe Euch zu Diensten, Herr Herzog«, antwortete Raßler. »Ich habe
+gerade einen tüchtigen Wurf entschlossener Männer zur Hand, mag sich
+wohl rund auf ein Fähnlein belaufen. Doch ich habe dieses Mal auch
+einen besonderen Wunsch an Eure Gnaden.«
+
+Der Herzog, der fürchten mochte, daß er besonders zahlen solle, wehrte
+ab.
+
+»Ihr wißt, Raßler, daß bei dem Handel für uns nichts weiter als die
+Ehre abfällt. Eure Leute mögen sich am Beutemachen schadlos halten.«
+
+Aber Raßler entgegnete: »Ihr irrt, Herr Herzog. Mir selbst ist es
+zeitlebens wenig um Schätze zu tun gewesen. Wo ich zuschlug, hatte es
+andere Gründe. Doch ich bin es müde, wie ein Wegelagerer durch das Land
+zu fahren. Ich habe mich immer als ein ehrlicher Kriegsmann gefühlt und
+als solcher gehandelt. An meinen Händen klebt kein Blut, das nicht in
+ehrlichem Kampfe Mann gegen Mann verspritzt wäre, und auch meine Leute
+hielt ich an, so zu verfahren. Taten sie es nicht immer, so ist es
+mir leid, und wo ich es erfuhr, bin ich übel dreingefahren, das dürft
+Ihr mir glauben. Nun aber bin ich der Sache überdrüssig. Und ich will
+fürderhin auch äußerlich sein, was ich innerlich immer gewesen bin.
+Kurz, ich bitte Euch, Herr Herzog, leiht mir Euren Beistand dazu und
+macht mich zu Eurem Hauptmann.«
+
+Der Herzog war überrascht. Das zu hören, hatte er nicht erwartet. Aber
+die Sache kam ihm sehr ungelegen. »Das wird doch seine Schwierigkeiten
+haben. Seht, Raßler, wir haben doch Rücksichten zu nehmen. Ihr wißt
+doch ...«
+
+»Ich weiß, Herr Herzog.« fiel ihm jener ins Wort, »daß ich als
+Räuberhauptmann gelte. Doch Ihr habt nie Bedenken gehabt, mit diesem
+zu verhandeln, und ließet Euch seine Dienste gern gefallen. Kommt
+es zuletzt auf den Namen an und erscheint Euch der Name ›Raßler‹ zu
+abgenutzt, nun, Ihr habt Vollmacht und Namen genug, um einen solchen
+auszuwählen, mit dem sich Euer neuer Hauptmann sehen lassen kann.«
+
+»Aber das ist ja Unsinn, den Namen ändern, Hauptmann werden«, zürnte
+der Herzog. »Plagt Euch denn der Ehrgeiz auf einmal, daß Ihr etwas
+Besonderes prästieren wollet, oder hat es sonst einen Grund?«
+
+»Einen Grund hat es schon,« antwortete der Gefragte, »aber Ehrgeiz ist
+es nicht oder doch nur zu einem Teil.«
+
+»Nun so wird er auch wieder vergehen«, meinte Heinrich. »Über ein
+kurzes werdet Ihr selbst über Euren Unsinn lachen.«
+
+»Seid überzeugt, Herr Herzog, daß ich das nicht tun werde. Und nun Eure
+Antwort.«
+
+»Und wenn ich ›Nein‹ sage?« forschte Heinrich.
+
+»So müßt Ihr Euch zur Stunde einen anderen suchen, der Euch hilft. Ich
+rühre keine Hand mehr für Euch.«
+
+»Teufel,« fluchte der Fürst, »das nenne ich dreist. Ich kann Euch
+zwingen und werde Euch zwingen, zu gehorchen.«
+
+»Das glaubt Ihr selbst bei Hermann Raßler nicht, Herr Herzog«, fiel
+jener spöttisch ein. »Also noch einmal, Eure Antwort! Erfüllt meine
+Bitte, und Ihr sollt Eure Freude an mir haben. Der Herr Bischof soll
+fluchen lernen, als ob er nie das Vaterunser gebetet habe, und Eure
+Freunde in Goslar sollen sich ärgern, daß sie platzen. Mit ihnen habe
+ich zwischendurch sogar noch ein besonderes Stücklein zu erledigen.
+Aber erst Eure Antwort!«
+
+»So schert Euch an die Arbeit. Ist sie getan, so werde ich Euren Wunsch
+erfüllen.«
+
+»Euer Wort?« versicherte sich Raßler.
+
+»Auf mein Fürstenwort«, antwortete Heinrich. Da ging Hermann Raßler
+vergnügt davon.
+
+ * * * * *
+
+Im »Anker« erfuhr Raßler, daß ein Frauenzimmer nach ihm gefragt habe.
+Das Fräulein, oder was es sei, habe den Anstand und das Auftreten einer
+Dame. Er dachte sogleich an Venne, und sein Herz schlug freudig erregt,
+daß er sie wiedersehen und ihr vielleicht Hilfe bringen sollte. Bald
+darauf kehrte Venne zurück und wurde zu ihm gewiesen. Er begrüßte sie
+mit ehrerbietiger Freude.
+
+»Das nenne ich eine frohe Überraschung, Jungfer Venne Richerdes«, sagte
+er mit glänzenden Augen.
+
+»Ihr kennt meinen Namen?« fragte sie überrascht.
+
+»Wie Ihr merkt«, antwortete er. »Seit ich Euch sah, bin ich nicht müßig
+gewesen, zu erkunden, wer die schöne Unbekannte sei, der ich unweit
+Seesen begegnete.«
+
+»So wißt Ihr wohl auch schon, was mich zu Euch führt?« forschte sie
+weiter.
+
+»Ich glaube es zu wissen«, erwiderte er ernst. »Und Ihr mögt glauben,
+daß ich Euch zur Verfügung stehe mit allem, was ich habe und kann.«
+
+Dann erzählte Venne, wie übel man ihrem Vater und ihr mitgespielt habe.
+Raßler unterbrach sie nicht, aber die Ader schwoll auf seiner Stirn,
+und seine Fäuste ballten sich bei jeder Kränkung, die ihr widerfahren
+war.
+
+»Das ist abscheulich, das ist gemein gehandelt,« rief er, als sie
+geendet, »und dieser Achtermann ist der größte Schuft, den ich je
+gesehen. Aber gnade Gott ihm, wenn er mir unter die Fäuste gerät. Euch
+wird Euer Recht werden, Jungfer Venne, glaubt es mir, und sollte ich es
+vom Himmel herabholen!«
+
+Hermann Raßler war indes nicht der Mann langer Gefühlsergüsse, wenn es
+die Tat galt. Und so fand er sich von seinem Zornesausbruch sehr bald
+wieder zum praktischen Leben zurück.
+
+»Was soll nun geschehn? Habt Ihr schon einen Plan gefaßt?« fragte er
+Venne.
+
+»Nein,« antwortete sie bedrückt, »ich kam zu Euch, um mir Rat zu
+holen.«
+
+»Den sollt Ihr haben, und zwar kurz und bündig. Er lautet: Sagt der
+verfluchten Stadt auf, werft ihr den Fehdehandschuh hin, und ich werde
+das Werkzeug sein, sie Eure Rache fühlen zu lassen.«
+
+Venne erschrak vor dem Vorschlag: sie sollte ihre Heimatstadt mit Krieg
+und Kampf bedrohen? Der Gedanke kam ihr zu fürchterlich vor. Aber
+Raßler verstand es, ihre Bedenken zu zerstreuen. Wieder und wieder
+ließ er die Demütigung vor ihren Augen erstehen, deren Opfer sie
+unschuldigerweise geworden war. Und außerdem beschwichtigte er sie über
+das Blutvergießen, das bei dem Austrag der Fehde eintreten könnte.
+
+»Nicht darauf kommt es an, daß Menschenleben verlorengehen, sondern
+daß den reichen Protzen der Geldsack geschmälert wird. Laßt mich nur
+machen. Wo ich sie fassen kann, sollen sie bluten. Ob es nun ihre
+Herden sind oder ihre Waren. Nichts, nichts soll sich jetzt noch
+ungestraft außerhalb ihrer Mauern sehen lassen. Und selbst in ihrem
+Neste will ich ihnen einheizen, daß ihnen der Atem ausgeht.«
+
+»Aber dann bin ich ja für allezeit von meiner Heimat ausgeschlossen«,
+wandte Venne ein.
+
+»Für längere Zeit ja, für immer aber braucht das nicht zu sein. Ihr
+wäret nicht die erste, die einem Orte aufsagt und später doch wieder in
+seinen Mauern wohnt. Doch ich sollte meinen, Euch wäre der Appetit auf
+Goslar vergangen. Auf jeden Fall sehe ich keinen anderen Weg, Euch zu
+Eurem Rechte zu verhelfen, als den der Gewalt.«
+
+»Vergebt nur, Herr Raßler, wenn ich mich unvernünftig benehme, aber
+ich kann nicht so schnell von meinen Gefühlen loskommen. In Goslar
+ist alles, was sich für mich mit dem Begriff ›Leben‹ verbindet; dort
+sind die Gräber meiner Eltern, dort leben mir auch jetzt noch wahre,
+treue Freunde. Alles das soll ich aufgeben, um heimatlos in der Welt
+zu stehen? Nein, das kann ich nicht, kann ich wenigstens im Augenblick
+nicht. Ich muß, ehe das Schlimme vor sich geht, was Ihr vorschlagt,
+alles geordnet haben, will auch noch versuchen, ob ich nicht wenigstens
+eine Ehrenrettung des Vaters in irgendeiner Form erreichen kann.
+Schlägt auch das fehl, so bin ich zum Äußersten bereit.«
+
+»Ich kann Euch nicht halten, aber ich will Euch nicht verschweigen,«
+entgegnete Raßler, »daß ich in Sorge um Euch bin, solange Ihr in Goslar
+weilt. Was Ihr mir von Achtermann erzähltet, läßt mich noch Schlimmeres
+befürchten, als es der Zwang ist, den sie Eurem Recht antaten. Auf
+jeden Fall bleibt nur so lange dort, als es unerläßlich nötig ist. Ich
+warte Eurer indessen. Und wenn Ihr die Stadt verlaßt, so begebt Euch
+zum Kloster Riechenberg. Dort werdet Ihr einigermaßen sicher sein. Dort
+findet Ihr auch mich selbst oder erfahrt den Ort, wo ich zu treffen
+bin. Es wird in der Nähe sein.«
+
+ * * * * *
+
+Venne Richerdes kam nicht dazu, aufs neue Verhandlungen anzuknüpfen mit
+dem Rate oder der Stadt. Von Johannes Hardt erfuhr sie, daß inzwischen
+ein Schreiben des Geheimschreibers vom Bischof von Hildesheim,
+Woltwiesche, eingetroffen sei, in welchem er sie beschuldigte, den Rat
+von Goslar, insonderheit den Bürgermeister Karsten Balder, vor dem
+Kaiser in Worms gröblich verleumdet und beschuldigt zu haben.
+
+»Der Schuft!« das war alles, was Venne zu dieser Niedertracht
+sagte. Aber Johannes war in großer Sorge um sie. »Ihr müßt die Stadt
+verlassen, denn ich fürchte, daß der Rat Euch verklagen und Euch den
+Prozeß machen wird. Und das geistliche Gericht wird Euch vollends seine
+Macht fühlen lassen!«
+
+»Diese schlimmen Männer,« klagte Gisela, »wollen sie denn die arme
+Venne gar nimmer in Ruhe lassen? Können wir sie nicht bei uns
+verbergen?« meinte sie dann zu Johannes gewendet.
+
+»Das würde ein schlechtes Versteck sein«, erwiderte ihr Gatte. »Bei uns
+sucht man sie zuerst, wenn sie auf der Bergstraße nicht zu finden ist.
+Ich fürchte, man wird sie noch anderer, schlimmerer Dinge bezichtigen.
+Man will Venne in Wolfenbüttel gesehen haben und vermutet, daß sie mit
+dem Herzog konspirierte. Auch murmelte Achtermann noch von besonderen
+Sachen, die er vorzubringen habe. Wir mögen uns vorstellen, was er
+meint. Und rücksichtslos und nachträglich, wie er ist, kann er allein
+aus der Zaubertrankgeschichte Venne ein schlimmes Gebräu zurichten. Ich
+rate also, Venne, verlaßt die Stadt, sobald Ihr könnt, am besten noch
+heute, ehe man nach Euch fragt.«
+
+Venne war erblaßt, aber aus ihren Augen blitzte düstere
+Entschlossenheit. »Ich danke Euch, Johannes, und Dir, liebe Gisela,
+für alles, was Ihr für mich getan habt. Ihr habt recht, Johannes, mir
+bleibt nichts übrig, als zu fliehen. Was ich hier vernehme, erleichtert
+mir allerdings den Entschluß, den ich zu fassen habe. Ich breche alle
+Brücken hinter mir ab, und der Rat mag die Verantwortung für das
+tragen, was kommt.«
+
+»Was hast Du vor?« fragte Gisela ängstlich, und Johannes warnte:
+»Venne, begeht keine Unbesonnenheit. Es handelt sich jetzt nur darum,
+Euch in Sicherheit zu bringen. Ich werde Eure Sache vertreten und
+hoffe, daß Ihr über ein kurzes wieder friedlich unter uns weilen
+könnt.«
+
+Venne lächelte düster zu den Worten Johannes'. »Was ich plane, Gisela,
+muß ich für mich behalten. Ich fürchte, die Heimat verliere ich für
+immer mit dem Augenblick, wo ich jetzt Goslar verlasse. Aber einmal muß
+ich noch in die Bergstraße, um vom Vaterhause und der guten Katharina
+Abschied zu nehmen. Ich sah sie noch nicht, seit ich zurückkehrte, und
+sie soll wissen, daß ich hier war. Um sie tut es mir besonders leid.
+Wollt Ihr mir einen letzten Dienst erweisen, so nehmt Euch der treuen
+Seele an, wenn ich fort bin.«
+
+Die gute Alte war außer sich, als sie hörte, Venne wolle von ihr fort.
+»Und ich bin allein schuld an dem ganzen Unheil«, klagte sie sich mit
+bitteren Tränen an.
+
+»Meine gute Katharina,« beruhigte sie Venne, »Du bist nicht schuldig.
+Schuld trägt die Bosheit und Schlechtigkeit unserer Feinde und
+Widersacher. Soll ich mich denn wehrlos in deren Hände geben? Das
+kannst Du nicht wollen, also gib Dich zufrieden und mache mir den
+Abschied nicht zu schwer. Ich hoffe, daß wir uns bald wiedersehen.
+Inzwischen halte hier gut haus. Und was Du auch über mich hören wirst,
+Du weißt, Deine Venne tut nichts, was sie nicht glaubt vor ihrem
+Gewissen verantworten zu können.«
+
+Sie nahm die arme Alte fest in die Arme und streichelte die haltlos
+Schluchzende. Dann verließ sie das Haus ihrer Väter. Um ganz
+sicherzugehen, wartete sie die Dämmerung ab und schlüpfte dann durch
+das Mauerpförtchen an der Frankenberger Kirche, wo sie die Frau des
+Wärters ohne Arg hinausließ.
+
+Ein kurzer Weg führte sie über die Landwehr nach dem Kloster
+Riechenberg. Dort wartete ihrer beim Pförtner die Nachricht, daß Raßler
+im Kloster sei. Er wurde geholt. In seinen Augen glomm die Freude über
+ihre Ankunft.
+
+»Ich hatte schon Sorge um Euch. Aber nun ist alles gut. Wir werden
+noch eine Strecke heute abend zurücklegen müssen, da Euch als Frau der
+Zutritt zum Kloster verwehrt ist. Im Amtshause zu Langelsheim, eine
+Wegstunde von hier, finden wir Unterschlupf für die Nacht, und morgen
+bringe ich Euch an einen Ort, wo wir in aller Sicherheit und Ruhe
+erwägen können, welche Schritte zu unternehmen sind.«
+
+So geschah es. Der herzogliche Vogt in Langelsheim zeigte sich
+beflissen, alles nach den Wünschen Raßlers einzurichten. Man merkte,
+auch hier galt dessen Wille fast ebensoviel wie das Wort des Herzogs
+selbst.
+
+Am nächsten Morgen brachen sie zu Pferde auf. Venne achtete nicht
+darauf, daß einige Reiter nach ihnen ebenfalls aus dem Orte ritten.
+Es war die Nachhut, die Raßler sich folgen ließ, um gegen jede
+Überraschung gesichert zu sein. Bei dem Dorfe Dolgen verließen sie
+die Landstraße und bogen rechts ab, einem kleinen Weiler zu, der in
+Waldeinsamkeit träumte. Es war Rohde, eine Siedlung, die aus einigen
+Häusern bestand. Auf dem einzigen Hofe kehrten sie ein. Wieder zeigte
+sich die Fürsorge Raßlers, denn die Leute waren unterrichtet und hatten
+ein Zimmer hergerichtet, in dem trotz aller Einfachheit das Behagen
+wohnte.
+
+Ermattet von dem Ritt in der Sonne, ließ sich Venne am Tische nieder.
+Raßler empfahl sich: »Ich lasse Euch allein, damit Ihr Euch ausruhen
+könnt. Wenn Ihr etwas nötig habt, ruft nur, die Wirtin wird Euch zur
+Verfügung stehen. Mich selbst könnt Ihr zu jeder Stunde erreichen.
+Beliebt es Euch, werde ich die Mahlzeit mit Euch einnehmen. Wollt Ihr
+allein speisen, so sagt es ruhig. Mir liegt daran, daß Ihr wieder ins
+Gleichgewicht kommt. Morgen sprechen wir über alles Weitere.«
+
+Venne war ihm dankbar, daß er sie allein ließ. Müde streckte sie sich
+auf das bereitete Lager nieder. Wild stürmten die Gedanken auf sie
+ein, aber allmählich schlief sie infolge der Müdigkeit ein. Doch es
+war kein erquickender Schlummer. Wilde Träume durchjagten ihr Gehirn,
+und zuletzt wachte sie mit einem Schrei auf. Es hatte ihr geträumt,
+sie solle gefoltert werden. Achtermann war der Henker und näherte sich
+ihr mit glühender Zange, um sie zu brennen. Auf den Schrei trat die
+Wirtin herein und fragte, ob ihr etwas fehle. Venne schämte sich ihrer
+Schwäche und bat um das Abendbrot, da sich der Tag dem Ende neigte.
+Es war ihr noch ganz unheimlich zumute von dem bösen Traum, und die
+Einsamkeit und Stille lastete auf ihr wie ein Druck. Deshalb ließ sie
+Raßler ersuchen, er möge mit ihr zusammen essen.
+
+Raßler bewies, daß er über durchaus gute Manieren verfügte. Er fiel
+weder durch eine ungeschickte Bewegung, noch durch ein Wort auf. Zwar
+konnte er es nicht hindern, daß sein Blick immer wieder mit Bewunderung
+auf ihr ruhte, aber diese Huldigung offenbarte sich so achtungsvoll,
+daß sie nichts Verletzendes für Venne enthielt. Es kam bei ihr noch das
+Gefühl des Dankes für den Mann hinzu, der sich ihrer in dieser Stunde
+der höchsten Not uneigennützig annahm.
+
+Am nächsten Tage legte er ihr einen Absagebrief an Goslar in aller
+Form vor. Er lautete:
+
+ »So sagen wir Euch denn, Stadt und Rat von Goslar, auf; erklären
+ auch, Euch fleißig heimsuchen zu wollen, wo immer wir können. Auch
+ beauftragen wir mit der Ausübung unserer Absage den Herrn Hermann
+ Raßler, als welcher von heute ab, als dem Tage nach St. Antonius,
+ in meinem Dienste zu stehen sich erkläret.
+
+ Datum zu Rohde, am 10. Tage des Mondes Maji 1500 und im zwanzigsten
+ und zweyten Jare,
+
+ Venne Richerdes.«
+
+Dieser Fehdebrief haftete schon am nächsten Morgen am St.-Viti-Tore zu
+Goslar und rief in der Stadt ungeheure Aufregung hervor. Man wußte,
+wessen man sich von Raßler zu versehen hatte, und Fluchen und Klagen
+erscholl überall. Im Rate vernahm man die Absage mit Wut und Grimm, und
+Achtermann schwur, wenn man Venne Richerdes ergreife, sie dem Henker
+als gemeine Hexe übergeben zu wollen. Wie ernst es dieser aber, wie
+vor allem Raßler mit der Ausübung der Fehde war, zeigte sich schon am
+Abend, als vor dem Breiten Tore zwei Feldscheunen in Flammen aufgingen.
+Man schimpfte auf den Rat, man fluchte auf Venne Richerdes und Hermann
+Raßler, aber man hatte sie nicht, um Vergeltung zu üben.
+
+Venne erfuhr gar nicht, wie inzwischen ihr Beauftragter sein Amt
+ausführe. Sie saß im stillen Rohde und ließ die Einsamkeit und Ruhe auf
+sich wirken. Am Tage beschäftigte sie sich auch gern mit den Kindern
+des Bauern, die, nachdem sie die erste Scheu überwunden hatten, mit
+stürmischer Zärtlichkeit an ihr hingen. Das Kleinste saß auf ihrem
+Schoß und hielt die Ärmchen um sie geschlungen, als einmal Raßler
+dazukam. Überrascht blickte er auf die liebliche Gruppe, dann aber
+quoll es heiß in ihm auf: Das war das Bild, das ihm vorschwebte
+für die Zukunft. Wenn er diese Frau gewönne, wäre alles ausgetilgt,
+was ihm an Häßlichem und Niedrigem im Leben widerfuhr. Dieser Traum
+war auch der Anlaß gewesen, weshalb er den Herzog bat, ihn zum
+ehrlichen Kriegsmann zu machen. Alles Edle in ihm drängte zum Licht.
+Er wollte heraus aus dem Schmutz, in dem er bis an die Knie gewatet
+hatte, seitdem man ihn wegen der Jugendstreiche aus der Gesellschaft
+ausgeschlossen.
+
+»Venne, werde die Meine«, das war sein Sehnen. Aber er zwang das Wort
+nieder, das sich ihm auf die Lippen drängte. Er wollte das Mädchen
+nicht beunruhigen, das sich vertrauensvoll in seinen Schutz begeben
+hatte. Erst für sie kämpfen, ihr Recht verschaffen, dann würde er vor
+sie hintreten und sie um sein Urteil bitten, das ihn zum glücklichsten
+Menschen machen oder der Verzweiflung für immer in die Arme treiben
+mußte. Das alte Leben würde er nicht wieder aufnehmen, eine Kugel im
+ehrlichen Kampfe sollte auch ihm dann die Erlösung bringen.
+
+
+
+
+Vier Wochen schon weilte Venne in dem stillen Rohde. Kein Lärm störte
+die Einsamkeit. Für die Sicherheit sorgten Posten, die in unauffälliger
+Weise den Ort bewachten. Nichts gemahnte sie daran, daß sie im Kampf
+lag mit ihrer Heimatstadt. Raßler kam, so oft er konnte. Auf ihre
+Frage, wie es in Goslar stehe, antwortete er nur immer kurz.
+
+»Es steht gut. Alles andere mag Euch nicht bekümmern. Ist es an der
+Zeit, so sollt Ihr schon hören, was vor sich geht. Jetzt denkt nur
+daran, Euch zu pflegen. Ihr seht mir immer noch etwas mitgenommen aus.«
+
+Venne blickte ihn sinnend an: »Was seid Ihr nur für ein Mensch, daß Ihr
+Euch für mich aufopfert. Und Euch sagt man so viel Schlechtes nach!
+Könnte ich Euch doch meinen Dank abstatten. Aber ich werde immer in
+Eurer Schuld bleiben.«
+
+»Vielleicht mache ich einmal meine Forderung geltend. Hoffentlich
+schreckt Ihr dann nicht vor der Größe derselben zurück!« antwortete
+er. Dabei sah er ihr mit einem innigen Blick ins Auge. Venne errötete,
+sagte aber nichts.
+
+In Goslar war derweilen ihr Name und der Raßlers auf aller Lippen.
+Fast keine Woche verging, in der man nicht über irgendeinen Schaden zu
+klagen hatte. Da war ein Warenzug trotz reisiger Bedeckung überfallen
+und weggenommen worden, dort ein Teil der Herde weggetrieben. Klagen
+und Jammern, wohin man hörte; es wagte sich fast niemand mehr aus der
+Stadt heraus. Johannes Hardt und sein Weib waren tief bekümmert über
+die Vorgänge, denn Venne versperrte sich damit den Weg der Rückkehr
+für alle Zeit. Und es erschütterte sie, daß jene sich in die Hand des
+Räubers gegeben und so viel Unheil über ihre Vaterstadt gebracht hatte
+und noch anrichtete.
+
+»Das hätte sie nie und nimmer tun dürfen,« sagte Johannes. »Lieber
+Unrecht leiden, denn Unrecht tun. Sie kann sich jetzt nicht mehr
+beklagen, daß man ihr übel mitgespielt habe. Was sie der Stadt angetan
+hat, wiegt den Schaden hundertfältig auf, den sie erlitt. Sie soll sich
+nur hüten, sich noch einmal in die Hände des Rates zu geben; ihr kann
+niemand mehr helfen.«
+
+Auch Gisela war tieftraurig, daß die Freundin diesen Weg gegangen. Und
+auch ihre selbstlose Liebe fand kaum noch eine Entschuldigung für
+Venne.
+
+Bei dieser selbst regte sich langsam die Sehnsucht nach der Heimat.
+
+»Oh, könnte ich nur einmal noch die Türme meiner Heimat sehen; einmal
+nur noch die trauten Räume des Vaterhauses betreten!« seufzte sie in
+stillen Stunden. Noch zwang sie das Heimweh nieder, aber es pochte
+immer gebieterischer an ihr Herz.
+
+Als sie Raßler eine Andeutung machte, wehrte er erschrocken ab: »Ihr
+ahnt nicht, welche Stimmung in Goslar gegen uns herrscht. Man würde
+Euch steinigen, bekäme man Euch zu Gesichte.«
+
+Da schwieg sie betrübt, doch die Sehnsucht war nicht verflogen.
+
+Wieder verstrichen die Wochen, und immer tiefer wurden die Seufzer und
+immer größer der Schmerz um die verlorene Heimat. Da sagte sie eines
+Tages entschlossen zu Raßler: »Ich halte es nicht länger aus. Schafft,
+daß ich nur einmal, und sei es nur auf eine Stunde, nach Goslar komme
+und die alte Katharina sehe und spreche, dann will ich gern wieder
+still sein.«
+
+Raßler wehrte mit aller Entschiedenheit ab. »Um Gottes willen, Venne,
+steht ab von Eurem Vorhaben. Es ist Euer Verderben. Die Goslarer sind
+mehr denn je auf der Hut und werden Euch erkennen. Ich kann Euch
+nicht Euren Feinden ausliefern, denn Euer Tod wäre auch der meinige.«
+Verzweiflung klang aus seinem Wort, und die treueste Hingebung war auf
+dem Grunde seiner Augen zu lesen.
+
+»Und dennoch bitte ich Euch, laßt mich hin. Ich verspreche Euch, alles
+zu tun, wie Ihr es für gut befindet, und mich der größten Vorsicht zu
+befleißigen. Nur laßt mich hinein nach Goslar!«
+
+»Hinein kommt Ihr schon, Venne Richerdes,« sprach er erschüttert,
+»aber heraus findet Ihr nicht. Man wird Euch greifen, Euch töten, und
+das, Venne, überlebe ich nicht. Venne, tut es mir zuliebe. Ihr ahnt
+nicht, was ich in Euch verliere!« In wilder Angst fast wurden die Worte
+ausgestoßen. Venne traten die Tränen in die Augen: »Hermann Raßler, es
+schmerzt mich, daß ich Euch Kummer mache. Ihr habt es wahrlich nicht um
+mich verdient, Ihr, der Ihr mir der treueste, uneigennützigste Freund
+waret in dieser Zeit. Glaubt nicht, daß ich Euch das je vergesse.
+Noch sind die Wunden frisch, die man mir geschlagen, aber es kommt
+wohl einmal die Zeit, wo sie verharscht sind. Dann will ich auch Euch
+Antwort geben auf Eure stumme Frage.«
+
+»Venne«, jubelte er, doch dann bezwang er sich. »Ihr habt recht, noch
+ist es nicht Zeit, Wünsche zu äußern. Aber laßt mir die Hoffnung, dann
+will ich mich gern gedulden.
+
+Ich werde Euch selbst nach Goslar begleiten und in die Stadt bringen.
+Mir sind die Wege bekannt, wie man ungesehen hineingelangt.«
+
+ * * * * *
+
+Das Käuzchen schrie in der sternlosen Septembernacht vor dem Thomaswall
+am Dicken Zwinger. Einmal, zweimal, zehnmal wiederholte es seinen
+klagenden Ruf, daß die guten Bürger hinter der Stadtmauer sich gruselnd
+die Decken über die Ohren zogen, denn den Todesvogel hört niemand gern.
+Aber bald öffnete sich leise und geräuschlos ein Mauerpförtchen, und
+ein verschlafener Kopf lugte heraus. »Wer ist's, der Einlaß begehrt?«
+war die leise Frage. »Gut Freund«, hieß es ebenso leise. Zwei Gestalten
+schlüpften durch die Lücke und folgten dem Öffnenden in die warme
+Stube. Dort traf das Licht der trübe brennenden Kerze die Gäste.
+Erschrocken fuhr der Wärter zusammen. »Um Gott, Herr Raßler, Ihr hier?
+Wißt Ihr nicht, was man Euch zugedacht hat? Und Eure Begleiterin?«
+Damit leuchtete er der zweiten Gestalt unter die Kapuze. »Alle Teufel,
+Ihr seid ein nettes Paar. Euch, Venne Richerdes, gilt es fast noch mehr
+als diesem da. Macht nur eilends, daß Ihr wieder aus dem Loche kommt,
+das ich Euch öffnete, sonst ist's um Euch geschehen.«
+
+Raßler ließ sich ganz behaglich in dem gichtbrüchigen Sessel nieder.
+»Vorerst denken wir nicht daran, die gute Stadt Goslar zu verlassen.
+Wir fühlen uns bei Dir sicher wie in Abrahams Schoß.«
+
+»Aber um Gottes willen, wenn man Euch bei mir findet,« wimmerte er
+ängstlich, »dann geht es auch mir an den Kragen.«
+
+»So sorge dafür, daß wir nicht gefunden werden, dann kannst Du Dein
+edles Haupt weiter durch die Straßen von Goslar tragen«, fuhr Raßler
+gemütlich fort. »Jetzt aber wollen wir ruhen, denn unsere Besorgungen
+können wir doch erst morgen verrichten.« Der Wächter sah schon, hier
+war nichts mehr zu ändern, daher bereitete er oben im Turm schnell ein
+Lager.
+
+Am nächsten Tage wurde er mit geheimer Botschaft zu Katharina
+geschickt. Eilfertig und zitternd kam das alte Weiblein angetrippelt.
+Der Bote hatte ihr wohl schon gesagt, wen sie treffen werde, denn mit
+allen Zeichen der Aufregung und Angst trat sie in das Zimmer. »Venne,
+meine Venne,« schluchzte sie, »wie konntest Du mir das antun!«
+
+»Still,« herrschte Raßler, »wollt Ihr zum Verräter werden?« Da bezwang
+sie ihre Erregung, aber noch lange zitterte ihr gebrechlicher Körper
+unter verhaltenem Schluchzen. Dann begann das Fragen hin und her. Venne
+wollte wissen, wie es Hardts gehe, wie der guten Immecke Rosenhagen und
+ihren Kindern, und Katharina wieder forschte, wie und wo ihr Herzblatt
+lebe. Darüber war die Zeit verflossen, und es schlug die Stunde des
+Abschieds. Wieder konnte die gute Alte sich nicht fassen, bis Raßler
+nachdrücklich zum Aufbruch mahnte. Noch eine letzte Umarmung, dann
+schritt die Alte davon, gebeugt von ihrem Gram und das Weinen mühsam
+bekämpfend.
+
+War die Einladung Katharinas auch mit aller Vorsicht erfolgt, es
+konnte doch nicht unbemerkt bleiben, daß die Magd der Richerdes in der
+stillen Gasse auftauchte. Neugierige Blicke folgten ihr, als sie in das
+Haus des Wächters hastete, und neugierige Augen geleiteten sie, als
+sie wieder fortging. Was hatte die hier zu tun, und was verursachte
+ihre Tränen? Hatte sie Nachricht von ihrer Herrin, der verruchten
+Venne, bekommen? Die Zungen ruhten nicht. Wußte der eine, daß sie die
+Nachricht vom Tode der Richerdes erhalten habe, so fügte der zweite und
+dritte schon hinzu, daß sie jene selbst gesprochen, und sie wußten doch
+nicht, wie nahe sie der Wahrheit kamen!
+
+Es dauerte nicht lange, und die Menschen versammelten sich vor dem
+Hause, Stadtsoldaten marschierten auf, das Gebäude war von den freien
+Seiten umzingelt.
+
+Die beiden beabsichtigten, mit dem Anbruch der Dunkelheit wieder
+zu verschwinden. Sie unterhielten sich noch mit dem Mann, der sie
+eingelassen hatte, da traf Stimmgewirr ihr Ohr. Raßler warf einen Blick
+durch das kleine Fensterchen und fuhr erschreckt zurück. »Wir sind
+verraten«, flüsterte er. Venne erblaßte. An sich dachte sie zuletzt.
+»Oh, nun habe ich Euch auf dem Gewissen«, klagte sie.
+
+»Sorgt Euch nicht um mich,« wehrte er ab, »Euch gilt es zu retten, denn
+ich fürchte, Ihr seid ihnen im Augenblick wichtiger als ich.«
+
+Verzweifelt spähte er umher: Gab es denn gar keinen Ausweg aus der
+Falle? Es war ausgeschlossen, denn auf der Rückseite, nach dem Walle
+zu, lehnte sich das Häuschen an die Stadtmauer. Verflucht, so war
+man den Pfeffersäcken ins Garn gegangen, ohne daß sie es ausgespannt
+hatten! -- Fieberhaft arbeitete sein Gehirn: Sollte er versuchen,
+durchzubrechen? Er allein würde sich nicht besonnen haben. Aber Venne.
+Kein Ausweg, keine Rettung! Wieder irrte sein Blick über den Platz,
+wieder überlegte er, doch es ging nicht, er mußte Venne für den
+Augenblick aufgeben, nicht um sie den Goslarern zu überlassen, sondern
+um sie bald, morgen, in wenigen Tagen zu befreien. Er teilte ihr seinen
+Entschluß mit.
+
+»Verzagt nicht. Solange noch ein Atemzug in mir ist, wartet Euer die
+Rettung.« Dann traf er die Anstalten zum Durchbruch.
+
+Absichtlich zeigte er sich an einer Giebelöffnung, als ob er von dort
+aus entkommen könne. Sofort erhoben sich die Stimmen: »Da ist er, dort
+will er entfliehen!« In wenigen Sätzen stand er an der Tür, riß sie
+auf und warf sich auf die überraschten Nächststehenden. Es war ihm ein
+leichtes, sie zu überrennen. Ehe noch die Menge wußte, was geschehen,
+rannte er davon und verschwand. Venne aber wurde ergriffen und im
+Triumph in festes Gewahrsam geführt.
+
+
+
+
+Luthers kräftige Stimme wider den Ablaßmißbrauch, die zuerst im Jahre
+1517 ertönte, fand in Goslar vielstimmigen Widerhall. Denn auch hier
+hatte man Tetzel reichlich gespendet, und ein in der St.-Jakobi-Kirche
+stehender Armenkasten führte noch lange den Namen ›Tetzelkasten‹.
+Aber noch bekannte man sich nicht offen zu der neuen Lehre. Der Rat
+im besonderen hielt noch einmütig am alten Glauben fest. Als jedoch
+im Sommer 1521 die heldenmütige Standhaftigkeit Luthers zu Worms vor
+Kaiser und Reichstag bekannt wurde, da war auch in Goslar die Bewegung
+nicht mehr einzudämmen. Es fanden die ersten Predigten in lutherischem
+Geiste statt, und der Vikar Johann Klepp lieh ihm von der Kanzel der
+St.-Jakobi-Kirche das Wort. Der Oheim Hardts, der Pleban an dieser
+Kirche, setzte beim Rate durch, daß jenem das Predigen in dieser Kirche
+verboten wurde. Da zog Klepp in die Kirche zum Heiligen Grabe, und
+seine Anhänger mehrten sich von Tag zu Tag.
+
+Zuletzt wurde ihm das Reden in allen Kirchen verboten, doch der Stein,
+der ins Rollen gekommen war, konnte nicht mehr aufgehalten werden. An
+Klepps Stelle traten andere, und was man in den Gotteshäusern nicht
+mehr verkünden durfte, fand auf den öffentlichen Plätzen das Ohr einer
+noch größeren Zuhörerschaft. Magister Schmiedecke predigte auf dem
+Lindenplan, und seine Anhänger, ›die Lindenbrüder‹, gewannen ihm neue
+Gefolgsleute. So groß war der Zulauf, daß die Kirchen und Kapellen bald
+leer standen.
+
+Die Stadt war voll innerer Unruhe; die Masse des niederen Volkes stand
+gegen die Besitzenden, besonders den Rat, in ablehnender Kampfstimmung.
+Der Funken glühte; wer ihn zu entfachen vermochte, konnte große
+Verwirrung über die Stadt bringen.
+
+Hermann Raßler war über diese Zustände wohlunterrichtet, und er baute
+darauf seine Befreiungspläne. Seit einigen Tagen lebte er wieder
+unerkannt in den Mauern der Stadt, und seine Agenten bearbeiteten
+das Volk, um es für seine Ziele einzuspannen. In geschickter Weise
+wurde die Stimmung aufgepeitscht durch die Verquickung der religiösen
+Spannung mit dem wirtschaftlichen Elend. Raßlers Plan ging dahin, einen
+Auflauf des Volkes zu verursachen und während dieser Zeit die Gefangene
+zu befreien. Die Zusammenrottung fand planmäßig statt. Große Mengen
+schreienden und brüllenden Volkes drängten sich auf dem Marktplatz
+zusammen. »Fort mit den Pfaffen! Heraus mit dem Rat! Brot! Brot! Der
+Bürgermeister soll kommen!« so tobte und schrie es durcheinander.
+Nur Achtermann verlor die Ruhe nicht. »Laßt die Kartaunen abbrennen,
+schickt ihnen Vollkugeln auf den Wanst, daß sie satt werden«, riet er
+höhnisch.
+
+Das Gesicht Karsten Balders war in ernste Falten gelegt. Er übersah
+das Unwetter, das heraufzog, in seiner ganzen Schwere. Es handelte
+sich nicht nur darum, die Ruhestörer vom Marktplatz zu verscheuchen,
+einigen Dutzend Schreiern den Mund zu stopfen, sondern eine Bewegung zu
+bekämpfen, die das gesamte Volk bis in seine Tiefen hinein erregte und
+die, wenn sie Wurzel faßte, die Stadt in ausgesprochenen Gegensatz zu
+Kaiser und Papst bringen und damit den katholischen Herzögen den Weg
+frei machen mußte, um ihr Mütchen an ihr zu kühlen. Er entschloß sich,
+auf den Altan zu treten und beruhigend zu der Menge zu reden.
+
+Als er erschien, schrien einige: »Still, der Bürgermeister will zu uns
+reden. Ruhe für Karsten Balder!«
+
+»Soll das Maul halten!« brüllten andere. Es drohte zu einem Handgemenge
+zwischen den beiden Parteien zu kommen.
+
+Die Leute Raßlers, geschickt auf den Platz verteilt, hetzten die einen
+gegen die anderen, und der Tumult schien sich in sich selbst verzehren
+zu wollen. Der Bürgermeister, der ein paarmal vergeblich versuchte,
+sich Gehör zu verschaffen, wollte wieder wegtreten.
+
+Während des Lärmens und Tobens hatte Raßler selbst sich mit einigen
+handfesten Leuten Eintritt von der Seite der Marktkirche ins Rathaus
+verschafft, in dessen Keller Venne Richerdes schmachtete. Da er durch
+seine Späher auch über die Örtlichkeit genau unterrichtet war und alles
+vorgesehen hatte, um bis zu ihr vorzudringen, stand er bald in ihrem
+Kerker. Sie war schon oft zum Verhör vorgeführt worden und glaubte, man
+wolle sie wieder vernehmen. Da erklang es hastig: »Kommt, die Befreiung
+naht.«
+
+Venne erkannte Raßler und warf sich ihm aufschreiend in die Arme.
+»Gott sei Dank, daß Ihr kommt. Ich glaubte schon, ich sei von allen
+verlassen.«
+
+Einen Augenblick ruhte sie an seinem Herzen, und seine Arme umschlossen
+die geliebte Gestalt; dann aber ermannte er sich. »Fort, keinen
+Augenblick verlieren!«
+
+Durch Gänge und Türen stolperte sie an seiner Hand bis auf den Hof
+hinauf. Das Licht der Sonne, das sie seit Wochen nicht geschaut hatte,
+blendete so, daß sie die Augen mit der Hand schützen mußte.
+
+Noch hatte niemand die Flucht bemerkt, denn aller Aufmerksamkeit war
+den Vorgängen auf dem Markt zugewandt, und sie wäre auch wohl weiter
+zunächst unbeachtet geblieben, wenn nicht zufällig ein Ratsherr aus
+der rückwärts mit Fenstern versehenen Stube gesehen hätte, wie das
+Paar eilig aus dem Hofe hastete. Er schlug sofort Lärm, und der Ruf:
+»Venne Richerdes ist entflohen!« ertönte weithin. Dieser Ruf, ins Volk
+geworfen, bewirkte, was weder der Bürgermeister noch andere erreichen
+konnten: Der ganze Haufe setzte sich nach dem Hohen Wege in Bewegung,
+wohin das Paar gelaufen war.
+
+Die beiden hatten einen ziemlichen Vorsprung, und es wäre Raßler bei
+seiner Kenntnis aller Winkel und Ecken wohl gelungen, sie in dem Gewirr
+der Gassen am Liebfrauenberge in Sicherheit zu bringen, wenn nicht
+Venne von der langen Haft geschwächt gewesen und ihre Kleider ihr beim
+Laufen hinderlich gewesen wären. Einige leichtfüßige Burschen hefteten
+sich an ihre Fersen. Um sie abzuwehren, mußte Raßler sich wiederholt
+umkehren. So verlor er kostbare Minuten. Der Haufe kam immer näher, die
+Wut funkelte aus aller Augen, dumpfe Schreie tönten an ihr Ohr.
+
+Einige Leute Raßlers, die in Erkenntnis der Gefahr mit der Menge
+vorgestürzt waren, warfen sich ihr entgegen; auch Raßler selbst zog
+sein Schwert. Aber ihre Tapferkeit zerschellte an der Wucht der Masse.
+Ein klobiger Rademacher, der ein Stück Holz am Wege aufgegriffen hatte,
+schmetterte es auf Raßlers Kopf hernieder, daß er zu Boden sank. Alles
+war verloren; da wollten die Knechte wenigstens ihren Hauptmann retten.
+»Laßt das Weib, der Hauptmann ist uns mehr wert.«
+
+Während die einen noch kämpften, schleppten die anderen den todwunden
+Mann davon. Venne blieb in den Händen ihrer Verfolger und wurde im
+Triumph zum Rathaus zurückgebracht. So endete der Befreiungsversuch,
+und der Rat trug fortan durch verdoppelte Wachsamkeit Sorge, daß man
+nicht ohne seinen Willen wieder zu ihr gelangen konnte.
+
+ * * * * *
+
+Johannes Hardt bewahrte seine Treue gegen Venne auch jetzt noch, obwohl
+sie ihn durch ihre Verbindung mit Raßler schwer enttäuscht hatte. Er
+übernahm die Verteidigung der Angeschuldigten, und er unterließ nichts
+anzuführen, was zu ihrer Entlastung dienen konnte, verhehlte sich
+indes nicht, daß keine Aussicht bestand, sie zu retten. Gisela, die
+von tiefem Kummer über das Los der Freundin erfüllt war, beschwor ihn,
+nichts unversucht zu lassen. Sie erwog sogar den Plan, Venne heimlich
+freizulassen durch Bestechung der Wärter. Auch Immecke Rosenhagen und
+Erdwin Scheffer waren dafür gewonnen, aber Johannes erhob nachdrücklich
+Einspruch. Sein Pflichtgefühl litt es nicht, daß er, der im Solde der
+Stadt stand, etwas duldete oder sogar förderte, was ihn mit seinem
+geschworenen Eide in Konflikt brachte. Außerdem erkannte er, daß
+der Plan doch zum Scheitern verurteilt war. »Ich habe nur noch eine
+Hoffnung,« sagte er zu Gisela, »sie beruht auf Ernesti, an den ich
+schon vor langer Zeit eilige Botschaft schickte. Er ist mächtig und
+einflußreich; sein Wort gilt auch bei dem Rate viel. Gelingt es ihm
+nicht, Venne frei zu bekommen, so weiß ich keinen Rat mehr.« Seufzend
+ergab sich Gisela in das Unabänderliche.
+
+Ernesti kam; Johannes besprach mit ihm alles, und auch jener erkannte
+den furchtbaren Ernst der Lage. Doch er wollte nichts unversucht
+lassen. Schon am nächsten Tage begab er sich auf das Rathaus und hatte
+mit Karsten Balder eine ernste Besprechung.
+
+»Herr Karsten Balder,« sagte er, »ich verstehe Euren Zorn gegen mein
+Niftel; ich will auch zugestehen, daß sie sich schwer gegen die Stadt
+vergangen hat. Aber laßt ihr auch Gerechtigkeit widerfahren. Bedenkt,
+wie schwer sie gekränkt war, wie man sie und ihren Vater gehetzt hat,
+bis sie so weit kam. Ihre Begriffe von Recht und Unrecht mußten sich
+verwirren; die Hauptschuld trägt der Ratsherr Achtermann, wie Ihr nicht
+bestreiten werdet. Ich will von dem Geschwätz absehen, das er über sie
+ausstreute, sie sei eine Hexe. Ihr selbst als vernünftiger Mann werdet
+das nicht glauben, denn Heinrich Achtermann war ihr in treuer Liebe
+zugetan, und es steht fest, daß er bis zuletzt nie an ihr gezweifelt
+hat. Wie sollte also dieses reine, keusche Mädchen dazu kommen, sich
+solcher buhlerischen Mittel zu bedienen, um etwas zu gewinnen, was sie
+schon besaß? Ein anderes ist es um den Schaden, den sie oder Raßler,
+vielleicht ohne ihre Kenntnis und Einwilligung, Eurer Stadt zugefügt
+hat. Er mag groß sein, aber er ist zu ersetzen, und ich bin reich
+genug, um dafür einzustehen.«
+
+Karsten Balder hatte ihn sprechen lassen; unbewegten Antlitzes hörte
+er ihm zu. Dann nahm er mit ernster Stimme das Wort: »Ihr wißt, Herr
+Ernesti, daß Venne Richerdes wie ihr Vater mir die Hauptschuld an dem
+beimessen, was sie an Ungemach betraf. Sie taten mir bitter unrecht
+damit, aber ich habe geschwiegen. Meine Hand ist rein von Schuld gegen
+sie. Mein Mund hat nichts geredet, das ich nicht verantworten könnte.
+Sie taten mir unrecht, aber es soll ihnen nicht vorbehalten bleiben.
+Doch anders ist es mit dem, was der Stadt widerfuhr. Für diese tat ich,
+was jene mir als persönlich gemeinte Kränkung auslegten; für diese muß
+ich geschehen lassen, was jetzt über die Tochter kommt. Sie tut mir
+leid, die Venne, ich will es Euch gestehen, und was der Achtermann ihr
+antut, mag kleinlich, verächtlich, verabscheuungswürdig sein. Aber
+es steht mir nicht zu, über ihn zu Gericht zu sitzen. Hätte sie sich
+früher an mich gewandt, so wäre vielleicht manches anders geworden;
+jetzt ist es zu spät.«
+
+»Herr Bürgermeister,« entgegnete Ernesti, der noch nicht alle Hoffnung
+aufgeben wollte, »ich bin, wie Ihr wißt, ein Freund Eurer Stadt. Ihr
+selbst nanntet mich so. Ich habe -- wiederum gebrauche ich Eure Worte
+-- ihr Dienste geleistet, für die mir Dank zugesichert wurde. Wohlan,
+jetzt ist die Stunde der Vergeltung gekommen. Ich begehre nichts als
+die Befreiung Venne Richerdes'. Sie soll Euch Urfehde schwören; ich
+will sie mit mir nehmen, daß Ihr sie nie wieder zu Gesicht bekommt,
+aber laßt sie gehen.
+
+Ich habe Euch geholfen, ich werde Euch helfen. Ich sorge, Ihr werdet
+diese Hilfe gut gebrauchen können. Gebt sie mir. Sie ist nur mein
+Niftel, aber Ihr seid selbst Vater, habt eine blühende Tochter. Sagt,
+wie täte es Euch, wenn man sie töten wollte. Würdet Ihr nicht Himmel
+und Hölle in Bewegung setzen, um sie zu retten?«
+
+»Wenn ich an Eurer Stelle wäre, Herr Ernesti, sicher. Wäre ich der
+Bürgermeister Karsten Balder, nein! Ich stehe hier für die Stadt, der
+ich geschworen habe. Ihr mahntet mich an die unruhige Zeit, in der wir
+leben; wie sollte ich es verantworten, gäbe ich die Schuldige frei,
+um vielleicht demnächst ein Dutzend armer Schelme dem Gericht zu
+überantworten. Solange ich über Recht und Gerechtigkeit in der Stadt
+Goslar zu wachen habe, wanke ich nicht. ›+Fiat justitia, pereat
+mundus+!‹ Die Gerechtigkeit soll ihren Lauf haben auch in diesem
+Falle.«
+
+Bleich waren beide Männer, die sich jetzt gegenüberstanden.
+
+»Ihr hattet meine Freundschaft, Karsten Balder,« sagte Ernesti mit
+düsterer Stimme, »so nehmt meine Feindschaft. Daß ich einen Fehdebrief
+schreibe, wollet nicht erwarten, aber die Absage sollt Ihr merken!«
+
+»Ich muß es gelten lassen«, sagte Karsten Balder tiefernst; damit
+schieden die beiden Männer.
+
+Den Hardts berichtete er von seinem Mißerfolge. Venne wollte er nicht
+mehr sehen. »Es geht über meine Kraft, vor sie zu treten«, sagte er,
+»mit dem Bewußtsein, daß der Tod hinter ihr steht, und ihr leere
+Trostworte zuzuraunen. Sagt ihr auch nicht, daß ich hier gewesen.«
+
+Dann brach er auf. Von Goslar fuhr er geradeswegs nach Wolfenbüttel, um
+mit dem Herzog zu verhandeln; darauf kehrte er in seine Heimat zurück.
+
+Auch Herzog Heinrich versuchte noch einmal, zugunsten Vennes zu
+vermitteln; es war vergebens. Mit fast ingrimmiger Festigkeit lehnte
+der Bürgermeister die Einmischung des Welfen ab. So nahm der Prozeß
+gegen Vene Richerdes seinen Lauf.
+
+
+
+
+Auf dem Rosenberge, in einsamer Lage, wohnte der Henker der Stadt
+Goslar, Meister Henning Voß, mit Weib und Kind und mit seinen
+Knechten. In den Akten der Stadt führt er den harmlos klingenden Namen
+»Suspensor«. Für den armen Delinquenten, der ihm überantwortet wurde,
+war es indes gleich, ob der Rat Meister Henning seine sechzehn Groschen
+lötigen Silbers als »Henker« oder als »Suspensor« zahle.
+
+Die Amtseinnahmen des Henkers waren nicht immer glänzend. Zwar flossen
+ihm neben den Einnahmen aus seinem blutigen Beruf auch sonst noch
+manche Sporteln zu, die ihm für allerlei unsaubere Arbeit zustanden,
+wie Reinigen der Gruben bei den Herren Ratsleuten, Abholen und
+Vernichten der Kadaver gefallener Tiere; aber es wäre doch in manchem
+Jahre Schmalhans Küchenmeister bei ihm gewesen, wenn sich ihm nicht
+noch andere einträgliche Einnahmequellen erschlossen hätten. Er war
+bekannt als Besitzer mancher dunklen Wissenschaft, geheime Tränke zu
+brauen, krankes Vieh zu besprechen, Liebe zu sichern und zu stören
+zwischen jungen Pärchen. Das alles fiel in den Bereich seiner Kunst.
+An manchem dunklen Abend pochte es an das Tor des Gehöfts, und ein
+zitternd Jüngferlein oder ein beherzterer Bursche holte sich Rat bei
+Meister Voß.
+
+Als bestellter Henker hatte er auch dem Peinlichen Gericht seine
+Dienste zur Verfügung zu stellen. Und mancher, dem seine Rute den
+Rücken gestrichen oder dem er das Schandmal aufgebrannt hatte, sandte
+ihm im stillen und aus der Ferne seine Segenswünsche zu. Jetzt stand
+wieder einmal eine große Sache an, bei der es etwas zu verdienen gab.
+Daß es sich dabei um die Tochter eines Vornehmen handelte, erhöhte noch
+den Reiz der Arbeit.
+
+Das Peinliche Gericht tagte in der Stadtfronei, die zur Zeit unter
+der Sankt-Ulrichs-Kapelle in der Kaiserpfalz untergebracht war. Dort
+hingen an den Wänden all die Geräte, mit denen man schweigsame Leute
+zum Reden brachte. Und dort bereitete jetzt auch Meister Voß und seine
+Leute alles vor, um die Angeklagten gehörig behandeln zu können. Es
+waren eingezogen außer Venne die alte Katharina und die Gittermannsche.
+Die beiden letzteren traf der Vorwurf des Zauberns und der Beihilfe
+zu diesem Verbrechen. Venne Richerdes hatte sich außerdem wegen
+Hochverrats und Mordes, begangen an ehrsamen Bürgern, zu verantworten,
+wie auch dafür, daß sie mit Hermann Raßler, der Stadt abgeschworenem
+Feinde, gemeine Sache gemacht habe.
+
+Noch war der Henker mit seinen Knechten allein in dem düsteren Raume.
+Die Folterkammer entbehrte nicht des frommen Apparates, um auch keines
+der Mittel unversucht zu lassen, die auf das schon über die Maßen
+erregte Gemüt des peinlich zu Befragenden von Wirkung sein konnte.
+Der Freitag, der Sterbetag des Heilandes, galt den Inquisitoren als
+furchtbarster Erntetag. So wählte man ihn auch in Goslar. Das Gemach
+war schwarz ausgeschlagen; ein riesengroßes Kruzifix an der Wand trug
+nicht minder zur Erhöhung der düsteren Stimmung bei.
+
+Meister Voß war ein frommer Mann, so ungereimt das auch manchem
+vorkommen mag. Er hatte das Geschäft vom Vater überkommen, wie dieser
+vom Großvater. Morgens sprach man in seinem Hause den Frühsegen,
+und der Abend fand nicht sein Ende, ohne daß dem lieben Gott gedankt
+wurde für das Gute, das er den Tag über beschert hatte, und war auch
+etwas Ungemach dazwischen gewesen. Daß dem Herrn der Heerscharen seine
+kleinen außerberuflichen Nebenbeschäftigungen vielleicht nicht ganz
+genehm sein möchten, kam ihm in seiner christlichen Einfalt nicht in
+den Sinn.
+
+Lag ein besonderes Werk vor, so folgte dem Morgengebet noch ein
+zweites, in dem er den Herrn um eine sichere Hand anflehte und den
+Himmel bat, ihm die Tat nicht vorzubehalten, die er im Namen eines
+wohlweisen Rates zu tun berufen war. So geschah es auch heute, obschon
+es nur galt, die peinliche Frage zu tun, wenn die Angeklagten nicht
+jetzt vor dem Gericht geständig waren. Er nahm die Kappe ab, die
+Knechte taten ein gleiches, der eine ein wenig langsam und grinsend.
+Da unterbrach Meister Voß für einen Augenblick die schon begonnene
+Andacht, und seine Faust saß dem Säumigen im Nacken. »Willst Du Hund
+unserem Herrgott nicht den nötigen Respekt erweisen?« Der Gemaßregelte
+ließ sich willig belehren, und das Gebet verlief nach dem Fürspruch des
+Meisters.
+
+Während dieser Zeit tagte über ihnen noch in einem Gemach das
+Gericht. Hinter einem schwarzbehangenen Tische, auf dem ein großer
+Kruzifixus zwischen zwei Kerzen stand, saßen schweigsamen und düsteren
+Antlitzes der Inquisitor und die Schöffen. An der Seite wartete
+der Aktuarius mit sorgsam zugeschnittenem Federkiel darauf, die
+Angaben niederzuschreiben. Es läutete dem Herkommen gemäß gerade die
+Angelusglocke, als die Beschuldigten von dem Büttel hereingeführt
+wurden. Das Malefizverfahren schrieb vor, daß die Tortur, die sich
+etwa anschließen konnte, die Übeltäter mit nüchternem Magen antreffe.
+So war es auch hier.
+
+Als erste kam die Gittermannsche. Das häßliche Weib überfiel den
+Gerichtshof sogleich mit einem Schwall von Beteuerungen ihrer Unschuld.
+Die Magd habe ihr überhaupt nicht gesagt, daß der Trank für einen
+Menschen sei; er gelte einem Hunde, so sei ihr gesagt worden. Der
+Richter unterbrach sie strenge und ermahnte sie, zu schweigen und nur
+auf die Fragen zu antworten. Da sie bei ihrer Behauptung blieb, brach
+man das Verhör ab.
+
+Katharina gestand unumwunden, daß sie zur Gittermannschen gegangen
+sei, um sich einen Liebestrank für Heinrich Achtermann zu holen. Die
+Gittermannsche, welche ihr empfohlen sei, habe durchaus gewußt, wem es
+gelte. Sofort fiel diese mit einem Schwall von greulichen Flüchen und
+Verwünschungen über sie her, so daß das Gericht ihr schon jetzt mit
+Auspeitschen drohen mußte, wenn sie das Verhör noch weiter störe. Da
+begnügte sie sich, den beiden anderen Frauen giftige Blicke zuzusenden.
+Die alte Magd beteuerte bei allen Heiligen, daß ihre Herrin nichts von
+der ganzen Sache gewußt habe.
+
+Auch Venne erzählte den Vorgang so. Der Richter schüttelte den Kopf.
+»Und Ihr behauptet allen Ernstes und mit Vorbedacht, daß Ihr von dem
+ganzen bösen Handel nichts wußtet?«
+
+Venne antwortete kurz und bestimmt: »Nein.«
+
+»Bedenkt, es steht ein gewichtiger Zeuge gegen Euch, der Ratsherr
+Achtermann. Er behauptet das gerade Gegenteil.«
+
+»So spricht er die Unwahrheit«, beharrte Venne trotzig.
+
+»Ich warne Euch«, drängte der Vorsitzende. »Euch kann allein ein
+offenes Geständnis vor der peinlichen Frage bewahren.«
+
+»Soll ich etwas gestehen, was ich nicht tat«, entgegnete sie mit
+Tränen.
+
+»Das ist Eure Sache«, antwortete der Richter geschäftsmäßig kühl. Da
+drängte sich die alte Katharina vor. »Aber ich schwöre Euch, sie ist
+unschuldig. Wie könnt Ihr glauben, daß Venne Richerdes dazu jemals ihre
+Zustimmung gegeben haben würde!«
+
+»Führt sie hinaus«, befahl der Unerbittliche streng. »Sie mag reden,
+wenn sie wieder befragt wird. Und die andere, die Anstifterin, nehmt
+auch mit.«
+
+»Also, Ihr wollt nicht gestehen?« wandte er sich wieder an Venne. »Gut,
+so brechen wir damit ab.«
+
+»Man redet Euch auch nach, daß Ihr gegen den wahren Glauben unserer
+Kirche gesprochen, Euch auch zu dem Apostaten, dem sündigen Mönch
+Luther, bekannt habet. Wie steht es damit?«
+
+»Das ist der schuftige Schreiber des Bischofs, der uns belauschte und
+Halbgehörtes entstellte.«
+
+»Ich nehme es für eine Absage,« entgegnete der Richter mit einem
+stummen Lächeln. »Doch darüber wird Euch etwa noch ein anderer
+vernehmen. Aber nun erklärt Euch zu Hermann Raßler«, fuhr er dann mit
+erhobener Stimme fort. »Leugnet Ihr auch hier die Gemeinschaft?«
+
+»Ich leugne nicht, was ich getan habe«, antwortete Venne ruhig. »Ich
+nahm ihn mir zum Helfer, um mir mein Recht zu verschaffen, das der Rat
+mir vorenthielt. Daß er Goslar und seinen Bürgern so zugesetzt, wußte
+ich nicht, und es tut mir leid. Hätte ich es gewußt, ich würde meine
+Zustimmung nimmer gegeben haben.«
+
+»Und die Beleidigung des Rates und Bürgermeisters Karsten Balder vor
+des Kaisers Majestät? Wie steht es damit? Leugnet Ihr oder gesteht
+Ihr?«
+
+»Ich leugne nicht, daß ich sie in Worms vor Kaiser und Reichstag der
+Beugung des Rechts geziehen habe gegen mich und meinen Vater. Ist das
+eine Sünde, so muß ich sie tragen. Aber sagt selbst, konnte ich anders,
+da man mir hier in Goslar die Türen verschloß?«
+
+»Auf meine Ansicht dabei kommt es nicht an«, wehrte der Inquisitor
+kühl ab. »Also Ihr gesteht. Bleibt noch eins, nicht minder sündhaft.
+Man sagt Euch nach, daß Ihr den Schädling Hermann Raßler durch listige
+Überredung gewonnen, auch Euch ihm hingegeben und buhlerisch mit ihm
+gehauset habt. Stimmt das?«
+
+Flammende Röte schoß Venne ins Gesicht. »Das ist gemein, das ist so
+niederträchtig, daß ich darauf nichts entgegnen will«, schloß sie mit
+Zusammenraffen des letzten Stolzes, obschon alles in ihr zitterte.
+
+»Also schreibt, Aktuarius«, fuhr der Grausame ungerührt und kalt fort.
+»Die Angeklagte Gittermann gesteht ein, den Zaubertrunk bereitet,
+leugnet aber, ihn für Menschen bestimmt zu haben. Die Angeklagte
+Katharina, Magd der Venne Richerdes, hat den Trunk geholt, leugnet
+aber, ihrer Herrin davon Kenntnis gegeben zu haben. Und Venne Richerdes
+endlich will von dieser Angelegenheit nichts wissen, leugnet auch die
+Buhlschaft mit Hermann Raßler, wie die beleidigenden Äußerungen vor des
+Kaisers Majestät. Sie gesteht indes zu, mit selbigem Hermann Raßler der
+Stadt Goslar aufgesagt und derselben fleißig Schaden zugefügt zu
+haben.«
+
+Venne wurde abgeführt; darauf beriet das Gericht, wie weiter zu
+verfahren sei. Man kam sehr bald zu dem einstimmigen Urteil, daß die
+drei über die bestrittenen Punkte peinlich zu befragen seien. Es wurde
+die Reihenfolge festgesetzt, beginnend mit den leichteren Graden.
+
+Wenn all der Scharfsinn, den man im dunklen Mittelalter darauf
+verwendet hat, Werkzeuge zu ersinnen, welche die eigenen armen
+Mitmenschen bewegen sollten, Schandtaten zu gestehen, die sie
+doch niemals begangen haben konnten, wenn diese Tüfteleien darauf
+eingestellt worden wären, der Menschheit nützliche Dinge zu ersinnen,
+manche der Erfindungen, deren unsere aufgeklärte Zeit sich rühmt,
+wären uns von jenen schon vorweggenommen. Die ›Daumenschrauben‹, der
+›Spanische Stiefel‹, die ›Pommersche Mütze‹, der ›Halskragen‹, der
+›Leibgürtel‹, ein mit Eisenstacheln besetztes Korsett, in welches die
+Büste der Angeklagten hineingepreßt wurde, der ›Bock‹, ein in scharfer
+Schneide auslaufender Holzbock, auf welchen die ›Hexe‹ rittlings
+gesetzt wurde, stellen nur eine kleine Auslese der Marterinstrumente
+dar, mit deren Anwendung man die Armen zum Geständnis zu bringen
+suchte.
+
+Man begann bei den Angeklagten mit dem Auspeitschen. Gräßlich
+hallte das Geschrei der Gittermannschen durch den Raum. Unbeweglich
+sahen der Richter und die Schöffen zu. Das Weib wand sich unter den
+unbarmherzigen Streichen, die ihren Rücken zerfetzten. Sie schrie, sie
+wolle gestehen, sie widerrief, und wieder sausten die Streiche herab.
+Da brach ihr Widerstand endlich.
+
+Venne kämpfte mit einer Ohnmacht während des gräßlichen Schauspiels,
+und doch galt es bisher nur einer Fremden, einem widerwärtigen alten
+Weibe, dem mit dieser grausamen Behandlung vielleicht eine gerechte
+Buße auferlegt wurde für viele heimliche Sünden.
+
+Als aber ihre alte Katharina, ihre treue Pflegerin und Behüterin seit
+den Tagen der sonnigen Kindheit, an den Pfahl gebunden und ihr Rücken
+sich unter den Streichen des Henkers blutig rötete, da war sie zu Ende
+mit ihrem Widerstand.
+
+»Haltet ein, haltet ein, sie ist unschuldig, ich will gestehen!«
+
+Katharina hatte bis dahin alles ertragen, nur ein Ächzen rang sich
+über die welken Lippen; jetzt aber, da die Herrin sich für sie opfern
+wollte, schrie sie dazwischen: »Glaubt ihr nicht, sie sagt die
+Unwahrheit; ich war's allein.«
+
+Der Richter kehrte sich nicht an ihr Geschrei. Ihm lag vielmehr an dem
+Geständnis der einen, der Hauptperson, die als ein ruchloses Scheusal
+dem Volke vorgeführt werden mußte, sollte die Strafe allen als gerecht
+erscheinen.
+
+Ihre Freunde waren bei dem Prozeß zu der Rolle der ohnmächtigen
+Zuschauer verurteilt. Immecke Rosenhagen saß voller Ingrimm im
+›Goldenen Adler‹. Die Gäste litten unter ihrer Laune. In ihrer alten
+Entschlossenheit suchte sie den Bürgermeister auf und bedeutete
+ihm, er könne doch unmöglich an das hirnverbrannte Zeug glauben;
+sie wies darauf hin, daß es nicht guttue, ein Mitglied einer alten
+Patrizierfamilie in dieser Weise bloßzustellen, denn die gemeine Masse
+ziehe daraus leicht ihre Schlüsse auf die Qualität der Vornehmen
+überhaupt. -- Es war vergebens. Noch höher stieg ihr Groll, wenn sie
+darauf kam, daß der Ratsherr Achtermann, der am meisten Schuldige,
+triumphiere.
+
+Erdwin Scheffer, der Stadtweibel, fraß seinen Grimm in sich hinein,
+wenigstens draußen. Zu Hause mußten die Kinder seine Laune büßen, wenn
+sie sich irgendwie laut machten.
+
+Johannes Hardt war in seiner Rolle als Verteidiger sehr beschränkt. Bei
+der vorgefaßten Meinung der Richter verhallten seine eindringlichen
+Worte. Man wollte ein Opfer, und Venne sollte es sein!
+
+Schon als die Folter bestimmt wurde für den Fall, daß sie nicht
+gestehe, erwies sich die Voreingenommenheit. Nach der bestehenden
+Gerichtsordnung konnten graduierte Personen, wie Doktoren, Lizentiaten,
+Professoren, Advokaten, und Leute von Stand, wie aus vornehmen
+Bürgergeschlechtern, die denen des Adels gleichzusetzen seien, von
+der Folter befreit werden; man ließ die Vergünstigung für Venne nicht
+zu. Als das Urteil gefällt war, das für die Gittermannsche auf den
+Feuertod, für Katharina auf erneutes Auspeitschen und Verweisung aus
+der Stadt und für Venne Richerdes endlich auf den Tod durch das Schwert
+lautete, versuchte Johannes Hardt noch einmal, sie zu retten. In einer
+Eingabe an den Rat wies er darauf hin, daß ein Appell an den Kaiser
+Begnadigung erwirken könne. Man verweigerte es. Die Stadt habe das
+Recht über Leben und Tod, also lasse sie sich von niemand dreinreden.
+Mutlos kehrte Johannes zu den Seinen zurück. Unaufhörlich flossen die
+Tränen Giselas; das harte Los Vennes konnte sie nicht ändern. Es wurde
+von dem Rate als eine besondere Vergünstigung hingestellt, daß man sie
+nicht wie eine gemeine Hexe verbrennen lasse, sondern sie durch das
+Schwert aburteilen wolle.
+
+ * * * * *
+
+Venne Richerdes saß in strenger Haft. Man suchte einen abermaligen
+Befreiungsversuch durch geeignete Maßnahmen unmöglich zu machen.
+Sie war jetzt in Wahrheit von aller Welt abgeschlossen und bekam
+Menschen nur bei gelegentlichen Verhören noch zu sehen, die aber
+immer von kurzer Dauer waren, da ihr Geständnis vor dem Inquisitor als
+ausreichend angesehen wurde. Auch wollte man keinerlei Gelegenheit zu
+einem Widerruf bieten.
+
+Venne dachte allerdings gar nicht an einen solchen, denn er würde
+das gräßliche Schauspiel erneuern, das ihr fast die Besinnung nahm.
+Lieber wollte sie aber den Tod selbst erleiden, ehe sie ihre alte, gute
+Katharina noch einmal den Henkersknechten auslieferte! Der Tod aber war
+ihr gewiß, so viel wußte auch sie von der grausamen Rechtspflege ihrer
+Zeit. Keine Rettung, nachdem Raßlers Versuch gescheitert war.
+
+Der Keller des Goslarer Rathauses, der heute noch in seiner Urform zu
+sehen ist, ist vor anderen Anlagen gleicher Art ausgezeichnet durch
+seine ungewöhnlichen Höhenausmaße. Wie gewaltige Höhlen erstrecken sich
+die Gewölbe unter dem alten Gebäude dahin. Das Auge sieht die Wölbungen
+in unerreichbarer Höhe über sich, das Tageslicht dringt durch schmale,
+fast ebenso hoch liegende Schlitze in geiziger Sparsamkeit hinein und
+läßt das Dunkel des Raumes nur noch um so gespenstiger und grauenhafter
+erscheinen.
+
+In einem dieser schauerlichen Verließe saß Venne Richerdes und wartete
+auf ihren Spruch. Kein Mensch nahte ihr als der Kerkermeister, der ihr
+die Speisen brachte und grußlos und schweigsam kam und ging. Kein Laut
+der Außenwelt drang zu ihr, sie war schon jetzt für ihre Mitmenschen
+tot.
+
+Auch Johannes Hardt erhielt nicht länger Zutritt zu ihr, aber einer
+vergaß sie nicht, die Kirche. Sie, die sich von ihr als Abtrünnige
+gekränkt glauben konnte, wollte doch versuchen, die irrende Seele
+zu retten. So schickte sie ihren Boten, und bei der Auswahl erwies
+sich's, daß sie die Seelenkunde als vornehmste Waffe gegen den
+Unglauben zu verwenden verstand. Es kam nicht ein Eiferer, nicht ein
+ungestümer Hitzkopf, der mit dem Donner seines Wortes die Arme zu
+gewinnen suchte, sondern ein alter, würdiger Pater, ein Franziskaner,
+bei dem sie, wie die Mutter, bisweilen gebeichtet hatte. Aus seinem
+Wesen sprachen Güte und Nachsicht.
+
+Mit einem freundlichen, milden Wort begrüßte er sie, als er ihr die
+Hand reichte. Nichts von Vorwurf, nichts von Geringschätzung.
+
+»Auf Dir lastet ein schweres Geschick, meine Tochter. Wie findest Du
+Dich damit ab?« begann er teilnehmend.
+
+»Wie man etwas Unverdientes hinnimmt, ehrwürdiger Vater. Man grollt
+dagegen und kann es doch nicht ändern. Man möchte die ganze Welt
+verderben und weiß doch, daß sie darob nur hohnlacht«, murrte sie
+düster. Seine Hand glitt tröstend über ihr Haar. »Wer kennt Gottes
+Wege, und wer weiß, wohin das zielt, was er uns schickt? -- Wir
+meinen vor anderen zum Leiden ausersehen zu sein, wähnen uns zu
+Besonderem bestimmt, ungerecht aus der Bahn gerissen, und sind doch nur
+Staubkörnlein auf seinem Wege. Und eins, mein Kind, vergessen wir gar
+zu gern ob der Klagen: die Selbstanklage.
+
+Ich bin nicht gekommen, Dich anzuklagen, ich will Dich aufzurichten
+suchen. Aber so Du auch gegen die anderen haderst, wie mir scheint,
+prüfe auch, ob Du vor Dir selbst gerechtfertigt dastehst. Ich bin ein
+alter Mann, der manches von der Welt gesehen hat. Vielerorts habe ich
+die Ungerechtigkeit triumphieren sehen, ohne dagegen einschreiten zu
+können. Auch in Deinem Falle liegt es, wie mir scheint, ähnlich.
+Deine Widersacher haben sich gegen Dich verschworen. Was Du dabei zur
+Gegenwehr gegen Deine Heimatstadt unternahmest, ist ebenso verwerflich,
+aber es mag mit Deiner Verlassenheit und Hilflosigkeit zum Teil erklärt
+und entschuldigt werden. Doch was Dir als schwere Schuld anzurechnen
+bleibt, ist Deine Einstellung zu den Schwarmgeistern, als deren
+schlimmster und ruchlosester jener wortbrüchige Mönch anzusehen ist,
+den Du in Worms zu Deinem Verderben hörtest.«
+
+»Ihr habt es von dem schuftigen Schreiber des Bischofs«, warf Venne mit
+zuckenden Lippen, verächtlich lächelnd, ein. »Gegen solche Zeugen mag
+ich mich nicht verteidigen.«
+
+»So sagt, daß er lügt,« fiel ihr der Mönch ins Wort, »und auch ich will
+ihn für einen Schuft erklären und aller Welt Eure Reinheit
+verkündigen.«
+
+»Das vermag ich nicht zu sagen«, bekannte sie freimütig. »Zwar hat
+er nur halb aufgefangene Worte hämisch und tückisch weitergetragen,
+aber in der Sache hat er nicht unrecht. Ich will bekennen, daß der
+Wittenberger einen gewaltigen Eindruck auf mich machte. Und was Ihr
+ihm nachsagt von Ruchlosigkeit und Schlimmerem, vermag ich nicht
+zu glauben. Wenn Ihr den Mann gesehen hättet mit seiner lodernden
+Begeisterung, seinen überzeugenden Worten, denen die Wahrheit auf der
+Stirn geschrieben stand ...«
+
+-- »Höre auf,« rief der Pater, »ich sehe, Du bist schon völlig in die
+Netze dieses Apostaten verstrickt. Kehre um, solange es noch Zeit ist.
+Ich beschwöre Dich bei Deiner Seligkeit. Oder ist es dazu schon zu
+spät, hast Du Dich ihm mit Leib und Seele verschrieben?«
+
+»Eure Sorge ist verfrüht«, entgegnete Venne. »Und«, fuhr sie bitter
+fort, »hättet Ihr vor meiner Fahrt nach Worms nur einen Bruchteil
+Eures Eifers um mich aufgebracht, so fändet Ihr mich wohl gar nicht
+in dieser Stimmung und auch nicht in dieser Lage. Noch ist nicht
+geschehen, was Ihr befürchtet; aber ich bin auf dem Wege zu ihm, dem
+Wahrheitskündiger und Seelenarzt. Das sollt Ihr wissen.«
+
+Der Mönch lenkte ein: »Du machst die Kirche und uns, ihre Diener, zu
+Unrecht für das verantwortlich, für die Unbill, die Dir widerfuhr. Wir
+mischen uns nicht in weltliche Händel, wie Du weißt.«
+
+»Nun, so laßt mich diese weltlichen Händel auch austragen mit all dem,
+was sie im Gefolge haben«, schloß sie bitter.
+
+Aber der Pater wagte noch eine letzte Mahnung.
+
+»Meine Tochter, vergiß, was man Dir zufügte, vergiß aber nicht, was
+Deiner im Jenseits wartet! Höllenqual und ewige Verdammnis, und vergiß
+nicht den Schmerz, den Du Deinen Eltern zufügst durch Deine Tat.
+Sie warten Deiner in ihren lichten Höhen. Willst Du Dich von ihnen
+scheiden?«
+
+Sanft, mit zarter Güte war es gesprochen, und wie früher verfehlten
+diese Worte ihren Eindruck nicht. Venne begann bitterlich zu weinen.
+
+»Das ist ja das qualvolle, daß ich nicht ein noch aus weiß in meiner
+Not. Wie oft habe ich schon daran gedacht, und doch zieht es mich immer
+wieder nach jener Seite, wo der Wittenberger steht!«
+
+Der Besucher sah, daß er dem armen Mädchen jetzt nicht weiter zusetzen
+dürfe, deshalb schickte er sich zum Aufbruch an. »Du zweifelst noch,
+meine Tochter, da ist nicht alles verloren. Ich will jetzt gehen und
+Dich mit Gott und den Heiligen allein lassen. Mögen sie Dir das Herz
+erleuchten und Dir zurückhelfen auf den rechten Weg. Und vergiß nicht:
+Dem Reuigen behält die heilige Kirche seine Sünden nicht vor.«
+
+Der Mönch ging. Venne war wieder allein in ihrer trostlosen Einsamkeit.
+Und dann sank der Abend herab, und die Nacht drohte, die grauenvolle
+Nacht ohne Schlaf. Venne sah es an dem Verblassen des Lichtstreifens,
+der in ihren Kerker fiel.
+
+Verzweiflungsvoll irrte sie in dem engen Gefängnis hin und her. Sie
+wurde erneut ein Raub der widerstreitendsten Gefühle. Die Worte des
+Mönches hatten alles in ihr aufgewühlt, was sie zur Ruhe gekommen
+glaubte. Wie gierige Wölfe fielen die Gedanken sie an, ihre irdische
+Not, die Trennung von dem Geliebten, der ihr auf immer entrissen war,
+die ihr angetane Schmach; ihr ganzes verpfuschtes Dasein stieg vor ihr
+auf. Und dann die grausige Vorstellung, daß sie dem Henker verfallen
+sei. »Wehe, wehe, so jung und schon sterben müssen!« -- Und mit dem
+Tode war es noch nicht zu Ende, selbst in das Jenseits hinein belastete
+sie noch die Erdenschwere: »Was harrt Deiner dort?«
+
+In namenlosem Jammer rang sie die Hände. »Herr mein Gott, erleuchte
+mich! Vater, Mutter, gebt mir einen Wink, wo der rechte Weg ist!«
+
+Keine Antwort in der erdrückenden Stille, schwarze Nacht ringsum! --
+Doch da schleicht sich ein Schimmer in ihr Gefängnis und trifft ihr
+ruhelos irrendes Auge. Ein Sternlein sendet sein bescheidenes Licht
+durch den Fensterschlitz. Aus erdenweiter Ferne gleitet sein milder
+Glanz herab in den Raum, wo irdische Unbill sie ummauert hält. Und ein
+zweites steht ihm getreulich zur Seite, und ein drittes. In sanfter
+Stetigkeit blicken die Augen des Himmels auf sie herab. Und Venne
+klimmt mit ihrem leidgeprüften Herzen zu den Seligen empor, die da oben
+in den himmlischen Sphären wandeln und leben. Vielleicht wohnt auf eben
+dem Sternlein das Mütterlein und der Vater, und sie sehen herab auf
+ihre Tochter, die in dieser furchtbaren Einsamkeit dem frühen, harten
+Tode entgegenlebt.
+
+»Mutter, Mutter, erbarme Dich meiner. Gib mir ein Zeichen, daß Du mir
+nicht zürnst, daß ich nicht von Dir geschieden bleibe!« Und ihre Seele
+sucht in brünstigem Gebet die Ferne, Selige.
+
+Da fließt es wie ein linder Trost ihr ins Herz. Das verklärte Antlitz
+der Mutter blickt auf sie hernieder, und sie spricht zu ihr: »Fürchte
+Dich nicht, meine Venne, ich bin bei Dir jetzt, und ich umschwebe Dich
+in Deiner letzten, großen Not. Du suchtest Gott, Du hast ihn gefunden;
+bleibe ihm treu, höre nicht auf Menschenwort. Und alles, was das Herz
+Dir bedrückt, das wirf auf ihn, den Eingeborenen, den er uns sandte,
+uns zu heilen und zu lösen. Jesus Christus, Dein Stab! An ihn halte
+Dich, mit ihm tritt die Wanderung an durch das dunkle Tal, das Dich zu
+mir, zu uns führt!«
+
+»Jesus Christus, Dein Heil, Deine Zuversicht!« -- wie milder, heilsamer
+Balsam legte es sich auf ihre zweifeldurchwühlte Brust. »Jesus
+Christus, Dein Stecken und Dein Stab!« -- mit einem Seufzer unendlichen
+Glücksgefühls wandte sich ihr Blick von den schwindenden Sternen, die
+ihre Bahn durch die Ewigkeit fortsetzten.
+
+»Jesus Christus!« -- Der Name schwebte noch auf ihren Lippen, als die
+Augen sich schlossen zum Schlummer auf hartem Lager.
+
+Am nächsten Tage schon kehrte der Franziskaner wieder. Er fand Venne
+in gelassener Ruhe. Der Friede in ihrer Stimme, der ihm bei seinem Gruß
+entgegenklang, erfüllte ihn mit Unruhe und Sorge.
+
+»Hast Du Dich zurückgefunden, meine Tochter?« fragte er mit milder
+Stimme.
+
+»Wie Ihr es versteht,« entgegnete Venne, »zurückgefunden oder
+zurechtgefunden zu meinem Gott und Erlöser; von ihm soll mich nichts
+mehr scheiden.«
+
+»Wie soll ich das verstehen?« forschte er. »Dachtest Du auch an das,
+was ich Dir von den Eltern und dem Jenseits sagte?«
+
+»Seid gewiß,« erwiderte sie zuversichtlich, »ich fand sie und hörte
+ihren Rat, der aber weist mich zu Jesum. Ihm will ich folgen und nur
+ihm.«
+
+»Und die Kirche und die lieben Heiligen, baust Du nicht auf ihre
+gnadenbringende Fürsprache?«
+
+»Ich habe meinen Heiland, habe Jesum Christum, was brauche ich sie!«
+
+»So bist Du verloren für die Zeit und Ewigkeit!« Grollend erklangen
+seine Worte.
+
+»Zürnet nicht, ehrwürdiger Vater«, bat Venne mit sanfter Stimme. »Es
+schmerzt mich, daß ich Euch kränken muß, der mir nur Gutes erwies. Aber
+Gottes Gebot geht vor Menschenwunsch. Und Gott befiehlt mir durch mein
+Mütterlein: ›Bleibe getreu und halte Dich an Jesum Christum!‹«
+
+Da schied der Mönch zum andern Male von ihr, und er ging mit wehem
+Herzen, daß er die verirrte Seele nicht zurückgewinnen solle. Traurig
+war sein Blick, und Trauer durchzitterte seine Stimme, als er murmelte:
+
+»So leb' denn wohl für diese Zeit und für die Ewigkeit!«
+
+
+
+
+Während in Goslar Venne Richerdes der Prozeß gemacht wurde, lag ihr
+Bewunderer und Helfer todwund in Rohde, wohin er gebracht war, sobald
+sein Zustand das zuließ. Lange hielt ihn das Fieber im Bann, und es
+schien, als ob der willensstarke Mann seinen Meister gefunden habe.
+Immer wieder gellte der Name »Venne« durch seine Fieberträume, und
+oft fuhr er auf mit dem Rufe: »Laßt mich zu ihr, ich habe ihr Hilfe
+versprochen, ich darf nicht wortbrüchig an ihr werden.« Aber dann sank
+er wimmernd zusammen.
+
+Von den Vorgängen in Goslar wurde er dauernd unterrichtet durch seine
+Spione. Er hörte von dem Fortgang des Prozesses und erfuhr, daß Venne
+zum Tode verurteilt sei. Da gab es für ihn kein Besinnen mehr. Ein
+Befehl rief alle seine Männer zusammen. Es galt einen Überfall auf
+Goslar, der in allen Einzelheiten sorgsam durchdacht war. Während
+ein Teil einen Angriff von der Westseite her unternehmen sollte, der
+die Aufmerksamkeit der Goslarer fesselte, würden die anderen von
+Südosten her, von wo man am wenigsten Feindseligkeiten erwartete, in
+die Stadt einzudringen suchen. Hermann Raßler war noch immer nicht
+wiederhergestellt, aber es galt ihm als selbstverständlich, daß er bei
+diesem Zuge, der ihm die Erfüllung seines höchsten Sehnens bringen
+sollte, zugegen sein mußte.
+
+Der Tag der Hinrichtung Vennes stand fest und damit auch die Stunde,
+die zur Befreiung zu führen bestimmt war. Am Abend vorher näherten
+sich die Mannen Raßlers der Stadt. Jedes Geräusch wurde vermieden,
+die Landwehr an Stellen überschritten, die abseits der Wege lagen.
+Mitgeführte Leitern wurden an die Mauer gelegt; die Ersten gelangten
+über sie hinweg und überwältigten die Wache im Torturm. Dann brach der
+Haufe in die Stadt ein.
+
+Schon war durch den Lärm, der sich bei der Erzwingung des Eingangs
+nicht vermeiden ließ, dieser und jener Bürgersmann geweckt. Verschlafen
+rieb er sich die Augen, dann aber besann er sich auf seine Pflicht, die
+ihn zu jeder Stunde zum Schutze der Stadt aufrufen konnte. Inzwischen
+drang der Haufe der Bewaffneten bis zum Marktplatz vor, wo im Rathaus
+Venne befreit werden sollte. Die Türen wurden mit Gewalt erbrochen, mit
+fliegender Eile stürmte Raßler zu dem Verlies, in dem er die Geliebte
+wußte.
+
+»Venne, die Befreiung ist nahe! Venne!« rief er noch einmal, -- niemand
+antwortete. Eine Fackel tauchte auf, sie wurde dem Träger entrissen,
+und Raßler leuchtete in den Raum: leer! -- -- Er wußte nicht, daß man
+vor wenigen Stunden die Gefangene in die Stadtfronei gebracht hatte,
+um sie bei der Hinrichtung nicht weit führen zu müssen. »Vergebens,
+verloren!« stöhnte er. Tränen der Wut traten ihm ins Auge, und dann
+brüllte er auf wie ein Tier, dem man seine Beute entrissen hat.
+
+»Venne, Venne!« schrie er einmal über das andere. Aber schon drängten
+die Genossen zum Rückzug. In der Stadt heulte die Sturmglocke,
+die Bürger sammelten sich in Haufen und drangen gegen das Rathaus
+vor. »Feind in der Stadt! Raßler ist da!« schrie und brüllte es
+durcheinander. Der Wilde stürzte sich auf sie: »Wo habt Ihr Venne
+Richerdes? Gebt sie heraus!« tobte er. Aber sie höhnten ihn in ihrer
+Übermacht. »Seht da, der Räuberhauptmann will sich sein Liebchen holen,
+um mit ihm auf dem Blocksberge Hochzeit zu halten. Auf ihn, der uns so
+sehr geschädigt hat, greift ihn, den Lump!«
+
+»Auf sie!« brüllte auch Hermann Raßler mit blutunterlaufenen Augen.
+Wuchtig sausten seine Hiebe auf die Angreifer herab, und mehr als
+einer wälzte sich in seinem Blut. Aber immer größer wurde die Zahl der
+Verteidiger, und Schritt um Schritt wichen die Raßlerschen zurück.
+Dem Führer lag nichts an seinem Leben, immer und immer wieder stürmte
+er vor. Zuletzt rissen ihn die eigenen Leute zurück und führten
+den Widerstrebenden davon, während andere den Rückzug deckten. Das
+Schicksal Vennes war besiegelt.
+
+ * * * * *
+
+Ein strahlend schöner Herbsttag brach nach der unheimlichen Nacht
+über die alte Reichsstadt herein. Leise, ganz leise kündigte sich das
+Sterben in der Natur an. Hier ein rotes Blättchen, das vom wilden Wein
+der Laube langsam zur Erde sich senkte, dort ein roter Schein über
+einen alten Ahorn oder eine Linde gehaucht, dazwischen dunkles Gold und
+lichtes Gelb, all die wunderbaren Farbentöne, mit denen der Meister der
+Schöpfung sein Werk noch einmal verklärt, ehe er ihm den Schmuck des
+Lenzes und Sommers nimmt und sie mit dem starren Gewande des Winters
+umkleidet. In den Büschen und Bäumen noch das lustige Gezwitscher der
+kleinen Sänger, die sich um das Morgen nicht kümmern, bis die Stimme in
+ihnen mahnt, daß es an der Zeit sei, sich zur Wanderung anzuschicken.
+
+Auf den Straßen jubelten die Kinder bei ihren Spielen, unbekümmert um
+das Unheimliche, das geschehen war, und das Gräßliche, das bevorstand.
+Sie hatten von den Erwachsenen einen Vers übernommen, den sie zu ihren
+Ringelreihen lustig zwitscherten:
+
+ »Venne Richerdes und Raßler der Böse,
+ Von beiden der Himmel uns balde erlöse!«
+
+Vor der Pfalz, die von ihrer einsamen Höhe auf das Häusergewirr
+herabblickte, erhob sich das Schafott, auf dem Venne Richerdes büßen
+sollte. Eine ungeheure Volksmenge umlagerte den Platz. Selbst die
+Firste der näher liegenden Häuser waren mit Neugierigen bekränzt, die
+sich keine Einzelheit des schrecklichen Schauspiels entgehen lassen
+wollten.
+
+Es ist der Ämter edelstes und opferwilligstes, das der Diener Gottes,
+dem Menschen in seiner letzten Not zur Seite zu stehen, wenn alle ihn
+verlassen müssen in seiner Qual. Bis dahin hielt ihn die Sorge um die
+Erhaltung des irdischen Lebens gefangen, jetzt lastet die furchtbare
+Seelennot auf ihm: Was wird aus mir im Jenseits?
+
+Venne Richerdes stand außerhalb dieser Fürsorge, denn von der alten
+Gemeinschaft hatte sie sich losgesagt; die neue aber, die lutherische
+Familie, war, in Goslar zum wenigsten, noch ohne Heimat. Ihre Kinder
+und Jünger lebten der Obrigkeit zum Ärgernis und wurden von ihr nicht
+geduldet. So hätte sie allein den dunklen Weg gehen müssen. Aber der
+gute, alte Pater Franziskaner brachte es nicht über das Herz, sein
+Beichtkind ohne Tröstung den letzten Gang antreten zu lassen. Vor
+seinen Oberen beschönigte er sein Vorhaben mit dem Hinweise, daß Venne
+doch zuletzt noch widerrufen möchte, und auch im innersten Winkel
+seines Herzens lebte diese Hoffnung.
+
+Als die Stunde gekommen war, trat er bei ihr ein.
+
+»Ich bin gekommen, mit Dir zu beten«, sprach er mit ernster, milder
+Stimme. »Bist Du bußfertig, bereust Du Deine Sünden?«
+
+»Ich bereue alles, was ich gesündigt, und bitte Gott, er wolle es mir
+nicht ansehen um Jesu Christi willen«, antwortete sie leise.
+
+»Willst Du nicht zu uns zurückkehren?«
+
+»Ich bitte Euch, ehrwürdiger Vater, laßt mich, wo ich bin. Ich habe
+den Grund gefunden, auf den ich baue, Jesum Christum. In ihm will ich
+sterben!«
+
+»So möge Gott Dir gnaden!« murmelte der Mönch betrübt.
+
+Das Armsünderglöcklein setzte ein mit seinem wimmernden Stimmchen.
+Aus der Fronei trat die todblasse Venne Richerdes, ihr zur Seite der
+Pater. Er murmelte die Sterbegebete; Vennes Lippen bewegten sich, ohne
+Worte formen zu können. Mit wankenden Schritten näherte sie sich der
+Richtstätte. Der Prokurator verlas das Urteil und brach den Stab über
+die Verurteilte, Venne Richerdes gehörte dem Henker.
+
+Noch eine letzte, leise Bitte wagte der Mönch: »Widerrufe!«
+
+Statt der Antwort nahm ihm Venne das Kruzifix aus der Hand. Ihr Auge
+suchte das Antlitz des Gekreuzigten. »Jesus Christus, mein Erlöser!«
+Ihre Lippen hauchten einen Kuß auf das Kreuz, dann ließ sie es in die
+Hände des Paters zurückgleiten.
+
+Noch einmal umfaßte ihr Blick die Heimat mit den Türmen und Giebeln
+und den ragenden Bergen. Dann kniete sie nieder und empfing den
+tödlichen Streich.
+
+ * * * * *
+
+Venne Richerdes hatte geendet, nicht erloschen war das Rachegefühl in
+der Brust Hermann Raßlers. Als die Nacht hereingebrochen, näherten
+sich wieder Gestalten der Stadt und gewannen heimlich Einlaß. Der
+Wächter rief die Mitternachtsstunde, da flammte es an allen Enden
+Goslars zugleich blutigrot auf. Der rote Hahn spreizte seine feurigen
+Flügel. Die Bürger schreckten aus dem Schlafe auf durch das gefürchtete
+»Feuerjo! Feuerjo!« Prasselnd stiegen die Flammen in den dunklen
+Himmel, die Nachbarschaft weithin mit grellem Schein übergießend;
+dahinter gähnte die Nacht nur um so schwärzer und unheimlicher. Hermann
+Raßler brachte Venne Richerdes sein Totenopfer!
+
+Er selbst, der Wilde, Rachedürstende, war daran nicht beteiligt, er
+hatte ein anderes, letztes Werk in Goslar zu vollbringen: noch lebte
+der, von dem all das Unheil ausging, das über die unglückliche Venne
+hereingebrochen war, der Ratsherr Heinrich Achtermann.
+
+Der Rächer nahm niemand mit auf seinem Wege. Was er vorhatte, war sein
+eigenstes Werk, kein Unberufener sollte ihn dabei stören, was er mit
+seinem Todfeinde zu erledigen hatte.
+
+Das Haustor war bald geöffnet, er drang zu dem Zimmer vor, in dem
+der Gehaßte weilte. Eine Magd, die ihm mit einer Kerze entgegentrat,
+verscheuchte er mit barschem Befehl. Da trat ihm der Gesuchte entgegen,
+notdürftig gekleidet. Entsetzen ergriff ihn, als er den Gefürchteten
+vor sich auftauchen sah. Das Licht zitterte in seiner Hand.
+
+»Zurück in Euer Zimmer!« herrschte Raßler. Mechanisch wich Achtermann
+zurück. Jener folgte ihm auf dem Fuße.
+
+Achtermann wußte, daß sein letztes Stündlein geschlagen habe.
+Hilfesuchend glitt sein Blick zum Fenster. Raßler sprach düster: »Gebt
+Euch keiner Hoffnung hin, für Euch gibt es keine Rettung! Bereitet
+Euch zum Sterben vor. Aber zuvor noch eine Frage: Was tat Euch Venne
+Richerdes, diese Edle, Reine? Habt Ihr auch nur einen einzigen
+triftigen Grund, so mögt Ihr Euer elendes Leben weiterschleppen. Euch
+bleiben noch genug der Gewissensbisse, daß Ihr darunter zusammenbrechen
+müßt.«
+
+Der Ratsherr brachte nur lallende Laute hervor. »Sprecht!« heischte der
+Unerbittliche, aber kein Wort entrang sich den blassen Lippen. Stieren
+Auges blickte er auf den Peiniger.
+
+»Willst Du nicht, so fahre ohne Bekenntnis zur Hölle!« schrie er. »Doch
+daß ~ich~ es an christlicher Gesinnung selbst Dir gegenüber nicht
+fehlen lasse, so sei Dir noch ein letztes Gebet gegönnt. Nieder auf
+die Erde!« brüllte er, als Achtermann noch immer schwieg, und damit
+riß er ihn auf den Boden. Da entrang sich den Lippen seines Opfers
+ein furchtbarer, wilder Schrei. Mit eiserner Faust hielt Raßler ihn
+nieder, während die Rechte den Dolch zum Stoß bereithielt. Wimmernd,
+mit verglasten Augen lallte der Alte einige Worte. Es wurde laut im
+Hause. Durch das Geschrei der Magd und den Angstruf des Ratsherrn waren
+Nachbarn aufmerksam gemacht worden und drangen ins Haus.
+
+»Stirb, Du Hund«, zischte Raßler und hob die Rechte zum Stoß. Da flog
+die Tür auf, und die Helfer drangen ein. Ehe noch der Dolch sein Ziel
+erreicht hatte, sank Hermann Raßler unter dem Streiche eines Bürgers.
+Seinem Leben ward ein Ende gesetzt an dem Tage, da Venne, die er zu
+gewinnen hoffte, unter des Henkers Schwert starb.
+
+Heinrich Achtermann hatte das Bewußtsein verloren; als er wieder zur
+Besinnung gebracht war, schlug ein blöder Greis die Augen auf. Die
+schreckliche Stunde hatte ihm die Sinne verwirrt.
+
+
+
+
+Durch die hochgehenden Wogen der Nordsee pflügte sich eine hansische
+Kogge mühsam ihren Weg. Oft war sie verschwunden zwischen den
+grünen Wellenbergen, dann schwebte sie auf der Höhe des nächsten
+Wasserschwalles. Der weiße Gischt flutete über das niedrige Verdeck,
+alles mit seiner salzigen Flut übergießend. Aufmerksam standen Kapitän
+und Steuermann auf ihrem Posten; keinen Blick verloren sie von dem
+Wege, den der Kompaß vorschrieb.
+
+Das Schiff hatte eine schwere Fahrt hinter sich, seitdem es von der
+Mole in London losmachte. Wild jagte der Novembersturm hinter ihm drein
+und heulte brüllend durch die gerefften Segel und Stengen. Aber wacker
+stampfte es dahin, unentwegt dem fernen Ziele zu. Die Kogge war in
+Hamburg beheimatet, und dorthin ging ihre Reise.
+
+Ungeduldig blickte einer der Schiffsgäste auf Schiff und See, deren
+Wogen, wie es schien, unter dem Fahrzeug eilig davonglitten dem Ziel
+zu, das sie selbst erstrebten. Ja, er war voller Ungeduld, Heinrich
+Achtermann, der mit der guten hansischen Kogge die Heimfahrt von London
+antrat, nachdem dort die geschäftlichen Angelegenheiten zu seiner und,
+wie er hoffen durfte, auch zu seines Vaters Zufriedenheit geregelt
+waren. Aus der Heimat hatte ihn in dem knappen Jahre, das er von Goslar
+fern weilte, Nachricht nicht erreicht außer einem Schreiben des Vaters,
+das geschäftlichen Inhaltes war und die Dinge, die ihn interessierten,
+nicht berührte. Venne selbst wußte er in Worms; wie lange ihr
+Aufenthalt dort dauern würde, war ihm unbekannt. Zwischen ihm und ihr
+war also in dieser Zeit der Faden gänzlich abgerissen.
+
+Er freute sich von Herzen auf das Wiedersehen, denn die Aufregung der
+letzten Tage in Goslar mit dem unleidlichen Zwischenfall hatte sich
+gewiß gelegt, und er durfte hoffen, daß auch bei dem Vater eine mildere
+Stimmung eingezogen sei. Seine Gefühle für die Geliebte waren durch
+die lange Trennung geklärt, sie hatten an Innigkeit nicht verloren,
+sondern waren gefestigt worden durch die Vergleiche, die er zwischen
+fremden Frauen und der keuschen, züchtigen Geliebten ziehen konnte. Er
+war entschlossen, sein Glück festzuhalten und sich durch nichts darum
+betrügen zu lassen.
+
+Viel zu langsam für seine Ungeduld setzte das Schiff seine Fahrt
+durch die schwere See fort. Heinrichs Gedanken eilten ihm voraus
+und übersprangen den Weg von Hamburg nach Goslar. Er sah sich zur
+Bergstraße eilen und die Geliebte an sein Herz sinken. Das Gefühl
+des großen Glückes, das seiner wartete, drohte ihm die Brust zu
+zersprengen. Endlich lief die Kogge in die Elbe ein und legte im Hafen
+von Hamburg an. Es hielt ihn dort keinen Tag länger, unverweilt brach
+er nach Goslar auf. Noch hieß es sich Tage gedulden, aber süßer Lohn
+winkte ihm daheim und brachte ihm Entschädigung für die lange Zeit der
+Sehnsucht!
+
+Armer Heinrich, Du ahnst das Schreckliche nicht, das Deiner wartet!
+
+Von Braunschweig ab fand er Gesellschaft in einem Reisegenossen, einem
+Kaufmann, der in Goslar Station machen und dann weiter nach Halberstadt
+wollte. Von dem Gespräch über die Zeitläufte kam man auch auf die
+Geschehnisse in der Heimat. Da der Reisende hörte, daß Heinrich lange
+abwesend gewesen sei, berichtete er über vieles, das ihm in den Sinn
+kam.
+
+»Dann wißt Ihr wohl auch nichts von dem großen Hexenprozeß, der vor
+wenigen Monden alle Gemüter in Eurer Heimat in Spannung hielt?«
+Heinrich verneinte.
+
+»Nun, da werdet Ihr staunen. Es war nämlich keine gewöhnliche Hexe,
+sondern ein vornehmes Fräulein.«
+
+Heinrich schnürte ein unerklärliches Angstgefühl die Kehle zu. »Wie
+hieß die Frau?« fragte er mit halberstickter Stimme.
+
+»Ja, wie war doch der Name? Laßt sehen. Venne, Venne Richard oder so
+ähnlich.«
+
+»Venne, Venne? Doch nicht Richerdes?« fragte er heiser. »Doch, das
+ist der Name.« »Ihr lügt«, schrie der Gepeinigte, daß der Fremde
+erschrocken zusammenfuhr. »Ihr lügt«, wiederholte er noch einmal.
+
+»Nun, ich kann mich ja irren, aber ich meine, so hätte der Name
+geklungen; doch nichts für ungut. Was erregt Euch denn so bei dem
+Namen?«
+
+Was ihn erregte! Er hätte dem Mann ins Gesicht schreien können: »Meine
+Braut ist es!« aber er schwieg mit zusammengebissenen Zähnen. Nur kurze
+Zeit ritt er noch mit dem Weggenossen, dann entschuldigte er sich:
+»Nehmt es nicht übel, aber mich zwingt die Unruhe vorwärts.« Damit gab
+er seinem Pferde die Sporen.
+
+In Goslar ritt er durch das Breite Tor ein. Qualvolle Ungewißheit
+erfüllte sein Herz. Es schien ihm, als blickten ihn alle Leute mit
+neugierigen, mitleidigen Augen an. Bekannte begegneten ihm nicht. Ehe
+er noch das väterliche Haus aufsuchte, ging er zur Bergstraße, um
+von der schrecklichen Pein erlöst zu werden. Das Haus der Richerdes
+war verschlossen, niemand rührte sich drinnen. Es öffnete sich ein
+Nachbarfenster: »Aber was wollt Ihr denn da? Wißt Ihr nicht, daß die
+Hexe ...?« Da jagte er davon wie von Furien gehetzt.
+
+Im Vaterhause alles still. Die Magd blickte ihn an, als ob sie ein
+Gespenst sehe. »Herr Heinrich«, schrie sie dann laut auf. Auf den Ruf
+trat die Mutter aus dem Zimmer. Aber ... war denn das seine Mutter?
+Eine rüstige, stattliche Frau, so hatte sie ihm den Abschiedskuß auf
+die Stirn gedrückt, und jetzt eine gebeugte, zitternde Greisin?
+
+»Mutter,« schrie er, »Mutter, ist es wahr, was man mir erzählt? Venne
+...?«
+
+Sie lehnte sich gegen den Türpfosten, als drohten ihr die Kräfte zu
+versagen. »Ja, mein Sohn, mein armer Junge, es ist wahr.«
+
+Da schrie er auf wie ein zu Tode getroffenes Wild. »Venne!« und noch
+einmal »Venne!«
+
+»Und wer hat sie mir geraubt« rief er heiser vor Wut. »Hat etwa der
+Vater daran Anteil?«
+
+Die Mutter schwieg. Das Schweigen war ihm Antwort genug.
+
+»So hat der Unhold in seiner Rachsucht alles zerstört, was mir teuer
+war. Alles, alles«, fuhr er mit versagender Stimme fort. »Aber wo ist
+er?« schrie er erneut auf. »Wo ist er, daß ich ihn zur Rechenschaft
+ziehe?«
+
+Die Mutter schluchzte still vor sich hin. »Wo ist er?« fragte der Sohn
+wiederum drohend.
+
+»Du wirst ihn nicht zur Rechenschaft ziehen, weil Du es nicht kannst,
+armer Junge«, sagte sie leise.
+
+»Weshalb nicht? Ist er tot? Ist alles tot und verhext hier bei Euch?«
+
+»Er ist nicht tot,« antwortete sie mit bitteren Tränen, »er ist
+schlimmer als tot, er ist wahnsinnig.«
+
+»Ha, ha, ha«, lachte Heinrich in grellem Hohn. »So ist's recht, die
+Braut getötet, der Täter ein Narr!«
+
+»Du sprichst vom Vater!« mahnte die Mutter verzweifelt.
+
+»Ich fluche ihm,« schrie der Sohn, »ich fluche allen, die an der
+grausigen Tat mitschuldig. Ich erwürge sie alle«, schäumte er.
+
+»Fasse Dich, mein Sohn,« mahnte sie, »lästere nicht wider Gottes Gebot,
+das Dich heißt, den Eltern Ehrfurcht zollen.«
+
+Wieder lachte er schrill auf. »Ehrfurcht zollen diesem blöden
+Mordbuben! Nein, nein, ich ziehe ihn dennoch zur Rechenschaft; er soll
+mir büßen.« Er trat einen Schritt auf das Zimmer zu, in dem er den
+Vater mutmaßte. Da stellte sich ihm die schwergeprüfte Mutter entgegen.
+»Willst Du nicht Gottes Gebot achten gegen Deinen Vater, so achte mich
+oder schreite über mich weg, wenn Du es vermagst.«
+
+Da brach der Zorn des Sohnes zusammen. Er sank auf einen Sitz und
+schluchzte in haltloser, wilder Verzweiflung. Leise legte sich die
+Hand der Mutter auf seinen Scheitel: »Gott hat Dir und mir die Prüfung
+geschickt, laß sie uns gemeinsam tragen, daß nicht der einzelne ihr
+erliegt.«
+
+ * * * * *
+
+So nahm Heinrich Achtermann sein Joch auf sich. Oft meinte er, darunter
+zusammenzubrechen. Wenn er den Vater sah, quoll die wilde Verzweiflung
+aufs neue in ihm empor. Er ballte die Fäuste in der Tasche, um sich
+nicht an dem wehrlosen Narren zu vergreifen.
+
+Der stolze Ratsherr Achtermann war zum Kinde geworden, zum blöden
+Kinde, das vor sich hinlallte und greinte und lachte, wie die Eindrücke
+von außen, der Hunger, die Kälte, Tag und Nacht ihn trafen. Geduldig
+pflegte die Mutter das große Kind. Mit einem Gefühl der Bewunderung
+blickte der Sohn auf diese Frau, die in stiller, selbstloser Liebe dem
+Gatten die Treue hielt, auch jetzt, wo er für die Welt zum gemiedenen,
+verachteten Geschöpf geworden war: Das war die Liebe, die echte, große
+Liebe, die, von Gott in der Menschen Herz gesenkt, nicht erlosch und
+sich am Erbarmen mit dem Geschlagenen stärkte und immer reiner und
+verklärter ihre Äußerung fand.
+
+Mählich, ganz mählich zog auch Mitleid in sein Herz. Der Vater selbst
+hatte alles vergessen, was zwischen einst und dem schrecklichen Tage
+lag, da durch seine Schuld die edle Venne dahinsank.
+
+In ihm lebte sie, so oft seine Gedanken sich zu ihr zurückfanden, als
+die schöne, liebliche und geliebte Schwieger. Er fragte nach ihr,
+er greinte, daß sie nicht komme, und dann führte ihn sein schwacher
+Geist wieder in das Kinderland zurück, das dem Greise noch einmal sich
+aufgetan hatte.
+
+Heinrich gewann es allmählich über sich, den Mann zu ertragen, der
+ihm so Schweres zugefügt hatte; nur wenn der Schwachsinnige in seiner
+kindischen Sehnsucht ihren Namen nannte, wenn er sie als Tochter grüßte
+und rief, brannte das Weh in alter Schärfe.
+
+Noch einmal wurde der Ratsherr Achtermann Herr seines Verstandes. Das
+war in der Stunde, da der Tod schon zu seinen Häupten stand. Da büßte
+er alles, was er gesündigt hatte. »Vergib mir, mein Sohn, was ich Dir
+tat. Vergib mir, Venne, geliebte Tochter, in Deiner lichten Höhe. Ich
+komme und will den Saum Deines Gewandes küssen. Herr, Herr, behalte mir
+die Sünde nicht vor.«
+
+Erschüttert stand der Sohn daneben. Sein Groll schmolz dahin. Er legte
+die Hände des Sterbenden zusammen und betete mit ihm: »Herr, vergib uns
+unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.«
+
+Es starb der Vater, es starb ihm die Mutter. Nun lebte er ganz
+allein. Es war ein stiller, einsamer Mann, der zu der Stelle an der
+Kirchhofsmauer wallfahrtete, wo sie Venne Richerdes gebettet hatten.
+Lieblicher als Menschenhand schmückte Mutter Natur die Ruhestätte, die
+von den Menschen gemieden wurde.
+
+Man lockte ihn mit hübschen, schönen Jungfrauen, die bereit waren, an
+der Seite des Einsamen durch das Leben zu pilgern; er achtete ihrer
+nicht. Früh bleichte sein Haar. Man schalt ihn einen Menschenfeind und
+Sonderling; er hörte es nicht. Nur dem kleinen Kreise derer, die Venne
+Richerdes bis zum Tode die Treue gewahrt hatten, blieb er ein Freund.
+Im Hause der Hardts fand auch sein Mund wieder Worte. Man gedachte der
+ihm Entrissenen.
+
+Mit wehmütiger Freude traf der Blick Heinrichs das junge, blühende
+Geschlecht, das dort in der Unschuld seiner Kindheit heranreifte. Seine
+Hand glitt wie segnend über den Scheitel des Töchterchens, das sich
+vertrauensvoll an ihn schmiegte. Seine Gedanken suchten das Dunkel zu
+durchdringen, das ihre Zukunft verhüllte: Was wird ihrer harren hier
+auf Erden?
+
+Und er fand die Antwort, wie sie lauten mußte: Liebe und Kampf und
+Kampf und Liebe in der ewigen Wiederholung des Menschenschicksals!
+
+
+
+
+Anmerkungen zur Transkription:
+
+Die erste Zeile entspricht dem Original, die zweite Zeile enthält die
+Korrektur.
+
+S. 132
+
+Sie alle feierten
+Sie alle froren
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75443 ***
diff --git a/75443-h/75443-h.htm b/75443-h/75443-h.htm
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+ Venne Richerdes. | Project Gutenberg
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+<body>
+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75443 ***</div>
+
+<div class="transnote">
+<p class="s3 center">Anmerkungen zur Transkription</p>
+<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt; Schreibweise und
+Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich
+offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.
+Eine Liste der vorgenommenen Änderungen findet sich
+ <a href="#Anmerkungen_zur_Transkription">am Ende des Textes</a>.</p>
+</div>
+
+<figure class="figcenter illowp46" id="cover">
+ <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt="">
+</figure>
+
+<h1 class="mtop2">Venne Richerdes</h1>
+
+<p class="mtop2 s3 center">Roman aus der Geschichte Goslars</p><br>
+<p class="s5 center">von</p><br>
+<p class="mbot2 s2 center"><b>Hermann Kassebaum</b></p><br>
+
+<figure class="figcenter illowe9" id="signet">
+ <img class="w100" src="images/signet.jpg" alt="signet"></figure>
+
+<p class="mtop4 s4 center">Berlin 1925</p>
+<p class="s5 center">Verlag von Martin Warneck</p><br>
+
+<p class="mtop2 s4 center">Alle Rechte vorbehalten<br>
+<span class="antiqua">Copyright 1925 by Martin Warneck, Berlin</span></p><br>
+<p class="mtop2 s5 center mtop3">Herrosé &amp; Ziemsen GmbH., Wittenberg (Bez. Halle).</p><br>
+
+<div class="chapter">
+<p class="mtop2 mbot2 s2 center"><b>Meiner lieben Heimatstadt<br>
+Goslar</b></p><br>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+<hr class="r35">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span></p>
+<h2 class="nobreak" id="Erstes_Buch">Erstes Buch</h2>
+<hr class="r35"><br>
+</div>
+
+<p class="drop">Die welschen Studenten nannten die beiden blonden Jünglinge insgemein
+›<span class="antiqua">li gemini</span>‹, die Zwillinge. Halb war es Spott, halb Neid, der
+aus diesem Beinamen erklang. Besser noch trafen es die Bologneser
+Schönen, die den dritten, den braunlockigen Gottfried Kristaller, aus
+dem Bistum Straßburg gebürtig, in ihren Scherz mit einschlossen und die
+drei die ›Unzertrennlichen‹, ›<span class="antiqua">li inseparabili</span>‹, tauften. Hinter
+dem vorgehaltenen Fächer, hinter dem wohlverwahrten Fenster klang
+es immer wieder: ›<span class="antiqua">Li inseparabili</span>‹, wenn die drei Deutschen
+auftauchten oder vorübergingen.</p>
+
+<p>Seit geraumer Zeit schon weilten sie auf Bolognas Hoher Schule, um dem
+Studium der Rechte obzuliegen, das hier nach wie vor seine vornehmste
+Pflegestätte hatte. Der Älteste von ihnen, Johannes Hardt, war der
+Semester vier hier, sein Vetter Heinrich Achtermann, gleich ihm in
+der alten Kaiserstadt Goslar am Fuße des Harzes daheim, kam vor mehr
+als Jahresfrist über die Alpen gezogen, und der dritte, Gottfried
+Kristaller, hielt die Mitte zwischen ihnen, was die Zeit des Studiums
+an der welschen Universität betraf.</p>
+
+<p>Jetzt waren sie alle drei bereit, Bologna zu verlassen. Johannes
+hatte sein Ziel erreicht, denn er war unlängst zum Doktor der Rechte
+promoviert worden. Heinrich wollte mit ihm ziehen, weil es so geplant
+war und weil ihm der Zweck seines Aufenthaltes im Auslande erreicht zu
+sein schien, nämlich sich in der Welt umzusehen und sich dabei ein wenn
+auch bescheidenes Maß von juristischen Kenntnissen anzueignen, das<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> ihm
+für die Ratsherrnstelle in Goslar, die ihm nach Geburt und Herkommen
+sicher war, nicht schaden würde und ihm auch für seine demnächstige
+Beschäftigung in dem umfangreichen Handelsgeschäfte seines Vaters, des
+Rats- und Kaufherrn Heinrich Achtermann, nur förderlich sein konnte.
+Und Gottfried endlich schied, weil er es ohne die Gesellen in Bologna
+fürder nicht glaubte aushalten zu können.</p>
+
+<p>Die Abreise war beschlossen, der Tag dazu festgesetzt, der die
+Unzertrennlichen scheiden würde. Die beiden Goslarer wollten den
+kürzesten Weg in die Heimat einschlagen, den über den Brenner, während
+Gottfried Kristaller die Reise über Mailand und den Gotthardt wählte,
+um so gleichfalls möglichst schnell nach Straßburg zu gelangen.</p>
+
+<p>Das bessere Teil fiel dabei Heinrich und Johannes zu, denn ihnen
+erblühte mit dem in Aussicht genommenen Wege das Glück, in anmutiger
+Gesellschaft bis in die Heimat zusammenreisen zu können. Es waren die
+Damen von Walldorf, des Feldobristen von Walldorf zu Braunschweig
+Ehegemahl und seine liebreizende und lebensfrische Tochter Richenza.</p>
+
+<p>Man lernte die Damen in dem gastlichen Hause des Professors von
+Wendelin kennen, der am <span class="antiqua">Collegium germanicum</span> der welschen
+Universität die Rechte lehrte. Bologna genoß, wie schon angedeutet,
+dermalen noch den Ruf, die berühmteste Rechtsschule der Welt in seinen
+Mauern zu beherbergen, und die meisten Nationen, so auch das Deutsche
+Reich, unterhielten dort Akademien, die der Universität angeschlossen
+waren.</p>
+
+<p>Professor Hieronymus von Wendelin weilte seit fast 30 Jahren als
+berühmter Lehrer in Bologna, und zu seinen Füßen hatte Johannes seit
+mehr als zwei Jahren gesessen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span></p>
+
+<p>Auch die Freunde verdankten, was sie an geistiger Nahrung dort
+genossen, in vornehmster Weise Wendelin. Viel war das freilich bei
+Gottfried Kristaller nicht, und noch weniger hatte sich Heinrich
+Achtermann mit der trockenen Rechtswissenschaft den Magen verdorben.
+Er war Studierens halber in Italien, in Bologna seinetwegen, aber
+das Studium beschränkte sich nach seiner Ansicht nicht darauf, den
+spröden Stoff des römischen und kirchlichen Rechts zu zergliedern,
+wie es Wendelin und andere gelehrte Herren versuchten, sondern für
+ihn schloß es auch das Studieren von Land und Leuten in sich, und
+unter diesen wieder nahmen die Frauen sein Hauptaugenmerk in Anspruch,
+die <em class="gesperrt">schönen</em>, wie sich versteht. Und so beharrlich schaute er
+den liebreizenden Bologneserinnen in die glänzenden Augen, bis die
+Besitzerinnen, was freilich nicht oft geschah, verwirrt die dunklen
+Wimpern über die leuchtenden Sterne herabsenkten oder er erforscht
+zu haben glaubte, was auf ihrem tiefsten Grunde an Geheimnissen und
+Seelenregungen geschrieben stand.</p>
+
+<p>Gottfried Kristaller, der leichtlebige, bewegliche Alemanne, suchte
+es ihm darin gleichzutun. Was er an Wissen mit sich nahm, drückte ihn
+gewiß nicht nieder; aber er hoffte, die Lücken in seinen Kenntnissen
+daheim, in der gleichförmigen Ruhe des Vaterhauses bald ausfüllen zu
+können. So ergab es sich, daß er und Heinrich Achtermann in Wahrheit
+die Unzertrennlichen waren. Gemeinsam durchtollten sie die Nächte,
+gemeinsam verübten sie ihre losen Streiche, von denen dieser oder
+jener sie in nicht unbedenkliche Händel zu verwickeln drohte. Aber ihr
+unverwüstlicher Frohsinn half ihnen über alle Schwierigkeiten hinweg,
+und vor dem Freimut, mit dem sie ihre Sünden bekannten, glättete sich
+auch die düsterste Stirn.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span></p>
+
+<p>Nur selten eilten Heinrichs Gedanken in die ferne Heimat. Und was vor
+ihm alsdann auftauchte an altmodischer Tracht und Sitte im Vaterhause,
+vermochte ihn nicht lange zu fesseln. Er kehrte immer wieder schnell
+in die Wirklichkeit zurück, die ihn lachend und schmeichelnd umgab.
+Daheim lebte ihm der würdige Vater, immer und allerorts bestrebt,
+seiner Stellung als Ratsherr und Patrizier nichts zu vergeben, ihn,
+den Sohn und Erben, schon jetzt immer ermahnend, auf seinen künftigen
+Rang Rücksicht zu nehmen. Dort waltete die Mutter, die in ähnlicher
+Fürsorge an ihm arbeitete. Dort war alles auf die Form, auf den Anstand
+zugeschnitten, hier aber umgab ihn das lachende, sorglose Leben der
+Italiener, die in heiterer Ungebundenheit jeder Regung des Herzens
+unverhüllt und ungeschmält Ausdruck verleihen durften. Wäre es nach ihm
+allein gegangen, er hätte das sonnige Land noch länger zu seiner Heimat
+erwählt.</p>
+
+<p>Auch eine Schwester war ihm beschieden, nur wenig jünger als er und im
+Wesen ihm nicht unähnlich. Aber die beiderseitige Lebhaftigkeit trug
+nur dazu bei, daß sie sich nach Geschwisterart ständig in den Haaren
+lagen, ohne daß eigentlich ernstliche Zerwürfnisse zwischen ihnen
+vorkamen. Doch Heinrichs Bedürfnis, zu necken und zu hänseln, erregte
+immer wieder den hellen Zorn des Schwesterleins, namentlich, wenn er es
+sich einfallen ließ, in ihr Zimmer zu kommen, während Freundinnen zu
+Besuch da waren. Drang er alsdann unbefugterweise ein, so konnte man
+darauf wetten, daß sein Abzug zuletzt ein unfreiwilliger war, der unter
+Schelten der Mädchen vor sich ging. Ihn aber focht das nicht weiter an,
+und noch heute gedachte er mit Schmunzeln der mancherlei Szenen, die es
+dabei gegeben hatte. Am lebhaftesten stand ihm die letzte<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> vor Augen,
+die sich kurz vor seiner Abreise abspielte. Und auch die Gestalt der
+Freundin, um die es sich dabei handelte, war ihm in aller Lebendigkeit
+gewärtig.</p>
+
+<p>Ein eigenartiges Mädchen, diese Venne Richerdes, wie sie ihm in der
+Erinnerung vorschwebte, lang aufgeschossen und noch ohne jede Rundung
+in den Formen. Weshalb gerade diese ihm besonders vor Augen stand,
+hätte er selbst nicht zu sagen vermocht. Vielleicht entwickelte sich
+das junge Ding noch einmal zu einer annehmbaren Mädchengestalt. Vorab
+aber fiel sie nur auf durch ihr sprödes, zurückhaltendes Wesen, das
+nicht selten sich in schroffen Meinungsäußerungen gefiel, besonders
+wenn sie mit seinesgleichen zusammengeriet.</p>
+
+<p>Doch, eins hob sie aus dem Rahmen der übrigen hervor, das war die
+unnachahmliche Haltung des Kopfes mit dem wundervollen Rund der Zöpfe,
+die sich wie eine Krone um das Haupt legten, und dann das Spiel der
+Augen. Diese Augen, in deren unergründlicher Tiefe jetzt verhaltene
+Wehmut schlummerte, jetzt schalkhafte Teufelchen ihr Wesen zu treiben
+schienen und die in Augenblicken der Erregung flimmernde Blitze zu
+sprühen begannen. Ihm selbst war aus ihnen auch oft der Zornteufel
+entgegengefahren, wenn er sich nach seiner Art mit irgendeiner ihrer
+kleinen Eigenheiten beschäftigte. Selbst der Abschied von ihr verlief
+als ein solches Gewitter. Ja, zum Abschiednehmen kam es eigentlich
+gar nicht; denn als er sie am Tage vor seiner Abreise zufällig bei
+der Schwester traf, trat die zornige Spannung in ihrem Gesicht von
+Minute zu Minute deutlicher hervor. Die Schwester suchte ihn, wie so
+oft schon, auf schickliche Weise, hinauszubugsieren; aber in seiner
+behaglichen Dickfelligkeit pflanzte er sich nun erst recht breit in
+einen Sessel. Als das<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> Gespräch zwischen den beiden Mädchen einen
+Augenblick stockte, suchte er es durch eine seiner gewöhnlichen
+Neckereien wieder in Fluß zu bringen. Noch schwieg die kampfbereite
+Venne, doch in ihren Augen wetterleuchtete es unheilverkündend, wie er
+mit innerer Freude feststellte. Nun bedurfte es nur noch geringer Mühe:
+hierhin einen kleinen Stich und dort einen Hieb, da war die Entladung
+da. Noch ein Wort, und Venne sprang auf und eilte zur Tür, ohne ihn
+eines Wortes zu würdigen; nur ein funkelnder Blick traf ihn dort noch,
+vor dem er sich, wäre er weniger dickfellig gewesen, hätte verkriechen
+sollen.</p>
+
+<p>Der Erfolg verblüffte selbst ihn: Teufel auch, war das eine hitzige
+Kröte! Und nun setzte noch das Schmälen und Schelten der Schwester ein,
+daß er alle ihre Freundinnen weggraule. Es endigte zuletzt damit, daß
+sie ihn wutentbrannt aus dem Zimmer jagte. Er ging in dem nicht sehr
+behaglichen Gefühl, daß er vielleicht doch etwas zu weit gegangen sei,
+und es tat ihm halbwegs leid, daß sein Abschied von diesem Mädchen, das
+ihn durch ihre Eigenart immer wieder anzog, sich in so unfreundlicher
+Weise vollzogen hatte und daß sie seiner vielleicht mit Groll gedenke;
+denn Heinrich Achtermann war ein durchaus gutmütiger Gesell, dem es
+nicht entfernt beikam, einem Menschen absichtlich Unrecht zuzufügen.</p>
+
+<p>Heute freilich lächelte er in der Erinnerung an jene dramatische Szene:
+Wetter noch einmal, hatte das Ding Temperament! — Wie mochte sie sich
+übrigens wohl inzwischen entwickelt haben? Ob sie seiner noch immer in
+unauslöschlichem Groll gedachte! — Da kehrten seine Gedanken in die
+Umwelt zurück und fanden sogleich das Ziel seiner Sehnsucht und Wünsche
+von heute, Richenza von Walldorf.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span></p>
+
+<p>Ja, die wenigen Wochen ihres Aufenthaltes im Hause der Wendelins und
+der rege Verkehr mit den Damen hatte genügt, um sein Herz lichterloh
+für die schöne Tochter des Obristen brennen zu lassen. Vergessen waren
+die liebreizenden Bologneserinnen, verdrängt von der lebensfrischen,
+sprudelnden Nichte des Professors.</p>
+
+<p>Sie war zur Zeit unbeschränkte Alleinherrscherin in seinem Herzen. Auch
+die Freunde merkten seinen Gemütszustand und ließen es an harmlosen
+Neckereien nicht fehlen. Daß die kluge Richenza allein die Verheerung
+nicht erkannt hätte, die sie angerichtet, war kaum zu glauben. Sie
+ließ sich die Huldigungen des stattlichen Jünglings gern gefallen.
+Freilich besorgte sie nicht, daß er dauernd seinen Seelenfrieden an
+sie verlieren werde; denn die gelegentlichen Äußerungen der Freunde
+verrieten ihr, daß sie nicht die erste Rose sei, die er zu pflücken
+begehre. Über ihre eigenen Gefühle war sie sich nicht ganz im klaren,
+aber sie traute sich die Zurückhaltung zu, die gegebenenfalls, auch
+während der engeren Berührung, wie sie die gemeinsame Heimreise
+notwendig bringen mußte, eine Schranke festhalten würde, um ein allzu
+ungestümes Werben zu verhindern. Jetzt sahen sie sich täglich, ja
+die letzten Tage, seit die Studenten ihrer Verpflichtungen gegen
+die Universität überhoben waren, mehrmals am Tage, nachmittags bei
+gemeinsamen Spaziergängen, abends im Hause der Wendelins.</p>
+
+<p>Ein besonderer Anlaß hatte die Walldorfschen Damen nach Italien
+geführt. Daheim lag das Brüderlein an langem Siechtum darnieder.
+Keine ärztliche Kunst konnte ihm Heilung bringen. Da riet der ihnen
+befreundete Prior eines Klosters der frommen Mutter, sie solle eine
+Wallfahrt nach Rom unternehmen, um den Segen des Papstes und die
+mächtige<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> Fürbitte der Heiligen zu gewinnen. Der Vater, der rauhe
+Kriegsmann, murrte und sprach von pfäffischem Firlefanz, aber die
+Mutter ließ sich nicht beirren und brach mit der Tochter auf.</p>
+
+<p>Rom lag hinter ihnen, und ihre Herzen waren voll froher Hoffnung; denn
+nicht nur hatten sie sich die Fürsprache im Himmel gesichert, sondern
+sie brachten auch die Vorschriften eines berühmten Arztes mit, von
+dessen Heilkunst sie in Rom erfuhren. Nach genauer Erkundigung über die
+Art des Leidens gab er ihnen seinen ärztlichen Rat mit auf den Weg.</p>
+
+<p>Angesichts der Beschwerden der Reise war es für die Damen eine große
+Erleichterung, daß sie in den Wendelins Verwandte fanden, die ihnen
+auf der Hin-, wie auf der Rückreise gern Gastfreundschaft erwiesen.
+Dieser Aufenthalt bei dem berühmten Rechtsgelehrten, den sie, besonders
+Richenza, bisher kaum mehr als dem Namen nach gekannt hatten, bot ihnen
+nicht nur willkommene Rast, sondern zwischen der Tochter des Hauses,
+der lieblichen Gisela, und Richenza war eine aufrichtige Freundschaft
+und eine fast schwesterliche Liebe aufgeblüht.</p>
+
+<p>Lag, als sie nach Rom wollten, noch die Sorge um den Sohn und
+Bruder wie ein Druck auf ihnen, so gab sich Richenza jetzt mit der
+ungebundenen Fröhlichkeit, die ein Grundzug ihres Wesens war. In den
+jungen Deutschen, die im Hause Wendelin ein und aus gingen, fand sie
+das willkommene Gegenstück zu ihrem eigenen Frohsinn, und Heinrich
+Achtermann wie Gottfried Kristaller waren immer bereit, auf ihre
+tausend Neckereien und Scherze einzugehen, während Johannes mehr zu der
+stilleren Gisela stand.</p>
+
+<p>Die Aussicht, mit den beiden Goslarern die Heimreise antreten zu
+können, erfüllte Richenza mit heller Freude; denn<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> auf die Dauer war
+von der frommen Mutter und dem bewährten Diener, den sie mitgebracht
+hatten, nicht allzuviel Kurzweil zu erwarten. Man beredete alle
+Einzelheiten der Fahrt, und der Tag der Abreise stand fest, da wurden
+ihre Pläne noch im letzten Augenblick über den Haufen geworfen.</p>
+
+<p>Heinrich und Johannes wohnten in einem Hause der Karmelitergasse.
+Die Verbindung mit der Heimat war während ihres Aufenthaltes in der
+Fremde nicht allzu eng gewesen, ein Schreiben hin und her im Jahre oder
+deren zwei, das erschien beiden Teilen ausreichend, um sich von dem
+gegenseitigen Wohlergehen unterrichtet zu halten. Um so größer daher
+das Staunen, als Heinrich Achtermann kurz vor der Abreise noch einen
+Brief des Vaters ausgehändigt erhielt, der den letzten Teil seines
+Weges, von Trient ab, sogar mit besonderem Boten befördert worden
+war, da der Wagenzug der Kaufleute, die bis dahin den freundwilligen
+Beförderer abgegeben hatten, linksab, ins Val Sugano, einbog, um nach
+Venedig zu gelangen. Heinrich erbrach das Siegel voller Erregung, denn
+er ahnte, daß in dem Briefe Ungewöhnliches stehen werde. Kaum hatte er
+ihn durchflogen, da eilte er auch schon zu Johannes und pochte ungestüm
+an das noch verschlossene Zimmer.</p>
+
+<p>»Auf, Langschläfer, mach' auf!« Und als der drinnen etwas von
+»Ruhestörer« murrte, rief er noch dringlicher: »Eile Dich, wichtige
+Nachricht von daheim!«</p>
+
+<p>Da öffnete Johannes, der erst notdürftig bekleidet war, die Tür, und
+schon sprudelte ihm Heinrich die Neuigkeit entgegen.</p>
+
+<p>»So lies doch, Mensch, lies doch«, drängte er, fuchtelte dabei aber
+mit dem Schreiben umher. Ruhig nahm es ihm Johannes aus der Hand und
+schickte sich an zu lesen, doch<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> schon unterbrach ihn der Freund
+wieder: »Denk' doch, unser ganzer Reiseplan ist über den Haufen
+geworfen; nach Mailand sollen wir, über den Gotthardt, mit dem Ernesti
+ziehen!«</p>
+
+<p>Etwas unwillig wehrte ihn Johannes ab: »Soll ich nun lesen, oder willst
+Du erzählen?«</p>
+
+<p>Da ließ jener von ihm ab, konnte sich aber nicht enthalten, über dem
+Lesen immer wieder einen kleinen Fluch oder ein erregtes »Was sagst
+Du dazu?« einzuschalten. Johannes ließ sich indes nicht beirren,
+sondern las den Brief mit aller Gründlichkeit, und als er am Ende
+war, begann er noch einmal. Aber wiederum vermochte er nichts anderes
+herauszudeuten, als was er schon zum ersten Male gelesen.</p>
+
+<p>Also schrieb aber der Vater und Ratsherr Heinrich Achtermann zu Goslar
+an seinen Sohn Heinrich:</p>
+
+<p>»... demnach wir darauff gefaßt seyn undt erwarten, daß Deine
+Rückkehr, viellieber Sohn, sich noch umb mehreres verzögern werde,
+wasmaßen wir wünschen müssen, daß Du, ohngeachtet der größeren
+Strapazen undt Fatiguen, von Bologna den Weg uber Mediolanum, welches
+man jetzo heyßet Maylant, undt weyter uber den Sankt Gotthardtsperg
+wählen mögest, weyl Du in obgemeldeter Statt zum Anfang octobris den
+wohledlen undt wohlachtbaren Herrn Henricus Ernesti würst treffen, als
+welcher, nähmlich Herr Henricus Ernesti, dem hohen Rahte der Statt
+Goslar günstige Bottschaft von der römischen Curia, auch des Papstes
+Heyligkeyt zu erlangen beauftraget undt gewillt ist.</p>
+
+<p>Obzwar nun vorbemeldeter Herr Henricus Ernesti unß solche Bottschaft
+<span class="antiqua">in persona</span> zu uberbringen bereyt, auch gehalten ist, er unß
+aber bittet, ihn vors erste davon zu befreyen, sintemalen er noch in
+denen hollandtschen Stätten zu weylen obligieret sey, haben wir unß
+dahin resolvieret, daß<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> Du, viellieber Sohn, die obgemeldete Bottschaft
+uns, <span class="antiqua">sigillo</span> wohl verwahret, unversehret uberbringen mögest,
+undt seyn wir gewärtig, daß Du Dich der hohen Ehre, so Dir damit
+widerfähret, würst wohl gewachsen zeygen. Tun Dir auch zu wissen, daß
+es des Herrn Doctor Rudolpfus Hardt, als des Vaters Deynes Freundes
+undt Gesellen Johannes Hardt, Wille undt Befehl ist, selbiger möge Dir
+das Geleyt geben auf der Reyse gen Maylant zum Herrn Henricus Ernesti.
+Auch verhoffen wir, daß Ihr alle Fährlichkeyten der Fahrt möget wohl
+bestehen undt bey unß in Gesundtheyt werdet eyntreffen ...« Also
+schrieb der Ratsherr Achtermann an seinen Sohn Heinrich unter dem 25.
+Juni des Jahres 1515.</p>
+
+<p>Johannes rieb sich die Stirn: Das warf ihre Reisepläne allerdings
+gründlich über den Haufen! Ihm selbst machte es ja schließlich nicht
+viel aus, ob er einige Monate früher oder später in Goslar eintraf, und
+da ihm Gelegenheit geboten wurde, das mächtige Handelszentrum Mailand
+zu sehen, wie die Schweiz und den Rhein, so sagte ihm die Änderung
+von Minute zu Minute mehr zu. Aber er verstand den Groll Heinrichs
+ebensosehr, kam dieser doch um die Möglichkeit, mit seiner neuen
+Herzenskönigin, der schönen Richenza, noch länger zusammenzusein.</p>
+
+<p>Natürlich mußte auch Gottfried Kristaller sogleich von der veränderten
+Lage unterrichtet werden! Sie fanden ihn beim Frühstück. Er gewann der
+Sache sofort die beste Seite ab. »Aber das ist ja herrlich, prächtig,
+ihr Leute«, rief er begeistert. »Da reisen wir ja zusammen, und ich
+kann Euch unser altes, liebes Straßburg zeigen.«</p>
+
+<p>»Du hast gut reden«, murrte Heinrich. »Dir mag es<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> gelegen kommen, aber
+mir verdirbt es die ganze Rechnung.«</p>
+
+<p>»Ach ja, ich verstehe,« schaltete Gottfried gutmütig lachend ein, »Du
+meinst, nun geht Dir das trauliche Zusammensein mit Richenza Walldorf
+verloren. Herzliches Beileid! Aber ich schaffe Dir Ersatz in unsern
+schönen Straßburgerinnen.«</p>
+
+<p>»Geh mir mit Deinen Dummheiten. Was gehen mich Deine Straßburger
+Gänschen an!« grollte er. »Oho,« zürnte da Gottfried, dem der Schelm im
+Nacken saß, »das laß nur mein Schwesterlein hören! Gerade ihr wollte
+ich Dich präsentieren, von den noch schöneren Bäschen und Freundinnen
+ganz zu schweigen. Doch wenn Du nicht willst, so habe ich noch ein
+anderes Lockmittel: Unsern Wein wirst Du nicht verschmähen, und der
+wird Deine Lebensgeister schon wieder heben. Erst wird gehörig Rast
+im alten Straßburg gehalten, und dann mögt Ihr zu Euren Hyperboräern
+heimziehen. Mich friert jetzt schon, denke ich nur an Eure Eiswüsten da
+oben im Norden!«</p>
+
+<p>Da mischte sich Johannes ins Wort. »Nun gebt einmal Ruhe, Ihr
+Streithähne, und laßt uns überlegen, was zunächst zu tun ist. Ich
+meine, vor allem müssen wir die Walldorfschen Damen von der Neuigkeit
+unterrichten.« Und das geschah denn auch.</p>
+
+<p>Man war natürlich im Hause Wendelin nicht weniger überrascht, und
+besonders Richenza tat unzufrieden, daß die schönen Pläne ins Wasser
+fielen. Aber es zeigte sich doch, daß die Wunde, die ihrem Herzen
+geschlagen war, nicht allzu tief ging. Während die Mutter noch klagte,
+daß sie nun der angenehmen Begleitung und des Schutzes verlustig
+gingen, fand Richenza schon wieder ein munteres Wort. »Ei, so müssen
+wir uns also des Wiedersehens daheim getrösten,<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> in Goslar oder in
+Braunschweig. Und nun wollen wir nicht länger Kopfhänger sein«, schloß
+sie herzhaft. »Die Tage schwinden schnell dahin, die uns noch bleiben.
+›<span class="antiqua">Carpe diem</span>‹, heißt's nicht so, Ihr gelehrten Herren? Ich
+hörte es immer vom Oheim in Braunschweig, wenn ihm die Schaffnerin
+noch heimlich eine Flasche des guten Weines holen mußte, ohne daß es
+die Gattin sah. Also ans Werk, das heißt: Was wollen wir heute noch
+unternehmen?«</p>
+
+<p>Die Auswahl war nicht groß in Bologna. Die dumpfen, glutheißen Straßen
+der Stadt boten kaum des Abends Erholung, und die Elemente, welche sie
+alsdann belebten, waren, wie andererorts, kein Anreiz für Damen. Es
+blieben nur die Uferwaldungen am nahen Reno übrig, dessen schattige
+Gänge man also am Spätnachmittage aufsuchen wollte. Der Fluß selbst
+war, wie die meisten Wasserläufe, die der Apennin speist, jetzt zu
+einem dünnen Rinnsal zusammengeschrumpft.</p>
+
+<p>Der Schicklichkeit halber begleitete Donna Wendelin, die Mutter
+Giselas, die Ausflügler, obwohl diese lieber unter sich gewesen wären.
+Dem guten Gottfried fiel die Ehre zu, die Dame zu führen. Er machte
+zuerst ein etwas sauersüßes Gesicht, doch er fand sich bald mit Anstand
+in seine Würde, zumal er wußte, daß er den Freunden, mindestens
+Heinrich Achtermann, einen Gefallen erwies. Auch war Frau von Wendelin
+noch eine sehr hübsche Frau zu nennen, der man die erwachsene Tochter
+nicht ansah. Gottfried spielte seine Rolle als galanter Ritter so
+anmutig und war so unerschöpflich in seinen drolligen Einfällen, daß
+Frau von Wendelin aus dem Lachen nicht herauskam.</p>
+
+<p>Die beiden anderen Paare gingen bald langsamer, bald<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> schneller
+und beredeten, was ihnen am Herzen lag. Heinrichs Ungestüm drängte
+immer wieder zu einem entscheidenden Wort, aber Richenza hielt ihn
+mit ebensoviel Anmut wie Geschicklichkeit in Schranken. Als er dann
+doch von seiner Liebe zu reden begann, unterbrach sie ihn schelmisch
+lächelnd, wie wohl auch ihr bei seinen Worten ums Herz war.</p>
+
+<p>»Ich bitte Euch, sprecht nicht weiter. Wir wollen den Tag nicht durch
+so ernste Dinge belasten. Ihr seid mir gut, das will ich glauben,
+wenngleich ...« — Heinrich wollte beteuern, da fuhr sie heiter fort:
+»Um Gottes willen, nur nicht auch noch einen schweren Eid bei dieser
+schrecklichen Hitze; ich will's Euch glauben, auch unbeschworen. Doch
+im Ernst, wir wollen jetzt vernünftig sein. Laßt erst einmal die Reise
+zwischen unserer jungen Freundschaft liegen, dann mag's sich erweisen.
+Übrigens wird auch mein Herr Vater noch ein Wort mitreden wollen,
+ein gar gestrenger Herr!« — Die Schelmin wußte, daß sie den Vater
+bisher immer noch dahin brachte, wohin sie ihn haben wollte, und sie
+verschwieg auch, daß just in diesem Augenblick das hübsche Gesicht
+eines Vetters von daheim vor ihr auftauchte, der ihr seine Neigung mit
+noch heißeren Worten kundgetan hatte, ohne daß sie auch darüber gerade
+ungehalten gewesen wäre.</p>
+
+<p>Seufzend ergab sich Heinrich in sein Schicksal und machte ein so
+betrübtes Gesicht, daß die muntere Richenza hellauf lachte. »Um Gott,
+nicht diese Leichenbittermiene. Ich verschwöre es ja nicht, Euch
+später anzuhören, nur Geduld sollt Ihr haben. Vielleicht sehen wir uns
+demnächst in Braunschweig wieder, und vielleicht müßt ihr mich dort im
+edlen Wettbewerb mit andern zu erringen suchen, die auch mich<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> garstige
+Person ins Auge gefaßt haben. Ich freue mich schon jetzt auf die Rolle
+der minniglichen Richterin über euch.« Das war wieder ganz der Schelm
+Richenza, und nun fand sich auch Heinrich wieder.</p>
+
+<p>Währenddessen gingen Gisela und Johannes miteinander. Ihr Gespräch floß
+nicht so leicht dahin wie das der Übrigen. Namentlich Gisela wollte
+bisweilen, wie es schien, das Wort versagen.</p>
+
+<p>Sie waren in der langen Zeit, seit Johannes in Bologna weilte, in ein
+fast kameradschaftliches Verhältnis zueinander gekommen. Als der junge
+Student vor nunmehr mehr als zwei Jahren ankam, brachte er die Grüße
+und Empfehlungen seines Vaters mit, der, jetzt ein gesuchter Arzt
+in Goslar, einst mit dem Professor von Wendelin in Leipzig zusammen
+studiert und Freundschaft gehalten hatte. Diese alte Bekanntschaft
+öffnete Johannes sogleich das Haus der Wendelins, und er ging dort bald
+wie ein Sohn ein und aus.</p>
+
+<p>Die Studenten des <span class="antiqua">Collegium germanicum</span> hielten gleich denen der
+andern Nationen eng zusammen, und die Professoren, zumeist Deutsche,
+wie Herr von Wendelin, stützten diesen Zusammenschluß dadurch, daß sie
+die jungen Leute an sich zogen, blieb ihnen doch selbst die Verbindung
+mit der alten Heimat erhalten.</p>
+
+<p>Nicht alle die wilden Gesellen jener Zeit der Scholaren und Vaganten
+vermochten sich im Zaum zu halten. Aber die Gutgearteten unter ihnen
+und die aus gesitteten Familien waren doch froh, daß sich ihnen hier im
+fernen Welschland ein Haus auftat, in dem deutsche Laute erklangen und
+deutsche Art gepflegt wurde. Auch die rohen Elemente vergaßen selten
+eine Wohltat, die ihnen von den Professoren erwiesen wurde. Und Herr
+von Wendelin hatte sich in dieser<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> Hinsicht in mehr als einem Herzen
+ein Denkmal der Dankbarkeit gesetzt.</p>
+
+<p>Von all diesem sprach Johannes heute zu Gisela, und aus seinen Worten
+erklang eine aufrichtige, ehrliche Dankbarkeit, daß es ihr warm ums
+Herz wurde bei so viel Anerkennung ihres geliebten Vaters. Und dann kam
+Johannes auf sie selbst zu sprechen und ihre Freundschaft, und er gab
+ihr seinen heißen Dank zu erkennen, daß sie ihn dieser Freundschaft
+gewürdigt habe. Einem Impulse folgend, ergriff er ihre Hände und
+sprach, während er sich zu ihr neigte: »Habt Dank für alles, was Ihr
+mir erwiesen. Ich weiß nicht, wie ich die Trennung von Euch und Euren
+lieben Eltern werde ertragen können. In meinem Herzen bleibt Ihr für
+immer. Bewahrt auch mir ein freundliches Gedenken.«</p>
+
+<p>Gisela war unter den Worten ihres Begleiters errötet und erblaßt. Sie
+vermochte kein Wort zu sagen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Da
+kam ihrer Verwirrung Gottfried zu Hilfe, der sich gerade näherte. Sie
+suchte sich zu fassen und zwang sich sogar ein Lächeln ab, als jener
+eine launige Bemerkung fallen ließ. Dann schickte man sich zur Rückkehr
+an.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Dies war nun der letzte Abend, den die jungen Deutschen in Bologna
+verlebten. Er beschloß die schönen Tage, welche dem Abschiede
+vorhergingen, und fand sie, wie begreiflich, im Hause der Wendelins.</p>
+
+<p>Alle bemühten sich, den Scheidenden die Stunden so angenehm wie
+möglich zu machen. Aber sie konnten es doch nicht verhindern, daß
+ein Hauch leiser Wehmut über dem<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> kleinen Kreise lag, je weiter die
+Stunden vorrückten. Besonders Gisela zerdrückte mehr als einmal eine
+stille Träne, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Dann glitt wohl
+ein schneller, heimlicher Blick nach dem Platze, wo Johannes neben
+der Mutter saß: Ach, er wußte ja nicht, wie ihm ihr junges Herz
+entgegenschlug und wie schwer sie an dem Gedanken trug, ihn morgen
+vielleicht für immer zu verlieren.</p>
+
+<p>Die Mutter ahnte nicht, welche Verwirrung der junge Deutsche im Herzen
+ihres Töchterchens angerichtet hatte. Sie unterhielt sich mit ihm über
+die ferne Heimat ihres Gatten und sah sie durch den Mund des Freundes
+neu, in begeisterter Schilderung vor sich erstehen. Aber immer mehr
+senkten sich, von den Augenblicken angeregter Rede abgesehen, die
+Schatten wehmutsvoller Trauer herab. Noch einmal suchte die fröhliche
+Richenza die Stimmung zu retten mit einem Appell an die Jugend, wobei
+sie ihre Freundin Gisela besonders ins Auge faßte.</p>
+
+<p>»Euch ist wohl heute nachmittag der letzte Trost auf dem Reno
+davongeschwommen, als wir an seinen Ufern uns ergingen. Laßt Euch
+nicht an Seelenstärke von einem schwachen Mädchen, wie ich es bin,
+übertreffen. Droht uns doch, meinem lieben Mütterlein, wie mir, in
+gleicher Weise die Stunde des Abschieds von diesem gastlichsten aller
+Häuser im Lande Italia. Ich aber habe mein Herz gewappnet gegen alle
+Trübsal und helfe mir über die Wehmut des Augenblicks mit einem
+herzhaften ›Auf Wiedersehen‹ hinweg.«</p>
+
+<p>»Mach' es wie ich,« wandte sie sich nunmehr direkt an ihre Base, die
+liebliche Gisela, deren Gesicht sich bei den Worten der Freundin noch
+mehr mit Trauer überschattet hatte, »verhärte dein Herzlein, daß die
+Herren nicht meinen, sie hätten uns bezwungen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p>
+
+<p>Doch damit beschwor sie das Unheil erst recht herauf. Hatte sich
+Gisela bis jetzt noch tapfer gehalten, so rannen ihr nunmehr die
+Tränen unaufhörlich über die Wangen, und sie stürzte fluchtartig aus
+dem Zimmer, um ihr Herzeleid den übrigen zu verbergen. Bestürzt sahen
+diese ihr nach. Wohl hatten die Eltern bemerkt, daß eine Freundschaft
+zwischen ihrem Töchterlein und dem jungen Deutschen sich entwickelte;
+aber der unbefangene, fast kameradschaftliche Ton, in dem sie sich
+äußerte, ließ sie nicht ahnen, daß die Herzensruhe ihres Lieblings
+ernstlich gestört wurde. Nun schien dies dennoch der Fall.</p>
+
+<p>Die Mutter wie Richenza eilten der Entflohenen nach. Der Vater blieb
+allein zurück mit den jungen Freunden.</p>
+
+<p>Auch die Männer blickten betroffen drein. Der Vater erkannte, daß sich
+eben vor seinen Augen der Anfang eines Dramas abzuspielen begann,
+dessen Ausgang im dunkeln lag. Aber bei der Gefühlstiefe, die er an
+seinem Töchterchen als ein Erbteil seiner selbst zu jeder Zeit bezeugt
+gesehen hatte, mußte er besorgen, daß ihr schwere Stunden bevorstanden.</p>
+
+<p>Heinrich Achtermann und Gottfried Kristaller waren am meisten
+überrascht. Daß die Tränen nicht ihnen galten, wußten sie genau. Ihre
+eigenen Angelegenheiten hatten sie immer so sehr in Anspruch genommen,
+daß sie auf Johannes und Gisela nicht sonderlich achtgaben. Nun zeigte
+es sich, daß die arme Gisela, die ihnen um ihrer anspruchslosen
+Hilfsbereitschaft und Uneigennützigkeit willen ans Herz gewachsen
+war, ein Kummer bedrückte, der sie nach ihrer Eigenart besonders
+schwer treffen mußte. Sie schieden beide nur mit leichter Bürde auf
+dem Herzen, wenn auch Heinrich im Augenblick meinte, ohne Richenza
+nicht leben zu<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> können. Doch ihm stand ja die Aussicht offen, sie in
+Deutschland wiederzusehen, während für Gisela und Johannes morgen der
+Abschied für immer bevorstand. Das tat ihm von Herzen leid.</p>
+
+<p>Johannes durchzuckte ein Gefühl, halb des Schreckens, halb der Freude,
+als Gisela davoneilte. Hatte er bisher eine Art schwesterlichen
+Empfindens für sich bei ihr vorausgesetzt, so war er zuerst hieran
+irre geworden, als sie vor einigen Tagen am Reno ihre Gedanken über
+seine bevorstehende Abreise austauschten. Er sah ihre seltsame Erregung
+und Verwirrung und war geneigt, sie als eine Äußerung nicht nur rein
+freundschaftlicher Zuneigung zu deuten. Worüber er sich selbst nie
+zuvor klar geworden, was er für sich nie zu erhoffen gewagt hätte,
+das schien in ihrem Herzen Wurzel geschlagen zu haben. Damals schon
+durchzuckte ihn der Gedanke, sie könne ihn lieben, sie wolle ihm
+angehören, mit einem heißen Glücksgefühl. Jetzt fand er bestätigt, was
+er nicht auszudenken gewagt hatte.</p>
+
+<p>Dieses junge Menschenkind, über das eine gütige Fee alle Holdseligkeit
+der Jugend ausgebreitet zu haben schien und das in seiner Brust
+gleicherweise die edelsten Gefühle echter Weiblichkeit barg, war ihm
+mehr als die Genossin frohseliger Jugendstunden, sie brachte ihm das
+Geschenk einer ersten, keuschen, zarten Liebe dar. Aber zugleich
+bestürmte ihn auch der Schmerz, daß er morgen schon verlieren sollte,
+was er eben erst gewonnen hatte. Die Trauer griff ihm ans Herz, denn er
+mußte sich bezwingen, um ihren Frieden nicht noch mehr zu stören, wie
+er sich Zwang angetan hatte, seit er selbst erkannte, daß die Liebe zu
+dem holdseligen Geschöpf seine Brust durchzittere.</p>
+
+<p>Inzwischen waren die Mutter und Richenza um Gisela<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span> bemüht. Da sie
+argwöhnte, daß der junge Deutsche ihre Tochter durch seine Schuld um
+ihre Herzensruhe gebracht habe, wallte zuerst der Unmut gegen jenen in
+ihr auf. Aber beim ersten Wort, welches sie in dieser Hinsicht fallen
+ließ, warf sich Gisela sofort zum Verteidiger des heimlich Geliebten
+auf.</p>
+
+<p>»Er ist gewiß ganz unschuldig an der Sache, die Schuld habe ich dummes
+Mädchen allein. Weshalb wußte ich meine Gefühle nicht besser zu
+verbergen. Nun habe ich zu dem Schmerz auch noch den Spott, denn die
+Freunde werden sich gewiß über mich einfältiges Ding lustig machen.«</p>
+
+<p>»Das werden sie nicht tun,« fiel ihr Richenza ins Wort, »dazu sind sie
+viel zu ehrlich und anständig. Und Dein Johannes im besonderen, so darf
+ich ihn hier doch wohl nennen, denkt zuletzt daran; denn ich müßte eine
+schlechte Beobachterin sein, wenn nicht auch ihm der Abschied von Dir
+recht naheginge.«</p>
+
+<p>Gisela wehrte unter Tränen lächelnd ab, doch die Freundin ließ sich
+nicht beirren. »Ich weiß, was ich weiß. Übrigens kann ich ihn ja
+erforschen, wenn Du es wünschest.« Erschrocken wehrte Gisela ab,
+während tiefe Röte ihr Gesicht überflutete.</p>
+
+<p>»Daß Du Dich nicht unterstehst! Ich müßte mich ja zu Tode schämen;
+denn gewiß würde er glauben, Du handeltest in meinem Auftrage, um ihn
+auszuforschen.«</p>
+
+<p>Richenza versprach zu schweigen. »Nun aber auch wieder ein fröhliches
+Gesicht aufgesteckt, daß die Herren sich nicht einbilden, Du habest um
+sie Dein Tränenkrüglein gefüllt. Ich weiß zudem noch einen Trost für
+Dein Leid. Es muß ja morgen nicht für immer geschieden sein. Wenn die
+Eltern es erlauben, besuchst Du uns daheim in Braunschweig. Der<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> Weg zu
+uns ist nicht weiter als von uns zu Euch, und Du siehst, ich bin heil
+hier angelangt und hoffe, auch unversehrt wieder im alten Braunschweig
+einzutreffen. Von da nach Goslar ist's ein Katzensprung. Wollt Ihr
+also, so gibt es im nächsten Jahr ein frohes Wiedersehn bei uns daheim.«</p>
+
+<p>Gisela lächelte schwermütig zu den Zukunftsplänen der Base. »Du glaubst
+ja selbst nicht, daß der Plan gelingen wird.«</p>
+
+<p>»Das tue ich allerdings; es hängt nur von Dir und Deinen Eltern ab,
+ob und wann er in Erfüllung gehen soll. Ihr seht doch an mir und der
+lieben Mutter, daß auch ein Frauenzimmer den Weg über die Alpen wagen
+kann. Außerdem wirst Du immer reiche Gesellschaft finden, denn die
+Straße über den Brenner ist so begangen, daß jede Gefahr ausgeschlossen
+ist. Wenn Dich also nicht jedes Murmeltierchen schreckt, das ein
+Steinchen zum Herabrollen bringt, so mach' Dich getrost auf die Reise.
+An Kurzweil wird's Dir bei uns nicht fehlen. Nun aber laßt uns wieder
+zu den Herren hineingehen, daß sie nicht auf falsche Gedanken geraten.«</p>
+
+<p>Auch die Mutter trieb dazu. Ihr Herz war von mehr Sorge erfüllt, als
+sie zu erkennen gab; denn sie kannte ihr Kind zu genau, um nicht zu
+wissen, daß die Wunde zu tief ging, um ohne ernsten Schaden geheilt
+werden zu können.</p>
+
+<p>Im Zimmer ergriff Richenza sogleich wieder das Wort und suchte die
+Situation zu klären.</p>
+
+<p>»Das sind die dummen Schwächen, unter denen wir Frauenzimmer leiden.
+Kaum freut man sich einmal wirklich, ist auch gleich so eine Migräne
+da, die uns bis zu Tränen niederzwingt. Aber, Herr Oheim, wir haben
+indes schon ein Plänchen ausgeheckt, das unsere Gisela heilen wird.
+Sie<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> muß einmal heraus aus eurer Tropenluft hierzulande. Erlaubt, daß
+sie uns besuche daheim im lieben Braunschweig, wo ja auch Eure Wiege
+stand. Dann mögen Euch ihre roten Wänglein bei der Rückkehr verraten,
+daß wir gute Pflege gegeben haben; und was dabei noch für Euch, Herr
+Oheim, abfällt an lebendigen Erinnerungen an Eure liebe Heimatstadt,
+das nehmt als gern gegebene Draufgabe. Also entscheidet Euch kurzerhand
+und gebt die Erlaubnis. Ist's nicht für sogleich, so schenkt uns die
+Gisela für das kommende Jahr. Und wenn es die Herren Studiosi und
+Doctores gelüstet, uns zu besuchen, so wissen die Herren, daß es von
+Goslar nur ein Ritt von wenigen Stunden ist. Herr Kristaller muß sich
+allerdings schon von seinem fernen Straßburg herbemühen, will er, daß
+der lustige Kreis von Bologna in Braunschweig aufs neue erstehen soll.«</p>
+
+<p>Der Vater war überrascht und suchte nach Einwendungen. Aber da er die
+leuchtenden Augen seines Lieblings während der Worte Richenzas sah,
+hielt er mit lauten Bedenken zurück und hoffte, daß die Zeit ihn der
+Notwendigkeit überheben werde, die endgültige Zustimmung zu erteilen.
+Doch nun legte sich auch Johannes für den Plan ins Zeug. Das war ja
+die Erfüllung einer Hoffnung, die er selbst gar nicht zu hegen gewagt
+hätte. Und den vereinten Anstrengungen gelang es, die endgültige Zusage
+zu erhalten. Er ahnte nicht, daß die Ausführung unter viel trüberen
+Umständen wirklich erfolgen sollte.</p>
+
+<p>Die Stunde des Abschieds war gekommen. Als Johannes sich über die
+Hand Giselas neigte, flüsterte er ihr zu: »Ich weiß, daß wir uns
+wiedersehen; das macht mir den Abschied leichter. Bewahrt mir bis dahin
+ein Plätzchen in Eurem Herzen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span></p>
+
+<p>Ein lichtes Rot der Freude überflog das Gesichtchen Giselas, und eine
+reizende Verwirrung ließ sie noch lieblicher erscheinen. Aufs neue
+füllten Tränen ihre Augen, aber es waren Tränen seligen Glücks. Dann
+schloß sich hinter den Freunden das Tor des alten Palazzo Faba, in dem
+der Professor wohnte.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span></p>
+</div>
+<p class="drop">Als am andern Morgen die Glocken von San Giacomo Maggiore die Frühmette
+einläuteten, traten Johannes und Heinrich, wie auch Gottfried, aus
+ihrer Wohnung und bestiegen die schon bereitgehaltenen Pferde, denen
+ihre Felleisen, das einzige Reisegepäck, welches sie persönlich mit
+sich führten, sorgsam aufgeschnallt waren.</p>
+
+<p>Das Tor wurde gerade von dem halbverschlafenen Wächter geöffnet, als
+sie die Stadt auf dem Wege verließen, der als die uralte Via Aemilia
+vor dem Apennin entlang führt und nur jeweils in den Städten, die
+sie durchkreuzt, sich eine Abweichung von der schnurgeraden Richtung
+gefallen lassen muß, in der sie als ein endloses, weißes Band sich
+dahinzieht. Mit ihnen ging noch ein Mönchlein aus der Stadt, das dort
+wohl übernachtet hatte und nun in sein Kloster zurückkehren wollte. Es
+hielt indes nur kurze Zeit Schritt mit den rüstig ausgreifenden Rossen,
+und sie waren allein. Noch lag der Schatten des frühen Morgens mit
+seiner Kühle auf der Straße, und ein Frösteln überflog ihre Glieder.
+Aber munter ging es weiter.</p>
+
+<p>»Du sinnst wohl noch über den Abschied von der lieblichen Gisela nach?«
+unterbrach Gottfried das Schweigen. Doch Johannes verspürte keine
+Neigung auf den scherzhaften Ton einzugehen. »Laß die Geschichte; Du
+tust mir weh mit dieser Art davon zu sprechen.« Da brach Gottfried das
+Gespräch ab, und sie ritten schweigend fürbaß. Auch Heinrich Achtermann
+zog wider seine sonstige Gewohnheit mürrisch und wortkarg dahin.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span></p>
+
+<p>Noch war nichts Lebendes auf der Straße zu sehen. Doch jetzt blitzte
+es im Morgennebel vor ihnen, und trapp, trapp, trapp kam es zu ihnen
+heran. Es waren Speerreiter des Podesta von Bologna, die ein paar
+armselige Lumpen mit sich führten. Auf einer nächtlichen Streife im
+Banngebiet der Stadt auf frischer Tat ertappt, trabten sie jetzt
+trübselig hinter den Pferden drein, an deren Schweif sie kurzerhand
+gebunden waren. Auch andere Frühaufsteher tauchten bald auf der Straße
+auf, Landleute, die ihr Geschäft in die Stadt führte, Bauern mit
+Ochsenkarren, welche Getreide und sonstige Früchte den Kaufleuten in
+Bologna bringen wollten, junge, rüstige Dirnen und alte Weiber, die
+Melonen und andere Früchte heimischen Fleißes am selben Ziel in Geld
+umzusetzen hofften.</p>
+
+<p>Inzwischen war die Sonne hervorgebrochen und übergoß Land und Straße
+mit ihren wärmenden Strahlen.</p>
+
+<p>Langes Schweigen war wider die Natur des lebhaften Gottfried.</p>
+
+<p>»Wißt ihr übrigens, daß wir in unserm Stumpfsinn auf
+geschichtsschwangerem Boden dahinreiten? Hier erklang schon vor
+anderthalbtausend Jahren der eherne Tritt römischer Legionen, die auf
+Eroberung auszogen, und wieder um ein beträchtliches später zogen in
+umgekehrter Richtung die Gewappneten der deutschen Kaiser sie entlang,
+um in das Land Italia einzudringen?«</p>
+
+<p>Die lachende Septembersonne verscheuchte auch die Grübeleien, in die
+Johannes versunken war, und die jugendliche Hoffnungsfreudigkeit siegte
+über die Zweifel, die sich ihm aufgedrängt hatten: Es würde doch alles
+gut werden, wie er es selbst gestern Gisela gesagt hatte. Und er konnte
+auf den fröhlichen Ton des Freundes eingehen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span></p>
+
+<p>»Da kennst Du unsern guten Magister Sutor schlecht — den schlichten
+›Schuster‹ vertrug seine Gelehrsamkeit schlecht, und wenn er uns einmal
+aus Unachtsamkeit oder Bosheit über die Lippen glitt, saß uns der Bakel
+schon auf dem Buckel. — Er hat uns haarklein den Weg gezeigt, den der
+große Cäsar mit seinen Heeren nahm, und die Tuben der Legionen des
+Varus hörten wir schon erklingen, wenn sie noch diesseits der Alpen,
+meinetwegen auf der alten Via Aemilia, ertönten, auf der wir jetzt
+selbst dahintraben. Ich wollte nur, ich hätte gleich ihnen erst die
+Alpen überschritten und zöge dem alten Goslar zu.«</p>
+
+<p>Unterdes war die Sonne höher und höher gestiegen und sandte ihre
+Strahlen mit einer Glut auf die Reisenden herab, daß ihr Gespräch
+wieder versiegte. Auf den Feldern arbeiteten Bauern mit ihrem
+Ochsengespann, vor ihnen lag das weiße, schattenlose Band der Straße,
+auf der sich kaum ein Lebewesen zeigte, denn alles floh vor der
+sengenden Hitze.</p>
+
+<p>Die Freunde hatten sich als Ziel des Tages Parma gesetzt; aber als
+sie Modena, etwa halbwegs zwischen Bologna und Parma, gegen Mittag
+erreichten, fühlten sie doch, daß sie gut täten, den Pferden, wie
+sich selbst nicht noch eine gleich große Wegstrecke zuzumuten, und
+sie blieben dort bis zum nächsten Morgen. Nach zwei weiteren, gleich
+ermüdenden Tagereisen trafen sie in Piacenza, der alten Brückenstadt am
+Po, ein, wo ihre letzte Raststätte vor Mailand sein sollte.</p>
+
+<p>In Piacenza erfuhren sie in der Herberge von deutschen Landsleuten, die
+von Genua angekommen waren, daß der Kaufherr Ernesti tags zuvor hier
+eingetroffen, aber schon nach Mailand vorausgeeilt sei, weil er dort
+noch Geschäfte zu erledigen habe.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span></p>
+
+<p>Unterwegs schon hatte Gottfried nach diesem Ernesti gefragt, aber
+Heinrich wie Johannes vermochten ihm keinen Aufschluß über den
+seltsamen Mann zu geben, der als einfacher Kaufmann mit den Mächtigsten
+der Erde verhandelte, wie es sonst nur die Aufgabe kaiserlicher
+Ambassaden war. Wohl hatten sie in Goslar den Namen des Mannes
+aussprechen hören, doch nach Art der Jugend kümmerten sie sich wenig
+um Dinge, die sie und ihre Jahre nicht berührten. Beide, besonders
+Heinrich, fesselten viel mehr, da sie noch in der Münsterschule
+zu Goslar saßen und unter dem Joch des gestrengen Magisters Sutor
+seufzten, die Spiele mit den Altersgenossen und die Reigen mit den
+hübschen Goslarer Bürgermädchen, besonders der Lange Tanz, ein Reigen
+aus alter Zeit, welcher der Sage nach die immerwährenden Kämpfe
+zwischen den einheimischen Sachsen und den zugewanderten fränkischen
+Bergleuten beendet hatte. Alljährlich zur Fastnachtszeit fand er statt,
+und selbst ein hochweiser und gestrenger Rat sah dem lustigen Treiben
+wohlgefällig zu, das sich vor seinen Augen abspielte in dem anmutigen
+Schreiten und Sichneigen und Hüpfen lieblicher Jungfräulein und
+kühnstolzer Jünglinge, die jene geleiteten.</p>
+
+<p>Man konnte also die Wißbegier des Freundes hinsichtlich Ernestis nicht
+befriedigen. Auch das, was die mitreisenden Kaufleute nächsten Tages
+auf der Reise von Piacenza nach Mailand über ihn zu sagen wußten,
+ließ noch vieles an diesem Manne im dunklen. Daß er ein seltsamer
+Mensch sei, erhellte zur Genüge aus ihren Worten, aber auch, daß er
+weltbefahren und über das gewöhnliche Maß hinaus angesehen und mächtig
+sein müsse, blieb demnach nicht zweifelhaft. Seine Beziehungen reichten
+von Italien bis Frankreich, und er war in den Handelsplätzen der
+Niederlande<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> gleich bekannt wie in der berühmten Stadt Nowgorod am
+Ilmensee im fernen Reiche der reußischen Zaren.</p>
+
+<p>Daß Ernesti in besonders wichtiger Mission vom Rate der Stadt Goslar
+zur Päpstlichen Kurie in Rom entsandt worden war, wußten sie aus dem
+Briefe von daheim. Heinrich ließ darüber den Kaufleuten gegenüber
+nichts verlauten, da er nicht wußte, ob das der Sache dienlich war, und
+Johannes schwieg ebenso selbstverständlich. Die Kaufherren erzählten,
+daß Ernesti als Heimweg von Rom nicht den Weg über die Abruzzen
+gewählt habe, wiewohl dieser der kürzere war, sondern in einem kleinen
+Küstenklipper nach Genua gefahren sei, um dort im Dogenpalast noch
+etwas zu erledigen. — Fürwahr, ein seltsamer, geheimnisvoller Mann,
+dieser Ernesti, dachte auch Johannes, dessen Gedanken sich allmählich
+mehr und mehr mit ihm beschäftigten, dem die Sache seiner Vaterstadt
+anvertraut war und mit dem ihn das Leben wahrscheinlich auch künftig
+noch mehr als einmal zusammenbringen würde, wenn er erst, wozu seine
+Studien den Weg bereitet hatten und was sein Vater sehnlich wünschte,
+im Rate der Stadt Goslar Sitz und Stimme hätte.</p>
+
+<p>Der Wagenzug war durch ein Hindernis ins Stocken geraten. Während die
+Knechte unter der Aufsicht der Kaufherren noch mit der Beseitigung des
+Hindernisses beschäftigt waren, ritt Johannes mit den Freunden langsam
+voraus. Noch klangen in seinen Ohren die Worte der Mitreisenden über
+Ernesti wieder, aber seine Gedanken blieben an der alten, wehrhaften
+Stadt am Harz haften, die jenen gesandt hatte und durch ihn selbst von
+dem Ausfalle des Auftrages Kunde erhalten würde. Wie mochte es dort
+aussehen, was die Freunde und Gespielinnen treiben, von denen er nun
+schon manches Jahr fern weilte; denn auch vor den Jahren,<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> die er in
+Bologna verlebte, sah ihn die Heimat nur selten, wenn er in den Ferien
+von der Universität Wittenberg zu Besuch kam. Die seltenen Briefe
+der Eltern gaben nur unvollkommen Auskunft über das, was gerade ihn
+interessierte.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Sollte Heinrich die Wahrheit sagen, so war er von Ernesti enttäuscht,
+als er ihn zum ersten Male im »Leuen« zu Mailand sah, und Johannes
+schien dieselben Empfindungen zu haben. Der Fremde entsprach in seinem
+Äußern durchaus nicht der Gestalt, die der junge Goslarer sich von
+ihm gebildet hatte. Ein Mann von der Bedeutung Ernestis müsse, so
+glaubte jener, neben der ragenden, gebietenden Größe, dem kühnen,
+entschlossenen Gesicht, auch in Wort und Ton die Macht zum Ausdruck
+bringen, die ihm eigne. Und nun trat ihm ein Mensch entgegen, der von
+alledem wenig oder gar nichts an sich trug. Schon am Abend der Ankunft
+in Mailand bekamen sie ihn zu Gesicht. Ein etwas mürrischer, wie es
+schien, sehr verschlossener Mann kam herein. Von Gestalt war er nicht
+mehr als mittelgroß; in dem fast alltäglichen Gesichte verriet nur das
+Spiel der beweglichen, ein wenig stechenden Augen den Reichtum der
+Gedanken, die sich hinter der hohen, kahlen Stirn bergen und kreuzen
+mochten.</p>
+
+<p>Ernesti wandte sich alsbald mit einigen freundlichen, gleichgültigen
+Worten an die jungen Leute. Auf den Hauptzweck ihres Zusammentreffens
+hier ging er nur mit einer kurzen Bemerkung ein.</p>
+
+<p>»Es tut mir leid, daß ihr die Beschwerden der Reise in<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> höherem Maße
+auf euch nehmen müßt, als ohne den euch gewordenen Auftrag nötig wäre.
+Aber ich selbst kann die Botschaft an den Rat eurer Vaterstadt nicht
+persönlich überbringen, und sie verlangt eine zuverlässige Hand. Ich
+bin überzeugt, daß er keine besseren Boten hätte finden können, und ihr
+werdet euch des Vertrauens würdig erzeigen, das der Hochmögende Rat
+euch bei eurer Jugend bezeugt. In Köln werde ich euch das Schriftstück
+aushändigen. Ich hoffe, daß man in Goslar mit dem Inhalte wohl
+zufrieden sein wird. Von Köln ab habt ihr Gelegenheit, mit einem Zuge
+flandrischer Kaufleute, die nach Goslar wollen, um euer berühmtes
+Kupfer zu holen, die Weiterreise fortzusetzen.«</p>
+
+<p>Das hieß mit anderen Worten, sie, Heinrich und Johannes, durften das
+wichtige Schriftstück unter den Augen und dem Schutz anderer tragen,
+von dem Inhalte erfuhren sie nichts. Einen Augenblick wollte etwas wie
+Unmut in Heinrich aufsteigen, aber schnell überwand er die Anwandlung,
+zumal in diesem Augenblick sein Freund Gottfried die Runde an seinem
+Tische mit einem Scherze zu lustigem Gelächter verleitete.</p>
+
+<p>Am frühen Morgen des nächsten Tages ging die Reise nordwärts bis an
+das Südufer des Langen Sees, den man in einem der plumpen Schiffe
+hinauffuhr. Hier trat den Reisenden zuerst wieder die Majestät der
+Alpen vor Augen, namentlich im nördlichen Teil des Sees, wo die
+Felsenberge in jähem Absturz den engen See fast erdrücken durch
+ihre Wucht. Aus der Ferne dräute in ernstem Weiß der schimmernde
+Monte Leone, der nach dieser Seite hin die Vorhut bildet der noch
+gewaltigeren Monte-Rosa-Gruppe und all der anderen Riesen der Walliser
+Berge. In Locarno herrschte<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> noch die fast sommerliche Glut des
+italienischen Frühherbstes. An der Straße ungeschützt die Palmen.
+Aus den laubdunklen Weingehegen lockten die schwellenden Trauben:
+»Nimm mich, nimm mich!« Doch die Reisenden hatten nicht Zeit, die
+Herrlichkeiten zu genießen, die ihnen das lachende Seegestade darbot.
+Noch einmal wurden die Warenballen auf plumpe Karren geladen.
+Aber das immer enger werdende Tessintal, in welchem die Fahrzeuge
+dahinrumpelten, setzte dieser Art von Beförderung bald ein Ende. Bis
+Biasca mühten sich die Zugtiere noch ab, die Wagen auf der holperigen,
+oft von tiefen Schründen durchsetzten Straße, die doch keine solche
+war, dahinzuzerren. Dann mußte man endgültig zu den Saumtieren seine
+Zuflucht nehmen.</p>
+
+<p>Auch die menschlichen Siedlungen blieben immer mehr zurück und
+verschwanden von der Wegseite. Hatten bis dahin die Augen an den auf
+jähem Felsen wie ein Adlerhorst gebauten Schlössern und Burgen und den
+einsamen Kirchlein, die in gleich trutziger Lage von dem frommen Sinn
+des Erbauers zeugten, sich geweidet, so wurde nunmehr der Weg nur noch
+von kahlen Felsen begleitet, die in grausigem Absturz das enge Tal zu
+begraben drohten. Hier und da gab ein schmales Seitental den Einblick
+in eine gleich furchtbare Einsamkeit frei. Nur einmal noch traf das
+Auge der Reisenden auf menschliche Wesen, unweit Airolo, wo das wilde
+Val Tremola, das ›Tal des Zitterns‹, den Weg freigibt zum Aufstieg auf
+den St. Gotthardt. Es war ein Bild, das Johannes lange nicht vergessen
+konnte: Unter dem lärmenden Zuruf der welschen Treiber kletterten die
+Saumrosse das Tal empor. Da hockten am Wegesrande einige zerlumpte
+Gestalten, unter ihnen ein Mädchen von madonnenhafter Schönheit. Die
+Gesichter mehrerer von ihnen waren<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> mit Lappen maskenartig verhüllt,
+nur die schwarzen Augen funkelten durch Löcher, welche in jene Lappen
+geschnitten waren. Von dem Rauschen des Gebirgsflusses halbverschlungen
+klang ihr klägliches »<span class="antiqua">prego, prego</span>« Johannes entgegen, der ein
+wenig der Karawane vorausritt. Doch schon eilten die welschen Treiber
+mit drohend geschwungenen Knütteln herbei und verscheuchten die Ärmsten
+in das nahe Seitental, aus dem sie gekommen sind und in dem sie, fernab
+von allen anderen menschlichen Wesen, sich vor ihren Mitmenschen
+bergen und einsam dem Tode entgegensiechen mochten. Ehe Johannes dazu
+gekommen war, ihnen eine Gabe zuzuwerfen, waren sie schon ein Ende zur
+Seite gewichen. »<span class="antiqua">Leprosi, Leprosi</span>«, heulten die Treiber noch
+immer, als ob es gälte, wilde Bestien zu verscheuchen. Die Aussätzigen
+hasteten weiter; aber Johannes fing noch einen Blick des schönen
+Mädchens auf, so voller Schmerz und Verzweiflung, daß er den Gedanken
+an das erschütternde Bild den ganzen Tag nicht los wurde. Er sah an
+ihrer Stelle Gisela, verlassen, verfolgt, dem Elend preisgegeben, und
+tiefstes Mitleid durchschnitt ihm das Herz.</p>
+
+<p>Über die Paßhöhe, das Urserntal hinab auf der Nordseite, wo die junge
+Reuß ihre Kinderstube hat und längs des Saumpfades gischtet und tobt,
+und dann stetig ihr folgend, stieg man hinab bis dahin, wo in der
+Talsohle das flammende Rot der Edelkastanien das große Sterben in der
+Natur ankündete. Über den Vierwaldstätter See brachte sie eine der
+großen, sturm- und wettererprobten Nauen gen Luzern, und weiter ging
+die Fahrt bis an den grünen Rhein, den man bei der alten Handelsstadt
+Basel zuerst zu Gesicht bekam, aber nicht überschritt; denn die Fahrt
+ging ins Elsaß hinein, geradewegs auf das alte Straßburg zu.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span></p>
+
+<p>Gottfried Kristaller hatte recht prophezeit, als er in Bologna verhieß,
+Freund Heinrich werde über den schönen Augen der Straßburgerinnen den
+alten Schmerz vergessen. Im lustigen Geplauder mit Gottfrieds Schwester
+und ihren Freundinnen schwand der letzte Unmut aus seinem Herzen. Der
+neue Tag fand ihn schon völlig eingebürgert in der neuen Umgebung, und
+als man am Morgen des dritten Tages von dannen zog, war der Abschied
+so warm und lebhaft, als ob eine alte Freundschaft ihre erste Trennung
+erfahre. Johannes hielt die Hand Gottfrieds lange in der seinen. Er
+war kein Mann überschwenglicher Gefühlsäußerungen, aber wer seine
+Freundschaft erworben hatte, der konnte für immer auf ihn zählen, und
+Gottfried war ihm ein Freund geworden in Bologna trotz aller äußeren
+und inneren Verschiedenheiten.</p>
+
+<p>Nun ging die Fahrt zu Schiff den Rhein hinab im breiten Graben der
+Oberrheinischen Tiefebene mit seiner melancholischen Weite. Sie
+bot wenig Kurzweil; denn die Reihen der Kaufleute war in Luzern
+wie in Basel und Straßburg bedenklich gelichtet worden, und die
+übriggebliebenen, die vom Niederrhein und aus Westfalen, hatten mit
+ihren eigenen Angelegenheiten so viel zu tun, daß sie sich um die
+beiden Goslarer wenig kümmerten. Um so mehr war es anzuerkennen, daß
+Herr Ernesti sich ihnen mehr zuwandte als bisher. Er hatte die drei
+Gesellen auf der Reise von Mailand her im Auge behalten und sie nach
+ihrer Eigenart zu bewerten Gelegenheit gehabt. So war es ihm nicht
+zweifelhaft, daß der Stetigere, Zuverlässigere Johannes Hardt sei. An
+ihn waren daher auch im Anfang zumeist seine Worte gerichtet. Heinrich
+Achtermann war darob nicht böse; denn der Gesprächsstoff nahm ihn, der
+gewohnt war, in seiner Umwelt zu leben, nicht immer gefangen. So kam
+es, daß<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> sich zwischen dem berühmten Kaufherrn und Agenten und Johannes
+ein Verhältnis anbahnte, das mit jedem Tage freundschaftlicher wurde.
+Diesem gegenüber ließ Ernesti seine sonstige Zurückhaltung fallen und
+sprach mit ihm über seine Reisen und Erfahrungen.</p>
+
+<p>Auch den Mitreisenden fiel der enge Verkehr zwischen den beiden
+auf, und sie gaben wohl gelegentlich ihrer Verwunderung Ausdruck.
+»Euer Freund muß es ja dem Ernesti angetan haben, daß er so gegen
+seine Gewohnheit redselig wird. Was besprechen denn die beiden nur
+immer?« Heinrich bemerkte wohl, daß unbefriedigte Neugier aus ihren
+Worten klang, und er gab nur eine allgemeine Antwort: »Das weiß ich
+ebensowenig wie Ihr, denn Ihr seht ja, daß ich mich wenig daran
+beteilige. Der Stoff ist mir zu langweilig.«</p>
+
+<p>Aber das änderte sich doch, als sich das Gespräch mehr und mehr
+Goslar zuwandte. Ernesti selbst regte diesen Gegenstand immer wieder
+an, und so konnte sich Heinrich nicht enthalten, etwas neugierig und
+ungeschickt zu fragen:</p>
+
+<p>»Weshalb verfiel der Rat von Goslar gerade auf Euch mit der wichtigen
+Sendung nach Rom? Ich sollte meinen, es hätte sich doch auch unter den
+Bürgern der Stadt jemand finden lassen, der sich der Aufgabe unterzogen
+hätte?«</p>
+
+<p>»Daß er jemand gefunden hätte, bezweifle ich nicht«, erwiderte Ernesti
+mit einem leichten Lächeln. »Ob er aber auch Erfolg gehabt hätte, ist
+eine andere Sache. Euer Rat wird sicher gewußt haben, weshalb er mich
+wählte und nicht einen anderen. In Rom ist es mit dem Reden nicht
+allein getan. Man muß zugleich alle Sinne angespannt halten, um nicht
+ins Hintertreffen zu geraten. Das unscheinbarste Wort will auf seinen
+besonderen Wert hin gedeutet, die harmloseste Miene auf ihre versteckte
+Bedeutung hin geprüft<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span> und beobachtet sein. Ich bin im Verkehr mit
+den Großen der Erde, wie Euch die Schwätzer und Neider unter meinen
+Gefährten gewiß schon zugeraunt haben, nicht gerade unbeholfen; aber
+über jeden kleinsten Erfolg, den ich im Lateran davontrage, bin ich
+doppelt froh, und erkenne ich nachher, daß er nicht zu teuer erkauft,
+um ein Mehrfaches. Bei dem Auftrage, den ich für Goslar auszurichten
+hatte, will mir das scheinen, und ich gestehe Euch, daß mich das
+besonders freut.«</p>
+
+<p>»So gestattet auch mir eine Frage, Herr Ernesti«, fügte Johannes hinzu.
+»Weshalb nehmt Ihr an Goslar dieses besondere Interesse? Soviel ich
+weiß, verbinden Euch doch nicht besondere Bande mit meiner Heimatstadt!«</p>
+
+<p>»Gewiß,« entgegnete Ernesti, »ich verstehe Eure Verwunderung.
+Vielleicht raunte man Euch auch zu, ich täte es um des blanken Goldes
+willen.« Johannes wehrte ab, doch jener fuhr unbeirrt fort: »Ihr
+braucht weder Euch noch jene zu verteidigen; denn natürlich erhalte ich
+von Eurem Rat eine angemessene Entschädigung, wenn auch in anderer Art,
+als Euch vorschwebt. Derartige kostspielige und nicht ungefährliche
+Aufträge übernimmt ein guter Kaufmann und Familienvater nicht um
+bloßen Gotteslohn. Aber ich würde mich doch bedacht haben, nach Rom zu
+reisen, wenn ich nicht für Goslar ein absonderliches Interesse hegte.
+Ihr seid schon zu lange von Goslar fort und seitdem nicht oft wieder
+dort gewesen, um über meine Beziehungen zu Goslar unterrichtet zu sein.
+Ich bin in der Tat nicht selten dagewesen, auch als Ihr selbst noch
+dort weiltet; aber die Größe der Stadt — Ihr werdet Euch inzwischen
+ja selbst überzeugt haben, daß Goslar zu den ganz großen gehört — und
+Eure jugendliche Unbefangenheit hat mich Euch wohl verborgen gehalten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span></p>
+
+<p>Ich komme gern nach Goslar und bedauere, daß es mir nicht vergönnt ist,
+die römische Botschaft persönlich zu überbringen; es wäre mir eine
+besondere Freude gewesen. Weshalb ich gern bei Euch weilte und weile?
+— Nun, einmal sind es verwandtschaftliche Beziehungen, die mich mit
+Goslar verbinden. Meine Vorfahren lebten bis auf den Großvater in Eurer
+Stadt. Das Geschlecht der von Ildehusen, das in der Geschichte Goslars
+nicht unrühmlich bekannt ist, gab uns den Ursprung, und wir haben mehr
+als einen Bürgermeister und Ratsmann gestellt, die am Aufbau Eurer
+mächtigen Vaterstadt mithalfen. Den Großvater verschlug das Schicksal
+nach der Stadt Soest am alten Hellweg. Übrigens haben wir noch heute
+nicht alle Beziehungen zu Goslar verloren. Mir lebt dort ein Vetter
+Richerdes, bei dem ich, weile ich im Harz, gern absteige.«</p>
+
+<p>»Ist das etwa der ehemalige Ratsherr oder Sechsmanne Richerdes von
+der Gundemannstraße?« fragte Heinrich lebhaft. »Ganz recht«, lautete
+die Antwort. »Ei, so kennt Ihr ja auch die Venne Richerdes, meines
+Schwesterleins liebste Gespielin.« — »Und vielleicht auch Euch selbst
+nicht zuwider«, fiel ihm Ernesti lächelnd ins Wort. »Freilich kenne
+ich sie, ist's doch mein liebes Niftel, das ich selbst aus der Taufe
+gehoben habe, und über dessen prächtiges Gedeihen ich mich freue, wann
+immer ich sie sehe.«</p>
+
+<p>»Da wundere ich mich nur um so mehr, daß ich Euch nie sah; freilich
+Euer Name fiel wohl auch aus dem Munde der Venne, aber ich gab des
+nicht acht.«</p>
+
+<p>»Also liegt die Schuld immer wieder bei Euch; denn ich pflege nicht den
+Unsichtbaren zu spielen, wenn ich in Goslar bin. Doch Ihr hattet wohl
+Wichtigeres zu tun, als Euch um den fremden Mann zu kümmern. Und — Ihr
+seid mir noch<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> die Antwort schuldig — was haltet Ihr selbst von der
+Venne?«</p>
+
+<p>»Als ich Goslar verließ, verhieß sie, mit der Zeit vielleicht ein
+schönes Mädchen zu werden. Ich habe sie oft bei uns gesehen, und als
+Kinder haben wir auch bei ihnen, besonders in ihrem schönen Wallgarten,
+unsere Spiele getrieben. Ich fürchte nur, daß ich bei ihr nicht in
+dem Rufe unbedingter Ritterlichkeit stehe; denn wir Knaben waren arge
+Rangen, und die Mädchen, auch Venne, haben unser Ungestüm oft zu büßen
+gehabt. Von dem Abschied vollends wage ich gar nicht zu sprechen. Soll
+also Eure Frage ergründen, ob ich bei ihr in besonderer Gunst stehe, so
+kann ich das nur mit allem Vorbehalt zusagen.«</p>
+
+<p>»Gut reserviert«, lobt der andere. »Ich sehe, Ihr habt Eure Studien
+nicht umsonst erledigt und werdet dermaleinst es verstehen, knifflige
+Fallen zu meiden. Auf jeden Fall darf ich Euch aber, da Ihr Goslar
+eher erreichen werdet als ich, bitten, den Richerdes meine Grüße
+auszurichten. Vielleicht nimmt Euch dann mein Niftel ob dieses
+Liebesdienstes wieder ganz zu Gnaden an.«</p>
+
+<p>Dann kehrte man wieder zu ernsteren Dingen zurück. »Ihr fragtet mich
+nach dem Inhalt des Schreibens der römischen Kurie an den Rat zu
+Goslar. Glaubt mir, Ihr jungen Freunde, es ist nicht Geheimniskrämerei,
+die mir den Mund verschließt. Aber ich habe den Auftrag, Euch die
+Botschaft verschlossen zu übergeben, und ich weiß, daß es zu Eurem
+Besten ist, wenn Ihr ohne Kenntnis von dem Inhalte seid. Es sind
+überall Späher, auch um uns herum, und ein unvorsichtiges Wort könnte
+den ganzen Erfolg meiner Reise in Frage stellen; denn an der Auswirkung
+ist nicht Goslar allein interessiert.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span></p>
+
+<p>Ihr seid stolz auf die machtvolle Stellung eurer Stadt, mit Recht.
+Doch so viel werdet Ihr trotz Eurer Jugend auch schon gehört und
+gesehen haben, daß Goslars Glanz und Vormachtstellung mit dem Silber
+und Kupfer des Rammelsberges steht und fällt und daß als zweite
+unerläßliche Vorbedingung für ein weiteres Blühen Eures Gemeinwesens
+der ungestörte Besitz und die Nutzung der gewaltigen Forsten, welche
+Goslar umgeben, ist. Von dem ersteren, der Bedeutung des Bergwerks
+werdet Ihr in Köln aufs neue einen Beweis erhalten, wenn Ihr mit den
+flandrischen Kaufleuten zusammentrefft. Sie sind auf dem Wege zu Euch,
+um das ›<span class="antiqua">keuvre de Gosselaire</span>‹, das goslarsche Kupfer, zu holen,
+um es in den Kupferschlägereien zu Dinant und in den anderen Städten
+Flanderns und der Niederlande zu verwenden. Und kämet Ihr nach London
+oder gen Nowgorod im Reußenlande, so würdet Ihr dort den Namen ›Goslar‹
+und ›goslarsches Silber oder Kupfer‹ mit derselben Geläufigkeit und
+Häufigkeit nennen hören. Euer Reichtum und Eure Macht sind aller Welt
+bekannt, es kennen ihn aber auch Eure Feinde und Neider, die Ihr zum
+Teil nicht weit zu suchen habt.</p>
+
+<p>Es muß Eurem Rat nachgerühmt werden, daß er schon frühzeitig die Lage
+erkannt und danach zu handeln bestrebt gewesen ist. Schon unter König
+Wenzel, vor mehr als hundert Jahren, verstand es Goslar, sich eine
+Reihe von Gnadenbriefen zu verschaffen, welche der Stadt den Genuß
+ihrer Rechte auf Berg und Forst sicherten. Indes, wie Ihr wissen
+werdet, haben auch die Braunschweiger Herzöge verbriefte Rechte und
+Privilegien auf Berghoheit und den Zehnten. Zur Zeit sind diese Rechte
+nach dem Rate von Goslar verpfändet, und die ewige Geldnot der Herzöge<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span>
+hinderte sie bis jetzt, den Pfandschilling zu erstatten, aber laßt
+sie nur zu Atem kommen und den Appetit sich regen, dann wird sich's
+bald ändern. Ich fürchte, ich fürchte, die Anzeichen dazu sind schon
+wahrzunehmen.</p>
+
+<p>Damals, als die Braunschweiger das Geld nahmen, wäre es ein leichtes
+gewesen, ihnen ihre Rechte um ein billiges abzukaufen, statt sie
+in Pfand zu nehmen; denn damals stand es schlecht um den Bergbau:
+Wassereinbrüche, deren man nicht Herr werden konnte, leere Erzgänge
+ließen das Ganze als wertlos erscheinen in den Augen Uneingeweihter.
+Damals war es Zeit zum Zugriff, damals mußte Goslar das Ganze an sich
+bringen, statt Pfandschillinge zu nehmen und eine Gewerkschaft zu
+gründen mit Bürgern und fremden Herren. Nun rächt sich die Versäumnis
+nach jeder Richtung hin.</p>
+
+<p>Ihr habt einmal einen großen Mann gehabt, der die Aufgabe Eurer Stadt
+richtig erkannte. Hermann Werenberg hieß er und war Stadtkanzler; Ihr
+werdet seinen Namen gehört haben. Glaubt mir, er war einer der ganz
+Großen in der Geschichte Eurer Stadt. Was Goslar heute ist, verdankt
+es in erster Linie diesem Manne. Er bewies eine Staatskunst, die ihn
+auch befähigt hätte, ein größeres Staatswesen, als es Eure kleine
+Stadtrepublik ist, auf die Höhe irdischer Macht zu bringen und dort
+zu erhalten. Daß er dabei, wieder nach Art der wirklich Großen, alle
+Mittel nutzte, um die Gerechtsame auf Berg und Forst in den Besitz der
+Stadt zu bringen, wird ihm nur der kleine Geist als Schuld anrechnen.</p>
+
+<p>Die Bahn war frei, aber Werenbergs Leben ward ein Ziel gesetzt, ehe der
+Erfolg im ganzen Umfange gesichert war. Er starb, und seine Nachfolger
+verstanden nicht, das<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> Erworbene festzuhalten und auszubauen. Sie
+hätten die geldhungrigen Herzöge von Braunschweig abfinden, die
+Gewerken, unter denen das Kloster Walkenried und das reiche Domstift
+Simon und Juda in Goslar selbst zu nennen sind, aufkaufen sollen, ehe
+das Bergwerk wieder das wurde, was es war und jetzt ist: eine ungeheure
+Goldgrube für den, der es besitzt. Jetzt ist's zu spät, will mir
+scheinen. Niemand wird noch seine Rechte an die Schatzkammer aufgeben
+wollen, zu der er einen Schlüssel in der Hand hat, weder Kloster, noch
+Fürst, noch Bürger; denn auch diese sitzen unter den Gewerken noch
+heute. Es mag von geringem Sinn für das Wohl des Ganzen zeugen, daß sie
+sich sperren, ihre Rechte in die Hand des Rates zu geben, aber es ist
+so. Mein eigener Vetter, der Sechsmanne Richerdes, zählt ja auch zu
+ihnen.</p>
+
+<p>Es ist zu spät, sage ich; denn wenn schon die eigenen Bürger nicht von
+Euch veranlaßt werden können, ihren Eigennutz hinter das gemeine Wohl
+zu stellen, so habt Ihr von den Fürsten erst recht nichts Gutes zu
+erwarten. Wenn mich die Anzeichen nicht trügen, rüstet man im Schlosse
+zu Wolfenbüttel bereits zu entscheidenden Schritten. Den Pfandschilling
+aufzubringen, wird ihnen nicht schwer fallen, denn es sitzen der
+Geldgeber genug in deutschen Landen, die auf ein so gutes Unterpfand
+hin gern helfen werden. Dann hat Goslars Schicksalsstunde geschlagen.«</p>
+
+<p>Die Gesichter der Zuhörer verdüsterten sich unter den Worten Ernestis
+sorgenvoll. So hatten sie allerdings das Geschick der Heimat nicht
+gewertet, und so schien es auch niemand daheim einzuschätzen, alles war
+auf Freude und Stolz an der Blüte eingestellt.</p>
+
+<p>»Ich sehe,« fuhr der andere fort, »daß Ihr bekümmert<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> seid; aber es
+tut nicht gut, mit verbundenen Augen in das Leben einzutreten. Doch
+ich will Euch auch nicht ohne Trost lassen. Wie sehr und weshalb ich
+an Goslar hänge, ist Euch bekannt, und was ich tun kann, um das Unheil
+abzuwenden, wird geschehen. Mein Einfluß reicht weit, wie Ihr selbst
+schon gemerkt habt. Holte ich Hilfe aus Rom für Euch, so werde ich auch
+in der Nähe nützen können. Der Himmel hat dafür gesorgt, daß auch der
+Stolz der Herzöge nicht zu sehr ins Kraut schießt. Ihre liebe Stadt
+Braunschweig macht ihnen viel zu schaffen und wird, faßt man es richtig
+an, Euch von größtem Nutzen sein. Aber in einem könnt Ihr, das sage ich
+noch einmal, Euch nur allein helfen, das sind die Zustände in Goslar
+selbst.</p>
+
+<p>Will man sich des Besitzes einer Sache ungestört erfreuen, so darf
+sie nicht der Gegenstand des Neides anderer sein, wie ich Euch
+schon sagte. Man muß sie im Urteil der Neidlustigen als minder
+begehrenswert hinzustellen verstehen oder die Zeitläufte benutzen,
+um die Aufmerksamkeit von ihr abzulenken. Beides haben die Goslarer
+vormals nicht versäumt. Als die große Bewegung der Kreuzzüge die Massen
+durchzitterte und aller Augen nach dem Morgenlande gerichtet waren,
+hat Goslar seine Position Schritt um Schritt verstärkt. Als dann die
+öffentliche Meinung vom Bergwerke als einer verlorenen Sache sprach,
+brachten sie die Gerechtsame des Berges an sich. Sehr schön, aber die
+Nachfahren haben nicht zu nutzen verstanden, was die Väter schufen.
+Jetzt ist's umgekehrt wie ehedem: Der Nachbar sieht dem Nächsten auf
+den Bissen, die Großen beneiden die Größten, und der Kleinen Begehr
+steht nach dem, worauf die Großen überlaut und unvorsichtig als ihr
+Eigen pochen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span></p>
+
+<p>Erst waren es die Gilden. Nachdem sich Gevatter Schneider und
+Handschuhmacher durch das Aufblühen der Stadt den Beutel gefüllt
+hatten, kam ihnen auch der Machtkitzel, und sie wollten mitregieren,
+ob sie es auch nicht verstanden. Nun regieren sie mit, daß es Gott
+erbarme. Und schon regt sich's abermalen machtlüstern und beutegierig.
+Was dem Handwerker gelang, ließ auch die Masse des gemeinen Volkes
+nicht ruhen. Kommt sie zur Macht, dann gnade Gott Euch Goslarern,
+wie allen denen, wo die Plebs ihr Haupt siegreich erhebt. <span class="antiqua">Videant
+consules!</span> — der Rat mag sehen, daß er Herr der Lage bleibt. Reicht
+er der unvernünftigen Masse den kleinen Finger, so ist es um die ganze
+Hand geschehen. Mit dem Volke ist es wie mit den Kindern: Was das Kind
+hat, dünkt ihm nichts, sieht es in anderer Hand etwas, das es selbst
+nicht besitzt. Man gebe ihm, worauf es vernünftigerweise ein Recht hat,
+sonst ein hartes ›Nein‹. Euch fehlt ein Werenberg. Der würde wissen,
+was den Kindern, will heißen der Masse, frommt und was man ihnen geben
+darf, ohne daß sie sich den Magen überladen und das Gemeinwohl zu
+Schaden kommt.«</p>
+
+<p>Das Schiff bog in den Rheingau ein. In der Ferne tauchten die Kuppeln
+und Türme des heiligen Mainz auf, übergossen von dem goldigen Glast der
+Abendsonne. Johannes stand an die Verschanzung gelehnt und nahm das
+glänzende Bild in sich auf, das mählich aus den Fluten des Rheins, wie
+es schien, aufstieg. Bald legte das Fahrzeug an, und das geschäftige
+Leben, das mit der Ankunft eines jeden Schiffes verbunden ist, riß die
+Reisenden auseinander.</p>
+
+<p>Wieder hatte sich die Zahl der Kaufleute gelichtet. Dafür fand sich
+allerlei anderes Volk ein, Niedere wie Vornehme.<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> Auch ein paar
+Domherren waren darunter, die nach Köln wollten. Ernesti stand im
+Gespräch mit ihnen.</p>
+
+<p>»Ihr seht,« flüsterte einer der alten Bekannten Heinrich zu, »Euer
+Gönner hält es allerorten und immer mit dem Krummstab. Möchte wohl
+wissen, was er alles an geheimen Gängen hinter sich hat, die wenigen
+Stunden, die wir in Mainz waren und während wir uns einen ehrlichen
+Trunk gönnten.«</p>
+
+<p>Eine Antwort wurde nicht erwartet, und Heinrich hätte sie auch nicht
+gefunden, denn ein abfälliges Wort über den Mann zu sagen, der ihnen so
+viel gegeben hatte, wäre ihm als schwarzer Undank vorgekommen. Übrigens
+kam Ernesti in gewisser Weise selbst darauf zurück; er hatte wohl
+gesehen, daß man über ihn sprach.</p>
+
+<p>»Ich hatte mit der Erzbischöflichen Kurie zu tun, in nicht unwichtigen
+Fragen, wie Ihr Euch denken mögt. Mancher meint vielleicht, es sei
+mir bei den vielerlei politischen Dingen, die durch mich Erledigung
+oder Förderung finden, um das blanke Gold zu tun; ich lasse ihn reden,
+wie seine Mitschwätzer. Eins aber sei Euch beiden als Erinnerung an
+Mainz mit auf den Weg gegeben, und das sei die dritte und letzte der
+langatmigen Mahnungen, die ich Euch gab: Verderbt es in Goslar nicht
+ernstlich mit der Kirche.</p>
+
+<p>Wir leben in einer unruhvollen Zeit: Kampfstimmung überall, wohin Ihr
+blickt, und nicht nur auf dem Gebiete weltlicher Machtkonflikte, auch
+die Kirche, die Religion ist davon betroffen, und es sind dunkle Kräfte
+am Werk, um ihre Grundpfeiler zu stürzen. Ich bin ein treuer Sohn der
+Kirche. Das hindert mich nicht, die ernsten Schäden zu erkennen, die
+ihr anhaften und wie böse Geschwüre an ihrer besten Kraft zehren. Das
+Schisma, die Spaltung in der<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> Nachfolge Petri, hat den Boden bereitet,
+auf dem Blasphemie und Abtrünnigkeit ihre giftigen Blüten treiben
+können; die Völlerei und Zuchtlosigkeit in den Klöstern und unter dem
+Klerus haben gleicherweise dabei mitgeholfen. So finden die falschen
+Apostel gläubige Ohren, wo immer sie ihr Unkraut unter die Menge
+werfen. Auch in Niedersachsen blüht ihr Weizen, wie ich höre. Doch die
+Kirche ist zu fest gegründet, als daß sie nicht der Widerwärtigkeiten
+und Widerspenstigen Herr werden wird. Denn ihre Sache ist gut, und der
+Brunnen nur verunreinigt, der die ewigen Heilswahrheiten birgt. Aber
+nicht der Eifer des Zeloten und nicht der unreine Mund des Hetzers wird
+die Gesundung bringen, sondern die stetige, von echter Frömmigkeit
+und Liebe zur Mutter Kirche getragene Sorge, daß das Gefäß nicht
+zertrümmert werde, das so kostbaren Inhalt birgt. Die Kirche wird über
+alle Fährlichkeiten hinwegschreiten, weil sie siegen muß. Dann aber
+wehe denen, durch die Ärgernis gekommen ist; wehe auch den Städten, die
+als ungehorsame Töchter sich erwiesen, ihr Unglück ist besiegelt!</p>
+
+<p>Auch bei Euch in Goslar werden die Schwarmgeister am Werke sein. Störet
+ihre Arbeit, wo und wie Ihr könnt; es ist zum Frommen der Stadt. Ihr
+habt der Feinde und Neider schon genug, ladet Euch nicht auch noch die
+Abgunst der Kirche auf; Ihr würdet sie nicht tragen können.«</p>
+
+<p>»Ich fürchte, daß Ihr nur zu recht habt mit allem, was Ihr betreffs
+unserer Stadt sagtet«, antwortete Johannes dem Vielerfahrenen. »Sicher
+trefft Ihr ins Schwarze mit der Vermutung, daß Goslar selbst zuletzt
+den Schaden wird zu bezahlen haben. Die Klöster daheim, vornehmlich das
+reiche und mächtige Domstift, sind der Stadt schon sehr<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> gram, weil der
+Rat manche ihrer Privilegien kürzte. Das Sankt-Jürgen-Kloster, wie die
+Chorherren des Petersstiftes liegen dem Bischof von Hildesheim seit
+langem in den Ohren ob angeblicher Mißachtung und Verletzung ihrer
+Rechte und respektwidriger Verunglimpfung durch die Bürger. Der Bischof
+selbst ist uns gram wegen unseres Verhaltens in der Stiftsfehde, die
+Euch bekannt sein wird. Fänden alle diese Mißgünstigen sich zusammen,
+diese offenen und geheimen Gegner, und einigten sie sich mit den
+Herzögen, die uns jetzt schon zwicken und zwacken, wo sie können, so
+wäre der Anfang vom Ende gekommen. Eure Mahnungen treffen also keine
+tauben Ohren. Auch der Vater sprach wohl schon mit mir über diese
+Dinge. Wir werden tun, was unsere Jugend zu leisten vermag, davon seid
+überzeugt, wie auch von der Aufrichtigkeit unseres Dankes für Euren
+freundlichen und weisen Rat.«</p>
+
+<p>Kalte Oktoberstürme brausten das Tal des Rheins entlang und drängten
+die Wellen zuhauf, als wollten sie umkehren von dem Wege, den der
+ihnen innewohnende Drang nach dem Meere vorschrieb. Die Wälder an
+den Berghängen wurden des letzten Blättchens beraubt, das ihnen noch
+geblieben war von dem sommerlichen Festgewande; alles wies auf Tod
+und Sterben und Ruhe in der Natur. Langsam glitt das Schiff zu Tal.
+Man hoffte, vor Einbruch der Nacht noch in Köln zu sein; aber fast
+schien es, als solle man noch eine Nacht auf dem unwirtlichen Flusse
+verbringen. Da gab endlich eine letzte Biegung den Blick auf die alte
+Stadt mit ihren unzähligen Türmen und Zinnen frei. Sankt Severin, Sankt
+Georg, Sankt Maria im Kapitol, Sankt Gereon, so tauchten sie aus dem
+Grau des Abendhimmels auf, überragt von dem gewaltigen Bau des Doms,<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span>
+der mit den ungefügen Stümpfen seiner Türme wie ein gefesselter Riese
+die Hände gen Himmel hob.</p>
+
+<p>Dann kam der Abschied von Ernesti. Wie hatte sich das Verhältnis zu dem
+fremden Manne seit der Abreise von Straßburg geändert! — Der ernste,
+zurückhaltende Mann war ihnen nahegerückt, als sei es ein lieber
+Verwandter. In schier väterlicher Weise hatte er die Jünglinge an die
+Hand genommen und in die Tiefen des politischen Lebens blicken lassen,
+die ihnen ohne diese Hilfe gewiß erst viel später und mit schmerzlichen
+Erfahrungen sich erschlossen hätten. Sie bereuten es nicht, den Umweg
+über den Gotthardt gemacht zu haben. Der Händedruck, der den Abschied
+besiegelte, trennte Freunde. Sorglich vermittelte Ernesti noch die
+Bekanntschaft mit dem Führer der flandrischen Händler, mit denen
+Heinrich und Johannes in die Heimat reisen sollten.</p>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span></p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+</div>
+
+<div class="block_r">
+<p class="s5">»<span class="antiqua">Bella gerant alii; tu, felix Austria, nube!</span>«<br>
+Kriege laß die andern führen; du, glückliches Österreich, freie!</p>
+</div>
+
+<p class="drop">Ein gewaltiges Gebäude war durch die Heiratspolitik der Habsburger
+im 15. Jahrhundert aufgeführt worden, das noch ungeheuerlicher wurde
+durch die Entdeckung Amerikas. Die Krone von fünfzehn Ländern ließ der
+alternde Kaiser Maximilian, der ›Letzte Ritter‹, für die Häupter seiner
+Enkel Karl und Ferdinand zurück. Doch in diesem Hause wohnte nicht
+Glück und Eintracht beieinander, sondern Unfriede und Haß wucherten
+überall wie üppige Giftblumen. Die Kirche war auf dem besten Wege, den
+Rest ihres Ansehens zu verlieren. Sie trug selbst die Schuld daran,
+aber es kam damit einer der Grundpfeiler aller bestehenden Ordnung ins
+Wanken. Daß durch diese Ordnung der Dinge sich alles in eine völlige
+Unordnung verkehrt hatte, war nur zu einem kleinen Teile der Kirche
+als Schuld beizumessen. Ein Teil der Deutschen fühlte sich bei diesem
+Zustande durchaus wohl, die Masse aber war in Elend versunken und
+suchte sich, dem Ertrinkenden gleich, durch gewaltsame Anstrengungen
+das Leben zu erhalten.</p>
+
+<p>Im Gegensatz zu Westeuropa war in Deutschland eine Vielzahl von
+kleinen Machtzentren entstanden. Der Fürstentümer, Grafschaften und
+Herrschaften war Legion, nicht zu rechnen die Freien Reichsstädte,
+die hinter ihren trutzigen Mauern und festen Toren ungestört ihrem
+Handel und Wandel nachgingen, Reichtum und Macht aufhäuften und<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> sich
+um Kaiser und Reich, um Fürsten und Große nur kümmerten, wenn es ihre
+Belange forderten. Alle diese waren sich, die Großen wie die Kleinen,
+in einem gleich: in dem Bestreben nämlich, die eigene Machtfülle zu
+mehren, um die eigene Person mit Schimmer und Glanz zu umgeben.</p>
+
+<p>In den Städten lag die Herrschaft mit der Sicherheit des Erbes in
+der Hand weniger Familien. Der Handwerker, in zielstrebigen Gilden
+vereinigt, hatte Zeit gehabt, Kisten und Kasten zu füllen. Nun waren
+sie auf dem Wege, auch die Ratssessel einzunehmen, getrieben von
+eigenem Ehrgeiz und vielleicht auch auf das Drängen des Ehegesponses
+und der Töchter, die so der strengen Kleiderordnung entgehen zu können
+hofften und demnächst ein Fältel mehr am Gewande, eine Pelzverbrämung
+mehr am winterdichten Mantel dem Neide der Nachbarinnen preisgeben
+durften.</p>
+
+<p>Neben ihnen und unter ihnen, in den lichtlosen Hinterhäusern, in den
+dumpfigen Hütten, die an die Stadtmauer sich schmiegten, wie die
+Küchlein an die Henne, das städtische Proletariat, das von den Brosamen
+seiner glücklichen Mitbürger lebte und die staunende, bewundernde
+Masse abgeben durfte bei dem Gepränge des Rates, bei den Schauzügen
+der Gilden. In ihr gor und glomm es, und es bedurfte nur des Funkens,
+um die Flammen des Aufruhrs emporlodern zu lassen. Auf dem Lande aber,
+unter der Botmäßigkeit des Herrn, ob Graf oder schlichter Edelmann,
+seufzte der hörige Bauer in unerträglicher Frone, der geringsten
+persönlichen Freiheit beraubt für sich, für Frau, Tochter und Sohn.
+War der Herr vernünftig und zugänglich, so ließ er seinen Leibeigenen
+wenigstens so viel vom sauer Erworbenen, daß die Arbeitslust und
+Körperkraft<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> nicht zu schnell sich abnutzte. Viele aber, sehr viele der
+Gebieter sahen in ihren Bauern und deren Angehörigen nur das Material,
+um ein bequemes Leben zu führen und der Wollust nach ihrem Belieben
+bei ihren Töchtern die Zügel schießen zu lassen. Und allen endlich
+lieferte er mit seinem Leibe das Rüstzeug, wenn es galt, Fehde und
+Streitigkeiten mit anderen im Kampfe Mann gegen Mann auszutragen.</p>
+
+<p>Der Druck war unerträglich, und der Gegendruck aus der Masse der
+Unterdrückten machte sich immer mehr wahrnehmbar; es gor und brodelte
+unter ihnen und schuf sich Luft nach oben in schrecklichen Taten der
+Verzweiflung, die wie die Blasen aus dem trüben Schlamm des Morastes
+aufstiegen und doch zuletzt wirkungslos zerplatzten. Der ›Arme Konrad‹,
+der ›Bundschuh‹ sind die Namensprägungen, unter denen sich die Bauern
+zusammenschlossen. Ihr verworrener Zorn griff die verrottete Kirche
+an, er stürmte an gegen die Gewalthaber jeglicher Art, er traf die
+Städter, wo er sie treffen konnte. Die Organisation der Bauern war
+eine wirre, unklare. Neben der großen Masse zogen sie in zahllosen
+Einzelhaufen durch das Land. Sie fanden sich zusammen, wie der Wolf
+sich zum Wolf gesellt, um gemeinsam auf Beute auszuziehen. Wen sie
+trafen, den schlugen sie nieder und bemächtigten sich seines Besitzes,
+und wer es konnte, der schlug sie tot wie tolle Hunde. Die Sicherheit
+im Lande, auf den Straßen war wieder einmal im deutschen Lande geringer
+denn je, und sie wurde noch verringert durch die adligen Schnapphähne,
+die bei der Aufteilung der Machtbelange unter ihre mächtigeren und
+einflußreicheren Standesgenossen übergangen waren. Sie lebten von der
+Hand in den Mund und hungerten und<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> lungerten auf ihren zerfallenen
+Raubnestern, bis der Turmwärtel oder Spione das Herannahen einer Beute
+meldeten. Dann stiegen sie hinab, lauerten den Ankommenden auf, suchten
+die Beute zu erhaschen, schlugen, erschlugen oder wurden erschlagen.</p>
+
+<p>Das größte Risiko bei dieser Art adliger oder bäuerlicher Wegeaufsicht
+trugen die Städter, wenn sie ihre festen Mauern verließen, um mit
+gefüllter Geldkatze im Osten oder Süden, im Norden oder Westen
+einzukaufen, oder wenn sie mit den erworbenen Warenballen oder
+Gewürzsäcken heimkehrten. Wer nicht reisen mußte, hockte daheim hinter
+dem Ofen; wen aber die Notwendigkeit veranlaßte, den Schutz der
+Stadtmauer aufzugeben, der sah sich nach genügendem Schutz um, damit er
+der Gefahr begegnen könne.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Auf dem Deutzer Ufer des Rheins lagerte und lungerte an einem der
+letzten Oktobertage des Jahres 1515 ein bunter Haufen kriegerischer
+Gestalten. Sie lagen und standen umher, wie es ihnen einfiel. Alle
+blickten nach dem gegenüberliegenden Köln, da, wo das Frankentor gegen
+den Strom zu den Austritt aus der Stadt freigab. Es waren deutsche
+Knechte, die in Frankreich abgelohnt wurden, nachdem der Herzog von
+Burgund mit dem jungen König Ludwig <span class="antiqua">XII.</span> einen Vergleich
+geschlossen hatte. Der Obrist konnte den rückständigen Sold nicht
+zahlen, dieweil der Burgunder die Zahlung weigerte, nun er die fremden
+Söldner nicht mehr gebrauchte. Die Truppe meuterte, der Hauptmann, der
+zu vermitteln suchte, wurde erschlagen. Dann<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> waren sie gegen Osten zu
+gezogen, marodierend und schatzend, wo sie es konnten und wo sie es
+wagen durften. In den Städten ließ man sie nicht ein; es waren zu wilde
+Gäste, denen die eigenen Stadtsoldaten nicht gewachsen gewesen wären.
+Auch das erzbischöfliche Köln hielt ihnen die Tore verschlossen. Sie
+wurden unter geeigneter Bedeckung um die Stadt geleitet an den Rhein.
+Dort überließ man sie sich, nachdem man unter gegenseitigem Grüßen, wie
+»Pfaffenknecht« oder »Meuterer«, voneinander Abschied genommen hatte.
+Von den Bastionen spähten die Stadtsoldaten mit brennender Lunte zu
+ihnen herab, um einen Annäherungsversuch unfreundlich zurückzuweisen.
+Der Fährmann mit seinen Knechten war seitens der Stadt gedungen, sie
+unentgeltlich an das andere Ufer überzusetzen; so hoffte man, bald den
+großen Strom zwischen der Stadt und den wilden Gesellen als schützenden
+Wall zu haben.</p>
+
+<p>Vielleicht aber hätten die fremden Gäste sich doch nicht so mit der
+Überfahrt beeilt, wenn ihnen nicht ein besonderes Angebot die Sache
+annehmbar gemacht hätte.</p>
+
+<p>In Köln weilten zur Zeit die flandrischen und wallonischen Kaufherren
+aus Gent, Antwerpen, Brügge, Dinant, und wo immer sonst das Kupfer
+des alten Rammelsberges Verwendung finden mochte. Sie kamen mit
+gespickten Geldkatzen und kostbaren Warenballen, um im Tausch für sie
+das wertvolle Metall einzuhandeln oder die Erzeugnisse ihres eigenen
+Gewerbfleißes zuvor in den Städten Westfalens und des Niedersächsischen
+Kreises in Geld umzusetzen und dann mit dem Verdienten in Goslar das
+Gewünschte zu erwerben. Ihre Gesichter wurden besorgter, je mehr sie
+sich den Grenzen Deutschlands näherten; denn was sie über die Zustände
+im Reiche hörten, mußte sie mit<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> den größten Bedenken hinsichtlich
+ihrer Person wie ihres Eigentums erfüllen. Sie zogen zwar unter dem
+reisigen Geleit einer Anzahl Gewappneter dahin, aber diese boten
+allenfalls Schutz gegen die landesübliche Unsicherheit einzelner Trupps
+von Wegelagerern und adligen Strauchdieben. Im Kampfe mit großen Haufen
+verzweifelter und verwilderter Bauern mußten sie erdrückt werden.</p>
+
+<p>Da kam einer der Wagenknechte, der, vor der Stadt sich ergehend, den
+seltsamen Zug der Landsknechte gesehen und von ihrem Wegziel gehört
+hatte, auf den guten Gedanken, dem Herrn diese wagemutigen Gesellen
+als Geleit für den Weg vorzuschlagen. Sein Vorschlag fand Anklang,
+wenn auch mancher der Kaufleute abriet, sich der wilden Soldateska
+anzuvertrauen. Ein Versuch sollte wenigstens gemacht werden. So
+wurde ein Unterhändler zu ihnen geschickt. Was er berichtete, klang
+vertrauenerweckender, als man erwartet und gehofft hatte. Die meisten
+Leute wollten nach Niedersachsen, woher sie stammten. Sie waren des
+Kriegslebens müde und sehnten sich nach Ruhe, wenigstens zur Zeit.
+Die Bewaffnung sei gut, der Webel, der die Führung habe, besitze
+Gewalt über die Leute, und die Soldaten selbst machten keinen allzu
+schlechten Eindruck. Gegen ein gutes Handgeld und entsprechende
+Ablohnung nach Erfüllung des Auftrages seien sie bereit, den Schutz
+des Zuges zu übernehmen, mit der Einschränkung allerdings, daß es dem
+einzelnen freistehe, abzuschwenken, wenn die Heimat erreicht sei. Da
+indes die meisten, wie erwähnt, aus den braunschweigischen Ländern und
+noch darüber hinaus waren, so blieb bis in die Nähe von Goslar ein
+wirkungsvolles Geleit gesichert. Das Handgeld war ausgezahlt, und die
+Knechte warteten ihrer Schützlinge.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span></p>
+
+<p>Unter ihnen waren auch einige Blessierte und Schwerverletzte. Im
+Hintergrunde hielt der Wagen der Marketenderin, eines kräftigen
+Frauenzimmers. Immecke Rosenhagen hieß sie und stammte aus Salzwedel.
+Den Eltern war sie vor nunmehr manchem Jahre davongelaufen mit einem
+Gesellen des Vaters, der aus dem Stolz des eingeborenen Gildemeisters
+heraus sich dagegen sträubte, die einzige Tochter einem zugereisten
+Fremden zur Frau zu geben. Der Geliebte griff zur Hellebarde, sie
+bestieg das Wägelchen, in welchem sie allerlei Trink- und Eßbares für
+das Fähnlein mitführte. Übrigens hatte die beiden ein schnellbereiter
+Feldkaplan in christlicher Ehe zu Mann und Frau gemacht. Des Mägdeleins,
+das ihrer Liebe entsprossen, konnte sich der Vater nicht allzulange
+erfreuen; eine Stückkugel zerriß ihm vor den Wällen von Maastricht die
+Brust.</p>
+
+<p>Immecke und ihr Töchterlein Monika blieben dem Regiment treu und zogen
+mit ihm von einem Kriegsschauplatz zum andern. Wo immer die Kartaunen
+rasaunten und die Hakenbüchsen krachten, hielt ihr Wägelchen in der
+Nähe. Manchen Verwundeten hatte sie gepflegt, manchem Sterbenden
+die brechenden Augen zugedrückt. Und es war rührend, wie das rauhe
+Soldatenvolk diese Treue vergalt. Wehe dem, der sich gegen Immecke oder
+ihre Monika vergangen hätte. Die Mutter hatte zwar selbst einen allzeit
+schlagfertigen Mund, um sich etwaiger Ungebührlichkeiten zu erwehren;
+aber dazu wurde ihr kaum Gelegenheit gegeben; sie war Respektsperson im
+ganzen Regiment und besonders des Fähnleins des Hauptmanns Hennecke,
+unter dem ihr seliger Mann gedient hatte und dem sie sich infolgedessen
+auch zugeschrieben erachtete. Selbst der Spitz, der<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> unter dem Wagen
+daherlief, war in diesen Schutz eingeschlossen.</p>
+
+<p>Immecke Rosenhagen gab mehr als einmal die Schlichterin bei bösen
+Händeln ab, wie sie Würfelspiel, Trunkenheit oder die Dirnen des
+Trosses wohl hervorriefen. Hätte sich eins dieser losen Weiber einmal
+unehrbietig gegen Immecke oder ihr Töchterlein benommen, es wäre
+ihm teuer zu stehen gekommen. Die Meuterei, bei welcher der wackere
+Hauptmann Hennecke das Leben eingebüßt hatte, verzieh sie ihren
+Kindern, wie sie ihre Soldaten zu nennen pflegte, lange nicht. Zwar war
+der tödliche Streich nicht von einem Angehörigen des eigenen Fähnleins
+geführt worden. Indes die Leute auch des Hauptmanns Hennecke hatten
+sich an dem Aufruhr beteiligt. Sie selbst war zur Zeit der Tat auf
+Einkauf fortgewesen und hörte erst bei der Rückkehr von dem Tumult.
+Die Tat war geschehen, und den guten Hennecke rief niemand mehr ins
+Leben zurück. Aber den Knechten seines Fähnleins wurde von Immecke eine
+Predigt darob gehalten, die sie lange nicht vergaßen.</p>
+
+<p>»Ihr wollt ehrliche, deutsche Knechte sein? Eidbrüchige Schufte seid
+Ihr, die mit Mordbuben gemeinsame Sache machen, wenn sie die paar ihnen
+zustehenden Gulden nicht sogleich erhalten. Kann der Herr Obrist dafür,
+wenn ihm der welsche Fürst das gegebene Versprechen nicht hält? Hat
+der Hauptmann nicht allezeit wie ein rechter Vater für Euch gesorgt?
+Nun liegt er erschlagen vor Euch, und daheim warten Frau und Kind
+vergeblich auf die Wiederkehr. Pfui über Euch!«</p>
+
+<p>Die Knechte krauten sich verlegen hinter dem Ohr und schlichen beschämt
+zur Seite. Seit dem Tage hatte Immecke sie noch fester in der Hand.
+Sie war die eigentliche Führerin<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> auf dem Marsche in die Heimat, wenn
+auch der Weibel die äußere Leitung beibehielt. Alle waren kriegsmüde,
+die Soldaten wie die Marketenderin. Wo sie ihr Haupt niederlegen würde,
+wußte Immecke noch nicht. Aber sie wollte ihrer Monika eine Heimat
+geben.</p>
+
+<p>Vor dem Wagen, auf dem sie hantierte, standen einige Knechte und
+leerten den Becher mit Branntwein, der ihnen die Morgensuppe ersetzen
+mußte.</p>
+
+<p>»Nun geht's zur Mutter, Immecke«, rief ihr Klaus Bolte zu, der in
+Osterode am Harz zu Hause war.</p>
+
+<p>»Na, die wird sich recht freuen, wenn Du mit Deiner zerhackten Visage
+vor ihr auftauchst. Sieh nur zu, daß wenigstens die Nase wieder etwas
+ins Gerade gerückt wird, sonst läuft selbst der Kater mit Grauen davon.«</p>
+
+<p>»Schadet nichts, Mutter Immecke«, erwiderte Klaus ungerührt. »Freuen
+wird sie sich doch, denn zuletzt ist doch noch manches an dem Kerl
+geblieben, was sich sehen lassen kann. Wird für den verlorenen Sohn
+kein Kalb geschlachtet, so doch hoffentlich ein tüchtiges Stück
+Schinken aus dem Rauchfange geholt. Und der Vater soll's nicht zu arg
+machen. Dem Stöcklein sind wir mit der Zeit entwachsen; könnte uns
+ansonst gleich wieder die Klinke in die Hand drücken. Neugierig bin ich
+nur, wie wohl das Schwesterchen ausschaut, das ich vor Jahren als ein
+kleines Hutzelchen verließ. Muß etwa so alt sein wie Eure Monika. Ob
+sie freilich auch so schier und blank dareinschaut wie diese, weiß ich
+nicht.«</p>
+
+<p>Da lief ein Schmunzeln über Immeckes Gesicht, und sie reichte Klaus
+Bolte einen Becher Branntwein. »Da, nimm's und trink's auf ihr Wohl, so
+verkühlst Du Dir den Magen nicht in diesem Schandwetter. Ansonst die
+Mutter Dich mit<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> Kamillentee zurechtpäppeln muß, statt des Schlegels
+vom geschlachteten Kalbe.« Klaus lachte über das ganze Gesicht und
+setzte den Becher an die ewig durstigen Lippen.</p>
+
+<p>Währenddessen war die Tochter, von der die Rede war, um einen
+Schwerblessierten beschäftigt, der mit noch zwei anderen auf einem
+Beiwagen im Stroh lag. Ihm war bei dem letzten Treffen das linke
+Bein zerschmettert, und die Säge des Feldschers hatte ihm nur einen
+armseligen Stumpf davon übriggelassen.</p>
+
+<p>»Nun, wie geht's mit der Wunde, habt Ihr noch arge Schmerzen?« fragte
+das Mädchen mitleidig, während sie ihm das Strohkissen zurechtrückte,
+daß er bequemer sitze.</p>
+
+<p>»Wie soll's anders sein,« murrte der alte Doppelsöldner, »natürlich
+zwickt's noch höllisch; aber das ist's nicht, was mich niederdrückt.
+Die Aussicht, den Bettelmann künftig zu spielen, als Lump hinter einer
+Hecke zu verrecken, das ist es, was einen ehrlichen Kriegsmann wurmt
+und auffrißt! Man hätte mich verbluten lassen und mit dem, was von mir
+da hinten bei Nanzig blieb, beiroden sollen!«</p>
+
+<p>»Pfui doch, der garstigen Rede«, sagte Monika, während sie begütigend
+über das struppige Haar strich. »Dankt vielmehr Eurem Gott, daß er Euch
+das Leben ließ. Der wird auch weiter für Euch sorgen. Ihr habt doch
+noch Leute zu Hause, die für Euch sorgen werden.«</p>
+
+<p>Der alte Veteran blickte gerührt zu ihr auf. »Du bist doch unser
+Engelein, Monika! Hast recht, so ganz verlassen bin ich nicht. Noch
+lebt mir das alte Mütterlein daheim; die freut sich, bringt ihm der
+Sohn auch statt güldener Ketten und anderer Schätze, die er auszog zu
+erwerben, nur ein Stelzbein mit. Und der Bruder, der das väterliche
+Anwesen erbte und bewirtschaftet, war auch keiner der Schlechtesten.<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span>
+Ist die Frau, die er inzwischen heimführte, von ähnlicher Gesinnung, so
+mag auch bei ihnen ein Plätzchen hinter dem Ofen für mich bereit sein,
+und den Kindswärtel kann ich zur Not auch noch spielen. Sag's nur der
+Mutter nicht, in welcher Laune Du mich getroffen, sonst setzt es noch
+ein Donnerwetter von ihr. Du weißt ja, wie sie ist.«</p>
+
+<p>Immecke war derweil mit einem andern ins Gespräch geraten, der eine
+Binde über dem linken Auge trug.</p>
+
+<p>»Wohl bekomm's, Erdwin Scheffer«, wünschte sie dem Einäugigen zugleich
+mit dem Becher, den sie ihm reichte. »Nun, freust Du Dich, daß wir
+glücklich über den Rhein sind? Jetzt geht's mit Macht der Heimat zu.
+Die Eltern werden sich freuen, wenn sie Dich wiederhaben.«</p>
+
+<p>Ein verbissenes Lachen war die Antwort.</p>
+
+<p>»Natürlich, die werden alle Türen bekränzen, wenn der Hansdampf
+in allen Gassen flügellahm wiederkehrt, der ihnen ausriß, weil es
+ihm daheim zu wohl war und weil er ihren gutgemeinten Plänen nicht
+gehorsamen wollte. Und die Freunde erst und die Jüngferlein, wie werden
+die sich um mich reißen, den Krüppel.«</p>
+
+<p>»Laß die Mutter aus dem Spiel bei Deinem gottlosen Reden«, widerriet
+Immecke ernst und nachdrücklich. »Was weißt Du, was eine Mutter für ihr
+Kind im Herzen trägt.«</p>
+
+<p>Sie kam nicht weiter mit ihrer Ermahnung, denn in diesem Augenblick
+begann am jenseitigen Ufer vor sich zu gehen, worauf alles schon
+wartete. Das Frankentor öffnete sich und ließ die Karren und Wagen
+der flandrischen Kaufleute heraus. Sie rumpelten nacheinander das
+abgeflachte Steinufer zur Fähre herab, die sie übersetzen sollte.
+Man sah, wie die Pferde unruhig aufstiegen, als sie das schwankende
+Gerüst betreten sollten. Dann kam die erste Last über<span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span> den Strom und
+landete nach langer Zeit am Deutzer Ufer. Einmal nach dem andern fuhr
+der Fährmann mit seinen Knechten herüber und zurück, denn der Zug war
+lang, und die Fähre trug nicht mehr als zwei Gefährte zugleich. Es ging
+schon auf den Nachmittag, als der letzte Wagen den Uferrand bei Deutz
+heraufrollte.</p>
+
+<p>Manches derbe Scherzwort fiel bei den Kriegsknechten über das Bild, das
+sich vor ihnen abspielte.</p>
+
+<p>»Was mögen wohl die Ballen und Kisten an Kostbarkeiten bergen?« meinte
+neugierig lüstern Abel Wüstemann aus Zerbst. »Das kann Dir gleich
+sein«, fiel ihm Immecke ins Wort. »Für Dich ist's jedenfalls nicht
+bestimmt. Laß also Deine Gedanken und Finger davon, das rate ich Dir.«</p>
+
+<p>»Nun, nun, man wird doch noch seinen Mund auftun dürfen«, brummte der
+also Gemaßregelte.</p>
+
+<p>»Besser ist's schon, Du befolgst meinen Rat und behältst Deine Gedanken
+für Dich; wir kennen uns doch von Arras her, wo ich Dich durch ein
+gutes Wort vor dem Profosen rettete, als Du ein wenig von des Nächsten
+Gut an Dich gebracht hattest. Ein zweites Mal wird Dir meine Fürsprache
+fehlen. Wir wollen als ehrliche Leute in die Heimat ziehen.« Da schlich
+er beschämt zur Seite.</p>
+
+<p>Verdrossen glitt der Blick Erdwin Scheffers über das Treiben am
+Strande. Unschlüssig stand er da über seine Hellebarde gebeugt, in
+seiner Lässigkeit doch die Kraft verratend, die in seiner schlanken,
+sehnigen Gestalt gefesselt stak. Das hübsche Gesicht wurde nicht einmal
+durch die schwarze Binde merklich entstellt. Die Hand glitt verloren
+durch das Bärtchen, welches die Lippen zierte. Monikas Blick folgte dem
+Abseitsstehenden. Sie wischte sich verstohlen die Augen, die ihr feucht
+geworden waren im Gedanken an<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> sein Unglück; was war aus dem lustigen
+Gesellen geworden, der zu ständiger Kurzweil früher geneigt war. Ihr
+selbst kaum bewußt, schlug ihm ihr junges, unschuldiges Herz entgegen.</p>
+
+<p>Erdwins Gedanken weilten indes weitab von ihr und vom Rhein. Die Berge
+des Harzes stiegen vor ihm auf und die Stadt mit den vielen Türmen,
+aus der er in trotzigem Übermut und Groll entwichen war. Wie mochte
+es jetzt daheim aussehen, was die Mutter sagen und der Vater denken,
+dessen starrer Sinn ihn beim eigenen Handwerk festhalten wollte, um
+ihn durch die Hand der Nachbarstochter noch unlöslicher mit der Heimat
+zu verbinden? Denn er kannte den unruhigen Sinn des Sohnes, der in die
+Ferne strebte und in unklarer jugendlicher Abenteurerlust jenseits der
+Berge die blaue Blume zu pflücken hoffte, von der die Mär erzählte.
+Erdwin hatte längst eingesehen, daß diese Blume im Lande Nirgendwo
+blühe und daß der ehrsame, gestrenge Vater zuletzt doch das Richtige
+mit ihm im Sinn hatte. Aber Trotz und Scham hielten ihn davon ab, als
+reuiger Sohn zurückzukehren, und auch die Aussicht, doch noch das
+Opfer der väterlichen Heiratspläne zu werden. Die breithüftige Maria
+Hellvogt, die man ihm zugedacht hatte, mit den guten, blauen Augen im
+rundlich-dummen Gesicht, konnte ihn auch heute noch nicht locken, zumal
+wenn er sie mit der zierlichen Monika verglich, die ihm in den Jahren
+der gemeinsamen Kriegsfahrt mehr als ein guter Kamerad geworden war.
+Nun kehrte er als ein Schiffbrüchiger heim, und er mußte vorliebnehmen,
+was ihm von der Eltern Gnade übrigblieb, wenn sie ihm nicht gar ganz
+die Tür verschlossen.</p>
+
+<p>Ingrimmig stampfte er mit der Waffe auf; da fiel sein<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span> Blick auf
+einen der Männer, die ihre Rosse von der Fähre die Uferböschung
+hinaufführten: Wenn's nicht gar so närrisch wäre, sollte man meinen,
+das sei ein alter Bekannter von daheim. Noch einmal sah er hin und noch
+einmal. Wahrhaftig, kein Zweifel, das war ja der Heinrich Achtermann,
+des Ratsherrn Sohn, und der da neben ihm, war das nicht Johannes Hardt
+von der Poppenbergstraße? Und schon klang es auch von seinen Lippen:
+»Heinrich Achtermann, Johannes, Herr Johannes Hardt, bist Du es, seid
+Ihr es wirklich?«</p>
+
+<p>Hallo, wer rief hier, in der Fremde, ihren Namen? Heinrich blickte sich
+erstaunt um.</p>
+
+<p>Die Freude, einen Bekannten aus der alten Heimat, einen Jugendgespielen
+unvermutet zu sehen, überwog bei Erdwin jedes andere Gefühl. Eilig trat
+er näher. »Bei Gott, das nenn' ich eine Freude in all der Trübsal«,
+sprudelte er hastig hervor. »Aber sagt, erkennt Ihr mich denn immer
+noch nicht, den Erdwin Scheffer von Sankt Ägidien, mit dem Ihr so oft
+in des Nachbars Garten auf Raub gezogen und der ebensooft vom Vater
+den Buckel zerbleut bekam, weil er dem Stadtweibel eine Nase gedreht
+oder die Zöpfe der dummen Mädel aneinander festgebunden hatte, daß sie
+zeterten und schrien, als sei der Habicht unter die Hühner gestoßen?«</p>
+
+<p>Nun erkannten auch sie den Jugendgespielen, und die Freude war nicht
+minder groß. Das gab ein Fragen hin und her. Über die Heimat wußten sie
+freilich beide wenig Neues; im Vordergrunde standen die Erlebnisse in
+der Fremde.</p>
+
+<p>»Was hast Du denn mit dem Auge?« fragte Johannes.</p>
+
+<p>»Das ist das traurigste Kapitel aus meiner Irrfahrt. Es ist dahin, und
+nicht einmal im ehrlichen Kampfe vor dem<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> Feinde verloren, sondern
+ein eidbrüchiger Schuft stieß mir sein Messer hinein, als ich einen
+ehrlichen Mann, unsern Hauptmann, aus den Krallen der meuterischen
+Knechte befreien wollte. Er hat zwar seine Tat mit dem Leben gebüßt,
+denn die Kameraden schlugen ihm gleich danach den Schädel ein, aber ich
+bin ein Krüppel fürs Leben und weiß noch nicht, wie ich es trage und
+vor die Eltern treten soll, denen ich im aufgeblähten Stolz vor mehr
+als fünf Jahren davonrannte.«</p>
+
+<p>Man sprach ihm gut zu, und die düstere Falte auf der Stirn glättete
+sich allmählich unter dem lebhaften Austausch von gemeinsamen
+Erinnerungen und dem »Weißt Du noch?« »Besinnst Du Dich?« Niemand aber
+war froher als das wackere Paar am Marketenderwagen, als sie sahen, daß
+ihr Liebling wieder etwas frohmütiger dreinblickte, und Monika rechnete
+es dem Heimatsgenossen als besonderes Verdienst an, daß ihm dies
+gelungen war.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span></p>
+</div>
+<p class="drop">Der Zug der Kaufleute hatte das Bergische Land durchquert und war
+in die Soester Börde hinabgestiegen, vorbei an mehr als einem der
+Raubnester, die über den tiefen Taleinschnitt am Felsen klebten wie das
+Nest der Mauerschwalbe. Manch begehrlicher Blick eilte ihnen von da
+oben entgegen und geleitete sie im Vorbeiziehen, aber man wagte sich
+nicht an die Fremden heran, die wie ein kleiner Heereszug stattlich und
+sicher dahinzogen. Es waren der Kaufleute gar viele, die aus Flandern
+und Frankreich solchergestalt ins Reich zogen, denn manche von ihnen
+zogen noch über Goslar hinaus bis Leipzig, um dort auf den großen
+Märkten, den Vorläufern der heutigen Messe, den Warenaustausch bis
+nach dem fernen Osten hin zu vermitteln. Gemeinlich fand nur einmal im
+Jahre ein solcher Zug aus dem Westen her statt. In Goslar hielt man
+sich monatelang auf und handelte dort wie in Braunschweig und anderen
+Städten der Nachbarschaft, bis die Ostgänger wieder zurück waren und
+man nun mit dem begehrten Kupfer und anderen Schätzen die Rückreise
+antreten konnte.</p>
+
+
+<p>In Goslar pflegten die Fremden bei ihren Geschäftsfreunden abzusteigen,
+während die Knechte und Handlungsgehilfen in den Herbergen Unterkunft
+fanden. Manche engen Beziehungen waren so entstanden zwischen Goslarer
+Familien und Häusern in Brabant oder Nordfrankreich. Fäden liefen hin
+und her, die nicht leicht zerrissen. Der bedächtige Kaufmann vertraute
+seine Sachen nicht gern fremden Händen<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> an, und erst wenn das Alter zu
+sehr drückte oder der Sohn und Nachfolger Gewähr bot, daß die Geschäfte
+mit gleicher Gewissenhaftigkeit erledigt werden würden, trat der Alte
+zurück und überließ der jungen Kraft die Beschwerden der Reise. So
+kam es, daß Heinrich und Johannes Hardt auch Bekannte unter ihnen
+antrafen. Da war der weißhaarige Herr Jan Uytersprot aus Brügge, der
+beim Nachbar Borchardt abzusteigen pflegte und sich so gern mit den
+Kindern beschäftigte. Noch heute rechnete es ihm Heinrich hoch an, daß
+er sein Versprechen, ihm einen richtigen Bogen mit Köcher aus Brabant
+mitzubringen, getreulich gehalten hatte. Und Herr Gérard Dietvorst aus
+Dinant und Felix Vandepere aus Löwen und noch andere, sie alle tauchten
+vor ihm mit bekannten Gesichtern auf. Er selbst mußte sich freilich
+ihnen erst wieder in Erinnerung bringen, denn seit der Kindheit war
+manches Jahr dahingerauscht, und den aufwachsenden und in die Fremde
+ziehenden Jüngling hatten sie aus dem Gesicht verloren. Von seinem
+Auftrage war natürlich nicht die Rede, und ihre Geschäfte nahmen sie
+mehr in Anspruch als der Gedanke, wie die jungen Goslarer hier in ihren
+Zug kamen.</p>
+
+<p>In Soest fand Heinrich Achtermann Gelegenheit, die Grüße des Vaters im
+Hause Ernestis zu bestellen und sich zu überzeugen, welches geschäftige
+Leben in der alten Hansestadt pulsierte. Ernestis Wohnwesen stellte mit
+seinen Höfen, Speichern und Stallungen eine Handelsburg für sich dar.
+Der Mann mußte ein ganz Großer unter seinen Berufsgenossen sein!</p>
+
+<p>An der Weser gab es unerwünschten Aufenthalt, denn die Brücke bei
+Höxter war wieder einmal abgetragen oder davongeschwemmt. Argwöhnisch
+schielte man sich von beiden<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> Ufern an: hier die kurmainzischen Mönche
+von Corvey mit den erzbischöflichen Knechten in der Stadt, drüben die
+Mannen des braunschweigischen Vogts. Also galt es, noch einmal auf der
+Fähre den Fluß zu überqueren.</p>
+
+<p>In Köln hatte sich dem Zuge auch ein Händler Hans Römer aus Helmstedt
+angeschlossen, der die günstige Gelegenheit zur Heimreise benutzen
+wollte. Seine Gewandtheit und seine Kenntnis des Flämischen wie des
+Französischen machte ihn zu einem willkommenen Begleiter für diesen
+und jenen der Kaufleute, denen das Deutsch etwas polterig vom Munde
+floß. Dabei war er am Rhein mit Land und Leuten ebenso vertraut wie in
+Westfalen, und seine Beweglichkeit half manchen Zusammenstoß mit den
+Landesbewohnern wie mit Behörden vermeiden. An Heinrich und Johannes
+schien er einen besonderen Gefallen gefunden zu haben. Wo es nur
+anging, hielt er sich in ihrer Nähe auf und verstand es auch meistens,
+in derselben Herberge mit unterzuschlüpfen. Johannes vergalt diese
+Freundlichkeit nicht mit gleichem Entgegenkommen. Es lag etwas im Wesen
+des Mannes, was ihn abstieß; war es der unsichere Blick der ewig auf
+der Wanderung befindlichen Augen oder die aufdringliche Zutraulichkeit;
+er wußte es selbst nicht. Heinrich war weniger mißtrauisch. Seine
+Vertrauensseligkeit hatte bisher noch keinen groben Stoß im Leben
+erlitten. Einmal wurde allerdings auch sein Argwohn rege, als er
+den Helmstedter im Morgengrauen, da alles noch schlief, bei seinen
+Habseligkeiten fand. Römer war um eine Ausrede nicht verlegen, als
+Heinrich ihn fragte, was er an seinen Sachen zu tun habe. Es lag
+natürlich ein Versehen vor, das sich aus dem unsicheren Licht erklärte,
+und tatsächlich befand sich das Bündel des Mannes dicht dabei, so daß
+ein Irrtum möglich war.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span></p>
+
+<p>Der Argwohn erhielt aber neue Nahrung durch eine Mitteilung Erdwin
+Scheffers, dem es Monika Rosenhagen sagte. Sie hatte Römer mehrere Male
+im geheimen Gespräch mit einigen Landsknechten gesehen und dabei auch
+den Namen »Achtermann« deutlich vernommen. Da jener Wüstemann dabei
+gewesen war, dem die Mutter eine unreine Hand nachsagte, so nahmen sie
+an, daß irgendein Schelmenstück geplant werde. Man konnte aber zunächst
+nichts weiter tun, als die Augen offen halten. Und das taten Monika mit
+ihrer Mutter wie Erdwin Scheffer und Johannes Hardt seitdem noch mehr
+als Heinrich selbst.</p>
+
+<p>Die Zahl der Landsknechte verringerte sich inzwischen mählich, aber
+stetig in dem Maße, wie die Heimat des einzelnen näher kam. Als man
+sich dem Harz zuwandte, waren es nur noch ihrer dreißig. Man mußte
+der wilden Schar nachrühmen, daß sie ihre Aufgabe auf der langen
+Reise redlich erfüllt hatte. Freilich hatten die Kaufleute tüchtig in
+den Beutel greifen müssen, aber die Vorsicht lohnte sich doch, und
+man konnte hoffen, die Mehrkosten wiedereinzubringen, sei es durch
+vorteilhafte Einkäufe in Goslar oder durch Aufschlag auf die Waren
+daheim. Ein Jauchzen rang sich von den Lippen Heinrichs, als die Berge
+des Harzes jenseits Gandersheim in der Ferne aufblauten.</p>
+
+<p>»Die Heimat, Kinder, die Heimat winkt uns«, rief er den Gesellen zu,
+die in seiner Nähe gingen.</p>
+
+<p>»Für Dich ja, aber für mich?« erwiderte Erdwin traurig. »Auch für Dich,
+guter Erdwin«, redete Johannes ihm tröstend zu. »Auch für Dich wird
+sich noch alles zum besten wenden. Jetzt freue dich mit uns, daß wir
+dem alten, lieben Goslar näher kommen.«</p>
+
+<p>Man kam durch Ildehausen, wo ehedem Ernestis Ahnen<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> hausten. Vor ihnen
+erhoben sich die Berge in immer machtvollerer Fülle, und dann zogen
+sie in das kleine Städtchen Seesen ein, das die letzte Raststätte vor
+Goslar sein sollte.</p>
+
+<p>In Seesen verließen noch einige Landsknechte die Gesellschaft. Da man
+aber dem Ziel nahe war und die unsicheren Gebiete hinter sich wußte,
+glaubte man das Endstück der Reise unter dem Schutze der eigenen
+Bewaffneten und des Restes der Soldaten wohl zurücklegen zu können.</p>
+
+<p>In diesem Städtchen verschwand auch Römer, und man trauerte dem
+unleidlichen Gesellen nicht nach. Erdwin Scheffer war noch immer nicht
+ganz beruhigt. »Ich kann mir nicht denken, daß der Kerl irgendeinen
+Plan hegte und nun ohne weiteres auf die Ausführung verzichtet, ohne
+den ernstlichen Versuch zu seiner Ausführung unternommen zu haben.«
+Aber Heinrich, wie jetzt auch Johannes, waren guten Mutes, und man
+verließ anderen Morgens die kleine Stadt. Sie hofften, schon in den
+frühen Stunden des Nachmittags in Goslar einzutreffen; doch ein
+Radbruch beim Neuen Kruge gab unliebsamen Aufenthalt, und es sanken
+schon die frühen Schatten des Novembertages herab, als man sich den
+Goslarer Bergen näherte.</p>
+
+<p>Der Vogt des festen Hauses in Langelsheim, das den Braunschweigern
+gehörte, gab mürrischen Dank auf den Gruß, den man ihm bot.</p>
+
+<p>»Wie seine Herren«, sagte Heinrich lachend, dessen frohe Ungeduld mit
+jedem Schritt wuchs. Vor ihnen verließen ein paar Bewaffnete den Ort,
+wahrscheinlich Knechte des Herzogs, die mit Botschaft nach Langelsheim
+gekommen waren oder solche mit sich nahmen. Sie ritten, daß die Funken
+stoben. »Die haben es eilig, daß sie unsere Gesellschaft meiden«, rief
+Erdwin hinter ihnen her.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span></p>
+
+<p>Als man in den hohlen Fahrweg einbog, der das letzte Stück des Weges
+vor Goslar bildete und etwas westwärts vom Kloster Riechenberg begann,
+war die Dunkelheit völlig hereingebrochen. Der Weg führte in der tiefen
+Rinne dahin, die vom Wasser in der Hauptsache gegraben war und ihm auch
+weiter als Abflußrinne diente. Die Wagenknechte suchten fluchend die
+Laternen hervor und hieben auf die müden Gäule ein. Da durchschnitt
+plötzlich ein schriller Pfiff die Luft. An der Spitze des Zuges
+krachten Schüsse, und alles geriet ins Stocken. Von der Höhe sprangen
+Bewaffnete herab und schleuderten Feuerbrände in den Wirrwarr auf der
+Talsohle. Die Pferde scheuten und suchten durchzubrechen. Überall
+Kampfeslärm und Waffengeklirr. Man dachte zunächst nichts anderes, als
+daß man zuletzt doch noch das Opfer eines Überfalls von Strauchdieben
+geworden sei.</p>
+
+<p>Heinrich ritt mit Johannes ziemlich an der Spitze des Zuges; denn die
+Ungeduld trieb sie voran. In ihrer Nähe war auch Erdwin Scheffer mit
+noch anderen Knechten. Sie wollten umkehren, um die Wagen zu schützen;
+aber da traten ihnen mehrere Bewaffnete entgegen. »Der da ist es«, rief
+einer der Fremden mit einer Stimme, die Heinrich bekannt vorkam. Sie
+warfen sich auf ihn und suchten ihn zu überwältigen. Heinrich wehrte
+sich kräftig, doch die Überzahl war zu groß. Ihm schwanden die Sinne,
+er merkte nur noch, daß ihm die Brusttasche entrissen wurde. Da kam
+Hilfe von Erdwin und Johannes, die sich bis jetzt selbst ihrer Gegner
+zu erwehren gehabt hatten. »Dachte ich's doch, daß der Schuft seine
+Hand im Spiele habe.« Damit warf er sich auf die Angreifer und drang
+bis zu Heinrich vor; denn er sah, daß der, den er meinte, es war der
+Helmstedter,<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> mit seiner Beute davonwollte. Da holte diesen ein Schlag
+mit der Hellebarde herab. Mit gespaltenem Schädel sank er zu Boden.</p>
+
+<p>Mit dem Falle des Anstifters schwand auch die Angriffslust der
+übrigen. Sie suchten nur noch ihren Rückzug zu decken und klommen
+kämpfend den steilen Hang hinan. Erdwin, in dem die alte Kampfeslust
+erwachte, drängte hitzig nach. Hier und da krachte noch ein Schuß,
+zersplitterte noch ein Lanzenschaft. Noch ein Feuerstrahl zuckte aus
+einer Hakenbüchse auf, er galt und traf Erdwin Scheffer. Als letzter im
+Kampfe sank er dahin. »Die Tasche!« flüsterte er noch dem Nächsten zu,
+dann brach er zusammen. Man hörte den Galopp von fortjagenden Reitern,
+dann blieb die Nacht allein mit den Überfallenen zurück. Man suchte zu
+ordnen, so gut das bei dem Wirrwarr und der Dunkelheit ging. Johannes
+war um Heinrich Achtermann bemüht, den er für schwerverletzt hielt;
+Erdwin Scheffer blieb zunächst sich selbst überlassen.</p>
+
+<p>Der nächtliche Kampf hatte leider nicht nur blutige Köpfe gekostet,
+einige Knechte waren tot. Verwundete ächzten und riefen um Hilfe.
+Herabgezerrte Warenballen sperrten den Weg. Angstvoll suchte Monika
+im Hohlwege vorzudringen. Ihnen war nichts geschehen, der Angriff
+hatte sich von vornherein auf die Stelle gerichtet, wo man Heinrich
+Achtermann vermutete. Ihre Sorge galt Erdwin Scheffer, dem fröhlichen
+Gesellen mancher kurzweiligen Stunde im Tumult des Krieges, dem
+Geliebten ihres Herzens, wie sie in der Stunde der Gefahr mit
+blendender Klarheit erkannte. Ihr Fuß strauchelte über Wurzeln, sie
+versank in Rinnsale des Weges, aber sie ruhte nicht, bis sie ihn
+gefunden hatte. Und als sie ihn vor sich liegen sah, mit wunder Brust,
+aus<span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span> dem der warme Strahl hervorsickerte, da sank sie mit einem
+Aufschrei über ihn hin.</p>
+
+<p>»Erdwin, mein Erdwin, bleibe bei mir, verlaß mich nicht, Einziger Du!«
+Irre, hilfesuchend blickten ihre Augen umher im Dunkel der Nacht.
+War denn niemand da, der helfen konnte? Da kam die Mutter heran, die
+Vielerfahrene. »Laß ihn mir, Monika. Wenn ihm zu helfen ist, bringe ich
+ihm Rettung.«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span></p>
+</div>
+<p class="drop">Die steile Höhe des Erzweges hinauf, der vom Granetal über das Joch
+zwischen Hessenkopf und Thomas-Martinsberg ins Tal der Gose führt,
+erklangen die Glöckchen der Grautiere, die ihrer Last ledig waren,
+welche sie auf dem geduldigen Rücken von den Gruben des Rammelsberges
+zu den Erzrösten im Granetal geschleppt hatten. Rüstiger schritten
+sie aus, als die Höhe erreicht war. Auf dem Rückwege drückte nur
+leichte Bürde ihren Rücken: Kupferbarren, Bleibrote, der Gewinn aus
+der umständlichen und unvollständigen Art der Verhüttung, waren ihnen
+anvertraut. Vergnüglich klang das »I—ah« des Leitesels in die kühle
+Novemberluft, als wolle er seiner Freude Ausdruck geben über den warmen
+Stall und die gutgefüllte Krippe, die seiner harrten.</p>
+
+
+<p>Unten im Granetal verhallten die letzten Axtschläge der Holzfäller an
+den Berghängen, die in den Waldungen der Silvanen, der Waldherren, das
+Holz fällten, welches zum Rösten und Sintern des Erzes nötig war. Vom
+Glockenbrunnen her, der das klare Wasser des Glockenberges dem Tage
+wiedergibt, lagerten sich die dicken Schwaden schwefligen Rauches über
+der Talsohle, wo die Rosthaufen des Erzes unter der Hut rußiger Wächter
+schwelten.</p>
+
+<p>Zwei Männer verließen die Stätte und wandten sich ebenfalls dem Erzwege
+zu. Mager und langstelzig der eine, kurz und rundbäuchig der andere.</p>
+
+<p>»Gemach, gemach, Nachbar Richerdes«, mahnte der<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> kleine Dicke. »Wir
+wollen kein Wettrennen veranstalten. Ihr kommt noch rechtzeitig in der
+Bergstraße an, um Euch von der Eheliebsten den Abendtrunk kredenzen zu
+lassen.«</p>
+
+<p>Der Lange verhielt etwas im Schritt, bis der Begleiter ihn wieder
+eingeholt hatte. »Wollte hoffen, es wäre so«, sprach der Hagere
+grämlich. »Aber Ihr wißt doch, daß die Frau seit Monaten siecht. Zu
+Hause sehe ich schon lange kein fröhliches Gesicht mehr.«</p>
+
+<p>»Entschuldigt, Nachbar, es war nicht böse gemeint«, begütigte der
+Waldherr Ludecke Bandelow. »Ihr habt aber doch wenigstens die Venne;
+die muß Euch doch ein wahrer Augentrost sein in diesem Ungemach, Euch
+und Eurer Frau.«</p>
+
+<p>»Ich will es nicht leugnen und danke Gott, daß er sie uns schenkte
+für diese Zeit der Trübsal, doch lange wird ihr jugendlicher Frohsinn
+auch nicht mehr vorhalten, fürchte ich. Die Mutter aufheitern und den
+grämlichen Vater beruhigen, das ist nicht Jugendarbeit auf die Dauer.
+Ihr seht, ich male mich selbst nicht schöner, als ich bin. Aber der
+Henker soll auch die gute Laune behalten bei all dem Ärger mit dem
+Berge und dem Rat.«</p>
+
+<p>»Wie steht Ihr denn jetzt mit ihm?« forschte Bandelow.</p>
+
+<p>»Das könnt Ihr Euch leicht vorstellen, solange Karsten Balder
+regierender Bürgermeister ist. Ihr wißt ja, wie er es, offen und
+versteckt, gegen mich hat, er wie seine Freunde. Sein Gelüste kenne
+ich, ihm steht der Sinn nach meiner Gerechtsamen; die Ursachen liegen
+tiefer: mich trifft er, aber eine andere will er treffen.«</p>
+
+<p>»Ich weiß, ich weiß, es gilt Eurer ...«</p>
+
+<p>»Wozu die Namen?« unterbrach ihn Richerdes, »das ändert nichts an der
+bestehenden Gegnerschaft. Die Hauptsache ist, daß man den Gegner als
+solchen kennt.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span></p>
+
+<p>»Ja, das ist das schlimme, daß es möglich ist, ehrsamen und
+pflichttreuen Bürgern das Leben schwer zu machen unter der Flagge
+der Fürsorge für die Stadt. Eine nette Fürsorge das, die darauf
+hinausläuft, einem das bißchen Eigentum zu nehmen. Das scheint ja
+freilich im Zuge der Zeit zu liegen; denn wie man bestrebt ist, Euch
+die Berg- und Grubengerechtsame abzujagen, so will man uns unsere
+wohlerworbenen Anrechte auf die Forst abnehmen. Aber gebt nicht nach,
+keinen Zoll breit. Mit uns hat es der wohlweise Rat ja ähnlich vor;
+solange ich jedoch da bin, erhält er nichts.«</p>
+
+<p>»Nun, ›abjagen‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort,« fiel Richerdes
+ein, »Ihr wißt ja, daß er mich und andere auskaufen will. Daß der Preis
+nicht zu hoch gehalten ist, dafür sorgt aber schon der Regierende. Es
+sei im Interesse der Stadt, der Allgemeinheit, so bemänteln sie es
+gar schön. Aber ich kann und will das nicht einsehen. Weshalb soll
+denn jetzt auf einmal verkehrt sein, was man vor nicht gar zu langer
+Zeit selbst betrieb. Damals, als es hieß, Geld zu finden, Gewerke
+zusammenzubringen, war mein Vater gut genug zur Hergabe des Geldes. Ich
+weiß von ihm selbst, wie er sich gesperrt und gesträubt hat, ehe er
+den Beutel zog. Damals drängte und mahnte der Rat, es sei eine Tat für
+das Gemeinwohl; jeder Bürger, der es könne, müsse einspringen. Jetzt
+wollen sie es nicht recht haben, jetzt, wo die Sache nach den vielen
+Scherereien und Opfern sich als ergiebig zeigt.«</p>
+
+<p>»Das ist's, damit habt Ihr ins Schwarze getroffen: sie gönnen Euch den
+Gewinn nicht, und da muß das Gemeinwohl herhalten. Bleibt nur fest wie
+ich. Meinen Anteil an der Forst bekommen sie nicht, und wenn sie noch
+so viel darum tun. Recht muß Recht bleiben.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span></p>
+
+<p>So tauschten die beiden wackeren Bürger ihre Meinungen aus über den
+habgierigen Rat, wie sie sein Vorgehen deuteten, und stiegen von
+der Höhe herab, vorbei an der Ratsschiefergrube, die schon von den
+Werkleuten verlassen wurde; denn die Schatten des Abends sanken
+immer mehr herab. An der Gose entlang klapperten der Wassermühlen
+unermüdliche Räder.</p>
+
+<p>An dem Stadtgraben trennten sie sich mit einem Handschlag, denn
+Bandelow hoffte noch durch das Mauerpförtchen an der Frankenberger
+Kirche Einlaß zu gewinnen, die ragend und dräuend von der Höhe durch
+das Grau des Abends herabdämmerte. Richerdes aber folgte der Fahrstraße
+zum Klaustor, die seiner Wohnung in der Bergstraße näher lag.</p>
+
+<p>Das Haus in der unteren Bergstraße war schon versperrt. In der
+Dunkelheit des Abends konnte man von ihm nicht mehr erkennen als die
+gewaltigen Umrisse, die in der engen Straße doppelt stark wirkten.
+Ein großer Torweg zu oberst war schon verschlossen, wie Richerdes
+feststellte; also mußte er den Klopfer des Haustores in Bewegung
+setzen, daß ihm Einlaß wurde. Die Hausglocke schnepperte noch eine
+Weile in immer mehr verklingenden Tönen nach, als er über den mit
+Steinplatten abgedeckten Hausflur schritt, um noch einen Blick auf den
+Hof und in die Stallungen zu werfen.</p>
+
+<p>»Ist Besonderes vorgekommen?« fragte er eine Magd, die ihm begegnete.
+»Nein, nur die Frau hat des öfteren nach Euch gefragt.« Da gab er sein
+Vorhaben auf und wandte sich sogleich der Wohnung zu, die um wenige
+Stufen höher, zur Seite des Flures lag. In dem großen Wohnzimmer
+sandten die Kerzen eines mehrarmigen Leuchters ihre Strahlen umher.
+Sie scheiterten indes bei dem Versuch,<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> bis in die dunkeln Ecken des
+Gemaches zu dringen. So dunkel war es nach der Rückwand zu, daß man
+kaum die Tür bemerkte, welche dort in die Schlafkammer führte. Sie
+öffnete sich in diesem Augenblick, und Venne, die Tochter, trat heraus,
+um den Vater zu begrüßen, da sie die Hausglocke gehört hatte.</p>
+
+<p>»Wie geht es der Mutter?« war die erste Frage.</p>
+
+<p>»Sie ist etwas unruhig, seit Ihr fort seid. Ich war froh, daß in Eurer
+Abwesenheit Schwester Jutta vom Kloster Mariengarten hier war. Ihr
+wißt ja, daß sie auf Mutter immer einen wohltätigen Einfluß ausübt.
+Auch heute legte sich unter ihrem gütigen Zuspruch die Gespanntheit
+der Nerven. 's ist eine gute Frau, diese Jutta; wir schulden ihr einen
+Gotteslohn. Ist es nicht gerade, als ob unter ihrer kühlen Hand und dem
+gütigen Trostwort alles Ungemach davonfliege?«</p>
+
+<p>»Ja, wir haben allen Anlaß, ihr dankbar zu sein in dieser schweren
+Zeit«, antwortete der Vater. »Ich weiß nicht, wer durch diese treue
+Freundschaft mehr geehrt wird, die Mutter, der die fromme Frau auch
+unter dem Schleier noch die Zuneigung bewahrt, oder jene selbst, deren
+edle Eigenschaften durch diese Pflege alter Beziehungen in ein um so
+schöneres, helleres Licht gerückt werden. Aber jetzt geht es ihr doch
+besser, der Armen, Leidgeprüften?« fragte er besorgt.</p>
+
+<p>»Sie schläft. Ich mußte sie über Euer langes Ausbleiben beruhigen,
+wolltet Ihr doch schon am Nachmittage zurück sein.«</p>
+
+<p>»Wollte ich auch, und wäre ich auch, wenn ich nicht den Montanen, Herrn
+Bandelow, getroffen hätte, mit dem es ein langes und breites über
+Holzleistungen und -lieferungen<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> zu besprechen gab, und auch sonst ist
+noch manches zwischen uns beredet worden.«</p>
+
+<p>»Dachte ich's mir doch, daß Ihr einem Schwätzer wie dem in die Hände
+gefallen wäret. Laßt Euch mit dem nur nicht zu sehr ein; ich werde die
+Sorge nicht los, daß Euch und uns durch seine Einmischung zuletzt noch
+Übles widerfährt«, hielt Venne dem Vater entgegen.</p>
+
+<p>In Richerdes' Augen war ein froher Glanz getreten, als er die Tochter
+bei ihrem Eintritt ins Zimmer mit dem Blick umfaßte. Der ganze Mann
+schien geändert, seitdem er das Zimmer betreten hatte; nichts mehr von
+der düsteren, grämlichen Stimmung, die ihn im Gespräche mit Bandelow
+beherrschte. Es war für ihn ein ungeschriebenes Gesetz, alles, was er
+an Verärgerung draußen erlebte, nicht über die Schwelle des Hauses
+dringen zu lassen. Nur über seine Gegensätze zu dem regierenden
+Bürgermeister war die Tochter durch die Mutter unterrichtet. Darauf
+bezogen sich auch wohl ihre besorgten Worte. So lautete auch die
+Erwiderung auf Vennes letzte Worte mehr zärtlich freundlich als
+abweisend:</p>
+
+<p>»Du gibst es ja Deinem alten Vater tüchtig, kleiner Schulmeister; doch
+sei unbesorgt, was ich mit Bandelow besprochen habe, brauchte nicht
+das Licht zu scheuen. Daß er den Mund gern etwas voll nimmt, weiß
+ich besser als Du und richte mich von vornherein darnach. Aber das
+Geschäftliche muß schon mit ihm beredet werden; und Du weißt ja, daß
+er mein hauptsächlicher Holzlieferant ist. Die Verhältnisse im Berge
+liegen leider so, daß ich mehr auf ihn angewiesen bin, als mir lieb
+ist. Doch nun genug vom Geschäft und seinem Ärger.«</p>
+
+<p>Venne strich ihm zärtlich über das Haar. Es war ein<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> großes, schlankes
+Mädchen, das hier von dem gelben Lichte der Kerze übergossen wurde.</p>
+
+<p>Wer die Venne Richerdes nach dem Bilde sich vorstellte, welches
+Heinrich Achtermann von ihr mit in die Fremde nahm, würde sie kaum
+wiedererkannt haben. Nur die stolze Haltung des Köpfchens und die
+seelenvollen Augen, über die im Augenblick noch ein Schatten der Trauer
+um die kranke Mutter gebreitet lag, erinnerte an die Venne von ehemals.
+Aus der unscheinbaren Puppe hatte sich ein glänzender Schmetterling
+entwickelt. Nichts mehr gemahnte bei Venne an das eckige, unbeholfene
+Ding, das vor Heinrich Achtermann davongelaufen war.</p>
+
+<p>Das lang herabwallende, faltige Hausgewand, das sich lose um die
+königliche Gestalt schmiegte, ließ die edlen Formen des Körpers
+erraten. Mit lässiger Anmut bewegte sie sich um den Vater, während sie
+mit der klangvollen Stimme ihm Rede und Antwort stand auf seine Fragen.</p>
+
+<p>»Soll ich uns den Abendtisch decken lassen?« fragte sie weiter. In
+diesem Augenblick erklang durch die angezogene Tür des Schlafgemaches
+die Stimme der Kranken, die nach dem Vater fragte. Statt der Antwort
+trat dieser sogleich zu ihr herein. Behutsam beugte er sich zu ihr
+nieder, und alle Zartheit und Liebe, die er für diese Frau empfand,
+klang aus seiner Stimme. Sie mußte ehedem eine schöne Frau gewesen
+sein; jetzt lagen die Schatten der langen Krankheit auf ihrem blassen
+Gesicht. In Venne stand ihr verjüngtes Ebenbild vor ihr. Nur ein
+leichter, kritischer Zug um den Mund unterschied diese von der Mutter.
+An der Kranken war, von dem leidenden Zug abgesehen, der seine Runen
+in ihr Antlitz gegraben hatte, alles Weichheit, Hingabe, während Venne
+über eine nicht alltägliche Entschlossenheit<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> gebot, die ihr, dem
+jungen Mädchen, den Gehorsam des Hauspersonals sicherte, vom letzten
+Eseltreiber bis zur alten Katharina in der Küche, ihrer Kindsmagd, mit
+der sonst niemand anzubinden wagte und von der selbst der gestrenge
+Hausherr ein Wort mehr annahm, als er sonst von irgend jemand gelten
+ließ.</p>
+
+<p>»Wie geht es Dir, Liebste? Ich höre von Venne, daß Du wieder besonders
+mit Dir zu tun gehabt hast. Schwester Jutta hatte ja, wie so oft, ihr
+Bestes an Dir getan, aber soll ich nicht doch noch den Doktor Henning
+holen lassen?«</p>
+
+<p>»Nein, nein, ich bitte Dich. Mir ist jetzt nach dem kurzen Schlaf sehr
+wohl. Es war auch weniger das Leiden, das mir zusetzte, als eine innere
+Unruhe, die wuchs, je länger Du ausbliebest. Es lag auf mir wie die
+Vorahnung von einem Unheil.«</p>
+
+<p>»Nun bekomme ich von Dir auch noch eine Strafpredigt,« scherzte
+Richerdes gutlaunig. »Vorhin hat mich Venne schon ins Gebet genommen.
+Wenn ich nun Besserung gelobe für die Zukunft, willst Du dann auch mein
+braves Weib sein und Dich alsogleich völlig beruhigen?«</p>
+
+<p>Ihm zärtlich von ihrer Lagerstätte zunickend, ließ sie den Blick an
+seiner hohen Gestalt emporgleiten. Ein leiser Seufzer entrang sich
+ihrer Brust. »Was hast Du noch?« fragte er aufs neue besorgt. »Nichts,
+es ist nur der Kummer, daß ich Euch das Leben mit meinem Siechtum
+belaste. Ihr könnt das gar nicht auf die Dauer ertragen.«</p>
+
+<p>»Das ist mir das rechte Medikament«, rief der Gatte gutmütig polternd.
+»Jetzt habe ich meine ganze ungeschlachte Liebenswürdigkeit an diese
+eigensinnigste aller Frauen verschwendet,<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> um nun zum Dank von ihr zu
+hören, daß sie uns lästig falle. Nun sprich Du ein Machtwort, Venne;
+vielleicht, daß Du Dir mehr Respekt verschaffst.«</p>
+
+<p>Venne umschlang die geliebte Mutter zärtlich behutsam und barg ihr
+Gesicht an der Wange. »Ach, böses, liebes Mütterlein, der Vater hat
+nur zu recht. Wie sollten wir unsere Liebe zu Euch besser zum Ausdruck
+bringen, als daß wir Euch umhegen und umgeben mit unserer Pflege. Ihr
+sollt uns ja bald gesund sein und werdet uns gesunden; aber, daß ich's
+sage, Gott verzeihe mir die Sünde: ich wünschte nicht, daß Ihr krank
+gewesen wäret oder je wieder würdet; doch desungeachtet möchte ich,
+und der Vater gewiß mit mir, nicht diese Zeit missen, wo wir Euch Eure
+Liebe wenigstens zu einem kleinen Teile vergelten konnten. Nun fügt
+Euch nur noch eine kurze Zeit unserer strengen Vormundschaft, und dann
+wird eines Tages mein Mütterlein wieder rüstig und flink durchs Haus
+trippeln, und wir werden uns auf die Bärenhaut legen; gelt, Vater?«</p>
+
+<p>Gerührt blickte die Kranke auf ihr Mägdelein, und eine Träne rann über
+die blasse Wange.</p>
+
+<p>Ach, wenn es doch so käme, wie Venne es ihr prophezeite!</p>
+
+<p>In diesem Augenblick wurden sie durch wirren Lärm von der Straße
+aufgescheucht. Stimmen und Schreie erklangen durcheinander, und alsbald
+erhob die Sturmglocke der benachbarten Marktkirche ihre wimmernde
+Stimme. Angstvoll schrak die kranke Frau zusammen und griff nach dem
+Herzen. Venne eilte ihr sogleich zu Hilfe. Auch ihr wie dem Vater war
+sehr bange, denn man glaubte nicht anders, als im nächsten Augenblick
+das gefürchtete »Feuerjo« draußen zu hören, welches verriet, daß der
+schlimmste Feind der<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> mittelalterlichen Städte sein rotes Banner auf
+den Dächern der Stadt aufgepflanzt habe. Richerdes, der zu den Führern
+der Feuerwehr gehörte, die pflichtmäßig alle nicht bresthaften Bürger
+mit den ledernen Feuerlöscheimern zur sofortigen tätigen Hilfe bei
+Ausbruch eines Brandes veranlaßte, stürzte nach einem kurzen, hastigen
+Abschiedswort davon und ließ die Frauen in banger Spannung zurück.
+Der Lärm draußen verlor sich bald, und auch das Gewimmer der Glocke
+erstarb. Die Annahme, daß eine Feuersbrunst ausgebrochen war, schien
+demnach irrig zu sein; wahrscheinlich handelte es sich um irgendeinen
+Angriff oder Überfallversuch, wie die unruhigen Zeiten ihn nicht
+selten brachten. In angstvoller Erwartung harrten die beiden Frauen
+der Rückkehr des Vaters und Gatten. Endlich, viel zu spät für ihre
+Ungeduld, ertönte der Klopfer, und Venne beeilte sich, zu öffnen, da
+das Gesinde inzwischen zur Ruhe gegangen war. Der Überfall auf die
+flandrischen Kaufleute bei Riechenberg hatte den Tumult veranlaßt.
+Noch kannte man nicht alle Einzelheiten. Es sollte viele Tote und
+Verwundete gegeben haben und Plünderung der Waren, wie das Gerücht
+bei solchen Anlässen zu wüten pflegt. Die Kunde war von einem Knechte
+überbracht worden, der auf schweißbedecktem Roß vor dem Sankt-Viti-Tor
+in der Dunkelheit auftauchte und um eilige Hilfe und Schutz bat. Die
+Stadtsoldaten unter ihrem Hauptmann und ein großer Haufen bewaffneter
+Bürger waren sofort ausgezogen, und zur Stunde, so durfte man hoffen,
+hatten die Bedrängten schon Hilfe gefunden, und sie selbst waren unter
+sicherer Bedeckung im Anzuge gegen die Stadt.</p>
+
+<p>Richerdes kehrte nur zurück, um die Frauen zu unterrichten und sie zu
+beruhigen. Er verließ bald darauf wieder<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> das Haus, um den Ausgang
+und weitere Aufklärung des Falles zu erfahren. Auch bei ihm sprach
+seit Jahren einer der Kaufleute vor, der auch dieses Mal dabeisein
+mußte. Noch mehr Grund also, zur Stelle zu sein, wenn die Überfallenen
+ankamen, um dem alten Geschäftsfreunde zugleich hilfreich zur Seite zu
+stehen, wenn er die Stadt betrat.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span></p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span></p>
+</div>
+<p class="drop">Im Kamin prasselte ein lustiges Feuer und verbreitete eine angenehme
+Wärme über den Raum, in dem die Familie Richerdes am reichgedeckten
+Frühstückstisch mit dem Gaste, Herrn Emile Delahaut aus Dinant, saß.
+Das Gespräch drehte sich natürlich um den gestrigen Überfall. Er war
+so weit geklärt, daß man wußte, das Stücklein ging, wie man gleich
+vermutete, von dem berüchtigten Bandenführer Hermann Raßler aus,
+der, wie jedermann bekannt war, im geheimen Dienste des Herzogs von
+Braunschweig stand und die Goslarer schatzte, daß ihnen der Atem
+auszugehen drohte. Zwei seiner Knechte, mit denen er den frechen
+Überfall gewagt hatte, blieben verwundet in den Händen der Goslarer,
+und aus ihrem Munde erfuhr man alle Einzelheiten. Demnach war der
+eigentliche Urheber des verruchten Planes jener Händler aus Helmstedt,
+der selbst bei der Tat seinen Lohn erhalten hatte. Er traf morgens in
+aller Frühe in Riechenberg ein, wo man ihm den Schlupfwinkel Raßlers
+anzeigte. Die Knechte, die beim Herannahen des Zuges in Langelsheim so
+eilig Fersengeld gaben, waren Kundschafter, die melden sollten, wann
+mit dem Eintreffen am Hohlwege zu rechnen sei. Es stellte sich nunmehr
+als sicher heraus, daß der ganze Überfall nicht den Kaufleuten, sondern
+Heinrich Achtermann gegolten hatte und jedenfalls dazu dienen sollte,
+ihm das wichtige Dokument abzunehmen. Was unterwegs mit List nicht
+gelungen, das wollte man zum Schluß mit Gewalt herbeiführen.</p>
+
+
+<p>Damit war auch der Auftraggeber ohne weiteres erkannt: es konnte
+nur der Braunschweiger sein, dem an der Vernichtung des päpstlichen
+Schreibens allein lag. Durch seine Spione in der Stadt mußte er
+irgendwie von dem Auftrage und dem Wege der Heimreise Heinrichs Kunde
+erhalten haben und hatte danach seine Maßnahmen getroffen. Sein
+unmittelbarer Vorfahre, Heinrich der Ältere, hatte den besonderen
+Schutz der Stadt Goslar noch für 400 Gulden im Jahre 1497 auf zehn
+Jahre übernommen. Die Herzöge Philipp und Erich ließen sich noch vom
+Jahre 1500 ab zehn Jahre lang für die gleiche Leistung 1200 Gulden
+im voraus geben. Heinrich der Jüngere trat in diesen Vertrag ein.
+Das hinderte ihn aber nicht, im geheimen seine Blut- und Beutehunde
+gegen die Stadt loszulassen. Der Streich war mißglückt, doch man
+wußte, wessen man sich in Goslar von dieser Seite zu versehen hatte
+trotz aller Schutzbriefe. Da der Angriff auf herzoglichem Gebiete
+erfolgte, der Nachweis geführt war, daß Raßler der Anstifter gewesen
+und offenbar bei den dem Herzoge befreundeten Mönchen von Riechenberg
+Unterstützung genossen hatte, ging ein geharnischter Protest des Rates
+nach Wolfenbüttel ab, wo der Herzog residierte. Der Erfolg war freilich
+vorauszusehen. Der Herzog lehnte mit der für diesen Fall gebotenen
+Entrüstung jede Mitwissenschaft und Teilnahme ab. Die wirklich
+Leidtragenden waren die beiden Schelme, die man gefangen hatte; sie
+baumelten bald darauf am Galgen, der sein Gerüst auf dem Georgenberge
+drohend ins Land reckte.</p>
+
+<p>Auch der Fremden wegen erhob man den Einspruch beim Herzoge, um ihnen
+zu zeigen, daß man alles tue, um ihnen Genugtuung zu geben. Denn sie
+führten natürlich auch ihrerseits, sei es auch nur, um ihr Geschäft
+günstig zu beeinflussen,<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> bewegliche Klage über die erlittene Unbill
+und die Unsicherheit der Wege in unmittelbarer Nähe der Stadt; Schaden
+an Eigentum war kaum erlitten, abgesehen von einigen Warenballen,
+die von den Wagen gestürzt und etwas beschädigt waren. Dem Anschein
+nach hatten die Raubgesellen, obwohl ihr Auftrag nur dahin ging, sich
+des goslarschen Gesandten zu bemächtigen, doch ihrer oft bewiesenen
+Beutelust nicht widerstehen können, zu nehmen, was sich ihnen bot. Der
+steile Hang und der fluchtartige Rückzug hinderten sie dann aber an der
+Mitnahme.</p>
+
+<p>Über der Besprechung des gestrigen Ereignisses vergaß man nicht, den
+guten Sachen Ehre anzutun, die der Tisch bot. Venne ging ab und zu, um
+nach der Mutter zu sehen und den Mägden eine Anweisung zu geben. Im
+hellen Licht des Tages sah man erst, welch vollendete Schönheit sie
+war. Die Anmut ihrer Bewegungen, der Wohllaut ihrer Stimme vereinigten
+sich gleichermaßen, um den Fremden gefangenzunehmen.</p>
+
+<p>»Wetter noch einmal,« warf er dem Gastfreunde zu, als Venne sich auf
+einen Augenblick entfernt hatte, »ist das ein Mädel geworden, seit ich
+sie zuletzt sah! Wie das den Kopf trägt und sich bewegt! Wahrhaftig,
+wenn ich nicht schon ein alter Knabe wäre, könnte mich Eure Venne noch
+zu Abenteuern verleiten. Verwahrt den Schlüssel zu ihrem Herzen gut,
+sonst fliegt sie Euch über Nacht davon. Lange werdet Ihr sie sowieso
+nicht mehr halten, sonst müßten Eure Jungen hier Fischblut in den Adern
+haben.«</p>
+
+<p>Richerdes lächelte behaglich zu dem Lobe der Tochter: »Vorläufig
+scheint ihr selbst noch wenig an dem Ausfluge aus dem Elternhause zu
+liegen, dazu hält sie die Pflege der kranken Mutter viel zu fest.
+Findet sich aber einmal der<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> Rechte, so werden wir sie nicht halten
+wollen. Denn es ist der Eltern wie der Kinder Los, sich trennen zu
+müssen, wenn sie des anderen Wert erkennen.«</p>
+
+<p>Man kam noch einmal auf das gestrige Abenteuer zu sprechen und auf
+die Goslarer, die dabei zu Schaden gekommen, Heinrich Achtermann und
+Erdwin Scheffer. Dieser, der Sohn eines achtbaren Mitgliedes der
+Schustergilde, war am übelsten davongekommen, und man wußte nicht, ob
+er am Leben bleiben werde. Heinrich Achtermann dagegen hatte, wie es
+hieß, keinen ernsten Schaden erlitten. Durch das Würgen der Angreifer
+und den Sturz auf einen Stein verlor er die Besinnung. Als die Hilfe
+aus der Stadt kam, war er schon wieder zum Bewußtsein zurückgekehrt.</p>
+
+<p>Nach dem Frühstück gingen die Herren zum Geschäftlichen über. Da
+schlüpfte Venne aus dem Hause, um sich in der Stadt umzuhören und bei
+den Achtermanns vorzusprechen, die mit ihrer Familie befreundet waren.
+Sie wurde beim Eintritt ins Haus von der Schwester Heinrichs begrüßt.
+Von ihr vernahm sie, daß es dem Bruder schon wieder leidlich gehe, und
+sie konnte sich selbst davon überzeugen, denn sie traf ihn im Zimmer,
+wo er mit den Eltern und dem flandrischen Gastfreunde zusammen saß.
+Die überstandene Gefahr hatte keine Spur zurückgelassen, außer einer
+leichten Blässe im Gesicht.</p>
+
+<p>Als Venne ihn unvermutet vor sich sah, war sie einen Augenblick
+befangen, denn die Stunde stand ihr vor Augen, als sie zuletzt die
+Flucht vor ihm ergriff. Sogleich stieg auch der alte Trotz wieder in
+ihr auf, und das herzliche Wort, das sie ihm zur Begrüßung gönnen
+wollte, wurde zu einem kühlen Gruß. Heinrich glaubte seinen Augen
+nicht trauen zu dürfen, als Venne eintrat, ja, er, der nie Verlegene,<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span>
+starrte sie einen Augenblick wie entgeistert an: War denn dieses
+Mädchen von vollendeter Schönheit das hagere, eckige Ding, das er
+vor langem verlassen hatte? Und er wäre nicht der Mann mit dem für
+Frauenschönheit empfänglichen Herzen gewesen, wenn nicht dieses holde
+Menschenkind sogleich in ihm höchste Bewunderung mit der Regung jener
+Sehnsucht gepaart hätte, die der Schönheit im eigenen Herzensschrein
+einen Altar zu errichten gewillt ist. Er war bisher der Schmetterling,
+der an allen Blüten naschte. Für die reizenden Bologneserinnen
+schwärmte er, der lebensfrischen Richenza Walldorf flog sein Herz
+entgegen, aber ihre Spur war verwischt, ausgelöscht vor dem wundersamen
+Geschöpf, das da vor ihm stand. Wie ein Schlag durchzitterte es seine
+Brust: Die hält Dein Schicksal in ihrer Hand, Venne Richerdes mußt Du
+besitzen oder keine!</p>
+
+<p>So standen beide sich einen Augenblick verwirrt gegenüber. Venne
+sah seine Blicke auf sich gerichtet, aber sie ahnte nicht, welche
+Gefühle ihn durchzitterten. Da fand Heinrich zuerst das Wort. Um seine
+Befangenheit zu meistern, griff er zu dem alten Mittel tändelnden
+Scherzes und war dabei in Gefahr, alles schon im ersten Augenblick zu
+verderben.</p>
+
+<p>»Euch trieb gewiß die Angst um mein Befinden hierher, aber Ihr seht ja,
+Unkraut vergeht nicht.« Venne suchte sich sogleich mit ihrer ganzen
+kühlen Unnahbarkeit zu wappnen. »Ihr irrt Euch; ich kam vor allem, um
+Eure Schwester zu besuchen. Daß mich auch Sorge um Euch erfüllte, will
+ich nicht leugnen; aber ich sehe ja, daß Ihr wohlauf seid, so will ich
+Euch auch mit meiner Teilnahme nicht lästig fallen.«</p>
+
+<p>»Gut gegeben, Jungfer Dornenhag«, antwortete Heinrich<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> munter lachend.
+»Aber um Euch zu versöhnen, will ich Euch auch etwas Angenehmes sagen.
+Ratet nur, was!«</p>
+
+<p>»Ich bin nicht allzu begierig darauf, denn ich versehe mich keiner
+besonderen Schmeicheleien von Euren Lippen«, entgegnete Venne halb
+ablehnend.</p>
+
+<p>»Eine Schmeichelei ist's auch nicht, aber ein schöner, herzlicher
+Gruß von Eurem Oheim Ernesti. Eigentlich sollte ich auch den
+dazugehörigen Kuß mit überbringen,« log er hinzu, »aber das habe ich
+als lebensgefährlich abgelehnt.« Venne achtete auf die letzten Worte
+kaum noch. »Vom Oheim Ernesti und der Muhme wahrscheinlich? Oh, das
+ist schön. Erzählt doch nur gleich, wo Ihr ihn trafet und wie Ihr sie
+fandet.« Und Heinrich berichtete ausführlich über sein Zusammensein mit
+dem Oheim und seine Aufnahme in Soest.</p>
+
+<p>In diesem Augenblick trat Johannes Hardt ins Zimmer, der ebenfalls kam,
+um sich nach dem Befinden des Freundes zu erkundigen. Der Ratsherr
+forschte nach allen Einzelheiten der Reise und kam dann von Ernesti
+und dem gestrigen Überfall auf die Zeitläufte zu sprechen. Da überließ
+die Jugend die Alten ihren ernsten Gesprächen. Die Mädchen schlüpften
+hinaus in das Zimmer der Schwester. Für heute erhielten auch Heinrich
+und Johannes dort Zutritt, denn man war doch gar zu begierig, über ihre
+Erlebnisse im Wunderlande Italien Einzelheiten zu erfahren. Und die
+beiden Wanderer erzählten und erzählten, und ihre Zuhörerinnen wurden
+nicht müde, ihnen zuzuhören.</p>
+
+<p>»Aber eins fällt uns auf,« warf Venne, zu Johannes gewendet, schalkhaft
+ein. »Von den schönen Bologneserinnen haben wir bis jetzt gar nichts
+vernommen. Sind sie ausgestorben,<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> oder habt Ihr ihnen dauernd Eure
+Gunst vorenthalten? Das wäre ja ein gräßliches Verbrechen.« Einen
+Augenblick wollte der junge Mann erröten, aber schon kam ihm Heinrich
+zu Hilfe: »Es gibt ihrer noch genug,« antwortete er, »sogar recht
+liebreizende, aber unsere Beziehungen zu ihnen werden wir Euch erst
+enthüllen, wenn Ihr uns verratet, in welchen Herzen Ihr Vernichtung
+angerichtet habt.«</p>
+
+<p>»Da werde ich lange auf Eure Enthüllungen warten können, denn ich bin
+mir nicht bewußt, irgendeinem Herzen Unglück zugefügt zu haben.«</p>
+
+<p>»Na, na,« warf da die Schwester lächelnd ein, »glaubt ihr nicht so
+ohne weiteres. Sie ist eine Heimliche. Ich möchte die Seufzer nicht
+auf meinem Herzen tragen, die ihr nachgeklungen sind. Und sie ist
+auch selbst nicht unversehrt geblieben, will mir scheinen. Ich müßte
+sonst die mancherlei Fragen mißdeuten, die sie immer wieder über einen
+gewissen abwesenden jungen Herrn stellte. Soll ich Namen nennen,
+Venne?« fragte sie neckend.</p>
+
+<p>»Daß Du Dich nicht unterstehst, du Garstige«, wehrte diese lachend ab,
+während ein tiefes Rot über ihre Wangen flammte. Die Verwirrung erhöhte
+noch ihre Lieblichkeit. »Zur Strafe für diese Verleumdung will ich
+auch gleich aufbrechen.« Aber sie gab doch dem Widerspruch der anderen
+nach; es hätte ja auch zu sehr nach einem Zugeständnis ausgesehen; und
+man blieb noch eine kurze Zeit in traulichen Gesprächen beisammen.
+Dann mußte sie Abschied nehmen, da die Mutter nicht lange ohne Wartung
+bleiben durfte. Auch für Johannes war es an der Zeit, sich festlich
+anzukleiden, denn er sollte mit Heinrich zusammen die besondere Ehre
+genießen, dem Hohen Rat die Schrift des<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> Papstes, die sie mit Gefahr
+des Lebens verteidigt hatten, in der für die Mittagsstunde anberaumten
+Sitzung überreichen zu dürfen.</p>
+
+<p>Die Mitglieder des Goslarer Rates hatten in feierlicher Amtstracht sich
+im Sitzungsraum versammelt, und nun warteten sie des päpstlichen Boten
+mit der Antwort auf ihr Begehren.</p>
+
+<p>Die Jünglinge wurden von dem Ratsboten hineingeführt, die Ratsherren
+erhoben sich, und der regierende Bürgermeister, Karsten Balder,
+begrüßte sie mit freundlichen Worten.</p>
+
+<p>»Ihr seid Träger der Botschaft vom Heiligen Vater, die uns Herr
+Henricus Ernesti freundwillig vermittelt hat. Wir hören,« wandte er
+sich dann im besonderen an Heinrich Achtermann, »daß Euch zuletzt noch
+arges Ungemach getroffen hat. Empfangt mit unserem Bedauern über die
+erlittene Unbill zugleich unseren Dank für den wichtigen Dienst, den
+Ihr Goslar geleistet habt.</p>
+
+<p>Es geht um nichts Geringes in dem Schreiben, wie Ihr Euch denken könnt.
+Ihr habt das Geheimnis treulich an Eurer Brust gewahrt und mit Eurem
+Leibe verteidigt, so sollt Ihr und mit Euch Euer Freund auch der erste
+sein, der außer uns von dem Inhalt Kenntnis erhält.«</p>
+
+<p>Damit öffnete der Bürgermeister und gab den Inhalt der päpstlichen
+Bulle preis.</p>
+
+<p>Demnach versicherte Papst Leo X. seine fromme und getreue Stadt Goslar
+mit seinem Segen zugleich seines Schutzes, bestätigte in Erneuerung der
+Briefe des Königs Wenzel ihre ausschließlichen Vorrechte und Ansprüche
+auf das Bergwerk und die Forsten, versprach ihr seinen Beistand und
+drohte allen denen mit schweren Kirchenstrafen,<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> welche sie im Genuß
+dieser Rechte stören oder sie ihnen streitig zu machen versuchten.</p>
+
+<p>Das war ein voller Erfolg. Befriedigt sahen sich die Ratsherren an:
+Dieses Schriftstück lohnte den Eingriff in den Stadtsäckel, den man
+getan hatte, um Henricus Ernesti in den Stand zu setzen, sein Anliegen
+nachdrücklich zu unterstützen. Nun mochten die Braunschweiger kommen;
+diese Stunde machte die letzte Nichtswürdigkeit wett, deren man den
+Herzog hier im Rate offen zieh.</p>
+
+<p>»Ihr habt Euch, Herr Heinrich Achtermann, und Ihr ingleichen, Herr
+Dr. Johannes Hardt, als ehrenfeste, tapfere Männer gezeigt. Der
+Stadt ist durch Eure Hilfe ein sehr wichtiger Dienst erwiesen, wie
+Ihr soeben hörtet. Sie wird sich ihres Dankes gegen Euch geziemend
+zu entledigen wissen. Ihr aber werdet, wie Euer Verhalten beweist,
+treue, zuverlässige Bürger sein, auf die sie allezeit mit Zuversicht
+zurückgreifen kann.«</p>
+
+<p>Rot und stolz vor Freude verließen die Freunde das Rathaus und kehrten
+zu den Ihrigen zurück.</p>
+
+<p>An ihre Stelle trat bald darauf eine Abordnung der fremden Kaufleute,
+um Beschwerde vorzubringen über den Unglimpf, der ihnen hart vor den
+Mauern der Stadt widerfahren war. Der Rat wies nach, daß der Überfall
+nicht auf Goslarer Gebiet vor sich gegangen sei, daß geharnischte
+Beschwerde an den Herzog abgehen, die ergriffenen Übeltäter
+hingerichtet werden würden und im übrigen er, der Rat, es als eine
+selbstverständliche Pflicht übernehme, allen erlittenen Schaden zu
+ersetzen. Daneben verhieß er tatkräftige Unterstützung bei dem Abschluß
+ihrer Handelsgeschäfte, bei denen der Rat ja zu einem großen Teile
+selbst in Frage kam. So zogen auch diese Männer befriedigt ab.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span></p>
+
+<p>Am Nachmittage besuchte Heinrich den armen Erdwin Scheffer, der
+inzwischen von seiner tiefen Bewußtlosigkeit erwacht war, die, wie
+anfangs zu befürchten schien, unmittelbar in den Tod überzuführen
+drohte. Die Sonde des Arztes hatte das Geschoß gefunden und es mit
+aller Sorgfalt entfernt. Unter den schmerzhaften Verrichtungen des
+Arztes war er abermals in Ohnmacht gesunken; jetzt schlief er. Der
+Doktor hatte zwar die Verwundung für sehr schwer erklärt, aber doch
+nicht alle Hoffnung aufgegeben. Nun mußte es sich zeigen, ob der junge,
+kräftige Körper dem Kranken zur Genesung verhelfen würde. Auch nach
+Monika erkundigte er sich: der Vater war unwirsch über die Dirne,
+die dem Sohne bis ins Haus nachlaufe. Sie sei schon am frühen Morgen
+dagewesen und habe angstvoll nach dem Kranken gefragt. Auch die Mutter,
+die in dem fremden Mädchen wenig mehr als eine fremde Landstreicherin
+sah, war ihr ablehnend begegnet. Nur Maria, die Schwester, hatte sich
+ihrer im Flur angenommen. Sie redete dem jungen Mädchen, das sich in
+seiner Angst und Sorge keine Hilfe wußte, herzlich zu.</p>
+
+<p>»Ich werde Euch auf dem laufenden halten über die Entwicklung der
+Krankheit«, sagte sie, indem sie Monika an sich zog. »Will's Gott, so
+wird doch noch alles gut.«</p>
+
+<p>Bald darauf fand sich auch Gelegenheit, die gute Immecke aufzusuchen.
+Sie hatte bei der Witwe eines ehrbaren Handwerksmeisters Wohnung
+gefunden. Noch war sie sich nicht schlüssig, wohin sie ihre Schritte
+lenken werde. Erst wollte sie abwarten, wie sich der Zustand Scheffers
+gestaltete, denn Monika erklärte, daß sie nicht von Goslar weichen
+werde, bis sie darüber im klaren sei. Die Wanderfahrt im Kriege hatte
+der braven Marketenderin manchen Gulden eingebracht,<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> und wenn sie den
+Inhalt des Beutels wog, den sie wohlverwahrt hielt, war ihr um ihre und
+der Tochter Zukunft nicht bange.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Die Herren aus Flandern und Frankreich prüften die goslarsche Ware und
+fanden wenig auszusetzen. Die Stapel der erworbenen Metallbarren wurden
+immer größer, die Geldkatze immer magerer. Hier und da erfuhr sie eine
+vorübergehende Auffüllung durch günstigen Absatz der mitgebrachten
+flandrischen Waren: Teppiche, Gewebe, feine Tuchstoffe, die in den
+benachbarten Städten wie in Goslar selbst willige Käufer fanden. Neben
+dem Erwerb des kostbaren Metalls war indessen die Aufmerksamkeit der
+fremden Kaufleute noch auf ein anderes gerichtet.</p>
+
+<p>Als der Rat von Goslar zur Wiederbelebung des namentlich durch
+Wassereinbrüche verunglückten Bergwerkes einen Zusammenschluß der
+Berechtigungen in einer Form erstrebte und ins Werk setzte, die man
+heute als Gewerkschaft bezeichnen würde, behielt er von vornherein
+das Ziel im Auge, die Anteile später durch stillen Ankauf in seine
+Hand zu bringen. Er wußte es daher mit Geschick zu erreichen, daß die
+Mehrzahl der Anteile, soweit er sie nicht selbst besaß, in den Händen
+von Bürgern blieb, von denen er sie später erwerben zu können hoffte.
+Daß er dabei bei mehr als einem auf hartnäckigen Widerstand traf,
+bewies der Montane Richerdes. Karsten Balder, derzeitiger regierender
+Bürgermeister, war durchaus nicht von der Voreingenommenheit gegen
+Richerdes beseelt, die dieser ihm unterschob. Zwar hatte er als
+Jüngling der schönen Mathilde von Hagen, des<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> Ratsherrn und Silvanen
+von Hagen Tochter, gehuldigt, und sie als sein Eheweib heimzuführen,
+war sein sehnlicher Wunsch gewesen. Aber er fand sich längst damit ab,
+daß Richerdes ihm den Rang abgelaufen. Er lebte selbst in glücklicher,
+mit Kindern gesegneter Ehe, und sein gerader, ehrliebender Charakter
+hätte es nie zugelassen, seine Machtstellung in den Dienst der Willkür
+zu stellen, um für vermeintlich oder wirklich erlittene Unbill
+Vergeltung zu üben. Was er mit Richerdes wie mit anderen Berechtigten
+verhandelte, was er von ihnen forderte, lag im wohlverstandenen
+Interesse der Stadt. Er handelte schließlich nur als der Verwalter des
+von Werenberg hinterlassenen Erbes, wenn er dessen Pläne zur Ausführung
+zu bringen versuchte. Bei dem Argwohn, den ihm Richerdes von vornherein
+entgegenzubringen sich bemühte und den er auch seinen Angehörigen
+einzureden verstand, war es nicht zu verwundern, daß dieser in allem,
+was von Balder ausging oder vom Rathause kam, eine Falle witterte und
+daß der Verkehr mit dem Rate für ihn eine Quelle ständigen Ärgers war.</p>
+
+<p>Damals, als der Bergbau im argen lag und der Rat mit großen Kosten
+fremde Techniker heranzog, wie Meister Nikolaus von Ryden, um des
+Wassers Herr zu werden, war auch der Ertrag des Bergbaus sehr gering,
+und statt eines Gewinnes hatten die Gewerke dauernd Zubußen zu zahlen.
+Das goslarsche Kupfer, das sich den Weltmarkt zu erobern im Begriff
+gewesen war, verschwand mehr und mehr, und sein Name erklang weniger
+in den Kreisen derer, die darauf angewiesen waren. Jetzt aber bildete
+es eine der Lebensnotwendigkeiten für den gewerbfleißigen Westen. Die
+Zahl der Käufer wuchs von Jahr zu Jahr. Was Wunder, wenn den Flamen
+und Holländern der Wunsch<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> kam, die Quellen selbst mit ausschöpfen zu
+können, Mitbesitzer des Bergwerks durch die Erwerbung von Anteilen zu
+werden. Beim Rate hatte sie, wie sie bald merkten, auf Erfolg nicht zu
+rechnen, da er in zielbewußter Verfolgung seiner Politik im Gegenteil
+darauf aus war, alle Anteile in seiner Hand zu vereinigen. Aber auch
+bei den Bürgern stießen sie auf Widerstand. Vergeblich bewiesen sie
+dem Besitzer des Anteils, daß die aus dem Kapital sich ergebende Rente
+besser sei als das in seiner Ergiebigkeit unsichere Recht. Je eifriger
+sie zuredeten, desto größer wurde der Widerstand.</p>
+
+<p>Auch der Gast- und Geschäftsfreund des Bergherrn Richerdes, Herr Emile
+Delahaut aus Dinant, suchte diesen zum Verkauf seiner Anteile oder
+eines Teiles derselben zu bewegen, doch auch er wandte vergeblich seine
+ganze Beredsamkeit auf. Richerdes wie die anderen Goslarer, deren
+Ansprüche die Freunde erwerben wollten, wurden durch das eifrige Werben
+nur um so mehr in ihrer Meinung von dem Werte ihrer Rechte bestärkt.
+So gelang es den Ostgängern, die alljährlich nach Goslar kamen, kaum,
+einen oder den anderen Anteil zu erwerben. Freilich waren Richerdes
+wohl einmal leichte Zweifel an dem dauernden Werte seines Anrechtes
+aufgestiegen, und letzthin hatten sie sich noch verstärkt. Wie er
+Ludecke Bandelow auf dem Heimwege vom Granetal her klagte, befriedigte
+der Erfolg seiner Grube seit längerer Zeit nur wenig; und einmal war er
+wirklich einen Augenblick schwankend geworden, vor nicht langer Zeit
+nämlich, als der Ratsherr Achtermann, ein Mann von großem Reichtum und
+Ansehen, bei ihm vorsprach, um mit ihm noch einmal über den Verkauf
+an die Stadt zu reden. Zunächst lehnte Richerdes, wie früher schon,
+schroff ab, aber<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> Achtermann, vor dessen Geschäftstüchtigkeit auch
+jener große Achtung hatte, ließ sich nicht beirren.</p>
+
+<p>»Ich will Eure verstockte Voreingenommenheit gegen Karsten Balder,
+die ich wohl kenne, einmal außer acht lassen; versucht Ihr dasselbe.
+Ihr könnt ja zuletzt doch tun und lassen, was Ihr wollt. Daß uns viel
+an dem Besitz liegt, wißt Ihr; weshalb, ist Euch ebenfalls bekannt,
+wie endlich auch, daß wir ihn nicht geschenkt haben wollen. Wir
+wissen beide, daß es mit dem Gewinn aus Euren Gruben nicht zum besten
+aussieht, im Augenblick wenigstens nicht«, warf er auf eine ablehnende
+Bewegung von Richerdes ein. »Sie kann wieder ergiebiger werden, die
+Erzader kann sich aber auch ganz erschöpfen oder als taub ausweisen.
+Was dann? Dann seid Ihr ein armer Mann.</p>
+
+<p>Damit Ihr seht, daß ich es wirklich ehrlich meine, will ich ganz offen
+gegen Euch sein. Ihr habt eine hübsche Tochter, die Euch ans Herz
+gewachsen, ich einen Sohn, dem sie, wie ich glaube, nicht gleichgültig
+ist. Ich könnte mir vorstellen, daß hier etwas im Werden ist, das wir
+durch entschlossenes Eingreifen stören, durch stilles Gewährenlassen
+aber der Reife entgegenblühen sehen können. Ich will und werde mich
+nicht in Liebesgeschichten meines Sohnes einmischen; handelt Ihr
+ebenso, dann haben wir uns später nichts vorzuwerfen. Eure Venne ist
+mir lieb und wert und ich würde mich, ungeachtet der Unterschiede in
+unseren Verhältnissen, nicht bedenken, sie als Schwieger willkommen
+zu heißen. Ich werde aber nie einwilligen, daß mein Sohn die Tochter
+eines Bettlers heimführte. Entschuldigt das harte Wort, indes es muß
+gesprochen werden, denn Offenheit, zumal bei diesem heiklen Punkte,
+liebe ich vor allem.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span></p>
+
+<p>Damit weckte aber Achtermann alles, was an Trotz und Widerspruchsgeist
+in Richerdes schlummerte. »Ich dränge meine Tochter niemand auf,
+jetzt nicht und niemals. Wenn Ihr also keine weiteren Gründe für Euer
+Anliegen vorzubringen habt, so hättet Ihr Euch die Mühe ersparen
+können.«</p>
+
+<p>»Nichts für ungut«, erwiderte Achtermann, ungerührt durch die
+Heftigkeit seines Gegenübers. »Ich sehe gern klare Verhältnisse
+vor mir.« Dann lenkte er, sich zum Aufbruch anschickend, mit einer
+teilnehmenden Frage nach dem Befinden der kranken Hausfrau auf ein
+anderes Gebiet über.</p>
+
+<p>»Ich hörte kürzlich in Braunschweig von einem neuen Mittel, das bei
+Leiden der Art Wunder wirken soll. Ich habe es im Augenblick vergessen,
+will mich aber, kann ich Euch damit einen Gefallen erweisen, gern
+danach umtun. Im übrigen halte ich mich Eurer armen Frau Eheliebsten
+bestens empfohlen, bitte, ihr auch von meiner Frau die besten Grüße mit
+dem aufrichtigen Wunsch baldiger Genesung ausrichten zu wollen. Sie
+hofft, bei guter Gelegenheit nächstens sich selbst nach ihr umsehen
+zu können. Und nun,« damit schied der Einflußreiche und versetzte ihm
+einen leichten Schlag auf die Schulter, »alter Murrkopf, einen schönen
+Gruß auch dem Töchterlein!« Lächelnd schied er, und lächelnd gab ihm
+Richerdes das Geleite. Dann kehrte er in die Stube zurück.</p>
+
+<p>Die Worte Heinrich Achtermanns gingen ihm durch den Kopf, und die Sorge
+wurde damit nicht geringer. Wenn die Befürchtungen des Ratsherren
+eintrafen, stand es allerdings schlecht mit ihm und den Seinen, und
+er selbst war dann, wenn kein Bettler, doch ein armer Mann, dessen
+Tochter zu freien, mancher sich scheuen würde. Was Achtermann<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> von den
+Beziehungen zwischen den Kindern sagte, war ihm neu. Er beschloß, mit
+der treuen Lebensgefährtin auch dieses zu besprechen. Sie, die ihm so
+manches Mal schon guten Rat gewußt hatte, würde gewiß auch dieses Mal
+das Rechte treffen. Das Glück ihrer Venne stand beiden am höchsten,
+und diesem Glück sollte auch sein Eigensinn und sein Widerwillen gegen
+Karsten Balder nicht entgegenstehen; das nahm er sich vor.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span></p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span></p>
+</div>
+<p class="drop">Der Tribut des Alters an die Zeit ist Verblassen und Verblühen, ist
+Schwinden von Schönheit und Kraft. Was im Werden und Vergehen des
+Menschen gilt, hat auch im Leben der Städte nur allzuoft eine traurige
+Bestätigung gefunden. Von der Herrlichkeit einer alten großen Zeit
+zeugen heute nur noch kärgliche Reste, hier und da ein brüchiger Turm
+oder die ins Leere starrenden Zinken einer Turmruine, ein Stückchen
+Stadtmauer, eine hochragende Kirche, welche die Armseligkeit der sie
+umlagernden Häuserzeilen nur um so greller hervortreten läßt. Das ist
+das Schicksal so mancher Stadt geworden, die einst wohlgegürtet hinter
+Wall und Mauer ihre Rechte verteidigte und mit Herzögen und Königen auf
+der Stufe des Gleichberechtigten verhandelte. Das schien auch Goslars
+Los zu sein. Von der Höhe seiner mittelalterlichen Macht war es durch
+schlimme Kriegsläufe und, damit zusammenhängend, durch das Versiegen
+seiner Geldquellen, des Bergwerkes und der endlosen Forsten, Stufe um
+Stufe herabgeglitten. Was um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts
+übrigblieb, wies alle Anzeichen eines schnellen unaufhaltsamen
+Verfalles auf. Die Zahl der Einwohner war erschreckend gesunken, in
+den weiten Mauern wohnte ein armseliges, müdes Geschlecht, das in
+seinem Elend mit dem Erbe einer großen Vergangenheit nichts Besseres
+anzufangen wußte, als daß es sich aus dem alten Gewande neue Stücke
+schnitt, um seine Blöße zu verbergen. Es ist die böse Zeit, wo
+die Brüderkirche niedergelegt, wo der ehrwürdige Dom auf Abbruch
+verkauft wurde. Die Domkapelle, die allein von dem alten Münster noch
+Zeugnis ablegt, läßt uns ahnen, was in jenen Jahren unwiederbringlich
+verlorenging. Gar manches Kapitäl oder Gesims, an verlorener Stelle in
+eine Gartenmauer eingefügt oder einem Speicher als Eintrittsschwelle
+dienend, erinnert an diese schlimme Zeit, wo das sterbende Goslar sich
+seines Schmuckes zu entkleiden begann, um als Bettler ins Grab zu
+steigen.</p>
+
+<p>In dieser Zeit des Verfalles, und noch später, ist vieles dem
+Unverstande wie der Not zum Opfer gefallen, auch von den ehemals
+geschlossenen Festungsanlagen; aber vieles blieb doch auch erhalten
+und legt noch heute Zeugnis ab von dem wehrhaften Sinn der Altvordern,
+so die gewaltigen Tortürme, deren am Breiten Tore, die Stirn dem
+Braunschweiger zugewandt, gleich ein ganzes Rudel auftritt. Sie ragen
+noch heute ebenso trutzig wie zur Zeit ihrer Errichtung in die Lüfte.</p>
+
+<p>Die stattlichsten unter ihnen, der große Turm am Breiten Tor, der Dicke
+Zwinger in der Nähe der Kaiserpfalz, dessen 24 Fuß starke Mauern noch
+heute das Staunen der Besucher erregen, der Papenzwinger, sie verdanken
+ihren Ursprung der Zeit, da unsere Geschichte spielt. Die Goslarer
+wollten ihre Stadt zu einer uneinnehmbaren Festung ausbauen. Sie hatten
+Anlaß dazu; denn die Zahl ihrer Feinde und Neider wurde größer in dem
+Maße, wie der Wohlstand und die Macht der Stadt wuchs. Ernesti hatte
+Johannes Hardt die Lage richtig geschildert, aber auch der Rat war sich
+der Gefahr wohl bewußt und suchte ihr durch geeignete Maßnahmen zu
+begegnen.</p>
+
+<p>Schon im Anfang des neuen Jahrhunderts war der<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> Grundstein gelegt zu
+einem weiteren, mächtigen Bollwerk. Um die Herstellung der Anlagen,
+besonders der Zwinger, hatten sich jeweils einige Bürger verdient
+gemacht; so war der Papenzwinger der Aufsicht des Worthalters der
+Gemeinen, wie die Versammlung der Vertreter der Bürgerschaft hieß, Kips
+anvertraut gewesen. Das neue Bauwerk, das am neuerbauten Rufzen- oder
+Rosentor sich zu dessen Verstärkung erheben sollte, unterstand dem
+Schutze des Ratsherrn Achtermann. Er war nicht nur um die Weiterführung
+besorgt, sondern steuerte auch zu den Kosten einen erheblichen Teil
+bei. Es entsprach daher nur einem Akt der Dankbarkeit, wenn man das
+gewaltige Bauwerk ihm zu Ehren als ›Achtermann‹-Zwinger benannte. Es
+ist der dicke, ungefüge Geselle, der dem Rosentor vorgelagert ist und
+heute noch die Besucher Goslars beim Eintritt in die Stadt als erster
+Zeuge seiner ehemaligen Wehrhaftigkeit begrüßt.</p>
+
+<p>Mehrere Jahre hatte der Bau gedauert, einige Male mußte er unterbrochen
+werden. Jetzt stand er da, riesig und gewaltig, und das Ereignis der
+Beendigung sollte durch ein Fest besonders gefeiert werden. Die untere
+Halle, ein gewaltiger Rundraum, war mit Tannengrün festlich geschmückt.
+Kerzenglanz erhellte den düsteren Raum und ließ einen Abglanz auf den
+freudig erregten Gesichtern der Festteilnehmer.</p>
+
+<p>Ein üppiges Festmahl, ohne das in jener genußfreudigen Zeit ein Fest
+schwer denkbar war, leitete die Feier ein. Der Wein floß in Strömen,
+und die fremden Gäste, die flandrischen Kaufleute, die vertreten waren,
+konnten sich von der Freigebigkeit ihrer Wirte überzeugen. Auch das
+Volk draußen, welches den Turm umlagerte, erhielt seinen Anteil,<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> und
+nach der Stärke des Jubels und freudigen Lärms zu urteilen, mußte es
+gleichfalls befriedigt sein. Der Rat saß zu oberst an besonderer Tafel.
+Die Reden, welche gewechselt wurden, galten der Wichtigkeit des neuen
+Bauwerks und dem Mann, dessen Tatkraft es in erster Linie zu verdanken
+war.</p>
+
+<p>Achtermann, der im Mittelpunkte der Feier stand, ließ die vielen
+Lobeserhebungen mit einem gewissen freudigen Gleichmut über sich
+ergehen; er wußte, was er geschaffen und weshalb er es geschaffen. Das
+neue Bollwerk bildete einen Markstein in der Befestigungskunst seiner
+Stadt, der Stadt, die er liebte, weil sie seine Heimat war und ihn zu
+Ehren und Ansehen gebracht hatte. Mit ihrer Wehrhaftigkeit, des war er
+sich in all dem Trubel sehr wohl bewußt, erhöhte er aber nicht nur ihre
+Sicherheit, sondern auch den Schutz des eigenen Besitzes, des Erbes der
+Väter, das er gut verwaltet und vermehrt hatte, so daß er es seinerzeit
+mit Stolz den Kindern überlassen konnte.</p>
+
+<p>Je länger die Feier dauerte, desto größer wurde die Ungeduld der
+Jugend, die den langatmigen und gewichtigen Reden der Alten nur
+wenig Geschmack abzugewinnen wußte. Hier und da hatten sie sich zu
+Gruppen zusammengefunden, liebreizende, weißgekleidete Jungfrauen und
+hübsche Jünglinge, denen das grüne oder schwarze Samtjäckchen mit
+den Längspuffen und den lang herabwallenden Ärmelschlitzen trefflich
+zu Gesicht stand, wie der Degen, auf dessen goldenen Knauf sie die
+Linke stützten. Alte Bekannte hatten sich gefunden, Johannes Hardt,
+der mit der Tochter des Bürgermeisters lebhaft plauderte und von
+Heinrichs Schwester Maria geneckt wurde, Venne Richerdes, die wie eine
+Lichtgestalt aus dem Schatten der Seitenwand mit Heinrich<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> Achtermann
+heraustrat, gleichfalls in ein angelegentliches Gespräch versunken.
+Langsam schreitend kamen sie durch die Halle auf die anderen zu. In
+Marias Augen blitzte es schalkhaft auf, während die Tochter Karsten
+Balders verstimmt zur Seite blickte. Ihr Herz schlug dem schlanken
+Jünglinge entgegen, der an Vennes Seite in anmutiger, jugendlicher
+Kraft daherschritt. Bitter stieg es in ihr auf, als sie die beredten
+Blicke sah, mit denen Heinrich Achtermann auf die blühende Gestalt an
+seiner Seite blickte: Warum blieb ihr versagt, was jener mühelos, wie
+es schien, zufiel? — Oder spielte sie nur die Spröde, um ihn um so
+sicherer an sich zu ketten?</p>
+
+<p>»Nun, Ihr Unzertrennlichen,« redete Maria sie mit liebenswürdigem Spott
+an, »wollt Ihr uns auch einmal die Ehre schenken?«</p>
+
+<p>Auf Vennes Stirn zeigte sich eine Falte des Unmutes. »Maria«, sagte sie
+nur vorwurfsvoll.</p>
+
+<p>»Nun ja, nur nicht gleich so empfindlich, Närrin«, fiel Maria ein.
+»Ist's denn eine Beleidigung von mir oder eine Sünde von Euch, wenn
+ich Euch nachsage, daß Ihr die letzten Male, da wir uns trafen, oft
+zusammenhocktet?«</p>
+
+<p>»Von mir ging das ›Zusammenhocken‹ sicher nicht aus«, erwiderte Venne
+empfindlich.</p>
+
+<p>»Die Jungfer Venne hat recht«, mischte sich da Heinrich Achtermann
+ein. »Ihr kann niemand nachsagen, daß sie sich aufdrängt. Ich will
+also reumütig alle Schuld auf mich nehmen; auch für heut bekenne ich
+mich schuldig. Übrigens ist es kein Geheimnis, was wir verhandelten.
+Ich möchte sogar Eure Hilfe in Anspruch nehmen, um ein unparteiliches
+Urteil herbeizuführen.«</p>
+
+<p>»Wir geloben feierlich, unbestechlich zu sein, selbst wenn<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> es auf
+unsere, der Frauen, Kosten geht«, erklärte Maria übermütig, ehe noch
+die anderen ein Wort sagen konnten.</p>
+
+<p>»Das ist gut,« entgegnete Heinrich Achtermann, »denn um sie handelte
+es sich tatsächlich. Wir waren nämlich dabei, die hochwichtige Frage
+zu lösen, ob wohl die hiesigen Jungfrauen den neuen französischen
+Reigen, von dem Herr Dehard so begeistert sprach, nicht ebenso zierlich
+aufführen möchten wie die Pariserinnen. Jungfer Venne bestreitet es;
+ich plädiere dafür, daß sie es können.«</p>
+
+<p>»Natürlich können wir es«, rief Maria und andere junge Mädchen, die
+noch zu dem Kreise getreten waren. »Gebt uns nur einen richtigen
+Tanzmeister, dann werden wir es jenen schon gleichtun. Von Venne aber
+ist's eine Ketzerei, uns so herabzusetzen.«</p>
+
+<p>»Ich bekenne mich schuldig,« rief sie lachend, »aber ich dachte dabei
+nur an meine Ungeschicklichkeit.«</p>
+
+<p>»Ungeschicklichkeit, hört ihr's?« drohte Maria mit verstelltem Zorn,
+»ungeschickt sie, die uns immer voranschreitet im Reigen. Aber sie
+bekennet sich schuldig, und auf Schuld gehört Sühne. Wer nennt die
+Buße?«</p>
+
+<p>»Einen Kuß«, rief der Chor. »Wem?« fragte eine andere. »Uns allen«,
+hieß es von anderer Seite. »Nein, mir«, begehrte Achtermann kühn. »Also
+ihm,« entschied Maria, »denn er hat die Beleidigung gehört.«</p>
+
+<p>»Laß die Scherze«, sagte Venne unmutig. Aber Maria, welche die beiden
+zusammenbringen wollte, bestand darauf, auch daß die Buße heute abend
+noch gezahlt werden müsse. Da legte sich Heinrich selbst ins Mittel.
+»Ich schlage vor, daß wir den Ausgang abwarten. Zum Langen Tanz wird es
+sich zeigen können. Dann aber bestehe ich auf meinen Schein.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span></p>
+
+<p>»Ich für meinen Teil erlasse Euch die Strafe schon jetzt«, entgegnete
+Venne spöttisch.</p>
+
+<p>Die Tafel war aufgehoben; die Jugend forderte nun ihr Recht. Die
+Paare traten zum Reigen an. Zunächst erschienen auch die Alten mit
+auf dem Plan. Wie die Ehre des Abends es gebot, führte den Reigen der
+regierende Bürgermeister, Karsten Balder. Ihm zur Seite schritt, der
+Auszeichnung sich wohl bewußt, die Frau des besonders zu Ehrenden, des
+Ratsherrn Achtermann.</p>
+
+<p>Das stattliche Paar fesselte nach Gestalt wie Gewandung die
+Aufmerksamkeit aller. Der strengen Kleiderordnung entsprechend,
+deren Übertretung durch eine Puffe oder eine Verbrämung man streng
+ahndete, durften nur diese vornehmsten der Frauen an sich zeigen, was
+die Kleiderkünstler an Glanz und Pracht für die Umrahmung weiblicher
+Schönheit oder Schwäche ersonnen. Gar stolz schritt die Patrizierin
+einher, zierlich geführt von dem hochmögenden Partner. Die Linke hielt
+den Überwurf, der auf der Unterseite blau abgefüttert war, zugleich mit
+dem gleichfarbigen bauschigen Kleide gerafft empor, um ein Schreiten zu
+gestatten. Goldene Sterne über das Ganze gesät, hoben sich leuchtend
+von dem Untergrunde ab.</p>
+
+<p>Die Büste war durch ein goldenes Band wirkungsvoll abgegrenzt. Um den
+weit ausladenden Halsausschnitt legte sich edles Geschmeide. Gleich
+kostbare Ketten hingen von der weißen, mit Goldstreifen verzierten
+Kappe herab, auf der ein goldener Bausch den stimmungsvollen Abschluß
+bildete.</p>
+
+<p>Der Bürgermeister war angetan mit einem schweren, dunkelverbrämten
+Samtmantel, mit breitem, umgelegtem Kragen seltensten Pelzwerkes. Die
+Linke hielt den weiten Mantel über der Brust verschränkt, indes die
+Rechte, auf<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> deren Zeigefinger ein gewaltiger Siegelring im Flimmer der
+Kerze strahlte, die Dame zierlich geleitete.</p>
+
+<p>Langsam und stattlich bewegten sie sich dahin im Reigen. In bedächtigen
+Intervallen lud die Musik zum Schreiten, Sichneigen und Sichwenden,
+langsam, viel zu langsam für die Ungeduld der Jugend, die in verbotenem
+Übermut wohl das Kichern sich verbiß und sich heimlich stieß, in
+abfälliger Kritik über dieses oder jenes Paar der Würdigen, deren
+schlecht getragene Majestät der Bewegung ihre Lachlust reizte. Dann war
+dem Brauch Genüge geschehen, und das Alter wie die Würde zogen sich
+zurück zu der ihm besser anstehenden Art des Zuschauens. Die Herren
+verschwanden auch wohl in einer Ecke, einen ungestörten Trunk zu tun
+und in ernstem oder eifrigem Disput zu bereden, was ihnen am Herzen
+lag; wieder andere hockten an herbeigeholten Tischen, auf denen das
+Schachzabel aufgestellt wurde.</p>
+
+<p>Die Reigen, welche die Jugend aufführte, waren die alten, schönen
+Tänze unserer Altvordern, die der Persönlichkeit freien Spielraum
+ließen, sich im Rhythmus auszugeben. Ein Sichneigen, Sichheben und
+Drehen mit der Anmut und Geschmeidigkeit der Jugend, ein Sichfinden
+und Sichmeiden, das die Gefühle der jungen Herzen in liebreizendster
+Weise verkörperte. Die Stadtzinkenisten bliesen, die Geigen seufzten
+und jubilierten in einem Atem, die Flöten tirilierten, als wollten sie
+zerspringen vor Lust über so viel Jugend und Anmut, die sich zu ihren
+Füßen im Saal im Rhythmus durcheinanderwand.</p>
+
+<p>Immer höher stieg die Lust, immer kühner wurden die Blicke der
+Jünglinge, hingebender die Bewegungen der Jungfräulein; Terpsichore
+sank die Leier aus der Hand, Bacchus drohte die Herrschaft zu gewinnen,
+da gab Karsten<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span> Balder das Zeichen zum Schluß des Festes. Ungestüm
+bat und drängte die Jugend, man möge noch ein kleines verweilen; das
+eigene Töchterchen Karsten Balders wurde zum Ansturm auf das väterliche
+Herz vorgeschickt, aber der Angriff scheiterte an seinem Willen. Sein
+unbeugsames »Nein« verhinderte, daß das schöne Fest wie so viele
+seinesgleichen in jener Zeit wilden Genußlebens in eine Bacchanalie
+ausartete.</p>
+
+<p>Sittsam brach man auf; die kalte Nachtluft verscheuchte die losen
+Geister, die im Saale die Vernunft zu unterjochen drohten. Die
+Jungherren geleiteten ihre Damen, die unter züchtig gesenktem Blick
+das Verlangen verbargen, das eben noch in ihnen aufgewallt war.
+Ehrbar klangen die Worte, die Ohren der begleitenden Eltern von
+der Wohlanständigkeit des Begleiters überzeugend. Ein geflüstertes
+Wörtchen, ein leise gehauchter und verstohlen gewährter Wunsch entging
+trotzdem ihrer Aufmerksamkeit.</p>
+
+<p>Heinrich Achtermann schritt an der Seite Vennes. Der Vater war auf
+eigenen Wunsch daheim geblieben bei der kranken Mutter, trotz des
+Widerspruches Vennes. Sie sollte nicht um die Freuden der Jugend
+betrogen werden, da sie schon mehr als ihre Freundinnen Entsagung üben
+mußte durch die Pflege der geliebten Mutter.</p>
+
+<p>An dem stillen Abend, den der Mann am Lager der Kranken verbrachte,
+kam manches zur Sprache. Auch der Besuch des Ratsherrn Achtermann
+wurde erörtert und sein Hinweis auf ein enges Band zwischen den beiden
+Familien.</p>
+
+<p>»Wir sollten dem Glück unserer Venne kein Hindernis in den Weg legen«,
+meinte die Gattin. »Im Schoße des angesehenen Achtermanns ist sie
+nach irdischer Voraussicht<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> wohl aufgehoben, und wir können, wenn wir
+abberufen werden, beruhigt die Augen schließen.«</p>
+
+<p>Richerdes sah das wohl ein; auch gegen die Person des Bewerbers ließ
+sich nichts Ernstliches einwenden, wäre nur nicht die Bedingung des
+Ratsherrn gewesen. Auch hier riet die Frau zur Nachgiebigkeit. »Du
+hast doch selbst in letzter Zeit nicht selten über die zunehmende
+Unergiebigkeit der Grube geklagt. Wie nun, wenn zuletzt doch
+Achtermann recht behielte mit einem gänzlichen Zusammenbruch unserer
+Erwerbsquelle?«</p>
+
+<p>»Aber Karsten Balder«, warf Richerdes ein.</p>
+
+<p>»Ja, Karsten Balder ist der störende Flecken in dem Bilde«, gab sie
+zu. »Aber sein Triumph, wenn er's so auffaßt, sollte uns doch nicht
+blind machen gegen den eigenen Vorteil. Und wer weiß, ob wir ihm
+nicht doch zuletzt unrecht tun. Ich habe in stillen Nächten wohl
+darüber nachgesonnen. Wir können ihm keinen greifbaren Beweis seines
+Übelwollens nachweisen, und der Argwohn ist zuletzt ein schlechter
+Berater. Soll ich ehrlich sein, so weiß ich mich aus der früheren
+Zeit keines Zuges zu entsinnen, der auf Arglist oder Hinterhältigkeit
+hindeutet.«</p>
+
+<p>»Daß er mich gern gemocht hat,« fügte sie mit einem errötenden
+Lächeln hinzu, das ihr Gesicht seltsam verschönte, »ist doch keine
+Todsünde, die ihm für immer vorbehalten bleiben müßte. Und über die
+Enttäuschung wird ihm gewiß seine Stellung wie das Glück in der Familie
+hinweggeholfen haben.«</p>
+
+<p>»Nun gehst Du auch mit fliegender Fahne in des Feindes Lager über«,
+klagte Richerdes mit einer scherzhaften Resignation. »Da werde ich mich
+wohl auf eine ehrenvolle Kapitulation einrichten müssen. Nun wollen wir
+aber das<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> schwerwiegende Gespräch abbrechen, das dich gewiß erregt.
+Ich will's beschlafen, Mathilde. Zuvor aber gib mir noch ein Weilchen
+Urlaub für den Schreibtisch. Die stille Stunde gibt mir erwünschte
+Muße, über Geschäftliches nachzusinnen. Bis dahin kehrt wohl auch Venne
+zurück.«</p>
+
+<p>Venne war in der Begleitung einer befreundeten Familie zu dem Fest
+gegangen. Als man sich von ihr verabschiedet hatte, ging sie mit
+Heinrich Achtermann allein auf der nachtstillen Straße dahin.</p>
+
+<p>»Könnt Ihr mir nicht sagen, Jungfer Venne, was Ihr gegen mich habt?«
+unterbrach Heinrich das anfängliche Schweigen. Dieses Mal war die Frage
+in einem Tone gestellt, dem alle leichte Neckerei fernlag.</p>
+
+<p>Venne hatte den ganzen Abend über auch unter den Wogen immer höher
+gehender, jugendlicher Lust und Freude ihre herbe Sprödigkeit bewahrt,
+trotz allen heißen Werbens von seiten Heinrich Achtermanns. Es war
+ihre Natur, die Gefühle des Herzens in sich zu verschließen. Nur ein
+flüchtiges Lächeln bei den Scherzen aus seinem oder fremdem Munde
+huschte auch über ihre Züge. Hätte sie gewußt, wie entzückend dieses
+Lächeln gerade ihr zu Gesicht stand und wäre sie eitel gewesen wie
+manche ihrer Gefährtinnen, so hätte sie diesen freundlichen Schimmer
+sich dauernd zu eigen gemacht.</p>
+
+<p>Venne war nicht kühl im Inneren, wie man ihr nachsagte und Heinrich
+Achtermann es den ganzen Abend empfunden hatte; sie verbarg nur unter
+dem Mantel jungfräulicher, spröder Ablehnung das warme Gefühl, um
+es vor fremden Blicken nicht zu entweihen. Auch in ihr pulste das
+Blut der Jugend, und sie hätte kein Weib sein müssen, wenn ihr nicht
+die offen zur Schau gestellte Huldigung des stattlichen,<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> schönen
+Ratsherrensohnes geschmeichelt hätte. Und noch mehr regte sich in ihrem
+Herzen für den hübschen Gesellen, als sie sich jetzt noch selbst in
+ihrem Herzen zugestehen mochte. Sie standen vor ihrer Haustür. Die
+Frage Heinrichs zwang zu einer Antwort, und so wappnete sie sich mit
+doppelt kühler Zurückhaltung gegen eine unvorsichtige Äußerung.</p>
+
+<p>»Ihr fragt kühn und begehrt viel zu wissen, Junker Achtermann«,
+suchte sie ihn zurückzuweisen. »Ließ ich mir irgendeine Unhöflichkeit
+zuschulden kommen, so wäre mir's leid.«</p>
+
+<p>»Nein, daß muß Euch der Neid lassen, Jungfer Venne, darin laßt Ihr es
+nicht an Euch fehlen. Aber mir wäre es lieber, Ihr vergäßet Euch ein
+wenig und legtet einmal für einen Augenblick diese stolze Höflichkeit
+ab, wenigstens mir gegenüber.«</p>
+
+<p>»Und weshalb soll ich gerade Euch gegenüber mich bezwingen und von
+meiner Art lassen?« — Kaum war die Frage dem Munde entflohen, als
+sie ihre Worte auch gern zurückgenommen hätte, denn sie mußten den
+Gefragten dazu bringen, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen.</p>
+
+<p>»Weshalb fragt Ihr? Weil Ihr in meinem Herzen wohnt als die Göttin, der
+ich diene, die ich anbete. Ahnt Ihr nicht, wie es in mir aussieht, wie
+mein erster und mein letzter Gedanke Euch gilt?«</p>
+
+<p>Venne unterbrach ihn. Um nicht schwach zu werden, nahm sie zum Spott
+ihre Zuflucht: »Die wievielte bin ich, der Ihr Eure Neigung gesteht?«</p>
+
+<p>»Venne,« erwiderte er mit nachdrücklichem Ernst, den die Leidenschaft
+durchzitterte, »höhnt mich nicht noch, wollt Ihr mich nicht zur
+Verzweiflung treiben. Wahr ist es, ich tändelte<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> hier und da und
+tauschte zärtliche Worte ohne tieferes Gefühl. Ihr seht, ich mache
+mich nicht besser, als ich bin. Aber laßt mir auch Gerechtigkeit
+widerfahren; ich bin zuletzt nicht schlechter als meine Freunde
+und Altersgenossen. Was ich bisher trieb, war jugendlicher
+Gefühlsüberschwang, leichte Tändelei. Bei Euch aber ist es anderes.
+Glaubt es mir, glaube mir, Venne Richerdes, Du hast es in der Hand,
+mich selig zu machen für immer oder mich zu verderben. Trage die
+Verantwortung dafür, wenn Du kannst, stelle mich auf die Probe, prüfe,
+aber weise mich nicht für immer zurück.«</p>
+
+<p>In Venne quoll es heiß empor unter der Glut seiner Worte; ein Gefühl
+von Glückseligkeit durchschauerte sie. Es zog sie zu ihm. War das
+die große, große Liebe, von der die Dichter sangen? Weich wurde ihr
+Blick und senkte sich in seine Augen. Heinrich hatte ihre beiden Hände
+ergriffen. Leidenschaftlich erregt beugte er sich vor. Venne schloß
+die Augen, wie ein seliger Schwindel überflog es sie. Da ließ sich ein
+Geräusch im Hause hören. Sie entzog ihm ihre Hände und bat ihn: »Geht,
+daß man uns nicht sieht.«</p>
+
+<p>Leise öffnete sie die Tür, mit einem traurigen Blick wandte sich
+Heinrich Achtermann ab. Da traf ein Flüsterton sein Ohr: »Geht, ich
+warte, daß Ihr die Probe besteht!« und mit einem leisen Kichern huschte
+sie ins Haus.</p>
+
+<p>Heinrich Achtermann zog beglückt von dannen. Um die Probe war ihm nicht
+bang. Übers Jahr, so hoffte er, war Venne sein geliebtes Weib.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Im Schefferschen Hause am St.-Ägidien-Platz herrschte weiter drückende
+Sorge über dem kleinen Kreise, denn noch vermochte auch der Arzt nicht
+zu sagen, wie die schwere Verwundung Erdwins verlaufen würde. Die Lunge
+war durch den Schuß gestreift, und die dicke Winterluft bereitete dem
+schwer Atmenden große Pein. Langsam nur gewann er unter der liebevollen
+Pflege von Mutter und Schwester die verlorenen Kräfte wieder. Tiefe
+Blässe lag auf dem eingefallenen, einst so blühenden Gesicht.</p>
+
+<p>Der alte Arzt war mit dem Erfolge seiner Kur nicht zufrieden und
+behauptete, es müsse noch etwas anderes, Seelisches sein, das die
+Heilung verzögere. Aber er erhielt auf seine Andeutung keine Antwort,
+denn den alten, ehrenfesten Handwerker mutete es, mochte er auch auf
+die Erfüllung seines Lieblingsplanes betreffs der Heirat mit der
+Nachbarstochter verzichten, wie ein ihm persönlich angetaner Schimpf
+an, daß im Herzen seines Sohnes ein hergelaufenes Mädchen, die Tochter
+einer fahrenden Frau, sich eingenistet habe.</p>
+
+<p>Die Mutter wurde unter einem inneren Zwiespalt hin und her gezerrt. Im
+Herzen stand sie auf der Seite ihres Mannes; auch sie konnte sich von
+dem übererbten Vorurteil nicht frei machen, obwohl Monikas bescheidenes
+Wesen und der Liebreiz ihrer Erscheinung ihren Eindruck auf sie nicht
+verfehlten. Auf der anderen Seite jammerte sie der Zustand des Sohnes,
+der sich in Sehnsucht nach Monika verzehrte.<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> Lange verbiß er den
+Schmerz, aber zuletzt brach er sich doch in herben Worten Bahn.</p>
+
+<p>Von der Schwester hatte er vernommen, daß die Geliebte schon am ersten
+Tage dagewesen sei. Was die Schwester ihm nicht sagte, die Abweisung
+durch die Eltern, verriet ihm die Verlegenheit der Mutter, so oft er
+das Gespräch auf sie brachte, sowie des Vaters verschlossenes Gesicht.
+Wo Monika mit der Mutter Immecke lebte und wie sie hausten, konnte
+ihm wieder die Schwester berichten, die sie ohne Vorwissen der Eltern
+in der Badeleber Straße besucht hatte. Sie brachte die Grüße der
+Frauen mit und ihre herzlichen Wünsche, aber sie konnte den Anblick
+der Geliebten nicht ersetzen. Immer tiefer fraß sich die Sehnsucht in
+sein Herz, und größer wurde der Groll gegen die, welche ihm sein Glück
+vorenthielten. Zuletzt brach's sich über die Lippen Bahn der Mutter
+gegenüber.</p>
+
+<p>»Eure Pflege ist zu nichts nutze. Laßt mich lieber schnell sterben,
+als daß ich mich langsam zu Tode quäle. Ich liebe Monika und lasse
+nicht von ihr. Glaubt doch nicht, daß Ihr mit Eurem Pfahlbürgerstolz
+trennen könntet, was in jahrelanger, ehrlicher Freundschaft und Liebe
+zusammengewachsen ist. Wollt Ihr sie weiter von mir getrennt halten, so
+laßt mich lieber aus dem Hause schaffen zu mitleidigen Menschen, auch
+auf die Gefahr hin, daß ich dabei mir den Tod hole. So ertrage ich's
+nimmer lange.«</p>
+
+<p>Da griff der Mutter die Angst ans Herz, und sie versprach, mit dem
+Vater zu reden.</p>
+
+<p>Der brave Meister Scheffer war höchst ungehalten über die Zumutung
+seiner Lebensgefährtin, er solle die hergelaufene Dirne in seinem Hause
+aufnehmen. Immer wieder wies er darauf hin, daß es Landstreichervolk
+sei, dem<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> sie die Tür öffnen wolle. Aber sie blieb fest, aus Angst um
+das Leben des Sohnes, und sie erreichte endlich, daß er, wenn auch
+ingrimmig und grollend, seine Zustimmung gab. »Aber mich laßt aus dem
+Spiele«, entschied er unerbittlich. »Ich will mit der Narretei nichts
+zu tun haben und gehe aus dem Hause, wenn das Mädchen kommt.«</p>
+
+<p>Monika kam. Meister Scheffer sah unbeobachtet durch ein Guckfenster,
+das auf der hofwärts gelegenen Werkstatt den Überblick über die
+Vorgänge auf der Hausdiele gestattete. Das Mädchen war nicht
+übel, sein Auftreten bescheiden, und ohne den Groll im Herzen und
+die Voreingenommenheit hätte er zuletzt wohl die eigenen Wünsche
+zurückgestellt; aber der Gedanke, was die in gleich strengen
+Anschauungen aufgewachsenen Nachbarn und Gildebrüder dazu sagen würden,
+verscheuchte die weiche Regung, und er verließ durch die Hoftür das
+Haus.</p>
+
+<p>Das Wiedersehen zwischen Monika und Erdwin gestaltete sich
+erschütternd, obwohl die Schwester sie auf das Aussehen des Kranken
+vorbereitet und sie dringend gebeten hatte, jeden Gefühlsausbruch zu
+meiden. Als sie in das Zimmer trat und das bleiche Gesicht auf dem
+Lager sah, das sich von den bunten Kissen doppelt gespenstig abhob,
+sank sie mit einem Wehelaut am Lager des Geliebten nieder.</p>
+
+<p>»Mein Erdwin, mein Einziger«, war alles, was sie unter verhaltenem
+Schluchzen hervorbringen konnte. Ein glückliches Lächeln huschte über
+das Gesicht des Kranken, und er reichte ihr die abgezehrte Hand, die
+sie mit Küssen bedeckte. Auch der Schwester rannen die Zähren über die
+Wange, und selbst die Mutter wischte sich mit einem Zipfel der Schürze
+die feucht gewordenen Augen. Sie sprachen<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> nur wenig miteinander, aber
+die Blicke sagten den anderen, wie tief die Liebe im eigenen Herzen
+wurzele.</p>
+
+<p>Die Mutter trieb zuletzt zum Aufbruch, aus Sorge, die Aufregung möchte
+dem Kranken schaden. Monika mußte versprechen, bald wiederzukommen.</p>
+
+<p>»Gern,« sagte sie mit einem rührenden Lächeln, »wenn Deine Eltern es
+gestatten.«</p>
+
+<p>Die Mutter war schon halb gewonnen und wiederholte auch ihrerseits die
+Einladung. Als der Vater heimkam, erzählte sie ihm von dem Wiedersehen
+und riet ihm dringend zur Nachgiebigkeit, aber noch blieb er
+halsstarrig und verstockt; es mußten noch andere Bundesgenossen kommen,
+um ihn gefügig zu machen.</p>
+
+<p>Es waren einmal Heinrich Achtermann und Johannes Hardt, die des
+Fahrtgesellen nicht vergaßen.</p>
+
+<p>Johannes fand Beschäftigung im Schreibzimmer des Oheims, der Pleban
+an der St.-Jakobskirche und <span class="antiqua">Notarius publicus</span> war. Er hoffte,
+demnächst in die Kanzlei des Rates einzutreten. Die erfolgreichen
+Studien wie der wichtige Dienst, den er der Stadt geleistet hatte,
+waren eine Empfehlung, die ihm den Weg zu dem vom Vater gewünschten
+Ziele bahnten. Er vergaß über den eigenen Plänen und Hoffnungen den
+treuen Reisegefährten und Jugendfreund nicht. Wenn sich die Gelegenheit
+bot, sprach er bei Scheffers vor und verbrachte ein Stündchen am Bette
+des Verletzten. So war er über den Zwist wohl unterrichtet, und er, der
+Monika selbst und ihre uneigennützige, selbstlose Liebe werten konnte,
+half, wo er konnte, den Gegensatz auszugleichen.</p>
+
+<p>Neben der Angst um die Wiederherstellung, dem Gram um die Verirrung,
+wie Meister Scheffer die Liebe des Sohnes zur Tochter der Immecke
+Rosenhagen immer noch nannte,<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> war es auch die Sorge um seine Zukunft,
+wenn er gesundet sei. Daß Erdwin für das Handwerk nicht in Frage
+kam, stand zu befürchten. Aber was sollte werden? Sollte er wieder
+hinaus in das wilde Leben, zu dem ihm nunmehr auch die körperlichen
+Vorbedingungen fehlten?</p>
+
+<p>Johannes suchte die Eltern über diesen Punkt zu beruhigen. Wozu seine
+Bescheidenheit in eigener Sache nie ausgereicht hätte, das tat er
+für den Freund gern und freimütig. Er war schon beim Rate vorstellig
+geworden, man möge für den Verletzten, wenn er wiederhergestellt sei,
+eine Verwendung im Dienste der Stadt vorsehen.</p>
+
+<p>Heinrich Achtermann hatte schon am Tage nach dem Überfall bei den
+Scheffers vorgesprochen und mit herzlicher Teilnahme von der Schwere
+der Verletzung gehört. Sein Mitleid galt nicht nur dem unerschrockenen
+Helfer in der Not, sondern es rang hier ein Menschenkind mit dem Tode,
+das ihm als lieber Jugendgespiele und Genosse tausend lustiger Streiche
+besonders ans Herz gewachsen war. Der gutmütige und weichherzige
+Heinrich sah keinen Abstand zwischen dem Sohn des Schuhmachers und
+sich, dem Abkömmling eines alten Patriziergeschlechtes. Er war daher
+bedacht, dem Kranken alle Hilfe zu verschaffen, die der Reichtum der
+Eltern gestattete, und immer wieder wanderten Körbe mit stärkenden
+Mitteln in das Haus am Ägidienplatz. Als sich die ersten Anzeichen der
+Genesung einstellten, lag er dem Vater in den Ohren, dieser möge darauf
+bedacht sein, für die Zukunft Erdwin Scheffers zu sorgen.</p>
+
+<p>Es hätte des lebhaften Mahnens gar nicht bedurft, denn auch der
+Ratsherr war dem Burschen wohlgewogen, der seinem Einzigen so mannhaft
+zur Seite gestanden hatte. So konnte es nicht fehlen, daß auch der
+hochmögende Rat<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> diesem Ansturm von verschiedenen Seiten ein geneigtes
+Ohr lieh.</p>
+
+<p>Der regierende Bürgermeister, Karsten Balder, der überzeugt war, daß
+man die Rettung des kostbaren Schriftstücks nicht zuletzt dem Mut
+und der Umsicht Erdwin Scheffers verdanke, sprach selbst im Hause
+des Meisters vor und teilte dem matt Aufhorchenden die Belobigung
+und günstige Gesinnung des Rates mit. Aber trotz allem kam man nicht
+weiter. Wohl hatte sich der Kranke inzwischen so weit erholt, daß er,
+auf den Stock gestützt, vorsichtig im Hause umherwandeln konnte. Indes
+das Rot der Gesundheit wollte noch immer nicht in die blassen Wangen
+zurückkehren, und der alte Lebensmut fehlte nicht minder.</p>
+
+<p>Monika litt noch mehr unter der gedrückten Stimmung. Trotz aller
+liebevollen Zärtlichkeit der Schwester Erdwins, obwohl auch die Mutter
+allmählich den Widerstand schwinden ließ und sie freundlich begrüßte,
+wenn sie, was nur selten geschah, kam, trug sie dennoch schwer an dem
+Gefühl, daß sie im Hause des Geliebten nur geduldet sei.</p>
+
+<p>Die eigene Mutter litt mit ihr unter diesem schiefen Verhältnis, und
+sie, die tatkräftige und entschlossene Frau, die durch einen langen und
+ehrbaren Lebenswandel inmitten des rauhen und lockeren Kriegslebens
+reichlich gesühnt hatte, was ihr etwa ihr eigenes Gewissen an
+jugendlichem Leichtsinn vorwerfen konnte, trug doppelt schwer an der
+Lage, die sie zur Rolle des untätig wartenden Zuschauers verurteilte.
+Sie sah, daß das Gesichtchen Monikas täglich schmaler und blasser
+wurde. Sie hörte nachts, wenn sie schlaflos auf ihrem Pfühle lag, die
+Seufzer des geliebten Kindes. Das hielt sie nicht länger aus.</p>
+
+<p>Immecke Rosenhagen hatte das Fähnlein des erschlagenen<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> Hauptmanns über
+den Rhein und weiter bis Goslar begleitet. Sie war des unruhvollen
+Kriegslebens mit seinen Bildern wilden Blutvergießens und roher Sitten
+müde. Sie wollte ihre Ruhe haben auf ihre alten Tage, vor allem aber
+sollte ihre Monika eine Heimat haben. Daß dies Goslar sein müsse, kam
+ihr zunächst nicht in den Sinn. Aber ausruhen wollte sie hier von der
+Mühsal des Marsches. Wohin sie alsdann ihren Stab setzen würde, war ihr
+selbst noch verschlossen. In die Heimat, nach Salzwedel, zog sie nichts
+Besonderes. Die Eltern waren längst tot, nähere Verwandte lebten ihr
+dort nicht. Und selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte sie dieses
+nicht zur Rückkehr dorthin verlocken können. Denn was ihr die Tage in
+Goslar verleidete, würde sie dort in der Beschränktheit der kleinen
+Stadt, wo man ihre etwas abenteuerliche Jugendgeschichte kannte,
+doppelt treffen.</p>
+
+<p>Immecke war entschlossen, Goslar zu verlassen, denn sie wollte
+nicht länger untätig zuschauen, daß ihr Herzblatt sich abhärmte und
+dahinschwand. Doch als sie Monika gegenüber eine Andeutung dieser Art
+fallen ließ, traf sie auf einen so entschlossenen Widerstand, wie sie
+ihn von der schüchternen Tochter nie erwartet hätte.</p>
+
+<p>»Ich weiche keinen Schritt von hier, ehe Erdwin nicht gänzlich
+hergestellt ist, und trifft ihn das Schlimmste, so soll sein Grab von
+meinen Tränen genetzt werden.«</p>
+
+<p>»Nun, dann weiß ich auch, was ich zu tun habe«, antwortete die Mutter
+ebenso entschlossen. »Ich gehe selbst zu dem verdrehten und in seinem
+Bürgerstolz überspannten Scheffer und halte ihm seine Sünden vor.«
+Monika erschrak und bat die Mutter, davon abzusehen, aber alle Einrede
+war vergeblich.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span></p>
+
+<p>Die Rosenhagens wohnten bei einer Witwe in der Badeleber Straße; von
+dort machte sich Immecke an einem der nächsten Tage auf den Weg nach
+St. Ägidien. Sie wollte zunächst im guten mit dem Scheffer reden, war
+aber entschlossen, die Sache zu irgendeinem Ende zu bringen, und dann
+sollte, scheiterte ihr Versuch, sie kein längerer Einspruch Monikas vom
+Aufbruch von Goslar fernhalten.</p>
+
+<p>Es öffnete ihr die Schwester Erdwins, die sie von einem Besuch in
+der Badeleber Straße her kannte. Die Mutter wurde gerufen und mit
+ihr bekannt gemacht. Dann gingen sie zu Erdwin hinein. Es war das
+erstemal, daß Immecke ihn seit dem Tage von Riechenberg wiedersah. Auch
+sie erschrak, als sie ihn erblickte, obschon das Schlimmste längst
+überstanden war.</p>
+
+<p>»Armer Schelm, wie haben sie Dir mitgespielt, aber nun heißt es
+schnellstens gesund werden, ich will das Meinige dazu beitragen und mit
+dem Vater sprechen.«</p>
+
+<p>Erdwin stimmte lebhaft zu, die Mutter widerriet ängstlich, doch Immecke
+war entschlossen: »Ruft ihn also.« Aber die Mutter warnte, Erdwin der
+Aufregung auszusetzen.</p>
+
+<p>»Gut, so suchen wir den Löwen in seiner Höhle auf«, sagte sie resolut
+und ließ sich von der Frau den Weg zur Werkstatt zeigen, wo Meister
+Scheffer wütend auf das Leder losklopfte, als solle es für alle
+Widerwärtigkeiten büßen, die ihm widerfuhren.</p>
+
+<p>Sie klopfte, und ehe noch der Meister »Herein« gerufen hatte, stand sie
+schon im Zimmer. »Guten Tag, Meister Scheffer.« Er tat sehr erstaunt,
+aber sie hatte mit ihrem scharfen Auge wohl das Gesicht gesehen, das
+sich vorhin bei ihrem Kommen an das Guckfenster preßte, und da die<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span>
+Frau einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte, durfte sie annehmen,
+daß er den Besuch kenne.</p>
+
+<p>»Wir kennen uns durch unsere Kinder,« ging sie auf die Sache los, »und
+ihretwegen komme ich.«</p>
+
+<p>Meister Scheffer fühlte sich höchst unbehaglich unter dem scharfen,
+prüfenden Blick der Frau, die da so mir nichts, dir nichts bei ihm
+eindrang. Er hüstelte verlegen und suchte an ihr vorbeizublicken, als
+suche er nach einem Bundesgenossen. Aber Immecke Rosenhagen kannte ihre
+Leute und ließ ihn nicht aus den Augen.</p>
+
+<p>»Meister Scheffer, ich bin zu Euch gekommen, um von Euch zu hören, was
+Ihr gegen mich und mein Kind habt. Daß ich sie Euch nicht aufdrängen
+will, brauche ich nicht zu sagen. Indes, ich will nicht länger zusehen,
+wie zwei Menschenkinder, die mir beide lieb sind, an Eurem Starrsinn
+zugrunde gehen. So oder so will ich Klarheit schaffen.«</p>
+
+<p>»Ihr kommt einem arg grob«, meinte er ausweichend. »Was ich für Gründe
+habe? Nun, es wären ihrer mehrere. Wir kennen uns zu wenig, und Ihr
+seid nicht von hier.«</p>
+
+<p>»Ist das alles, so ist das kein Grund, Eure Zustimmung zu versagen.
+Oder ist es bei Euch verboten, durch frisches Blut von draußen Eure
+Stockfischigkeit zu bessern? Mir scheint das sogar sehr vonnöten, wie
+Ihr selbst beweist«, fuhr sie in ihrer derben Offenheit fort.</p>
+
+<p>»Nun ja, das mag sein, aber es wäre da noch so manches ...«</p>
+
+<p>»Und unter dem ›Manchen‹ ist eines für Euch die Hauptsache, gesteht
+es nur ruhig zu. Wer nicht seßhaft, gilt in Euren Augen als fahrendes
+Volk, und ich im besonderen bin Euch wohl gar verdächtig wegen der
+Herkunft meines<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> Kindes. Seid unbesorgt, sie ist im Ehebett geboren so
+gut wie Eure eigenen. Und hegt Ihr Zweifel, so lest hier den Trauschein
+des ehrenwerten Feldkaplans Carolus Wintinger.«</p>
+
+<p>»Ja, ich sehe schon, da ist alles in Ordnung«, ächzte Meister Scheffer.
+»Aber da wäre doch noch, ich meine, es gilt doch auch die eigene
+Reputation; da sind zum Exempel die Nachbarn, was sollten sie, was
+werden sie ...« Schneidend lachend fiel ihm Immecke ins Wort, indes die
+Stirn sich vor Zorn rötete.</p>
+
+<p>»Da wäre doch noch, da ist zum Exempel,« höhnte sie, »da ist das
+Marketenderweib, das sich erdreistet, vor Euch zu treten und den
+vermessenen Gedanken zu haben, als wäre sie, als könnte sie ... Pfui
+Teufel der Wohlanständigkeit, die ihr Genüge darin findet, braven
+Leuten die Ehre zu kürzen. Aber nun beruhigt Euch, jetzt will ich
+nicht. Macht's mit Euch und Eurem Gott ab, wenn Euer Sohn darüber
+zugrunde geht. Doch über eines will ich Euch noch beruhigen. Ihr hättet
+Eurer Ehre nichts vergeben mit meiner Monika. Mir haben mehr vornehme
+Herren die Hand gedrückt und dankbar geküßt, als Euch vielleicht zu
+Gesicht gekommen sind.</p>
+
+<p>Was wißt Ihr hier in Eurem satten Behagen von dem Leben und Nöten
+draußen, den Nöten Eurer eigenen Kinder, die hinauslaufen, weil Ihr
+ihnen die Enge hier zu unerträglich macht.</p>
+
+<p>Euer eigener Sohn rannte so davon vor Euch, Meister Pechdraht, weil Ihr
+bange waret, sein Horizont möchte den eigenen überschreiten, könnte
+über die Sicht Eurer Türme hinausreichen. So lief er davon wie so
+mancher gute, deutsche, ehrliche Knabe, der in die Fremde ging, um auf<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span>
+welschem Schlachtfelde für welsche Fürsten sein Herzblut zu verspritzen.</p>
+
+<p>Ich habe sie gelehrt, daß es ein Vaterland gibt, ein Deutschland, dem
+unsere Kraft gehören müsse, ich habe ihnen diese Sehnsucht in das Herz
+gepflanzt. Ich habe sie in die Arme genommen, wenn das Heimweh sie
+packte und schüttelte, ich habe ihre Wunden verbunden, die welsche
+Waffen ihnen geschlagen; ich habe ihnen die Augen zugedrückt und sie in
+welscher Erde betten helfen wie die Mutter ihr Kind, ich, die Deutsche
+den Deutschen. Das ist die Marketenderin Immecke Rosenhagen vom
+Regiment Holzendorf. Und nun lebt wohl, unsere Wege scheiden sich.«</p>
+
+<p>Sie war draußen, ehe sich der gute Meister Scheffer von seiner
+Bestürzung und Beschämung erholt hatte. Die Haustür flog zu, daß die
+Glocke ängstlich wimmerte. Grimmig lächelnd schritt Immecke dahin, der
+Badeleber Straße zu. Nun war es zu Ende, und nun hieß es, einen Strich
+unter die letzte Vergangenheit machen, für sich und für Monika.</p>
+
+<p>Als die Tochter sie ins Zimmer treten sah, wußte sie schon, wie
+der Besuch verlaufen war. Sie brauchte gar nicht zu fragen, die
+Mutter begann sogleich zu erzählen. Und sie schloß mit der barschen
+Aufforderung: »So, nun ist's Schluß. Ich habe das Meinige getan. Nun
+hat das Herz zu schweigen, und die Vernunft tritt an seine Stelle.«</p>
+
+<p>Monika war so verschüchtert, daß sie vorab keine Silbe zu antworten
+wagte. Aber in der Nacht brach der Kummer sich Bahn, erst in einem
+stillen Schluchzen, daß die Schultern erbebten, und dann, als die
+Mutter sie ansprach, in lautem Weinen, so daß Immecke ihr doch ein
+gutes, tröstendes Wort sagen mußte. Auch am anderen Tage stand indes
+ihr Entschluß noch fest, Goslar zu verlassen. Denn: ein rascher,<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span>
+fester Schnitt ist besser als ein langsames Sich-dahin-quälen, dachte
+sie. Einen Augenblick kam ihr auch wohl der Gedanke, das alte Handwerk
+wiederaufzunehmen; aber davon ging sie bald wieder ab, wenn sie Monikas
+sich erinnerte. Da wurde sie in ihrem Vorhaben schwankend gemacht durch
+Heinrich Achtermann, der bei Scheffers von Immeckes Besuch und ihrem
+Mißerfolg gehört hatte. Er ging zu den Frauen und machte ihnen einen
+Vorschlag, der sie in Goslar festhalten sollte.</p>
+
+<p>»Ich habe gehört, daß der &gt;Goldene Adler&lt; an der Gudemannstraße
+zum Verkauf stehe. Es ist eine gutgehende, achtbare Herberge, die
+ihren Mann ernährt. Wie ich Euch kenne, wäret Ihr wohl imstande, ihr
+vorzustehen. Ihr könnt Euch ja einen Schaffner halten. Wie Ihr es mit
+der Anzahlung halten wollt, weiß ich nicht, aber vielleicht ist da auch
+manches zu machen durch Bürgschaft, die Euch von meinem Vater nicht
+fehlen würde.«</p>
+
+<p>»Da seid ohne Sorge,« entgegnete Immecke, »ich bin nicht mittellos. Ich
+habe einen guten Spargroschen, ehrlich verdientes Geld, das anzunehmen
+sich kein Goslarer Bürger zu bedenken braucht. Auf jeden Fall danke
+ich Euch für Euren guten Willen. Ich will mir's überlegen und Euch
+Nachricht geben.«</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Die Einbürgerung ortsfremder Personen, für welche die neue Zeit aus
+parteipolitischen Gründen heraus alle Schwierigkeiten zu beseitigen
+bestrebt ist, konnte früher nur schwer erreicht werden, und Immecke
+Rosenhagen hätte mit ihnen nicht weniger, ja, vielleicht sogar noch
+mehr zu kämpfen<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> gehabt, als sie sich entschloß, den Vorschlag Johannes
+Hardts anzunehmen.</p>
+
+<p>Wer das Bürgerrecht einer Stadt wie Goslar erhielt, gewann damit einen
+Kranz von Rechten auch wirtschaftlicher Natur, die eine Auslese der
+Zuwandernden als sehr berechtigt erscheinen lassen mußte, abgesehen
+davon, daß man in jener unruhigen Zeit, die schon in der Masse der
+eigenen Bürger Keime gärender Ungeduld und Mißstimmung auf vielen
+Gebieten barg, sich hütete, noch fremde Schößlinge, deren Wesen nicht
+genug zu erkennen war, in den eigenen Garten zu pflanzen. Der Nachweis
+dieser »Würdigkeit« ist ein Erfordernis, das sich bis in unsere Tage
+in der Stadt Goslar erhalten hat und beispielsweise heute noch von neu
+anzustellenden Beamten verlangt wird.</p>
+
+<p>Diese »Würdigkeit« hatte also auch Immecke Rosenhagen zu erbringen, und
+sie konnte das in einer Weise, die sich für sie zu einer glänzenden
+Genugtuung gestalten sollte. Als sie zum Rathaus beordert wurde, mußte
+sie sich dort zunächst einem Verhör in der Kanzlei unterziehen, das
+durchaus nicht nach ihrem Geschmack war. Der Schreiber behandelte sie
+mit einer ausgesprochenen Nichtachtung, und als sie dann selbst auf
+sich aufmerksam machte, versuchte man sie in ein förmliches Kreuzverhör
+zu nehmen. Aber da kannten sie Immecke Rosenhagen!</p>
+
+<p>»Euch Schreibersleute scheint die Neugier arg zu plagen, aber
+befriedigt sie an einem anderen Objekt als bei mir. Ich habe Besseres
+zu tun, als müßige Leute zu unterhalten. Ich will zum Bürgermeister
+Karsten Balder, und wenn Ihr den Weg nicht wißt, suche ich ihn mir
+selber.«</p>
+
+<p>Das war eine im Rathause geradezu unerhörte Art des Auftretens, noch
+dazu von einem Frauenzimmer. Aber sie<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> hatte durchschlagende Wirkung;
+man wies sie zum Regierenden. Dort brachte sie unwillig sogleich ihre
+Ansicht über diese Art von Behandlung vor, so daß auch Karsten Balder
+sie erstaunt anblickte.</p>
+
+<p>»Ich soll also meine ›Würdigkeit‹ nachweisen,« hub sie dann an, »ich
+denke, das soll heißen, ob ich nicht gestohlen oder betrogen oder sonst
+eine Missetat auf dem Gewissen habe. Dieses hier wird Euch hoffentlich
+darüber beruhigen.«</p>
+
+<p>Damit überreichte sie ihm zwei Schreiben, eines von dem Feldobristen
+von Walsrode im Regiment Holzendorf und das andere von dem
+Generallieutenant und Befehlshaber der gesamten deutschen Knechte in
+burgundischen Diensten, Herrn Friedrich von Uslar.</p>
+
+<p>Beide bestätigten, daß Immecke Rosenhagen, Marketenderin im Regiment
+Holzendorf, nicht nur ein braves, ehrliches und tapferes Frauenzimmer
+sei, sondern sich auch besondere Verdienste um das Wohl und Wehe der
+deutschen Knechte erworben und ihnen allzeit hilfreich zur Seite
+gestanden habe. Sie verdiene höchste Achtung, und ihr Lebenswandel sei
+ein untadeliger.</p>
+
+<p>Karsten Balder durchlas die Schreiben, dann trat er auf Immecke zu und
+reichte ihr die Hand:</p>
+
+<p>»Immecke Rosenhagen, was die Herren hier von Euch schreiben, ehrt Euch
+mehr, als viele Eures Geschlechtes von sich sagen können. Ihr seid
+herzlich willkommen in Goslar. Ich wollte, wir hätten mehrere Eurer Art
+in unseren Mauern. Mit diesem Handschlag begrüße ich Euch als Bürgerin
+von Goslar. Nehmt es zugleich als einen Ausgleich für die kleine Unbill
+von vorhin, für die Ihr ja aber selbst gleich Buße auferlegt habt«,
+schloß er lächelnd.</p>
+
+<p>Freimütig blickte ihm Immecke in die Augen. »Ich danke<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> Euch, Herr
+Bürgermeister Karsten Balder, und ich hoffe, Ihr werdet Euer Wohlwollen
+nicht zu bereuen haben.«</p>
+
+<p>So wurde die Marketenderin Immecke Rosenhagen Bürgerin der Freien
+Reichsstadt Goslar und Besitzerin des ›Goldenen Adlers‹ in der
+Gudemannstraße. Und es erweist sich noch, daß sie dem Bürgermeister
+Karsten Balder nicht zuviel versprach.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Über die Berge des Harzes hielt der Winter noch seine eisenharte Faust
+ausgestreckt, obwohl der Februar zu Ende war. Wohl brausten hin und
+wieder die Stürme des herannahenden Frühlings durch den düsteren Tann
+und nahmen den ragenden Waldbäumen die ungeduldig getragene Schneelast
+ab, aber der nächste Tag verdarb, was sein Vorgänger gutzumachen
+versuchte, und die gleichmäßige, weiße Kappe deckte wieder Wipfel und
+Strauch. Im Dickicht lagerte das abgemagerte Wild, dem der Weg zu den
+kärglichen Äsungsplätzen durch die hartgefrorene Eiskruste versperrt
+war. Und manch edler Geweihte lag mitsamt den Gefährtinnen im Wundbett,
+weil der nagende Hunger sie auf die Nahrungssuche getrieben und die
+Läufe beim Durchschreiten der Schneekruste von dieser aufgerissen waren.</p>
+
+<p>Das Raubzeug fand an ihnen willkommene Beute. Und dennoch war auch bei
+diesen Schmalhans Küchenmeister. Nicht einmal ein Mäuslein lief dem
+leise durch den Wald schliefenden Fuchs in den Weg. Das Eichkätzchen
+saß ihm unerreichbar im warmen Kobel, und der Häslein gab es auch in
+guten Zeiten nur wenige im wilden, rauhen Gebirge.</p>
+
+<p>Meister Reinekes größerer Bruder, der Wolf, stieg in die Ebene herab
+und fiel an, was ihm in den Weg kam. Bis in die Landwehr drangen sie
+vor, und, was seit Menschengedenken nicht vorgekommen, einmal verirrte
+sich sogar<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> einer von diesen frechen Gesellen durch ein Mauerpförtchen,
+das über Mittag ein Viertelstündchen offen gestanden hatte, in die
+Stadt. Dort fielen die Hunde ihn wütend an, und er büßte sein Leben
+unter ihren Bissen ein trotz wilder Gegenwehr. Er war ein lebendiges
+Zeichen dafür, wie groß auch die Not unter dem Getier des Waldes sein
+mußte.</p>
+
+<p>Mit Sorgen sah der Jäger den Folgen dieses unbarmherzigen Winters
+entgegen. Mit Sorgen blickte aber auch der Hausherr auf den ständig
+sich mindernden Vorrat an Spaltholz, das der nimmersatte Kamin mit
+gefräßiger Eile verlangte, wollte man nicht zähneklappernd im eigenen
+Hause sich der Kälte überliefern. Schlimm für die Armen, die ansonst
+auch im Winter ihren Bedarf an Leseholz sich im Walde sammeln konnten.
+Schlimm für alle, welche ihr Beruf aus der Stadt heraustrieb, wie
+die Erz- und Hüttenleute, welche im Granetal und anderen waldreichen
+Flußtälern die Erzroste bedienten. Es gab keine Möglichkeit, in den
+tiefverschneiten Forsten das nötige Holz zu fällen und zur Talsohle zu
+schaffen. Sie alle froren unfreiwillig schon seit Monaten, und der
+Hunger bleckte grimmig durch die kleinen Fensterscheiben ihrer Hütten.</p>
+
+<p>Am Rammelsberge wurde der Grubenbetrieb notdürftig aufrechterhalten,
+denn seitdem das Pulver aufgekommen war, kam man immer mehr von dem
+uralten Brauch ab, das Erzgestein, welches abgebaut werden sollte,
+durch Feuer zu rösten und mürbe zu machen für den Angriff mit Spitzhaue
+und Brechstange. Aber das gewonnene Erz konnte nicht verhüttet werden
+und lag als lohnzehrendes, totes Material in Halden vor dem Berge.</p>
+
+<p>Nur ein Teil der Menschen, die unter dem harten Joche des Winters
+litten, gewann ihm Freuden ab und wünschte,<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> daß er noch länger sein
+Regiment ausübe: die Kleinen. Wenn sie der strengen Zucht des Magisters
+oder Schulmeisters entschlüpft waren, wenn sie der Aufsicht und den
+Mahnungen der Mutter auf einen Augenblick entwischen konnten, ertönte
+ihr Geschrei und Jubel auf der Straße. Wo immer ein Hang sich senkte,
+wo eine gefrorene Pfütze blinkte, da sausten sie auf den flachkufigen
+Bretterschlitten, auf umgekehrten Schemeln herab oder glitten auf des
+Schusters Rappen über die blanke Fläche in endlosem Kreislauf, einer
+den anderen anfeuernd und überschreiend. Mochte ein strenger und
+wohlweiser Rat, dessen Verbote sonst immer Beachtung fanden, noch so
+oft Erlasse gegen das Schlittern und Schlittenfahren in den Straßen
+geben, die Stadtweibel ihnen nachspüren, die Rangen lachten ihrer aus
+sicherer Entfernung und verschwanden nur um die Ecke, um an anderer
+Stelle das gesetzwidrige Spiel wiederaufzunehmen.</p>
+
+<p>In den Häusern der Bürger war man des hartnäckigen Gesellen gleichfalls
+überdrüssig, nicht nur, weil der Holzvorrat zu Ende ging und die
+Erwerbsquellen vor den Toren für manche versiegt waren, auch die Jugend
+sehnte sein Ende herbei. Der Winter brachte zwar für das gesellige
+Leben in der reichen Stadt manche Gelegenheit, einander zu sehen und
+zu sprechen, neben dem Verkehr in den Familien, aber nachdem die
+Hauptfeier, das Festmahl des neugewählten Bürgermeisters, der mit dem
+andern im Amte verbleibenden für das nächste Jahr regieren sollte,
+begangen war, hatte der Winter für die Jugend, die flügge gewordene,
+seine Reize verloren, und sie harrte ungeduldig <em class="gesperrt">ihres</em> Festes,
+des ›Langen Tanzes‹.</p>
+
+<p>Er ging in seinen Anfängen bis in den Anfang des vierzehnten<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span>
+Jahrhunderts zurück und wurde um die Fastnacht gefeiert.</p>
+
+<p>In gewöhnlichen Jahren war er der Vorbote des Lenzes, auch in Goslar.
+Heuer freilich sah es trübe aus, da der alte Griesgram Winter immer
+noch sein hartes Zepter schwang.</p>
+
+<p>So gab er dieses Jahr auch nur ein klägliches Abbild der sonst dabei
+herrschenden Lust und Freude, denn die Kälte war just an dem Tage,
+auf den er fiel, grimmig. Die Jünglinge mochten ihr noch standhalten
+in warmgefütterten Wämsen, die Mägdelein aber scheuten die Teilnahme;
+denn welches Jungfräulein besitzt so viel Aufopferungsfreudigkeit, ein
+blaugefrorenes Näslein der Spottlust der männlichen Jugend auszusetzen.
+Gegen die Kälte konnte man sich auch schützen durch ein wärmendes
+Kolett, das, um die Schultern gelegt, den zarten Hals und die Brust
+schützte. Aber sollte man so das Geschmeide verdecken, das bestimmt
+war, die Schönheit der Trägerin zu heben. Und die duftigen Gewänder,
+die man sonst unter dem warmen Hauch der Frühlingssonne schon anzulegen
+wagen durfte, sie schieden für dieses Mal gänzlich aus.</p>
+
+<p>Nur das geringere Volk, das nicht so empfindlich gegen die Unbilden der
+Witterung war, ließ sich sein Recht nicht nehmen. An der Spitze gingen
+die jungen Bergleute. Mit Zithern, Geigen und anderen Instrumenten
+zogen sie musizierend durch die Stadt, aber gar oft setzte einer der
+Musikanten aus, um die klamm gewordenen Hände zu wärmen. Auch die
+Lieder klangen dünn durch die harte Winterluft. Natürlich fehlte das
+alte Spottlied nicht, das auf die von Kaiser Karl <span class="antiqua">IV.</span> vollzogene
+Verpfändung Goslars an Graf Günther von Schwarzburg Bezug hatte:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span></p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Kaiser Karolus hochgeboren,</div>
+ <div class="verse indent0">Der Goslar hät vom Rike einst verloren,</div>
+ <div class="verse indent0">Der Rammelsbereg hät einen silbernen Fot,</div>
+ <div class="verse indent0">Darummen tragen wir einen frischen Moht.</div>
+ <div class="verse indent0">Mit düssen hübschen Jünferlein</div>
+ <div class="verse indent0">Maken wir von Tannen ein Krenzelein</div>
+ <div class="verse indent0">Wents thaun andern Jahre,</div>
+ <div class="verse indent0">Sau tanzen wir mit twei Paare.</div>
+ <div class="verse indent0">Wie wilt woll darup denken,</div>
+ <div class="verse indent0">Wie wilt öhn dat wieder schenken.«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Da die Töchter und Söhne der vornehmen Bürger sich vom ›Langen Tanz‹
+dieses Mal fernhielten, konnte auch der Streitfall zwischen Venne
+Richerdes und Heinrich Achtermann nicht entschieden werden; aber man
+hoffte, das Versäumte zum Maienfest nachzuholen.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Auch die Ostgänger aus Flandern waren dieses Mal durch den langen
+Winter in Goslar festgehalten worden, sobald jedoch der erste
+Lenzeshauch Wege und Stege von der winterlichen Sperre befreite, zogen
+sie davon. Während aber in der Ebene schon die Boten des Frühlings
+Einzug gehalten hatten, zeigten die Berge im Hintergrunde noch Reste
+des winterlichen Schmuckes. Der Tann ragte düster starr gen Himmel,
+der Frühlingswind wehte ungehemmt durch das kahle Geäst der Eichen im
+Gosetal.</p>
+
+<p>Doch mählich regte sich's auch hier im Harzwalde. Überall rieselten
+die Bächlein des Schmelzwassers geschäftig zu Tal. Wo die Sonne
+lockte, wagte wohl ein Hälmlein sein duftiges<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> Grün zu zeigen, hob ein
+Buschwindröschen das zierliche Glöckchen, um es zum Frühlingsgeläut zu
+stimmen. Die Meise hüpfte geschäftig durch das Gezweige des einsamen
+Tanns. Das Eichkätzchen verließ sein Winterquartier, fand, daß es recht
+mager geworden sei durch das lange Fasten. Es rasselte muckernd vom
+Stamm herab, um zu sehen, ob nicht ein Tannenzapfen übriggeblieben,
+um den nagenden Hunger zu stillen. Und wieder über ein kleines, da
+steckten die Tannen und Fichten grüne Spitzen auf und rote Kerzen zu
+Tausenden: Nun war der Lenz auch hier zur Macht und Herrschaft gekommen.</p>
+
+<p>Maiengrün, Maienduft, welch unnennbarer Zauber umschließt das Wort.
+In den Tälern zu Rudeln vereint, im düsteren Tannenforst einzeln sich
+zum Lichte durchbrechend, grüßen die Birken von den Hängen mit ihrem
+ersten duftenden, hellgrünen Laub. Lenzesboten, sie sind's auch heute
+noch im winterharten Harz. Erst wenn die grünen Buschen und Bäume die
+Straßen und Häuser schmückten, ist dem Harzer das Bewußtsein ins Herz
+gepflanzt, daß der Frühling wirklich eingezogen ist.</p>
+
+<p>In Goslar schickte man sich an, das Fest der Maienkönigin zu begehen.
+Draußen vor dem Tore, aber im Schutze der Landwehr, erhoben sich
+lustige Zelte, mit Maien geschmückt und mit Teppichen behängt; von
+ihrer Spitze flatterten lustig die schwarzgelben Wimpel.</p>
+
+<p>Am Nachmittage zog die Jugend aus, die Mägdelein im duftigen
+Sommergewande. Die Jünglinge in prächtigen, enganliegenden Seidenwams,
+das Federbarett kühnlich auf dem Haupte, boten zwar der strahlenden
+Sonne ein willkommenes Objekt, aber kühn und zuversichtlich schritten
+sie an der Seite ihrer Dame einher. Lustig ließen die Stadtmusikanten<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span>
+ihre Weisen erklingen. Auf dem Plan vor dem Rufzentore sollte sich's
+entscheiden, wem heuer die Krone der Anmut und Schönheit zuerkannt
+werden würde.</p>
+
+<p>Die Alten, die Väter namentlich, zogen sich auf dem Festplatze
+alsogleich in die Zelte zurück, in das eigene, das des Nachbarn oder in
+die, welche zur öffentlichen Bewirtung der Gäste harrten. Die Jugend
+aber bewies, nach Geschlechtern getrennt und im bunten Durcheinander
+der Jünglinge und Mägdelein, daß der lange Winter die Geschmeidigkeit
+der Glieder und die Anmut der Bewegung nicht hatte ertöten können.</p>
+
+<p>Die Reigen lösten einander ab, und auch der neue französische
+Tanz wurde von einem kleinen auserlesenen Kreise vorgeführt. Ein
+durchreisender Tanzmeister aus Paris war in Goslar angehalten worden
+und hatte sein Bestes getan, um die Pariser Grazie auch im rauhen
+Deutschland nicht ins Gegenteil verkehren zu lassen. Durfte man seinem
+Urteil glauben, so tanzte die Goslarer Jugend dieses zierliche Menuett,
+das, aus dem schönen Poitou stammend, in Paris eine veredelte Gestalt
+erhalten hatte, trotz einem Pariser und einer Pariserin.</p>
+
+<p>Heinrich Achtermann war der Partner Vennes. Voller Entzücken hingen
+seine Augen an ihr, die die verkörperte Lieblichkeit und Grazie
+schien. Bei den Reprisen fand sich auch wohl Gelegenheit, ihr ein Wort
+zuzuflüstern. Noch hielt sie ihn in Schranken mit einem unmerklichen,
+aber unwilligen Schütteln des Kopfes oder leicht gerunzelter Stirn;
+aber je höher die Wogen der Freude und Lust gingen, desto wärmer wurde
+auch ihr ums Herz, und ein schneller, froher Blick streifte ihrerseits
+den Gesellen.</p>
+
+<p>Als der Tanz zu Ende war, brach lauter Jubel los, und die umstehenden
+Bürger beteiligten sich ebenfalls wacker an dem Beifall.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span></p>
+
+<p>»Ein hübsches Paar, unsere Kinder,« flüsterte der Ratsherr Achtermann
+dem Bergherrn Richerdes zu. »Wie geschaffen füreinander. Und zum
+Sichfinden scheint es bei den beiden auch nicht mehr weit zu sein.
+Sollen wir abwiegeln oder helfen, Nachbar?«</p>
+
+<p>»Es schlüge den Tatsachen ins Gesicht, wollte ich Euch widersprechen,
+Ratsherr, und dazu bin ich als Vater nicht bescheiden genug. Gewiß,
+ein stattliches Paar, und was das andere anbetrifft, so wird unsere
+Zustimmung den beiden sicher nicht ungelegen kommen. Aber da ist noch
+manches zu reden.«</p>
+
+<p>»Gewiß,« fiel ihm Achtermann in die Rede, »doch ich hoffe, daß sich's
+ausgleichen läßt.«</p>
+
+<p>»Nachbar,« sagte darauf Richerdes nicht ohne Ernst, »die Aufnahme
+meiner Tochter in Eurem Hause ehrt mich. Aber auf eins laßt mich mit
+allem Nachdruck hinweisen. Ihr seid reich, ich demgegenüber kaum
+wohlhabend. Ich will nicht, daß meiner einzigen Tochter später aus
+diesem Mißverhältnis Ärger erwächst. Könnt Ihr mir das versprechen, so
+mag die Sache ihren Lauf haben.«</p>
+
+<p>»Ihr sprecht wie ein Mann, Richerdes, das ehrt Euch. Aber Ihr schickt
+Eure Tochter ja nicht mit leeren Händen. Wäre Venne arm, so würde
+ich aus demselben Grunde der Heirat widerraten; denn ist es schon
+bedenklich, wenn ein reiches Mädchen einen armen Schlucker freit, so
+taugt es niemalen und nimmer, wenn die Braut als Jungfer Habenichts
+einem reichen Mann die Hand reicht. Darüber seid also beruhigt. Könntet
+Ihr mich nur auch in diesem Augenblick befriedigen betreffs Eurer
+Gruben.«</p>
+
+<p>»Ich habe mir auch die Sache inzwischen durch den Kopf gehen lassen«,
+sagte Richerdes, »und finde, daß Ihr vielleicht<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> nicht unrecht habt.
+Doch da ist noch manches Beding zu erfüllen.«</p>
+
+<p>»Das ist vortrefflich, Nachbar, das freut mich,« antwortete Achtermann,
+»das Weitere überlaßt nur mir. Sind wir über die Hauptsache im reinen,
+werden wir über Kleinigkeiten nicht stolpern. Nun aber kommt, hier ist
+unsere Arbeit getan. Wir wollen dem einen wie dem anderen einen edlen
+Trunk weihen. Seid mein Gast, Schwäher.«</p>
+
+<p>Sie traten in das Zelt Achtermanns ein, und bald saßen sie hinter dem
+Becher mit funkelndem Wein und pflegten freundschaftliche Zwiesprache.</p>
+
+<p>Auf dem Platze gingen die Reigen zu Ende. Noch war die Königin des
+Festes zu küren. Es gab kein langes Beraten unter den Richtern, wem sie
+den Preis zuerkennen sollten.</p>
+
+<p>»Venne Richerdes ist die Schönste, Venne Richerdes soll Maienkönigin
+sein!«</p>
+
+<p>Ein Jubel ohnegleichen erhob sich bei diesem Urteilsspruch. Freudig
+umdrängten sie die Freundinnen. Nur wenige standen mit einer Regung
+des Neides beiseite. Zu ihnen gehörte auch Alheid Karsten, die Tochter
+des Bürgermeisters. Nicht neidete sie Venne, daß sie die Schönste sein
+sollte; auch sie hätte ihr den Preis zuerkannt. Aber alles vereinte
+sich, um jene begehrenswert zu machen in den Augen der Männer, und
+dieses Lob heute trug noch mehr dazu bei, den von ihr heimlich
+Geliebten, Heinrich Achtermann, an sie zu ketten.</p>
+
+<p>In lieblicher Verwirrung hielt Venne dem Ansturm der Jünglinge und
+Freundinnen stand. Heinrich Achtermann trat als letzter zu ihr heran.</p>
+
+<p>»Nun, Königin, seid Ihr zufrieden? Die Herrscherin seid Ihr im Reiche
+der Schönheit, die Gebieterin im Bereiche<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> der Grazie und Anmut. Nun
+werdet Ihr's glauben müssen, und nun begehre ich mein Recht.«</p>
+
+<p>Venne tat überrascht. »Euer Recht? Wofür?«</p>
+
+<p>»Muß ich Euch mahnen an den Abend im neuen Turm am Rosentore? Da wurde
+es abgemacht und von Euch zugestanden; würde das Menuett von Euch
+getanzt, gleich einer Pariserin, so sollte ich mir die Buße von Euren
+Lippen holen.«</p>
+
+<p>»Aber ich bin der Ansicht, daß der Richter irrte und falsch urteilte«,
+widersprach sie errötend.</p>
+
+<p>»Nicht auf Euch kommt es an, Venne, Euer Urteil ist befangen, Ihr seid
+Partei; ich halte mich an den öffentlichen Spruch und begehre mein
+Recht!« Er trat einen Schritt näher, als ob es ihm ankomme, schon jetzt
+sich die Buße einzulösen. Erschrocken wehrte Venne ab. »Aber Ihr wollt
+doch nicht hier vor allen Leuten ...«</p>
+
+<p>»Nein, Venne, holde Venne«, flüsterte er ihr mit heißem Blick zu. »Wenn
+ich Deinen süßen Mund küsse, soll kein neidischer Lauscher zugegen
+sein. Heute aber, heute abend noch wird's geschehen!«</p>
+
+<p>Erschauernd hörte Venne ihm zu. In seliger Ohnmacht ließ sie seine
+Worte über sich ergehen. Ja, sie wußte es, heute abend würde sie die
+Seine werden!</p>
+
+<p>Immer höher gingen die Wogen der Freude. In den Zelten herrschte
+Bacchus unumschränkt; seine Jünger hatten ihm geopfert, daß die Köpfe
+zu zerspringen drohten. Auch die Jugend war in einen wilden Rausch des
+Weines und der Freude gesunken. Die Besonnenen mahnten zum Aufbruch,
+und als die Schatten des Abends herabsanken, zog der lange Zug in die
+Stadt zurück in toller, ungebändigter Lust.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span></p>
+
+<p>Venne ging versonnen und schweigsam neben Heinrich, die Brust
+geschwellt von süßen Schauern. Es war schon dunkel, als die Trennung
+von Freund und Freundin auf dem Marktplatz vor sich ging. Nun
+schritten Venne und Heinrich still nebeneinander dahin. Kein Laut
+störte die laue, wunderbare Nacht. Als sie aber das Dunkel der
+Bulkengasse aufnahm, da riß Heinrich die Holde an sich und raubte ihr
+hundertfältig, was ihm doch nur einmal zustand. Selig seufzend ergab
+sich Venne dem Liebessturm.</p>
+
+<p>»Venne, meine einzige Königin, meine holde geliebte Venne!«</p>
+
+<p>Da durchbrach auch die Liebe bei ihr die lange gezogene und mühsam
+gehaltene Schranke.</p>
+
+<p>»Geliebter, mich dürstet nach Deinen Küssen!«</p>
+
+<p>In einem süßen Taumel vergingen die Minuten. Endlich löste sich Venne
+aus seinen Armen.</p>
+
+<p>»Wir müssen scheiden«, flüsterte sie, aber Heinrich widersprach
+ungestüm. »Habe ich so lange gedarbt, um Dich nach einem Augenblick
+schon wieder zu verlieren!« Da warf sie sich ihm in die Arme:
+»Heinrich, mein Einziger, ich liebe Dich, liebe Dich mehr, als Du
+ahnst. Aber schwöre mir in dieser seligen Stunde, daß Du mich nie
+verlassen willst; es bräche mir das Herz!« Ein heißer Kuß war die
+Antwort. »Du siehst die Sterne da oben am Himmelszelt; eher werden sie
+aus ihrer ewigen Bahn gerissen, als die Liebe zu Dir aus meiner Brust.«</p>
+
+<p>Aber dann kam doch der Abschied. In einem langen Kuß trank ihre
+Sehnsucht sich satt; Venne schlüpfte ins Haus. Zum ersten Male seit
+langem eilte sie an der Kammer der Mutter vorbei, ohne ihr noch gute
+Nacht zu wünschen; ihr Herz war zum Zerspringen voll von dem, was sie
+erlebt.<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> Geräuschlos gewann sie ihr Stübchen. Doch eine wachte noch wie
+immer im Hause und kam, um ihr beim Auskleiden zu helfen. Katharine war
+es, die alte Magd, die sie als Kind schon gewartet hatte. Trotz des
+Widerspruchs Vennes machte sie sich daran, die Bänder zu lösen und die
+goldenen Schnallen der Schuhe zu öffnen. Versonnen lächelnd blickte
+Venne in die Weite, die Hand auf das ungestüm pochende Herz gedrückt.</p>
+
+<p>»Du bist so seltsam heute«, unterbrach die alte Vertraute die Stille.
+»Darf Deine alte Katharine nicht wissen, was Dich bewegt?«</p>
+
+<p>»Ach, Katharine, Du verstehst mich doch nicht, was soll ich Dir also
+bekennen?«</p>
+
+<p>Da entgegnete die Alte unwillig: »Ich soll Dich nicht verstehen, da ich
+doch Deine Regungen und Gefühle von Deinem ersten Tage an in Dir habe
+entstehen und sich regen sehen? Meinst Du, ich bin blind? Also, hat er
+endlich gesprochen, der Herr Heinrich?«</p>
+
+<p>Erschrocken blickte Venne sie an. »Aber woher weißt Du denn ...?« »Also
+habe ich doch recht«, fuhr Katharine unbewegt fort. »Seine Wünsche
+kenne ich von anderen, und was Du für ihn empfindest, war mir auch
+längst bewußt. Aber er soll sich hüten,« fuhr sie fast drohend fort,
+»sich Deiner unwert zu zeigen oder Dich zu kränken, dann komme ich über
+ihn.« Lächelnd, voller Zuversicht wehrte Venne ab: »Wie kommst Du zu
+solchem Argwohn, Katharine?«</p>
+
+<p>»Ich hatte einen bösen Traum. Aber es steht bei ihm, daß der Traum sich
+nicht erfülle.« Damit verließ sie die Glückliche.</p><br>
+
+<div class="chapter">
+<hr class="r35">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span></p>
+<h2 class="nobreak" id="Zweites_Buch">Zweites Buch</h2>
+<hr class="r35"><br>
+</div>
+
+<p class="drop">Vor den offenen Arkaden des <span class="antiqua">Collegio di Spagna</span> lösten sich die
+Sänften und Karossen der Bologneser in ununterbrochener Folge ab und
+entleerten sich ihres lebendigen Inhalts. Schöne Frauen schlüpften
+heraus in kostbarsten, duftigen Gewändern, das liebliche Antlitz
+den gaffenden Zuschauern unter einem leichten Schleier verbergend.
+Würdenträger schritten die Stufen hinan in ihrer reichen Amtstracht.
+Würdige Gelehrte, Geistliche im schlichten dunklen Gewande, kühn
+blickende Jünglinge in der modischen Tracht der Zeit, sie alle hatten
+dasselbe Ziel: die Festgemächer in dem spanischen Kollegium der
+Universität, in denen heute, wie alljährlich, der neue Dekan seinen
+Amtsantritt festlich beging.</p>
+
+<p>Im Empfangssaale, dessen kristallene Kronleuchter das Gold der Decke
+wie das Marmorgetäfel der Wände widerspiegelten, wartete der Hausherr
+mit seiner Familie der Gäste und begrüßte sie, je nach Rang und Stand,
+mit besonderer Höflichkeit oder freundlicher Herablassung, aber immer
+mit der unnachahmlichen Zuvorkommenheit und Würde, die dem Spanier vor
+anderen eignet.</p>
+
+<p>Ein lebhaftes Stimmengewirr in vielen Sprachen durchzog bald den Raum,
+gedämpft indes durch die Rücksicht, die man sich und den anderen
+schuldete, um nicht als unhöflich aufzufallen.</p>
+
+<p>Das Festmahl, das in einem herrlich geschmückten, großen Saale vor sich
+ging, sah alles vertreten, was die alte Stadt<span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span> an Anmut und Würde,
+an Reichtum und Gelehrsamkeit in ihren Mauern barg. An der Tafel
+wechselten die auserlesensten Gerichte, in den Kelchen funkelte edler
+Wein.</p>
+
+<p>Wo die Jugend saß, ging die Unterhaltung am lebhaftesten vor sich.
+Perlend flossen die Neckereien vom Munde der schönen Damen, mit
+witziger Anmut übten die Herren die Gegenwehr aus. Ernster floß
+der Rede Strom, wo Gelehrte über Fragen der Zeit das Wort führten.
+Hier schwärmte ein Jünger im Apoll seiner Dame von der Schönheit
+Petrarkischer Sonette vor, dort bewies ein Kriegsmann in glänzendem
+Gewande, daß sein Beruf der allein des strebenden Menschen würdige sei.</p>
+
+<p>Gisela von Wendelin mit ihren Eltern zählte zu den Gästen. Ihr
+Kavalier, der Sohn des Podesta, unterhielt sie lebhaft, aber sie
+schenkte ihm nur zerstreut Gehör. Ihre Gedanken eilten über die Alpen
+in die norddeutsche Stadt, wo der heimlich Geliebte, nie Vergessene nun
+schon seit langem weilen mußte. Noch hatte sie kein Lebenszeichen von
+ihm wieder erhalten. Und außerdem lastete es auf ihr wie ein Druck,
+wie die Vorahnung kommenden Unheils, ohne daß sie sich Aufschluß über
+ihre Gefühle zu geben vermochte. Ihre Blicke kreuzten sich mit dem des
+Vaters, der ihr in einiger Entfernung gegenübersaß. Gütig lächelnd
+nickte er ihr zu, da wuchs auch ihr wieder die Zuversicht.</p>
+
+<p>Die Freude des Abends stieg mit der Dauer des Festes; sie schimmerte
+wieder in den glänzenden Augen der Damen, sie erklang aus den frohen
+angeregten Gesprächen der Männer. Da ging noch ein letzter, einsamer
+Gast in das Haus. Unhörbaren Schrittes und ungesehen schritt er an der
+Reihe der Diener vorüber, ungesehen betrat er den Saal.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p>
+
+<p>Sein glühender Blick überflog die Gäste. Dann näherte er sich der
+Festtafel. Hinter der schönsten der Damen hielt er an und beugte sich
+zu ihr nieder. Sie erblich unter seinem Hauch, und der zarte Leib
+erschauerte in Entsetzen. Und weiter ging der Gast. Dieses Mal war
+ein würdiger Ritter sein Ziel. Der zuckte zusammen und griff nach dem
+Herzen, aber er behielt sein Geheimnis für sich. Und weiter schritt der
+Unheimliche und beugte sich hier und beugte sich da. Und wo immer sein
+Hauch das Antlitz eines Gastes streifte, da erblichen die Wangen und
+erlosch die Freude. Und dann ging der Fremde davon, wie er gekommen,
+ungesehen und ungehört von den Dienern und nicht erkannt von der Menge
+der Gaffer. Das Fest aber wurde abgebrochen, weil, unbegreiflich
+und unerklärlich, ein Unwohlsein die Gäste befiel, die der Fremde
+gezeichnet. Am nächsten Tage schon in der Frühe, da wisperte es in der
+Stadt und raunte und ging in laute Wehklagen über: »Der Schwarze Tod
+ist da, die Pest ist in der Stadt!«</p>
+
+<p>Wir nüchternen und klugen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts wissen,
+wo diese Geißel des Menschengeschlechts ihre Heimat hat, wenn wir ihrer
+auch noch nicht Herr geworden sind. Zwischen dem Tianschan-Gebirge
+und dem Altai, im fernen Asien, im Osten auf das Sandmeer der Wüste
+Gobi blickend, im Westen auf die Kirgisensteppe herabschauend, erhebt
+sich der Tarbagatai, das Murmeltiergebirge, nach dem Tarbagan, dem
+Murmeltier, benannt. Dieses Tierchen, das zu Millionen dort haust, ist
+der Träger des Pestkeimes. Und wenn es selbst dieser Seuche erlegen,
+wirkt noch sein kleiner Leichnam als Überträger an allem, was in seine
+Nähe kommt, Tier und Mensch. Die Menschen fliehen aus ihren Siedlungen
+und tragen den Krankheitsstoff<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> zu ihren Nachbarn. Und alles muß der
+Schrecklichen dienen, was Bewegung hat, Wind und Wasser, um ihre
+Herrschaft auszubreiten.</p>
+
+<p>Unsere Vorfahren standen dem furchtbaren Würger in ohmächtigem Grausen
+und Entsetzen gegenüber; nichts anderes wußten sie ihr entgegenzusetzen
+als dumpfe Verzweiflung, wildes Wehklagen, brünstige Frömmigkeit oder
+tierische Lust. Wehe dem Ort, den diese Geißel überfallen, wehe der
+Stadt, in deren enge Gassen und dumpfe Häuser sie Einkehr hielt.</p>
+
+<p>Sie kam nicht ohne Vorzeichen, so wußte es das Volk: Geflügelte Rosse
+am nächtlichen Himmel, mit seltsamen Reitern auf ihren Rücken, zogen
+unter Horrido mit der Meute auf den Wolken dahin. Öffnete man einen
+Rosenapfel, so entwich daraus wohl eine winzige Spinne. Dann war die
+Pest nahe. Sie wurde von Teufeln und bösen Geistern in die Brunnen
+gepflanzt; auch schlimme Menschen, Hirten, Hexen, Zigeuner und Juden
+vergifteten das Wasser.</p>
+
+<p>Man suchte sie abzuwehren durch verdoppelte Frömmigkeit, Fürbitten der
+Heiligen und Wallfahrten. Aber eines guten Tages war der unheimliche
+Gast da. Wer es konnte, floh von der Stätte, wo sie einbrach, doch er
+war seines Lebens darum nicht viel sicherer; denn die anderen draußen
+erschlugen ihn, wenn sie erfuhren, daß er aus einem verseuchten Orte
+kam, um mit dem Träger die Krankheit am Vordringen zu hindern.</p>
+
+<p>Wehe, dreimal wehe aber den Kranken selbst und den Häusern, in die der
+Schwarze Tod Einzug gehalten! Sie wurden gezeichnet, versperrt, daß
+niemand hinaus oder herein könne. Der Kranke mit seinen Angehörigen war
+von aller Welt abgeschlossen, und sie konnten verhungern, wenn<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> sich
+nicht eine barmherzige Seele fand, die ihnen heimlich Nahrung zutrug.</p>
+
+<p>In Bologna wütete die Seuche wie nie zuvor. Anfangs kündeten noch die
+Glocken, daß wieder ein Bewohner der Stadt ihr zum Opfer gefallen sei;
+aber dann schwiegen auch sie, denn ihr klagendes Gewimmer hätte sonst
+den Tag und die Nacht durchgellt. Die Stadt war tot. Vermummte Träger
+durchzogen mit Bahren und Karren die Straßen und lasen die Toten auf,
+die aus den Fenstern gestürzt wurden. Es lag auch wohl einmal einer
+unter ihnen, aus dem noch nicht alles Leben entflohen war: sie achteten
+des nicht, wer auf den Bahren und Karren lag, wanderte auch in die
+großen, mit Kalk gefüllten Gruben vor den Toren.</p>
+
+<p>Die Pest, die wie ein hungriges Raubtier sich auf die unglückliche
+Stadt gestürzt hatte, zog nach Monden wie ein satter Gläubiger davon,
+der dem armen Schelm den Rest der Schuld stundet, bis es ihn gelüstet,
+wiederzukehren, um sich auch das Letzte als verfallenes Pfand zu
+holen. Verödet lagen die Häuser, verlassen die Straßen. Familien waren
+ausgetilgt, Geschlechter erloschen. Noch wich der Nachbar dem Nachbarn
+aus, wenn er ihn von fern sah. Aber leise, leise regte sich doch die
+Hoffnung, daß der Würger gegangen, und langsam keimte die Freude, daß
+der eigene Leib nicht von der Geißel geschlagen sei.</p>
+
+<p>Giselas Vater war einer der ersten gewesen, welche dem grausigen Gaste
+auf seinen Wink folgten. Wenn das Wort nicht trügt, daß die Ängstlichen
+der Krankheit am ersten verfallen, so bewahrheitete es sich auch an der
+Mutter. Scheu hielt sie sich von dem einst so sehr geliebten Gatten
+fern, und laut ertönte ihr Jammern, als die ersten Anzeichen der Seuche
+sich auch bei ihr zeigten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span></p>
+
+<p>»Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!« so gellte ihr
+klagender Ruf durch das Haus. Aber vergeblich erklang ihr Flehen und
+Wimmern, auch sie trugen die schwarzen Männer nach einigen Tagen davon.</p>
+
+<p>Nun war Gisela ganz allein in dem großen, leeren Hause. Sie hatte den
+Vater gepflegt, und sein letzter, dankbarer und trauriger Blick galt
+der treuen Tochter. Sie wich auch nicht vom Lager der Mutter, bis diese
+die Augen schloß. Unheimlich war es in dem öden Hause. Die Diener
+geflohen, die Mägde gestorben oder davongelaufen. Sie wäre verhungert,
+hätte ihr nicht eine fromme Frau aus dem Kloster der Ursulinen,
+erwiesener Guttaten eingedenk, heimlich Nahrung gebracht. Als die
+Sperre von den Häusern genommen wurde, als die Tore sich öffneten, da
+fand sie sich als eine einsame Waise unter Fremden; die Befreundeten
+und Verwandten tot, die Bekannten, soweit sie lebten, an fernen Orten.
+Hilflos, einsam wohnte sie im Hause der Eltern und hätte des Trostes
+mitleidiger Menschen doch so sehr bedurft.</p>
+
+<p>Was hielt sie noch in dieser Stadt, die ihr fremd geworden, wo die
+gespenstig leeren Häuser und Straßen ständig an das Unglück gemahnten,
+das sie betroffen? — Da stieg die Sehnsucht in ihr auf nach dem fernen
+Deutschland, nach der liebevollen Base und die Erinnerung an den Mann
+im selben Lande, dem ihr Herz noch in gleicher Liebe entgegenschlug wie
+einst. Und sie faßte den Plan, der Freundin zu schreiben, sie um Obdach
+zu bitten, und so kam dieser Plan zur Ausführung.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Nachdem das Gebirge die Oker aus der engen Haft entlassen hat, in der
+sie sich, vom Bruchberge herabhüpfend, zwischen steilen Bergen und jäh
+abstürzenden Felswänden dahinwand, lacht bei dem rauchigen Hüttenort
+Oker die Freiheit. Fröhlich eilt sie in die lockende Weite, und über
+dem Staunen ob der neuen, fremden Welt, entgleitet ihr alles, was sie
+tändelnd und spielend an sich hielt, glattrunde Kiesel und feinkörniger
+Kies. Denn die Wasserfrauen haben ihr ins Ohr geraunt, da draußen,
+unter den Menschen, müsse man sich ehrbar und gesittet benehmen, wolle
+man Achtung genießen.</p>
+
+<p>So wird aus dem wilden Gebirgskinde ein ruhig dahinziehendes Wasser.
+Aber hat es die Wildheit abgetan, so ist ihm dafür die Eitelkeit in
+die Glieder gefahren. Kokett sich drehend und windend, als wolle es
+mit eigenen Augen die rückwegige Schönheit bewundern, durchmißt es das
+Stück von Börßum bis nordwärts Braunschweig. So geht der Weg dahin
+zwischen flachbordigen Talwangen, bis es weiter nordwärts in die Heide
+kommt und nun sich vollends den Erwachsenen zurechnet. Unter dem
+ernsten Heidevolke ist auch die Oker ein stilles, ernstes Gewässer
+geworden.</p>
+
+<p>Doch bevor sie das beschauliche Dasein eines besinnlich und bedächtig
+seines Weges schreitenden Alten erreichte, hatte sie schon zu jener
+Zeit nützliche Arbeit unter den Augen der Menschen zu leisten. Vor der
+Festung Wolfenbüttel wurde sie in viele Arme zerteilt, die das Schloß
+der braunschweigischen<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> Herzöge, wie die Festung selbst mit einem
+schützenden Wassergraben umzogen oder in der Stadt die Mühlen trieben.</p>
+
+<p>Gleiche Dienste fielen ihr auch in der einige Wegstunden nordwärts
+gelegenen Stadt Braunschweig zu. Suchte sich der Herzog gegen Angriffe
+von seinesgleichen zu schützen, so trieb die Braunschweiger bei der
+Sicherung ihrer Stadt, je länger, desto ausgesprochener, der Wille und
+Wunsch, dem eigenen Landesherrn Trutz bieten zu können. Wenn der Welfe
+auf die Höhe des Lechelnholzes ritt, eine halbe Stunde nordwärts seines
+eigenen Schlosses, konnte er den Turm von St. Andreas in die Lüfte
+ragen und die Stümpfe des Domes Sankt Blasius, wie das Heer der anderen
+Kirchen sich erheben sehen. Dann wallte wohl in ihm der Groll auf über
+die ungehorsame Tochter, die sich ihm verschloß und seine Gesandten
+abschlägig beschied auf sein an den Rat gerichtetes Ansinnen oder sie
+gar mit höhnischer Antwort heimschickte.</p>
+
+<p>Und dabei mußte er seinen Zorn in sich hineinwürgen, denn es gab
+kein Mittel, um die Widerspenstige zu zähmen oder zu überwinden, im
+Gegenteil, die Erfüllung dieses Wunsches rückte in immer größere
+Fernen, je mehr die Macht der Stadt stieg. Übel lohnte sie es den
+Nachfolgern Heinrichs des Löwen, der ihr die erste Befestigung gegeben
+und den prächtigen Dom errichtet hatte, so mochte der Nachfolger selbst
+urteilen.</p>
+
+<p>Aus der kleinen Siedlung, die der Herzog Bruno zur Zeit der
+Karolinger gegründet haben sollte, war ein mächtiges und volkreiches
+Menschenzentrum geworden. Die große Heerstraße, die nördlich des Harzes
+und hart am Südrande der menschenleeren, unwirtlichen Lüneburger
+Heide<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> das Deutsche Reich von Westen nach Osten durchzog, wie die Wege
+nordwärts zu den Handelsplätzen der Nord- und Ostsee schrieben ihr die
+Rolle vor, die sie zu spielen berufen war. Der Anschluß an die Hansa,
+deren Quartierstadt im niedersächsischen Kreise sie bald wurde, hob ihr
+Ansehen und ihre Schönheit.</p>
+
+<p>Mit Goslar, zu dem es viele Handelsbeziehungen unterhielt, verbanden es
+freundnachbarliche Bande, die um so enger wurden, je mehr der Ärger des
+Herzogs auf sie selbst und sein Neid auf die reiche Stadt am Harz, ihr
+Bergwerk und ihre Forsten offenbar wurde und gleiche Gefahr für beide
+kündete.</p>
+
+<p>Der Reichtum seiner Bürger war fast sprichwörtlich geworden, und sie
+steuerten davon gern und willig nach den Schatzungen ihres Rates, um
+die Selbständigkeit der Stadt zu sichern. Wohl ausgestattete Arsenale,
+eine stattliche Zahl von Söldnern unter kriegserprobten Offizieren,
+denen im Falle der Not die wehrhafte Bürgerschaft sich noch zugesellte,
+hatte sie befähigt, den Herzögen auch im offenen Felde mehr als einmal
+standzuhalten.</p>
+
+<p>Groß war die Zahl seiner Einwohner, zu groß fast für die Enge der
+Mauern und die Erwerbsmöglichkeit. Daher zogen viele seiner Söhne
+hinaus in die Fremde, um als tapfere Landsknechte Beute und Reichtümer
+zu erwerben. Ganze Fähnlein marschierten aus den Toren, unter
+heimischen Hauptleuten. Viele gingen in den Wirren und Kämpfen auf den
+Kriegsschauplätzen in aller Herren Länder zugrunde. Manche kehrten
+zurück nach einem Leben der Wanderung und Mühsal, um in der Heimat,
+fern dem Kampfeslärm, ihre Wunden zu heilen und der Ruhe zu pflegen;
+wenige nur unter ihnen sahen ihre Träume erfüllt.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p>
+
+<p>Von den Offizieren stieg mancher zu hohem Ansehen. Der Name
+›Braunschweigischer Hauptmann‹ hatte draußen einen guten Klang. Mehr
+als einer von ihnen führte ein Regiment oder war gar zum General
+aufgerückt. Verschlang sie nicht der Krieg, so kehrten sie wohl zuletzt
+auch in die Heimatstadt zurück, um in behaglicher Ruhe von erkämpften
+Siegen und gewonnenem Ruhm zu träumen. Zu ihnen gehörte auch der Obrist
+von Walldorf, dessen Damen in Bologna den neugebackenen Doktor juris
+Johannes Hardt von dem Hause Wendelin Abschied nehmen sahen.</p>
+
+<p>Die Walldorfs wohnten in einem behaglichen Patrizierhause an der
+Echternstraße. Die Wallfahrt nach Rom hatte gute Dienste getan, und
+Glück und Zufriedenheit herrschten in dem gastlichen Hause. Johannes
+hatte einmal bei ihnen vorgesprochen. Er war schon seit Jahresfrist
+in den Dienst seiner Stadt getreten, und der Rat schickte ihn, in
+Erinnerung seiner bewiesenen Zuverlässigkeit, mit einem wichtigen
+Schreiben an die Braunschweiger dorthin.</p>
+
+<p>Wenn Johannes gehofft hatte, bei dieser Gelegenheit etwas von Gisela zu
+hören, so sah er sich in dieser Erwartung getäuscht, denn es war noch
+kein Lebenszeichen von den Wendelins über die Alpen gekommen, seit die
+Damen zurückkehrten.</p>
+
+<p>Trauer bemächtigte sich seiner, wenn er sah, wie die Erfüllung seiner
+Hoffnungen in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt blieb, während
+alle diejenigen daheim, denen er nahestand, dem Ziele ihrer Wünsche
+nahegekommen oder es erreicht hatten. Venne Richerdes war dem Heinrich
+Achtermann verlobt, und es schien nur noch eine Frage von kurzer Zeit,
+daß die Hand des Priesters sie zusammengab. Erdwin Scheffer hatte seine
+Monika heimgeführt und war<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> wohlbestellter Weibel des Rates. Wenn
+die Zeit es erlaubte und die Gäste im ›Goldenen Adler‹ sie nicht zu
+sehr in Anspruch nahmen, schlüpfte Immecke Rosenhagen in die Wohnung
+des jungen Paares, um sich des Glücks ihrer Kinder zu freuen und das
+kleine Großtöchterchen auf ihren Armen zu wiegen, das das leibhafte
+Ebenbild ihrer Monika zu werden versprach. Allen hatte das Glück
+seine Tore geöffnet, nur ihm blieben sie verschlossen. Traurig und
+niedergeschlagen kehrte Johannes nach Goslar zurück.</p>
+
+<p>Wenige Wochen darauf traf in Braunschweig der Brief Giselas mit der
+erschütternden Kunde des Todes ihrer Eltern ein. Die Antwort, daß sie
+bei den Walldorfs herzlich willkommen sei, ging sogleich nach Bologna
+ab, aber es verlief doch der Winter, ehe sie selbst ankam.</p>
+
+<p>Richenza hielt es für selbstverständlich, an Johannes Hardt sogleich
+Nachricht von der bevorstehenden Ankunft der Geliebten gelangen zu
+lassen. Aber hieß es für ihn sich in Geduld fassen, bis der hoffentlich
+nicht ferne Tag gekommen, wo er sie selbst von Angesicht zu Angesicht
+schauen würde. Als dann der Ruf der Freundin kam, fand er ihn voller
+Ungeduld. Dieses Mal wartete er keinen besonderen Auftrag des
+Hochmögenden Rates ab, sondern er brach nach Braunschweig auf, sobald
+es sich einrichten ließ. Bevor er abreiste, sprach er mit den Eltern
+über seine Pläne und Wünsche.</p>
+
+<p>Des Vaters Absichten gingen andere Wege. Er hätte es lieber gesehen,
+daß der Sohn eine Einheimische freite, aus alter Familie, deren Einfluß
+und Ansehen dem Sohn gewiß auch für seine weitere Laufbahn förderlich
+gewesen wäre. Aber sein Zureden scheiterte an der Entschlossenheit des
+Sohnes, der erklärte, daß er Gisela zum Weibe wolle oder<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> gar keine.
+Mit einem Seufzer gab jener zuletzt nach. Ob er einen besonderen Wunsch
+dabei zu Grabe trug, blieb Johannes verborgen.</p>
+
+<p>Noch war er freilich auch der Zusage Giselas selbst nicht sicher.
+Wenn er aber des Abschieds in Bologna gedachte, schwanden alle
+Zweifel. Zu offen hatte ihr Herz ihm damals entgegengeschlagen, und er
+durfte hoffen, daß kein anderer inzwischen von ihm Besitz ergriffen
+hatte, sonst hätte sie wohl kaum den Weg nach dem fernen Deutschland
+eingeschlagen.</p>
+
+<p>Die Brust geschwellt von seliger Erwartung und im Herzen tiefes Mitleid
+mit der vom Schicksal so Schwergeprüften, brach er nach der alten Stadt
+an der Oker auf.</p>
+
+<p>Johannes war erschüttert, als er der Geliebten zuerst entgegentrat:
+Was hatte die Zeit aus dem lebensfrohen, lieblichen Geschöpf gemacht,
+das er vor einigen Jahren in Bologna verließ? Ein blasses Gesichtchen,
+aus dem die dunkeln Augen von tiefen Schatten umlagert, Mitleid
+heischend und hilfesuchend ihn anblickten, tauchte vor ihm auf. Als
+sie den Langersehnten, immer Geliebten vor sich sah, den Zeugen ihrer
+glücklichen Jugend im trauten Familienkreise, kamen ihr die Tränen aufs
+neue. Ein stilles Schluchzen erschütterte ihren zarten Körper. Johannes
+trat zu ihr und ergriff stumm ihre Hände. Aber als sie allein waren, da
+fanden sie Worte. Vor ihm entrollte sich das furchtbare Bild der Seuche
+in Bologna, und er vernahm aus ihrem Munde, wie grausig das Ende ihrer
+Eltern gewesen war. Da hielt er nicht länger an sich. Sanft zog er sie
+an sein Herz und träufelte ihr süßen Trost in die schmerzerfüllte Brust.</p>
+
+<p>»Habe Vertrauen zu mir, Geliebte. Unter meinem Schutz<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> wirst Du
+vergessen lernen, und die Vergangenheit liegt bald wie ein böser
+Traum hinter Dir. Mein Mütterchen wird Dich an ihr Herz schließen als
+zweite Tochter, und in der Schwester gebe ich Dir eine Freundin, die
+mir beistehen wird, den letzten Gram in Deiner Brust zu tilgen.« Da
+lächelte sie ihn unter Tränen an. Doppelt liebreizend war sie in ihrer
+rührenden Hilflosigkeit. Aber eine leise Röte der Zuversicht und Freude
+stieg in die blassen Wangen.</p>
+
+<p>»Oh, wie danke ich dem Himmel, daß er Dich mir schenkte. Ich weiß
+nicht, wie ich die furchtbare Bürde allein weiter hätte tragen sollen.
+Habe Dank mein einzig Geliebter, habe Dank!«</p>
+
+<p>Innig drückte sie sich an ihn, und Johannes besiegelte seine Schwüre
+mit einem heißen Kuß.</p>
+
+<p>Diesmal war der Abschied für ihn nicht so schwer. Er ließ die Geliebte
+in treuer Hut zurück. Es galt nur noch, das Nest zu bereiten für ihr
+Glück. Bald, so hoffte er und vertraute sie, hatte auch für sie die
+Zeit der Trennung ein Ende für immer.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Neben den Beziehungen freundschaftlicher und politischer Art, die
+zwischen den Städten Braunschweig und Goslar bestanden, liefen Fäden
+hin und her vom Schlosse des Welfenherzogs zu Wolfenbüttel nach der
+alten Reichsstadt am Fuße des Rammelsberges, von denen der Rat nichts
+wußte oder die doch so geheim gesponnen wurden, daß er sie nicht
+zerschneiden konnte. Nach Wolfenbüttel und noch nach einer anderen
+Stätte hin reichten sie, die wiederum nur dem Herzog und seinem
+Vertrauten und einigen wenigen bekannt waren. Die aber hüteten sich
+weislich, mit ihrer Kenntnis hervorzutreten; denn es wäre ihnen nicht
+nur eine angenehm fließende Geldquelle dadurch verschüttet worden,
+sondern sie hätten sich auch der Gefahr ausgesetzt, daß sich Meister
+Rotmantel ihrer annahm, der in jener Zeit, wie seine Berufsgenossen
+andernorts, in Goslar sein gutgehendes Geschäft ausübte, darin
+bestehend, daß er die Neugier eines wohlweisen Rates über ihre
+Tätigkeit in Gegenwart von den Bevollmächtigten des Rats zu befriedigen
+suchte, wobei er nur durch freundliches, aber dringendes Zureden zur
+Antwort mahnte.</p>
+
+<p>Es gab da allerhand Mittel und Mittelchen, um auch die Schweigsamsten
+zum Reden zu bringen, von den Daumenschrauben bis zum Strecken des
+Körpers, wobei die Glieder allerdings aus ihren Gelenken gerissen
+wurden. Und half das noch nichts, so griff man noch zu gröberen
+Mitteln, die wir auszuführen Bedenken tragen, um nicht die nächtlichen<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span>
+Träume leicht erregbarer Leserinnen mit allerhand fragwürdigen
+Gestalten zu erfüllen.</p>
+
+<p>Im übrigen ging alles nach einer peinlich festgesetzten Ordnung, auch
+das Bezahlen. Der Henker wußte genau, was er nach getaner Arbeit vom
+Säckelmeister eines Hochmögendes Rates zu erwarten hatte oder was er,
+nachdem das Erforderliche der Frau Eheliebsten abgeliefert war, in der
+Herberge oder im Ratskeller aus dem angeketteten Becher sich zugute tun
+durfte.</p>
+
+<p>Zu solchen Personen, welche ihre Tätigkeit vor der Neugier des Rates
+ängstlich verbargen, gehörte zum Beispiel die Gittermannsche aus der
+Dröwekenstraße, wie ihr Vetter, der Schäfer Hennecke Rennenstich, der
+»Up den Ymminghove« Wohnung und Beschäftigung fand.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Von dem Nordabhang des Lindthalskopfes, der seine steile Stirnseite
+dem tiefen Graben des Innerstetales zukehrt, hüpft eilenden Laufes der
+Steimkerbach herab. Die Sonne bekommt dieser muntere Geselle erst zu
+sehen, wenn er den Gebirgswald verläßt; denn bis dahin überschatten
+ernste Tannen und laubdunkle Buchen und Eschen sein schmales
+Bett. Verträumt blinzelt er auf und eilt dann, im vollen Lichte
+des Tagesgestirns und doch ungesehen, unter Lattich und hängenden
+Weidenbüschen durch die Wiesen dahin, bis unfern des Dorfes Lutter am
+Barenberge er sich der Neile vermählt.</p>
+
+<p>Frei geboren und frei geblieben bis zu der Stelle, wo er seinen Lauf
+beendet, darf das Wässerchen von sich rühmen;<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> denn des Menschen Hand
+hat ihm kein Joch auferlegt. Dasselbe gilt auch von dem Dolgerbach, der
+in kurzem Lauf mit dem Kiefbach zusammen den Steimkerbach aufsucht.
+Aber der Dolgerbach war nicht immer frei. Vor Jahrhunderten, als noch
+das Dorf Dolgen stand, mußte er eine Mühle treiben, die unweit des
+Dorfes gelegen war.</p>
+
+<p>Damals war das Tal des Steimkerbaches noch düsterer und finsterer als
+heute. Urwaldartig deckte der Wald die Hänge und die Talsohle, und den
+Eingang am Waldessaum versperrte dichtes Gestrüpp. Nur der Hirsch,
+der zur Tränke zog, und der Eber, der in seinem Sumpf suhlte, störten
+die Stille, welche das Tal füllte. Menschen verirrten sich nicht
+dorthin, und selbst der herzogliche Jäger, der im Dorf Dolgen hauste,
+mied die Stätte, denn es war dort nach seinen eigenen Wahrnehmungen
+nicht geheuer. Wer Mut besaß, die Geister zu bestehen, die dort ihren
+Spuk treiben sollten, der fand an diesem Tal eine Stätte, in die ihm
+keines Fremden Neugier folgte. Und es gab solche Männer, die einen
+Unterschlupf fanden, wenn ihnen der Boden draußen in der Ebene zu heiß
+wurde, wilde Gestalten, denen das Wasser ein Feind und der Bartscherer
+eine unbekannte Größe waren.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Man mußte wohl eine Stunde weit das Tal hinaufdringen und durfte ein
+zerschundenes Gesicht nicht scheuen, wollte man an das seltsame Heim
+dieser Menschen gelangen. Aber dann war man auch überrascht über das,
+was die Wildnis bot. Unter einem überhängenden Felsen, etwas abgekehrt
+vom Bache, erhob sich eine feste Hütte, aus Stämmen roh aufgeführt, die
+Fugen mit Moos verstopft.</p>
+
+<p>Kleine Öffnungen, die verschlossen werden konnten, ließen<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> etwas
+Helligkeit in das Innere, aber man war unabhängig davon: Fackeln
+und Kerzen ersetzten das Tageslicht, und wenn man nicht allzu große
+Ansprüche stellte, konnte man es sogar wohnlich drinnen finden. Die
+Wände waren mit Teppichen verhängt; mit Teppichen verschloß man auch
+die Fensteröffnungen im Winter, noch hinter den vorgelegten Läden, um
+die kalte Luft abzuwehren. An den Seiten liefen Bänke entlang, vor
+denen festgefügte Tische standen. Ebenso rohgezimmerte Holzschemel
+vervollständigten die Inneneinrichtung, abgesehen von einem offenen
+Herde, in dessen Nähe eisernes Kochgeschirr, Bratpfannen und irdene
+Näpfe verrieten, daß man ihn zu benutzen verstehe.</p>
+
+<p>Der Rauch suchte sich einen Ausweg nach oben, wo und wie es ihm
+gefiel. Freiheit zu tun und zu lassen, was dem einzelnen beliebte,
+war überhaupt oberster Grundsatz in dieser Behausung. Wer schlafen
+wollte, erhob sich vom Tisch und suchte sein Lager auf Heu und Decken,
+wo es ihm gefiel und wo ein Platz sich bot. Nur ein kleiner Verschlag
+blieb davon ausgenommen, wo die Hausfrau ihr Lager aufschlug. Diesen
+Raum wagte ohne besondere Erlaubnis keiner der Gesellen zu betreten,
+denn die Eigentümerin war eine Respektsperson, selbst für diese wilden
+Männer.</p>
+
+<p>Ein seltsames Frauenzimmer, das mit ihnen hier in der Wildnis
+wirtschaftete. Mit Schönheit war die Frau nicht überladen. Aus
+verrunzeltem Gesicht blickten schwarze, scharfspähende Augen den
+Besucher an. Die beiden gelben langen Eckzähne, die ihr von dem
+einstmaligen Reichtum geblieben, trugen auch nicht gerade zur Erhöhung
+ihrer äußeren Reize bei.</p>
+
+<p>Hätte sie unter Menschen gelebt in einer Stadt, so wäre sie durch den
+Leumund der lieben Nächsten gewiß schon der<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> Hexerei geziehen und dem
+hochnotpeinlichen Gericht wie dem Henker vorgeführt worden. Danach
+trug sie aber kein Verlangen, denn sie war Meister Rotmantel schon
+einmal überantwortet gewesen. Damals hatte man ihr allerlei Untugenden
+vorgehalten, wie zum Exempel, daß sie es mit der Ehrbarkeit nicht allzu
+genau nehme; sie war gestäupt und gebrannt worden, und man entließ sie
+mit der ernstlichen Vermahnung, immer eine gewisse Entfernung zwischen
+sich und der Stadt zu beobachten.</p>
+
+<p>Diesen Rat befolgte Luke Meyse ehrlich, denn ihr lag wenig daran, sich
+bei Meister Rotmantel und seinen Knechten noch einmal in Behandlung zu
+geben.</p>
+
+<p>Luke Meyse war wirklich einmal schön gewesen, sehr schön sogar, aber
+die Schönheit wurde ihr zum Verderben. Sie stieg ihr so sehr zu Kopfe,
+daß sie, ehrlicher, einfacher Leute Kind, meinte, sie sei zu etwas
+Höherem geboren, als des Nachbars Sohn Tyle zu freien. Es kam auch
+ein Höherer und nahm sich ihrer Schönheit an, ein richtiger Edelmann.
+Aber als er sie genossen hatte, warf er sie beiseite. Nun war sie auch
+Tyle nicht mehr schön genug, und sie ging mit ihrer Schande auf und
+davon. Es fanden sich auch nachher noch Männer, denen die Reste ihrer
+Schönheit zusagten, doch sie sank dabei immer mehr, bis der Henker ihr
+das Mal aufbrannte.</p>
+
+<p>Nun lebte sie schon seit vielen Jahren in dieser Wildnis, und ihre
+Gesellschaft waren Gesellen, die vor einer Berührung mit den Behörden
+oder mit Meister Rotmantel nicht minder bescheiden zurückwichen.
+Ihre Zahl schwankte je nach der Jahreszeit und ihren »Geschäften«.
+Nur selten erlitt sie auch eine plötzliche Einbuße, weil einem
+ihrer Genossen bei seinen »Geschäften« ein Stück Blei zwischen die<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span>
+Rippen gefahren war oder er seine Widerstandsfähigkeit gegen einen
+Hieb mit Schwert oder Hellebarde überschätzt hatte. Dann blieb sein
+Platz unbesetzt, oder ein anderer rückte an seine Stelle. Lange
+Gedächtnisreden wurden nicht gehalten. Ein Fluch über das Mißgeschick,
+und die Sache war abgetan. Kehrte einer oder der andere mit einer Wunde
+zurück oder litt er sonst an einer Gebreste, so brachte ihn Luke wieder
+zuwege.</p>
+
+<p>Langeweile litt Luke Meyse nicht; denn einer oder der andere der
+Gesellschaft war immer anwesend, mindestens der einarmige Brand
+Cramer, dem sie bei einem Zusammentreffen mit Bauern dieses wertvolle
+Körperglied zerschmettert hatten. Er war Schaffner des Hauses und
+Stallmeister in einer Person. Denn auch Pferde fanden in einem an den
+Felsen gelehnten Schuppen Unterkunft.</p>
+
+<p>Und dann gab es da noch ein junges Ding, Ylsebe genannt. Wie sie sonst
+noch hieß, wußte niemand. Man hatte sie an der Straße aufgelesen,
+wo sie neben der erschlagenen Mutter jämmerlich schrie. Sie war der
+Liebling Luke Meyses und der Verzug der ganzen Bande. Wild und lustig,
+mit krausem Haar und schwarzfunkelnden Augen, bildete sie das belebende
+Element der Hütte. Übergriffe gegen sie wußte Luke kurz und bündig
+abzuweisen. Wurde es Ylsebe zu langweilig im Steimkerbachtale, dann
+eilte sie wohl auf einen Sprung und einige Stunden nach der Dolgermühle
+zu ihrer Freundin, der roten Aleke Swarte, des Müllers Tochter, die ihr
+an Wesen gleichkam.</p>
+
+<p>In der Dolgermühle traf sie sicher auch noch andere lustige
+Gesellschaft, denn dort fand sich auch gemeinlich allerlei Volk
+zusammen, ähnlich dem im Tale des Steimkerbaches. Die Mühle war
+verwahrlost, die Bauern gingen<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> mit ihrem Korn lieber zur entfernten
+Pöbbeckenmühle, wo sie schneller und redlicher bedient wurden. Der
+Müller zürnte ihnen deshalb nicht allzu sehr, denn an der Ausübung
+seines Handwerks lag ihm wenig: Wozu sollte er die Mahlgänge bedienen,
+nachts den Schlaf versäumen, wenn er auf andere Weise bequemer und
+lustiger zu Gelde kam? Denn lustig ging es her bei ihm bei Essen und
+Zechen und Würfeln. Die Besucher ließen sich nicht lumpen für die
+schönen Sachen, die ihnen des Müllers Weib briet oder der Müller selbst
+aus dem versteckten Keller hinter der Scheune vorsetzte. Aber das waren
+nur die Nebeneinnahmen.</p>
+
+<p>Den Hauptteil warfen die »Geschäfte« ab, die mit den Besuchern von
+ihm als vollgültigem Partner abgeschlossen wurden. Bei ihm wurde
+nämlich alles geplant, was heranreifte oder was sich zufällig bot.
+Wenn irgendwo in der Umgebung ein Überfall vor sich ging, ein Haus
+in Flammen aufloderte, ein reicher Bauer in seinem Bett erschlagen
+aufgefunden wurde, wenn die Städter mit ihren Herden in Seesen und
+Goslar geschatzt, ihre Wagenzüge angehalten und überfallen wurden, so
+war der Plan dazu sicher in der Dolgermühle ausgeheckt worden.</p>
+
+<p>Hin und wieder tauchte ein Mann auf, der ein besonderes Ansehen besaß.
+Daß er unter den Gesellen eine bevorrechtete Stellung einnahm, ging
+schon aus der Anrede hervor. Er wurde als »Herr Hermann«, auch »Herr
+Raßler« angesprochen. Raßler war ein Mann von gedrungener Gestalt,
+dem die wilde Entschlossenheit aus den Augen leuchtete. Das gebräunte
+Gesicht wäre hübsch zu nennen gewesen ohne eine tiefe Narbe, welche
+die Stirn fast wagerecht durchzog. Er besaß alle Eigenschaften eines
+Führers: scharfes Urteil, schnelle Beobachtungsgabe und einen großen
+Mut.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span></p>
+
+<p>Als Sohn eines Arztes in Hildesheim hatte er das juristische Studium
+ausüben sollen, wurde aber durch viele böse Streiche anfangs schon
+aus dieser Bahn herausgeschleudert und relegiert; doch er war kein
+Verbrecher von gewöhnlichem Schlag wie seine Leute. Er sah in sich
+ein Rachewerkzeug gegen die menschliche, verderbte Ordnung. Auf den
+Erwerb von Beute und Reichtum legte er nur insoweit Wert, als sie ihn
+befähigten, seinen Weg zu gehen.</p>
+
+<p>Deshalb, weil er nie einen besonderen Anteil beanspruchte und seine
+Hilfsbereitschaft jederzeit sich äußerte, erkannten sie in ihm die
+Führernatur, die ihnen Gewähr bot, daß die ausgeheckten Pläne meistens
+ohne große Opfer durchgeführt werden konnten.</p>
+
+<p>Hermann Raßler war kein Wegelagerer gewöhnlichen Schlages. Das erwies
+sich aus der Kühnheit seiner Pläne, wie der Art ihrer Durchführung. Er
+selbst trat nur bei den großen und wichtigen Sachen in Tätigkeit, die
+Kleinigkeiten überließ er seinen zahlreichen Helfershelfern. Wo sein
+eigentlicher Wohnsitz war, wußten nur wenige Vertraute. Er kam und
+verschwand, und niemand fragte, wo er bleibe. Daß er zur rechten Stunde
+zur Stelle sein werde, war ihnen Gewähr genug.</p>
+
+<p>Die kleinen Untaten fielen nicht eigentlich auf sein Konto; er duldete
+sie, weil er seine Leute bei Laune halten mußte. Meistens richteten
+sie sich gegen Menschen, die sich durch Habsucht oder eine ähnliche
+Untugend verhaßt gemacht hatten. Sie bedauerte er nicht; denn er gefiel
+sich je länger desto mehr in der Rolle des Schicksalswalters, der
+berufen war, über die Ungerechtigkeit der Welt zu Gericht zu sitzen.</p>
+
+<p>Raßler war ein weithin gefürchteter Bandenführer, und der Ruf seiner
+kühnen Streiche veranlaßte mehr als einen<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> der Großen, sich seiner
+Dienste zu bedienen, um einem Gegner im geheimen Abbruch zu tun an
+seinem Eigentum. Kleine Städte und reiche Dörfer sollten ihm, so hieß
+es, um sich seiner Huld zu versichern, Tribut zahlen.</p>
+
+<p>Zu seinen »Kunden« zählte auch der Herzog von Braunschweig. Er bediente
+sich seiner gegen die Stadt Braunschweig, namentlich aber gegen das
+reiche Goslar, um die Bürger mürbe zu machen zur Annahme seines
+fürstlichen Schutzes. Raßler übernahm diese Aufgabe besonders gern und
+willig, denn mit dem Rate in Goslar hatte er ein Hühnchen zu rupfen.
+Die Goslarer hatten ihm nicht nur, wie bei dem Treffen im Hohlwege bei
+Riechenberg, wertvolle Leute erschlagen oder aufgeknüpft, sondern er
+war ihnen besonders deshalb gram, weil bei einer dieser Gelegenheiten
+auch sein einziger, wirklicher Freund, der gleich ihm aus der Bahn
+geriet, in ihre Hände fiel und schimpflich gerichtet wurde.</p>
+
+<p>Im Schlosse zu Wolfenbüttel war Raßler keine unbekannte Persönlichkeit,
+wenn er dort auch unter anderem Namen aus- und einging. Durch des
+Herzogs Spione in Goslar, die zum Teil recht angesehene Bürger waren,
+wie auch aus eigenen Quellen wurde Raßler über die Vorgänge in der
+Stadt immer im voraus gut unterrichtet. In seiner Kühnheit hatte er
+sich auch mehrmals selbst in die Höhle des Löwen gewagt, um an Ort und
+Stelle Erkundigungen einzuziehen. Allerlei geschickte Verkleidungen
+ermöglichten es ihm, ungefährdet und unerkannt in die Stadt zu
+gelangen und aus ihr wieder zu entweichen. Verrat von der Seite seiner
+Spießgesellen in Goslar brauchte er nicht zu fürchten, denn im Falle
+der Entdeckung war ihr eigener Kopf auch verwirkt.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Um Magda Richerdes, die Ehefrau des Bergherren, stand es nicht gut. Auf
+eine geringfügige Besserung, kurz nach Vennes Verlobung, folgte bald
+eine Verschlimmerung ihres Zustandes. Der Arzt war ratlos, die Familie
+nicht weniger. Venne ging mit verweintem Gesicht einher; auch der
+Zuspruch ihres Verlobten vermochte sie nicht über die Angst und Sorge
+um das Leben der Mutter wegzubringen.</p>
+
+<p>Die Kunst der Ärzte jener Zeit stand nicht hoch. Soweit sie sich über
+den Rahmen bloßer Scharlatanerie erhob, reichte sie doch nicht im
+geringsten aus, um durch eine von Sachkenntnis getragene Diagnose und
+die danach anzusetzenden Mittel eine Krankheit zu bekämpfen, deren
+Wesen nicht durch äußere Merkmale sich von selbst verriet.</p>
+
+<p>Die Reinigung des Blutes durch Purganzen aller Art galt als Mittel zur
+Verhütung von Krankheiten, wie zur Erhaltung der Gesundheit. Schlimm
+wurde es erst, wenn der Aberglaube im Verein mit der Dummheit auf der
+Seite der Kranken diese einem der dunklen Kurpfuscher in die Hände
+gab, die mit albernen Beschwörungsformeln und Mitteln aus pflanzlichen
+und anderen Stoffen heilen wollten, deren Wirkung auf den Körper des
+Menschen durchaus nicht feststand.</p>
+
+<p>Überall im Lande saßen die Männer und Frauen, die auf die
+Unerfahrenheit und die Angst um die Erhaltung des Lebens ihrer
+Nächsten spekulierten und ein Wissen ärztlicher<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> Art vortäuschten, das
+günstigstenfalls nichts nützte, oft aber die vielleicht noch heilbare
+Krankheit in lebenslängliches Siechtum verwandelte oder gar den Tod
+herbeiführte. Der Scharfrichter, die Schäfer, alte Weiber üblen Rufes,
+denen man Umgang mit dem Bösen, auch übernatürliches Wissen nachsagte,
+das waren die am meisten begehrten Berater der Kranken jener Zeit.</p>
+
+<p>Auch in Goslar gab es solche »Wissende«, und zu ihnen zählte die
+Gittermannsche in der Fröweckenstraße, wie auch der Schäfer Hennecke
+Rennenstich auf dem Ymminghove. Ihre Kunst und ihr Wissen gründeten
+sich auf überkommene Sprüche und Tränke aller Art, zu denen sie
+die Kräuter selbst suchten oder sich zu verschaffen wußten. Ihre
+Hauptberaterin und Lieferantin war Luke Meyse vom Steimkerbach, die
+einstmals von Goslar einen wenig befriedigenden Abschied nehmen mußte.</p>
+
+<p>Die Zeit hatte die Beziehungen zwischen ihr und der Gittermannschen
+nie ganz zerstört, und die geheimen Boten, welche Goslar von Zeit zu
+Zeit im Auftrage Hermann Raßlers aufsuchten, sorgten dafür, daß die
+Fäden zwischen diesen beiden würdigen Frauenzimmern und Freundinnen
+nicht zerrissen. Sie überbrachten auch jeweils Mittel, die von der
+Gittermannschen bei ihren Gewaltkuren benutzt wurden.</p>
+
+<p>Venne wie den Vater bedrückte es über die Maßen, daß der Mutter nicht
+geholfen werden konnte, und als der Arzt seine Ohnmacht erklärte, waren
+sie bereit, wenigstens Venne, auch andere Mittel zu nehmen, wenn es
+hülfe. Zunächst wurde Immecke Rosenhagen zu Rate gezogen, von deren
+heilkundiger Hand sie von den Hardts gehört hatten. Immecke kam, besah
+sich die Kranke, gab auch einige schmerzlindernde Mittel an, gestand
+aber im übrigen, daß sie des<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> Leidens nicht Herr werden könne. Da
+verfiel die alte Katharina, die nächst Venne ihrer Herrin über alles
+zugetan war, auf den Plan, die Gittermannsche zu befragen, die ihr von
+guten Bekannten empfohlen wurde.</p>
+
+<p>Katharina mußte die Art der Krankheit genau beschreiben, doch erklärte
+jene, es sei äußerst wichtig, daß sie die Kranke selbst sehe und
+spreche. Da wurde die treue Alte vor dem eigenen Mut bange, denn sie
+handelte ja ohne Ermächtigung ihrer Frauen. Doch die Liebe zu diesen
+und der brennende Wunsch, der Kranken Heilung zu verschaffen, überwog
+zuletzt die Bedenken. Was sie aber selbst noch an Mißtrauen gegen die
+geheimnisvolle Frau hegte, verscheuchte sie durch die drohenden Worte:
+»Das sage ich Euch, Gittermannsche, tut Ihr meiner Frau ein Leid an, so
+habt Ihr es mit mir zu tun, und mit mir ist nicht zu spaßen.«</p>
+
+<p>Jene antwortete nur mit einem überlegenen Lächeln, als ob ihre Kunst
+für sie außer Zweifel stehe.</p>
+
+<p>Venne schalt die alte Magd tüchtig, als sie von dem Besuche hörte, und
+die Kranke weigerte sich, mit der Frau in Berührung gebracht zu werden,
+die doch eine Hexe sei. Aber das Leiden wurde schlimmer, und Katharina
+kam hartnäckig immer wieder auf die Sache zurück. Schließlich gaben die
+beiden nach, und man einigte sich, daß zunächst Venne mit der Getreuen
+— im Dunkel des Abends natürlich — die Gittermannsche aufsuchen solle.</p>
+
+<p>Die alte Vettel war von einer überraschenden Liebenswürdigkeit, denn
+ihr lag viel daran, in dem angesehenen Hause Zutritt zu erhalten.
+Auf Venne wirkte indes gerade diese Art widerlich und abstoßend,
+aber sie bezwang ihren Abscheu, um der Mutter zu helfen. Mit großer
+Zungenfertigkeit pries die Gittermannsche ihre Kunst und zählte<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span>
+tausend Mittel und Sprüche auf, die unfehlbar, schnell oder langsam
+helfen müßten.</p>
+
+<p>Venne wirbelte der Kopf von all dem Gehörten, aber sie gewann doch
+die Hoffnung, daß das Weib vielleicht die Heilung in der Hand habe.
+Es wurde also verabredet, daß sie auf besondere Botschaft hin kommen
+solle. Nun galt es noch, der Mutter endgültige Zustimmung zu erlangen.
+Der Vater wurde nicht ins Vertrauen gezogen; man hoffte es so
+einrichten zu können, daß er nichts von dem Besuche erfuhr. Später,
+wenn, wie Venne hoffte, eine Besserung eingetreten war, sollte auch er
+davon hören.</p>
+
+<p>Als die Gittermannsche an dem verabredeten Abend vorkam, hätte Venne
+ihre Zusage am liebsten zurückgenommen, denn sie sah hier in der
+sauberen Wohnung fast noch unheimlicher und schmutziger aus als in
+ihrer Behausung. Die Mutter tat ihr doppelt leid, die sich von diesem
+Geschöpf behorchen und befühlen lassen mußte. Aber die ließ alles so
+teilnahmslos über sich ergehen, daß sie die Einzelheiten gar nicht
+wahrzunehmen schien.</p>
+
+<p>Als die Megäre mit der Untersuchung fertig war, sann sie nach, wobei
+sie den schmutzigbraunen Finger an die Nase legte. Venne sah ihr
+angstvoll zu, als ob ihr eigenes Leben von dem Ausspruch abhänge. Dann
+kramte jene ihre Weisheit aus.</p>
+
+<p>»Der Fall liegt schwer; doch ich hoffe, das Übel mit der Wurzel zu
+fassen. Habt Ihr, Frau, etwa böse Neider oder eine Feindin, die Euch
+das Übel angetan hat? Denn ohne Zweifel seid Ihr versehen worden.«</p>
+
+<p>Frau Richerdes antwortete, sie sei sich nicht bewußt, sich jemandes
+Feindschaft zugezogen zu haben, auch wisse sie keinen Menschen, dem
+sie so Böses zutrauen könnte. Da<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> legte sich aber Katharina ins Wort.
+»Ihr vergaßet das Zigeunermensch, das wir damals fortjagten, weil die
+Frau, als sie, Euch wahrzusagen, sich in die Stube gedrängt hatte, es
+verstand, sich ein seidenes Tuch anzueignen, das in ihrer Nähe lag. Ihr
+waret gutmütig genug, sie straflos laufen zu lassen. Aber ich erinnere
+mich noch genau des bösen Blickes, den sie auf Euch warf, und geheime
+Worte murmelte sie auch im Weggehen.«</p>
+
+<p>»Dacht' ich mir's doch,« sagte die Gittermannsche. »Die Zigeunerinnen
+verstehen sich besonders auf die Kunst des bösen Blickes, und einen
+Zauberspruch wird sie Euch auch noch auf den Hals geschickt haben,
+ohne daß Ihr es merktet. Da werden wir es gleich mit kräftigen Mitteln
+versuchen müssen, um der Sache Herr zu werden. Und es soll mit dem
+Teufel zugehen, wenn es uns nicht gelingt.«</p>
+
+<p>Bei dem Worte ›Teufel‹ fuhren die Frauen zusammen, und die ängstliche
+Katharina erklärte energisch: »Wir sind gute Christen und wollen mit
+dem Gottseibeiuns nichts zu tun haben.«</p>
+
+<p>»Ach, geht mir mit Euren Einwänden,« entgegnete die Gittermannsche.
+»Meint Ihr, <em class="gesperrt">ich</em> habe mit dem Teufel zu tun oder will Euch ihm
+verschreiben? Aber was von ihm kommt, muß zu ihm zurück. Das werdet
+Ihr doch auch wohl gelten lassen, oder wollt Ihr's für Euch behalten?
+Ich werde Euch eine Brühe kochen, mit der Ihr Eure Schwelle besprengt.
+Daneben reibt Ihr der Kranken die Herzgrube mit der Salbe, die Ihr
+gleichfalls bekommen sollt. Die Salbe ist wunderlich zusammengesetzt,
+und ihr Geheimnis behalte ich für mich. Die Brühe aber mögt Ihr selbst
+kochen; also wisset, wie man's macht.</p>
+
+<p>Kauft in Gottes Namen eine Muskatnuß, ohne um den<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> Preis zu feilschen,
+schneidet sie durch und zerstoßt sie mit Buchenasche, die im Sommer
+gewonnen ist. Kocht das Ganze in einem Eimer fließenden Wassers und
+gießet es an einem Donnerstag in Gottes Namen auf Eure Schwelle, indem
+Ihr also sprecht:</p>
+
+<p>›Dat et nu vorgae unde dem duvel nicht bestae. Im Namen des vaders
+unde des sones unde des hilghen gheistes.‹ Handelt genau nach meiner
+Vorschrift und wartet die Wirkung ab.«</p>
+
+<p>Eine Belohnung wollte die Gittermannsche nicht nehmen, nein, es war ihr
+nur um die christliche Barmherzigkeit zu tun, und sie freue sich, einer
+so ansehnlichen Frau zu helfen. Katharina aber sorgte dafür, daß ihre
+Schürze in der Küche mit allen möglichen nützlichen und schönen Sachen
+gefüllt wurde.</p>
+
+<p>So gewann die Gittermannsche Zutritt und Einfluß im Hause Richerdes.
+Hätte die gute Katharina geahnt, welchem Unheil sie damit die Tür
+öffnete, sie hätte jene nicht gerufen, selbst nicht um den Preis der
+Wiederherstellung ihrer Frau.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Auf dem Vater Vennes lasteten noch mehr Sorgen als die Krankheit der
+Frau. Was er damals dem Ratsherrn Achtermann zugesagt hatte, war in
+Verhandlungen mit dem Rate der Stadt herangereift. Richerdes wollte
+sein Grubenrecht um zweitausend Mark lötigen Silbers abtreten. Es
+handelte sich noch darum, die genaue Abgrenzung seiner Gerechtsame im
+Berge markscheiderisch festzulegen. Solange ging der Betrieb auf seine
+Kosten weiter.</p>
+
+<p>Er konnte sich nicht verhehlen, daß der Ertrag immer geringer und
+zweifelhafter wurde, und es fiel ihm schwerer und schwerer, die Löhne
+und Gelder für Grubenholz aufzubringen. Der Silvane Bandelow, der ihm
+so viel von Freundschaft und nachbarlicher Gesinnung vorgeredet hatte,
+drohte mit der Einstellung der Holzlieferungen. Die Verhandlungen
+mit dem Rat kamen ihm dabei als Ausrede sehr gelegen. »Er habe ja
+abgeredet, zu verkaufen; ja, wenn Richerdes das Werk weiterbehalten
+wolle, aber so ...« Es mußte also Geld beschafft werden. Die Bekannten
+zeigten sich nicht geneigt, zu helfen; auch Achtermann gab unter
+allerhand Ausreden nichts her. Da blieb kein anderer Weg offen, als
+sich an die gewerbsmäßigen Herleiher zu wenden, wenn es auch vielleicht
+unchristliche Zinsen kostete.</p>
+
+<p>Der Zuzug der Juden nach Goslar wurde von dem Rat immer von Fall zu
+Fall und mit zweckdienlicher Zurückhaltung geregelt. Er hatte sich
+dabei bislang immer durchaus als ein guter Geschäftsmann gezeigt, der
+eine Leistung<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> nicht tut ohne Gegenleistung. Das bedeutet für die
+vielgejagten und verfolgten Kinder Israels nichts anderes, als daß sie
+zahlen und nochmals zahlen mußten, um die Erlaubnis zur Ansiedlung zu
+erlangen. Und da der Kaiser auch für seinen Schutz noch eine besondere
+Steuer ihnen auferlegte, so ergab sich für diese Schutzjuden des
+Rates und des Kaisers die Pflicht, zu zahlen und zu zahlen, um nur
+ein Obdach zu haben. Was Wunder also, daß sie daraus für sich die
+Erlaubnis ableiteten, zu nehmen, wo sich's ihnen bot, das heißt, ihren
+christlichen Mitmenschen ihre Hilfe in Form von Darlehen um Zinsen zu
+gewähren, bei denen jenen leicht der Atem ausgehen konnte.</p>
+
+<p>Das Ghetto der goslarschen Juden war die Hokenstraße. Dort hausten
+sie zusammen, so viele oder so wenige ihrer in der großen Reichsstadt
+wohnten, gemieden von den Einwohnern, nur sich selbst lebend und ihren
+Geschäften. Verirrte sich ein Christ in diese enge, dunkle Straße,
+so geschah es sicher nur, um die Hilfe der Hebräer in Geldsachen in
+Anspruch zu nehmen.</p>
+
+<p>Es war dem ehrenfesten, angesehenen Bürger und Bergherrn Richerdes ein
+hartes Angehen, den Weg zu dem Juden Asser anzutreten. Dieser wohnte
+mit seinem Weibe Lusse in einem dunklen Hause nach dem Fleischscharren
+zu.</p>
+
+<p>Er trat dem ernsten Mann, der da in der Dämmerung ins Haus trat, mit
+all der unterwürfigen Geschmeidigkeit entgegen, die den Leuten seines
+Stammes eignet im Verkehr mit anderen, vor deren Stellung und Person
+sie sich noch eine Förderung oder Schädigung ihrer Interessen versehen.</p>
+
+<p>Auf dem Untergrunde seiner lebhaften, dunklen Augen glomm ein Schimmer
+wilder Freude, daß wieder einer der Andersgläubigen den Weg zu ihm,
+dem Verachteten, Geschmähten,<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> fand in seiner Not und daß er auch in
+dessen Schicksal werde eingreifen können, um, wenn die Stunde gekommen
+war, den Anteil seiner Rache an dem verfluchten Christenvolk zu üben,
+zu der die ein Leben lang getragene Schmach und der durch Jahrhunderte
+vererbte Wunsch, den unauslöschlichen Haß zu löschen, trieben. Über die
+mißliche Lage seines Gegenübers, den er mit vollendeter Höflichkeit auf
+den Ehrenplatz nötigte, war er längst unterrichtet.</p>
+
+<p>Asser — die Juden hatten zu jener Zeit noch nicht das Recht, sich
+andere Namen zuzulegen — hörte den Bergherrn ruhig an. Nur das nicht
+bezwungene Spiel seiner Augen verriet, daß er bei der Sache war.
+Richerdes schloß fast barsch: »Also, Jude, willst Du mir Geld leihen
+oder nicht? — Daß es Dein Schade nicht sein wird, weißt Du selbst am
+besten.«</p>
+
+<p>Auf einmal war Asser ganz zurückhaltender, kühler Geschäftsmann, wenn
+er auch in seinen Worten der geschmeidige, unterwürfige Jude blieb.</p>
+
+<p>»Herr, es ist mir eine große Ehre, die Ihr mir Unwürdigem wollt antun;
+aber ich fürchte, ich werde Euch müssen enttäuschen. Jahve hat meiner
+Hände Arbeit gesegnet, das ist wahr. Aber was Euch erzählt haben andere
+Menschen von meinem Reichtum, ist Fabel. Gott der Gerechte soll mich
+strafen an meinem Samen, wenn ich habe in Besitz, was Ihr begehrt. Ihr
+wißt, daß der Hohe Rat, daß der Herr Kaiser in Wien haben auferlegt den
+armen Juden, große, schwere Lasten zu tragen, als wie will heißen, daß
+wir müssen zahlen große Summen, nur daß wir dürfen wohnen an solchem
+Ort wie Goslar. Wie soll ich da kommen zu Geld, um es zu geben Ew.
+Edelgeboren!</p>
+
+<p>Auch ist mir bekannt, wie ich habe gehört, daß Eure Sach'<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> nicht stehet
+zum besten, daß Euer Bergwerk nicht mehr lohnt die Kosten. Wie heißt
+da Geschäft, wenn nichts ist da, als womit man kann sich assekurieren
+gegen Verlust?«</p>
+
+<p>Richerdes schwoll die Ader über dieses Wort, die seine
+Zahlungsfähigkeit in Frage stellte.</p>
+
+<p>»Glaubst Du, verfluchter Jude, ich wäre zu Dir gekommen, um Dich zu
+betrügen?«</p>
+
+<p>»Gott soll mich bewahren, daß ich sollte haben solch schwarzen
+Gedanken,« antwortete der andere geschmeidig, »aber man wird doch
+dürfen sprechen vom Für und Wider, wenn es sich handelt um ein
+Geschäft. So muß handeln ein ehrlicher Jud, der ich bin gewesen all
+mein Leben lang, und so wird sprechen jeder Kaufmann, der etwas
+versteht vom Geschäft. Mag sein, daß man mir hat geschildert viel zu
+schwarz Eure Lage, aber ich muß rechnen, was spricht dafür und was
+spricht dagegen.</p>
+
+<p>Doch ich will Euch helfen, beim Gotte Abrahams, was steht in meinen
+Kräften. Wieviel wollt Ihr haben? Vielleicht, daß ich bringe zusammen
+das Geld von Freunden unter unseren Leuten. Doch müßt Ihr Euch begnügen
+mit weniger. Was wünschtet Ihr doch zu haben, günstiger Herr, daß ich's
+noch mal höre?«</p>
+
+<p>»Hundert Mark Silber«, entgegnete Richerdes kurz, doch etwas besänftigt.</p>
+
+<p>»Hundert Mark«, klagte der Jude. »Wo sollte ich hernehmen hundert Mark!
+Sagen wir fünfzig, fünfzig Mark. Das ist eine ansehnliche, glatte
+Summe, mit der Ihr werdet wirtschaften, bis daß es Euch geht besser
+oder Ihr habt Euer Geld vom Hochweisen Rat.«</p>
+
+<p>»Was weißt Du, Jude, von meinen Verhandlungen mit dem Rat?« fragte der
+Bergherr unangenehm überrascht.<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> »Nun nichts für ungut, Ew. Gnaden«,
+wandte Asser demütig ein. »Aber man hört ja dies und jenes; es braucht
+ja nicht immer zu sein wahr, aber man weiß doch gern, was geht vor
+sich.«</p>
+
+<p>»Also, dann her mit dem Geld«, begehrte Richerdes barsch.</p>
+
+<p>»Gott der Gerechte,« jammerte da der Jude, »wie soll ich kommen zu so
+grausam viel Geld, und wenn ich wollte kehren um mein Haus vom Dach
+bis zum Keller. Ich muß es mühselig mir selbst borgen zusammen. Kommt
+also morgen oder übermorgen, es abzuholen. Und, daß es nicht werde
+vergessen, der Ordnung halber, bringt auch gleich mit das Geschriebene,
+daß ich mag ruhig schlafen.«</p>
+
+<p>»Es ist gut, Asser, ich werde morgen hier sein. Halte das Geld bereit,
+der Pfandschein soll Dir nicht fehlen.«</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Auch das Geld des Schutzjuden Asser vermochte den Lauf der Dinge nicht
+aufzuhalten. Das Erzlager in der Richerdesschen Grube lief immer
+spitzer zu, und es war der Tag abzusehen, wo sie gänzlich zum Erliegen
+kommen würde.</p>
+
+<p>Mit dem geliehenen Gelde konnte der Bergherr noch einige verzweifelte
+Versuche machen, durch Seitenschläge eine andere Erzader zu
+erschließen; doch auch diese Anstrengungen verliefen erfolglos. Nun
+drängte Richerdes selbst darauf, daß der Rat den Ankauf vollziehe, aber
+die Ratsherren waren auch über die Sachlage unterrichtet und trugen
+Bedenken, ein so unvorteilhaftes Geschäft für die Stadt abzuschließen.
+Vergeblich wies Richerdes darauf hin, daß der Verkauf ohne Vorbehalt
+hätte abgeschlossen werden<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> sollen; vergebens auch bemühte er sich,
+darzutun, daß in vielen anderen Fällen schon neben einem sich
+totlaufenden Lager eine neue Ader gefunden sei, daß mindestens Aussicht
+bestehe, auf einer tieferen Sohle zu finden, was auf der jetzigen
+abgebaut sei; die Herren blieben bei ihrer Ansicht bestehen, daß der
+Vertrag noch nicht abgeschlossen sei und also die daraus für Richerdes
+erwachsenden Vorteile nicht gewährt zu werden brauchten.</p>
+
+<p>Was der Ratsherr Heinrich Achtermann ihm früher als drohendes Gespenst
+vorgehalten hatte, um ihn zu einem Verkauf gefügig zu machen, das trat
+jetzt trotz seiner Nachgiebigkeit ein: Richerdes, der angesehene Bürger
+und Montane, war ruiniert, zahlungsunfähig.</p>
+
+<p>Das lauteste Geschrei erhob der Schutzjude Asser, der sich um sein Geld
+sorgte. Jetzt, wo er glaubte, keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen
+auf den einst angesehenen Bürger und Christen, zeigte sich der ganze
+aufgespeicherte Haß seines Volkes. Er raufte sich das Haar, nannte sich
+den unglücklichsten aller Söhne Abrahams und schimpfte seinen Schuldner
+einen abgefeimten Spitzbuben und Betrüger. Diese Tonart wurde ihm
+allerdings bald verleidet durch eine Buße von mehreren Mark Silber, die
+der Rat über ihn verhängte wegen Kränkung eines Christen und bis dahin
+unbescholtenen Bürgers.</p>
+
+<p>Er erhielt auch sein Geld, und zwar zahlte ihn der Ratsherr Heinrich
+Achtermann aus. Das geschah allerdings nicht aus christlicher
+Barmherzigkeit; er tat es auch nicht der nahen verwandtschaftlichen
+Beziehungen wegen, die durch das Verlöbnis nach der Anschauung jener
+Zeit als damit bestehend angesehen wurden. Er zahlte, weil er nicht
+wollte, daß der Vater der mit seinem Sohne verlobten Tochter in den<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span>
+Schuldturm wandere. Über die weitere Entwicklung der Dinge war er sich
+für seine Person völlig im klaren. Im übrigen sicherte er sich gegen
+Verlust durch ein Pfand auf das Anwesen des Bergherren.</p>
+
+<p>Richerdes war durch das Unglück völlig niedergebrochen. In diesen
+Tagen, da das Unheil wie eine schwere Wolke über dem Hause in der
+Bergstraße lastete, zeigte sich Venne als eine wahre Heldin. Sie suchte
+den Vater aufzurichten, und sie pflegte die Mutter, deren Zustand sich
+infolge der Aufregungen immer mehr verschlimmerte.</p>
+
+<p>Venne hatte niemand, um ihm ihr übervolles Herz auszuschütten, als
+die alte Vertraute ihrer Kindheit, die brave Katharina. Noch einmal
+wurde die Gittermannsche zu Rate gezogen, noch einmal versuchte es
+diese mit einer neuen Salbe, einem neuen kräftigen Spruch; aber das
+Ende war nicht aufzuhalten. Als die Blätter im lustigen Todestanze zur
+Erde wirbelten, schloß auch diese müde Erdenpilgerin die Augen für
+immer. Und es war zu erkennen, daß der Vater, an dem die Schmach der
+unschuldig erlittenen Verarmung und Erniedrigung zehrten, sie nicht
+lange überleben würde.</p>
+
+<p>Auch die tapfere Venne drohte dem ungleichen Kampfe mit dem widrigen
+Schicksal, in dem sie allein auf dem Plan stand, zu unterliegen. Die
+einzige Wohltat, die ihr in dieser Zeit widerfuhr, war die treue
+Freundschaft, welche ihr von den Hardts entgegengebracht wurde.</p>
+
+<p>Auch Immecke Rosenhagen bewies in diesen Tagen der Not, daß sie zur
+Stelle sei, wenn man sie brauchen konnte. Sie hatte längst erkannt, daß
+der Mutter nicht zu helfen war. Sie half mit einem stärkenden Trank,
+mit einer schmerzstillenden Salbe. Was die Gittermannsche anpries,<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span>
+war in ihren Augen und nach ihren Worten Schwindel. Sie redete den
+Frauen auch ab, sich mit der Person einzulassen, da man daraus
+Unannehmlichkeiten haben könne. Wenn Venne gegen ihren Rat handelte, so
+geschah es aus dem heißen Wunsche heraus, das teure, schwindende Leben
+so lange festzuhalten, wie sie konnte.</p>
+
+<p>Und wo blieb Heinrich Achtermann, der Verlobte Vennes?</p>
+
+<p>Seine Liebe war nicht geschwunden. Der Schmerz, der über dem süßen
+Antlitz Vennes lagerte, je trostloser der Zustand der Mutter wurde,
+machte sie ihm noch begehrenswerter. Doch die Pflege der Mutter nahm
+sie so in Anspruch, daß sie nur selten Gelegenheit fand, ihn zu
+sprechen. In heißem Mitleid schloß er sie dann in die Arme.</p>
+
+<p>»Mein armes Herz, was kann ich nur tun, um Dir die Last tragen zu
+helfen, die Dich erdrücken muß? Laß mir doch den mir gebührenden Anteil
+an Deinem Leid. Du weißt, geteilter Schmerz ist halber Schmerz.«</p>
+
+<p>Venne lächelte ihm dankbar unter Tränen zu. »Du kannst mir nicht
+helfen, jetzt noch nicht. Wer weiß, ob es nicht noch schlimmer kommt.
+Versprich mir nur das eine, daß Du mich nie verlassen wirst.«</p>
+
+<p>»Deine Worte verdienen eigentlich Strafe,« zürnte Heinrich. »Hältst
+Du mich für einen solchen Schurken, daß ich Dich im Unglück aufgeben
+könnte?«</p>
+
+<p>Beseligt nickte Venne ihm zu: Nein, sie war beruhigt, Heinrich
+Achtermann war einer solchen Sünde wider göttliches und menschliches
+Recht nicht fähig!</p>
+
+<p>Der junge Achtermann, dem die Ratsherrnwürde in der Reichsstadt Goslar
+so sicher zufallen mußte wie das Erbe seines Vaters, war von der
+Aufrichtigkeit seiner Worte selbst völlig durchdrungen. Er liebte Venne
+mit all der Innigkeit<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> und Glut, mit der er zuerst die Holde an sein
+Herz gezogen hatte. Wer ihm gesagt hätte, er werde die Braut verlassen,
+den würde er als persönlichen Feind behandelt haben. Aber er konnte
+nicht hindern, daß der Vermögensverfall des Vaters seiner Venne auch
+ihn in seine Kreise zog. Es fanden sich gute Freunde, die ihm unter
+dem Mantel teilnehmender Worte das Gift ihres Hohnes einträufelten.
+Manche vermeintliche oder wirkliche Kränkung, die ihnen von Venne in
+der harmlosen Sieghaftigkeit ihrer jugendlichen Anmut unbewußt zugefügt
+war, manche Zurücksetzung, die ihretwegen neidische Freundinnen
+erfahren hatten, fanden jetzt Gelegenheit zu unschöner Vergeltung.</p>
+
+<p>Heinrich Achtermann widerstand tapfer; er wies alle Andeutungen, daß
+er Venne aufgeben müsse, entrüstet zurück. Aber der Stachel blieb doch
+sitzen, und die Überlegung in den stillen Stunden der Nacht konnte
+jenen nicht unbedingt unrecht geben: Hatten sie nicht recht, war es
+nicht eine sehr zweifelhafte Sache, die Tochter eines verarmten Mannes
+zu freien, welcher der schimpflichen Schuldhaft nur durch die Hilfe
+des Vaters entgangen war? Und würde es je gelingen, die Lästermäuler
+zum Schweigen zu bringen? — alles Gedanken, deren Gewicht er nicht
+verkannte. Ein gewichtiger Helfer aber erwuchs denen, die aus Bosheit
+oder Rachsucht das Band zwischen ihm und Venne Richerdes zu zerreißen
+suchten, im Vater.</p>
+
+<p>Der Ratsherr Heinrich Achtermann hatte selbst den Freiwerber für seinen
+Sohn gemacht, so hätte ihm Richerdes entgegenhalten können. Er zeigte
+sich der Vereinigung geneigt, denn die hübsche Venne tat es auch ihm
+mit ihrem Liebreiz an. Zwar war der Bergherr kein reicher Mann, aber
+das brauchte bei der eigenen Vermögenslage kein<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> Hindernis zu sein. An
+Ansehen standen ihm die Richerdes nicht nach; auch ihre Familie hatte
+der Stadt mehr als einen Ratsherrn und Bürgermeister gegeben.</p>
+
+<p>Das alles änderte sich indes, als der angehende Schwäher ein armer
+Mann wurde mit all den unglückseligen Begleitumständen, die wir
+kennen. Wandte er auch mit eigenem Gelde das Schlimmste von jenem ab,
+so kam der Montane als Verwandter für ihn nicht mehr in Betracht.
+Sein Patrizierstolz hätte es nie verwunden, daß man hinter der
+Schwiegertochter, wenn auch im geheimen, herzischelte als der Tochter
+eines fallit gewordenen Bürgers.</p>
+
+<p>Achtermann hoffte, daß der Sohn selbst so viel Einsicht haben
+werde, das Band zu lösen; er, der Vater, wäre dann wohl auch noch
+zu besonderen Opfern bereit gewesen, um die Angelegenheit möglichst
+geräuschlos zu regeln. Als er aber zum ersten Male mit Heinrich darüber
+sprach, brauste dieser auf und erklärte, er werde nun und nimmer
+die Braut im Stich lassen. Der Vater ließ ihn ruhig reden, in der
+Überzeugung, daß der Überschwang seiner Gefühle sich unter dem Einfluß
+der Zeit schon ausgleichen werde.</p>
+
+<p>Es war dem Sohne, als ob die kühlen Worte des Vaters, der die Sache
+wie ein Geschäft behandelte, Venne selbst in ihrer Abwesenheit
+träfen, und er suchte noch am selben Abend Gelegenheit, die Geliebte
+seiner unwandelbaren Treue zu versichern. Er fand sie nicht, denn
+der Zustand des Vaters — die Mutter hatte man wenige Wochen vorher
+zu Grabe getragen — erschien ihr gerade an diesem Abend besonders
+besorgniserregend. Heinrich ging davon, etwas verstimmt, daß seine gute
+Absicht nicht zur Ausführung kam.</p>
+
+<p>Auch Venne selbst war die Sorge gekommen, ob die<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> Vereinigung mit dem
+Geliebten werde zustande kommen; denn auch ihr blieben natürlich die
+Demütigungen nicht erspart und versteckte Anspielungen, es sei ihre
+Pflicht, den Ratsherrnsohn freizugeben. Es tauchte ihr auch wohl selbst
+der Gedanke auf, das Opfer nicht anzunehmen, und herber Trotz gegen
+alle Welt, auch gegen den Geliebten, ließ sie mit dem Gedanken spielen,
+Verzicht zu leisten. Aber dann quoll die Angst um so heißer in ihr auf
+und die Sehnsucht nach dem Geliebten.</p>
+
+<p>In diesem Widerspruch der Empfindungen traf sie eine Botschaft des
+alten Achtermann ins Herz, der ihr zuraunen ließ, sie möge den Sohn
+freigeben, er werde sich die Sorge um ihre Zukunft angelegen sein
+lassen. Das wirkte wie ein Schlag ins Gesicht auf die stolze Venne. In
+ungebändigtem Trotz ließ sie dem Ratsherrn sagen, sie werde sich dem
+Sohn nicht an den Hals werfen; das Anerbieten aber, für sie sorgen zu
+wollen, weise sie als eine besondere Kränkung zurück. Der Alte ließ
+sich dadurch nicht beirren, »Mädchenüberschwang«, dachte er. »Das wird
+sich schon zurechtgeben.«</p>
+
+<p>Heinrich, der Sohn, wußte von dem Vorgehen des Vaters nichts. Er
+versuchte mehrmals die Geliebte zu sprechen, erfuhr aber durch
+Katharina jedesmal eine mehr oder weniger mürrische Abweisung. Da
+setzte er es einmal doch durch, daß er vorgelassen wurde. Venne empfing
+ihn mit verweinten Augen. Auf seine Frage, was ihr sei, hielt sie
+zunächst zurück. Doch dann durchbrach das aufgehäufte Weh und der Zorn
+über die Demütigung die Schranken, und sie klagte mit bitteren Worten
+den Vater an. Heinrich war erschrocken und empört, und er bat Venne,
+ihm zu vertrauen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span></p>
+
+<p>»Ich schwöre Dir bei allem, was mir heilig ist, daß ich von dieser
+Niedertracht nichts weiß und nichts ahnte. Glaube mir doch, Geliebte,
+ich stehe zu Dir, und wenn sich alles gegen Dich vereint.«</p>
+
+<p>Mit heißen Küssen besiegelte er seine Schwüre, und in Venne stieg ein
+Gefühl des Glückes auf, blieb ihr doch wenigstens dies Allerschwerste
+erspart!</p>
+
+<p>Zu Hause stellte Heinrich den Vater zur Rede. Der Ratsherr leugnete gar
+nicht, daß er wirklich die Botschaft geschickt habe.</p>
+
+<p>»Wenn die Kinder die Vernunft verlieren, müssen die Eltern für sie
+denken und handeln.«</p>
+
+<p>Heinrich begehrte auf und erklärte, daß er nie und nimmer von Venne
+lassen werde, der Vater blieb ganz kühl und ruhig.</p>
+
+<p>»Vorläufig ist es bei uns noch Sitte und Gesetz, daß die Eltern
+bestimmen, was aus ihren Kindern werden soll, und ich lasse mir dieses
+Recht nicht schmälern.«</p>
+
+<p>»Und doch wirst Du mich nicht zwingen. Zuletzt steht mir der Weg in die
+Welt offen, und ich werde mit Venne davongehen«, antwortete Heinrich um
+so erregter. Da lachte der Vater spöttisch auf: »Das gäbe eine nette
+Wandergesellschaft: Du ein Junker Habenichts und sie eine Jungfer
+Bettlerin. Da werdet Ihr Euch allabendlich Euer Nest am Straßenrain
+bereiten müssen. Aber wir wollen das Thema heute abbrechen, es führt im
+Augenblick doch zu nichts.« — Er wußte, daß die Zeit für ihn arbeiten
+werde.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Das Leben des Bergherrn Richerdes war seit dem Hinscheiden seiner Frau
+nur noch ein langsames Sich-zu-Tode-Quälen. Der schon in gesunden
+Tagen hagere, große Mann war abgemagert zum Skelett. In gelblichen
+Falten lagerte die Haut auf dem Gesicht, aus dem die spitze Nase
+drohend hervorragte. Neuerdings litt er an Verfolgungsideen, in denen
+der Jude Asser, Achtermann und Karsten Balder die Schreckgestalten
+waren. Er weigerte sich, Nahrung zu nehmen, weil er seine Schulden
+nicht vermehren wolle; dann wieder hielt ihn der Argwohn davon ab,
+seine Feinde könnten Gift hineingetan haben. Die arme, tapfere Venne
+durchlebte eine Zeit schlimmsten Martyriums. Endlich, ein halbes Jahr
+fast nach dem Heimgange der Frau, glitt auch ihm der Pilgerstab aus den
+müden Händen. In seinen letzten, lichten Augenblicken mahnte er noch
+Venne, sie solle sein Recht dem Rat gegenüber nie vergessen. »Bedenke,
+mein Kind, daß Du es meinem Andenken schuldig bist, dieses Recht zu
+verfechten. Versprich es mir in die Hand, es nie aufzugeben, damit ich
+ruhig sterben kann.«</p>
+
+<p>Nun war Venne ganz allein in ihrer Trostlosigkeit und dem Bewußtsein,
+daß sie aus dem Kreise aller derer ausscheide, bei denen sie bis zu dem
+Unglück ihres Vaters ein gern gesehener und umworbener Gast gewesen.</p>
+
+<p>Das alles hätte sie noch ertragen, wäre nicht die Angst und die
+quälende, beschämende Sorge gewesen, daß auch Heinrich, der Verlobte,
+ihr entgleite. Noch halten ihn seine<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> Schwüre, noch kommt er, sie zu
+sehen, noch ist er voller Liebe und Mitleid. Sie trinkt seine Küsse wie
+eine Verdürstende, wenn er sie umschließt, und hängt an seinem Munde,
+um von ihm immer wieder zu hören, daß er sie noch liebe. Begütigend,
+tröstend, voll zarter Teilnahme streicht er über ihr Haar und
+versichert sie seiner Treue. Und immer wieder drängt es sich aus ihrem
+Munde: »Verlaß mich nicht, bleibe mir treu!«</p>
+
+<p>Und er schwört ihr mit neuem, heiligem Schwur, daß nichts sie trennen
+soll, nicht der Vater, nicht die hämische, neidige Welt. Dann seufzt
+sie glücklich, wie aus tiefster Seele befreit, auf, und sie schwört ihm
+und sich selbst zu, Vertrauen zu haben. Aber kamen dann die dunklen
+Stunden der Nacht, lag sie schlaflos auf ihrem Lager, dann stürzten
+sich die Zweifel wie gierige Wölfe auf sie und zermarterten ihr armes
+Herz.</p>
+
+<p>Seit dem Tode des Vaters hauste sie allein mit Katharina in dem großen,
+leeren Hause. Die Mägde waren entlassen, die Knechte gegangen. Sie
+fürchtete sich und hatte die alte Magd gebeten, bei ihr zu schlafen.
+Katharina hörte, wie die von ihr über alles geliebte Herrin sich
+ruhelos auf ihrem Lager wälzte, sie vernahm ihre Seufzer und ihr
+stilles Schluchzen. Sie wäre für Venne in den Tod gegangen, hätte sie
+ihr damit das Glück erkaufen können. Verzweifelt drängte sie in Venne,
+ihr zu sagen, was sie bedrücke, Venne schwieg.</p>
+
+<p>»Ist Heinrich Achtermann auch von Dir abgefallen?« fragte sie mit
+verbissenem Grimm.</p>
+
+<p>»Nein, nein, er ist mir treu und wird mich nicht verlassen, wenn man
+ihn nicht dazu zwingt.«</p>
+
+<p>»Wie soll man ihn zwingen, wenn er selbst nicht will?<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> Oder meinst Du,
+man könne ihm im geheimen Zwang antun?«</p>
+
+<p>Venne antwortete nicht darauf, aber Katharina schloß daraus, daß diese
+Befürchtung zutreffe.</p>
+
+<p>»So wird man unsererseits darauf sehen müssen, daß er nicht von Dir
+lassen kann«, murmelte sie für sich. Und es ward ihr zur fixen Idee,
+daß sie alles daransetzen müßte, um Heinrich bei ihrer Venne zu
+halten. Dieser durfte sie von ihren Plänen nichts sagen, Venne würde
+es ihr verbieten; aber sie wußte, was sie zu tun hatte. Klang ihr
+nicht ein Wort der Gittermannschen in den Ohren: »Ich habe auch Mittel
+anderer Art zu Gebote; gilt es zum Beispiel den ungetreuen Liebsten
+zurückzubringen oder einen, den man begehrt, an sich zu fesseln, so ist
+die Gittermannsche da mit ihrem Spruche.«</p>
+
+<p>Damals belächelte Katharina diese Anpreisung ihrer Kunst, sie, wie
+Venne: Wie sollte sich für diese je die Notwendigkeit bieten, von der
+Gittermannschen dunkler Kunst Gebrauch zu machen, da doch Venne auf
+dem Gipfel der Glückseligkeit zu stehen und ein Sturz von dieser Höhe
+unmöglich schien.</p>
+
+<p>Jetzt aber war es so weit, und sie suchte die verrufene Alte aufs neue
+auf. Zunächst sperrte sie sich und redete von Undank und Gefahr, in die
+man sie bringe, denn die alte Katharina hatte ihr, als ihre Mittel sich
+bei Frau Richerdes doch nicht bewährten, mit drastischen Worten ihre
+Meinung gesagt. Als sie indes vor den Augen der habgierigen Hexe ein
+Stück Geld glänzen ließ, änderte sich Wort und Miene der Gekränkten.
+Man verabredete die Einzelheiten.</p>
+
+<p>Natürlich müsse sie den Namen desjenigen wissen, dem<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> das Mittel gelte.
+Ungern nannte Katharina den Namen Heinrich Achtermanns, aber die
+Gittermannsche bestand darauf.</p>
+
+<p>»Dachte ich's mir doch«, höhnte die Alte. »Solange das Täubchen im
+Glück saß und sein Gefieder goldig schimmerte, war das Herrlein
+begeistert; nun, da der Glanz erblichen ist, tritt er den Rückzug an.«</p>
+
+<p>»Ihr tut ihm vielleicht unrecht«, warf Katharina ein. »Nach dem, was
+meine Venne meint, ist es vielmehr der Vater, der sie trennen will.«</p>
+
+<p>»Natürlich, der dickgeschwollene Protz fürchtet, daß sein Geldsack
+eine Falte bekommt, wenn er dem armen Mädchen beisteht. Doch zum Glück
+sind wir noch da, wir, die Gittermannsche, und wir wollen es ihm schon
+zeigen. Also, die Sache ist so: was ich Euch geben werde, muß Eure
+Venne dem Liebsten heimlich beibringen.«</p>
+
+<p>»O nein, o nein,« wehrte Katharina ab, »das ist schon gefehlt. Die
+Venne bringe ich nie dazu, daß sie Heinrich Achtermann etwas eingibt,
+um ihn zu fesseln. Das verbietet ihr der Stolz und auch ihr Trotz.«</p>
+
+<p>»Ei, ist die Schöne noch so wenig kirre?« höhnte das Weib. »Ja, da
+wird wenig zu machen sein, wie ich's im Augenblick übersehe. Ich kenne
+es bis jetzt nicht anders, als daß das Liebchen sich selbst der Sache
+annimmt. Und ich begegnete auch bisher nie einem Widerstreben. Im
+Gegenteil, keine hätte einem anderen anvertraut, was ihr selbst dienen
+sollte.«</p>
+
+<p>»Sie ist auch nicht ›keine andere‹, sondern meine stolze Venne,«
+entgegnete Katharina, »und was auf andere zutrifft, paßt auf sie noch
+lange nicht. Also besinnt Euch, ob es nicht einen anderen Weg gibt,
+sonst muß ich auf Euren<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> Dienst verzichten.« Damit ließ sie das Geld in
+ihrer Tasche verschwinden.</p>
+
+<p>Habgierig folgten die Augen der unholden Frau ihrer Bewegung. »Nun,
+vielleicht geht's doch, laßt mir nur einen Augenblick Zeit zum
+Nachdenken. — Doch, so wird es sich machen lassen. Venne ist, so sagt
+Ihr, dem Verlobten in heißer Liebe zugetan; ihre Gedanken bewegen
+sich um ihn. Da kommt es darauf an, daß sie zu der Stunde, wo dem
+Bräutigam mein Trank gegeben wird, all ihr Sinnen auf ihn richtet.
+Vermögt Ihr das, indem Ihr selbst das Gespräch auf Heinrich Achtermann
+bringt, so ist uns geholfen. Und dann bedarf es natürlich noch, was die
+Hauptsache ist, einer zuverlässigen dritten Person, die jenem den Trank
+verabreicht. Habt Ihr oder kennt Ihr jemand im Hause Achtermann, dem
+wir das anvertrauen können?«</p>
+
+<p>»Daran habe ich schon gedacht, als ich zu Euch kam. Eine alte Bekannte
+von mir lebt als Magd im Hause der Achtermanns. Wie ich die kenne, so
+hat sie den Heinrich großgewartet. Ihr darf ich mich anvertrauen, und
+sie wird sich bereit finden, ihm den Trank zu reichen, vorausgesetzt,
+daß er nichts die Gesundheit Schädigendes enthält. Dann würde übrigens
+auch ich dazu die Hand nicht bieten«, antwortete Katharina.</p>
+
+<p>»Meint Ihr, ich wolle mich selbst um den Hals bringen? Vielleicht setzt
+es ein wenig Bauchgrimmen; aber auch das ist bei dem kräftigen Mann
+nicht zu befürchten. Übrigens sollt Ihr, damit Ihr wißt, daß nichts
+Giftiges hineinkommt, das Rezept erfahren, und Ihr mögt, wenn Ihr
+wollt, den Trank selbst brauen. Also hört nun.«</p>
+
+<p>»Nicht doch,« rief Katharina erschrocken, »des vermäße<span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span> ich mich nicht.
+Meine alten Augen möchten mich trügen oder die Hände zittern bei dem
+Zumessen der Sachen. Macht ihn nur fertig, ich will das Weitere schon
+besorgen.«</p>
+
+<p>»Ach,« sagte die Gittermannsche, »stellt Euch nicht zimperlich an.
+Wollt Ihr es nicht, so tue ich es. Sorgt dann aber, daß er auch von dem
+Rechten genossen wird. Immerhin mögt Ihr wissen, was darinnen sein wird.</p>
+
+<p>Ihr holt in der ersten Nacht des abnehmenden Mondes einen Eimer
+fließenden Wassers, das über Steine floß, und kocht es über drei
+Steinen, aus demselben fließenden Wasser genommen. Von dem kochenden
+Wasser mischt Ihr, wenn es wieder kalt geworden ist, in etwas Bier, tut
+dazu einiges von der Blume Fatur, nehmt auch neun Fliegen, Erde von dem
+Kirchhofe und ein Stückchen von der Haut einer Natter, — ich kann sie
+Euch verschaffen. Diesen Trank laßt Ihr dem Bräutigam reichen.</p>
+
+<p>Da Eure Venne nicht selbst handelnd auftreten soll, so will ich den
+Spruch so wählen, daß alles ohne ihr Zutun sich abspielen kann. In
+der Nacht darauf, nachdem der Trank gekocht ist, soll ihn Heinrich
+Achtermann vorgesetzt bekommen. Ihr aber geht in derselben Stunde unter
+einen Ahornbaum und sprecht zugleich, während Ihr in einem von Euch
+dort angemachten Feuer stochert, wobei Ihr an Heinrich Achtermann denkt:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">›Ahorn du blôte, ik bidde dik dorch dine sote,</div>
+ <div class="verse indent0">Dat ik moge affbreken unde heime dragen</div>
+ <div class="verse indent0">Sin barnede leve in Vennes Schragen.‹«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Mit einem leisen Grauen hörte Katharina der Frau zu, die mit dumpfer
+Stimme den Spruch hersagte. »Ist es auch<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> wirklich nichts Böses, was
+ich da tun soll? Und schadet es den beiden nicht?« fragte sie ängstlich.</p>
+
+<p>Da fuhr sie jene zornig an: »Nun hört aber endlich auf mit Eurem
+Gefasel von ›Schaden tun‹. Ich werde Euch den Trank geben, ob Ihr ihn
+dann ausschüttet oder weitergebt, soll mir gleich sein, wenn ich nur
+mein Geld bekomme.«</p>
+
+<div class="chapter">
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span></p>
+<p>Venne Richerdes wußte nichts von dem, was die gute Katharina ersonnen,
+um Heinrich Achtermann unauflöslich an sie zu ketten. Sie saß in ihren
+Gram versenkt in dem düsteren Hause und nahm keinen Anteil an dem
+Leben außerhalb desselben. Vom Vater hatte sie den verderblichen Hang
+geerbt, im Unglück sich in sich zurückzuziehen, sich mit einer Regung
+wollüstiger Gier in die Rolle des Märtyrers zu versenken, ohne ihn
+wirklich spielen zu wollen. Sie vergaß, daß sie selbst es war, die
+eine Mauer um sich aufbaute durch ihr herbes Sichabschließen gegen die
+Nächsten.</p>
+
+<p>Die Mitmenschen, die gutherzigen, sind wohl geneigt, uns mit ihrem
+Trost beizustehen. Nur wenige von ihnen aber geben sich die Mühe,
+hinter dem Wall verbitterten Stolzes das wunde Herz aufzusuchen, es in
+die Hand zu nehmen und ihm in gütiger Geduld Heilung zu bringen. Sie
+urteilen nach dem Schein: Sie will nichts von uns wissen, also mag sie
+für sich bleiben!</p>
+
+<p>Zum Glück für Venne Richerdes lebten ihr aber wahre Freunde in der
+Stadt, die sich durch ihre Herbheit nicht abschrecken ließen, sondern
+zu ihr durchdrangen und sie, je nach ihrer Gemütsart, durch ruhigen,
+sanften Zuspruch oder durch herzhaftes Zugreifen aus ihrem Trübsinn
+herauszureißen versuchten. Da war zum Beispiel die gute Immecke
+Rosenhagen. Wem die einmal ihr Herz geöffnet hatte, der behielt seinen
+Platz darinnen, und die Scheelsucht und<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> Schmähsucht der Welt steigerte
+höchstens noch ihre Zuneigung zu dem Mädchen, das es ihr mit seiner
+Schönheit, vor allem aber mit seinem freimütigen, gar nicht stolzen
+Wesen ihr gegenüber angetan hatte. Jetzt mußte sie ihre Zeit teilen
+zwischen dem ›Goldenen Adler‹, wie den unbändigen Enkelkindern und der
+einsamen Frau in der Bergstraße.</p>
+
+<p>Ihr gutes Herz erkannte Venne den Löwenanteil zu. Jeden Tag hockte sie
+in dem Hause, das jetzt so still dalag, und suchte Venne aufzuheitern
+mit drastischem Zuspruch und weichem, lindem Trost. Merkwürdig, selbst
+ihre barschen Worte, wenn sie einmal ungeduldig mahnte, jene solle
+nun endlich das Kopfhängen lassen, erreichten mehr als vielleicht
+die mitleidig klingende Äußerung eines anderen, der aber nach Vennes
+Argwohn die innere Wahrheit fehlte.</p>
+
+<p>Bei der alten Dienerin erkundigte sie sich nach vielen Einzelheiten, um
+den Schlüssel zu der abgrundtiefen Verzweiflung zu finden, in die Venne
+versunken war. Katharina verhehlte ihr nicht, daß ihr Verhältnis zu dem
+Verlobten wohl der Hauptanlaß sei, und es entschlüpfte ihr auch wider
+Willen eine Andeutung über ihr Vorhaben, zu dem die Gittermannsche
+die Hand bot. Immecke war erschrocken und riet dringend ab: »Von der
+Frau kommt nichts Gutes. Und was sie Euch vorredet von ihrer schwarzen
+Kunst, ist eitel Geschwätz. Ihr nützt nichts, richtet aber vielleicht
+großes Unheil an.«</p>
+
+<p>Da wurde Katharina wieder schwankend, denn sie hielt von dem Urteil der
+weitgereisten und weltklugen Immecke Rosenhagen viel. Als dann indes
+die unheimliche Frau mit ihrem Trank kam, ließ sie sich doch überreden,
+ihn ihrer guten Freundin im Hause Achtermann zu geben.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span></p>
+
+<p>Aber Immecke war nicht die einzige, die sich der armen Venne annahm.
+Auch das Haus Hardt bewies ihr in diesen Tagen, wessen wahre
+Freundschaft fähig ist.</p>
+
+<p>Seit Jahresfrist weilte auch Gisela von Wendelin in der Stadt am
+Harz. Sie hatte liebevollste Aufnahme gefunden im Schoße der Familie
+Hardt. Auch der Vater, der Arzt, erschloß ihr bald sein ganzes Herz,
+nachdem er kurze Zeit die Fremde, die aus weiter Ferne her, gegen
+das Herkommen, Einlaß in die goslarsche Gemeinschaft heischte, etwas
+zurückhaltend beobachtet hatte. ›Heischte‹ hieß ihr übrigens unrecht
+tun; denn sie kam, obwohl die Liebe ihres Johannes sie umhegte, wie ein
+schüchternes, verscheuchtes Vöglein, das sein Nest verloren hat. Gerade
+diese hilflose Schüchternheit, die sich der Anmut nicht bewußt war, in
+die sie gekleidet, gewann ihr die Herzen im Fluge.</p>
+
+<p>Als Gisela in Goslar eintraf, war im Hause Richerdes noch das Glück
+zu Gaste. Zwar siechte die Mutter, aber selbst ihr Leiden wurde
+verklärt durch die frohe Erwartung, die sich auf dem Antlitz Vennes
+widerspiegelte. Auch der Vater war trotz manchen täglichen Ungemachs
+gehobener Stimmung, bestand doch die Aussicht, daß mit dem Verkauf
+an die Stadt die Quelle aller Widerwärtigkeiten gänzlich verstopft
+werden würde. Dann brach das Unglück über sie herein. Die Bekannten
+zogen sich zurück. Freunde, auf die man gerechnet hatte, erwiesen sich
+als treulos. Da enthüllte sich die Lauterkeit Giselas am reinsten und
+schönsten. War sie schon vorher mit Venne befreundet, so wurde sie ihr
+jetzt eine starke Stütze. Sie kannte selbst die Schule des Leides; sie
+hatte es an sich selbst erlebt, was es heißt, in der bittersten Not
+einsam und verlassen zu sein. Unendliches Mitleid<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> mit der Mitschwester
+erfüllte ihr Herz und ließ sie alles versuchen, jene aufzurichten.</p>
+
+<p>Ihr gegenüber sprach Venne auch von Heinrich Achtermann und ihren
+Sorgen. Gisela hatte nur Worte zuversichtlicher Hoffnung. »Wenn er Dich
+lieb hat, wie Du es sagst, und wenn er so ist, wie Du ihn schilderst,
+verstehe ich Deine Bedenken nicht. Er wird Festigkeit genug in sich
+fühlen, um auch den Widerstand des Vaters zu besiegen. Nimm aber
+auch Du ihm nicht die Hoffnung, daß Du selbst nicht in dem Kampfe
+unterliegen wirst. Mir will es scheinen, als ob Deine Zurückhaltung ihn
+kränken, in ihm die Meinung hervorrufen muß, daß Deine eigene Liebe zu
+erkalten drohe. Wecke diese Stimmung nicht in ihm, es könnte zuletzt
+der Trotz in ihm erwachen und dem Vater ein wertvoller Bundesgenosse
+werden.«</p>
+
+<p>Venne versprach, ihrem Rate zu folgen, und als Heinrich wieder bei
+ihr anklopfte, gab sie sich unter dem Eindruck der Zuversicht, welche
+Gisela in ihr geweckt hatte. Heinrich, der unter dem Widerstand des
+Vaters und der herben Zurückhaltung der Geliebten in einen Widerspruch
+der Gefühle gekommen war, der ihn aufs tiefste bedrückte, atmete auf.
+Sie verlebten eine Stunde ungetrübten, reinen Glücks. Und Heinrich
+schied von ihr mit dem zuversichtlichen: »Du sollst sehen, meine
+einzige Venne, auch uns lacht wieder die Sonne.« Da verdarb die gute
+Katharina vollends, was sie ehrlich bemüht war, gutzumachen.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Zu Worms, wo Siegfried um die Burgundentochter gedient und gefreit, wo
+Kriemhilde dem meuchlings Erschlagenen dreizehn Jahre nachgetrauert
+hatte, ehe sie in ihrem brennenden Schmerze, zur Sättigung ihrer Rache,
+sich dem Hunnen Etzel vermählte, zu Worms, der großen Kaiser- und
+Reichsstadt, war alles Leben und Bewegung. Wie so oft seit den Tagen,
+in denen sich die Rüstungen der reisigen Burgunder in den Fluten des
+Rheins spiegelten, war die Stadt ein gewaltiges Heerlager. Aus allen
+Gauen des gewaltigen Reiches kamen die Ritter und Herren, die Grafen
+und Fürsten, die Äbte, Bischöfe und Erzbischöfe mit ihrem Gefolge,
+ihren Gewappneten und dem Troß ihrer Knechte. In der volkreichen Stadt
+fanden längst nicht alle Unterkunft. Man schlug außerhalb ihrer Mauern
+Zelte auf, um die Gäste unterzubringen. In den Herbergen und Gasthöfen
+herrschte ein Leben, wie es selbst Worms kaum gesehen.</p>
+
+<p>Reichstag! — Reichstage waren in Worms keine Seltenheit seit
+Jahrhunderten. Aber noch nie hatte einer die Welt derart in Spannung
+gehalten wie der des Jahres 1521. Eine neue Welt stieg empor. Die alte
+stand bereit, ihre Nebenbuhlerin zu bekämpfen und, war es möglich,
+zu zertrümmern. Und die Machtmittel der alten waren trotz Verfalls
+noch so gewaltig, schrecklich, daß Menschenmut und Menschenkraft
+nicht auszureichen schienen, sie zu bezwingen. Woher nun nahm der
+unscheinbare Dominikanermönch zu<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> Wittenberg, von dessen Dasein vor
+wenig Jahren noch weder Kaiser noch Päpste eine Ahnung gehabt hatten,
+den abenteuerlichen Mut, gegen die größten Gewalten der Welt, seitdem
+die Menschen sich Fürsten gesetzt und der Autorität einen Thron
+errichtet hatten, anzugehen?</p>
+
+<p>Luther betrat eine Bahn, die nur für ihn selbst neu war. Er wurde
+in sie hineingestoßen nach schweren, inneren Kämpfen. Nicht
+Effekthascherei, nicht die Sucht nach einem deklamatorischen
+Theatererfolge führten ihn nach Worms, sondern die kindliche Gewißheit,
+sich mit seinem Gott eins zu fühlen, von seinem Geist und Willen
+Zeugnis ablegen zu müssen für das lautere Gotteswort, ließ ihn mit
+schier fröhlicher Zuversicht den Weg in die Höhle des Löwen antreten.</p>
+
+<p>»Mönchlein, Mönchlein, Du gehst einen schweren Gang!« — Jeder, der
+die Unbekümmertheit kannte, mit der die Gewalthaber der römischen
+Kirche über Bedenken irdischer Art sich wegzusetzen gewohnt waren, wenn
+es galt, das Erbe Petri zu schützen; wie vor ihrem Willen auch ein
+kaiserliches Wort sich bog und gebrochen wurde, mochte die Worte des
+wackeren Frundsberg verstehen, als er den armseligen Mönch in den Kreis
+seiner Feinde treten sah.</p>
+
+<p>Hätte er freilich die Millionen zu seinem Schutze um sich gehabt,
+denen seine Lehre aus dem Herzen gesprochen war, ihm hätte trotz des
+Machtaufgebots, das ihn in Worms waffenstarrend erwartete, nicht
+bange zu sein brauchen. Nicht nur der gewaltige Kreis der Jünger, bei
+denen sein Wort in wenigen Jahren wie eine Fackel gezündet, standen
+bereit, sondern die Millionen in allen Ländern des Abendlandes, die
+unter dem unerträglichen Joch ihrer Zeit seufzten. Es hatte sich bei
+dem armen Bürgersmann wie bei dem<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> Bauern seit Jahrhunderten ein Haß
+aufgespeichert, gegen den selbst die sozialen Gegensätze unserer Tage
+wie ein Kinderspiel anmuten mögen. Es war der Haß des städtischen wie
+des ländlichen Proletariats gegen die Besitzenden, Bevorrechteten,
+die Reichen in jeder Gestalt, vornehmlich aber die Geistlichen. Das
+›Pfaffenstürmen‹ fand schon lange vor Luther hier und da begeisterte
+Anhänger. Schaurig hallten die Verse der Bauern wider, welche durch die
+Aufruhrpredigt des ›Pfeiffers von Niklashausen‹ in Bewegung gesetzt
+waren:</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Wir wollen Gott im Himmel klagen, </div>
+ <div class="verse indent0">Kyrie eleison, </div>
+ <div class="verse indent0">Daß wir die Pfaffen nit sollen zu Tode schlagen, </div>
+ <div class="verse indent0">Kyrie eleison.« </div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p>Die Kirche wankte indes darum noch nicht in ihren Grundfesten, es waren
+Vorgänge von lokaler Bedeutung. Wehe aber, wenn sich der Mann fand,
+der alle diese Kräfte auf ein Ziel hin in Bewegung zu setzen verstand!
+Und wehe ihr, wenn er zu diesem Haufen verzweifelnder Existenzen auch
+noch das Heer derer gesellte, die nicht um irdischer Vorteile willen,
+sondern, um ihr Herz von dem inneren Widerstreit der Gefühle zu
+befreien, auf den Rufer harrten, der sie anführe zum Kampf gegen die
+verrottete Kirche.</p>
+
+<p>Die Schäden hatte auch Ernesti, der kluge und weitgereiste Kaufmann,
+erkannt und zugestanden; um den endgültigen Sieg der Kirche war
+ihm nicht bange. Und doch erwies sich sein Urteil als kurzsichtig.
+Das Klagelied von der Pfaffen Übermut und Üppigkeit, von ihrer
+Unbildung und Verrohung, von der Priester wie der Mönche und Nonnen
+Unflätigkeiten, dieses Lied, das auch die Päpste zu<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> nennen sich nicht
+scheute, erklang allüberall und wurde gern gehört und mitgesungen.</p>
+
+<p>Vielleicht hatten den armen Bergmannssohn zu Eisleben diese Töne schon
+umklungen, und sie waren in ihm nachgehallt, als er in brünstigem
+Gebet sich in seiner Zelle zu Erfurt wand und um Erleuchtung flehte.
+Die Erkenntnis von der Verderbtheit der Diener der Kirche kam ihm,
+als er in Rom den Sündenpfuhl sah, in dem jene sich wälzten, und die
+Erleuchtung über das, was seine Aufgabe sei, in Wittenberg angesichts
+des schamlosen Treibens jenes Ablaßkrämers von Papstes Auftrag, und
+durch sein ehrliches, frommes Streben, die Wahrheit zu ergründen. Er
+fand sie in seinem Verkehr mit Gott und in dem Worte Gottes, wie es von
+den Vätern aufgezeichnet stand. Und im schlichten Vertrauen auf die
+Güte seiner Sache folgte er der kaiserlichen Ladung.</p>
+
+<p>Im Januar schon war der Reichstag einberufen, im Frühjahr brach Luther
+gen Worms auf. Überall unterwegs fand er die Spuren der Tätigkeit gegen
+sich, die der Kaiser eigenhändig gegen ihn gezeigt hatte.</p>
+
+<p>Noch dicht vor Worms warnte ihn sein Freund und Landesvater, der
+Kurfürst, er solle umkehren, das Schicksal Hus' würde auch das seinige
+sein. Aber: »Ich will hinein, und wenn so viel Teufel auf mich zielten,
+als Ziegel auf den Dächern sind.«</p>
+
+<p>Einer der größten Tage der Geschichte brach mit dem 18. April des
+Jahres 1521 an, als Luther gegen Abend zum anderen Male, nachdem
+er schon tags vorher vor die Reichsversammlung geführt war, in den
+bischöflichen Palast geleitet wurde. Im Saale brannten die Fackeln, als
+er hineintrat. Vor ihm saß die ganze Herrlichkeit des Reiches und<span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span> der
+Kirche. Der Kaiser mit seinem Bruder Ferdinand, sechs von den sieben
+Kurfürsten, achtundzwanzig Herzöge, dreißig Prälaten, viele Fürsten,
+Grafen und städtische Abgeordnete.</p>
+
+<p>Am Tage vorher hatte sich an dem Mönche eine gewisse Befangenheit und
+Unsicherheit kundgetan; heute, so glaubte man, werde er widerrufen.</p>
+
+<p>Die Spannung war ungeheuer bei allen. Mochte auch der junge Kaiser
+verächtlich zum Bruder sagen: »Der soll mich nicht zum Ketzer machen«,
+er konnte sich, je länger Luther sprach, dem Eindruck nicht entziehen,
+daß ein außergewöhnlicher Mensch da vor ihm stehe, ein Mensch
+jedenfalls, der irdische Furcht nicht kannte.</p>
+
+<p>»Der Mönch redet unerschrocken und kühn«, entschlüpfte es ihm während
+der Verhandlung wider Willen.</p>
+
+<p>Ja, wahrlich, der Mann hatte nicht Menschenfurcht in sich. Der
+Offizial des Erzbischofs von Trier, Johannes Eck, benahm sich durchaus
+gemessen und vornehm, als er Luther die formulierte Frage vorlegte.
+Man hoffte, wenigstens einen teilweisen Widerruf zu erreichen. Aber
+der Mönch dachte nicht an Widerruf. Mehr und mehr gewann seine Stimme
+an Zuversicht, je länger der Disput dauerte. Man sah, hier half kein
+Disputieren mehr, kein Zureden noch Freihalten eines Rückzugweges für
+den Ketzer, hier mußte die Entscheidung klipp und klar gefordert und
+gegeben werden. Und so verlangte denn Eck eine bestimmte, deutliche
+Antwort. Und Luther gab sie: »Weil denn Ew. Kaiserliche Majestät und
+Ew. Gnaden eine schlichte Antwort verlangen, so will ich eine Antwort
+ohne Hörner und Zähne geben ...«</p>
+
+<p>Atemlose Spannung lag auf den Zügen der Versammlung, die meisten
+standen, um sich kein Wort, keine Miene<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> des Mannes da vor ihnen
+entgehen zu lassen. Verklärte Freude die einen, verbissene Wut die
+Gegner auf dem Gesicht, so lauschten sie, bis das Schlußwort kam, jenes
+gewaltige, das sich wie ein brünstiges Gebet und Bekenntnis von seinen
+Lippen rang: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir.
+Amen!«</p>
+
+<p>Totenbleich war das Antlitz des kühnen Streiters, als er sich vor der
+Versammlung verneigte und den Saal verließ, aber es war nicht die
+Blässe der Furcht. Überirdisch leuchtete sein Auge: So blickte nur
+einer drein, der nicht Menschenfurcht in seinem Herzen trägt, sondern
+der weiß, daß Gott in ihm und um ihn ist.</p>
+
+<p>Gewaltig war der Eindruck seiner Worte auf die Hörer. In vieler Augen
+glühte die Begeisterung über den unerschrockenen Gotteskämpfer. In der
+äußersten Ecke, wo die Vertreter der Stadt und einige andere Zuschauer
+standen, lief ein gedämpftes Flüstern durch die Reihen. »Unglaublich,
+dieser Mut«, »herrlich, herrlich«, so klang es aus ihrem Munde.</p>
+
+<p>Unter den Zuschauern stand auch ein gedrungener Mann, an den sich eine
+Frau lehnte, von deren Gesicht man wenig sehen konnte. Der Gestalt
+nach war es ein junges Mädchen, das sich wohl auf den Vater stützte.
+Unentwegt hatte der Mann dem Mönch ins Auge geblickt, solange er
+redete; aufmerksam lauschte die Frau. Die Erregung teilte sich auch
+ihnen mehr und mehr mit. Bei den letzten Worten durchlief ein Schauer
+die Gestalt der Frau. Besorgt legte der Begleiter ihren Arm in den
+seinigen. »Laß uns gehen,« schlug er vor, da schon ein Teil der
+Zuschauer sich still entfernte, »es greift Dich an, wie ich sehe.«</p>
+
+<p>»Ja, laßt uns gehen«, fiel sie eilig ein und drängte zum Ausgange.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span></p>
+
+<p>Draußen umfächelte sie die Kühle des Aprilabends; beide atmeten in
+tiefen Zügen die frische Luft ein.</p>
+
+<p>Es waren Venne Richerdes aus Goslar und ihr Oheim Ernesti aus Soest,
+die hier in Worms auf die Straße traten, um nach ihrer Herberge zu
+gehen. »Das ist ein wahrhaft furchtbarer Mann«, unterbrach Ernesti das
+Schweigen.</p>
+
+<p>»Sagt das nicht, Ohm«, fiel ihm Venne ins Wort. »Wäre es nicht ein
+Ketzer und Ketzerei, was er betreibt, so möchte ich rufen: Welch ein
+herrlicher, großer Mann! Sahet Ihr nicht die glühende Begeisterung,
+die sich auf seinem Gesicht ausprägte? Merktet Ihr nicht, daß ihm
+jedes Wort aus dem tiefsten Herzen kam? — So spricht kein Lügner und
+abtrünniger Mönch, der sich seiner Gelübde um irdischer Vorteile willen
+entzieht.«</p>
+
+<p>»Um so schlimmer für ihn und für uns«, antwortete Ernesti fast
+feierlich. »Weil er mit den Waffen deutscher Schlichtheit und
+Einfachheit ficht, wirkt er um so ansteckender und verheerender. Einem
+bloßen Worthelden würde bald der Atem ausgehen und die Gefolgschaft
+aufgesagt werden. Wieviel Ärgernis ist durch diesen Mönch schon
+über die Kirche gekommen! Das wird er vor dem höchsten Richter zu
+verantworten haben, wenn er der irdischen Gerechtigkeit entgeht. —
+Aber die Kirche wird doch zuletzt siegen, weil sie von Gott ist«,
+schloß er mit fast demselben Wort, das er einst dem jungen Goslarer
+gesagt hatte.</p>
+
+<p>»Aber wenn er recht hat, müssen doch seine Gegner sich irren,« fuhr sie
+zweifelnd fort, »und Ihr sagt doch selbst, daß seine Schlichtheit Euch
+gepackt habe. Mir sollte es leid tun, wenn dieser edle Mönch in dem
+Kampf zerbrochen würde.«</p>
+
+<p>»Bist Du auch schon auf dem Wege zu ihm?« fragte er<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> grollend. »Hüte
+Dich, solche Gedanken laut werden zu lassen; sie möchten Dir teuer zu
+stehen kommen. Denn Du weißt, wir sind aus anderen Ursachen hier, und
+die Sache eines Abtrünnigen wird dem gut katholischen Kaiser nicht sehr
+am Herzen liegen.«</p>
+
+<p>»Seid nicht böse, Ohm,« lenkte Venne ein, »Ihr wißt, daß ich so gut wie
+Ihr treu zur alten Lehre stehe. Aber ich kann doch nicht dafür, daß
+dieser Mann aus Wittenberg einen solchen Eindruck auf mich macht. Ich
+bin manchmal fast irre an mir selbst. Ich will bei dem Glauben bleiben,
+dem ich mich als Kind gelobt habe, in dem Vater und Mutter gestorben
+sind; doch sehe ich, wie alles um mich wankt. Denn auch in Goslar
+hängen schon viele der neuen Lehre an. Die Masse des Volkes jubelt dem
+Reformator zu. In vielen Häusern zerfällt die Familie in Zwiespalt,
+weil die einen noch glauben, was die anderen schon ablehnen. Soll ich
+da nicht auch schwankend werden. Zu den schweren Sorgen, die mich schon
+bedrücken, ist jetzt noch diese Herzenspein hinzugekommen. Oh, rettet
+mich doch aus dieser Not oder, wenn Ihr es könnt, befreit mich von
+diesem schrecklichen Zwiespalt.«</p>
+
+<p>Ernesti sah sie mitleidig an. »Du tust mir von Herzen leid, mein Kind,
+helfen aber kannst Du Dir nur selbst. Mit Deinem Gott mußt Du allein
+fertig werden. Nimm Dein Herz fest in Deine Hand, blicke nicht rechts
+und nicht links; sage Dir immer wieder: Ich will meinem Glauben treu
+bleiben! Und Du wirst die Palme erringen.«</p>
+
+<p>In der Herberge gingen sie bald zur Ruhe, denn sie verspürten keine
+Lust, noch an dem lebhaften Meinungsaustausch teilzunehmen, der über
+den Mönch und sein Auftreten entbrannt war.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Vieles war in Goslar vor sich gegangen, seit wir zuletzt Gisela
+Hardt und Immecke Rosenhagen bemüht sahen, Venne in ihrem Schmerz zu
+trösten. Der Rat hatte neue Scherereien mit dem Herzog Heinrich dem
+Jüngeren, der aus dem 1519 erneuerten Schutzvertrage die Verpflichtung
+für die Stadt ableitete, ihm zur Vollziehung der über den Bischof von
+Hildesheim vom Kaiser verhängten Acht Mannschaft und Geld zu liefern.
+Sie mischten sich höchst ungern in diese Sache, denn der Rat hatte mit
+der Unruhe in der Stadt genug zu tun.</p>
+
+<p>Es gor unter dem gemeinen Volk; die Lehre von Wittenberg war auch
+nach Goslar gedrungen, und wenn sie noch keine offenen Anhänger fand,
+zeigte sich doch die Wirkung in dem Verhalten der Einwohner gegen die
+Pfaffen und die Kirche. Bürger wie Proletarier spotteten laut über
+die heiligen Reliquien, die zum Peter-Pauls-Tage feierlich gezeigt
+wurden. Den Priestern tönten höhnende Worte in die Ohren, wenn sie
+sich sehen ließen, und ein paar Nonnen wurde der Schleier abgerissen
+und der Rosenkranz weggenommen, als sie in ihr Kloster zurückkehren
+wollten. Der Rat ließ die Täter gefangensetzen, aber die Quelle der
+Unruhe war damit nicht verstopft. Auch die Fahrt der Venne Richerdes,
+die natürlich nicht verborgen blieb, erweckte Unbehagen. Denn, wenn man
+sich auch im Rechte ihr gegenüber wußte, so blieb es doch unbequem, vor
+dem Reichstage hingestellt zu werden als eine Stadt, die ihren Bürgern
+Unbilliges zumute.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span></p>
+
+<p>Aber ebenso tief wurzelte in Venne die Überzeugung von ihrem Recht.
+Ihr Vater war sein Leben lang ein Ehrenmann gewesen, dem niemand
+nachsagen konnte, daß er fremdes Gut an sich gebracht habe. Auf dem
+Sterbebette noch beteuerte er, daß der Rat ihm zu Unrecht die Kaufsumme
+vorenthalte, und sie hörte seine Mahnung: »Vergiß nicht, Dir mein Recht
+zu holen, daß ich ruhig sterben kann.« Sie hatte zunächst in Goslar
+alles versucht, um zum Ziele zu kommen.</p>
+
+<p>Die Rechtslage war zweifelhaft. Der Oheim der Hardts nahm sich ihrer
+an und verfocht ihre Sache vor dem Rate, aber er erreichte nichts.
+Johannes riet ihr ab, weitere Schritte zu unternehmen; seine Frau
+Gisela schloß sich ihm an.</p>
+
+<p>»Du gehst daran zugrunde, Liebste, laß den Streit. Komm zu uns, bis Du
+Heinrich angehören darfst.«</p>
+
+<p>Doch Venne blieb eigensinnig bei ihrer Absicht, alle Mittel zu
+erschöpfen, um dem Vater ihr Wort zu halten.</p>
+
+<p>Den unmittelbaren Anstoß zu dem Appell an die höchste Stelle im
+Reich gab ihr eine jener Äußerungen, die Übelgesinnten so leicht und
+schnell vom Munde gleiten. Mit scheinbarem Mitleid, unter dem sich
+aber die Schadenfreude nur schlecht verbarg, fragte eine der ewig
+lästersüchtigen Nachbarinnen Venne, nachdem sie schon jene über dieses
+und jenes auszuforschen versucht hatte, wovon sie denn eigentlich
+lebe und weshalb sie sich eine Dienerin halte. Venne, die schon über
+die ganze Art der Fragestellerin ungehalten war, gab ihr eine kurze,
+ablehnende Antwort. Darauf antwortete jene sehr spitz: »Nun, nur nicht
+so hochmütig, Jungfer Obenhinaus, wir haben doch keinen Anlaß, so stolz
+zu sein, als Tochter eines Bettlers, der noch dazu die Stadt Goslar um
+viel Geld betrügen wollte.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span></p>
+
+<p>Venne ließ die Boshafte hochmütig stehen, aber als sie nach Hause
+gekommen war, brach ihre mühsam bewahrte Haltung zusammen, und ein
+wildes Schluchzen ließ ihren Körper erbeben: So weit war es also
+gekommen, daß man ihres Vaters Ehrlichkeit anzutasten wagte.</p>
+
+<p>Nun gab es kein Besinnen mehr; sie wollte die höchste Stelle im Reich
+um ihr Recht angehen. Wieder riet der Oheim Johannes', der Notar,
+ab, und auch jener widersprach ihrer Absicht, doch dieses Mal blieb
+sie unbeirrbar bei ihrem Vorhaben. Die Ehre ihres Vaters durfte sie
+nicht antasten lassen. Die Freunde wußten sich keinen anderen Rat, als
+Heinrich Achtermann ins Vertrauen zu ziehen. Er war in der letzten Zeit
+mehrmals im Auftrage des Vaters verreist gewesen und hatte deshalb
+Venne längere Zeit nicht gesehen. Heinrich zeigte sich sogleich bereit,
+auf Venne einzureden, denn auch er lehnte innerlich den Plan ab.</p>
+
+<p>Es war eine leichte Entfremdung zwischen den beiden eingetreten,
+die der Verlobte auf die herbe Zurückhaltung Vennes zurückführte,
+während diese, in ihrer Empfindlichkeit und in ihrem fast krankhaften
+Argwohn, überall Geringschätzung und Ablehnung zu wittern, bei ihm
+die ersten Anzeichen dafür zu merken glaubte, daß auch Heinrich den
+Einflüsterungen Gehör schenke.</p>
+
+<p>Heinrich gab sich alle Mühe, unbefangen und herzlich zu sein. Auch
+Venne konnte sich seiner Aufrichtigkeit nicht entziehen und verlor
+allmählich ihre Verstimmung. Als er aber dann auf den eigentlichen
+Zweck seines heutigen Besuches zu sprechen kam, nahm sie sogleich
+wieder eine kriegerische Haltung an. Was er auch gegen ihre Absicht
+anführte, sie kehrte immer wieder zu dem eigensinnigen Einwande<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span>
+zurück: »Ich habe es dem Vater versprochen und bin es seiner Ehre
+schuldig.«</p>
+
+<p>»Venne, tue es mir zuliebe«, bat er sie. »Du schaffst nur noch
+Hindernisse für unsere Vereinigung. Der Vater, der im Rat ist und gewiß
+an dem Spruch gegen Deinen Vater mitgewirkt hat, wird es sicher als
+besondere Kränkung empfinden, wenn Du jenen verklagst. Ich bitte Dich
+herzlich, laß ab von Deinem Vorhaben, dessen Erfolg zudem noch sehr
+zweifelhaft ist, wie mir auch die Hardts gesagt haben.«</p>
+
+<p>Aber sie blieb unerschütterlich. »Hat Dein Vater gegen uns geurteilt,
+so muß er überzeugt werden, daß er unrecht tat. Wenn der Spruch,
+wie ich hoffe, gegen die Stadt ausfällt, wird er als Ehrenmann doch
+hoffentlich eingestehen, daß er irrte.«</p>
+
+<p>Heinrich sah ein, daß nichts zu erreichen war. Ihm lag daran, mit ihr
+noch etwas zu besprechen, was vielleicht sie bewegen konnte, doch von
+ihrem Vorhaben abzustehen. Sein Vater hatte nur noch selten mit ihm
+über sein Verhältnis zu Venne gesprochen, aber aus allem, was der
+Ratsherr sagte, konnte der Sohn klar erkennen, daß derselbe an nichts
+weniger dachte als ein Zurückziehen seines Widerspruches.</p>
+
+<p>In der Tat war Achtermann der Ältere mehr denn je entschlossen, das
+Verhältnis zu lösen. Einstweilen hoffte er noch, die Zeit werde ihm
+zu Hilfe kommen; Heinrich wußte indes, daß der Vater zur Not auch vor
+Gewalt nicht zurückschrecken werde. Die beste Hilfe versprach sich der
+Ratsherr von einer längeren Trennung der beiden. Und es kam ihm der
+Gedanke, Heinrich von Goslar zu entfernen. Seine Geschäfte reichten bis
+London, und es war ihm ein leichtes, einen Grund zu finden, der die
+Notwendigkeit des Aufenthaltes des Sohnes dort oder in einem anderen,
+entfernten<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> Ort auch diesem als berechtigt erscheinen lassen konnte.
+Nun hatte er beiläufig mit Heinrich darüber gesprochen, und dieser, der
+die wahre Absicht des Vaters durchschaute, stellte Venne vor, daß ihre
+Anwesenheit ihm am Herzen liege, um dem Vater gegenüber die Festigkeit
+zu bewahren.</p>
+
+<p>Sie war erschrocken, aber ihr Trotz verbot ihr, nachzugeben. »Wenn
+Du mich liebst, wie Du beteuerst, wirst Du auch ohne mich dem Vater
+widerstehen. Vielleicht kommt Dir der Befehl des Vaters ganz gelegen«,
+schloß sie in wieder erwachendem Argwohn.</p>
+
+<p>Da wurde auch der Geliebte zornig. »Du sprichst wie ein ungezogenes
+Kind, Venne. Ich habe Dir, denke ich, noch nie den geringsten Anlaß
+zu Mißtrauen gegeben. Doch Du machst es mir schwer, unsere Sache zu
+verteidigen. Statt bei Dir Unterstützung zu finden in dem Kampf gegen
+den Starrsinn des Vaters, setzt auch Du Deinen Trotzkopf auf und
+behandelst mich, als hätte ich nicht ein Fünkchen vertrauensvoller
+Liebe verdient. Willst Du nicht auf mich hören, so trägst Du die Schuld
+an allem, was folgt. Ich gehe jetzt, denn es hat keinen Zweck, gegen
+Deine Unvernunft noch länger anzureden.«</p>
+
+<p>Da brach Venne in haltloses Weinen aus, daß Heinrichs Zorn in Mitleid
+zerschmolz. Zärtlich umarmte er sie und sprach ihr tröstend zu. »Ist es
+denn so schwer, meine gute, süße Venne, das Trotzköpfchen zu beugen?«</p>
+
+<p>»Ach, mein Einziger, sei mir doch nicht böse. Ich bin gewiß oft häßlich
+und lieblos zu Dir, aber glaube nicht, daß meine Liebe sich gemindert
+hat. Du kannst ja nicht in mein Inneres sehen und weißt nicht, wie ich
+unter dieser elenden Lage leide. Laß mich noch diesen einzigen Versuch<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span>
+machen; dann will ich gewiß nichts mehr von der Sache reden.«</p>
+
+<p>Heinrich sah, daß er nachgeben mußte; so sagte er nur: »Gut, Liebste,
+so wollen wir es gelten lassen. Du mußt jedoch damit rechnen, daß Du
+mich nicht triffst, wenn Du zurückkehrst. Dann verliere nicht den Mut,
+das mußt Du mir versprechen. Ich hoffe, daß wir den Widerstand des
+Vaters eher besiegen, wenn ich ihm jetzt zu Willen bin. Sieht er, daß
+auch die Trennung unserer Liebe keinen Abbruch tun konnte und bringst
+Du vielleicht noch einen Dir günstigen Bescheid mit, so muß er zuletzt
+nachgeben.« So endete der Abend mit einer vollen Versöhnung der beiden,
+und sie nahmen von einander in alter Zärtlichkeit Abschied.</p>
+
+<p>Venne traf alle Vorbereitungen zur Reise. Johannes Hardt, der
+Rechtsgelehrte, hatte ihr gesagt, daß man gegen reichsunmittelbare
+Stände, zu denen die Stadt Goslar als Reichsstadt gehörte, bei dem
+Reichskammergericht Einspruch und Klage erheben könne. Er riet indes zu
+dem schneller wirkenden Mittel, sich an den Kaiser selbst zu wenden,
+was in besonderen Fällen anging.</p>
+
+<p>Der Reichstag in Worms war für das Jahr 1521 angesetzt. Dort mußte
+sich Gelegenheit bieten, ihre Sache vorzubringen, statt sie vor dem
+sehr langsam arbeitenden Reichskammergericht zu Frankfurt am Main
+entscheiden zu lassen.</p>
+
+<p>»Habt Ihr einen Fürspruch an dem kaiserlichen Hofe,« sagte Johannes,
+»so wird es Euch nicht fehlen, vor den Kaiser gelassen zu werden.«</p>
+
+<p>Wer konnte da besser helfen als der Ohm Ernesti in Soest! Daher
+beschloß Venne, den Umweg über Westfalen zu wählen, um jenen dort
+aufzusuchen und ihn zu bitten, sie nach Worms zu begleiten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span></p>
+
+<p>Ernesti war vor geraumer Zeit in Goslar gewesen und hatte verlauten
+lassen, daß er künftig weniger in der Welt umherreisen werde, da das
+Alter auch ihn allmählich drücke. Sie durfte also hoffen, ihn zu Hause
+zu treffen. Und sie zweifelte nicht, daß er ihretwegen sich noch einmal
+der Mühe einer Reise unterziehen werde.</p>
+
+<p>Venne Richerdes reiste ab. Bald nach ihr verließ auch ihr Bräutigam
+Goslar. Vor seiner Abreise ereignete sich jedoch noch etwas, was alle
+Zukunftspläne über den Haufen werfen sollte. Die alte Katharina hatte
+zwischen dem Wunsch, ihrer Venne zu helfen, und dem Zweifel, ob sie
+recht tue, der Gittermannschen zu folgen, ihr Vorhaben noch nicht
+ausgeführt, obwohl die alte Vettel ihr immer wieder zuredete.</p>
+
+<p>Als sie nun aber erfuhr, daß Heinrich eine große Reise antrete,
+schwanden alle Bedenken. Wer wußte, welche Gefahren draußen auf ihn
+lauerten, um seine Liebe zu ertöten! Daher besprach sie mit ihrer
+Freundin im Achtermannschen Hause alles Erforderliche, und diese gab
+dem jungen Herrn den Zaubertrunk. Doch die Wirkung war eine andere,
+als Katharina erwartete. Heinrich erkrankte heftig, so daß man an eine
+Vergiftung glaubte. Das war es wohl auch in der Tat.</p>
+
+<p>Die alte Magd bei Achtermanns erschrak aufs tiefste, denn sie hing
+an Heinrich nicht weniger als Katharina an ihrer Venne. Von Angst
+getrieben, bekannte sie, was sie angerichtet habe. Der Vater war außer
+sich vor Zorn. Er maß natürlich alle Schuld Venne bei.</p>
+
+<p>»Da siehst Du, mit was für einer Person Du es noch hältst«, höhnte er.
+»Wie eine Troßdirne buhlt sie um Deine Gunst. Sie schämt sich nicht des
+Umganges mit Hexen und<span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span> Dunkelmännern. Den Trunk hat ihr gar wohl der
+Henker gebraut, zu dem ja alle feilen Dirnen in ihrer Brunst laufen.
+Aber die soll mir wiederkommen und auf Deine Hand Anspruch erheben. Vor
+das Peinliche Gericht bringe ich sie, den Prozeß lasse ich ihr machen!«
+so tobte er.</p>
+
+<p>Der Sohn versuchte, seine Braut zu verteidigen. »Vater, Du tust Venne
+gewiß unrecht. Sie weiß, daß sie sich meiner Liebe nicht erst durch
+Zauberei zu versichern braucht. Urteile nicht, bis sie selbst sich
+verteidigen kann.«</p>
+
+<p>Doch da kam er schlecht an. »Meinst Du, das Weibsbild werde ich noch
+eines Wortes würdigen. Für mich ist die Sache erledigt, und wehe ihr,
+wenn sie es wagt, an der Vergangenheit zu rühren.«</p>
+
+<p>Heinrich sah ein, daß jetzt nichts zu hoffen war. Nun konnte auch er
+allein von der Zeit eine Besserung erwarten. Er war von Vennes Unschuld
+überzeugt, aber er grollte ihr doch, daß sie ihn in dieser Stunde, wo
+ihr Glück in Scherben zu gehen drohte, allein gelassen hatte. Tief
+bekümmert traf auch er seine Anstalten zur Abreise. Er sollte in der
+Tat nach London fahren, um am Stahlhof die Achtermannschen Geschäfte
+wahrzunehmen. Es galt, sich auf eine lange Abwesenheit einzurichten.
+Aber er hoffte, daß bei seiner Wiederkehr die Wetterwolken verzogen
+waren. Er würde jedenfalls, das nahm er sich vor, nicht von Venne
+lassen.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Der Ohm war bereit, Venne zu begleiten. Auch er entschied sich für
+Übergehung des Reichskammergerichtes. »Wenn wir die Sache dort anhängig
+machen, ist Aussicht<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> vorhanden, daß vielleicht Deine Enkel einmal
+den Entscheid erhalten. Der Gerichtshof ist mit so vielen ungleich
+wichtigeren Sachen überlastet, daß sich auf die Akten Deines Prozesses
+der Staub von Jahrzehnten lagern würde. Wir wollen also versuchen, in
+Worms vorgelassen zu werden. Ist uns das Glück hold, so gelingt es mir,
+einen der fürstlichen Prokuratoren des Gerichts zu gewinnen, die ja
+selbstverständlich auf dem Reichstage auch anwesend sein werden.«</p>
+
+<p>Obwohl der Reichstag schon Ende Januar eröffnet worden war, kamen
+sie doch noch zeitig genug. Zunächst sollten die weltlichen großen
+Angelegenheiten erledigt werden. Da galt es zuerst eine Sache des
+Herzogtums Württemberg zu behandeln, dessen Herzog Ulrich der
+Schwäbische Bund vertrieben hatte; ferner tauchte zum soundsovielten
+Male die italienische Frage wieder auf.</p>
+
+<p>Zur Abwechselung hielt diesmal der Franzosenkönig Franz I., einer der
+Mitbewerber Karls um die Kaiserkrone, das Reichslehen Mailand besetzt.
+Das bedeutete eine Minderung des kaiserlichen Ansehens, die der junge
+Kaiser nicht hinnehmen wollte. Gegen eine entsprechende Gegenleistung
+bewilligten ihm die Kurfürsten zwanzigtausend Mann Fußvolk und
+viertausend Reiter zu einem Römerzuge. Für den Kaiser aber stand im
+Vordergrunde die religiöse Frage.</p>
+
+<p>Karl V. stand zu dem Vorgehen Luthers anders als sein Vorgänger.
+Maximilian I., der 1519 starb, hatte die Anfänge der Reformation
+erlebt. Er fühlte eine gewisse Schadenfreude darüber, daß der römischen
+Kurie, mit der er nicht besonders stand, durch den Mönchshader
+eine große Verlegenheit erstand. Den Mönch Luther gegen den Papst
+auszuspielen, das war die kaiserliche Politik.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span></p>
+
+<p>Anders Karl. Er empfand den gewaltigen Zulauf, den der Wittenberger
+überall fand, als persönliche Kränkung. Zudem darf nicht vergessen
+werden, daß er, ehe er deutscher Kaiser wurde, König war des streng
+katholischen Spaniens. Nun war der Mönch gehört worden, er hatte nicht
+widerrufen. Leider mußte man ihn auf Grund des kaiserlichen Wortes
+ziehen lassen. Aber schon am 8. Mai erfolgte durch das Wormser Edikt
+seine Ächtung.</p>
+
+<p>Während Luther auf dem Heimwege von Reisigen des Kurfürsten
+aufgegriffen und auf die Wartburg entführt wurde, gingen in Worms
+die Verhandlungen weiter. Noch immer kam Venne Richerdes nicht an
+die Reihe. In ihrer Herberge wohnte auch der Geheimschreiber des
+Bischofs von Hildesheim, ein Herr von Woltwiesche, der mit einigen
+Domherren beim Kaiser wegen Aufhebung der kaiserlichen Acht vorstellig
+werden sollte. Der Geheimschreiber war ein Mann von bestrickender
+Liebenswürdigkeit und weltmännischer Gewandtheit.</p>
+
+<p>Die schöne Goslarerin machte auf ihn vom ersten Augenblick an einen
+tiefen Eindruck. Er hatte bald erfahren, was sie nach Worms führte, und
+bot ihr seine Unterstützung an zur Förderung ihrer Sache. Insonderheit
+erklärte er sich bereit, ein Gesuch an den Kaiser abzufassen für
+den Fall, daß sie nicht Gelegenheit finde, ihre Sache persönlich
+vorzutragen.</p>
+
+<p>Ernesti sprach die bestimmte Erwartung aus, daß dies doch möglich
+sein werde; immerhin konnte es nichts schaden, wenn der Fall auch
+schriftlich geschickt behandelt wurde. Der Geheimschreiber beeilte sich
+also, das Gesuch niederzuschreiben, und der Ohm gestand Venne, daß es
+ein Meisterwerk in seiner Art sei. Venne nahm diese Dienste des Herrn<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span>
+von Woltwiesche mit gemischten Gefühlen an. Ihr gefiel der Mann nicht
+recht, trotz aller höflichen Zuvorkommenheit. Sie fing hin und wieder
+einen Blick von ihm auf, der voll glühender Begier zu sein schien.
+Freilich versuchte er immer sogleich mit einer harmlosen Wendung seine
+Ungebühr zu bemänteln. Nie vergaß er bei einem Wort, das er an sie
+selbst richtete, die Form peinlichster Höflichkeit und Ritterlichkeit.</p>
+
+<p>Endlich kam der große Tag für Venne.</p>
+
+<p>Sie war sehr befangen, als der Augenblick nahte, da sie vor den
+mächtigsten Herrscher des Abendlandes treten sollte. Der Oheim sprach
+ihr Mut zu, und auch Herr von Woltwiesche suchte sie zu beruhigen.</p>
+
+<p>Der Kaiser hatte einen leidenden, gequälten Zug im Gesicht. »Was will
+dieses Volk der Deutschen eigentlich alles von mir?« so konnte man
+seinen müden Blick deuten. »Will es mich schon auf diesem einen und
+ersten Reichstage, den ich abhalte, mit seinen Angelegenheiten zu Tode
+quälen?« Immerhin bot die Sache eine Abwechselung, da zum erstenmal
+eine Frau als Beschwerdeführerin auftrat.</p>
+
+<p>Ein Prokurator unterrichtete ihn kurz von dem Inhalt der Beschwerde.
+»Also soll sie reden!« ordnete er an. Aber zunächst ergriff Ernesti das
+Wort. Der Kaiser blickte erstaunt auf: »Wer ist der Mann?« — Ein neben
+ihm Sitzender, es war der Kurfürst-Erzbischof von Mainz, flüsterte ihm
+zu, es sei ein sehr einflußreicher Deutscher, der auch dem hochseligen
+Herrn Maximilian wohlbekannt gewesen und ihm manche wichtige Dienste
+geleistet habe. Geduldig hörte Karl ihn an. Dann erhielt Venne das Wort.</p>
+
+<p>Während der Rede ihres Oheims hatte sie Zeit gefunden, sich zu sammeln.
+Aber noch jagten sich Erröten und tiefe<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Blässe auf ihrem Gesicht, als
+sie mit leiser Stimme zu sprechen begann.</p>
+
+<p>Der Kaiser sah sie unverwandt an, und seine Ratgeber merkten, daß ihm
+die schöne Frau offensichtlich gefiel. Frei blickte auch Venne dem
+Mächtigen ins Gesicht. Mehr und mehr gewann ihre Stimme an Festigkeit.
+Sie schilderte die Demütigungen, die ihr widerfahren, die Armut, der
+sie durch das Verhalten des Rates von Goslar ausgeliefert sei. Zuletzt
+schwoll ihre Stimme zu edler Entrüstung an.</p>
+
+<p>»Also klage ich den Rat der Stadt Goslar und insonderheit den
+Bürgermeister, Herrn Karsten Balder, an, daß sie mir und meinem Vater
+gegenüber fleißig und absichtlich das Recht gebeugt haben, auch üble
+Nachrede über meinen ehrenwerten Vater und mich ungehindert haben
+verbreiten lassen.</p>
+
+<p>Ich bitte Euch, Großmächtigster Herr Kaiser,« schloß sie endlich,
+»Ihr wollet mir armen Waise Euren gnädigen Schutz nicht versagen
+und dazustehen, daß mein Recht gewahrt und meines Vaters Ehre
+wiederhergestellt werde.«</p>
+
+<p>Mit einer tiefen Verneigung trat sie einige Schritte zurück. Der
+Kaiser blickte ihr einige Augenblicke sinnend nach. Dann besprach
+er sich kurz mit seinen Räten. Man sagte ihm, die Sache sei wohl
+juristisch nicht ohne weiteres zugunsten der Bittstellerin zu
+entscheiden; indes die Verdienste ihres Ohms und die Gutgläubigkeit
+bei den Vertragsverhandlungen, bei denen der Vater jedenfalls ohne
+Arglist vorgegangen war, wie auch endlich der Umstand, daß durch den
+Kauf des Richerdesschen Bergwerksanteils die reiche Stadt Goslar
+nicht wesentlich geschädigt werde, zumal man ja nicht wissen könne,
+ob nicht trotz der augenblicklichen Lage doch noch bergbauliche Werte
+darin enthalten seien, alles dieses lasse<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> es mindestens zu, dem Rate
+dringend zu empfehlen, die Sache erneut zu prüfen und in einer die
+Erbin befriedigenden Weise zu Ende führe.</p>
+
+<p>Karl war über diesen Vorschlag erfreut; es hätte ihm leid getan, die
+kühne und schöne Bittstellerin abschlägig bescheiden zu müssen. Mit
+leutseligen Worten eröffnete er ihr das Ergebnis, gleichzeitig mit dem
+Bedeuten, daß sie die schriftliche Ausfertigung schon in aller Kürze
+aus der kaiserlichen Kanzlei erhalten könne. Außerdem werde der Rat
+noch durch ein besonderes Schreiben unterrichtet werden.</p>
+
+<p>Voll innigen Dankes eilte Venne zum Kaiser vor, kniete vor ihm nieder
+und küßte ihm die Hand mit dem großen Siegelring. Karl war überrascht,
+doch lächelte er ihr huldvoll zu; die Beisitzer blickten ebenso
+sprachlos drein: so etwas war angesichts der strengen Etikette bis
+dahin unerhört. Aber auch sie fanden sich mit dem hübschen Zwischenfall
+ab.</p>
+
+<p>Aufatmend verließ Venne den Saal. Draußen fiel sie in überströmendem
+Dank dem Oheim um den Hals. »Das habe ich Euch in erster Linie zu
+verdanken, teurer Oheim!«</p>
+
+<p>»Nun, nun, diese Form der Danksagung lass' ich mir schon gefallen;
+doch ich glaube,« fuhr er mit einem leisen Lächeln fort, »Dein
+spitzbübisch hübsches Gesicht hat auch ein wenig Anteil an dem Siege.
+Und dann vergiß auch hier den Herrn von Woltwiesche nicht, der uns
+manch trefflichen Wink gab!« — So reichte sie auch diesem die Hand.
+Ehrerbietig neigte er sich darüber und flüsterte mit leiser, heißer
+Stimme: »Wollte Gott, ich dürfte noch mehr für Euch tun. Mein Leben
+sollte ein einziges Dienen um Eure Huld sein.« Da wandte sie sich
+verletzt von ihm ab.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Venne trat die Rückreise mit wesentlich leichterem Herzen an, als
+sie nach Worms gekommen war. Mit dem Spruche des Kaisers, so meinte
+sie, war alles Unheil ausgetilgt. Nun mußte auch der stolze Patrizier
+Achtermann seine Bedenken gegen eine Verbindung seines Sohnes mit ihr
+aufgeben. Die Wolken, die so düster und unheilschwanger über ihrem
+Haupte hingen, begannen sich zu zerteilen! Ihre Gedanken eilten zu
+Heinrich: Wo mochte er wohl sein, wenn sie zurückkehrte? Sie gestand
+sich ein, daß sie ihm doch wohl oft unrecht getan habe mit ihrer ewigen
+Verärgertheit, und sie nahm sich vor, ihn durch verdoppelte Liebe zu
+entschädigen.</p>
+
+<p>Bis Frankfurt reiste sie zusammen mit dem Oheim. Dann nahm er Abschied
+von ihr, um durch das Rheintal den nächsten Weg in die Heimat zu
+suchen. »Jetzt herrscht hoffentlich bald wieder gut Wetter in Goslar«,
+scherzte er. »Übers Jahr spätestens hoffe ich eine Einladung zu Deiner
+Hochzeit zu erhalten.« Errötend nickte ihm Venne zu, er traf ja mit
+seinen Worten nur ihre eigenen, innigsten Wünsche!</p>
+
+<p>Vor der Abreise empfahl er seine Nichte dem Schutze ihrer
+Reisegefährten, besonders dem des Hildesheimers. Woltwiesche beeilte
+sich, zu versichern, daß er sein möglichstes tun wolle, um ihr die
+Reise so bequem wie möglich zu machen. Er werde auch den kleinen Umweg
+über Goslar nicht scheuen, um sich zu überzeugen, daß sie heil und
+unversehrt zu Hause angelangt sei.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span></p>
+
+<p>Die Reisegesellschaft war klein. Neben dem Bischöflichen bestand
+sie aus einigen Kaufleuten und dem alten Ratsherrn Bertold Sachs
+aus Magdeburg. Dieser würde den Weg mit ihr bis fast in die Heimat
+zurücklegen. Das war Venne ein wahrer Trost.</p>
+
+<p>Sie wollte dem Oheim nicht ins Wort fallen, als er den Geheimschreiber
+im besonderen zu ihrem Ritter ernannte. Ohne sich im einzelnen über
+das Gefühl ihrer Abneigung Aufschluß geben zu können, konnte sie doch
+diese innere Ablehnung des ganzen Mannes nicht loswerden. War es sein
+geschniegeltes, geziertes Wesen, stieß sie seine übergroße, fast devote
+Höflichkeit ab? — Sie wußte es nicht, aber sie war willens, sich ihm
+so fern zu halten, wie es möglich sei. Deshalb schloß sie sich auch vom
+ersten Tage an mehr dem Ratsherrn an, dessen väterlich gütiges Wesen
+ihr Vertrauen weckte.</p>
+
+<p>»Sahet Ihr auch den Wittenberger?« brachte er am ersten Tage das
+Gespräch auf die Wormser Vorgänge. Venne bejahte und gab ihrer
+Bewunderung für den unerschrockenen Mönch Ausdruck.</p>
+
+<p>»Euch hat es vor allem, wie es scheint, sein Mut angetan. Der war auch
+zum Verwundern groß; ich weiß freilich nicht, ob er sich der Gefahr
+bewußt gewesen ist, in die er sich begab. Er soll ja, so hört man,
+freies kaiserliches Geleit zugesichert erhalten haben; indes wundern
+würde es mich nicht, wenn der Mann seine Heimat nicht wiedersieht.«</p>
+
+<p>»So meint Ihr, daß der Kaiser ihm das Wort nicht hält?« fragte sie
+erschrocken, denn ihrem Herzen gab es einen Stoß, daß derselbe Mann,
+der sich ihr so gnädig und gütig erwiesen hatte, in diesem Falle gegen
+seine Ehre handeln könne.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span></p>
+
+<p>»Der Kaiser braucht es nicht zu sein,« fuhr der Magdeburger fort. »Es
+gibt ihrer auch ohne den Kaiser genug, die ihm das Leben nicht gönnen
+werden, ja sie sind seine Todfeinde. Und ehe sie ihre Macht durch
+einen armseligen Mönch zertrümmern lassen, werden sie ihn selbst zu
+beseitigen suchen. Den Kaiser braucht darob nicht einmal der geringste
+Vorwurf zu treffen; denn wie soll er es verhüten, daß in seinem weiten
+Reiche ein Menschlein verschwindet. Schade freilich wäre es um diesen
+Mann.«</p>
+
+<p>»So seid Ihr auch der Meinung, daß er eine gute Sache vertritt?«
+forschte sie.</p>
+
+<p>»›Auch‹, — demnach hat er es Euch also angetan?« — Venne errötete ein
+wenig, aber der Ratsherr kam ihr zu Hilfe. »Ihr braucht Euch ob Eurer
+Teilnahme nicht zu schämen, noch weniger bedarf sie der Erklärung. Wer
+einer Wallung in seiner Brust fähig ist, dem mußte das Herz bewegt
+werden bei so viel tapferem Freimut und glühender Begeisterung. Ob er
+irrt, wer mag es wissen; aber heilige Überzeugung sprach aus jedem
+seiner Worte, und seine Worte haben die Herzen derer gepackt, die ihn
+hörten, es sei denn, daß sie sich mit Fleiß dagegen verhärteten.«</p>
+
+<p>»Das trifft auch auf den Oheim Ernesti zu, wie ich merkte«, fügte Venne
+schüchtern ein. »Er war ganz wild, als ich ihm zu erkennen gab, daß der
+Luther mich erschüttert habe.« Und dann erzählte sie, wie jener ihre
+Begeisterung für Luther aufgenommen habe.</p>
+
+<p>»Das glaube ich,« erwiderte Sachs, »hätte es bei ihm, den ich auch
+kenne, nicht anders erwartet. Er ist ja aber auch mit dem Papst und
+seiner Sache besonders eng verbunden, wie ich weiß. Und den rechten
+Starrkopf hat er obendrein.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span></p>
+
+<p>Endlich aber ist er, das wollet nicht vergessen, einer von den Alten,
+die so leicht nicht umlernen. Mir ist's ähnlich gegangen: Man wirft
+nicht ohne weiteres über Bord, woran man ein langes Leben sein Herz
+gehängt. Und vollends nun, wenn es das Beste, Heiligste ist, auf das
+man in dieser irdischen Kümmerlichkeit seine Hoffnung setzte.</p>
+
+<p>Ihr Jungen springt vielleicht mit Jauchzen in das neue Land, aber wir
+Abgängigen zaudern, den einen Schritt zu tun, der uns Befreiung bringen
+kann von aller Unwahrhaftigkeit und Seelennot, der uns aber auch trennt
+von all dem, was uns an das alte Gestade kettet.</p>
+
+<p>Mir ging ein treues Weib dahin, sie starb im alten Glauben. Wir
+begruben gemeinsam drei prächtige Kinder. Es war der Trost meiner
+Lebensgefährtin in ihrer Todesstunde, daß sie da oben ihre Lieblinge
+wiederfinden würde. Sie wartet auf mich mit gleicher Zuversicht. Soll
+ich sie, darf ich sie enttäuschen? Scheide ich mich für ewig von ihnen,
+wenn ich den neuen Glauben annehme? Meine Seele drängt zu Luther, mein
+Herz bebt zurück vor der möglichen Trennung. Wer löst mich von der
+Pein?«</p>
+
+<p>Wer löst mich von der Pein? — Das war auch die Last, die ihr eigenes
+Herz bedrückte: Der Vater, die Mutter, sie hatten nacheinander den
+Pilgerstab aus der müden Hand gelegt und waren durch das dunkle Tor
+gegangen, das ihnen, wie sie glaubten und hofften, das Wiedersehen
+in einer lichten Welt schenken würde. Und sie, die Tochter, sollte
+sie nicht zur Seite ihres Mütterleins stehen, nicht mit dem geliebten
+Vater die seligen Freuden des Jenseits genießen dürfen? Und noch ein
+irdisches Bangen hemmte ihren Entschluß: Der Geliebte. Die Achtermanns
+hingen noch mit aller Zähigkeit am alten Glauben, und Heinrich?<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span> Ja,
+Heinrich liebte sie, und sie hoffte, in Worms die Hindernisse aus dem
+Wege geräumt zu haben, die sich ihrer Vereinigung entgegenstellten.
+Errichtete sie nicht eine neue, unübersteigbare Schranke, wenn sie der
+Regung ihres Innern nachgab? Und dann auch wieder der Zweifel: War das
+nun auch der rechte Weg? Freilich, gedachte sie der feurigen Worte des
+Mönches, sah sie seinen weltentrückten Blick vor sich, so fühlte sie
+sich als seine Jüngerin, und auch in ihr klang es wieder: »Ich kann
+nicht anders, Gott helfe mir! Amen!«</p>
+
+<p>Der Ratsherr sah die Kämpfe in ihrem Innern; das junge Weib dauerte
+ihn, aber Hilfe konnte auch er ihr nicht bringen. »So ist es nun,«
+murmelte er, »Licht will er uns bringen, Erlösung, der Feuerkopf, und
+stürzt uns doch in das Dunkel der Herzenskämpfe!« Und er ritt, in
+ernste Gedanken versunken, fürbaß.</p>
+
+<p>Venne und ihre Begleiter waren eine geraume Zeit nach Luther von Worms
+aufgebrochen. Er saß längst auf der Wartburg in sicherm Gewahrsam, als
+man ihn im Reich noch frei wähnte.</p>
+
+<p>In der Umgegend des Überfalls aber, der von Freunden zu seiner
+Sicherheit ausgeführt wurde, lief das Gerücht um, der Mönch sei
+aufgehoben und fortgeführt worden, von den Kaiserlichen natürlich, oder
+Papisten, so wähnte man. Andere wieder mutmaßten, es sei eine Finte,
+die von Freunden und Gesinnungsgenossen ins Werk gesetzt worden sei, um
+die Feinde irrezuführen.</p>
+
+<p>Auch die Reisenden erreichte das Gerücht, als sie sich der Grenze des
+Hessenlandes näherten. Venne war tief niedergeschlagen. Sachs seufzte
+auf.</p>
+
+<p>»So haben sich meine Befürchtungen schneller erfüllt, als<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> ich annahm.
+Schade um den Mann! — So schnell also erlosch das Licht, das uns in
+der Finsternis aufging!«</p>
+
+<p>Bei Venne brach sich der Zorn Bahn. »Das ist abscheulich vom Kaiser,
+wenn er es veranlaßt hat. Nie hätte ich ihm diese Doppelzüngigkeit
+zugetraut!«</p>
+
+<p>»Es muß ja nicht der Kaiser gewesen sein«, begütigte der Ratsherr. »Ich
+sagte Euch: die anderen, die Päpstlichen, sind ihm noch viel ärger
+gram. Endlich bleibt noch die geringe Hoffnung, daß <em class="gesperrt">die</em> recht
+haben, die da meinen, nicht Feinde, sondern gute Freunde hätten ihn zu
+seinem Besten den Streich gespielt. Möge es so sein,« schloß er, »sonst
+ist der Menschheit ein großer Verlust widerfahren.«</p>
+
+<p>»Möchte es so sein!« — das wünschte auch Venne in ihrem Herzen, und
+ihr Gebet am Abend schloß mit der innigen Bitte: »Lieber Gott, erhalte
+uns den Mann und errette ihn vor seinen Widersachern!«</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Während der ersten Tage war der bischöfliche Schreiber durchaus der
+aufmerksame Reisemarschall, der sich bemühte, der ihm Anvertrauten das
+Reisen so angenehm wie möglich zu machen. Aber als in Fulda einige
+der Reisegefährten zurückblieben und sie nunmehr auf den alten Sachs
+aus Magdeburg neben Woltwiesche angewiesen war, von dem Diener des
+Ratsherrn abgesehen, änderte sich sein Benehmen. Daß er den ganzen Tag
+über fast unausgesetzt an ihrer Seite zu bleiben suchte, konnte er mit
+dem Auftrage des Oheims begründen, auf seine Nichte Obacht zu geben.
+Doch er mißbrauchte jede Gelegenheit, um ihr seine Gefühle<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> für sie
+immer eindeutiger zu zeigen. Für eine andere hätte vielleicht diese
+Art der Huldigung seitens des adligen Schreibers einen Reiz gehabt,
+aber Venne, der auch der ganze Mann widerstand, empfand sie als eine
+Belästigung. Als er ihr dann eines Tages unverblümt seine Neigung
+gestand, ließ sie ihn sehr ungnädig ablaufen.</p>
+
+<p>Ihre Ablehnung aber stachelte seine Glut noch mehr an. »Was habt
+Ihr gegen mich?« fragte er. »Kann ich Euch nicht ein angenehmes
+Leben bieten mit einer Stellung, welche die Eurige in Goslar weit
+überragt? Und es muß Euch doch auch daran liegen, aus der leidigen
+Stadt herauszukommen, wo Euch alles auf Schritt und Tritt an erlittene
+Kränkungen erinnert. Folgt mir nach Hildesheim, Ihr werdet es nicht
+bereuen.«</p>
+
+<p>»Spart Eure Worte, Herr von Woltwiesche, sie sind vergebens gesprochen,
+und sie beleidigen mein Ohr. Wollt Ihr aber den Hauptgrund meiner
+Ablehnung wissen, so denkt an die Äußerung meines Oheims. Ihr wißt, ich
+bin verlobt, und Ihr habt die Rechte eines Dritten zu achten.«</p>
+
+<p>»Der Teufel hole diesen Dritten, der Euch mir vorweg stahl. Hat er sich
+um Euch gekümmert, als Ihr in Worms um Euer Recht kämpftet? Ich stand
+Euch zur Seite, <em class="gesperrt">er</em> nicht!« antwortete er grollend.</p>
+
+<p>»Es ist nicht vornehm von Euch gehandelt, mir Eure Dienste, die ich
+zudem nicht beansprucht habe, so ins Gesicht zu rühmen. Aber meinem
+Bräutigam tut Ihr unrecht. Hätte er gekonnt, so würde er gewiß dort
+nicht gefehlt haben. Doch er ist zur Zeit außer Landes«, wies sie ihn
+zurecht.</p>
+
+<p>»Ha, ha, ha,« lachte der Schreiber höhnisch, »das ist mir der rechte
+Liebhaber, der auf Reisen geht, während die Braut um ihr Leben kämpft!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span></p>
+
+<p>Zornig fiel ihm Venne ins Wort: »Was erfrecht Ihr Euch, Herr, so
+über den Mann zu sprechen, dem ich verlobt bin! Was wißt Ihr von den
+Gründen, die ihn fernhalten? Dankt Eurem Schöpfer, daß er nicht hier
+ist, Eure Rede würde Euch schlecht zu stehen kommen.«</p>
+
+<p>Da in diesem Augenblick der Ratsherr, der vorangeritten war, hielt,
+um sich nach ihr umzusehen, brachen sie das Gespräch ab, der
+Geheimschreiber voller Unwillen, über Venne wie über den Störenfried.
+Sie hielt sich künftig, soweit das ging, noch mehr in der Nähe des
+älteren Begleiters. Der Schreiber erkannte ihre Absicht und knirschte
+mit den Zähnen, voller Wut, daß seine Absicht durchkreuzt wurde. Er
+war durch die Worte Vennes nicht abgeschreckt, sondern wartete nur auf
+einen günstigen Augenblick, um seine Pläne wiederaufzunehmen.</p>
+
+<p>Diese Gelegenheit bot sich erst einige Tage später, als man schon in
+die Nähe des Harzes gekommen war. Unversehens drängte er sein Pferd
+an das ihrige, und als sie es, unwillig über die erneute Frechheit,
+antrieb, fiel er ihr in den Zügel.</p>
+
+<p>»Ihr müßt mich anhören, und Ihr werdet mich hören«, sprach er
+entschlossen und mit wildglühendem Blick.</p>
+
+<p>Venne war erschrocken über die lodernde Gier, die ihr aus seinem Auge
+entgegenfunkelte; doch sie bezwang ihre Furcht und fragte spöttisch
+lächelnd: »Habt Ihr an der Absage von neulich noch nicht genug? Ich
+meine, Eure Würde als Edelmann sollte Euch abschrecken, eine neue
+Demütigung zu erleiden.«</p>
+
+<p>Aber unbeirrt fiel er ihr ins Wort: »Laßt den Hohn, Venne, Ihr wißt
+nicht, welch gefährlich Spiel Ihr treibt. Ihr habt es mir angetan, daß
+ich nicht von Euch lassen<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> kann. Könntet Ihr in mein Herz sehen, so
+würde Euch mein jämmerlicher Zustand allein schon Mitleid einflößen.
+Stoßt mich nicht zurück, Venne, Ihr treibt mich sonst zum Äußersten.«</p>
+
+<p>»Ich kann meinem Herzen nicht gebieten, daß es Euch gewogen sein soll«,
+wehrte Venne ab. »Schämt Euch, daß Ihr Euch von einer flüchtigen Regung
+des Augenblicks so knechten laßt, um darüber zu vergessen, was eines
+Mannes und Ritters würdig ist.«</p>
+
+<p>In ihrer Entrüstung erschien sie ihm nur noch schöner und
+begehrenswerter. Das Blut stieg ihm in den Kopf, und er verlor die
+Besinnung über sich.</p>
+
+<p>»Was schiert mich Rittertum, was Manneswürde, Dich will ich haben,
+Du schönstes Weib!« Damit beugte er sich zu ihr herüber und riß sie
+an sich. Venne fühlte seine Lippen auf ihrem Munde brennen. Aber im
+nächsten Augenblick riß sie sich los. Zornbebend blitzte sie ihn an und
+schlug ihn mit der Reitgerte ins Gesicht. »Schuft!« rief sie ihm zu,
+dann sprengte sie davon zu den übrigen.</p>
+
+<p>Einen Augenblick war der Gezüchtigte wie betäubt, dann aber brannte ihn
+die Schmach, die er erlitten. »Das sollst Du mir büßen, Teufelsweib!
+Verschmähst Du meine Liebe, so soll Dich meine Rache um so sicherer
+treffen!«</p>
+
+<p>Den Ratsherrn bat Venne, mit ihr künftig allein weiterzureisen, da der
+Geheimschreiber sich ungebührlich gegen sie benommen habe. Sachs wollte
+jenen zur Rede stellen, aber Venne hieß ihm, davon abzulassen. »Wir
+wollen voranreiten, er wird uns nicht folgen.« So geschah es.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Bei ihren Freunden und besonders bei der alten Katharina herrschte
+freudige Überraschung, als Venne in Goslar wieder eintraf. Kurz vor dem
+Ende ihrer Reise erlebte sie noch ein Abenteuer, das sich böse anließ,
+aber doch harmlos verlief. Sie hatte für den letzten Teil des Weges
+Gesellschaft und Schutz an einer Anzahl von Reisenden gefunden, die
+über Goslar weiter nach dem Osten wollten.</p>
+
+<p>Jenseits des Städtchens Seesen, wo die Straße am Fuße der Harzberge
+dahinzog, wurden sie plötzlich am hellen Tage von bewaffneten Reitern
+angehalten. Da die Angegriffenen sich zur Wehr setzten, wäre es gewiß
+zu einem Blutvergießen gekommen. Als die Männer noch in erregtem
+Wortwechsel begriffen waren, trat plötzlich ein neuer Ankömmling
+auf, der sich durch seine Kleidung von den Angreifern vorteilhaft
+unterschied. Überrascht sah er auf die schöne Frau, die erblaßt
+inmitten des Tumultes stand.</p>
+
+<p>Er war der Anführer oder besaß jedenfalls das Ansehen eines solchen,
+denn bei seinen ersten Worten gehorchten die wilden Männer sogleich.
+»Hört auf«, befahl er. »Die Leute sollen ungestört weiterziehen.«</p>
+
+<p>Als einer der Räuber nicht sogleich von seiner Beute abließ, fuhr er
+ihn mit harten Worten an:</p>
+
+<p>»Wirst Du Schuft gehorchen, oder willst Du meine Klinge spüren?«</p>
+
+<p>Sofort stand der Mann von seinem Vorhaben ab. Die<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> Wegelagerer sahen
+sich erstaunt an: Was war denn in <em class="gesperrt">den</em> gefahren? Das war ja das
+erstemal, daß er ihnen einen schon gelungenen Fang entgehen ließ. Sie
+murrten leise untereinander, aber, ihm gegenüber an blinden Gehorsam
+gewöhnt, zogen sie ab.</p>
+
+<p>Die Reisenden wollten für die unerwartete Hilfe danken, doch er wehrte
+ihnen ab. Sein Auge hing immer noch an Venne: »Vergebt, schönes
+Fräulein, so darf ich Euch doch nennen, daß Ihr die Belästigung
+erleiden mußtet; haltet es dem Mangel an Umgang mit Damen zugute, wenn
+sie sich ungeschliffen und tölpelhaft benahmen. Aber Ihr seht ja, es
+sind im Grunde nur ungeleckte Bären.«</p>
+
+<p>Nun die Gefahr vorüber war, gewann auch Venne ihre Fassung wieder. Die
+Sache kam ihr beinahe belustigend vor, und sie antwortete mit einem
+Lachen: »Ich möchte aber doch diesen Bären nicht begegnen, wenn ihr
+Führer fehlt. Euch gebührt jedenfalls mein Dank, daß Ihr Euch zur
+rechten Zeit einfandet, um sie tanzen zu lehren statt zu brummen. Doch
+ist es nötig, daß ich meinen Dank an Herrn ›Niemand‹ richte, oder darf
+man Euren Namen wissen, ohne neugierig zu sein?«</p>
+
+<p>»Wollet gestatten, Fräulein, daß ich für Euch der Herr ›Niemand‹
+bleibe. Was ist ein Name? Ich führe ihrer viele. Der eine aber, den ich
+Euch nennen könnte, würde Euch wahrscheinlich schrecken. Also begnügt
+Euch mit dem Bewußtsein, daß Ihr einem Abenteuer anheimfielet, bei dem
+ein Unbekannter Euch geringe Dienste leisten konnte, ein Unbekannter,«
+fuhr er leiser fort, »dem es Eure Schönheit auf den ersten Blick antat
+und der vieles darum geben würde, könnte er Euch einmal in einer
+wirklich großen Not beistehen. Ich will nicht hoffen, daß ein solcher
+Augenblick<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> eintritt. Aber habt Ihr einen Helfer nötig, so ruft mich,
+und ich bin zur Stelle.«</p>
+
+<p>Venne hörte dem Unbekannten mit einer gewissen Neugier zu. Merkwürdig,
+die freimütige Art, in der er ihr huldigte, verletzte sie nicht
+annähernd so, wie die zierlichen Redewendungen des Herrn von
+Woltwiesche es von Anfang an getan hatten. Sein offener Blick schien
+trotz des düsteren Handwerks, mit dem er in Verbindung stand, nichts
+Falsches zu kennen. Als er geendet hatte, sagte sie, immer noch in
+einem fröhlichen, freundlichen Ton: »Aber wo finde ich denn den Herrn
+Unbekannt, wenn ich ihn nötig habe?«</p>
+
+<p>Der Fremde neigte sich zu ihr: »Dann fragt nur bei den Brüdern im
+Kloster zum Grauen Hofe nach; dort wird man Euch bescheiden können.
+Ihr seht also,« schloß er scherzend, »ich bin nicht immer in so
+verwahrloster Gesellschaft.«</p>
+
+<p>Als Venne den Goslarer Freunden von ihrem Abenteuer berichtete, wobei
+sie das Verhalten des Führers, oder was er gewesen, rühmend hervorhob,
+sagte Johannes Hardt sogleich: »Das war Hermann Raßler. Der hat
+gewiß geglaubt, uns wieder einen Tort antun zu können. Und Du darfst
+froh sein, daß Du als Goslarerin so glimpflich davonkamest.« Venne
+widersprach: »Ich glaube, daß er mich auch gleich ritterlich behandelt
+haben würde, hätte er gewußt, wer ich bin.«</p>
+
+<p>Die Freude über ihre glücklich erfolgte Heimkehr erlitt einen jähen
+Stoß, als sie von dem Unfall hörte, der Heinrich Achtermann vor seiner
+Abreise betroffen hatte. Und sie war vollends entsetzt, als sie die
+Einzelheiten vernahm, die ihn herbeiführten. Tränen der Scham und
+der Verzweiflung füllten ihre Augen. »Wie konntest Du mir das antun,
+Katharina! Nun ist alles aus zwischen Heinrich Achtermann<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> und mir. Was
+wird er gedacht haben, daß ich ihn an mich kuppeln wollte, wie eine
+feile Dirne sich ihren Liebhaber sichert!«</p>
+
+<p>Katharina war untröstlich über den Schmerz, den sie, die es doch so
+gut gemeint hatte, ihrer Herrin bereitete. »Aber ich habe ja längst
+versucht, die Sache richtigzustellen und will gern mit dem Ratsherrn
+selbst sprechen, wenn Du es verlangst«, wimmerte sie.</p>
+
+<p>Doch Venne wehrte ab: »Laß um Gottes willen Deine Hände davon. Du
+würdest nur noch mehr verderben, als schon geschehen ist. Was noch zu
+tun ist, liegt mir selbst ob.«</p>
+
+<p>Entrüstet und bekümmert erzählte sie den Hardts, was Katharina
+angerichtet habe. Diese hatten davon noch nichts gehört. Achtermann
+mußte also verboten haben, darüber zu sprechen. Johannes wollte darin
+ein günstiges Zeichen sehen, doch Venne teilte diese Auffassung nicht.
+»Ihr kennt den Mann nicht in seinem Starrsinn, der an Bosheit grenzt.
+Wäre wenigstens Heinrich da, daß ich mich vor ihm rechtfertigen könnte,
+dann möchte es sich vielleicht noch zurechtgeben. Aber aufgeklärt
+werden muß die Sache, und da ich beschuldigt bin, werde auch ich selbst
+diese Aufklärung herbeiführen.«</p>
+
+<p>Daneben erhob sich die Frage, wie nun ihre Angelegenheit mit dem Rat
+behandelt werden müsse. Johannes Hardt stellte sich ihr zur Verfügung,
+riet aber, abzuwarten, bis das Schreiben des Kaisers eingetroffen sei.
+Inzwischen führte Venne ihren Vorsatz aus und suchte den Ratsherrn
+Achtermann auf. Es bedurfte ihrer ganzen Willenskraft, um nicht im
+letzten Augenblick umzukehren. Denn das Bewußtsein, daß sie dem Manne
+gegenübertreten sollte, der für das Scheitern ihres Lebensglücks
+verantwortlich zu machen war,<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> lastete mit erdrückender Schwere auf
+ihr. Sie hatte einige Zeit zu warten, bis der Gefürchtete und beinahe
+Verhaßte durch eine kleine Seitentür ins Zimmer trat. Sein kühler,
+abweisender Blick sagte ihr, daß sie nichts Gutes von ihm zu erwarten
+habe.</p>
+
+<p>»Wie komme ich zu der zweifelhaften Ehre, Euch in meinem Hause zu
+sehen?« fragte er mit schneidender Kälte. Venne schoß das Blut ins
+Gesicht.</p>
+
+<p>»Ihr habt kein Recht, mich in dieser verletzenden Art und Weise zu
+empfangen, Herr Achtermann«, antwortete sie, sich mühsam beherrschend.
+»Ohne triftigen Grund sähet Ihr mich freilich nicht hier. Aber ich
+will mich gegen Verleumdungen verteidigen, die man über mich in meiner
+Abwesenheit in Umlauf setzte und an denen auch Ihr, wie ich höre, nicht
+unbeteiligt seid.«</p>
+
+<p>»Ich bin gespannt auf diese Verteidigung, wenngleich sie vor mir wenig
+angebracht ist«, sagte er mit unverändertem Hohn.</p>
+
+<p>Venne beteuerte, daß sie von dem ganzen Vorhaben nichts gewußt und erst
+jetzt davon gehört habe, zu ihrer großen Beschämung.</p>
+
+<p>»Ihr müßt schon einen Dümmeren suchen, als Ihr in mir findet, der Euer
+Märlein glaubt. Euch auf die Harmlose hinauszuspielen, steht Euch
+schlecht an.«</p>
+
+<p>Da verließ auch Venne die Ruhe: »Daß Ihr ein hartherziger Vater waret,
+wußte ich. Daß ihr ein elender Verleumder und Ehrabschneider seid,
+erfahre ich zur Stunde. Ich will nicht um Eure Gnade betteln. Sagt mir
+nur noch eins auf Euer Gewissen: Teilt Euer Sohn Eure Meinung von mir?«</p>
+
+<p>Dem Ratsherrn schwoll bei den kühnen und furchtlosen<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> Worten des
+Mädchens die Zornesader. »Hütet Euch, mich noch zu reizen, Jungfer
+Richerdes; es möchte Euch teuer zu stehen kommen. Noch bewahre ich Eure
+Tat bei mir. Gebt mir nicht Anlaß, sie der Öffentlichkeit preiszugeben;
+es möchte Euch wenig frommen. Und was meinen Sohn anbetrifft, so könnt
+Ihr Euch sein Urteil selbst ausmalen. Eins sollt Ihr wenigstens wissen:
+Ehe Ihr in mein Haus als Schwieger einzieht, töte ich meinen Sohn mit
+eigener Hand. Aber daß das nicht nötig ist, dafür laßt mich allein
+sorgen.«</p>
+
+<p>Venne war leichenblaß geworden. »Ich danke Euch trotz allem für Eure
+Mitteilung. Nun sehe ich wenigstens klar, und Ihr mögt unbesorgt sein,
+daß ich Euer Haus je wieder betrete; doch für Eure Kränkungen und
+Beleidigungen«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, »sollt Ihr mir
+Rechenschaft geben, Herr Achtermann!«</p>
+
+<p>»Versucht das lieber nicht«, antwortete er grollend. »Seid froh,
+wenn ich Euch dazu nicht auffordere. Ich warne Euch vor unbedachten
+Schritten; es geht dabei um mehr, als Ihr zu wissen scheint oder wissen
+wollt.«</p>
+
+<p>Zornbebend verließ Venne das Haus. Sie vermochte kaum die Tränen der
+Wut und der Empörung zurückzuhalten. Zu Hause aber ließ sie ihrem
+Schmerz und ihrer Verzweiflung freien Lauf. Es überfiel sie ein
+Weinkrampf, und ihre klagende Stimme gellte durch das leere Haus. Die
+gute Katharina wußte sich keinen Rat, und sie weinte aus Erbarmen
+ebenfalls zum Herzzerbrechen.</p>
+
+<p>Zufällig kam Gisela Hardt um diese Stunde. Sie war zunächst ratlos
+gegenüber dieser wilden Verzweiflung, ihrem milden Trost und Zuspruch
+gelang es doch zuletzt, Venne etwas zu beruhigen. Sie hielt die
+Unglückliche in ihrem Arm und tröstete sie, wie man ein weinendes Kind<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span>
+zur Ruhe bringt. Als sie schied, ging sie mit schwerem Herzen davon.
+Denn hier versagte zuletzt wirklicher Trost, der auch das Mittel zur
+Heilung anzugeben weiß.</p>
+
+<p>Als die Botschaft aus Worms eingetroffen war, erhielt Venne eine
+Vorladung vor den Rat. Sie fühlte sich durch den Vorgang im Hause des
+Ratsherrn so zermürbt, daß ihr alles gleichgültig geworden war. Aber
+jetzt feuerte Johannes Hardt sie an, ihr Recht zu wahren. Er erbot
+sich, ihr mit allen seinen Kräften zur Seite zu stehen, und er hielt
+dieses Versprechen auch ehrlich bis zuletzt, auf die Gefahr hin, daß
+sein mannhaftes Eintreten ihm für seine weitere Laufbahn schaden könne.</p>
+
+<p>Das kaiserliche Schreiben an den Rat war maßvoll gehalten, und es
+ließ die Verhandlung zwischen beiden Teilen zu. Man erwog das Für
+und Wider, und schon schien es, als ob die Angelegenheit eine für
+Venne befriedigende Lösung finden werde. Da machte Achtermann alle
+Geneigtheit zunichte durch seinen rücksichtslosen Widerspruch. Er
+bewies noch einmal, daß sich die rechtliche Grundlage nicht zugunsten
+des Richerdesschen Anspruches geändert habe, und forderte unter
+Hinweis auf die Folgen eines solchen Präzedenzfalles Zurückweisung des
+Anspruches trotz des kaiserlichen Schreibens. Sein Einfluß siegte, und
+Venne erhielt den Bescheid, daß man nicht gesonnen sei, zu zahlen.</p>
+
+<p>Das Geld würde sie verschmerzt haben, wenngleich sie für die Zukunft
+bitterer Armut ausgesetzt war. Daß es ihr jedoch nicht gelingen sollte,
+die Ehre ihres Vaters rein zu waschen, das erfüllte sie mit namenlosem
+Zorn. Sie hockte in ihrem Zimmer, allein mit ihrer Verzweiflung und
+ihrem Grimm. Immer wieder stiegen ihr die Tränen auf in Erinnerung
+an all die Schmach, die man ihr angetan, und das<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> Unglück, das sie
+unschuldig traf. Johannes Hardt wies sie zurück, und auch Gisela
+vermochte mit ihrem sanften Trost nichts über sie. »Laßt mich, Ihr
+könnt mir nicht helfen. Ich muß versuchen, allein durchzukommen.«</p>
+
+<p>Sie berührte kein Essen, immer tiefer fraß sie sich in ihre verbissene
+Wut. Von aller Welt kam sie sich verlassen vor, verhöhnt, gehetzt; es
+war die richtige Stimmung, um den Menschen zu verzweifelten Schritten
+zu verleiten.</p>
+
+<p>In dieser Stimmung besann sie sich der Worte jenes Fremden, der Hermann
+Raßler sein sollte. Er haßte gleich ihr den Rat von Goslar. Bei ihm
+würde sie Verständnis für ihre Lage finden. So machte sie sich auf den
+Weg zu dem in Waldeseinsamkeit gelegenen Kloster der Grauen Brüder, dem
+heutigen Grauhof.</p>
+
+<p>Man war dort über ihren Prozeß unterrichtet, und es schien, als ob auch
+der Fremde schon von ihrer Lage gehört hatte, denn er hatte genaue
+Anweisung für den Fall gegeben, daß Venne Richerdes nach ihm frage.</p>
+
+<p>»Ihr trefft, den Ihr sucht, in Wolfenbüttel in der Herberge zum
+›Anker‹. Fragt dort nach Herrn Starke, so wird Euch weitere Auskunft
+werden.«</p>
+
+<p>So trat Venne die Reise nach der herzoglichen Residenz an. Daheim und
+den Freunden gegenüber verschwieg sie alles, was sie vorhatte.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Im Schlosse zu Wolfenbüttel residierte Herzog Heinrich der Jüngere,
+wenn er nicht mit seinen Reisigen im Felde lag gegen den Hildesheimer
+Bischof, gegen die Vettern seines eigenen Stammes im Kalenbergschen,
+im Göttinger Lande oder wo immer Bellona einen Vorteil verhieß und die
+Austragung alter Gegensätze erlaubte. Die Mauern und Wälle der guten
+Stadt Wolfenbüttel dünkten ihm und seinen Vorfahren noch nicht Schutzes
+genug gegen Gelüste, sich an seiner fürstlichen Person zu vergreifen.</p>
+
+<p>Dem Rat von Braunschweig, wie jedem einzelnen Braunschweiger, traute
+er ohne weiteres die Frechheit zu, daß sie, wenn sie es vermöchten,
+ohne ehrerbietigen Gruß bei ihm eindringen und ihn als gute Prise mit
+sich schleppen würden. So war das Schloß, das sich als ein gewaltiges
+Gebäudegeviert um einen kleinen Binnenhof lagerte, noch wieder eine
+Festung für sich, umspült von dem breiten Graben eines Okerarmes und
+in sich geschützt durch mächtige Mauern und starke Türme, an denen
+sich diejenigen, die dennoch die Stadt bezwungen hätten, erst noch
+ihre Dickköpfe einrennen mochten, ehe sie vor ihm selbst mit ihren
+unhöflichen Forderungen auftreten konnten.</p>
+
+<p>Im Schlosse selbst lag eine starke Guardia, eine Leibwache,
+einquartiert, unter dem Befehl eines Hauptmanns. An den zwei Toren,
+die den Einlaß zum Hofe und zum inneren Schlosse freigaben, standen
+Wachen, die jeden Ein- und Ausgehenden auf seine Zuverlässigkeit hin
+musterten.<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> Ohne genügenden Ausweis gelangte kein Fremder durch das Tor.</p>
+
+<p>Der Ankömmling, der in diesem Augenblick die Wache unangehalten
+passierte, mußte also allen wohlbekannt sein, denn weder machte er
+Anstalt zu einer Legitimation, noch wagte einer der Wachleute ihn zu
+befragen. Auf dem Kopfe trug er eine dunkle Lederkappe, die mit einem
+Reiherstoß geschmückt war. An der Seite hing ihm in goldverziertem
+Gehänge der Degen.</p>
+
+<p>Die Wachen sahen ihm mit schlecht verhehltem Neide und Unwillen nach.
+»Das spreizt sich, als ob er des Herzogs leibhaftiger Vetter wäre«,
+murrte der Korporal Schünemann, der Wachthabende, zu dem Doppelsöldner
+Karsten Süßkind. »Unsereiner ist Luft für den Herrn, als ob man nicht
+mit Ehren seine Kampagnen hinter sich hätte.«</p>
+
+<p>»Er ist ja auch mehr als Ihr und ich, Korporal«, höhnte Süßkind. »Wir
+beide haben es noch nicht zum Hauptmann gebracht. Möchte freilich nicht
+mit ihm tauschen, denn zum Räuberhauptmann ist sich meiner Mutter Sohn
+doch zu schade.«</p>
+
+<p>»Der Herr Herzog nimmt aber keinen Anstoß daran,« mischte sich ein
+dritter ein, »ebensowenig wie der Herr Kriegsrat Tewes, der ja oft mit
+ihm konferiert.«</p>
+
+<p>»Herzog Heinrich wird schon seine Gründe haben, weshalb er den Raßler
+so oft bei sich sieht,« verteidigte der Korporal seinen Herrn, »und er
+wird mit dem Manne sich nicht weiter einlassen, als sein Interesse es
+fordert.«</p>
+
+<p>Der, von dem die Rede war, bog indes rechts ab in das Schloß und stieg
+die Treppe hinauf. Er mußte genau Bescheid wissen, denn er fand sein
+Ziel, ohne jemand zu fragen. An dem Zimmer, in welchem der Geheime
+Kriegsrat<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> Tewes über Akten und Plänen saß, klopfte er kurz an und trat
+auf das »Herein« sofort mit energischem Schritt ein. Tewes blickte auf.
+Er ging dem Ankömmling sogleich entgegen. »Sieh da, Herr Raßler,« sagte
+er höflich, »das trifft sich gut. Wir hatten Sehnsucht nach Euch«,
+setzte er scherzend hinzu.</p>
+
+<p>Der Herr Kriegsrat galt als hochmütig, und es sprach für die
+Wertschätzung, welche Herr Raßler in dem Schlosse genoß, wenn er ihm
+das Prädikat »Herr« zuerkannte.</p>
+
+<p>»Da treffen sich die Wünsche gegenseitig,« entgegnete Raßler, »denn
+auch mich trieb es hierher.«</p>
+
+<p>»Famos, famos,« hüstelte das vertrocknete Männchen, »da können wir
+gleich ›in medias res‹, wie der Lateiner sagt, gehen.«</p>
+
+<p>»Nicht doch, Herr Tewes,« unterbrach ihn Raßler kurz. »Dieses Mal
+will ich zuvor mit dem Herzog sprechen. Nachher stehe ich Euch zur
+Verfügung.«</p>
+
+<p>Es gab dem Höfling einen Stich durch das Herz, daß der Unverschämte
+den ihm gebührenden Titel einfach unterschlug; aber er wußte, was
+der Mann beim Herzog galt, der ein für allemal angeordnet hatte, ihn
+recht glimpflich zu behandeln. So zwang er seinen Unwillen nieder und
+sagte höflich: »Der Herr Herzog sind im Augenblick sehr beschäftigt
+und würden eine Störung unliebsam empfinden. Vielleicht kommt Ihr zu
+gelegener Stunde morgen wieder.«</p>
+
+<p>»Ich denke, Ihr habt Euch nach mir gesehnt, Herr Rat,« fragte Raßler
+spöttisch, »da darf doch keine Minute verloren werden; und denkt Euch,
+was ich auf dem Herzen habe, erlaubt auch keinen Aufschub.«</p>
+
+<p>»So will ich versuchen, den Herrn zu melden«, fuhr Tewes gekränkt fort.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span></p>
+
+<p>»Tut das, Herr Tewes, aber nehmt es nicht übel, wenn ich alsdann allein
+mit dem Herzog zu sprechen wünsche.«</p>
+
+<p>Raßler fand den Herzog mit einem Apparat beschäftigt, der sein ganzes
+Interesse in Anspruch nahm.</p>
+
+<p>»Sieh da, der Raßler«, sagte er mit kurzem Aufblicken. »Wartet ein
+Weilchen; ich bin dabei, diese wunderbare Einrichtung zu studieren.
+Wißt Ihr, was es darstellt« fragte er dann, während seine Hände noch
+immer an Schrauben und Rädchen drehten und stellten.</p>
+
+<p>»Es muß wohl mit den Sternen zu tun haben, wie ich sehe. Wohl eines
+der neumodischen Dinger, von denen man jetzt so viel reden hört«,
+antwortete Raßler.</p>
+
+<p>»Ganz recht,« fiel ihm Heinrich ins Wort, »es ist ein Astrolabium, mit
+dem man sich und anderen das Horoskop stellt, um das eigene oder fremde
+Schicksal zu erkunden. Wäre es Abend, so könnte ich Euch ansagen, was
+Eurer harrt.«</p>
+
+<p>»Ich danke, Ew. Gnaden«, antwortete Raßler. »Gebt Euch die Mühe nicht.
+Mich verlangt es nicht, im voraus zu wissen, was aus mir wird. Das
+nimmt nur die Sicherheit und trübt den Blick.«</p>
+
+<p>»Wie Ihr wollt, wie Ihr wollt«, sagte der Herzog etwas gekränkt, daß
+der Besuch so wenig Gewicht auf seine Neuerwerbung legte. »Mir ist es
+jedenfalls von hohem Wert, daß ich im voraus weiß, woran ich bin. Ich
+finde mich leidlich mit dem Apparat zurecht. Lieber freilich wäre es
+mir, ich hätte einen tüchtigen Astrologen, der würde mir alles noch
+zuverlässiger deuten können.«</p>
+
+<p>»Vielleicht bleibt mir einmal ein solches Menschenkind im Netz, dann
+bringe ich ihn spornstreichs hierher.«</p>
+
+<p>»Sehr gut,« erwiderte Heinrich, »und Ihr könnt unseres<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> Dankes sicher
+sein. Übrigens«, fuhr er fort, »kommt Ihr wie gerufen, wir hatten uns
+schon nach Euch erkundigt, haben eilige Arbeit für Euch.</p>
+
+<p>Da ist die Hildesheimer Sache. Die will nicht recht vom Fleck. Ihr
+wißt ja, wir haben die Reichsacht auszuführen gegen den störrischen
+Bischof. Sehr ehrenvoll, uns den Auftrag zu geben, aber die Mittel
+zu finden, überließ man großmütig uns. So sitzt der Herr mit seinem
+Krummstab ruhig in Hildesheim und lacht uns aus. Der vertrackte Rat von
+Goslar leistet nur widerwillige und mangelhafte Hilfe. Werden uns der
+Herren Pfeffersäcke wieder einmal etwas annehmen müssen, um sie kirre
+zu machen. Inzwischen sollt Ihr uns helfen, sollt dem Bischof mit Euren
+Leuten eine Laus in den Pelz setzen, daß er sich vor Jucken nicht zu
+helfen weiß.«</p>
+
+<p>»Ich stehe Euch zu Diensten, Herr Herzog«, antwortete Raßler. »Ich habe
+gerade einen tüchtigen Wurf entschlossener Männer zur Hand, mag sich
+wohl rund auf ein Fähnlein belaufen. Doch ich habe dieses Mal auch
+einen besonderen Wunsch an Eure Gnaden.«</p>
+
+<p>Der Herzog, der fürchten mochte, daß er besonders zahlen solle, wehrte
+ab.</p>
+
+<p>»Ihr wißt, Raßler, daß bei dem Handel für uns nichts weiter als die
+Ehre abfällt. Eure Leute mögen sich am Beutemachen schadlos halten.«</p>
+
+<p>Aber Raßler entgegnete: »Ihr irrt, Herr Herzog. Mir selbst ist es
+zeitlebens wenig um Schätze zu tun gewesen. Wo ich zuschlug, hatte es
+andere Gründe. Doch ich bin es müde, wie ein Wegelagerer durch das Land
+zu fahren. Ich habe mich immer als ein ehrlicher Kriegsmann gefühlt und
+als solcher gehandelt. An meinen Händen klebt kein Blut, das<span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span> nicht in
+ehrlichem Kampfe Mann gegen Mann verspritzt wäre, und auch meine Leute
+hielt ich an, so zu verfahren. Taten sie es nicht immer, so ist es
+mir leid, und wo ich es erfuhr, bin ich übel dreingefahren, das dürft
+Ihr mir glauben. Nun aber bin ich der Sache überdrüssig. Und ich will
+fürderhin auch äußerlich sein, was ich innerlich immer gewesen bin.
+Kurz, ich bitte Euch, Herr Herzog, leiht mir Euren Beistand dazu und
+macht mich zu Eurem Hauptmann.«</p>
+
+<p>Der Herzog war überrascht. Das zu hören, hatte er nicht erwartet. Aber
+die Sache kam ihm sehr ungelegen. »Das wird doch seine Schwierigkeiten
+haben. Seht, Raßler, wir haben doch Rücksichten zu nehmen. Ihr wißt
+doch ...«</p>
+
+<p>»Ich weiß, Herr Herzog.« fiel ihm jener ins Wort, »daß ich als
+Räuberhauptmann gelte. Doch Ihr habt nie Bedenken gehabt, mit diesem
+zu verhandeln, und ließet Euch seine Dienste gern gefallen. Kommt
+es zuletzt auf den Namen an und erscheint Euch der Name ›Raßler‹ zu
+abgenutzt, nun, Ihr habt Vollmacht und Namen genug, um einen solchen
+auszuwählen, mit dem sich Euer neuer Hauptmann sehen lassen kann.«</p>
+
+<p>»Aber das ist ja Unsinn, den Namen ändern, Hauptmann werden«, zürnte
+der Herzog. »Plagt Euch denn der Ehrgeiz auf einmal, daß Ihr etwas
+Besonderes prästieren wollet, oder hat es sonst einen Grund?«</p>
+
+<p>»Einen Grund hat es schon,« antwortete der Gefragte, »aber Ehrgeiz ist
+es nicht oder doch nur zu einem Teil.«</p>
+
+<p>»Nun so wird er auch wieder vergehen«, meinte Heinrich. »Über ein
+kurzes werdet Ihr selbst über Euren Unsinn lachen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span></p>
+
+<p>»Seid überzeugt, Herr Herzog, daß ich das nicht tun werde. Und nun Eure
+Antwort.«</p>
+
+<p>»Und wenn ich ›Nein‹ sage?« forschte Heinrich.</p>
+
+<p>»So müßt Ihr Euch zur Stunde einen anderen suchen, der Euch hilft. Ich
+rühre keine Hand mehr für Euch.«</p>
+
+<p>»Teufel,« fluchte der Fürst, »das nenne ich dreist. Ich kann Euch
+zwingen und werde Euch zwingen, zu gehorchen.«</p>
+
+<p>»Das glaubt Ihr selbst bei Hermann Raßler nicht, Herr Herzog«, fiel
+jener spöttisch ein. »Also noch einmal, Eure Antwort! Erfüllt meine
+Bitte, und Ihr sollt Eure Freude an mir haben. Der Herr Bischof soll
+fluchen lernen, als ob er nie das Vaterunser gebetet habe, und Eure
+Freunde in Goslar sollen sich ärgern, daß sie platzen. Mit ihnen habe
+ich zwischendurch sogar noch ein besonderes Stücklein zu erledigen.
+Aber erst Eure Antwort!«</p>
+
+<p>»So schert Euch an die Arbeit. Ist sie getan, so werde ich Euren Wunsch
+erfüllen.«</p>
+
+<p>»Euer Wort?« versicherte sich Raßler.</p>
+
+<p>»Auf mein Fürstenwort«, antwortete Heinrich. Da ging Hermann Raßler
+vergnügt davon.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Im »Anker« erfuhr Raßler, daß ein Frauenzimmer nach ihm gefragt habe.
+Das Fräulein, oder was es sei, habe den Anstand und das Auftreten einer
+Dame. Er dachte sogleich an Venne, und sein Herz schlug freudig erregt,
+daß er sie wiedersehen und ihr vielleicht Hilfe bringen sollte. Bald
+darauf kehrte Venne zurück und wurde zu ihm gewiesen. Er begrüßte sie
+mit ehrerbietiger Freude.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p>
+
+<p>»Das nenne ich eine frohe Überraschung, Jungfer Venne Richerdes«, sagte
+er mit glänzenden Augen.</p>
+
+<p>»Ihr kennt meinen Namen?« fragte sie überrascht.</p>
+
+<p>»Wie Ihr merkt«, antwortete er. »Seit ich Euch sah, bin ich nicht müßig
+gewesen, zu erkunden, wer die schöne Unbekannte sei, der ich unweit
+Seesen begegnete.«</p>
+
+<p>»So wißt Ihr wohl auch schon, was mich zu Euch führt?« forschte sie
+weiter.</p>
+
+<p>»Ich glaube es zu wissen«, erwiderte er ernst. »Und Ihr mögt glauben,
+daß ich Euch zur Verfügung stehe mit allem, was ich habe und kann.«</p>
+
+<p>Dann erzählte Venne, wie übel man ihrem Vater und ihr mitgespielt habe.
+Raßler unterbrach sie nicht, aber die Ader schwoll auf seiner Stirn,
+und seine Fäuste ballten sich bei jeder Kränkung, die ihr widerfahren
+war.</p>
+
+<p>»Das ist abscheulich, das ist gemein gehandelt,« rief er, als sie
+geendet, »und dieser Achtermann ist der größte Schuft, den ich je
+gesehen. Aber gnade Gott ihm, wenn er mir unter die Fäuste gerät. Euch
+wird Euer Recht werden, Jungfer Venne, glaubt es mir, und sollte ich es
+vom Himmel herabholen!«</p>
+
+<p>Hermann Raßler war indes nicht der Mann langer Gefühlsergüsse, wenn es
+die Tat galt. Und so fand er sich von seinem Zornesausbruch sehr bald
+wieder zum praktischen Leben zurück.</p>
+
+<p>»Was soll nun geschehn? Habt Ihr schon einen Plan gefaßt?« fragte er
+Venne.</p>
+
+<p>»Nein,« antwortete sie bedrückt, »ich kam zu Euch, um mir Rat zu holen.«</p>
+
+<p>»Den sollt Ihr haben, und zwar kurz und bündig. Er lautet: Sagt der
+verfluchten Stadt auf, werft ihr den Fehdehandschuh<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> hin, und ich werde
+das Werkzeug sein, sie Eure Rache fühlen zu lassen.«</p>
+
+<p>Venne erschrak vor dem Vorschlag: sie sollte ihre Heimatstadt mit Krieg
+und Kampf bedrohen? Der Gedanke kam ihr zu fürchterlich vor. Aber
+Raßler verstand es, ihre Bedenken zu zerstreuen. Wieder und wieder
+ließ er die Demütigung vor ihren Augen erstehen, deren Opfer sie
+unschuldigerweise geworden war. Und außerdem beschwichtigte er sie über
+das Blutvergießen, das bei dem Austrag der Fehde eintreten könnte.</p>
+
+<p>»Nicht darauf kommt es an, daß Menschenleben verlorengehen, sondern
+daß den reichen Protzen der Geldsack geschmälert wird. Laßt mich nur
+machen. Wo ich sie fassen kann, sollen sie bluten. Ob es nun ihre
+Herden sind oder ihre Waren. Nichts, nichts soll sich jetzt noch
+ungestraft außerhalb ihrer Mauern sehen lassen. Und selbst in ihrem
+Neste will ich ihnen einheizen, daß ihnen der Atem ausgeht.«</p>
+
+<p>»Aber dann bin ich ja für allezeit von meiner Heimat ausgeschlossen«,
+wandte Venne ein.</p>
+
+<p>»Für längere Zeit ja, für immer aber braucht das nicht zu sein. Ihr
+wäret nicht die erste, die einem Orte aufsagt und später doch wieder in
+seinen Mauern wohnt. Doch ich sollte meinen, Euch wäre der Appetit auf
+Goslar vergangen. Auf jeden Fall sehe ich keinen anderen Weg, Euch zu
+Eurem Rechte zu verhelfen, als den der Gewalt.«</p>
+
+<p>»Vergebt nur, Herr Raßler, wenn ich mich unvernünftig benehme, aber
+ich kann nicht so schnell von meinen Gefühlen loskommen. In Goslar
+ist alles, was sich für mich mit dem Begriff ›Leben‹ verbindet; dort
+sind die Gräber meiner Eltern, dort leben mir auch jetzt noch wahre,
+treue<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> Freunde. Alles das soll ich aufgeben, um heimatlos in der Welt
+zu stehen? Nein, das kann ich nicht, kann ich wenigstens im Augenblick
+nicht. Ich muß, ehe das Schlimme vor sich geht, was Ihr vorschlagt,
+alles geordnet haben, will auch noch versuchen, ob ich nicht wenigstens
+eine Ehrenrettung des Vaters in irgendeiner Form erreichen kann.
+Schlägt auch das fehl, so bin ich zum Äußersten bereit.«</p>
+
+<p>»Ich kann Euch nicht halten, aber ich will Euch nicht verschweigen,«
+entgegnete Raßler, »daß ich in Sorge um Euch bin, solange Ihr in Goslar
+weilt. Was Ihr mir von Achtermann erzähltet, läßt mich noch Schlimmeres
+befürchten, als es der Zwang ist, den sie Eurem Recht antaten. Auf
+jeden Fall bleibt nur so lange dort, als es unerläßlich nötig ist. Ich
+warte Eurer indessen. Und wenn Ihr die Stadt verlaßt, so begebt Euch
+zum Kloster Riechenberg. Dort werdet Ihr einigermaßen sicher sein. Dort
+findet Ihr auch mich selbst oder erfahrt den Ort, wo ich zu treffen
+bin. Es wird in der Nähe sein.«</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Venne Richerdes kam nicht dazu, aufs neue Verhandlungen anzuknüpfen mit
+dem Rate oder der Stadt. Von Johannes Hardt erfuhr sie, daß inzwischen
+ein Schreiben des Geheimschreibers vom Bischof von Hildesheim,
+Woltwiesche, eingetroffen sei, in welchem er sie beschuldigte, den Rat
+von Goslar, insonderheit den Bürgermeister Karsten Balder, vor dem
+Kaiser in Worms gröblich verleumdet und beschuldigt zu haben.</p>
+
+<p>»Der Schuft!« das war alles, was Venne zu dieser Niedertracht<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span>
+sagte. Aber Johannes war in großer Sorge um sie. »Ihr müßt die Stadt
+verlassen, denn ich fürchte, daß der Rat Euch verklagen und Euch den
+Prozeß machen wird. Und das geistliche Gericht wird Euch vollends seine
+Macht fühlen lassen!«</p>
+
+<p>»Diese schlimmen Männer,« klagte Gisela, »wollen sie denn die arme
+Venne gar nimmer in Ruhe lassen? Können wir sie nicht bei uns
+verbergen?« meinte sie dann zu Johannes gewendet.</p>
+
+<p>»Das würde ein schlechtes Versteck sein«, erwiderte ihr Gatte. »Bei uns
+sucht man sie zuerst, wenn sie auf der Bergstraße nicht zu finden ist.
+Ich fürchte, man wird sie noch anderer, schlimmerer Dinge bezichtigen.
+Man will Venne in Wolfenbüttel gesehen haben und vermutet, daß sie mit
+dem Herzog konspirierte. Auch murmelte Achtermann noch von besonderen
+Sachen, die er vorzubringen habe. Wir mögen uns vorstellen, was er
+meint. Und rücksichtslos und nachträglich, wie er ist, kann er allein
+aus der Zaubertrankgeschichte Venne ein schlimmes Gebräu zurichten. Ich
+rate also, Venne, verlaßt die Stadt, sobald Ihr könnt, am besten noch
+heute, ehe man nach Euch fragt.«</p>
+
+<p>Venne war erblaßt, aber aus ihren Augen blitzte düstere
+Entschlossenheit. »Ich danke Euch, Johannes, und Dir, liebe Gisela,
+für alles, was Ihr für mich getan habt. Ihr habt recht, Johannes, mir
+bleibt nichts übrig, als zu fliehen. Was ich hier vernehme, erleichtert
+mir allerdings den Entschluß, den ich zu fassen habe. Ich breche alle
+Brücken hinter mir ab, und der Rat mag die Verantwortung für das
+tragen, was kommt.«</p>
+
+<p>»Was hast Du vor?« fragte Gisela ängstlich, und Johannes warnte:
+»Venne, begeht keine Unbesonnenheit. Es<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> handelt sich jetzt nur darum,
+Euch in Sicherheit zu bringen. Ich werde Eure Sache vertreten und
+hoffe, daß Ihr über ein kurzes wieder friedlich unter uns weilen könnt.«</p>
+
+<p>Venne lächelte düster zu den Worten Johannes'. »Was ich plane, Gisela,
+muß ich für mich behalten. Ich fürchte, die Heimat verliere ich für
+immer mit dem Augenblick, wo ich jetzt Goslar verlasse. Aber einmal muß
+ich noch in die Bergstraße, um vom Vaterhause und der guten Katharina
+Abschied zu nehmen. Ich sah sie noch nicht, seit ich zurückkehrte, und
+sie soll wissen, daß ich hier war. Um sie tut es mir besonders leid.
+Wollt Ihr mir einen letzten Dienst erweisen, so nehmt Euch der treuen
+Seele an, wenn ich fort bin.«</p>
+
+<p>Die gute Alte war außer sich, als sie hörte, Venne wolle von ihr fort.
+»Und ich bin allein schuld an dem ganzen Unheil«, klagte sie sich mit
+bitteren Tränen an.</p>
+
+<p>»Meine gute Katharina,« beruhigte sie Venne, »Du bist nicht schuldig.
+Schuld trägt die Bosheit und Schlechtigkeit unserer Feinde und
+Widersacher. Soll ich mich denn wehrlos in deren Hände geben? Das
+kannst Du nicht wollen, also gib Dich zufrieden und mache mir den
+Abschied nicht zu schwer. Ich hoffe, daß wir uns bald wiedersehen.
+Inzwischen halte hier gut haus. Und was Du auch über mich hören wirst,
+Du weißt, Deine Venne tut nichts, was sie nicht glaubt vor ihrem
+Gewissen verantworten zu können.«</p>
+
+<p>Sie nahm die arme Alte fest in die Arme und streichelte die haltlos
+Schluchzende. Dann verließ sie das Haus ihrer Väter. Um ganz
+sicherzugehen, wartete sie die Dämmerung ab und schlüpfte dann durch
+das Mauerpförtchen an der Frankenberger Kirche, wo sie die Frau des
+Wärters ohne Arg hinausließ.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span></p>
+
+<p>Ein kurzer Weg führte sie über die Landwehr nach dem Kloster
+Riechenberg. Dort wartete ihrer beim Pförtner die Nachricht, daß Raßler
+im Kloster sei. Er wurde geholt. In seinen Augen glomm die Freude über
+ihre Ankunft.</p>
+
+<p>»Ich hatte schon Sorge um Euch. Aber nun ist alles gut. Wir werden
+noch eine Strecke heute abend zurücklegen müssen, da Euch als Frau der
+Zutritt zum Kloster verwehrt ist. Im Amtshause zu Langelsheim, eine
+Wegstunde von hier, finden wir Unterschlupf für die Nacht, und morgen
+bringe ich Euch an einen Ort, wo wir in aller Sicherheit und Ruhe
+erwägen können, welche Schritte zu unternehmen sind.«</p>
+
+<p>So geschah es. Der herzogliche Vogt in Langelsheim zeigte sich
+beflissen, alles nach den Wünschen Raßlers einzurichten. Man merkte,
+auch hier galt dessen Wille fast ebensoviel wie das Wort des Herzogs
+selbst.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen brachen sie zu Pferde auf. Venne achtete nicht
+darauf, daß einige Reiter nach ihnen ebenfalls aus dem Orte ritten.
+Es war die Nachhut, die Raßler sich folgen ließ, um gegen jede
+Überraschung gesichert zu sein. Bei dem Dorfe Dolgen verließen sie
+die Landstraße und bogen rechts ab, einem kleinen Weiler zu, der in
+Waldeinsamkeit träumte. Es war Rohde, eine Siedlung, die aus einigen
+Häusern bestand. Auf dem einzigen Hofe kehrten sie ein. Wieder zeigte
+sich die Fürsorge Raßlers, denn die Leute waren unterrichtet und hatten
+ein Zimmer hergerichtet, in dem trotz aller Einfachheit das Behagen
+wohnte.</p>
+
+<p>Ermattet von dem Ritt in der Sonne, ließ sich Venne am Tische nieder.
+Raßler empfahl sich: »Ich lasse Euch allein, damit Ihr Euch ausruhen
+könnt. Wenn Ihr etwas nötig habt, ruft nur, die Wirtin wird Euch zur
+Verfügung stehen.<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> Mich selbst könnt Ihr zu jeder Stunde erreichen.
+Beliebt es Euch, werde ich die Mahlzeit mit Euch einnehmen. Wollt Ihr
+allein speisen, so sagt es ruhig. Mir liegt daran, daß Ihr wieder ins
+Gleichgewicht kommt. Morgen sprechen wir über alles Weitere.«</p>
+
+<p>Venne war ihm dankbar, daß er sie allein ließ. Müde streckte sie sich
+auf das bereitete Lager nieder. Wild stürmten die Gedanken auf sie
+ein, aber allmählich schlief sie infolge der Müdigkeit ein. Doch es
+war kein erquickender Schlummer. Wilde Träume durchjagten ihr Gehirn,
+und zuletzt wachte sie mit einem Schrei auf. Es hatte ihr geträumt,
+sie solle gefoltert werden. Achtermann war der Henker und näherte sich
+ihr mit glühender Zange, um sie zu brennen. Auf den Schrei trat die
+Wirtin herein und fragte, ob ihr etwas fehle. Venne schämte sich ihrer
+Schwäche und bat um das Abendbrot, da sich der Tag dem Ende neigte.
+Es war ihr noch ganz unheimlich zumute von dem bösen Traum, und die
+Einsamkeit und Stille lastete auf ihr wie ein Druck. Deshalb ließ sie
+Raßler ersuchen, er möge mit ihr zusammen essen.</p>
+
+<p>Raßler bewies, daß er über durchaus gute Manieren verfügte. Er fiel
+weder durch eine ungeschickte Bewegung, noch durch ein Wort auf. Zwar
+konnte er es nicht hindern, daß sein Blick immer wieder mit Bewunderung
+auf ihr ruhte, aber diese Huldigung offenbarte sich so achtungsvoll,
+daß sie nichts Verletzendes für Venne enthielt. Es kam bei ihr noch das
+Gefühl des Dankes für den Mann hinzu, der sich ihrer in dieser Stunde
+der höchsten Not uneigennützig annahm.</p>
+
+<p>Am nächsten Tage legte er ihr einen Absagebrief an Goslar in aller Form
+vor. Er lautete:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»So sagen wir Euch denn, Stadt und Rat von Goslar, auf; erklären
+auch, Euch fleißig heimsuchen zu wollen, wo immer wir können. Auch
+beauftragen wir mit der Ausübung unserer Absage den Herrn Hermann
+Raßler, als welcher von heute ab, als dem Tage nach St. Antonius, in
+meinem Dienste zu stehen sich erkläret.</p>
+
+<p>Datum zu Rohde, am 10. Tage des Mondes Maji 1500 und im zwanzigsten
+und zweyten Jare,</p>
+</div>
+
+<p class="mright5">Venne Richerdes.«</p><br>
+
+<p>Dieser Fehdebrief haftete schon am nächsten Morgen am St.-Viti-Tore zu
+Goslar und rief in der Stadt ungeheure Aufregung hervor. Man wußte,
+wessen man sich von Raßler zu versehen hatte, und Fluchen und Klagen
+erscholl überall. Im Rate vernahm man die Absage mit Wut und Grimm, und
+Achtermann schwur, wenn man Venne Richerdes ergreife, sie dem Henker
+als gemeine Hexe übergeben zu wollen. Wie ernst es dieser aber, wie
+vor allem Raßler mit der Ausübung der Fehde war, zeigte sich schon am
+Abend, als vor dem Breiten Tore zwei Feldscheunen in Flammen aufgingen.
+Man schimpfte auf den Rat, man fluchte auf Venne Richerdes und Hermann
+Raßler, aber man hatte sie nicht, um Vergeltung zu üben.</p>
+
+<p>Venne erfuhr gar nicht, wie inzwischen ihr Beauftragter sein Amt
+ausführe. Sie saß im stillen Rohde und ließ die Einsamkeit und Ruhe auf
+sich wirken. Am Tage beschäftigte sie sich auch gern mit den Kindern
+des Bauern, die, nachdem sie die erste Scheu überwunden hatten, mit
+stürmischer Zärtlichkeit an ihr hingen. Das Kleinste saß auf ihrem
+Schoß und hielt die Ärmchen um sie geschlungen, als einmal Raßler
+dazukam. Überrascht blickte er auf die liebliche Gruppe, dann aber
+quoll es heiß in ihm auf: Das war das Bild,<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> das ihm vorschwebte
+für die Zukunft. Wenn er diese Frau gewönne, wäre alles ausgetilgt,
+was ihm an Häßlichem und Niedrigem im Leben widerfuhr. Dieser Traum
+war auch der Anlaß gewesen, weshalb er den Herzog bat, ihn zum
+ehrlichen Kriegsmann zu machen. Alles Edle in ihm drängte zum Licht.
+Er wollte heraus aus dem Schmutz, in dem er bis an die Knie gewatet
+hatte, seitdem man ihn wegen der Jugendstreiche aus der Gesellschaft
+ausgeschlossen.</p>
+
+<p>»Venne, werde die Meine«, das war sein Sehnen. Aber er zwang das Wort
+nieder, das sich ihm auf die Lippen drängte. Er wollte das Mädchen
+nicht beunruhigen, das sich vertrauensvoll in seinen Schutz begeben
+hatte. Erst für sie kämpfen, ihr Recht verschaffen, dann würde er vor
+sie hintreten und sie um sein Urteil bitten, das ihn zum glücklichsten
+Menschen machen oder der Verzweiflung für immer in die Arme treiben
+mußte. Das alte Leben würde er nicht wieder aufnehmen, eine Kugel im
+ehrlichen Kampfe sollte auch ihm dann die Erlösung bringen.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Vier Wochen schon weilte Venne in dem stillen Rohde. Kein Lärm störte
+die Einsamkeit. Für die Sicherheit sorgten Posten, die in unauffälliger
+Weise den Ort bewachten. Nichts gemahnte sie daran, daß sie im Kampf
+lag mit ihrer Heimatstadt. Raßler kam, so oft er konnte. Auf ihre
+Frage, wie es in Goslar stehe, antwortete er nur immer kurz.</p>
+
+<p>»Es steht gut. Alles andere mag Euch nicht bekümmern. Ist es an der
+Zeit, so sollt Ihr schon hören, was vor sich geht. Jetzt denkt nur
+daran, Euch zu pflegen. Ihr seht mir immer noch etwas mitgenommen aus.«</p>
+
+<p>Venne blickte ihn sinnend an: »Was seid Ihr nur für ein Mensch, daß Ihr
+Euch für mich aufopfert. Und Euch sagt man so viel Schlechtes nach!
+Könnte ich Euch doch meinen Dank abstatten. Aber ich werde immer in
+Eurer Schuld bleiben.«</p>
+
+<p>»Vielleicht mache ich einmal meine Forderung geltend. Hoffentlich
+schreckt Ihr dann nicht vor der Größe derselben zurück!« antwortete
+er. Dabei sah er ihr mit einem innigen Blick ins Auge. Venne errötete,
+sagte aber nichts.</p>
+
+<p>In Goslar war derweilen ihr Name und der Raßlers auf aller Lippen.
+Fast keine Woche verging, in der man nicht über irgendeinen Schaden zu
+klagen hatte. Da war ein Warenzug trotz reisiger Bedeckung überfallen
+und weggenommen worden, dort ein Teil der Herde weggetrieben. Klagen
+und Jammern, wohin man hörte; es wagte sich fast niemand mehr aus der
+Stadt heraus. Johannes Hardt und<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> sein Weib waren tief bekümmert über
+die Vorgänge, denn Venne versperrte sich damit den Weg der Rückkehr
+für alle Zeit. Und es erschütterte sie, daß jene sich in die Hand des
+Räubers gegeben und so viel Unheil über ihre Vaterstadt gebracht hatte
+und noch anrichtete.</p>
+
+<p>»Das hätte sie nie und nimmer tun dürfen,« sagte Johannes. »Lieber
+Unrecht leiden, denn Unrecht tun. Sie kann sich jetzt nicht mehr
+beklagen, daß man ihr übel mitgespielt habe. Was sie der Stadt angetan
+hat, wiegt den Schaden hundertfältig auf, den sie erlitt. Sie soll sich
+nur hüten, sich noch einmal in die Hände des Rates zu geben; ihr kann
+niemand mehr helfen.«</p>
+
+<p>Auch Gisela war tieftraurig, daß die Freundin diesen Weg gegangen. Und
+auch ihre selbstlose Liebe fand kaum noch eine Entschuldigung für Venne.</p>
+
+<p>Bei dieser selbst regte sich langsam die Sehnsucht nach der Heimat.</p>
+
+<p>»Oh, könnte ich nur einmal noch die Türme meiner Heimat sehen; einmal
+nur noch die trauten Räume des Vaterhauses betreten!« seufzte sie in
+stillen Stunden. Noch zwang sie das Heimweh nieder, aber es pochte
+immer gebieterischer an ihr Herz.</p>
+
+<p>Als sie Raßler eine Andeutung machte, wehrte er erschrocken ab: »Ihr
+ahnt nicht, welche Stimmung in Goslar gegen uns herrscht. Man würde
+Euch steinigen, bekäme man Euch zu Gesichte.«</p>
+
+<p>Da schwieg sie betrübt, doch die Sehnsucht war nicht verflogen.</p>
+
+<p>Wieder verstrichen die Wochen, und immer tiefer wurden die Seufzer und
+immer größer der Schmerz um die verlorene Heimat. Da sagte sie eines
+Tages entschlossen zu Raßler:<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> »Ich halte es nicht länger aus. Schafft,
+daß ich nur einmal, und sei es nur auf eine Stunde, nach Goslar komme
+und die alte Katharina sehe und spreche, dann will ich gern wieder
+still sein.«</p>
+
+<p>Raßler wehrte mit aller Entschiedenheit ab. »Um Gottes willen, Venne,
+steht ab von Eurem Vorhaben. Es ist Euer Verderben. Die Goslarer sind
+mehr denn je auf der Hut und werden Euch erkennen. Ich kann Euch
+nicht Euren Feinden ausliefern, denn Euer Tod wäre auch der meinige.«
+Verzweiflung klang aus seinem Wort, und die treueste Hingebung war auf
+dem Grunde seiner Augen zu lesen.</p>
+
+<p>»Und dennoch bitte ich Euch, laßt mich hin. Ich verspreche Euch, alles
+zu tun, wie Ihr es für gut befindet, und mich der größten Vorsicht zu
+befleißigen. Nur laßt mich hinein nach Goslar!«</p>
+
+<p>»Hinein kommt Ihr schon, Venne Richerdes,« sprach er erschüttert,
+»aber heraus findet Ihr nicht. Man wird Euch greifen, Euch töten, und
+das, Venne, überlebe ich nicht. Venne, tut es mir zuliebe. Ihr ahnt
+nicht, was ich in Euch verliere!« In wilder Angst fast wurden die Worte
+ausgestoßen. Venne traten die Tränen in die Augen: »Hermann Raßler, es
+schmerzt mich, daß ich Euch Kummer mache. Ihr habt es wahrlich nicht um
+mich verdient, Ihr, der Ihr mir der treueste, uneigennützigste Freund
+waret in dieser Zeit. Glaubt nicht, daß ich Euch das je vergesse.
+Noch sind die Wunden frisch, die man mir geschlagen, aber es kommt
+wohl einmal die Zeit, wo sie verharscht sind. Dann will ich auch Euch
+Antwort geben auf Eure stumme Frage.«</p>
+
+<p>»Venne«, jubelte er, doch dann bezwang er sich. »Ihr habt recht, noch
+ist es nicht Zeit, Wünsche zu äußern. Aber laßt mir die Hoffnung, dann
+will ich mich gern gedulden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span></p>
+
+<p>Ich werde Euch selbst nach Goslar begleiten und in die Stadt bringen.
+Mir sind die Wege bekannt, wie man ungesehen hineingelangt.«</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Das Käuzchen schrie in der sternlosen Septembernacht vor dem Thomaswall
+am Dicken Zwinger. Einmal, zweimal, zehnmal wiederholte es seinen
+klagenden Ruf, daß die guten Bürger hinter der Stadtmauer sich gruselnd
+die Decken über die Ohren zogen, denn den Todesvogel hört niemand gern.
+Aber bald öffnete sich leise und geräuschlos ein Mauerpförtchen, und
+ein verschlafener Kopf lugte heraus. »Wer ist's, der Einlaß begehrt?«
+war die leise Frage. »Gut Freund«, hieß es ebenso leise. Zwei Gestalten
+schlüpften durch die Lücke und folgten dem Öffnenden in die warme
+Stube. Dort traf das Licht der trübe brennenden Kerze die Gäste.
+Erschrocken fuhr der Wärter zusammen. »Um Gott, Herr Raßler, Ihr hier?
+Wißt Ihr nicht, was man Euch zugedacht hat? Und Eure Begleiterin?«
+Damit leuchtete er der zweiten Gestalt unter die Kapuze. »Alle Teufel,
+Ihr seid ein nettes Paar. Euch, Venne Richerdes, gilt es fast noch mehr
+als diesem da. Macht nur eilends, daß Ihr wieder aus dem Loche kommt,
+das ich Euch öffnete, sonst ist's um Euch geschehen.«</p>
+
+<p>Raßler ließ sich ganz behaglich in dem gichtbrüchigen Sessel nieder.
+»Vorerst denken wir nicht daran, die gute Stadt Goslar zu verlassen.
+Wir fühlen uns bei Dir sicher wie in Abrahams Schoß.«</p>
+
+<p>»Aber um Gottes willen, wenn man Euch bei mir findet,«<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> wimmerte er
+ängstlich, »dann geht es auch mir an den Kragen.«</p>
+
+<p>»So sorge dafür, daß wir nicht gefunden werden, dann kannst Du Dein
+edles Haupt weiter durch die Straßen von Goslar tragen«, fuhr Raßler
+gemütlich fort. »Jetzt aber wollen wir ruhen, denn unsere Besorgungen
+können wir doch erst morgen verrichten.« Der Wächter sah schon, hier
+war nichts mehr zu ändern, daher bereitete er oben im Turm schnell ein
+Lager.</p>
+
+<p>Am nächsten Tage wurde er mit geheimer Botschaft zu Katharina
+geschickt. Eilfertig und zitternd kam das alte Weiblein angetrippelt.
+Der Bote hatte ihr wohl schon gesagt, wen sie treffen werde, denn mit
+allen Zeichen der Aufregung und Angst trat sie in das Zimmer. »Venne,
+meine Venne,« schluchzte sie, »wie konntest Du mir das antun!«</p>
+
+<p>»Still,« herrschte Raßler, »wollt Ihr zum Verräter werden?« Da bezwang
+sie ihre Erregung, aber noch lange zitterte ihr gebrechlicher Körper
+unter verhaltenem Schluchzen. Dann begann das Fragen hin und her. Venne
+wollte wissen, wie es Hardts gehe, wie der guten Immecke Rosenhagen und
+ihren Kindern, und Katharina wieder forschte, wie und wo ihr Herzblatt
+lebe. Darüber war die Zeit verflossen, und es schlug die Stunde des
+Abschieds. Wieder konnte die gute Alte sich nicht fassen, bis Raßler
+nachdrücklich zum Aufbruch mahnte. Noch eine letzte Umarmung, dann
+schritt die Alte davon, gebeugt von ihrem Gram und das Weinen mühsam
+bekämpfend.</p>
+
+<p>War die Einladung Katharinas auch mit aller Vorsicht erfolgt, es
+konnte doch nicht unbemerkt bleiben, daß die Magd der Richerdes in der
+stillen Gasse auftauchte. Neugierige Blicke folgten ihr, als sie in das
+Haus des Wächters<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> hastete, und neugierige Augen geleiteten sie, als
+sie wieder fortging. Was hatte die hier zu tun, und was verursachte
+ihre Tränen? Hatte sie Nachricht von ihrer Herrin, der verruchten
+Venne, bekommen? Die Zungen ruhten nicht. Wußte der eine, daß sie die
+Nachricht vom Tode der Richerdes erhalten habe, so fügte der zweite und
+dritte schon hinzu, daß sie jene selbst gesprochen, und sie wußten doch
+nicht, wie nahe sie der Wahrheit kamen!</p>
+
+<p>Es dauerte nicht lange, und die Menschen versammelten sich vor dem
+Hause, Stadtsoldaten marschierten auf, das Gebäude war von den freien
+Seiten umzingelt.</p>
+
+<p>Die beiden beabsichtigten, mit dem Anbruch der Dunkelheit wieder
+zu verschwinden. Sie unterhielten sich noch mit dem Mann, der sie
+eingelassen hatte, da traf Stimmgewirr ihr Ohr. Raßler warf einen Blick
+durch das kleine Fensterchen und fuhr erschreckt zurück. »Wir sind
+verraten«, flüsterte er. Venne erblaßte. An sich dachte sie zuletzt.
+»Oh, nun habe ich Euch auf dem Gewissen«, klagte sie.</p>
+
+<p>»Sorgt Euch nicht um mich,« wehrte er ab, »Euch gilt es zu retten, denn
+ich fürchte, Ihr seid ihnen im Augenblick wichtiger als ich.«</p>
+
+<p>Verzweifelt spähte er umher: Gab es denn gar keinen Ausweg aus der
+Falle? Es war ausgeschlossen, denn auf der Rückseite, nach dem Walle
+zu, lehnte sich das Häuschen an die Stadtmauer. Verflucht, so war
+man den Pfeffersäcken ins Garn gegangen, ohne daß sie es ausgespannt
+hatten! — Fieberhaft arbeitete sein Gehirn: Sollte er versuchen,
+durchzubrechen? Er allein würde sich nicht besonnen haben. Aber Venne.
+Kein Ausweg, keine Rettung! Wieder irrte sein Blick über den Platz,
+wieder überlegte er, doch es ging nicht, er mußte Venne für den
+Augenblick aufgeben,<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> nicht um sie den Goslarern zu überlassen, sondern
+um sie bald, morgen, in wenigen Tagen zu befreien. Er teilte ihr seinen
+Entschluß mit.</p>
+
+<p>»Verzagt nicht. Solange noch ein Atemzug in mir ist, wartet Euer die
+Rettung.« Dann traf er die Anstalten zum Durchbruch.</p>
+
+<p>Absichtlich zeigte er sich an einer Giebelöffnung, als ob er von dort
+aus entkommen könne. Sofort erhoben sich die Stimmen: »Da ist er, dort
+will er entfliehen!« In wenigen Sätzen stand er an der Tür, riß sie
+auf und warf sich auf die überraschten Nächststehenden. Es war ihm ein
+leichtes, sie zu überrennen. Ehe noch die Menge wußte, was geschehen,
+rannte er davon und verschwand. Venne aber wurde ergriffen und im
+Triumph in festes Gewahrsam geführt.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Luthers kräftige Stimme wider den Ablaßmißbrauch, die zuerst im Jahre
+1517 ertönte, fand in Goslar vielstimmigen Widerhall. Denn auch hier
+hatte man Tetzel reichlich gespendet, und ein in der St.-Jakobi-Kirche
+stehender Armenkasten führte noch lange den Namen ›Tetzelkasten‹.
+Aber noch bekannte man sich nicht offen zu der neuen Lehre. Der Rat
+im besonderen hielt noch einmütig am alten Glauben fest. Als jedoch
+im Sommer 1521 die heldenmütige Standhaftigkeit Luthers zu Worms vor
+Kaiser und Reichstag bekannt wurde, da war auch in Goslar die Bewegung
+nicht mehr einzudämmen. Es fanden die ersten Predigten in lutherischem
+Geiste statt, und der Vikar Johann Klepp lieh ihm von der Kanzel der
+St.-Jakobi-Kirche das Wort. Der Oheim Hardts, der Pleban an dieser
+Kirche, setzte beim Rate durch, daß jenem das Predigen in dieser Kirche
+verboten wurde. Da zog Klepp in die Kirche zum Heiligen Grabe, und
+seine Anhänger mehrten sich von Tag zu Tag.</p>
+
+<p>Zuletzt wurde ihm das Reden in allen Kirchen verboten, doch der Stein,
+der ins Rollen gekommen war, konnte nicht mehr aufgehalten werden. An
+Klepps Stelle traten andere, und was man in den Gotteshäusern nicht
+mehr verkünden durfte, fand auf den öffentlichen Plätzen das Ohr einer
+noch größeren Zuhörerschaft. Magister Schmiedecke predigte auf dem
+Lindenplan, und seine Anhänger, ›die Lindenbrüder‹, gewannen ihm neue
+Gefolgsleute. So groß war der Zulauf, daß die Kirchen und Kapellen bald
+leer standen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span></p>
+
+<p>Die Stadt war voll innerer Unruhe; die Masse des niederen Volkes stand
+gegen die Besitzenden, besonders den Rat, in ablehnender Kampfstimmung.
+Der Funken glühte; wer ihn zu entfachen vermochte, konnte große
+Verwirrung über die Stadt bringen.</p>
+
+<p>Hermann Raßler war über diese Zustände wohlunterrichtet, und er baute
+darauf seine Befreiungspläne. Seit einigen Tagen lebte er wieder
+unerkannt in den Mauern der Stadt, und seine Agenten bearbeiteten
+das Volk, um es für seine Ziele einzuspannen. In geschickter Weise
+wurde die Stimmung aufgepeitscht durch die Verquickung der religiösen
+Spannung mit dem wirtschaftlichen Elend. Raßlers Plan ging dahin, einen
+Auflauf des Volkes zu verursachen und während dieser Zeit die Gefangene
+zu befreien. Die Zusammenrottung fand planmäßig statt. Große Mengen
+schreienden und brüllenden Volkes drängten sich auf dem Marktplatz
+zusammen. »Fort mit den Pfaffen! Heraus mit dem Rat! Brot! Brot! Der
+Bürgermeister soll kommen!« so tobte und schrie es durcheinander.
+Nur Achtermann verlor die Ruhe nicht. »Laßt die Kartaunen abbrennen,
+schickt ihnen Vollkugeln auf den Wanst, daß sie satt werden«, riet er
+höhnisch.</p>
+
+<p>Das Gesicht Karsten Balders war in ernste Falten gelegt. Er übersah
+das Unwetter, das heraufzog, in seiner ganzen Schwere. Es handelte
+sich nicht nur darum, die Ruhestörer vom Marktplatz zu verscheuchen,
+einigen Dutzend Schreiern den Mund zu stopfen, sondern eine Bewegung zu
+bekämpfen, die das gesamte Volk bis in seine Tiefen hinein erregte und
+die, wenn sie Wurzel faßte, die Stadt in ausgesprochenen Gegensatz zu
+Kaiser und Papst bringen und damit den katholischen Herzögen den Weg
+frei machen mußte,<span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span> um ihr Mütchen an ihr zu kühlen. Er entschloß sich,
+auf den Altan zu treten und beruhigend zu der Menge zu reden.</p>
+
+<p>Als er erschien, schrien einige: »Still, der Bürgermeister will zu uns
+reden. Ruhe für Karsten Balder!«</p>
+
+<p>»Soll das Maul halten!« brüllten andere. Es drohte zu einem Handgemenge
+zwischen den beiden Parteien zu kommen.</p>
+
+<p>Die Leute Raßlers, geschickt auf den Platz verteilt, hetzten die einen
+gegen die anderen, und der Tumult schien sich in sich selbst verzehren
+zu wollen. Der Bürgermeister, der ein paarmal vergeblich versuchte,
+sich Gehör zu verschaffen, wollte wieder wegtreten.</p>
+
+<p>Während des Lärmens und Tobens hatte Raßler selbst sich mit einigen
+handfesten Leuten Eintritt von der Seite der Marktkirche ins Rathaus
+verschafft, in dessen Keller Venne Richerdes schmachtete. Da er durch
+seine Späher auch über die Örtlichkeit genau unterrichtet war und alles
+vorgesehen hatte, um bis zu ihr vorzudringen, stand er bald in ihrem
+Kerker. Sie war schon oft zum Verhör vorgeführt worden und glaubte, man
+wolle sie wieder vernehmen. Da erklang es hastig: »Kommt, die Befreiung
+naht.«</p>
+
+<p>Venne erkannte Raßler und warf sich ihm aufschreiend in die Arme.
+»Gott sei Dank, daß Ihr kommt. Ich glaubte schon, ich sei von allen
+verlassen.«</p>
+
+<p>Einen Augenblick ruhte sie an seinem Herzen, und seine Arme umschlossen
+die geliebte Gestalt; dann aber ermannte er sich. »Fort, keinen
+Augenblick verlieren!«</p>
+
+<p>Durch Gänge und Türen stolperte sie an seiner Hand bis auf den Hof
+hinauf. Das Licht der Sonne, das sie seit Wochen nicht geschaut hatte,
+blendete so, daß sie die Augen mit der Hand schützen mußte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span></p>
+
+<p>Noch hatte niemand die Flucht bemerkt, denn aller Aufmerksamkeit war
+den Vorgängen auf dem Markt zugewandt, und sie wäre auch wohl weiter
+zunächst unbeachtet geblieben, wenn nicht zufällig ein Ratsherr aus
+der rückwärts mit Fenstern versehenen Stube gesehen hätte, wie das
+Paar eilig aus dem Hofe hastete. Er schlug sofort Lärm, und der Ruf:
+»Venne Richerdes ist entflohen!« ertönte weithin. Dieser Ruf, ins Volk
+geworfen, bewirkte, was weder der Bürgermeister noch andere erreichen
+konnten: Der ganze Haufe setzte sich nach dem Hohen Wege in Bewegung,
+wohin das Paar gelaufen war.</p>
+
+<p>Die beiden hatten einen ziemlichen Vorsprung, und es wäre Raßler bei
+seiner Kenntnis aller Winkel und Ecken wohl gelungen, sie in dem Gewirr
+der Gassen am Liebfrauenberge in Sicherheit zu bringen, wenn nicht
+Venne von der langen Haft geschwächt gewesen und ihre Kleider ihr beim
+Laufen hinderlich gewesen wären. Einige leichtfüßige Burschen hefteten
+sich an ihre Fersen. Um sie abzuwehren, mußte Raßler sich wiederholt
+umkehren. So verlor er kostbare Minuten. Der Haufe kam immer näher, die
+Wut funkelte aus aller Augen, dumpfe Schreie tönten an ihr Ohr.</p>
+
+<p>Einige Leute Raßlers, die in Erkenntnis der Gefahr mit der Menge
+vorgestürzt waren, warfen sich ihr entgegen; auch Raßler selbst zog
+sein Schwert. Aber ihre Tapferkeit zerschellte an der Wucht der Masse.
+Ein klobiger Rademacher, der ein Stück Holz am Wege aufgegriffen hatte,
+schmetterte es auf Raßlers Kopf hernieder, daß er zu Boden sank. Alles
+war verloren; da wollten die Knechte wenigstens ihren Hauptmann retten.
+»Laßt das Weib, der Hauptmann ist uns mehr wert.«</p>
+
+<p>Während die einen noch kämpften, schleppten die anderen<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> den todwunden
+Mann davon. Venne blieb in den Händen ihrer Verfolger und wurde im
+Triumph zum Rathaus zurückgebracht. So endete der Befreiungsversuch,
+und der Rat trug fortan durch verdoppelte Wachsamkeit Sorge, daß man
+nicht ohne seinen Willen wieder zu ihr gelangen konnte.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Johannes Hardt bewahrte seine Treue gegen Venne auch jetzt noch, obwohl
+sie ihn durch ihre Verbindung mit Raßler schwer enttäuscht hatte. Er
+übernahm die Verteidigung der Angeschuldigten, und er unterließ nichts
+anzuführen, was zu ihrer Entlastung dienen konnte, verhehlte sich
+indes nicht, daß keine Aussicht bestand, sie zu retten. Gisela, die
+von tiefem Kummer über das Los der Freundin erfüllt war, beschwor ihn,
+nichts unversucht zu lassen. Sie erwog sogar den Plan, Venne heimlich
+freizulassen durch Bestechung der Wärter. Auch Immecke Rosenhagen und
+Erdwin Scheffer waren dafür gewonnen, aber Johannes erhob nachdrücklich
+Einspruch. Sein Pflichtgefühl litt es nicht, daß er, der im Solde der
+Stadt stand, etwas duldete oder sogar förderte, was ihn mit seinem
+geschworenen Eide in Konflikt brachte. Außerdem erkannte er, daß
+der Plan doch zum Scheitern verurteilt war. »Ich habe nur noch eine
+Hoffnung,« sagte er zu Gisela, »sie beruht auf Ernesti, an den ich
+schon vor langer Zeit eilige Botschaft schickte. Er ist mächtig und
+einflußreich; sein Wort gilt auch bei dem Rate viel. Gelingt es ihm
+nicht, Venne frei zu bekommen, so weiß ich keinen Rat mehr.« Seufzend
+ergab sich Gisela in das Unabänderliche.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span></p>
+
+<p>Ernesti kam; Johannes besprach mit ihm alles, und auch jener erkannte
+den furchtbaren Ernst der Lage. Doch er wollte nichts unversucht
+lassen. Schon am nächsten Tage begab er sich auf das Rathaus und hatte
+mit Karsten Balder eine ernste Besprechung.</p>
+
+<p>»Herr Karsten Balder,« sagte er, »ich verstehe Euren Zorn gegen mein
+Niftel; ich will auch zugestehen, daß sie sich schwer gegen die Stadt
+vergangen hat. Aber laßt ihr auch Gerechtigkeit widerfahren. Bedenkt,
+wie schwer sie gekränkt war, wie man sie und ihren Vater gehetzt hat,
+bis sie so weit kam. Ihre Begriffe von Recht und Unrecht mußten sich
+verwirren; die Hauptschuld trägt der Ratsherr Achtermann, wie Ihr nicht
+bestreiten werdet. Ich will von dem Geschwätz absehen, das er über sie
+ausstreute, sie sei eine Hexe. Ihr selbst als vernünftiger Mann werdet
+das nicht glauben, denn Heinrich Achtermann war ihr in treuer Liebe
+zugetan, und es steht fest, daß er bis zuletzt nie an ihr gezweifelt
+hat. Wie sollte also dieses reine, keusche Mädchen dazu kommen, sich
+solcher buhlerischen Mittel zu bedienen, um etwas zu gewinnen, was sie
+schon besaß? Ein anderes ist es um den Schaden, den sie oder Raßler,
+vielleicht ohne ihre Kenntnis und Einwilligung, Eurer Stadt zugefügt
+hat. Er mag groß sein, aber er ist zu ersetzen, und ich bin reich
+genug, um dafür einzustehen.«</p>
+
+<p>Karsten Balder hatte ihn sprechen lassen; unbewegten Antlitzes hörte
+er ihm zu. Dann nahm er mit ernster Stimme das Wort: »Ihr wißt, Herr
+Ernesti, daß Venne Richerdes wie ihr Vater mir die Hauptschuld an dem
+beimessen, was sie an Ungemach betraf. Sie taten mir bitter unrecht
+damit, aber ich habe geschwiegen. Meine Hand ist rein von Schuld gegen
+sie. Mein Mund hat nichts geredet, das ich<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> nicht verantworten könnte.
+Sie taten mir unrecht, aber es soll ihnen nicht vorbehalten bleiben.
+Doch anders ist es mit dem, was der Stadt widerfuhr. Für diese tat ich,
+was jene mir als persönlich gemeinte Kränkung auslegten; für diese muß
+ich geschehen lassen, was jetzt über die Tochter kommt. Sie tut mir
+leid, die Venne, ich will es Euch gestehen, und was der Achtermann ihr
+antut, mag kleinlich, verächtlich, verabscheuungswürdig sein. Aber
+es steht mir nicht zu, über ihn zu Gericht zu sitzen. Hätte sie sich
+früher an mich gewandt, so wäre vielleicht manches anders geworden;
+jetzt ist es zu spät.«</p>
+
+<p>»Herr Bürgermeister,« entgegnete Ernesti, der noch nicht alle Hoffnung
+aufgeben wollte, »ich bin, wie Ihr wißt, ein Freund Eurer Stadt. Ihr
+selbst nanntet mich so. Ich habe — wiederum gebrauche ich Eure Worte
+— ihr Dienste geleistet, für die mir Dank zugesichert wurde. Wohlan,
+jetzt ist die Stunde der Vergeltung gekommen. Ich begehre nichts als
+die Befreiung Venne Richerdes'. Sie soll Euch Urfehde schwören; ich
+will sie mit mir nehmen, daß Ihr sie nie wieder zu Gesicht bekommt,
+aber laßt sie gehen.</p>
+
+<p>Ich habe Euch geholfen, ich werde Euch helfen. Ich sorge, Ihr werdet
+diese Hilfe gut gebrauchen können. Gebt sie mir. Sie ist nur mein
+Niftel, aber Ihr seid selbst Vater, habt eine blühende Tochter. Sagt,
+wie täte es Euch, wenn man sie töten wollte. Würdet Ihr nicht Himmel
+und Hölle in Bewegung setzen, um sie zu retten?«</p>
+
+<p>»Wenn ich an Eurer Stelle wäre, Herr Ernesti, sicher. Wäre ich der
+Bürgermeister Karsten Balder, nein! Ich stehe hier für die Stadt, der
+ich geschworen habe. Ihr mahntet mich an die unruhige Zeit, in der wir
+leben; wie sollte ich es verantworten, gäbe ich die Schuldige frei,
+um vielleicht<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> demnächst ein Dutzend armer Schelme dem Gericht zu
+überantworten. Solange ich über Recht und Gerechtigkeit in der Stadt
+Goslar zu wachen habe, wanke ich nicht. ›<span class="antiqua">Fiat justitia, pereat
+mundus</span>!‹ Die Gerechtigkeit soll ihren Lauf haben auch in diesem
+Falle.«</p>
+
+<p>Bleich waren beide Männer, die sich jetzt gegenüberstanden.</p>
+
+<p>»Ihr hattet meine Freundschaft, Karsten Balder,« sagte Ernesti mit
+düsterer Stimme, »so nehmt meine Feindschaft. Daß ich einen Fehdebrief
+schreibe, wollet nicht erwarten, aber die Absage sollt Ihr merken!«</p>
+
+<p>»Ich muß es gelten lassen«, sagte Karsten Balder tiefernst; damit
+schieden die beiden Männer.</p>
+
+<p>Den Hardts berichtete er von seinem Mißerfolge. Venne wollte er nicht
+mehr sehen. »Es geht über meine Kraft, vor sie zu treten«, sagte er,
+»mit dem Bewußtsein, daß der Tod hinter ihr steht, und ihr leere
+Trostworte zuzuraunen. Sagt ihr auch nicht, daß ich hier gewesen.«</p>
+
+<p>Dann brach er auf. Von Goslar fuhr er geradeswegs nach Wolfenbüttel, um
+mit dem Herzog zu verhandeln; darauf kehrte er in seine Heimat zurück.</p>
+
+<p>Auch Herzog Heinrich versuchte noch einmal, zugunsten Vennes zu
+vermitteln; es war vergebens. Mit fast ingrimmiger Festigkeit lehnte
+der Bürgermeister die Einmischung des Welfen ab. So nahm der Prozeß
+gegen Vene Richerdes seinen Lauf.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Auf dem Rosenberge, in einsamer Lage, wohnte der Henker der Stadt
+Goslar, Meister Henning Voß, mit Weib und Kind und mit seinen
+Knechten. In den Akten der Stadt führt er den harmlos klingenden Namen
+»Suspensor«. Für den armen Delinquenten, der ihm überantwortet wurde,
+war es indes gleich, ob der Rat Meister Henning seine sechzehn Groschen
+lötigen Silbers als »Henker« oder als »Suspensor« zahle.</p>
+
+<p>Die Amtseinnahmen des Henkers waren nicht immer glänzend. Zwar flossen
+ihm neben den Einnahmen aus seinem blutigen Beruf auch sonst noch
+manche Sporteln zu, die ihm für allerlei unsaubere Arbeit zustanden,
+wie Reinigen der Gruben bei den Herren Ratsleuten, Abholen und
+Vernichten der Kadaver gefallener Tiere; aber es wäre doch in manchem
+Jahre Schmalhans Küchenmeister bei ihm gewesen, wenn sich ihm nicht
+noch andere einträgliche Einnahmequellen erschlossen hätten. Er war
+bekannt als Besitzer mancher dunklen Wissenschaft, geheime Tränke zu
+brauen, krankes Vieh zu besprechen, Liebe zu sichern und zu stören
+zwischen jungen Pärchen. Das alles fiel in den Bereich seiner Kunst.
+An manchem dunklen Abend pochte es an das Tor des Gehöfts, und ein
+zitternd Jüngferlein oder ein beherzterer Bursche holte sich Rat bei
+Meister Voß.</p>
+
+<p>Als bestellter Henker hatte er auch dem Peinlichen Gericht seine
+Dienste zur Verfügung zu stellen. Und mancher, dem seine Rute den
+Rücken gestrichen oder dem er das Schandmal<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> aufgebrannt hatte, sandte
+ihm im stillen und aus der Ferne seine Segenswünsche zu. Jetzt stand
+wieder einmal eine große Sache an, bei der es etwas zu verdienen gab.
+Daß es sich dabei um die Tochter eines Vornehmen handelte, erhöhte noch
+den Reiz der Arbeit.</p>
+
+<p>Das Peinliche Gericht tagte in der Stadtfronei, die zur Zeit unter
+der Sankt-Ulrichs-Kapelle in der Kaiserpfalz untergebracht war. Dort
+hingen an den Wänden all die Geräte, mit denen man schweigsame Leute
+zum Reden brachte. Und dort bereitete jetzt auch Meister Voß und seine
+Leute alles vor, um die Angeklagten gehörig behandeln zu können. Es
+waren eingezogen außer Venne die alte Katharina und die Gittermannsche.
+Die beiden letzteren traf der Vorwurf des Zauberns und der Beihilfe
+zu diesem Verbrechen. Venne Richerdes hatte sich außerdem wegen
+Hochverrats und Mordes, begangen an ehrsamen Bürgern, zu verantworten,
+wie auch dafür, daß sie mit Hermann Raßler, der Stadt abgeschworenem
+Feinde, gemeine Sache gemacht habe.</p>
+
+<p>Noch war der Henker mit seinen Knechten allein in dem düsteren Raume.
+Die Folterkammer entbehrte nicht des frommen Apparates, um auch keines
+der Mittel unversucht zu lassen, die auf das schon über die Maßen
+erregte Gemüt des peinlich zu Befragenden von Wirkung sein konnte.
+Der Freitag, der Sterbetag des Heilandes, galt den Inquisitoren als
+furchtbarster Erntetag. So wählte man ihn auch in Goslar. Das Gemach
+war schwarz ausgeschlagen; ein riesengroßes Kruzifix an der Wand trug
+nicht minder zur Erhöhung der düsteren Stimmung bei.</p>
+
+<p>Meister Voß war ein frommer Mann, so ungereimt das auch manchem
+vorkommen mag. Er hatte das Geschäft vom Vater überkommen, wie dieser
+vom Großvater. Morgens<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> sprach man in seinem Hause den Frühsegen,
+und der Abend fand nicht sein Ende, ohne daß dem lieben Gott gedankt
+wurde für das Gute, das er den Tag über beschert hatte, und war auch
+etwas Ungemach dazwischen gewesen. Daß dem Herrn der Heerscharen seine
+kleinen außerberuflichen Nebenbeschäftigungen vielleicht nicht ganz
+genehm sein möchten, kam ihm in seiner christlichen Einfalt nicht in
+den Sinn.</p>
+
+<p>Lag ein besonderes Werk vor, so folgte dem Morgengebet noch ein
+zweites, in dem er den Herrn um eine sichere Hand anflehte und den
+Himmel bat, ihm die Tat nicht vorzubehalten, die er im Namen eines
+wohlweisen Rates zu tun berufen war. So geschah es auch heute, obschon
+es nur galt, die peinliche Frage zu tun, wenn die Angeklagten nicht
+jetzt vor dem Gericht geständig waren. Er nahm die Kappe ab, die
+Knechte taten ein gleiches, der eine ein wenig langsam und grinsend.
+Da unterbrach Meister Voß für einen Augenblick die schon begonnene
+Andacht, und seine Faust saß dem Säumigen im Nacken. »Willst Du Hund
+unserem Herrgott nicht den nötigen Respekt erweisen?« Der Gemaßregelte
+ließ sich willig belehren, und das Gebet verlief nach dem Fürspruch des
+Meisters.</p>
+
+<p>Während dieser Zeit tagte über ihnen noch in einem Gemach das
+Gericht. Hinter einem schwarzbehangenen Tische, auf dem ein großer
+Kruzifixus zwischen zwei Kerzen stand, saßen schweigsamen und düsteren
+Antlitzes der Inquisitor und die Schöffen. An der Seite wartete
+der Aktuarius mit sorgsam zugeschnittenem Federkiel darauf, die
+Angaben niederzuschreiben. Es läutete dem Herkommen gemäß gerade die
+Angelusglocke, als die Beschuldigten von dem Büttel hereingeführt
+wurden. Das Malefizverfahren schrieb<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span> vor, daß die Tortur, die sich
+etwa anschließen konnte, die Übeltäter mit nüchternem Magen antreffe.
+So war es auch hier.</p>
+
+<p>Als erste kam die Gittermannsche. Das häßliche Weib überfiel den
+Gerichtshof sogleich mit einem Schwall von Beteuerungen ihrer Unschuld.
+Die Magd habe ihr überhaupt nicht gesagt, daß der Trank für einen
+Menschen sei; er gelte einem Hunde, so sei ihr gesagt worden. Der
+Richter unterbrach sie strenge und ermahnte sie, zu schweigen und nur
+auf die Fragen zu antworten. Da sie bei ihrer Behauptung blieb, brach
+man das Verhör ab.</p>
+
+<p>Katharina gestand unumwunden, daß sie zur Gittermannschen gegangen
+sei, um sich einen Liebestrank für Heinrich Achtermann zu holen. Die
+Gittermannsche, welche ihr empfohlen sei, habe durchaus gewußt, wem es
+gelte. Sofort fiel diese mit einem Schwall von greulichen Flüchen und
+Verwünschungen über sie her, so daß das Gericht ihr schon jetzt mit
+Auspeitschen drohen mußte, wenn sie das Verhör noch weiter störe. Da
+begnügte sie sich, den beiden anderen Frauen giftige Blicke zuzusenden.
+Die alte Magd beteuerte bei allen Heiligen, daß ihre Herrin nichts von
+der ganzen Sache gewußt habe.</p>
+
+<p>Auch Venne erzählte den Vorgang so. Der Richter schüttelte den Kopf.
+»Und Ihr behauptet allen Ernstes und mit Vorbedacht, daß Ihr von dem
+ganzen bösen Handel nichts wußtet?«</p>
+
+<p>Venne antwortete kurz und bestimmt: »Nein.«</p>
+
+<p>»Bedenkt, es steht ein gewichtiger Zeuge gegen Euch, der Ratsherr
+Achtermann. Er behauptet das gerade Gegenteil.«</p>
+
+<p>»So spricht er die Unwahrheit«, beharrte Venne trotzig.</p>
+
+<p>»Ich warne Euch«, drängte der Vorsitzende. »Euch kann<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> allein ein
+offenes Geständnis vor der peinlichen Frage bewahren.«</p>
+
+<p>»Soll ich etwas gestehen, was ich nicht tat«, entgegnete sie mit Tränen.</p>
+
+<p>»Das ist Eure Sache«, antwortete der Richter geschäftsmäßig kühl. Da
+drängte sich die alte Katharina vor. »Aber ich schwöre Euch, sie ist
+unschuldig. Wie könnt Ihr glauben, daß Venne Richerdes dazu jemals ihre
+Zustimmung gegeben haben würde!«</p>
+
+<p>»Führt sie hinaus«, befahl der Unerbittliche streng. »Sie mag reden,
+wenn sie wieder befragt wird. Und die andere, die Anstifterin, nehmt
+auch mit.«</p>
+
+<p>»Also, Ihr wollt nicht gestehen?« wandte er sich wieder an Venne. »Gut,
+so brechen wir damit ab.«</p>
+
+<p>»Man redet Euch auch nach, daß Ihr gegen den wahren Glauben unserer
+Kirche gesprochen, Euch auch zu dem Apostaten, dem sündigen Mönch
+Luther, bekannt habet. Wie steht es damit?«</p>
+
+<p>»Das ist der schuftige Schreiber des Bischofs, der uns belauschte und
+Halbgehörtes entstellte.«</p>
+
+<p>»Ich nehme es für eine Absage,« entgegnete der Richter mit einem
+stummen Lächeln. »Doch darüber wird Euch etwa noch ein anderer
+vernehmen. Aber nun erklärt Euch zu Hermann Raßler«, fuhr er dann mit
+erhobener Stimme fort. »Leugnet Ihr auch hier die Gemeinschaft?«</p>
+
+<p>»Ich leugne nicht, was ich getan habe«, antwortete Venne ruhig. »Ich
+nahm ihn mir zum Helfer, um mir mein Recht zu verschaffen, das der Rat
+mir vorenthielt. Daß er Goslar und seinen Bürgern so zugesetzt, wußte
+ich nicht, und es tut mir leid. Hätte ich es gewußt, ich würde meine
+Zustimmung nimmer gegeben haben.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span></p>
+
+<p>»Und die Beleidigung des Rates und Bürgermeisters Karsten Balder vor
+des Kaisers Majestät? Wie steht es damit? Leugnet Ihr oder gesteht Ihr?«</p>
+
+<p>»Ich leugne nicht, daß ich sie in Worms vor Kaiser und Reichstag der
+Beugung des Rechts geziehen habe gegen mich und meinen Vater. Ist das
+eine Sünde, so muß ich sie tragen. Aber sagt selbst, konnte ich anders,
+da man mir hier in Goslar die Türen verschloß?«</p>
+
+<p>»Auf meine Ansicht dabei kommt es nicht an«, wehrte der Inquisitor
+kühl ab. »Also Ihr gesteht. Bleibt noch eins, nicht minder sündhaft.
+Man sagt Euch nach, daß Ihr den Schädling Hermann Raßler durch listige
+Überredung gewonnen, auch Euch ihm hingegeben und buhlerisch mit ihm
+gehauset habt. Stimmt das?«</p>
+
+<p>Flammende Röte schoß Venne ins Gesicht. »Das ist gemein, das ist so
+niederträchtig, daß ich darauf nichts entgegnen will«, schloß sie mit
+Zusammenraffen des letzten Stolzes, obschon alles in ihr zitterte.</p>
+
+<p>»Also schreibt, Aktuarius«, fuhr der Grausame ungerührt und kalt fort.
+»Die Angeklagte Gittermann gesteht ein, den Zaubertrunk bereitet,
+leugnet aber, ihn für Menschen bestimmt zu haben. Die Angeklagte
+Katharina, Magd der Venne Richerdes, hat den Trunk geholt, leugnet
+aber, ihrer Herrin davon Kenntnis gegeben zu haben. Und Venne Richerdes
+endlich will von dieser Angelegenheit nichts wissen, leugnet auch die
+Buhlschaft mit Hermann Raßler, wie die beleidigenden Äußerungen vor des
+Kaisers Majestät. Sie gesteht indes zu, mit selbigem Hermann Raßler der
+Stadt Goslar aufgesagt und derselben fleißig Schaden zugefügt zu haben.«</p>
+
+<p>Venne wurde abgeführt; darauf beriet das Gericht, wie<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> weiter zu
+verfahren sei. Man kam sehr bald zu dem einstimmigen Urteil, daß die
+drei über die bestrittenen Punkte peinlich zu befragen seien. Es wurde
+die Reihenfolge festgesetzt, beginnend mit den leichteren Graden.</p>
+
+<p>Wenn all der Scharfsinn, den man im dunklen Mittelalter darauf
+verwendet hat, Werkzeuge zu ersinnen, welche die eigenen armen
+Mitmenschen bewegen sollten, Schandtaten zu gestehen, die sie
+doch niemals begangen haben konnten, wenn diese Tüfteleien darauf
+eingestellt worden wären, der Menschheit nützliche Dinge zu ersinnen,
+manche der Erfindungen, deren unsere aufgeklärte Zeit sich rühmt,
+wären uns von jenen schon vorweggenommen. Die ›Daumenschrauben‹, der
+›Spanische Stiefel‹, die ›Pommersche Mütze‹, der ›Halskragen‹, der
+›Leibgürtel‹, ein mit Eisenstacheln besetztes Korsett, in welches die
+Büste der Angeklagten hineingepreßt wurde, der ›Bock‹, ein in scharfer
+Schneide auslaufender Holzbock, auf welchen die ›Hexe‹ rittlings
+gesetzt wurde, stellen nur eine kleine Auslese der Marterinstrumente
+dar, mit deren Anwendung man die Armen zum Geständnis zu bringen suchte.</p>
+
+<p>Man begann bei den Angeklagten mit dem Auspeitschen. Gräßlich
+hallte das Geschrei der Gittermannschen durch den Raum. Unbeweglich
+sahen der Richter und die Schöffen zu. Das Weib wand sich unter den
+unbarmherzigen Streichen, die ihren Rücken zerfetzten. Sie schrie, sie
+wolle gestehen, sie widerrief, und wieder sausten die Streiche herab.
+Da brach ihr Widerstand endlich.</p>
+
+<p>Venne kämpfte mit einer Ohnmacht während des gräßlichen Schauspiels,
+und doch galt es bisher nur einer Fremden, einem widerwärtigen alten
+Weibe, dem mit dieser grausamen Behandlung vielleicht eine gerechte
+Buße auferlegt wurde für viele heimliche Sünden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span></p>
+
+<p>Als aber ihre alte Katharina, ihre treue Pflegerin und Behüterin seit
+den Tagen der sonnigen Kindheit, an den Pfahl gebunden und ihr Rücken
+sich unter den Streichen des Henkers blutig rötete, da war sie zu Ende
+mit ihrem Widerstand.</p>
+
+<p>»Haltet ein, haltet ein, sie ist unschuldig, ich will gestehen!«</p>
+
+<p>Katharina hatte bis dahin alles ertragen, nur ein Ächzen rang sich
+über die welken Lippen; jetzt aber, da die Herrin sich für sie opfern
+wollte, schrie sie dazwischen: »Glaubt ihr nicht, sie sagt die
+Unwahrheit; ich war's allein.«</p>
+
+<p>Der Richter kehrte sich nicht an ihr Geschrei. Ihm lag vielmehr an dem
+Geständnis der einen, der Hauptperson, die als ein ruchloses Scheusal
+dem Volke vorgeführt werden mußte, sollte die Strafe allen als gerecht
+erscheinen.</p>
+
+<p>Ihre Freunde waren bei dem Prozeß zu der Rolle der ohnmächtigen
+Zuschauer verurteilt. Immecke Rosenhagen saß voller Ingrimm im
+›Goldenen Adler‹. Die Gäste litten unter ihrer Laune. In ihrer alten
+Entschlossenheit suchte sie den Bürgermeister auf und bedeutete
+ihm, er könne doch unmöglich an das hirnverbrannte Zeug glauben;
+sie wies darauf hin, daß es nicht guttue, ein Mitglied einer alten
+Patrizierfamilie in dieser Weise bloßzustellen, denn die gemeine Masse
+ziehe daraus leicht ihre Schlüsse auf die Qualität der Vornehmen
+überhaupt. — Es war vergebens. Noch höher stieg ihr Groll, wenn sie
+darauf kam, daß der Ratsherr Achtermann, der am meisten Schuldige,
+triumphiere.</p>
+
+<p>Erdwin Scheffer, der Stadtweibel, fraß seinen Grimm in sich hinein,
+wenigstens draußen. Zu Hause mußten die Kinder seine Laune büßen, wenn
+sie sich irgendwie laut machten.</p>
+
+<p>Johannes Hardt war in seiner Rolle als Verteidiger sehr beschränkt. Bei
+der vorgefaßten Meinung der Richter verhallten<span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span> seine eindringlichen
+Worte. Man wollte ein Opfer, und Venne sollte es sein!</p>
+
+<p>Schon als die Folter bestimmt wurde für den Fall, daß sie nicht
+gestehe, erwies sich die Voreingenommenheit. Nach der bestehenden
+Gerichtsordnung konnten graduierte Personen, wie Doktoren, Lizentiaten,
+Professoren, Advokaten, und Leute von Stand, wie aus vornehmen
+Bürgergeschlechtern, die denen des Adels gleichzusetzen seien, von
+der Folter befreit werden; man ließ die Vergünstigung für Venne nicht
+zu. Als das Urteil gefällt war, das für die Gittermannsche auf den
+Feuertod, für Katharina auf erneutes Auspeitschen und Verweisung aus
+der Stadt und für Venne Richerdes endlich auf den Tod durch das Schwert
+lautete, versuchte Johannes Hardt noch einmal, sie zu retten. In einer
+Eingabe an den Rat wies er darauf hin, daß ein Appell an den Kaiser
+Begnadigung erwirken könne. Man verweigerte es. Die Stadt habe das
+Recht über Leben und Tod, also lasse sie sich von niemand dreinreden.
+Mutlos kehrte Johannes zu den Seinen zurück. Unaufhörlich flossen die
+Tränen Giselas; das harte Los Vennes konnte sie nicht ändern. Es wurde
+von dem Rate als eine besondere Vergünstigung hingestellt, daß man sie
+nicht wie eine gemeine Hexe verbrennen lasse, sondern sie durch das
+Schwert aburteilen wolle.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Venne Richerdes saß in strenger Haft. Man suchte einen abermaligen
+Befreiungsversuch durch geeignete Maßnahmen unmöglich zu machen.
+Sie war jetzt in Wahrheit von aller Welt abgeschlossen und bekam
+Menschen nur bei gelegentlichen<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> Verhören noch zu sehen, die aber
+immer von kurzer Dauer waren, da ihr Geständnis vor dem Inquisitor als
+ausreichend angesehen wurde. Auch wollte man keinerlei Gelegenheit zu
+einem Widerruf bieten.</p>
+
+<p>Venne dachte allerdings gar nicht an einen solchen, denn er würde
+das gräßliche Schauspiel erneuern, das ihr fast die Besinnung nahm.
+Lieber wollte sie aber den Tod selbst erleiden, ehe sie ihre alte, gute
+Katharina noch einmal den Henkersknechten auslieferte! Der Tod aber war
+ihr gewiß, so viel wußte auch sie von der grausamen Rechtspflege ihrer
+Zeit. Keine Rettung, nachdem Raßlers Versuch gescheitert war.</p>
+
+<p>Der Keller des Goslarer Rathauses, der heute noch in seiner Urform zu
+sehen ist, ist vor anderen Anlagen gleicher Art ausgezeichnet durch
+seine ungewöhnlichen Höhenausmaße. Wie gewaltige Höhlen erstrecken sich
+die Gewölbe unter dem alten Gebäude dahin. Das Auge sieht die Wölbungen
+in unerreichbarer Höhe über sich, das Tageslicht dringt durch schmale,
+fast ebenso hoch liegende Schlitze in geiziger Sparsamkeit hinein und
+läßt das Dunkel des Raumes nur noch um so gespenstiger und grauenhafter
+erscheinen.</p>
+
+<p>In einem dieser schauerlichen Verließe saß Venne Richerdes und wartete
+auf ihren Spruch. Kein Mensch nahte ihr als der Kerkermeister, der ihr
+die Speisen brachte und grußlos und schweigsam kam und ging. Kein Laut
+der Außenwelt drang zu ihr, sie war schon jetzt für ihre Mitmenschen
+tot.</p>
+
+<p>Auch Johannes Hardt erhielt nicht länger Zutritt zu ihr, aber einer
+vergaß sie nicht, die Kirche. Sie, die sich von ihr als Abtrünnige
+gekränkt glauben konnte, wollte doch versuchen, die irrende Seele
+zu retten. So schickte sie ihren<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> Boten, und bei der Auswahl erwies
+sich's, daß sie die Seelenkunde als vornehmste Waffe gegen den
+Unglauben zu verwenden verstand. Es kam nicht ein Eiferer, nicht ein
+ungestümer Hitzkopf, der mit dem Donner seines Wortes die Arme zu
+gewinnen suchte, sondern ein alter, würdiger Pater, ein Franziskaner,
+bei dem sie, wie die Mutter, bisweilen gebeichtet hatte. Aus seinem
+Wesen sprachen Güte und Nachsicht.</p>
+
+<p>Mit einem freundlichen, milden Wort begrüßte er sie, als er ihr die
+Hand reichte. Nichts von Vorwurf, nichts von Geringschätzung.</p>
+
+<p>»Auf Dir lastet ein schweres Geschick, meine Tochter. Wie findest Du
+Dich damit ab?« begann er teilnehmend.</p>
+
+<p>»Wie man etwas Unverdientes hinnimmt, ehrwürdiger Vater. Man grollt
+dagegen und kann es doch nicht ändern. Man möchte die ganze Welt
+verderben und weiß doch, daß sie darob nur hohnlacht«, murrte sie
+düster. Seine Hand glitt tröstend über ihr Haar. »Wer kennt Gottes
+Wege, und wer weiß, wohin das zielt, was er uns schickt? — Wir
+meinen vor anderen zum Leiden ausersehen zu sein, wähnen uns zu
+Besonderem bestimmt, ungerecht aus der Bahn gerissen, und sind doch nur
+Staubkörnlein auf seinem Wege. Und eins, mein Kind, vergessen wir gar
+zu gern ob der Klagen: die Selbstanklage.</p>
+
+<p>Ich bin nicht gekommen, Dich anzuklagen, ich will Dich aufzurichten
+suchen. Aber so Du auch gegen die anderen haderst, wie mir scheint,
+prüfe auch, ob Du vor Dir selbst gerechtfertigt dastehst. Ich bin ein
+alter Mann, der manches von der Welt gesehen hat. Vielerorts habe ich
+die Ungerechtigkeit triumphieren sehen, ohne dagegen einschreiten zu
+können. Auch in Deinem Falle liegt es, wie mir scheint,<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span> ähnlich.
+Deine Widersacher haben sich gegen Dich verschworen. Was Du dabei zur
+Gegenwehr gegen Deine Heimatstadt unternahmest, ist ebenso verwerflich,
+aber es mag mit Deiner Verlassenheit und Hilflosigkeit zum Teil erklärt
+und entschuldigt werden. Doch was Dir als schwere Schuld anzurechnen
+bleibt, ist Deine Einstellung zu den Schwarmgeistern, als deren
+schlimmster und ruchlosester jener wortbrüchige Mönch anzusehen ist,
+den Du in Worms zu Deinem Verderben hörtest.«</p>
+
+<p>»Ihr habt es von dem schuftigen Schreiber des Bischofs«, warf Venne mit
+zuckenden Lippen, verächtlich lächelnd, ein. »Gegen solche Zeugen mag
+ich mich nicht verteidigen.«</p>
+
+<p>»So sagt, daß er lügt,« fiel ihr der Mönch ins Wort, »und auch ich will
+ihn für einen Schuft erklären und aller Welt Eure Reinheit verkündigen.«</p>
+
+<p>»Das vermag ich nicht zu sagen«, bekannte sie freimütig. »Zwar hat
+er nur halb aufgefangene Worte hämisch und tückisch weitergetragen,
+aber in der Sache hat er nicht unrecht. Ich will bekennen, daß der
+Wittenberger einen gewaltigen Eindruck auf mich machte. Und was Ihr
+ihm nachsagt von Ruchlosigkeit und Schlimmerem, vermag ich nicht
+zu glauben. Wenn Ihr den Mann gesehen hättet mit seiner lodernden
+Begeisterung, seinen überzeugenden Worten, denen die Wahrheit auf der
+Stirn geschrieben stand ...«</p>
+
+<p>— »Höre auf,« rief der Pater, »ich sehe, Du bist schon völlig in die
+Netze dieses Apostaten verstrickt. Kehre um, solange es noch Zeit ist.
+Ich beschwöre Dich bei Deiner Seligkeit. Oder ist es dazu schon zu
+spät, hast Du Dich ihm mit Leib und Seele verschrieben?«</p>
+
+<p>»Eure Sorge ist verfrüht«, entgegnete Venne. »Und«, fuhr sie bitter
+fort, »hättet Ihr vor meiner Fahrt nach<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> Worms nur einen Bruchteil
+Eures Eifers um mich aufgebracht, so fändet Ihr mich wohl gar nicht
+in dieser Stimmung und auch nicht in dieser Lage. Noch ist nicht
+geschehen, was Ihr befürchtet; aber ich bin auf dem Wege zu ihm, dem
+Wahrheitskündiger und Seelenarzt. Das sollt Ihr wissen.«</p>
+
+<p>Der Mönch lenkte ein: »Du machst die Kirche und uns, ihre Diener, zu
+Unrecht für das verantwortlich, für die Unbill, die Dir widerfuhr. Wir
+mischen uns nicht in weltliche Händel, wie Du weißt.«</p>
+
+<p>»Nun, so laßt mich diese weltlichen Händel auch austragen mit all dem,
+was sie im Gefolge haben«, schloß sie bitter.</p>
+
+<p>Aber der Pater wagte noch eine letzte Mahnung.</p>
+
+<p>»Meine Tochter, vergiß, was man Dir zufügte, vergiß aber nicht, was
+Deiner im Jenseits wartet! Höllenqual und ewige Verdammnis, und vergiß
+nicht den Schmerz, den Du Deinen Eltern zufügst durch Deine Tat.
+Sie warten Deiner in ihren lichten Höhen. Willst Du Dich von ihnen
+scheiden?«</p>
+
+<p>Sanft, mit zarter Güte war es gesprochen, und wie früher verfehlten
+diese Worte ihren Eindruck nicht. Venne begann bitterlich zu weinen.</p>
+
+<p>»Das ist ja das qualvolle, daß ich nicht ein noch aus weiß in meiner
+Not. Wie oft habe ich schon daran gedacht, und doch zieht es mich immer
+wieder nach jener Seite, wo der Wittenberger steht!«</p>
+
+<p>Der Besucher sah, daß er dem armen Mädchen jetzt nicht weiter zusetzen
+dürfe, deshalb schickte er sich zum Aufbruch an. »Du zweifelst noch,
+meine Tochter, da ist nicht alles verloren. Ich will jetzt gehen und
+Dich mit Gott und den Heiligen allein lassen. Mögen sie Dir das Herz
+erleuchten<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span> und Dir zurückhelfen auf den rechten Weg. Und vergiß nicht:
+Dem Reuigen behält die heilige Kirche seine Sünden nicht vor.«</p>
+
+<p>Der Mönch ging. Venne war wieder allein in ihrer trostlosen Einsamkeit.
+Und dann sank der Abend herab, und die Nacht drohte, die grauenvolle
+Nacht ohne Schlaf. Venne sah es an dem Verblassen des Lichtstreifens,
+der in ihren Kerker fiel.</p>
+
+<p>Verzweiflungsvoll irrte sie in dem engen Gefängnis hin und her. Sie
+wurde erneut ein Raub der widerstreitendsten Gefühle. Die Worte des
+Mönches hatten alles in ihr aufgewühlt, was sie zur Ruhe gekommen
+glaubte. Wie gierige Wölfe fielen die Gedanken sie an, ihre irdische
+Not, die Trennung von dem Geliebten, der ihr auf immer entrissen war,
+die ihr angetane Schmach; ihr ganzes verpfuschtes Dasein stieg vor ihr
+auf. Und dann die grausige Vorstellung, daß sie dem Henker verfallen
+sei. »Wehe, wehe, so jung und schon sterben müssen!« — Und mit dem
+Tode war es noch nicht zu Ende, selbst in das Jenseits hinein belastete
+sie noch die Erdenschwere: »Was harrt Deiner dort?«</p>
+
+<p>In namenlosem Jammer rang sie die Hände. »Herr mein Gott, erleuchte
+mich! Vater, Mutter, gebt mir einen Wink, wo der rechte Weg ist!«</p>
+
+<p>Keine Antwort in der erdrückenden Stille, schwarze Nacht ringsum! —
+Doch da schleicht sich ein Schimmer in ihr Gefängnis und trifft ihr
+ruhelos irrendes Auge. Ein Sternlein sendet sein bescheidenes Licht
+durch den Fensterschlitz. Aus erdenweiter Ferne gleitet sein milder
+Glanz herab in den Raum, wo irdische Unbill sie ummauert hält. Und ein
+zweites steht ihm getreulich zur Seite, und ein drittes. In sanfter
+Stetigkeit blicken die Augen des Himmels auf sie<span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span> herab. Und Venne
+klimmt mit ihrem leidgeprüften Herzen zu den Seligen empor, die da oben
+in den himmlischen Sphären wandeln und leben. Vielleicht wohnt auf eben
+dem Sternlein das Mütterlein und der Vater, und sie sehen herab auf
+ihre Tochter, die in dieser furchtbaren Einsamkeit dem frühen, harten
+Tode entgegenlebt.</p>
+
+<p>»Mutter, Mutter, erbarme Dich meiner. Gib mir ein Zeichen, daß Du mir
+nicht zürnst, daß ich nicht von Dir geschieden bleibe!« Und ihre Seele
+sucht in brünstigem Gebet die Ferne, Selige.</p>
+
+<p>Da fließt es wie ein linder Trost ihr ins Herz. Das verklärte Antlitz
+der Mutter blickt auf sie hernieder, und sie spricht zu ihr: »Fürchte
+Dich nicht, meine Venne, ich bin bei Dir jetzt, und ich umschwebe Dich
+in Deiner letzten, großen Not. Du suchtest Gott, Du hast ihn gefunden;
+bleibe ihm treu, höre nicht auf Menschenwort. Und alles, was das Herz
+Dir bedrückt, das wirf auf ihn, den Eingeborenen, den er uns sandte,
+uns zu heilen und zu lösen. Jesus Christus, Dein Stab! An ihn halte
+Dich, mit ihm tritt die Wanderung an durch das dunkle Tal, das Dich zu
+mir, zu uns führt!«</p>
+
+<p>»Jesus Christus, Dein Heil, Deine Zuversicht!« — wie milder, heilsamer
+Balsam legte es sich auf ihre zweifeldurchwühlte Brust. »Jesus
+Christus, Dein Stecken und Dein Stab!« — mit einem Seufzer unendlichen
+Glücksgefühls wandte sich ihr Blick von den schwindenden Sternen, die
+ihre Bahn durch die Ewigkeit fortsetzten.</p>
+
+<p>»Jesus Christus!« — Der Name schwebte noch auf ihren Lippen, als die
+Augen sich schlossen zum Schlummer auf hartem Lager.</p>
+
+<p>Am nächsten Tage schon kehrte der Franziskaner wieder.<span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span> Er fand Venne
+in gelassener Ruhe. Der Friede in ihrer Stimme, der ihm bei seinem Gruß
+entgegenklang, erfüllte ihn mit Unruhe und Sorge.</p>
+
+<p>»Hast Du Dich zurückgefunden, meine Tochter?« fragte er mit milder
+Stimme.</p>
+
+<p>»Wie Ihr es versteht,« entgegnete Venne, »zurückgefunden oder
+zurechtgefunden zu meinem Gott und Erlöser; von ihm soll mich nichts
+mehr scheiden.«</p>
+
+<p>»Wie soll ich das verstehen?« forschte er. »Dachtest Du auch an das,
+was ich Dir von den Eltern und dem Jenseits sagte?«</p>
+
+<p>»Seid gewiß,« erwiderte sie zuversichtlich, »ich fand sie und hörte
+ihren Rat, der aber weist mich zu Jesum. Ihm will ich folgen und nur
+ihm.«</p>
+
+<p>»Und die Kirche und die lieben Heiligen, baust Du nicht auf ihre
+gnadenbringende Fürsprache?«</p>
+
+<p>»Ich habe meinen Heiland, habe Jesum Christum, was brauche ich sie!«</p>
+
+<p>»So bist Du verloren für die Zeit und Ewigkeit!« Grollend erklangen
+seine Worte.</p>
+
+<p>»Zürnet nicht, ehrwürdiger Vater«, bat Venne mit sanfter Stimme. »Es
+schmerzt mich, daß ich Euch kränken muß, der mir nur Gutes erwies. Aber
+Gottes Gebot geht vor Menschenwunsch. Und Gott befiehlt mir durch mein
+Mütterlein: ›Bleibe getreu und halte Dich an Jesum Christum!‹«</p>
+
+<p>Da schied der Mönch zum andern Male von ihr, und er ging mit wehem
+Herzen, daß er die verirrte Seele nicht zurückgewinnen solle. Traurig
+war sein Blick, und Trauer durchzitterte seine Stimme, als er murmelte:</p>
+
+<p>»So leb' denn wohl für diese Zeit und für die Ewigkeit!«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Während in Goslar Venne Richerdes der Prozeß gemacht wurde, lag ihr
+Bewunderer und Helfer todwund in Rohde, wohin er gebracht war, sobald
+sein Zustand das zuließ. Lange hielt ihn das Fieber im Bann, und es
+schien, als ob der willensstarke Mann seinen Meister gefunden habe.
+Immer wieder gellte der Name »Venne« durch seine Fieberträume, und
+oft fuhr er auf mit dem Rufe: »Laßt mich zu ihr, ich habe ihr Hilfe
+versprochen, ich darf nicht wortbrüchig an ihr werden.« Aber dann sank
+er wimmernd zusammen.</p>
+
+<p>Von den Vorgängen in Goslar wurde er dauernd unterrichtet durch seine
+Spione. Er hörte von dem Fortgang des Prozesses und erfuhr, daß Venne
+zum Tode verurteilt sei. Da gab es für ihn kein Besinnen mehr. Ein
+Befehl rief alle seine Männer zusammen. Es galt einen Überfall auf
+Goslar, der in allen Einzelheiten sorgsam durchdacht war. Während
+ein Teil einen Angriff von der Westseite her unternehmen sollte, der
+die Aufmerksamkeit der Goslarer fesselte, würden die anderen von
+Südosten her, von wo man am wenigsten Feindseligkeiten erwartete, in
+die Stadt einzudringen suchen. Hermann Raßler war noch immer nicht
+wiederhergestellt, aber es galt ihm als selbstverständlich, daß er bei
+diesem Zuge, der ihm die Erfüllung seines höchsten Sehnens bringen
+sollte, zugegen sein mußte.</p>
+
+<p>Der Tag der Hinrichtung Vennes stand fest und damit auch die Stunde,
+die zur Befreiung zu führen bestimmt war.<span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span> Am Abend vorher näherten
+sich die Mannen Raßlers der Stadt. Jedes Geräusch wurde vermieden,
+die Landwehr an Stellen überschritten, die abseits der Wege lagen.
+Mitgeführte Leitern wurden an die Mauer gelegt; die Ersten gelangten
+über sie hinweg und überwältigten die Wache im Torturm. Dann brach der
+Haufe in die Stadt ein.</p>
+
+<p>Schon war durch den Lärm, der sich bei der Erzwingung des Eingangs
+nicht vermeiden ließ, dieser und jener Bürgersmann geweckt. Verschlafen
+rieb er sich die Augen, dann aber besann er sich auf seine Pflicht, die
+ihn zu jeder Stunde zum Schutze der Stadt aufrufen konnte. Inzwischen
+drang der Haufe der Bewaffneten bis zum Marktplatz vor, wo im Rathaus
+Venne befreit werden sollte. Die Türen wurden mit Gewalt erbrochen, mit
+fliegender Eile stürmte Raßler zu dem Verlies, in dem er die Geliebte
+wußte.</p>
+
+<p>»Venne, die Befreiung ist nahe! Venne!« rief er noch einmal, — niemand
+antwortete. Eine Fackel tauchte auf, sie wurde dem Träger entrissen,
+und Raßler leuchtete in den Raum: leer! — — Er wußte nicht, daß man
+vor wenigen Stunden die Gefangene in die Stadtfronei gebracht hatte,
+um sie bei der Hinrichtung nicht weit führen zu müssen. »Vergebens,
+verloren!« stöhnte er. Tränen der Wut traten ihm ins Auge, und dann
+brüllte er auf wie ein Tier, dem man seine Beute entrissen hat.</p>
+
+<p>»Venne, Venne!« schrie er einmal über das andere. Aber schon drängten
+die Genossen zum Rückzug. In der Stadt heulte die Sturmglocke,
+die Bürger sammelten sich in Haufen und drangen gegen das Rathaus
+vor. »Feind in der Stadt! Raßler ist da!« schrie und brüllte es
+durcheinander. Der Wilde stürzte sich auf sie: »Wo habt Ihr Venne
+Richerdes? Gebt sie heraus!« tobte er. Aber sie höhnten ihn in<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> ihrer
+Übermacht. »Seht da, der Räuberhauptmann will sich sein Liebchen holen,
+um mit ihm auf dem Blocksberge Hochzeit zu halten. Auf ihn, der uns so
+sehr geschädigt hat, greift ihn, den Lump!«</p>
+
+<p>»Auf sie!« brüllte auch Hermann Raßler mit blutunterlaufenen Augen.
+Wuchtig sausten seine Hiebe auf die Angreifer herab, und mehr als
+einer wälzte sich in seinem Blut. Aber immer größer wurde die Zahl der
+Verteidiger, und Schritt um Schritt wichen die Raßlerschen zurück.
+Dem Führer lag nichts an seinem Leben, immer und immer wieder stürmte
+er vor. Zuletzt rissen ihn die eigenen Leute zurück und führten
+den Widerstrebenden davon, während andere den Rückzug deckten. Das
+Schicksal Vennes war besiegelt.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Ein strahlend schöner Herbsttag brach nach der unheimlichen Nacht
+über die alte Reichsstadt herein. Leise, ganz leise kündigte sich das
+Sterben in der Natur an. Hier ein rotes Blättchen, das vom wilden Wein
+der Laube langsam zur Erde sich senkte, dort ein roter Schein über
+einen alten Ahorn oder eine Linde gehaucht, dazwischen dunkles Gold und
+lichtes Gelb, all die wunderbaren Farbentöne, mit denen der Meister der
+Schöpfung sein Werk noch einmal verklärt, ehe er ihm den Schmuck des
+Lenzes und Sommers nimmt und sie mit dem starren Gewande des Winters
+umkleidet. In den Büschen und Bäumen noch das lustige Gezwitscher der
+kleinen Sänger, die sich um das Morgen nicht kümmern, bis die Stimme in
+ihnen mahnt, daß es an der Zeit sei, sich zur Wanderung anzuschicken.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span></p>
+
+<p>Auf den Straßen jubelten die Kinder bei ihren Spielen, unbekümmert um
+das Unheimliche, das geschehen war, und das Gräßliche, das bevorstand.
+Sie hatten von den Erwachsenen einen Vers übernommen, den sie zu ihren
+Ringelreihen lustig zwitscherten:</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 1em;">»Venne Richerdes und Raßler der Böse,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Von beiden der Himmel uns balde erlöse!«</span><br>
+</p>
+
+<p>Vor der Pfalz, die von ihrer einsamen Höhe auf das Häusergewirr
+herabblickte, erhob sich das Schafott, auf dem Venne Richerdes büßen
+sollte. Eine ungeheure Volksmenge umlagerte den Platz. Selbst die
+Firste der näher liegenden Häuser waren mit Neugierigen bekränzt, die
+sich keine Einzelheit des schrecklichen Schauspiels entgehen lassen
+wollten.</p>
+
+<p>Es ist der Ämter edelstes und opferwilligstes, das der Diener Gottes,
+dem Menschen in seiner letzten Not zur Seite zu stehen, wenn alle ihn
+verlassen müssen in seiner Qual. Bis dahin hielt ihn die Sorge um die
+Erhaltung des irdischen Lebens gefangen, jetzt lastet die furchtbare
+Seelennot auf ihm: Was wird aus mir im Jenseits?</p>
+
+<p>Venne Richerdes stand außerhalb dieser Fürsorge, denn von der alten
+Gemeinschaft hatte sie sich losgesagt; die neue aber, die lutherische
+Familie, war, in Goslar zum wenigsten, noch ohne Heimat. Ihre Kinder
+und Jünger lebten der Obrigkeit zum Ärgernis und wurden von ihr nicht
+geduldet. So hätte sie allein den dunklen Weg gehen müssen. Aber der
+gute, alte Pater Franziskaner brachte es nicht über das Herz, sein
+Beichtkind ohne Tröstung den letzten Gang antreten zu lassen. Vor
+seinen Oberen beschönigte er sein Vorhaben mit dem Hinweise, daß Venne
+doch zuletzt noch widerrufen<span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span> möchte, und auch im innersten Winkel
+seines Herzens lebte diese Hoffnung.</p>
+
+<p>Als die Stunde gekommen war, trat er bei ihr ein.</p>
+
+<p>»Ich bin gekommen, mit Dir zu beten«, sprach er mit ernster, milder
+Stimme. »Bist Du bußfertig, bereust Du Deine Sünden?«</p>
+
+<p>»Ich bereue alles, was ich gesündigt, und bitte Gott, er wolle es mir
+nicht ansehen um Jesu Christi willen«, antwortete sie leise.</p>
+
+<p>»Willst Du nicht zu uns zurückkehren?«</p>
+
+<p>»Ich bitte Euch, ehrwürdiger Vater, laßt mich, wo ich bin. Ich habe
+den Grund gefunden, auf den ich baue, Jesum Christum. In ihm will ich
+sterben!«</p>
+
+<p>»So möge Gott Dir gnaden!« murmelte der Mönch betrübt.</p>
+
+<p>Das Armsünderglöcklein setzte ein mit seinem wimmernden Stimmchen.
+Aus der Fronei trat die todblasse Venne Richerdes, ihr zur Seite der
+Pater. Er murmelte die Sterbegebete; Vennes Lippen bewegten sich, ohne
+Worte formen zu können. Mit wankenden Schritten näherte sie sich der
+Richtstätte. Der Prokurator verlas das Urteil und brach den Stab über
+die Verurteilte, Venne Richerdes gehörte dem Henker.</p>
+
+<p>Noch eine letzte, leise Bitte wagte der Mönch: »Widerrufe!«</p>
+
+<p>Statt der Antwort nahm ihm Venne das Kruzifix aus der Hand. Ihr Auge
+suchte das Antlitz des Gekreuzigten. »Jesus Christus, mein Erlöser!«
+Ihre Lippen hauchten einen Kuß auf das Kreuz, dann ließ sie es in die
+Hände des Paters zurückgleiten.</p>
+
+<p>Noch einmal umfaßte ihr Blick die Heimat mit den Türmen<span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span> und Giebeln
+und den ragenden Bergen. Dann kniete sie nieder und empfing den
+tödlichen Streich.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Venne Richerdes hatte geendet, nicht erloschen war das Rachegefühl in
+der Brust Hermann Raßlers. Als die Nacht hereingebrochen, näherten
+sich wieder Gestalten der Stadt und gewannen heimlich Einlaß. Der
+Wächter rief die Mitternachtsstunde, da flammte es an allen Enden
+Goslars zugleich blutigrot auf. Der rote Hahn spreizte seine feurigen
+Flügel. Die Bürger schreckten aus dem Schlafe auf durch das gefürchtete
+»Feuerjo! Feuerjo!« Prasselnd stiegen die Flammen in den dunklen
+Himmel, die Nachbarschaft weithin mit grellem Schein übergießend;
+dahinter gähnte die Nacht nur um so schwärzer und unheimlicher. Hermann
+Raßler brachte Venne Richerdes sein Totenopfer!</p>
+
+<p>Er selbst, der Wilde, Rachedürstende, war daran nicht beteiligt, er
+hatte ein anderes, letztes Werk in Goslar zu vollbringen: noch lebte
+der, von dem all das Unheil ausging, das über die unglückliche Venne
+hereingebrochen war, der Ratsherr Heinrich Achtermann.</p>
+
+<p>Der Rächer nahm niemand mit auf seinem Wege. Was er vorhatte, war sein
+eigenstes Werk, kein Unberufener sollte ihn dabei stören, was er mit
+seinem Todfeinde zu erledigen hatte.</p>
+
+<p>Das Haustor war bald geöffnet, er drang zu dem Zimmer vor, in dem
+der Gehaßte weilte. Eine Magd, die ihm mit einer Kerze entgegentrat,
+verscheuchte er mit barschem Befehl. Da trat ihm der Gesuchte entgegen,
+notdürftig gekleidet.<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> Entsetzen ergriff ihn, als er den Gefürchteten
+vor sich auftauchen sah. Das Licht zitterte in seiner Hand.</p>
+
+<p>»Zurück in Euer Zimmer!« herrschte Raßler. Mechanisch wich Achtermann
+zurück. Jener folgte ihm auf dem Fuße.</p>
+
+<p>Achtermann wußte, daß sein letztes Stündlein geschlagen habe.
+Hilfesuchend glitt sein Blick zum Fenster. Raßler sprach düster: »Gebt
+Euch keiner Hoffnung hin, für Euch gibt es keine Rettung! Bereitet
+Euch zum Sterben vor. Aber zuvor noch eine Frage: Was tat Euch Venne
+Richerdes, diese Edle, Reine? Habt Ihr auch nur einen einzigen
+triftigen Grund, so mögt Ihr Euer elendes Leben weiterschleppen. Euch
+bleiben noch genug der Gewissensbisse, daß Ihr darunter zusammenbrechen
+müßt.«</p>
+
+<p>Der Ratsherr brachte nur lallende Laute hervor. »Sprecht!« heischte der
+Unerbittliche, aber kein Wort entrang sich den blassen Lippen. Stieren
+Auges blickte er auf den Peiniger.</p>
+
+<p>»Willst Du nicht, so fahre ohne Bekenntnis zur Hölle!« schrie er. »Doch
+daß <em class="gesperrt">ich</em> es an christlicher Gesinnung selbst Dir gegenüber nicht
+fehlen lasse, so sei Dir noch ein letztes Gebet gegönnt. Nieder auf
+die Erde!« brüllte er, als Achtermann noch immer schwieg, und damit
+riß er ihn auf den Boden. Da entrang sich den Lippen seines Opfers
+ein furchtbarer, wilder Schrei. Mit eiserner Faust hielt Raßler ihn
+nieder, während die Rechte den Dolch zum Stoß bereithielt. Wimmernd,
+mit verglasten Augen lallte der Alte einige Worte. Es wurde laut im
+Hause. Durch das Geschrei der Magd und den Angstruf des Ratsherrn waren
+Nachbarn aufmerksam gemacht worden und drangen ins Haus.</p>
+
+<p>»Stirb, Du Hund«, zischte Raßler und hob die Rechte zum Stoß. Da flog
+die Tür auf, und die Helfer drangen ein.<span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span> Ehe noch der Dolch sein Ziel
+erreicht hatte, sank Hermann Raßler unter dem Streiche eines Bürgers.
+Seinem Leben ward ein Ende gesetzt an dem Tage, da Venne, die er zu
+gewinnen hoffte, unter des Henkers Schwert starb.</p>
+
+<p>Heinrich Achtermann hatte das Bewußtsein verloren; als er wieder zur
+Besinnung gebracht war, schlug ein blöder Greis die Augen auf. Die
+schreckliche Stunde hatte ihm die Sinne verwirrt.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span></p>
+</div>
+
+<p class="drop">Durch die hochgehenden Wogen der Nordsee pflügte sich eine hansische
+Kogge mühsam ihren Weg. Oft war sie verschwunden zwischen den
+grünen Wellenbergen, dann schwebte sie auf der Höhe des nächsten
+Wasserschwalles. Der weiße Gischt flutete über das niedrige Verdeck,
+alles mit seiner salzigen Flut übergießend. Aufmerksam standen Kapitän
+und Steuermann auf ihrem Posten; keinen Blick verloren sie von dem
+Wege, den der Kompaß vorschrieb.</p>
+
+<p>Das Schiff hatte eine schwere Fahrt hinter sich, seitdem es von der
+Mole in London losmachte. Wild jagte der Novembersturm hinter ihm drein
+und heulte brüllend durch die gerefften Segel und Stengen. Aber wacker
+stampfte es dahin, unentwegt dem fernen Ziele zu. Die Kogge war in
+Hamburg beheimatet, und dorthin ging ihre Reise.</p>
+
+<p>Ungeduldig blickte einer der Schiffsgäste auf Schiff und See, deren
+Wogen, wie es schien, unter dem Fahrzeug eilig davonglitten dem Ziel
+zu, das sie selbst erstrebten. Ja, er war voller Ungeduld, Heinrich
+Achtermann, der mit der guten hansischen Kogge die Heimfahrt von London
+antrat, nachdem dort die geschäftlichen Angelegenheiten zu seiner und,
+wie er hoffen durfte, auch zu seines Vaters Zufriedenheit geregelt
+waren. Aus der Heimat hatte ihn in dem knappen Jahre, das er von Goslar
+fern weilte, Nachricht nicht erreicht außer einem Schreiben des Vaters,
+das geschäftlichen Inhaltes war und die Dinge, die ihn interessierten,
+nicht berührte. Venne selbst wußte er in Worms;<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> wie lange ihr
+Aufenthalt dort dauern würde, war ihm unbekannt. Zwischen ihm und ihr
+war also in dieser Zeit der Faden gänzlich abgerissen.</p>
+
+<p>Er freute sich von Herzen auf das Wiedersehen, denn die Aufregung der
+letzten Tage in Goslar mit dem unleidlichen Zwischenfall hatte sich
+gewiß gelegt, und er durfte hoffen, daß auch bei dem Vater eine mildere
+Stimmung eingezogen sei. Seine Gefühle für die Geliebte waren durch
+die lange Trennung geklärt, sie hatten an Innigkeit nicht verloren,
+sondern waren gefestigt worden durch die Vergleiche, die er zwischen
+fremden Frauen und der keuschen, züchtigen Geliebten ziehen konnte. Er
+war entschlossen, sein Glück festzuhalten und sich durch nichts darum
+betrügen zu lassen.</p>
+
+<p>Viel zu langsam für seine Ungeduld setzte das Schiff seine Fahrt
+durch die schwere See fort. Heinrichs Gedanken eilten ihm voraus
+und übersprangen den Weg von Hamburg nach Goslar. Er sah sich zur
+Bergstraße eilen und die Geliebte an sein Herz sinken. Das Gefühl
+des großen Glückes, das seiner wartete, drohte ihm die Brust zu
+zersprengen. Endlich lief die Kogge in die Elbe ein und legte im Hafen
+von Hamburg an. Es hielt ihn dort keinen Tag länger, unverweilt brach
+er nach Goslar auf. Noch hieß es sich Tage gedulden, aber süßer Lohn
+winkte ihm daheim und brachte ihm Entschädigung für die lange Zeit der
+Sehnsucht!</p>
+
+<p>Armer Heinrich, Du ahnst das Schreckliche nicht, das Deiner wartet!</p>
+
+<p>Von Braunschweig ab fand er Gesellschaft in einem Reisegenossen, einem
+Kaufmann, der in Goslar Station machen und dann weiter nach Halberstadt
+wollte. Von dem Gespräch über die Zeitläufte kam man auch auf die
+Geschehnisse in der Heimat. Da der Reisende hörte, daß Heinrich<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span> lange
+abwesend gewesen sei, berichtete er über vieles, das ihm in den Sinn
+kam.</p>
+
+<p>»Dann wißt Ihr wohl auch nichts von dem großen Hexenprozeß, der vor
+wenigen Monden alle Gemüter in Eurer Heimat in Spannung hielt?«
+Heinrich verneinte.</p>
+
+<p>»Nun, da werdet Ihr staunen. Es war nämlich keine gewöhnliche Hexe,
+sondern ein vornehmes Fräulein.«</p>
+
+<p>Heinrich schnürte ein unerklärliches Angstgefühl die Kehle zu. »Wie
+hieß die Frau?« fragte er mit halberstickter Stimme.</p>
+
+<p>»Ja, wie war doch der Name? Laßt sehen. Venne, Venne Richard oder so
+ähnlich.«</p>
+
+<p>»Venne, Venne? Doch nicht Richerdes?« fragte er heiser. »Doch, das
+ist der Name.« »Ihr lügt«, schrie der Gepeinigte, daß der Fremde
+erschrocken zusammenfuhr. »Ihr lügt«, wiederholte er noch einmal.</p>
+
+<p>»Nun, ich kann mich ja irren, aber ich meine, so hätte der Name
+geklungen; doch nichts für ungut. Was erregt Euch denn so bei dem
+Namen?«</p>
+
+<p>Was ihn erregte! Er hätte dem Mann ins Gesicht schreien können: »Meine
+Braut ist es!« aber er schwieg mit zusammengebissenen Zähnen. Nur kurze
+Zeit ritt er noch mit dem Weggenossen, dann entschuldigte er sich:
+»Nehmt es nicht übel, aber mich zwingt die Unruhe vorwärts.« Damit gab
+er seinem Pferde die Sporen.</p>
+
+<p>In Goslar ritt er durch das Breite Tor ein. Qualvolle Ungewißheit
+erfüllte sein Herz. Es schien ihm, als blickten ihn alle Leute mit
+neugierigen, mitleidigen Augen an. Bekannte begegneten ihm nicht. Ehe
+er noch das väterliche Haus aufsuchte, ging er zur Bergstraße, um
+von der schrecklichen Pein erlöst zu werden. Das Haus der Richerdes
+war<span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span> verschlossen, niemand rührte sich drinnen. Es öffnete sich ein
+Nachbarfenster: »Aber was wollt Ihr denn da? Wißt Ihr nicht, daß die
+Hexe ...?« Da jagte er davon wie von Furien gehetzt.</p>
+
+<p>Im Vaterhause alles still. Die Magd blickte ihn an, als ob sie ein
+Gespenst sehe. »Herr Heinrich«, schrie sie dann laut auf. Auf den Ruf
+trat die Mutter aus dem Zimmer. Aber ... war denn das seine Mutter?
+Eine rüstige, stattliche Frau, so hatte sie ihm den Abschiedskuß auf
+die Stirn gedrückt, und jetzt eine gebeugte, zitternde Greisin?</p>
+
+<p>»Mutter,« schrie er, »Mutter, ist es wahr, was man mir erzählt? Venne
+...?«</p>
+
+<p>Sie lehnte sich gegen den Türpfosten, als drohten ihr die Kräfte zu
+versagen. »Ja, mein Sohn, mein armer Junge, es ist wahr.«</p>
+
+<p>Da schrie er auf wie ein zu Tode getroffenes Wild. »Venne!« und noch
+einmal »Venne!«</p>
+
+<p>»Und wer hat sie mir geraubt« rief er heiser vor Wut. »Hat etwa der
+Vater daran Anteil?«</p>
+
+<p>Die Mutter schwieg. Das Schweigen war ihm Antwort genug.</p>
+
+<p>»So hat der Unhold in seiner Rachsucht alles zerstört, was mir teuer
+war. Alles, alles«, fuhr er mit versagender Stimme fort. »Aber wo ist
+er?« schrie er erneut auf. »Wo ist er, daß ich ihn zur Rechenschaft
+ziehe?«</p>
+
+<p>Die Mutter schluchzte still vor sich hin. »Wo ist er?« fragte der Sohn
+wiederum drohend.</p>
+
+<p>»Du wirst ihn nicht zur Rechenschaft ziehen, weil Du es nicht kannst,
+armer Junge«, sagte sie leise.</p>
+
+<p>»Weshalb nicht? Ist er tot? Ist alles tot und verhext hier bei Euch?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span></p>
+
+<p>»Er ist nicht tot,« antwortete sie mit bitteren Tränen, »er ist
+schlimmer als tot, er ist wahnsinnig.«</p>
+
+<p>»Ha, ha, ha«, lachte Heinrich in grellem Hohn. »So ist's recht, die
+Braut getötet, der Täter ein Narr!«</p>
+
+<p>»Du sprichst vom Vater!« mahnte die Mutter verzweifelt.</p>
+
+<p>»Ich fluche ihm,« schrie der Sohn, »ich fluche allen, die an der
+grausigen Tat mitschuldig. Ich erwürge sie alle«, schäumte er.</p>
+
+<p>»Fasse Dich, mein Sohn,« mahnte sie, »lästere nicht wider Gottes Gebot,
+das Dich heißt, den Eltern Ehrfurcht zollen.«</p>
+
+<p>Wieder lachte er schrill auf. »Ehrfurcht zollen diesem blöden
+Mordbuben! Nein, nein, ich ziehe ihn dennoch zur Rechenschaft; er soll
+mir büßen.« Er trat einen Schritt auf das Zimmer zu, in dem er den
+Vater mutmaßte. Da stellte sich ihm die schwergeprüfte Mutter entgegen.
+»Willst Du nicht Gottes Gebot achten gegen Deinen Vater, so achte mich
+oder schreite über mich weg, wenn Du es vermagst.«</p>
+
+<p>Da brach der Zorn des Sohnes zusammen. Er sank auf einen Sitz und
+schluchzte in haltloser, wilder Verzweiflung. Leise legte sich die
+Hand der Mutter auf seinen Scheitel: »Gott hat Dir und mir die Prüfung
+geschickt, laß sie uns gemeinsam tragen, daß nicht der einzelne ihr
+erliegt.«</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>So nahm Heinrich Achtermann sein Joch auf sich. Oft meinte er, darunter
+zusammenzubrechen. Wenn er den Vater sah, quoll die wilde Verzweiflung
+aufs neue in ihm empor. Er ballte die Fäuste in der Tasche, um sich
+nicht an dem wehrlosen Narren zu vergreifen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span></p>
+
+<p>Der stolze Ratsherr Achtermann war zum Kinde geworden, zum blöden
+Kinde, das vor sich hinlallte und greinte und lachte, wie die Eindrücke
+von außen, der Hunger, die Kälte, Tag und Nacht ihn trafen. Geduldig
+pflegte die Mutter das große Kind. Mit einem Gefühl der Bewunderung
+blickte der Sohn auf diese Frau, die in stiller, selbstloser Liebe dem
+Gatten die Treue hielt, auch jetzt, wo er für die Welt zum gemiedenen,
+verachteten Geschöpf geworden war: Das war die Liebe, die echte, große
+Liebe, die, von Gott in der Menschen Herz gesenkt, nicht erlosch und
+sich am Erbarmen mit dem Geschlagenen stärkte und immer reiner und
+verklärter ihre Äußerung fand.</p>
+
+<p>Mählich, ganz mählich zog auch Mitleid in sein Herz. Der Vater selbst
+hatte alles vergessen, was zwischen einst und dem schrecklichen Tage
+lag, da durch seine Schuld die edle Venne dahinsank.</p>
+
+<p>In ihm lebte sie, so oft seine Gedanken sich zu ihr zurückfanden, als
+die schöne, liebliche und geliebte Schwieger. Er fragte nach ihr,
+er greinte, daß sie nicht komme, und dann führte ihn sein schwacher
+Geist wieder in das Kinderland zurück, das dem Greise noch einmal sich
+aufgetan hatte.</p>
+
+<p>Heinrich gewann es allmählich über sich, den Mann zu ertragen, der
+ihm so Schweres zugefügt hatte; nur wenn der Schwachsinnige in seiner
+kindischen Sehnsucht ihren Namen nannte, wenn er sie als Tochter grüßte
+und rief, brannte das Weh in alter Schärfe.</p>
+
+<p>Noch einmal wurde der Ratsherr Achtermann Herr seines Verstandes. Das
+war in der Stunde, da der Tod schon zu seinen Häupten stand. Da büßte
+er alles, was er gesündigt hatte. »Vergib mir, mein Sohn, was ich Dir
+tat. Vergib mir, Venne, geliebte Tochter, in Deiner lichten Höhe. Ich<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span>
+komme und will den Saum Deines Gewandes küssen. Herr, Herr, behalte mir
+die Sünde nicht vor.«</p>
+
+<p>Erschüttert stand der Sohn daneben. Sein Groll schmolz dahin. Er legte
+die Hände des Sterbenden zusammen und betete mit ihm: »Herr, vergib uns
+unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern.«</p>
+
+<p>Es starb der Vater, es starb ihm die Mutter. Nun lebte er ganz
+allein. Es war ein stiller, einsamer Mann, der zu der Stelle an der
+Kirchhofsmauer wallfahrtete, wo sie Venne Richerdes gebettet hatten.
+Lieblicher als Menschenhand schmückte Mutter Natur die Ruhestätte, die
+von den Menschen gemieden wurde.</p>
+
+<p>Man lockte ihn mit hübschen, schönen Jungfrauen, die bereit waren, an
+der Seite des Einsamen durch das Leben zu pilgern; er achtete ihrer
+nicht. Früh bleichte sein Haar. Man schalt ihn einen Menschenfeind und
+Sonderling; er hörte es nicht. Nur dem kleinen Kreise derer, die Venne
+Richerdes bis zum Tode die Treue gewahrt hatten, blieb er ein Freund.
+Im Hause der Hardts fand auch sein Mund wieder Worte. Man gedachte der
+ihm Entrissenen.</p>
+
+<p>Mit wehmütiger Freude traf der Blick Heinrichs das junge, blühende
+Geschlecht, das dort in der Unschuld seiner Kindheit heranreifte. Seine
+Hand glitt wie segnend über den Scheitel des Töchterchens, das sich
+vertrauensvoll an ihn schmiegte. Seine Gedanken suchten das Dunkel zu
+durchdringen, das ihre Zukunft verhüllte: Was wird ihrer harren hier
+auf Erden?</p>
+
+<p>Und er fand die Antwort, wie sie lauten mußte: Liebe und Kampf und
+Kampf und Liebe in der ewigen Wiederholung des Menschenschicksals!</p>
+
+<hr class="r5">
+
+<div class="transnote">
+<p class="s3 center"><a id="Anmerkungen_zur_Transkription"></a>Anmerkungen zur Transkription:</p><br>
+
+<p>Die erste Zeile entspricht dem Original, die zweite Zeile enthält die
+Korrektur.</p><br>
+
+<p>S. <a href="#Seite_132">132</a></p>
+<p>Sie alle feierten</p>
+<p>Sie alle froren</p>
+</div>
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75443 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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