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+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75532 ***
+
+
+
+======================================================================
+
+ Anmerkungen zur Transkription.
+
+Der Text wurde in Fraktur gesetzt, Schreibweise und Interpunktion des
+Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
+sind stillschweigend korrigiert worden.
+
+Worte in Antiqua sind +so gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~
+
+Das Inhaltsverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden.
+
+=======================================================================
+
+
+
+
+ Sonderlinge
+
+ Von
+
+ Peter Rosegger
+
+
+
+
+ Achtundzwanzigste bis zweiunddreißigste Auflage
+
+ (Der neubearbeiteten Ausgabe elfte bis fünfzehnte Auflage)
+
+
+ [Illustration]
+
+
+ 1922
+
+ L. Staackmann Verlag Leipzig
+
+
+
+
+ Alle Rechte vorbehalten
+
+ Druck von C. Grumbach in Leipzig.
+
+
+
+
+ Inhalt.
+
+
+ Seite
+
+ Vorwort 5
+
+ Karl der Große 7
+
+ Der Fischer im Olymp 18
+
+ Der Geistbrenner 32
+
+ Der ordentliche Augustin 42
+
+ Meister Sani 51
+
+ Der falsche Himmelträger 59
+
+ Der unglückliche Kammerdiener 68
+
+ Die Einsiedler 76
+
+ Ein Wildling Christi 90
+
+ Der mißratene Evangelist 109
+
+ Der alte Adam 121
+
+ Der Säemann 130
+
+ Der scheltend' Schuster 136
+
+ Herr Trotzkopf, der Heiratsbeflissene 142
+
+ Der Samer-Sim 150
+
+ Der Zillacher-Anderl 155
+
+ s' Guderl 162
+
+ Der Figurlmacher 182
+
+ Der junge Geigenspieler 192
+
+ Der singende Schabelwirt 209
+
+ Das reiche Waldschulmeisterlein 224
+
+ Der Orgler zu Sankt Thomas 241
+
+ Der Naturfreund 247
+
+ Der lange Rauk 258
+
+ Hans Johanns Hauptsache 269
+
+ Der Himmelherrgottswirt 279
+
+ Herr v. Florin 289
+
+ Der Steinschädel 300
+
+ Der Feuermann Balthasar 309
+
+ Herr Meyer, der Belehrende 317
+
+ Ein Mann, ein Wort 327
+
+ Hauptmann Alles 339
+
+ Die Tafelrunde der Berühmten 348
+
+ Der Mann mit den dreizehn Talern 361
+
+ Der glücklichste Mann von Graz 401
+
+ Der Waldteufel 405
+
+
+
+
+ Vorwort.
+
+
+Wenn man die Menge betrachtet, sind fast alle Leute gleich. Und wenn
+man in den Einzelnen schaut, ist fast jeder ein Original. Man soll auf
+allen Bäumen der Welt ja nicht zwei Blätter finden, die ganz gleich
+sind, und im unermeßlichen Menschenwald ja nicht zwei Gesichter, die
+in gar nichts verschieden wären. Jeder Mensch existiert nur in einem
+einzigen Exemplar.
+
+Ganz so sind die Sonderlinge dieses Buches nicht gemeint. Das
+sind vielmehr wunderliche Charaktere, durch Naturanlage, äußere
+Verhältnisse, besondere Weltanschauungen und Leidenschaften so
+gebildet. Bevorzugt habe ich die Harmlosen, Humorvollen, Gut- und
+Edelherzigen, besonders die froh verzichtenden Weltabweisenden, die
+meine Lieblinge sind. Aber es gibt auch finstere, dämonische Gesellen
+darunter; dann solche mit genialer Begabung und solche, die im Volk
+»halbe Narren« genannt werden, weil sie ganze Weise sind. Oft auch
+Menschen, die ihren Beruf verfehlt haben, oder die so eckig sind,
+daß sie sich in keinen einordnen lassen. Solche grollen dann gerne
+mit der Welt, führen ein verkümmertes, wunderliches Dasein. Manche
+machen sich aus Kleinlichkeit ein absonderliches Leben, manche aus
+Weltüberlegenheit.
+
+Gefunden habe ich derlei Leute nicht, denn ich habe nie nach ihnen
+gesucht. Auf langem, reichlich gewundenem Lebensweg und mit einem
+Auge für innere Eigenarten begegnet man ihnen auch so. Manche, die
+Plaudersamen, sich selbst Ausspielenden machen es einem leicht, sie zu
+fassen; nur darf man sich nicht zu sehr foppen lassen. Dann hängt man
+ihnen gern einmal ein anekdotisches Mäntlein um. Etliche sind mir bloß
+erzählt worden und ein paar sind mir im Traume untergekommen, weniger
+aus der Umwelt, als aus mir selbst hervorgegangen.
+
+Und so ist eine wunderliche, gemischte Gesellschaft zusammengekommen,
+die sich gewiß nirgends anders als im duldsamen Buche miteinander
+vertragen würde.
+
+ ~Der Verfasser.~
+
+
+
+
+ Karl der Große.
+
+
+Karl Oberbergbreitebner war so groß, das der Witz seiner Dorfgenossen
+zwei aus ihm machen wollte, einen Langen und einen Dicken. Wäre noch
+auf einen Dritten etwas übrig geblieben, so hätte ich für einen Klugen
+gestimmt. Karls Gehirn war entweder so klein, wie bei einem Huhn, oder
+so groß, wie bei einem Büffel. Doch hatte er sein Lebtag nie etwas
+Dummes gesagt, denn er sprach nicht viel, hatte nie etwas Albernes
+gedacht, denn er dachte nicht, er handelte bloß. Er hätte aber auch das
+tollste Zeug schwatzen können, seine Körperstärke war so groß, daß er
+kaum viel Widerspruch erfahren haben dürfte. Zwei derbe Arme sind eine
+doppelte Beweisführung.
+
+Karl war der Sohn des Dorfschneidermeisters, hatte das ehrwürdige --
+nein, das ist zu viel -- das ehrsame Handwerk des Vaters gelernt und
+ging mit diesem, einem kümmerlich kleinen und hageren Männl, auf der
+Ster um, von Hof zu Hof. Seit sein Karl groß geworden war, konnte das
+Meisterlein die entlegensten Höfe auch zur Winterszeit bei Schnee und
+Sturm besuchen. »Pack mich, Karl!« sagte er, und Karl nahm ihn auf
+den Rücken oder unter die Achsel und trug ihn gemächlich bergauf und
+talab; doch mußte der kleine Alte dem großen Jungen fortwährend den
+Weg zeigen. Karl konnte nicht Kleider anmessen, nicht zuschneiden,
+überhaupt selbständig nichts fertig machen. »Das nähe!« sagte sein
+Vater, und er nähte es, aber auch um keinen Stich mehr und keinen
+weniger. »Das bügle!« sagte sein Vater, und wenn er ihm eine lebendige
+Katze hingehalten, so hätte er sie gebügelt. Wozu das Nähen und wozu
+das Bügeln? Ich glaube nicht, daß Karl jemals auch nur im Gedanken
+danach gefragt hatte. Warum auch?
+
+Aber die Leute schätzten seinen Wert. Wenn irgendwo ein großer
+Holzblock zu schleifen, ein schwerer Stein zu wälzen oder eine
+Kohlentracht zu schleppen oder eine andere Last zu bewältigen war, so
+schickte man nach dem Schneider.
+
+Da kam eines Tages eine Stadtherrschaft ins Dorf gefahren, mit der
+Absicht, den Hochstandel zu besteigen. Nun war aber der Hochstandel ein
+stattlicher Berg und die Dame der Herrschaft eine stattliche Frau, ein
+Gleich und Gleich, das sich nicht gerne gesellt. Ein alter, magerer
+Herr und die zwei munteren Töchterlein waren mutig, die stattliche Frau
+jedoch ließ Umfrage halten nach einem Wagen, um auf den Hochstandel
+zu fahren. Wägen leide der Berg nicht, wurde ihr gesagt; Maultiere,
+Esel oder dergleichen zum Reiten seien auch nicht vorhanden, hingegen
+lebe im Orte ein Schneider, der die Stelle genannter Vierfüßler recht
+gern übernehme und die Frau auf den schönen Berg tragen wolle. -- Ein
+Schneider! Die vierfältige Herrschaft rümpfte ihre Nasen, ließ aber
+doch den Mann holen. Der erschien mit seinem riesigen Kohlenkorbe,
+dessen Boden er mit Reisig bedeckt hatte, so daß ein gar einladendes
+Nest ward. Als ihm dargetan ward, um was es sich handle, nahm er
+zuerst den großen Pack mit Eßwaren, legte ihn hinein, dann nahm er
+ohne Umstände die Dame und hob sie in den Korb; nahm hierauf eines der
+Fräulein und hob es in den Korb, nahm hernach das andere Fräulein und
+hob es in den Korb. »So,« murmelte er, »jetzt tut sich's, jetzt brauch
+ich nur noch etwas zum Festkeilen.« Nahm auch den alten Herrn her und
+steckte ihn zu seiner werten Familie in den Korb. Dann packte er sich
+die ganze Bergpartie auf den Rücken und stieg langsam an.
+
+Die beiden Stadtfräulein gehörten zur Gattung der Backfische, sie
+fürchteten sich daher gleich anfangs vor dem Riesen und hatten Angst
+davor, daß er sie unterwegs ermorden würde. Das Ungetüm zeigte sich
+jedoch überraschend harmlos, es ging mit dem Rückkorbe sachte den
+sonnigen Hang hinan und pflückte Erdbeeren. Ohne mündliche Artigkeiten
+warf er zwei Erdbeersträußchen hinter sich in den Korb. Die Fräulein
+verstanden das so, als sollte es für sie eine kleine Aufmerksamkeit
+sein, sie naschten daher die Beeren von dem Strauß und überlegten jedes
+für sich, ob man sich in diesen gewaltigen und doch so netten Mann
+nicht verlieben könne? Mittlerweile wimmerte die Frau Mama in ihrer
+Einpfropfung und der Herr Papa hielt eine Vorlesung über die
+Naturkraft.
+
+Nach drei Stunden waren sie dort, wo es nach allen Seiten abwärts
+geht, und wo man stehen muß, wenn man nachträglich will sagen
+können, wir standen zweitausend Meter hoch über dem Meere. -- Karl
+Oberbergbreitebner ging immer vorwärts, als ob er ohne Säumen in
+die freien Lüfte weiter steigen oder ohne weiteres auf der anderen
+Bergseite wieder hinabgehen wollte. Die Bergpartie im Korbe mußte
+ihm ein vierfach donnerndes Halt! zurufen, bis er stehen blieb. Also
+stellte er den Korb auf das Gestein, die Insassen stiegen mit vieler
+Umständlichkeit aus und rieben sich die Beine. Während Karl zurückblieb
+beim Korb, suchte die Herrschaft den schönsten Aussichtspunkt, und
+das würdige Oberhaupt erklärte die Fernsicht. Sie wäre furchtbar
+hübsch, erklärte Frau Mama, während die Fräulein auf Steinblöcken
+saßen und auf Ansichtskarten kritzelten, wie das reizend gewesen wäre
+auf dem Hochstandel, ein junger schöner Mann habe sie alle zusammen
+hinaufgetragen, oben hätten sie dann die Aussicht angesehen und einen
+guten, reichlichen Imbiß eingenommen.
+
+Auch Frau Mama erinnerte sich daran, daß es Zeit wäre zum Imbiß, und
+sie riefen den Karl, der hinter einer Felswand gelegen war, daß er mit
+dem Korbe herüberkommen solle. Karl kam mit dem Korbe herüber, aber es
+war nichts drinnen, als Reisig.
+
+»Wo ist der Pack mit den Speisen?« fragte die Dame.
+
+Karl schaute sie mit einigem Befremden an und antwortete: »Der Pack?
+Der ist nicht mehr.«
+
+»Um Gottes willen, er war ja im Korbe!«
+
+»Ich habe ihn herausgetan,« sagte Karl.
+
+»So hole ihn!«
+
+»Er ist halt nicht mehr.«
+
+»Was ist mit ihm geschehen?«
+
+»Weiter nichts,« antwortete Karl, »aufgegessen habe ich ihn.«
+
+»Ungeheuer!« Ein vierfacher Schreckensruf war's, gräßlich genug, daß
+Karl der Große vor Grauen umfallen konnte; aber er stand. Ganz ruhig
+und schlicht stand er da und blickte so treuherzig drein, als ob nichts
+geschehen wäre.
+
+Die Fräulein fielen den Eltern um den Hals und riefen: »Vater! Mutter!
+Wir müssen Hungers sterben auf diesem Berge!«
+
+Nun war Karl schier verzagt und meinte, er habe nicht gewußt, daß das
+Essen für die anderen wäre. Sie sollten aber nur rasch wieder in den
+Korb steigen, daß er sie hinabbringen könne, bevor sie verhungerten.
+
+Na, das war doch klug! Und also ist es auch geschehen. Da die
+Herrschaft glücklich in das Dorfwirtshaus zurückgekommen war und der
+Papa den Karl nach dem Trägerlohn fragte, bedeutete der Große, es sei
+nichts, es zähle sich nicht aus.
+
+Es waren sehr vornehme Leute aus der Stadt, und so gering waren sie in
+ihrem Leben nicht geschätzt worden, als von diesem Schneider.
+
+Wenn Karl sechs Tage lang bei der Nadel gesessen war, wußte er am
+Samstag nicht mehr, wohin mit seiner Kraft. Da fiel es ihm ein, daß
+es eine ganz gute Erholung sein müsse, wenn er am Sonntag Steine
+auf den hohen Standel tragen würde. Die Steine waren vom Berge ja
+herabgekollert, weshalb sollten sie nicht wieder hinaufgetragen werden?
+Als er jedoch mit seiner Ladung zu den Almen hinaufgekommen war, brach
+der Kohlenkorb, und die Steine kollerten wieder talwärts. Als sie in
+hohen Sätzen dahinsausten und bei ihrem Auffallen tief in den Boden
+schlugen, daß hier Sand emporsprang, dort Funken aufstoben, erscholl
+ein Schrei. Karl blickte hin und sah eine kleine Sennerin, die Gras
+schnitt. Das Dirnlein war so niedlich und zart, daß die Arbeit nur mit
+Mühe und Anstrengung von statten ging. Nun geschah es, daß Karl zu ihm
+hintrat, aber nicht um die Kleine in den Sack zu stecken, sondern um
+unter Stottern und Mühen zu fragen, ob sie sein Schatz sein wolle?
+
+Das Dirnlein antwortete natürlich, daß er ihr für einen zu viel sei,
+und daß sie zwei nicht brauche.
+
+Als sie hernach in die Sennhütte ging, schlich ihr der Große trotzdem
+nach. Aber als er zur Tür kam, da plagte es. Diese war nicht allein
+viel zu niedrig, sondern auch zu schmal; er wand sich zwar hinein,
+aber die Türpfosten ächzten. Drinnen stand er mit gebeugtem Haupte vor
+der Kleinen, denn aufrecht stehend hätte sein Kopf durch die morschen
+Bodenbretter ein Loch gebohrt hinauf in den Dachraum, wo er nichts zu
+tun hatte. Also in demütiger Haltung fragte er sie noch einmal, und sie
+antwortete ihm spottweise, ein Schneider sei ihr zu windig.
+
+Karl setzte sich ruhig auf einen Schemel, da knickte dieser ein, mit
+zwei Füßen zugleich, und Karl der Große lag mit gekrümmten Beinen
+ungefüg auf der Erde. Die Sennerin war ein gescheites Dirnlein und
+dachte: Die schwersten Baumstämme können ihm nichts anhaben, und ein
+armseliges Fußschemlein bringt ihn zum Falle. So steht es mit diesen
+starken Männern. -- Sie foppte ihn weiter, da meinte er lächelnd, er
+würde ihr noch einmal etwas Schlimmes antun, wenn sie so arg gegen ihn
+wäre.
+
+»Hascherlein, was kannst denn du mir antun?« fragte die Kleine den
+Großen.
+
+»Ich?« sagte er, »dieweilen du einmal auf der Wiesen bist, trag' ich
+dir deine Hütten davon. Christel, was tust denn nachher, he?!«
+
+»Ja,« rief sie, »nachher lauf' ich dir mit einer Brennessel nach, bis
+du die Hütten fallen laßt!«
+
+Karl schwieg. Vor Brennesseln hatte er immer Grauen empfunden, und er
+beschloß, das Dirnlein nicht mehr zu reizen.
+
+»Nein, ich tu' dir nichts,« sagte er gutmütig, »mich kränkt es recht,
+daß du mich nicht magst, aber tun tu' ich dir deswegen doch nichts.«
+
+»Da bist du wohl brav,« antwortete sie, »und hat auch der Elefant zur
+Mücke gesagt, die lustig in den Lüften summt: Mückerl, fürcht' dich
+nit, ich tu' dir nichts. -- Bist wohl brav, Karl!«
+
+Sie hat gesagt, ich bin brav. So mag sie mich ja. -- Mit diesem
+tröstlichen und wirklich logischen Gedankenanflug stieg er vom Berge
+herab.
+
+Als das Gerede umging, der Schneider Karl wolle heiraten, rief sein
+Vater, das Meisterlein: »Wie soll denn der heiraten! Kann ja kein Weib
+ernähren.«
+
+»Wer eins ertragen kann, wird auch eins ernähren können,« antwortete
+der Pfarrer, der gegen Heiraten, Kindstaufen und Todesfälle selten was
+einzuwenden hatte.
+
+»Er kann nichts als tragen, ziehen und schieben,« gestand der Vater.
+
+Hierauf ein Nachbar: »Das ist ja genug. Kann mein Ochse auch nit mehr
+und baut mir doch den Acker an. Halt geleitet muß er werden.«
+
+Wie? Der Karl Oberbergbreitebner will sich beweiben? Da wollen wir
+den baumstarken Kerl doch besser nutzen. Soldat werden! so sagt
+die Militärbehörde. Vaterland verteidigen! sagt sie. In das Feld
+marschieren! sagt sie. Der Recke hebt an zu zagen. Im Felde tun sie ja
+schießen und stechen! Ist es nicht so? Tun sie im Felde nicht schießen
+und stechen? Und wir sind ja in einer viel größeren Gefahr, als jeder
+andere, weil wir sehr leicht zu treffen sind. -- Und da sage man noch
+einmal, daß Karl nicht tiefsinnig denken könne!
+
+Drei Wochen war er bei den Soldaten, als endlich der Hauptmann laut
+ward: »Mit diesem Lümmel ist nichts anzufangen! Er hat in keiner Montur
+Platz und beim Exerzieren! Gott, beim Exerzieren ist er viel zu stabil.
+Wo er steht, da steht er, und es bedarf zu vieler Kraft und Taktik, um
+ihn in Bewegung zu setzen. Marschiert er, so marschiert er und findet
+nicht leicht einen hinreichenden Grund, um nach rechts oder links
+kehrtzumachen, oder gar stehenzubleiben. Wenn sich der alte Herkules
+einmal pensionieren läßt, so mag der Karl Oberbergbreitebner angestellt
+werden zum Weltkugeltragen -- bei den Soldaten können wir ihn nicht
+brauchen.«
+
+Nun kam Karl wieder heim und klagte es seiner kleinen Sennerin: »Sie
+sagen, sie könnten mich nicht brauchen.«
+
+»Das will ich doch sehen!« rief die Kleine, »spute dich zum Pfarrer
+und sag', ich wollt' dich heiraten in vierzehn Tagen. Marsch!«
+
+Die Leute schüttelten den Kopf, und warum sollten sie es nicht, es
+war ja der ihrige, und nicht der des kleinen Almdirndels, in welchem
+besondere Pläne webten. Wer pachtete jetzt das Straßenhäusel am Fuße
+des Sattelberges? Die kleine Christel pachtete. Wer vertröstete den
+Eigentümer mit dem Pachte auf das nächste Jahr, bis man sich mit
+dem Vorspannfuhrwerk Geld verdient haben würde? Die kleine Christel
+vertröstete. Und wer hatte kein Pferd und keinen Ochsen, als er
+Vorspann leisten sollte über den Sattelberg? Die kleine Christel
+hatte nicht. Wer aber spannte den Kohlen- und Roheisenfuhrwerken
+ihren jungen Ehemann vor über den Sattelberg? Die kleine Christel
+spannte vor. Jawohl, die kleine Frau Oberbergbreitebner spannte den
+Oberbergbreitebner vor, und der zog im Vereine mit Pferden und Ochsen
+tapfer an; die Pferde und Ochsen waren höchst verwundert, einen
+zweibeinigen Genossen an ihrem Gespann zu sehen, und sie mußten sich
+sehr zusammennehmen, um von ihm nicht beschämt zu werden.
+
+Die Löhnung, welche Klein-Christel für solche Vorspann einzog,
+berechnete sie auf zwei Pferdekraft, und sie begegnete damit keinem
+Widerspruche.
+
+Hatte sie den Karl zu Hause, so hegte und pflegte sie ihn mit allem
+Notwendigen, damit er gesund und stark bliebe. Er war ihr Kapital, und
+Karl fühlte sich sehr gehoben, nun eine seiner Natur entsprechende
+Tätigkeit gefunden zu haben. Christel mietete auch einen Acker, und da
+konnte man sehen, wie sie hinten am Pfluge dreinging, ihn führte und
+das Zuggespann mit Hi und Hott leitete. Das Zuggespann war ihr Karl.
+
+Also ging es nun in Eintracht und gemeinnütziger Wirksamkeit voran.
+Da geschah etwas Unerwartetes. Zwischen dem Heimatsdorfe des Karl
+Oberbergbreitebner, das Lehbach hieß, und dem Nachbarsorte Standelegg
+war ein Streit ausgebrochen. Es lag nämlich zwischen diesen Orten
+die kleine Gemeinde Hüttel, deren Insassen »lebendige Lehbacher
+und tote Standelegger« waren. Mit ihren Kirchengängen, Hochzeiten,
+Taufen, Geschäften usw. kamen sie nämlich nach Lehbach herüber,
+ihre Leichen gehörten jedoch auf den Kirchhof des kleinen und näher
+gelegenen Standelegg. Als durch die Gemeinde-Autonomie die Dörfer
+zum Gebrauche ihrer Vernunft kamen, sagten die Standelegger: Wenn
+die Hüttler lebendigerweise nach Lehbach neigen, so brauchen wir sie
+auch toterweise nicht. Mit den Behörden ließ sich nichts anfangen,
+die sagten, es habe zu bleiben, wie es bisher gewesen, und so sahen
+die beiden Ortschaften, sie müßten die Angelegenheit unter sich
+entscheiden. Mit Reden und Schreien ging es nicht, das hatten sie schon
+erfahren; also schlug ein kluger Kopf vor, Lehbach und Standelegg
+sollten durch Krieg entscheiden, wie Deutschland und Frankreich
+entschieden hätten, nämlich tapfer miteinander raufen, und der Stärkere
+sei der Sieger. Aber nicht etwa so dumm, wie es die Reiche machen, wo
+ganze Völker aneinanderprallen und sich gegenseitig durch Mord und
+Brand schreckbar zugrunde richten, sondern vielmehr so, daß jedes
+der beiden Dörfer einen Mann auf den Kampfplatz schicke. Die beiden
+hätten miteinander ohne Waffe, nur mit ihren natürlichen Gliedern
+und körperlichen Fähigkeiten zu ringen, und der zuerst falle, dessen
+Gemeinde sei die besiegte.
+
+Das wurde abgemacht. Also hielt die Dorfgemeinde Lehbach Umschau nach
+ihrem stärksten Manne, und natürlich fiel die Wahl auf Karl den Großen.
+
+»Ja, ja,« sagte der, »ich tu's schon. Will schon raufen.« Tat aber
+weiter nichts desgleichen, als ob die Wahl ihn freue oder aufrege, und
+ganz gleichmütig trottete er an dem bestimmten Tage auf den Kampfplatz.
+Siegte Karl, so gab es in der Zwischengemeinde Hüttel wie bisher
+lebendige Lehbacher und tote Standelegger. Siegte der von Standelegg
+gesandte Streiter, so sollte Hüttel fürderhin auch bei lebendigem
+Leibe, mit seinen Kirchgängen, Hochzeiten, Kindstaufen und Geschäften
+den Standeleggern zu eigen sein. Der Standelegger Kämpfer war ein ganz
+gefüger, flinker Tischlergeselle, mit dem ein Karl Oberbergbreitebner
+Fangball spielt. Aber bevor die hellen Haufen der Zuschauer und Zeugen
+sich noch recht versammelt hatten, lag der Karl schon im Sande, der
+Tischlergeselle saß festgeklammert auf seiner mächtigen Brust und
+zündete sich eine Pfeife an.
+
+Der Karl blieb ganz ruhig liegen und horchte gelassen dem Geschrei
+der Menge, die ihn verlachten und den Gegner bejubelte. Erst als
+Klein-Christel kam, ward es anders mit ihm. Totenblaß im Gesichte,
+leise flüsternd befahl sie, daß er aufstehe. Also begann er mit
+Händen und Füßen Anstalten zu treffen, daß er sich erhebe, und schon
+nach drei Minuten war es so weit, daß die Kleine den Großen vor sich
+hertreiben konnte gegen das Straßenhäusel. Die lebendigen Hütteler
+waren für Lehbach verspielt, alle Schmach entlud sich über das arme
+Straßenhäusel, und es schien kein Mittel mehr zu geben, die Ehre des
+Großen wieder herzustellen.
+
+Da kam ein schwerer Winter. Der Schnee lag mannshoch in der Gegend und
+alle Wege waren geschlossen. Seitdem die lustigen Hütteler nicht mehr
+nach Lehbach kamen, ging es hier recht langweilig zu und man tröstete
+sich nur mit dem Gedanken, daß sie bei dem großen Schnee auch nicht
+nach Standelegg gehen könnten; sie waren eingemauert in ihrem Dorfe
+Hüttel. Es nahten die Faschingstage. Zu dieser Zeit sagte eines Tages
+Klein-Christel zu ihrem Großen: »Karl, mach' dich auf und geh' hinüber
+nach Hüttel. Geh' heute hinüber und morgen wieder zurück.«
+
+Karl fragte nicht warum; er verzehrte eine weite Schüssel Heidenbrei,
+dann ging er nach Hüttel. Der Schnee reichte ihm bis an die Brust, der
+Karl schob sich langsam voran und hinter ihm her war ein Hohlweg. Am
+nächsten Tage kam er wieder zurück, und hinter ihm her zog eine lange
+Reihe faschingslustiger Hütteler, Männlein und Weiblein, die bei dem
+frischgetretenen Pfad nach Lehbach eilten, um im Wirtshause zu tanzen,
+zu essen, zu trinken und beim Kaufmann Lebensmittel einzukaufen.
+
+Nun erst merkten die Leute von Lehbach, was Karl der Große als
+Schneepflug bedeutete, und als solchen mieteten sie ihn von
+Klein-Christel, so oft im Winter die Pfade verschneit waren zwischen
+Lehbach und Hüttel. Also gewöhnten die Hütteler sich neuerdings an
+Lehbach, sie waren wieder »lebendige Lehbacher und tote Standelegger.«
+
+Klein-Christel konnte sich wieder freuen an ihrem Karl; ihr Ansehen und
+der Wohlstand ihres Hauses wuchs. Sie wäre in der Lage gewesen, eine
+junge Familie zu ernähren, allein diese war nicht da und kam nicht, und
+es ist jammerschade, daß weder die kleine, fleißige und kluge Christel,
+noch der große Karl fortgepflanzt werden. Die Zukunft könnte beide
+brauchen, und zwar zusammen vermählt; mit Klugheit allein, oder mit
+Kraft allein läßt sich doch nicht viel machen.
+
+
+
+
+ Der Fischer im Olymp.
+
+
+Dort, wo der Wildgarten des Schlosses an die Landstraße stößt, neben
+dem Einfahrtstor, steht eine Steingruppe von Ungehörigkeiten aus der
+griechischen Mythologie. Die größten Auswüchse der Phantasie sind schon
+wiederholt durch Steinwürfe weggeschlagen worden, allein der Schloßherr
+steift sich auf das alte Herkommen und läßt die verwundeten Arme, Beine
+und Nasen allemal wieder herstellen.
+
+Unter dieser alten weltmunteren Sandsteingruppe nun saß ein Bettelmann.
+Er saß jahrelang dort, immer nur an sonnigen Tagen, er saß auf dem
+Sockel, er saß sogar manchmal der einen Göttin auf dem Schoß und lehnte
+sich rückwärts an den schönen Busen, der allerdings nicht ganz so lind
+war, als der Künstler ihm mit kundigem Meißel den Anschein gegeben.
+Der Bettelmann trug stets ein weites blaues Beinkleid und einen gelben
+Pelzmantel, wie man sie bei ungarischen Schafhirten sieht, ferner hatte
+er ein grellrotes Tuch um das Haupt gewunden, ähnlich wie die Türken
+ihren Turban tragen; die Füße hielt der Mann in braune Lappen gewickelt
+und mit grünen Bändern umwunden. Das Gesicht war nicht fahl und nicht
+mager, war vielmehr rosig und rundlich und hatte zwei ungleiche Augen.
+Das eine gutmütig ausblickend, das andere verwulstet und mit manchmal
+zuckenden Wimpern, hinter welchen sich Schelmerei zu verstecken schien.
+Zur Zeit, als ich den Mann das erstemal sah, mochte er etwa fünfzig
+Jahre jung gewesen sein. Ja, es war eine Jugend und Frische in ihm, die
+Straßenbettler, wenn sie tatsächlich ein wenig davon haben, sonst nicht
+hervorzukehren, vielmehr zu verstecken pflegen.
+
+Da er hoch auf dem Sockel der Götter saß, so hatte er an einer langen
+Stange ein Binsenkörblein, das er dem Wanderer entgegenhielt, ähnlich
+wie der Fischer seinen Angelstab niedersenkt. Gab es nichts, so
+zog er seine Angel ruhig wieder ein, lehnte sich an die Götter und
+wartete. Witzige Leute nannten ihn den Fischer im Olymp. Ich, der
+wöchentlich ein paarmal des Weges zu gehen hatte, warf ihm fast allemal
+einen Pfennig in das Körbel, nicht etwa, weil dieser Bettelmann so
+erbarmungswürdig aussah, als vielmehr weil er stets ein so heiteres
+Gesicht machte. Manchmal aber, wenn das bartlose Rundgesicht gar zu
+heiter und aufgeweckt dreinsah, dachte ich: Na, schenk' lieber du
+~mir~! und ging zugeknöpft vorüber.
+
+Man wunderte sich, daß dem Manne die Polizei gelassen zusah, allein
+diese hatte diesmal Humor und meinte, fischen sei nicht betteln und es
+möge sich erst der beschweren, dem der Fluß gehöre. Der sickernde Fluß
+der Wanderer aber gehört Gott dem Herrn, und der läßt alle Fischer und
+alle Wilderer gewähren. Auch der Schloßherr fand nichts einzuwenden
+gegen eine Gestalt, die den Eingang in seinen Park so wunderlich
+schmückte. Er war ein Freund heiterer Gesichter und sagte, ein so
+glücklich munteres Antlitz gäbe es in seinem ganzen Schlosse nicht.
+Auch er warf dem Fischer manche kleine Münze in das Binsenkörbchen.
+Anfangs soll ein hoher Herr mit teilnahmsvoller Gebärde mehrmals einen
+Taler hineingelegt, damit aber den Bettelmann erzürnt haben. Er lasse
+sich nichts schenken! sagte der Fischer, zerteilte die große Münze in
+mehrere kleine und spendete sie den Armen.
+
+Bei schlechtem Wetter war er nicht vorhanden. Die liebe Sonne genoß er
+mit den Olympischen gemeinsam, in Sturm und Regen ließ er sie allein
+stehen mit ihren verrenkten nackten Gliedern. Es fragte auch weiter
+niemand nach ihm, oder vielmehr, ich horchte nicht danach aus. Mir aber
+-- und das ist seltsam genug! Ging ich auch, wenn er oben saß, fast
+gleichgültig vorüber, wenn er nicht oben saß, war mir geradezu bang um
+ihn. Dem Wege fehlte der Sonnenschein des Bettlerangesichts. Er wird
+doch nicht unpaß sein? Wo er nur wohnt? Was ihn doch verhindern mag,
+daß er heute nicht fischt? Was mag der Mann nur eigentlich gewesen
+sein, ehe er sich in den Olymp versetzte? Man sprach einmal davon,
+daß er in der Stadt Häuser besäße; das glaubte ich nicht, denn dann
+hätte er die Taler eingesteckt. -- Demnächst war er doch wieder da mit
+seinem gelben Schafspelz und seinem roten Turban, und kein Engländer
+kann geduldiger am Bache angeln, als da oben der Bettler auf die
+kleinen Almosen wartete. Ein paarmal wollte ich ihn ansprechen; in dem
+Augenblick, als mein Fuß über den Straßengraben stieg, neigte er sich
+seithin, und sein Gesicht nahm einen unguten Ausdruck an. Da ließ ich
+ihn einsam sitzen auf seinem Thron und ging den kümmerlichen Geschäften
+des Tages nach.
+
+Nun war es eines Tages, daß vor mir ein barfüßiger Handwerksbursch die
+Straße dahinpatschte und unterwegs in der hohlen Hand mißmutig die
+Münzen besah, die er an dem Tage erfochten haben mochte. Eine schien
+dabei zu sein, die ihm nicht gefiel; war es nun ein schweizerischer
+Pfennig, der hierzulande ungültig ist, oder war es ein messingener
+Hosenknopf, der ebenfalls ungültig ist, ich weiß es nicht. Ich sah nur,
+wie der Handwerksbursch, als er zur Stelle kam, wo an der Steingruppe
+der Fischer saß, diesem zwar nichts in das Körbel warf, hingegen
+aber die Münze in die Luft schleuderte, dem Bettler zu. Der wollte
+die metallene Mücke abfangen, glitschte dabei aus und fiel in den
+Straßengraben herab.
+
+Ich eilte hinzu, um ihn aufzuheben, er wartete aber nicht auf mich,
+erhob sich gelassen und murmelte: »Das härteste Bett wäre es nicht«
+(denn es war weicher Lehm und langes Gras im Graben). »Und so kurz, wie
+die Bauernbetten ist es auch nicht.« (Denn der Straßengraben war viele
+Meilen lang.)
+
+»Warum Ihr nur nicht liegen geblieben seid in dem guten Bett!« sagte
+ich laut, um eine Anrede zu haben, und machte dabei mein Gesicht
+lachen, daß er sah, es wäre nicht bös gemeint.
+
+»Warum?« fragte er entgegen, »weil es noch zu früh ist zum
+Schlafengehen. Muß ja erst den Gruß und Kuß aufsuchen, den mir der Herr
+Vagabund zugeworfen hat.«
+
+Und er begann auf dem Boden umherzulugen, rechts und links und vorn und
+hinten, und das Geldstück war nirgends. Als er wieder hinanstieg zu den
+Himmlischen, rief er plötzlich: »Aha, jetzt hebt die auch an!« denn der
+schweizerische Pfennig lag auf dem Schoß der sitzenden Aphrodite. Dann
+hub er hell an zu lachen: »Der soll nur liegen bleiben drin, das ist
+ein Falscher! O Schand und Spott!«
+
+Ich wollte den angeknüpften Verkehr nicht sogleich wieder abgebrochen
+wissen, daher bat ich den Bettelmann, daß er mir den Schweizerischen
+schenke.
+
+»Wenn du ihn selber herausnehmen willst!« antwortete er mit komischer
+Miene und drückte fast beide Augen zu. »Ich hab' jetzt nicht Zeit, ich
+muß lachen. Ich muß lachen über des Vagabunden guten Witz, ha ha ha!«
+
+»Wenn ich auch so herzlich lachen könnt'!« war meine Bemerkung, denn
+jetzt wollte ich um jeden Preis mit ihm anbinden.
+
+»Kannst nicht?« sagte er, stieg nieder und hub an, mit seinen kurzen
+Fingern unter meinem Kinn herumzukrabbeln, »da muß man dich halt
+kitzeln -- lach, lach, lach!«
+
+Da lachte ich wirklich, sagte aber: »Lasset das. So ein Lachen tut
+weh.« Denn ich hatte gerade meinen sauren Tag.
+
+»Du bist gewiß einer von solchen, denen das Flennen lustiger ist, als
+das Lachen!«
+
+»Wenigstens wäre jenes eher am Platz, als dieses. Wie es zugeht in der
+Welt!«
+
+»Wie geht es denn zu?« fragte er, dieweilen er sich wieder auf seinen
+Sitz schwang, die Stange mit dem Binsenkörblein zur Hand nahm und über
+die Stange hinausblickte.
+
+»Ihr seht es doch!« sprach ich, den falschen Pfennig betupfend, »falsch
+im kleinen, falsch im großen, alles falsch, alles Betrug.«
+
+»Mich betrügt keiner,« antwortete er, machte die Augen auf und schaute
+so kühl über mich hinweg, als ob ich Luft wäre.
+
+»Ich wollt Euch um etwas gebeten haben,« so wand ich jetzt ein.
+
+»Gebeten? Du bitten? Du mich?« Sein Gesicht leuchtete auf wie Werg, an
+das man mit dem Zündflämmchen gefahren.
+
+»Ich wollt Euch gebeten haben um ein Stück Brot.«
+
+Nun schaute er mich forschend an. Mein Stadtherrengewand, das keinen
+Flicken und keinen Riß hatte, wollte ihm nicht recht stimmen zu dieser
+Bitte. Daß ich eigentlich nur um ein Stück geistigen Brotes bat, um ein
+warmes Menschenwort, um einen Funken seines frohen Wesens, er konnte
+das freilich nicht wissen.
+
+Sein Antlitz war ernst geworden, und völlig gedämpft sagte er: »Wenn
+du Hunger hast, dann ist's freilich nicht zum Lachen. Auch nicht zum
+Weinen. Dann ist's zum Essen. Schau! daß du so spät daherkommst! Vor
+einer Stunde hätte ich noch einen Apfel und eine Traube gehabt. Ich
+trage mir des Morgens mein Essen allemal im Körbel mit hierher. Jetzt
+müssen wir was anderes suchen gehen. Aber es ist nicht weit.«
+
+»Wohin denn?«
+
+»Nach Hause.«
+
+Um so besser, dachte ich. Meine Obliegenheit war an diesem Tage
+vollzogen, ich hatte Zeit, auf Abenteuer auszugehen. Man kennt ja das,
+mit diesen Professionsbettlern! In Paris war einer, der dreißig Jahre
+lang mit verkrüppeltem Leib und in armseligen Lumpen an der Pforte
+von Notre-Dame saß. Abends nach Hause gekommen, zogen ihm täglich
+livrierte Diener die Saloneleganz an und dann ging's mit lustigen
+Freunden und Freundinnen zur Tafel, bei der man mit Champagner anfing
+und aufhörte mit was weiß ich. -- Zu Madrid in Spanien soll es sogar
+eine Aktiengesellschaft auf Bettler geben. Die Krüppel, Kretins und
+Aussätzigen sind Kapital und Produktion zugleich. Sie werden im Volke
+zusammengekauft, entsprechend auf günstige Plätze verteilt, der
+Impresario leitet die Geschäfte, nimmt des Abends die Einnahme in
+Empfang, und führt sie wohlverbucht in die Hauptkasse ab, während die
+Bettler in ihren Pensionen standesgemäß verpflegt werden.
+
+Derlei ist mir eingefallen, als ich dem Manne folgte, der, in seinem
+langen Pelz, über der Achsel die Stange, hastig vor mir hinlief,
+dem Dorfe zu. Er war viel kleiner, als er auf seinem Stammsitze
+aussah, seine in Lappen gewickelten Füße huschten lautlos dahin. Den
+Dorfleuten, die uns, ohne zu grüßen oder gegrüßt zu werden, begegneten,
+schien er eine gewohnte Erscheinung zu sein, um so verwunderter
+betrachteten sie mich, der hinter dem gelben Pelz dreinlief. Durch
+einen großen Bauernhof ging der Weg, hinaus in einen Obstgarten,
+dort zwischen Busch und Baum stand die Klause. Ursprünglich mochte
+sie als Hüterhaus gedient haben, jetzt war sie die Wohnung meines
+Götterlieblings. Im Stübchen ein Tisch, ein Stuhl, ein Kasten, ein
+Ofen, ein schmales kurzes Bett, ein Buch und ein Kerzenleuchter. Durch
+ein helles Fenster strömte Licht auf diese Herrlichkeiten.
+
+Sogleich öffnete mein Gastherr den Kasten, begann mit weißen Linnen den
+Tisch zu decken, einen kleinen zierlichen Kübel mit Butter, einen Laib
+Brot und ein Salzfäßchen herzurichten.
+
+Ich fiel ihm in den Arm: »Nein, mein Lieber, so ist es nicht gemeint.
+Ihr habt, wie ich sehe, hier die Bibel, und da drin steht's, daß der
+Mensch nicht allein vom Brote lebt, sondern auch vom Worte. Ihr sollet
+mir zuerst hübsch verzeihen, daß ich falsch, wie die Welt schon einmal
+ist, mich an Euch gemacht habe und sollet mir dann etwas sagen.«
+
+»Aber essen wirst du doch etwas!« rief er besorgt.
+
+»Ich sehe Euch nämlich schon seit Jahr und Tag an der Straße sitzen und
+Almosen heischen,« begann ich.
+
+»Da siehst du ganz richtig,« antwortete er.
+
+»Und nun möchte ich gerne wissen -- nein, es wird doch nicht gehen. Ihr
+werdet böse sein, -- und Euch beleidigen? Nein.«
+
+»Du mich beleidigen?!« fragte er mit langgezogenem Tone und blickte
+mich dabei mitleidig, aber sehr überlegen, mit halbem Auge an. »Du
+armer Narr!«
+
+»Nun gut. Ich möchte nämlich gerne wissen, warum Ihr bettelt.«
+
+»Warum ich --? Ha ha ha? -- warum ich bettle?« fuhr er lustig drein.
+»Sage mir doch, warum du Luft schöpfest! Sage es mir doch!«
+
+»Ihr seid gesund und stark wie einer. Ihr habet da ein gutes Brot, man
+sieht ihm's an, daß es Euch schmeckt. Aber würde es nicht noch besser
+schmecken, wenn Ihr es Euch verdient hättet? -- Mit Arbeiten --«
+
+Jetzt trat er ein paar Schritte zurück, zog über der Brust seinen Pelz
+zusammen, legte die Arme darüber, schaute mich mit seinem munteren
+Gesicht herzlich mitleidig an und sprach: »Jetzt hast es gesagt. Jetzt
+hast es gesagt, das große Wort. Und wenn die sieben Weltweisen sieben
+Jahre lang dran studiert hätten -- besser hätten sie es auch nicht
+sagen können. -- Arbeiten!«
+
+»Na, ich meine nur ...«
+
+»Arbeiten!« rief er aus, und seine Züge verzogen sich wie im Schmerze.
+»Aber Freund, arbeiten tut ja weh! Schwitzen! Pfui Teufel! Schau her,
+das steht auch in diesem Buche: Im Schweiße deines Angesichtes sollst
+du dir dein Brot verdienen, weil du gesündigt hast!«
+
+»Nun, da habt Ihr es.«
+
+»Ich ~habe~ aber nicht gesündigt!« rief er frisch und munter aus.
+»Ganz unschuldigerweise bin ich auf die Welt gekommen, hab's nicht
+betreiben und nicht hindern können. Zuleid' hab' ich auch niemand etwas
+getan, außer daß ich meiner Kindsfrau in den Finger gebissen haben
+soll, weil sie mir statt der rechtmäßigen Muttermilch Kuhmilch in den
+Mund schmuggeln wollte. Denn ich glaube schon mit Zähnen geboren worden
+zu sein. Und da soll man kein Naturrecht haben aufs Essen? Da soll
+man sich ein solches Recht erst durch allerlei Anstrengungen erwerben
+müssen? Tu' mir den Gefallen, Kindskopf, und glaube das nicht.«
+
+»Ihr zieht es also vor, andere für Euch arbeiten zu lassen.«
+
+»Jetzt wirst du bitter, mein Freund,« sagte er gutmütig. »Und das
+taugt wieder nicht. Ärger ist kein kleineres Unrecht, als Arbeit. Ich
+will niemand verleiten, und ich habe all meiner Tage keinem Menschen
+befohlen, für mich zu arbeiten. Siehst du es denn nicht? die ganze Welt
+ist voller Tiere, alle sind frisch und munter, und kein einziges ist so
+dumm wie der Mensch, und arbeitet. Arbeiten die Menschen für sie? Lasse
+diese zweibeinigen Herrschaften nur erst aussterben, dann arbeitet
+niemand mehr, und die Welt wird doch voll Leben sein.«
+
+Als ich in das Häuschen getreten, hatte ich nicht gedacht, in wenigen
+Minuten hier vor einem hohen Herrn zu stehen. Nun sah ich's, das war
+einer. Das war einmal ein anderer, als die gewöhnlichen sind. Um ein
+Stück Brot war ich gekommen. Er gab ein großes. Ob es auch nahrhaft
+war, das sollte sich zeigen. Im ersten Augenblick fühlte ich mich
+schier betäubt. Wie? das Tier arbeitet nicht und lebt doch? Und
+glücklicher als der Mensch, gerechter, schuldloser?
+
+Es ist naturgemäß, nicht zu arbeiten.
+
+Diesen Gedanken hatte ich noch nie gedacht.
+
+Während ich noch befangen war, begannen sie heranzukommen. Zuerst
+die krabbelnde Ameise: »Es ist nicht wahr! Wir arbeiten.« -- Dann
+die summende Biene: »Verleumdung! Wir arbeiten!« Dann der Biber, die
+Spinne, die Vögel, die Schlangen und andere in langen Reihen, und alle
+riefen pfeifend, piepsend, gröhlend, knurrend, bellend, krähend: »Wir
+arbeiten! Wir arbeiten!«
+
+Ich sagte es dem Bettler. Er lächelte freundlich und sprach: »Mein
+viellieber Gast! das weiß ich ja, daß der Maulwurf wühlt. Aber denke
+an, zwischen Arbeit und Arbeit ist eine breite Straße. Bin ich ein
+Müßiggänger? Nein, ich bin ein Bettler. Ich gehe aus, um zu sammeln.
+Ich strecke meinen Stab aus, um Gaben in Empfang zu nehmen, ich
+trage sie nach Hause, die Münzen setze ich in Lebensmittel um, die
+Lebensmittel bereite ich zu, bewahre sie auf, achte, daß sie nicht
+verderben. Ist das Arbeit? Nein, es ist Tätigkeit. So betätigt sich
+freilich auch das Tier. -- Aber ich mache keine Arbeit, die anderen
+zugute kommt, solchen, die nicht arbeiten, die faulenzend in Prunk und
+Hochmut das genießen, was andere erworben. ~So~ arbeite ich nicht.«
+
+»Das ist eben eine menschliche Erfindung,« sagte ich.
+
+»Nein, eine teuflische!« rief er. Da war er erregt.
+
+»Tätigkeit und Arbeit, den Unterschied kennt man,« sagte ich. »Pflügen
+und Säen ist Arbeit, ernten ist nur Tätigkeit. Ihr, lieber Bettelmann,
+habt Euch für die letztere entschieden.«
+
+»Und das ist das Richtige!« fiel er ein. »Nicht arbeiten, nur sammeln.
+Die Natur, wenn sie gesund ist, produziert mühelos ihre Früchte aus
+sich selbst. Arbeit ist Sünde gegen die Natur. Töte mich, wenn's nicht
+wahr ist.«
+
+»Ich töte Euch nicht,« darauf meine Entgegnung, »denn Ihr müsset mir
+vorerst noch Antwort geben, Ihr wollet also nicht für andere arbeiten?«
+
+»Nein.«
+
+»Aber andere sollen für Euch arbeiten?«
+
+»Schaf Gottes, wer sagt denn das?« rief er aus. »Ich sammle ja nur
+Brosamen. Sie geben mir doch nur das in den Korb, was sie zu viel
+haben, was sie verstreuen wollen. Sie tun's nicht aus Barmherzigkeit,
+sie tun's, weil ihr Überfluß in ihnen das Bedürfnis gezeitigt
+hat, Abfälle zu haben, armen Kreaturen manchmal etliche Brocken
+hinzuwerfen. Sie sollen nur geben. Dankbar müssen sie sein, daß sie
+geben dürfen.«
+
+»Wie kann man bei so hartem Urteil über die Menschen ein so heiteres
+Auge haben?« fragte ich ihn.
+
+»Junger Freund,« antwortete er, »das kann man, wenn man fertig ist. --
+Glaubst du: daß meine Mutter mich als Bettler geboren hat? Meine Wiege
+war der Reichtum, lieber Mensch! -- Das, was ich heute bin, habe ich
+selbst aus mir gemacht!« Im stolzen Tone des Emporkömmlings waren diese
+Worte gesprochen. »Aber viel braucht's, bis man es so weit bringt!«
+fuhr er fort. »Viele Jahre lang, o meine schönste Lebenszeit, habe ich
+mich vom Besitz knechten lassen. Man glaubt sein Leben zu schmücken,
+und man belastet es nur. Die tausenderlei Dinge und Dingeln, die an
+den Reichen sich kletten, ein abscheulicher Ballast! Man kann nicht
+weiter, man kann nicht hinan, man ist ein Sklave und trägt die schwere
+Kette nur deshalb mit Gier, weil sie von Gold ist, und ist ein durch
+und durch lumpiger Lump. -- Du hast gewiß Bekanntschaft mit reichen
+Leuten. Nun also. Ich war auch so einer. Betrachte ihr dummes Leben,
+und du hast das meine vor Augen. Aber endlich, als mir übel war aus-
+und inwendig, gerade schon auf dem Punkt, wo die Besseren sich zu
+töten pflegen, erwachte in mir der Egoismus. Hol's der Teufel! dachte
+ich, und schmiß den ganzen Krempel von mir. Es war eine wanstige
+Ledertasche.« --
+
+Als er nicht weiter sprach, fragte ich: »Was war mit dieser
+Ledertasche?«
+
+»Ins Wasser hab' ich sie geworfen.«
+
+-- Man spricht auch bildlich so, aber bildlich war's nicht gemeint.
+Eine Stunde unterhalb der großen Stadt, in den Auen. Genau hat er den
+Platz bezeichnet, wo er seine Papiere, im Werte von mehr als einer
+Million Gulden, in die Donau geworfen hat.
+
+»Ihr seid nicht klug!«
+
+Er klopfte mir auf die Achsel: »Das muß ich besser wissen.«
+
+»Das mag ja sehr philosophisch sein, aber gut ist es nicht.« Also mein
+überlegener Einwand. »Ein guter Mensch hätte das Vermögen, anstatt ins
+Wasser zu werfen, einem Armen geschenkt.«
+
+»Der wäre davon ja reich geworden, du Tropf!« rief der Bettler. »Ich
+habe mir ohnehin nachher Vorwürfe gemacht. Wie leicht konnte die
+Ledertasche aufgefangen werden und in Menschenhände kommen. Gift wirft
+man nicht ins Wasser.«
+
+»Ihr hättet das Vermögen ja an ~tausend~ Arme verteilen können.«
+
+»Du hast leicht reden,« entgegnete er darauf. »Du bist sicherlich nicht
+aufgewachsen unter der Torheit der Million. Wäre ich damals weise
+gewesen, so hätte mir das Geld nichts angehabt. Ich habe nur gesehen,
+daß das Geld mein Unglück ist, so habe ich gemeint, es müßte auch
+das Unglück anderer sein. Und ob's nicht denn doch so ist, sage es,
+Mensch. Glaubst du nicht auch, daß dir geschenktes Geld zuwider ist?
+daß es dich verwüstet? daß dich nur der Besitz freut, den du dir selber
+erworben hast?«
+
+»Und so spricht ein Mann, der an der Straße sitzt und bettelt?«
+
+Er sprach: »Das verstehst du nicht. Die Pfennige, die ich bekomme,
+sind ehrlich erworben. Halte ich doch die Stange hinaus! Sage ich doch
+mein Vergeltsgott dafür! Der Taler, wenn er in den Korb fiele, wäre
+geschenkt. Ich lebe von Pfennigen, begleiche meinen Wohnungszins, nähre
+mich, kleide mich, bin niemandes Herr, niemandes Knecht, und stärker
+wie der König.«
+
+»Das wäre!«
+
+»Ja, das ist,« fuhr er lustig fort. »Der König hat ein großes Heer und
+muß immer noch fürchten, daß ihm der Feind etwas wegnimmt. Mir kann
+niemand was wegnehmen.«
+
+Ich langte wie raubend nach dem Butterkübel.
+
+»Ha ha ha, sie gehört dem Hausherrn!« lachte er, »sie ist noch nicht
+bezahlt. Und deswegen, Freund, muß ich wieder ans Tagwerk.« Er langte
+seinen Korbstab vom Winkel.
+
+Ich hielt ihm die Hand hin: »Hat mich gefreut, endlich einmal die
+Bekanntschaft eines Glücklichen gemacht zu haben.«
+
+Er wendete sich rasch um, als ob der, zu dem ich sprach, hinter ihm
+stünde.
+
+»Ein Glücklicher -- wo?« fragte er wie verblüfft. »Solltest du mich --?
+Ja, ja, es geht mir soweit gut, aber glücklich bin ich nicht. Du siehst
+es ja.« Er deutete auf seine Lagerstätte. »Viel zu kurz. Ich bin fünf
+Schuh lang, und der Trog vier. Was kannst machen? Bei den Bauern findet
+man's nicht anders. Man grübelt nicht weiter, klappt sich zusammen und
+gut ist's.«
+
+Ich sah es wohl ein. Auf sechs Schuh langen Erdenraum hat sogar der
+Tote Anspruch, und dieser Lebendige besaß ein Drittel weniger. Er hätte
+vielleicht nur das Fußbrett ausstoßen müssen ....
+
+So nahe ist mancher Mensch seinem vollkommenen Glücke. Aber er stößt
+das Brett nicht durch. --
+
+Als wir selbander die Straße dahingingen, begegnete uns der Schloßherr,
+er fuhr vierspännig und grüßte den Bettelmann mit einer Handbewegung.
+Dieser dankte »von oben herab«. Dann blieb er stehen, schaute ihm nach,
+schüttelte den Kopf und murmelte: »Armer Bruder! Das Kamel hat vier
+Beine, und du hast achtzehn. Und kannst nicht gehen. Denn du fahrst
+ja.«
+
+»Sagt Ihr auch zu dem ~du~?« meine Frage.
+
+»Ha ha ha! das ist der erste gewesen, den ich geduzt. Zu den Eltern
+hat man damals Sie gesagt. Welche Narrheit. Aber die Geschwister
+untereinander ... immer du.«
+
+Er war zur Stelle. Ohne weiteres kletterte er mit guter Übung an den
+steinernen Statuen empor, setzte sich in den Schoß der Aphrodite und
+streckte den Stab mit dem Binsenkörbchen aus -- nach mir.
+
+Ich reichte dem Bruder des Schloßherrn zwei Pfennige und schritt
+nachdenklich meines Weges.
+
+
+
+
+ Der Geistbrenner.
+
+
+Wer einmal fünfzig Jahre lang Zeuge des Weltlaufes gewesen, bei dem
+müßte sich, so sollte man meinen, der ganze innere Mensch geändert
+haben. Alles ist ja so unerhört anders, als man's in der Jugend
+gesehen, geträumt hat. Die lange Reihe von Hoffnungen, Überraschungen
+und Enttäuschungen, von Freuden und Qualen, von Entwickelungen und
+Verwickelungen und Lösungen, bei denen immer wieder alles erwartet
+wird und immer wieder nichts herauskommt: diese Reihe von großartig
+aufgedonnerten Nichtigkeiten müßte ein denkendes Wesen doch endlich
+gleichgültig machen, in den Zustand jenes Träumenden versetzen,
+der bei keiner Feuersbrunst mehr aufschreit, bei keinem Sturz mehr
+zusammenzuckt, weil er in seinem Halbschlummer weiß: es ist doch nur
+ein Traum.
+
+Jawohl, wer fünfzig Jahre lang am sausenden Webstuhl der Zeit steht,
+der müßte es endlich doch weghaben, wie die Fäden geknüpft, geschlungen
+und die Knoten wieder gelöst oder zerhauen werden. Er müßte sehen,
+daß jeder, der da mit hineingewoben wird, eigentlich gleich gut daran
+ist, ob sein Faden nun geradeaus oder querüber läuft. Ein Kreuz
+bildet's immer. Der mitverwobene, mit den übrigen Fäden ringende und
+sich verklemmende, auf andere Fäden sich stützende, in andere Fäden
+sich bergende und doch für sich ein freier selbstsüchtiger Ichfaden
+sein wollende Hascher und Haber leidet ganz verzweifelt. Einer, der
+sich als von außen Sehender fühlt, ändert sich im Lauf seines Lebens.
+Der Haschende und Habende ändert sich nicht. Der ist lediglich Stoff,
+der nach gemeinsamen Naturgesetzen steigt und fällt, sich physisch
+ausdehnt, chemisch verbindet und nicht anders als ein Klumpen Erde
+mittun muß in dem Kessel, aus dem ewig die Blasen steigen und in
+dem der Bodensatz in die Tiefe sinkt. Die Haschenden und Habenden,
+sie sind es, die den Kampf ums Dasein mit demselben trostlosen
+Stumpfsinn ringen wie der Wurm und die Milbe und die Eintagsfliege.
+Die Haschenden und Habenden, sie sind für sich nichts; erst wenn sie
+sich mit Gleichartigem, mit der Stoffmasse verbinden, scheinen sie
+etwas zu sein, wenigstens so viel, daß sie sich selbst genügen. Sie
+schauen nicht, sie denken nicht, sie sind bloß, wie ein Schwammtier
+oder ein Weichtier ist. Diese rein materiellen Menschen sind eigentlich
+das Unschuldigste, was es geben kann; sie sind ja halb unbewußte
+Wesen; sie dämmern so hin im Verdauungsschlummer, als ob sie zu viel
+gefressen hätten, oder sie greifen instinktiv immer und immer mit
+ihren Fängern aus wie Seetiere, die alles, was sie erhaschen können,
+einmal an sich ziehen, wenn sie auch, längst übersättigt, alles wieder
+fallen lassen müssen. Die Hascher und Haber, diese Ärmsten! Und diese
+Glücklichen! Weil sie ja so kurzsichtig sind und so tief in ihren Tag
+hineingebettet, daß sie keine Ahnung haben von den ewigen, glühenden,
+göttlichen Dingen, die den Schauenden nimmer zur Ruhe kommen lassen.
+
+Der reine Stoffmensch ändert sich nicht durch ein Erleben; er ist als
+Greis innerlich derselbe, der er als Kind gewesen, wenn auch nicht
+immer ein Habender, wohl aber immer ein Haschender. Er denkt nicht weit
+genug, um sich zu fragen, wie er die erhaschte Beute nutzen werde;
+er denkt kaum daran, welchen Wert sie für ihn hat; er lebt in der
+dämmernden Vorstellung dahin: Das gehört mir! Es ist ein Versunkensein
+in die Stoffwelt, ein fast friedlicher Schlaf. Aber der Schauende wird
+anders bis in seinen späteren Tagen. Er mag in der Jugend von den
+Sinnen zum Stoff hingezogen worden sein; aber als ihm das Auge aufging,
+trat er ein wenig zurück von dem sausenden Webstuhl, um nicht in das
+grobe Tuch der Menge mitverwoben zu werden.
+
+Was da aufsteht, das wird von der Menge mit Jubel begrüßt, was
+hinfällt, mit Schreck und Klage bestattet. Der Schauende jubelt
+nicht, erschrickt nicht und klagt nicht. Er weiß: diese Schürzungen
+und Lösungen sind selbstverständliche Vorgänge am Webstuhl. Er sieht
+den Wandel und Wechsel im kleinen, er empfindet mit, wie die einzelne
+Kreatur vergehend aufschreit: Ich sterbe, jetzt ist alles aus! Und
+doch ist nichts aus; alles flutet im gleichen mächtigen Lebensstrom
+weiter dahin und der Lebensstrom ist und bleibt so urfrisch wie am
+ersten Schöpfungstage. -- Dieses Sehen hat den Schauenden verwandelt.
+Er war Stoffwesen und ist ein vergeistigter Mensch geworden; er steht
+gleichsam außerhalb des Schlagbalkens, der die Fäden aneinanderstößt;
+er schaut vergnüglich dem Weber zu. Aber wenn er ihn fragt: »Meister,
+wozu das viele Tuch, das du webest und auf die Rolle windest?«, so
+bekommt er keine Antwort.
+
+ * * * * *
+
+Vor etlichen Jahren war ich eines Tages an der Reichsstraße in eine
+Hütte eingekehrt. Eine armselige Hütte, in deren Mauerspalten Gras
+keimte. An der schiefwinkligen Tür, deren Fugen mit Moos verstopft
+waren, klebte ein Blatt Papier, auf dem in ungefüger Handschrift die
+Worte standen: »Hotel zum Napoleon«. In der Hütte saß ein alter Mann in
+einem Zwilchkittel, aber barfuß. Er hatte einen schönen weißen Bart,
+einen Holzblock zwischen den Händen und stampfte im Bottich Vogelbeeren
+ein. Meine Anfrage, ob ich während des Gewitterregens in seinem Haus
+Unterstand halten dürfe, wurde damit beantwortet, daß der Alte Körbe
+und Stiefel von der Wandbank wegräumte, auf daß der Gast sich behaglich
+niederlassen könne. Sogar einen Lodenmantel rollte er zusammen zu einem
+Hauptkissen, falls ich mich ein bißchen hinlegen wollte. Ich sei,
+meinte er, gewiß schon weit gegangen und hingestreckt ruhe sich der
+Wandersmann am besten aus. Auch in der ewigen Ruhe verlege sich der
+Mensch aufs Liegen.
+
+»Hab' mir's gleich gedacht, daß das ein vornehmes Hotel ist, das Hotel
+Napoleon,« sagte ich spaßend.
+
+»Das wohl; nobel sind wir schon!« Der Alte lachte und goß aus einer
+großen Flasche eine wasserklare Flüssigkeit ins kleine Kelchgläschen,
+das er vor mich auf die Tischecke stellte.
+
+Auf meine nähere Erkundigung nach der Geschichte dieser Firma
+antwortete er: »Will der Herr die zwei Dukaten sehen, die der Napoleon
+meinem Vater hat auszahlen lassen?« Und mit dem dürren Finger
+durchs Fenster zeigend: »Dort, wo jetzt der Brennofen steht, beim
+Hollerbuschen, ist die Schmiede gestanden. Von gestern und vorgestern
+rede ich nit. Ist ja mein Vater noch ein junger Bursch gewest.
+Hufschmied an der Straßen. Ein gutes Geschäft dazumal. Wenn auch nit
+gerade jeder fürs Pferdebeschlagen drei Dukaten hat gegeben wie der
+Franzosenkaiser, als er vorbei ist geritten gen Graz. Später, als es
+mein Vater erfahren, wer der kleine Reiter ist gewesen, hat er freilich
+die Dukaten auf den Steinhaufen geschleudert. Und noch später, viel
+später, wie es geheißen hat, der große Napoleon sei auf eine Insel im
+Weltmeer verstoßen worden, hat's die Leut' umgewendet und mein Vater
+hat den Steinhaufen abgetragen. Zwei hat er richtig wiedergefunden von
+den Goldstücken; und die sind in der Familie verblieben zum ewigen
+Andenken.«
+
+Es wollte mir nicht übel gefallen, daß dieser Hufschmied, entgegen
+dem Weltbrauch, den Mächtigen gehaßt und den Unglücklichen geehrt hat.
+Ich nahm einen Schluck von der klaren Flüssigkeit. Das war Feuer,
+eines Hotels Napoleon würdig. Es regnete stundenlang, der Weg bis
+zum nächsten Bahnhof war nachher immer noch leicht zu machen und so
+verlor ich mich mit dem frohen alten Mann in ein anmutiges Gespräch,
+während er mit dem Kolben im Bottich seine Vogelbeeren stampfte. Dort,
+wo angeknüpft war, erzählte er weiter. Sein Vater habe neben der
+Schmiede eine Schänke aufgetan, damit den Fuhrleuten, die etwa in der
+Reihe auf das Pferdebeschlagen zu warten hatten, die Zeit nicht lang
+werde. Aus der Schänke sei allmählich ein Wirtshaus geworden und aus
+diesem ein großer Gasthof, wo alle Fuhrwerke und Herrschaftkutschen
+Einkehr gehalten. Um diese Zeit sei er, mein jetzt so weißbärtiger
+Mann, ans Licht gekommen, gehegt und erzogen und »von den Leuten
+verhunzt wie ein Prinz«. Der einzige Sohn des reichen Napoleonwirtes!
+Denn so hat der Gasthof geheißen und die Deutschen sind lieber beim
+»Napoleon« eingekehrt als beim »Kaiser Rotbart« auf der nächsten
+Poststation, weil beim Napoleon eben der Wein besser gewesen. Dann
+kamen die Eisenbahner ins Land. Da gab es Fuhrwerk über die Maßen und
+ungeheuer viel Geld. Die Leute hatten nur so gelacht dazu, obwohl
+ihnen der Strick schon um dem Halse lag. Aber er war noch locker.
+Der Napoleonwirt selbst hatte Tag für Tag vierundzwanzig schwere
+Pferde auf der Straße und am Tag der Eisenbahneröffnung saß er an der
+Ehrentafel fast ganz oben in der Nähe der hohen Herren und einer von
+ihnen feierte ihn durch einen Trinkspruch als den König der Straße.
+Das war vielleicht ein unbeabsichtigter Spott; aber ein großer. König
+der Straße hieß in diesem Fall König ohne Reich, denn wenige Jahre
+später: und auf der Straße konnten sich Schafe satt weiden. Der alte
+Napoleonwirt kränkte sich sehr darüber, daß die Eisenbahn, die er so
+emsig miterbauen half, so treulos war. Kein Mensch, sagte er, sei noch
+so grob betrogen worden wie er, der Napoleonwirt. Der Eisenbahnzug,
+der oben am Berghang hinrollte, pfiff auf ihn herab und kein Gesetz
+kümmerte sich um die Straße. Ohne gewöhnlich andere Gäste zu haben als
+manchmal einen durstigen Nachbar, wirtschaftete er in seiner Weise noch
+eine Weile fort; und als er endlich Haus und Hof verkaufte, geschah es
+gerade so, daß die Gläubiger keinen Schaden hatten. Da meinte der alte
+Napoleonwirt, für ihn sei es nun die höchste Zeit, zu sterben, denn
+ein paar Jahr später hätte es nicht einmal mehr für einen Grabstein
+gereicht. Ein Leben ohne Nachlaß und ohne Grabstein hätte er für die
+überflüssigste Arbeit von der Welt gehalten.
+
+Und der junge Mensch, der Sohn, stand nun allein auf der Straße.
+Manchmal saß er auf der Bank vor der verfallenden Schmiede und
+beobachtete die Leute, wie deren doch von Zeit zu Zeit wieder
+vorüberkamen. Und wenn er sich so ins Schauen verlor, da war ihm
+anfangs, als vermöge er den Insassen des Viergespannes und den
+hinkenden Handwerksburschen nicht zu unterscheiden. Es sei denn,
+daß dieser einen munteren Marsch pfiff und jener ein gelangweiltes
+Gesicht machte. Und dann wieder zu sich kommend, fragte er: »Was
+tue ich jetzt? Am vollen Trog habe ich schon gesessen.« Nichts war
+davon übrig geblieben als der Nachteil, daß ihn nun der leere doppelt
+verdrießen konnte. Doch er verdroß ihn nicht eigentlich. Er war gegen
+alle weiteren Unfälle gut versichert bei der Assekuranzgesellschaft
+Habenichts & Co. Der Pfarrer seines Ortes hatte einmal gepredigt, der
+Christ solle dem Geiste leben. Und weil er das nicht weiter erklärte,
+so legte der Zuhörer es sich selber zurecht. Es wird auch am besten
+sein. Das braucht kein großes Betriebskapital. Ich will dem Geist
+leben. Und gründete eine kleine Branntweinbrennerei. Die Wurzeln,
+Beeren und Abfälle, aus denen er den Geist zog, hatte er umsonst; er
+brauchte sie nur zu sammeln, manchmal dafür ein »Vergelt's Gott!« zu
+sagen und ein »Stamperl Branntwein« zu versprechen. Wenn dann der
+Nachbar kam, um ihn zu trinken, griff er doch in den Sack; denn man
+hatte den fröhlichen Burschen nicht ungern und vermutete, daß er
+auch ein bißchen leben wolle. Er scheint auch in seiner Unterhaltung
+Geist geschenkt zu haben und nicht etwa Fusel, wie mancher zünftiger
+Ritter vom Geist zu destillieren pflegt. Da das große Einkehrhaus
+an der grünen Straße keine rechte Verwendung mehr finden konnte, so
+wurde es abgetragen und aus seinen Ziegeln am Bahnhof eine Waggonhalle
+erbaut. Nur die alte kleine Schmiede blieb stehen, um dem einzigen
+Übriggebliebenen zur Brennerei zu dienen. Das Wohnhaus dazu hatte er
+sich aus dem Fachgebälk des abgetragenen Gasthofes selbst gezimmert.
+Und hier lebte der Mann nun gelassen dahin, länger als fünfzig Jahre.
+
+Er war Zeuge, wie sich in dieser Zeit alles mehrmals umstürzte. Die
+Menschheit machte Purzelbäume. Stand sie auf den Füßen, so behauptete
+sie, die einzig richtige Grundlage für den Fortschritt sei der Kopf;
+und stand sie auf dem Kopf, so klagte sie, daß alles in der Welt
+verkehrt sei. Der Schauende stand abseits und war ein wenig verblüfft.
+Nicht der Wandel befremdete ihn, sondern die Stetigkeit der Kreatur.
+Trotz allem unbegreiflichen Wandel blieben die Leute sich gleich.
+Bauten diese Leute Häuser, so tranken sie Branntwein, um Kraft zu
+gewinnen. Brannten die Häuser nieder, so tranken sie Branntwein,
+um sich zu trösten. Die Felder wurden zu Wald: die Leute tranken
+Branntwein und wanderten aus. In den Wildnissen streiften Jäger und
+tranken Branntwein. Und der Alte machte seinen Branntwein gerade so,
+wie man ihn vor so viel hundert Jahren gemacht haben mag. Und auch wo
+sie es anders machen, ist's im Grunde dasselbe. Alles kreist um den
+Punkt; und dieser Punkt rührt sich nicht vom Fleck. Zur Zeit der Ritter
+war es Mode geworden, in Kutschen zu fahren; zur Kutschenzeit ist es
+Sitte geworden, auf der Eisenbahn zu reisen; in der Eisenbahnzeit wurde
+es nobel, den Motorwagen zu hetzen; zur Zeit des Motorwagens wird es
+vornehm sein, im Luftschiff zu fliegen; und zur Zeit des Luftschiffes
+werden die Herren plötzlich finden, das Vornehmste, das Stolzeste, das
+Ritterlichste sei das Reiten auf dem Pferd. Dann ist man rund herum.
+Ein Ringelspiel wie auf Jahrmärkten. An einzelnen Stellen wurde wieder
+gerodet, wurde wieder gebaut: und immer tranken sie Branntwein und
+haschten nach Habe, nach grobem Genuß und waren stumpfsinnig für alles
+andere. So war die Masse immer gewesen und das Erdbeben der jungen Welt
+hatte wenig geändert. Die Masse ist Rohstoff, an dem die Wetter der
+Zeiten immerwährend formen und zerstören. So streute die Natur ihren
+Menschenstaub auch wieder einmal auf die Straße. Eines Tages kam der
+närrisch gewordene Scherenschleifer und der sausende Teufel. Der erste
+ein Reiter ohne Roß, der zweite ein Roß ohne Reiter. So der wörtliche
+Ausdruck des Alten; ich kann mir nur denken, daß damit die Radfahrer
+und Autofahrer gemeint sein sollten. -- Und so, fuhr er fort zu sagen,
+habe sich seit fünfzig Jahren allerlei hingeändert und zurückgeändert,
+im Weltkasten sei alles ganz toll durcheinandergerüttelt. Aber die
+Zwetschken, seien sie braun oder blau, süß oder herb, frisch oder faul:
+der Kern sei gleich geblieben. Es sei derselbe harte Kern mit etwas
+Gift im Innern. Der Mensch turne und bade, »doktere« und schneide
+an sich grausam herum, sei aber inwendig der Alte geblieben. Vor
+Zeiten habe eines Tages ein armes Weib verschmachtend an der Straße
+gelegen und ein vornehmer Vierspänner sei lustig vorübergefahren. Vor
+einigen Wochen habe da unten bei der Telephonstange Nummer 321 der
+Blitzschlag einen alten Hausierer betäubt und ein Automobiler sei
+lustig an ihm vorübergefahren. Einen Menschen aufheben und laben: Das
+kann man von so einem nicht verlangen. Muß noch froh sein, wenn er
+selber keinen niederrennt. Ja, der Kern ist hart und ein wenig giftig.
+Aber abgewöhnen mag man sich's doch nicht, das Zwetschkenessen. Das
+Auswendige nascht man und auf den Kern läßt man sich nicht ein. Dann
+bleibt man halt abseits stehen und schaut zu. Und brennt Geist.
+
+Während solcher Reden hatte der alte Schnapsbrenner mir einen
+angeschnittenen Laib Weißbrot vorgelegt und mich eingeladen, die
+Stiefel auszuziehen, damit sich die Füße besser ausrasten könnten. Ja,
+er stellte sich ausgespreitet hin und wollte sie mir von den Beinen
+reißen.
+
+Ich lachte und sagte ihm offen, was mich wunderte. Daß er bei seiner
+Weltverachtung noch so gut sein könne. Ich sei in seinen Augen ja auch
+nichts anderes als ein Körnchen des Menschenstaubes auf der Straße. Da
+fuhr er munter in die Höhe: »Ja, glaubt Ihr denn, Ihr bekommt das alles
+geschenkt? O, das Hotel Napoleon ist ein gar teures Hotel!«
+
+»Ich hoffe, daß Ihr Euch die Sachen bezahlen lassen werdet.«
+
+»Bezahlen! Geht mir weg mit dem Wort Bezahlen! Allerlei Geist habe ich
+Euch vorgesetzt. Guten Geist!« fügte er mit ernsthafter Miene hinzu.
+»Und seit wann tut man den Geist mit Ziffern und Zahlen ab, seit wann?
+Ich denk', Ihr werdet Euch selber dalassen müssen. Ich denk' wohl.«
+
+Der Gewitterregen war vorüber, die Straße hatte kalkgraue Tümpel
+und die Sonne schien wieder drein. Als ich zu Dank und Abschied dem
+Alten die Hand reichen wollte, nahm er sie nicht an. »Bleiben wir nit
+beisammen?« sagte er. »Wir bleiben ja beisammen!«
+
+ * * * * *
+
+Damals dachte ich, er spreche doch Unsinn, manchmal. Heute denke ich
+das nicht. Über zwei Jahre sind seitdem dahingegangen, in jene Gegend
+kam ich nicht mehr, den Alten habe ich nicht mehr gesehen: und doch
+muß ich oft, sehr oft an ihn denken. Ja, so oft ich selbst mich als
+Weltbeschauer empfinde, muß ich an jenen Schauenden denken. »Wir
+bleiben beisammen!« hatte er gesagt. Es dürfte stimmen. Ich war an
+seiner Weisheit hängen geblieben.
+
+Aber, mein lieber alter Geistbrenner, es wird uns nicht viel helfen.
+Wenn wir zwei uns auch außerhalb des sausenden Webstuhles stellen,
+einer links und der andere rechts, und dem Weber mit Fadenknüpfen
+Handlangerdienste zu leisten vermeinen: wir sind doch mitten im Gewebe;
+nur sind wir als Fäden vielleicht widerhaariger als andere und bilden
+häßliche Knoten. Alle miteinander machen wir das liederliche Tuch aus.
+
+
+
+
+ Der ordentliche Augustin.
+
+
+Als der Vater Augustin Kernschimmlers sein vierzigjähriges
+Geschäftsjubiläum beging, sagte der Festredner unter anderem auch
+die großartigen Worte: »Unser teurer Jubilar nährte andere und wurde
+selbst fett, machte andere wohlhabend und wurde reich dabei. Sein
+Glück gründet auf seinen Tugenden!« Und Sekt darauf. -- Denn der Vater
+Augustin Kernschimmlers war Bäcker und Fleischermeister gewesen --
+der einzige in dem Städtlein. Als einziger Fleischer hatte er die
+einzige Bäckerin geheiratet, und Augustin war von diesem einzigen
+Paar das einzige Kind. Jemand behauptete, der Vater habe das aus
+Geschäftsrücksichten so eingerichtet, denn er konnte keine Konkurrenten
+leiden und wollte dem lieben Söhnlein auch die Konkurrenz von
+Geschwistern ersparen.
+
+Als nun bei dem oben erwähnten Jubiläum das Wochenblatt einen
+Festartikel über die Doppelfirma brachte und sogar die Bildnisse des
+verehrten Ehepaares Kernschimmler, da war es plötzlich ausgemacht, daß
+der kleine Augustin weder Fleischer noch Bäcker werden dürfe, sondern
+ein Doktor oder Professor, womöglich ein sehr berühmter. Zwar sagte
+der Vater zu seiner Frau, berühmt werde man ja auch als Fleischer, was
+eben der große Festartikel und das mit einem Lorbeerkranz umgebene
+Doppelbild des Jubelpaares im Wochenblatte bezeuge. Sie wußte das
+freilich besser, sagte es aber nicht, daß ihr die Veranlassung zu
+diesem illustrierten Festartikel runde hundert Gulden von ihrem
+Nadelgelde gekostet hatte.
+
+Der Augustin kam in die Stadt, ins Gymnasium, und ward ein sehr
+ordentlicher Student. Seine Schulbücher hatten nicht ein einziges
+Eselsohr, doch bei den Examinationen ging es manchmal nicht ab ohne
+jegliche Erinnerung an das populäre Tier, auch wenn es nicht just
+Zoologie gab. Die Mutter schickte dem Söhnlein häufig Geräuchertes,
+Milchbrot, Krapfen und Zwieback, vor allem Powidlkuchen, die er so
+gerne aß. Einen Teil dieser guten Dinge verzehrte der Junge, der andere
+verschimmelte ihm im Nachtkästchen, der seine Vorratskammer war.
+Und als der Rest verschimmelt war, verzehrte er ihn auch, schon aus
+Ordnungsliebe und weil es ihm leid tat, die mütterlichen Liebesgaben
+wegzuwerfen. Seine Schulhefte waren stets wie neu und die Schriften
+und Ziffern wie gestochen, nur recht oft unrichtig. Über Fleiß und
+Sittlichkeit sangen seine Zeugnisse wahre Lobeshymnen, im übrigen
+jedoch gaben sie ihm Anlaß zur Unzufriedenheit mit den Professoren.
+So kam der Tag der Reifeprüfung. Die schwarzen Kleider mit dem
+Seidenzylinder hatte der junge Kernschimmler sich schon am Vorabend
+auf das musterhafteste zurechtgerichtet, also auch im Notizbuche die
+Gegenstände, in denen er bereits geprüft war und noch geprüft werden
+sollte, mitsamt den erhaltenen und zu erhoffenden Noten sorgfältigst
+aufgeschrieben. Als er nun auf der Gasse schon nahe dem Schulgebäude
+dahinging, bemerkte er mit Entsetzen, daß seine Stiefel nicht frisch
+gewichst waren. Er kehrte in seine Wohnung zurück, fand aber weder die
+Quartierfrau vor, sie war auf den Markt gegangen, noch den Schlüssel
+zum Schrank, wo das Stiefelputzzeug aufbewahrt lag. Er mußte also zum
+Krämer und zum Bürstenbinder, um Wichse und Bürsten zu kaufen und
+dann die Beschuhung selbst in einen des Tages würdigen Zustand zu
+versetzen. Als er hernach die Stiefel wieder an die Beine zog, riß sich
+an einem derselben eine Strupfe los. Man sah zwar den Schaden hinter
+der Hose nicht, aber der junge Mann konnte keine Schlamperei leiden,
+er ging zu seinem Schuster, der die kleine Angelegenheit auch zur
+besten Zufriedenheit schlichtete. Als er hernach an den Lehrsaal kam,
+schritten die Kollegen und Professoren gerade zum Tore heraus, die
+Abgangsprüfung war vorüber. Augustin hatte nun ein ganzes Jahr Zeit, um
+vor seiner Prüfung vielleicht auch noch andere Mängel, als die an den
+Kleidern, zu beseitigen.
+
+Mittlerweile starben rasch hintereinander seine Eltern. Der Schlag
+würde für den guten Jungen vernichtend gewesen sein, wenn nicht durch
+denselben in Haus und Geschäft eine Welt von Unordnung aufgetaucht
+wäre, die in Ordnung gebracht werden mußte. Das zerstreute ihn ein
+wenig. Das Ordnungmachen dauerte aber Jahr und Tag, und mich wundert es
+nicht, daß darob die Reifeprüfung ganz und gar vergessen worden war.
+
+Augustin Kernschimmler fand sich plötzlich allein auf der Welt,
+aber als Erbe eines großen Fleischergeschäftes und einer Bäckerei,
+die sich auch auf Mühle und Kornhandel verzweigte. Die Mühle und
+die gewerblichen Rechte verkaufte er, ebenso auch die Grundstücke;
+die beiden alten Häuser aber, das Fleischerhaus des Vaters und
+das Bäckerhaus der Mutter, behielt er aus Gründen der Pietät, und
+seine Lebensaufgabe bestand von nun an darin, diese Häuser und ihre
+Einrichtung in Ordnung zu halten. Jahraus, jahrein beschäftigte er
+eine Anzahl Dienstboten, um die Möbel abzustauben, die Spinnweben von
+den Ecken zu fegen, den Schwamm im Fußboden zu vernichten und alles
+Geschirr und Gezier blank und rein zu erhalten. Er konnte sich nicht
+entschließen, irgendein Kleidungsstück seiner Eltern wegzugeben, die
+Dienstboten rangen für und für einen wahren Verzweiflungskampf mit
+den Motten und anderem Insekt, aber mit Kampfer und anderen Mitteln
+gelang es immer noch, die Sachen zu erhalten, so daß sie in ihren
+Schränken und Kästen genau so liegen und hängen konnten, wie sie zu
+Lebzeiten oder beim Tode seiner Eltern gelegen oder gehangen waren.
+Die Wohnungen der beiden Häuser waren denn auch stets in dem Zustande,
+die ehrenwertesten Besuche zu empfangen, die nicht kamen. Auf der
+Fleischbank konnte zu jeder Stunde geschlachtet, im Ofen jeden Tag
+gebacken werden, es war alles dazu in bester Bereitschaft. Geschlachtet
+und gebacken wurde aber nicht. Doch, so fleißig auch gelüftet wurde, es
+war ein Modergeruch vorhanden, und die Schritte des Wandelnden hallten
+lauter in den Wänden als anderswo.
+
+Kernschimmler war ein stattlicher Mann geworden, dem außer Hause seine
+wunderliche Art nicht einmal angesehen werden mochte. Er pflegte sich
+gut und kleidete sich stets mit peinlicher Genauigkeit, freilich
+nicht gerade nach der Mode, aber doch mit gutem Geschmacke und mit
+größter Akkuratesse. Wenn an einem Kleidungsstücke ein Knopf verloren
+ging, so mußte seine alte Dienerin von Schneider zu Schneider, von
+Krämer zu Krämer laufen, um genau den gleichen aufzutreiben, und wenn
+das nicht glückte, so wurde das ganze Kleidungsstück dem Trödler
+übergeben. Sein Aus- und Eingang war pünktlich, wie eine Uhr, sein
+Verkehr mit Bekannten verbindlich, aber gemessen, im Gespräche stets
+der gleichen Worte und Redewendungen sich bedienend. Alle Samstage ging
+er des Abends in heitere Gesellschaft, lachte aber nur, wenn bei ihm
+Lachenszeit war, nämlich der Ordnung halber bloß bei bestimmten, stets
+wiederkehrenden Späßen. Neue Witze mochten besser sein, er machte keine
+Ausnahme von der Regel.
+
+Er hätte sich zurzeit -- denn die Weiber garnten um und um --
+sicherlich verliebt, allein das lag nicht in seiner Tagesordnung, und
+wie er schon so sehr dem Gesetze der Trägheit unterworfen, so wäre nach
+dem einmaligen Verlieben zu befürchten gewesen, er könnte sich der
+lieben Ordnung halber jeden Tag wieder verlieben.
+
+Augustin Kernschimmler war unverheiratet geboren und blieb also
+unverheiratet. Er lebte so nach seiner Art behaglich und zufrieden
+dahin und eine Entgleisung von dieser Lebensbahn schien ausgeschlossen.
+Da -- in seinem sechsundvierzigsten Lebensjahre -- erkrankte er.
+Es geschah so allmählich, so sachte, daß er die Ordnungswidrigkeit
+nicht einmal inneward. Er wurde ein wenig magenleidend, dann ein
+wenig leberleidend, hernach ein wenig halsleidend, endlich ein wenig
+brustleidend. Seine große Sorge war, die Erscheinungen, die er an sich
+wahrnahm, ordentlich zu verbuchen und vom Arzte die lateinischen oder
+griechischen Namen dafür zu erfahren. Damit konnte der Doktor recht
+sehr aufwarten. Wenn es aber einmal nicht stimmte, wenn der Doktor
+und die medizinischen Werke, die Kernschimmler genau studierte, sich
+widersprachen, dann war er gebrochen. Als es sich aber sachte, doch
+haarscharf auf eine Lungensucht wies und alle Anzeichen dazu auf das
+glänzendste auftraten, da rieb sich der gute Kernschimmler fröstelnd
+die Hände, vergnügt darüber, daß doch noch wenigstens bei schweren
+Krankheiten eine gute Ordnung obwalte. Sicherheitshalber hatte er
+mehrere Ärzte rufen lassen, und alle stimmten darin überein, daß der
+rechte Lungenflügel ganz kaput, der linke noch fast zur Hälfte intakt
+sei. Eine Frage der Zeit. In der Bestimmung dieser aber widersprachen
+sich die Herren, die gutmütigeren gaben ihm Monate, sogar Jahre, die
+berühmten gestanden fast derb, daß es sich nur noch um Tage handeln
+könne. -- In Gottes Namen! Es liegt ja in der ewigen Ordnung der Natur,
+daß der Mensch sterben muß. Wenn's jedoch wirklich schon ernst ist,
+dann frägt es sich um die testamentarischen Angelegenheiten. Ein
+paar Verwandte, etliche gute Freunde werden ja wohl so gut sein, die
+Hinterlassenschaft in Empfang zu nehmen und ordentlich zu verwalten.
+Die hohe Erbsteuer ist nicht in Ordnung und ist das überhaupt ein sehr
+umständlicher Weg durch Behörden und Advokaten, dessen Ausgang mancher
+Erbe gar nicht erlebt. Da wird's vernünftiger sein, die Sachen unter
+der Hand zu verschenken.
+
+Also hat Augustin Kernschimmler am nächsten Tage seine entfernten
+Vettern und Muhmen und einige gute Bekannte der Samstagsgesellschaft
+zu sich beschieden. Wäre schier zu spät gewesen, er hatte kaum noch
+eine vernehmliche Stimme, es versagte ihm schon der Atem. Zur Not
+wenigstens das wichtigste: Die Häuser gehören den Verwandten, die
+Einrichtungsstücke den Freunden, das vorhandene Papier der Gemeinde
+für wohltätige Zwecke. Das alte Gewand in den Schränken soll verbrannt
+werden.
+
+Die Beschenkten weinten vor Rührung, vor freudiger. Wer seine Sachen
+mitnehmen konnte, der nahm sie gleich mit. Der Sterbende konnte sich
+nun auf die andere Seite legen -- es war in Ordnung.
+
+Am nächsten Morgen erwachte er später als sonst. Ah, das war ein
+erkleckliches Schläfchen gewesen, diesmal. Er fühlte sich nachgerade
+erfrischt. -- Nun muß aber der Erzähler sich sputen mit der
+Entwicklung, sonst errät es der Leser vorwegs, wo es hinaus will. Also
+gut, der Augustin Kernschimmler wurde wieder gesund, stocksteingesund,
+so gesund, als er vorher nie gewesen. Und war arm wie eine Kirchenmaus,
+wenn der Küster die Wachskrusten von den Leuchtern geschabt hat. Er
+hatte ja alles verschenkt und es war in Ordnung.
+
+So ein Testament ist doch ein gutes, kluges Ding. Man gibt sein
+Vermögen so selbstlos, so großmütig hin -- aber erst, wenn man es
+selber nicht mehr braucht. Das, was einer im Testament voll Edelsinn
+und Barmherzigkeit jemand vermacht, kann er unbedenklich aufbrauchen,
+da ist keine Pflicht vorhanden, es über den Tod hinaus zu bewahren,
+damit jenem, dem es vermeint gewesen, das auch richtig zukomme.
+Testamentarisch vermachte Sachen bleiben Eigentum des ursprünglichen
+Besitzers, solange er lebt; nach dem Papier kann man ganze Häuser
+vererben, die der Erblasser mittlerweile vertrinkt oder verspielt.
+
+Wie brutal hingegen ist das Schenken! Was du heute verschenkest, das
+ist morgen nicht mehr dein, und selbst wenn dein Leben darauf stünde.
+Wolltest du es zurücknehmen, so könnte der Beschenkte dich gerichtlich
+belangen, als strecktest du deine Hand nach fremdem Eigentum aus. --
+In diesem Falle war unser armer, stocksteingesunder Kernschimmler.
+Aber er fand es in Ordnung. Es fiel ihm durchaus nicht ein, auch nur
+auf einen Groschen seines großen verschenkten Vermögens Anspruch zu
+machen, oder scheinen zu lassen, daß er etwas bedürfe. Er griff seine
+gewohnte Lebensordnung wieder auf und führte sie so lange, bis der
+für sein Begräbnis bestimmt gewesene Betrag verbraucht war. Dann ging
+er ins Gemeindeamt und ersuchte um eine Versorgung. Er hatte früher
+das Wort »reich« nie ausgesprochen, jetzt sprach er das Wort »arm«
+nicht aus. Er war jetzt so wenig arm, als er früher reich gewesen. Er
+hatte früher den Lebensunterhalt gehabt, und den mußte er jetzt auch
+haben. Die Gemeinde hatte über seine Widmung zu wohltätigen Zwecken
+bereits verfügt, sie tat nichts desgleichen, als ob der Mann bei ihr
+etwas besonders gut haben könne; sie fand nur, daß er für das Spital
+zu gesund, für das Armenhaus zu fröhlich und für die Altersversorgung
+zu jung war. Sie ließ in sehr vorsichtiger Form bei ihm anfragen,
+ob er die zur Zeit offene, sorgenfreie und achtunggebietende Stelle
+eines Gemeindedieners würde übernehmen wollen. Wenn ja, so wäre er
+der Bevorzugte. Diese einflußreiche Stelle sei weitaus gesicherter,
+als die des Bürgermeisters, der von drei zu drei Jahren abgelehnt
+werden konnte, während der Gemeindediener ohne ganz besonderen
+Anlaß nicht bedankt werde, sondern bestimmt sei, die Tradition des
+Bürgermeisteramtes von Geschlecht zu Geschlecht zu übertragen und zu
+überwachen.
+
+Augustin Kernschimmler ward Gemeindediener und als solcher ein wahrhaft
+bedeutender Mensch. Er hatte zwar nichts zu tun, als den Willen anderer
+auszuführen, aber die Ausführung ist ja schließlich Hauptsache. Er
+war ganz glücklich, der Selbstbestimmung enthoben zu sein, denn
+er hatte nie etwas mit sich anzufangen gewußt, er fühlte sich als
+Werkzeug anderer geborgen und gekräftigt und arbeitete mit wunderbarer
+Genauigkeit. Sein Wirkungskreis erstreckte sich nicht etwa über die
+Kanzlei, sondern über die ganze Gemeinde bis zum Bezirksgerichte
+und zu der Landeshauptmannschaft hinauf. Man soll gerade einmal
+nachdenken, was ein Gemeindediener zu tun hat. Kernschimmler besorgte
+sein Amt mit so unerhörter Ordnung, daß die Leute sich fragten, wer
+denn das Räderwerk eingefettet haben könne, daß es nun so glatt
+ginge? Sie wurden sich der Ursache kaum bewußt, merkten nur, daß der
+Gemeindediener ein ordentlicher Mensch sei.
+
+Als er fünfundzwanzig Jahre lang der musterhafte Gemeindediener
+gewesen, machte er etwas Dummes. Er ließ sich pensionieren. Als
+siebzigjähriger Mann, meinte er, sei es in Ordnung, sich zur Ruhe
+zu setzen. Bald sah er aber, daß bei ihm die Ruhe als solche nicht
+in Ordnung war. Denn er hatte zu lange in regelmäßiger Tätigkeit
+gelebt; jetzt auf einmal nichts zu tun, als spazieren zu gehen,
+das war doch die größte Schlamperei. Jeden und jeden Tag dieselbe
+Schlamperei. Das war freilich auch Regelmäßigkeit -- aber in diese
+neue Ordnung konnte er sich nicht mehr finden. Er erbot sich dem neuen
+Gemeindediener freiwillig zu Diensten und wurde des Dieners Diener.
+Die schwersten Kränkungen seines Alters bestanden darin, wenn in
+der Kanzlei ein Foliant statt im dritten Fach, etwa im vierten lag;
+wenn die Empfangsbestätigung für Zustellungen von dem Empfänger mit
+Bleistift geschrieben war, anstatt mit Tinte; wenn der Bürgermeister
+ihn »~Herr~ Kernschimmler« nannte, da er doch fünfundzwanzig Jahre
+lang in treuen Diensten bloß der Kernschimmler gewesen war.
+
+Seine persönliche Tagesordnung war das Uhrwerk geblieben, das seit
+einem halben Jahrhundert kaum ein einziges Mal stillstand -- täglich
+dieselbe Sekunde zum Aufstehen, dieselben dreiundzwanzig Minuten zum
+Anziehen des immer gleich geformten Gewandes, dieselben neun Minuten
+zum Rasieren, und die Haare kämmte er sich mit der gleichen gewohnten
+Sorgfalt auch noch zur Zeit, als er längst keine mehr am Kopfe hatte.
+
+Eines Tages aber ließ Augustin sich eine große Unregelmäßigkeit
+zuschulden kommen. Er kämmte sich nicht und rasierte sich nicht, er
+kleidete sich nicht einmal an. Lange über die gewohnte Zeit hinaus
+blieb er in seinem Bette liegen und war tot.
+
+Als der Schreiner ihm den Sarg zurechtmachte, sagte er zu einem
+Nebenstehenden: »Ich wüßte schon, was zu machen wäre, daß der
+Kernschimmler wieder aufstände. -- Man brauchte bloß einige Hobelspäne
+auf den Boden zu verstreuen, alsogleich wäre er mit dem Besen da, um
+Ordnung zu schaffen.«
+
+Tue es nicht. Laß ihn rasten mit neunundsiebzig Jahren -- es ist in
+Ordnung.
+
+
+
+
+ Meister Sani.
+
+
+Er war Maler, aber ich rede nicht von seinen Bildern. Er war Geizhals
+und ich rede von seinem Gelde. Er verdiente sich sehr viel Geld,
+buchstäblich mit Gold aufgewogen wurden seine bemalten Leinwandblachen.
+Aber ich interessiere mich nicht für Kunstwerke, ich interessiere mich
+für Dukaten. Dem Meister mußten ja auch diese lieber gewesen sein als
+jene, sonst hätte er seine Gemälde nicht verkauft. Denn er benötigte
+es nicht, das viele Geld. Er war aus ganz einfachen Verhältnissen
+emporgekommen und bedurfte für sich sehr wenig. Er war Junggeselle, was
+schon an sich eine Ursache des Geizes ist; wer für die Familie immer
+Geld ausgeben muß, der kann sich keinen Geiz angewöhnen.
+
+Meister Sani lebte so weit anständig und stets adrett; wie er auf
+der Gasse einherging, merkte man ihm das Laster nicht viel an. Auch
+hat ihn damals niemand unter seinen Geldsäcken sitzen gesehen oder
+wie er etwa mit dürren Fingern im Münzhaufen gewühlt hätte. Er hatte
+weder dürre Finger noch Geldsäcke. Seine Ersparnisse waren in mehreren
+Sparkassebücheln verbucht, die er in einem eisernen Kästchen unter
+seinem Wäschevorrate verwahrte. Jetzt kann man ja alles sagen. Nebst
+seiner künstlerischen Tätigkeit hatte der Meister die größte Freude am
+Sparen und in der Vorstellung, was er um sein gutes Geld alles haben
+könnte. In der ersteren Zeit dachte er, jetzt -- wenn ich wollte --
+könnte ich schon zehn Jahre faulenzen und naturbummeln, zu leben hätte
+ich. Bald war so viel da, daß er ans Reisen denken konnte, und er
+reiste in Gedanken ein zweitesmal nach Italien, denn ein erstesmal war
+er wirklich schon dort gewesen. Diesmal konnte er bis Sizilien gehen
+und über Spanien nach Frankreich zurück. Später wäre er schon in der
+Lage, sich eine Villa zu bauen, unweit der Stadt, die täglich nach den
+Atelierstunden leicht zu erreichen. Wenige Jahre später war er so weit,
+daß er sich ein größeres Landgut kaufen könnte mit Garten-, Feld-,
+Vieh- und Waldwirtschaft und er ginge umher und sähe, wie die Arbeit
+des Gesindes schleunt und die Früchte gedeihen und die Schweine und
+Hühner heranwachsen für die Festtafel. Alles das und mancherlei anderes
+könnte er haben, wenn er wollte. Er konnte sich gleichsam als den
+heimlichen Herrn betrachten über so vieles. Aber es konnte noch besser
+kommen und deshalb ließ er das Geld ruhig in der Sparkasse liegen; es
+kam immer noch reichlicher Zuzug und üppigeres Wachstum, und eines
+Tages war er Schloßherr. Ein großes Schloß mit Lustgärten, Meierhöfen,
+Waldungen, Jagden und sonstigen vornehmen Ergötzlichkeiten -- könnte
+er haben, wenn er wollte. Und da er es haben könnte, so war es just so
+viel, als er hätte es. Diese Gedanken an seine Güter hatten sich in
+seinem Kopf festgeflochten wie ein Spinngewebe, in dem Spinnen gaukeln
+und Mücken hängen. Er malte noch fleißig, aber er malte nicht mehr so
+gut als früher, sein Herz war bei den Gütern. In der Nacht schlief er
+unruhig, die Sorge um das Vermögen und daß es sich ja nicht vermindere,
+verwüsteten seine Träume, die einst so schön gewesen waren. Immer hatte
+er die Wirtschaften, Schlösser und Fabriken zu verwalten, die doch nur
+erst festgeplättet -- in den Sparkassebücheln existierten.
+
+Da sagte Meister Sani zu sich: Das ist nichts, Meister Sani, das ist
+nichts. So in die Gefangenschaft zu geraten! Das muß wieder anders
+werden. Und befreite sich mit Jugendkraft. Er ging hin, nahm die Gelder
+aus der Sparkasse und -- verschenkte sie. Wo er Mangel und Not sah,
+da gab er hin, aber ungenannt. Er wollte nicht, daß die Leute wußten,
+wie dumm reich er geworden war. Auf einem Spaziergange kam er zu einer
+rauchenden Brandstätte. Er wühlte in der Asche, zog eine Blechkapsel
+hervor und sagte zu den jammernden Abbrandlern: »Das wird euch gehören,
+es war wohl im Hause und ist nicht mitverbrannt.« In der Blechkapsel
+war so viel Geld, daß sie ihr Haus wieder aufbauen konnten. -- Ein
+anderesmal mischte er sich unter einen Trupp Zigeuner und verlangte von
+einem braunen Mädchen, daß es ihm wahrsage.
+
+Sie las in seiner hohlen Hand und sprach: »Dem edlen Herrn steht viel
+Geld bevor.«
+
+»Da ist es auch schon,« lachte er und ließ aus dem Rockärmel die darin
+versteckte Rolle von Silberlingen hervorgleiten. »Da nimm! Du hast es
+wahrgesagt, so gehört's auch dir.«
+
+Einer Schullehrers Familie steckte er nächtig als Nikolo Geld zum
+Fenster hinein und lief nachher davon, als ob er etwas gestohlen hätte.
+
+Von einem Knaben verlangte er einen Krug Wasser; als der Junge es
+vom Brunnen geholt und Meister Sani es getrunken, sagte er: »Ein
+anderesmal, Junge, mußt du den Krug besser auswaschen; siehe, was er
+für einen Bodensatz hat!« Da lag ein Dukaten drinnen.
+
+In der Zeitung stand, daß eine arme Frau auf dem Wege zum Markte ihr
+ganzes Geld verloren hätte. Meister Sani »fand« es und ließ ihr den
+gleichen Betrag schicken. Die Frau hatte mittlerweile aber selbst ihr
+Geld wieder gefunden und wußte nicht, an wen jener irrtümliche Fund
+zurückzuschicken sei. Noch heute brennt ihr das unrechtmäßige Geld auf
+der Hand und ich soll nichts verraten.
+
+So wurde er sein Geld auf die bequemste Weise los. Endlich hatte er
+noch hundert Gulden.
+
+Die gab er nicht weg, die behielt er. Und an diesen hatte er eine
+Freude. Dann begann er neuerdings zu sparen und sammelte Gulden. Jetzt
+im kleinen machte ihm das Sammeln wieder Vergnügen; in der geringen
+Anzahl waren die Dinge so leicht zu übersehen, war so leicht Ordnung
+mit ihnen zu halten. Das war alles wieder so einfach, wie zur Zeit, als
+er seine Laufbahn begann und ungefähr so viel einnahm, als was er für
+sich nötig hatte. Er freute sich wieder an jedem Guldenstücke, an jeder
+kleinen Ziffer. Die Träume waren weg und die eingebildeten Sorgen, die
+schier so wirklich sind als die wirklichen. Er hatte ein leichtes Herz
+bekommen, ganz jugendlich war ihm zumute. Er gab sich mit frischer
+Liebe wieder seiner Kunst hin. Sein Lebensbedarf war höchst einfach und
+manchmal, wenn es ihm nach etwas gelüstete, dachte er: Nein, 's ist
+nicht vonnöten, da mache ich mir lieber einen größeren Genuß und lege
+das Geld zu dem anderen. Und in stiller Abendfeierstunde, da holte er
+sein Sparkassenbüchel und freute sich des kleinen glatten Besitzes.
+
+Aber die Idylle sollte nicht immer so dauern. Seine Bilder trugen Geld;
+selbst die, so er nicht verkaufte, brachten in den Ausstellungen, in
+den Vervielfältigungen Geld ein. Er besaß schon wieder große Summen
+und die Berechnungen wurden kompliziert. Die Villen und Schlösser, die
+er sich wieder kaufen konnte, machten ihm zwar keine Sorgen, denn er
+dachte sie nicht mehr, seine Phantasie hatte den Schwung verloren, er
+war älter geworden. Träume wie einst hatte er auch nicht mehr, weil
+er wenig schlief. Wachend dachte er an sein Vermögen, ob es wohl auch
+gut angelegt sei, ob es nicht mehr Zinsen tragen könnte, als es bisher
+getragen? Ob es bei einer großen Krisis nicht verloren gehen könnte?
+-- Auch von seiten des Steueramtes war eine Gefahr nicht unmöglich.
+Er hatte nämlich in letzterer Zeit gefunden, daß die Steuer horrend
+ist, und hatte etwelches verschwiegen. Wenn man draufkäme! Die Angeber
+bekommen von der unterschlagenen Steuer ein gutes Teil, da kann sich
+leicht einer finden. Und die Strafe ist furchtbar. Das Fünfzigfache! --
+Oder soll er sein Geld verstecken, daß kein Mensch was davon weiß? Dann
+finden sie es am Ende auch nach seinem Tode nicht. Wie schade das wäre!
+Aber wer soll denn erben? Nur auslachen wird man einen, der so ärmlich
+gelebt und so viel Geld gehabt hat. Da könnte man am Ende gar noch
+einen Nachruf als Geizhals bekommen. -- Solcherlei Gedanken quälten ihn
+die halben Nächte lang. Und einmal, als es schon gegen Morgen ging und
+die Geldsorgen ihn immer noch nicht hatten schlafen lassen, sprang er
+zornig auf, stürzte zum Schrank, riß die Sparkassebücheln hervor und
+wollte sie in die noch glosende Ofenglut schleudern. Aber die Bücheln
+wollten nicht aus seiner Hand. Als ob die Finger einen Krampf hätten,
+so hielten sie fest und in diesem Augenblicke fiel es ihm ein: So viel
+man in den Blättern liest, wird jetzt gesammelt zur Errichtung einer
+Heilstätte für brustkranke Frauen. Dorthin mit diesem Ludersgeld.
+
+Doch am nächsten Morgen bettete er die Urkunden seines Vermögens wieder
+sorglich in den Wäschekasten. Waren sie ihm doch liebe Hausfreunde
+geworden -- die einzigen, die er hatte. Geselligkeit und Freude
+an seinem Künstlerruhm waren ihm völlig abhanden gekommen, seit
+er sein Geld gar so lieb gewonnen hatte. Aber -- war es denn sein
+~Geld~, das da im Kasten lag? Das waren nichtige Scheine. Nach der
+~Persönlichkeit~ des Geldes begann er sich zu sehnen. Er wollte
+es bei sich in seiner Wohnung haben, selbst um den Preis der Zinsen.
+Nur dem baren Gelde in der Nähe sein! Der Schrank nah' dem Bette, dann
+wollte er Ruh' haben. Monatelang mußte er warten, bis die Sparkassen
+ihm seine großen Guthaben zurückgeben konnten. Dann aber schloß er sich
+oft stundenlang in sein Schlafzimmer ein, betrachtete die Goldmünzen,
+die Reichsnoten, die Banknoten und zählte und ordnete sie und legte sie
+zärtlich wie liebe kleine Kindlein in die Wiegen der Kistchen. Und war
+der Schrank wohlverschlossen, so setzte er sich zu seinem Kassenbuche
+und rechnete und rechnete, bis er wieder den Schrank aufschloß, das
+Geld herausnahm und prüfte, ob wohl noch alles stimme. Die Tür zur
+Wohnung im vierten Stocke hatte er mit Eisenblech beschlagen und mit
+Wertheimschlössern versehen lassen. Aber trotzdem wagte er die Wohnung
+kaum zu verlassen und in den Nächten fürchtete er sich vor den Räubern
+und Mördern. Er magerte ab, er fühlte sich krank und in seinem Atelier,
+das zwei Häuser weit von der Wohnung entfernt war, saß er selten und
+überhaupt nicht mehr, um schöne Bilder zu malen, sondern um Geld zu
+verdienen. Er verzichtete auch auf neue Kleider, weil die alten noch
+gut waren; er begnügte sich mit der einfachsten Kost, weil sie am
+gesündesten sei. Sein Gemeinsinn war pädagogisch geworden, er gab
+kein Almosen mehr, weil das die Bettelei züchte, er verleugnete dem
+Steueramt sein Einkommen, weil jeder ein dummer Kerl sei, der das nicht
+tut. Er sperrte sich gegen fällige Posten, die von ihm zu zahlen waren,
+weil es nobel ist, warten zu lassen. Und überhaupt, was nützt das liebe
+Geld, wenn man es wieder ausgeben soll!
+
+Manchmal aber brach in ihm die Wut los gegen das Ungeheuer, das ihn zum
+elendesten Sklaven gemacht hatte. In solcher Verzweiflung nahm er sich
+vor, alles wieder zu verschenken; aber das Beest hatte sich so fest an
+seine Natur geklammert, mit widerhakigen Zähnen in sein Herz gebissen,
+daß er nicht einen Gulden losbrachte. Er konnte sich von dieser Qual
+nicht mehr befreien. Er ahnte, daß er daran zugrunde gehen würde, und
+doch saß er wieder bei seinen Kistchen und zählte und ordnete.
+
+Eines Tages ging er auf den Gemüsemarkt, um einzukaufen. Denn er
+hatte sich entschlossen, die häuslichen Angelegenheiten persönlich
+zu besorgen. Man kann sich auf fremde Leute ja nie verlassen.
+Erstens kaufen sie viel zu teuer ein, zweitens betrügen sie noch
+obendrein, drittens fordern sie alles mögliche und viertens hat man
+überhaupt nicht gern unverläßliche Leute im Hause. Er hatte seinen
+Handkorb schon ziemlich gefüllt, denn er pflegte gleich für die ganze
+Woche einzukaufen, und feilschte eben noch um zwei Kilo Erdäpfel,
+als mit ihren schmetternden Signalen einige Wägen der Feuerwehr
+vorbeirasselten. Erst fragte Meister Sani erschrocken, wo es denn wohl
+brennen könne? niemand wußte es. Die Stadt ist groß. So ging er ruhig
+nach Hause. Je näher er kam, je erregter war heute das Straßenleben,
+und als er um die letzte Ecke bog, sah er, wie aus den Fenstern seiner
+Wohnung Qualm und Flammen wirbelten und darüber gerade der Dachstuhl
+zusammenstürzte.
+
+»Ist die Einrichtung gerettet?« schrie er dem Feuerwehrhauptmanne zu.
+
+»I was! Wie soll denn da gerettet sein, wenn alles steinfest versperrt
+ist. Aber die Nachbarswohnungen intakt.«
+
+»Danke schön!« antwortete Meister Sani. Ganz ruhig, fast mit Behagen
+sagte er es.
+
+Nun war er wieder frei.
+
+Er schaute den Flammen zu, die über seiner dachlos gewordenen Wohnung
+aufstiegen. Glühende Sterne und Vöglein flogen empor -- Funken und
+losgelöste Fetzchen. Flog da nicht sein Geld gegen Himmel? ... Es war
+ordentlich fein zum Ansehen, er hatte seine Freude daran, wie dieses
+höllische Geld so schön und fromm geworden war.
+
+Als endlich das Feuer gedämpft war und Meister Sani gesehen hatte, daß
+alles reinlich vertilgt worden, ging er in sein Atelier. Im Korbe hatte
+er Schwarzbrot und einige Äpfel, davon aß er. Dann legte er sich auf
+die hölzerne Bank und schlief -- wie von einer schweren Last befreit --
+ununterbrochen neun Stunden lang und gut, wie ein leichtsinniger König.
+
+Nachdem das Geld so mit Gotteshilfe überwunden war, erwachte in dem
+Künstler wieder der göttliche Leichtsinn, der von Anfang an in seiner
+Natur gelegen. Gerade die herrlich auflodernden Flammen hatten seinen
+Schönheitssinn wieder erweckt und das Farbenleuchten übertrug er
+auf seine Bilder. Diese stiegen noch einmal im Werte und begannen
+neuerdings Geld ins Haus zu bringen. Aber er ging nicht mehr darauf
+ein. Zweimal war's ihm gelungen -- ein drittesmal könnte es schief
+gehen. Meister Sani gibt alles aus, was er einnimmt, und erst in seinen
+alten Tagen, wenn sie überhaupt kommen, will er, seiner alten Passion
+fröhnend, wieder anfangen zu sammeln -- auf öffentlichem Platze mit
+gezogenem Hute -- kleine Münzen.
+
+Ob es seine Verehrer zu einer ~solchen~ Münzensammlerei kommen
+lassen werden, weiß man noch nicht. Wahrscheinlich.
+
+
+
+
+ Der falsche Himmelträger.
+
+
+Zehn Sekunden lang hatte ich -- um im Volke Ärgernis zu vermeiden
+-- mich mit vorgeneigtem Körper auf ein Knie gestützt. Als das
+Sanktissimum vorüber war, richtete ich mich rasch auf und sagte zum
+Professor, der hinter mir stand: »Na, kurios, wie man das Knien
+verlernen kann! Noch zehn Sekunden lang und ich wäre ohnmächtig
+geworden auf diesem Sandkorn, das sich so bereitwillig unters Knie
+geschoben hat, um mir die Sünden abbüßen zu helfen. Und einst hielt
+ich so was stundenlang aus, mit Leichtigkeit. Du weißt ja, die untere
+Volksschichte steht sich besser beim Knien als beim Stehen. Merkwürdig
+genug, daß gerade kleine Leute sich so sehr bücken müssen, um
+durchzukommen.«
+
+»Ja, lieber Freund,« antwortete der Professor, »davon wüßte ich auch
+ein erbauliches Kapitel zu erzählen. Vom Bücken und Knien. Wenn
+dem Künstler nicht ohnehin alles erlaubt wäre und er beliebig alle
+möglichen Sünden haben könnte, damals hätte ich sie alle bezahlt. Ja,
+der liebe Herrgott hätte mir noch was herausgeben müssen.«
+
+Wir gingen am Fußsteige dem Bache entlang spazieren und er erzählte das
+Erlebnis.
+
+Du weißt, daß ich für das Frauenkloster die Altarstatue geschaffen
+habe. Vor Jahren schon. Seither war mein Künstlerherz oft in jener
+Klosterkirche bei den reichen Kunstschätzen, bei dem glanzvollen
+Kultus und bei den anmutigen Gestalten der Schwestern und Novizinnen.
+Die bekam man aber selten zu sehen, da dem profanen Erdenpilger die
+heiligen Mysterien eines Frauenklosters möglichst verborgen bleiben
+müssen. Nun kam aber der hohe Gedächtnistag der Gründung dieses
+Klosters und der sollte durch ein großes Kirchenfest begangen werden.
+Aller Glanz sollte aufgeboten werden, alle Schwestern, Jungfrauen in
+ihrer Zier sollten im weißen Festgewande unverschleiert den Einzug
+halten und in vielen Reihen sich um den Hochaltar gruppieren. Du kannst
+dir denken, daß ich diesen Aufzug sehen wollte. So habe ich mich bei
+der Oberin angemeldet und ersucht, dem Feste mit beiwohnen zu dürfen.
+
+»Ja, mein geschätzter Herr,« sagte die Matrone, »das wird wohl nicht
+gehen, da nach unseren Regeln kein fremdes männliches Wesen an unseren
+Gottesdiensten teilnehmen darf.«
+
+»Aber ehrwürdige Mutter,« sagte ich, »ich bin ja kein fremdes
+männliches Wesen. Ich bin der Künstler, der von Ihrer Gottseligkeit
+gewürdigt worden war, die Altarstatue zu verfertigen. Und sollte nicht
+die Gnade haben können, bei der hohen Feier, die diesen erhabenen
+Gegenstand betrifft, dabei sein zu dürfen?«
+
+»Aber mein Gott, Herr Professor, wenn Sie so reden! Was machen wir denn
+da? Sie sehen doch ein, daß ich eine unserer wichtigsten Ordensregeln
+unmöglich übertreten kann.«
+
+»Haben Euer Ehrwürden in Ihrer sonst so vollkommenen Anstalt kein
+Hintertürchen, das zufällig offen bleibt und durch das ein frommes
+Christenherz sich ungesehen hineinschleichen könnte?« So sagte ich halb
+scherzend, denn die Oberin -- das war mir schon von früher her bekannt
+-- versteht auch Spaß. Sie lächelte denn auch zu meinem Vorschlage,
+drohte aber mit dem Finger; vor einem, der so redet, müsse man sich
+erst recht in acht nehmen. Indes falle ihr ein Ausweg ein, der ihr
+ermögliche, den Eintritt zum Festgottesdienst zu gestatten.
+
+»Und der ist?«
+
+»Sie müssen dafür etwas leisten.«
+
+»Herzlich gern. Wie viel denn?«
+
+»Nein, in Geld nicht,« rief sie fast fröhlich. »Aber an der Feier
+mitwirken, wenn Sie das wollten. Können Sie an der Orgel den Blasebalg
+treten?«
+
+»Das Blasebalgtreten, ehrwürdige Mutter, wäre keine Kunst, wenn der
+Blasebalg nicht gerade im Winkel hinter der Orgel wäre, wo man nichts
+sieht.«
+
+»Ach ja,« sagte die Äbtissin, »das ist wahr, da sehen Sie nichts.«
+
+»Natürlich,« glaubte ich sogleich beisetzen zu müssen, »geht es mir
+nicht bloß ums Sehen. Wohl auch der Erbauung wegen --.«
+
+»Na na,« unterbrach sie mich, »das wissen wir uns schon zu reimen.
+Die Künstler sind ja alle mehr oder weniger Heiden. Nun -- fällt mir
+was ein. Wollen Sie Himmel tragen? Da wären Sie mitten im Einzug und
+könnten alles gut sehen.«
+
+»Himmel tragen? Das wäre schön, Euer Ehrwürden,« stotterte ich,
+»allein, da werden gewiß andere sein, Bestimmte, Würdigere.«
+
+»Es sind ihrer vier. Aber einer ist krank. Eine Stange ist
+augenblicklich vakant. Dann hätte es weiter kein Bedenken.«
+
+»Meinen ehrerbietigen Dank, aber ich muß mir's doch erst überlegen, ob
+-- ob ich zu diesem ehrenden Amte nicht etwas zu ungeschickt bin.«
+
+»So überlegen Sie sich's. Und lassen mir's bis morgen sagen. Der Herr
+mit Ihnen.«
+
+So die Unterredung mit der Oberin. Dann überlegte ich. Eine Stange
+des viereckigen Baldachins tragen, unter dem ein wohlgenährter Prälat
+einherschreitet. Ob sich das mit dem akademischen Künstler und dem
+kaiser-königlichen Professor wohl verträgt? Aber das glänzende
+Gepränge. Meiner Hände Bildwerk in einem Meere von Lichtern und Rosen.
+Und dann die weißen Jungfrauen. Besonders die eine mit dem länglichen
+Angesichte, die großen blauen Augen drin und die Wangengrübchen ...
+
+Am nächsten Morgen, als ich auf dem Bette saß, während meine Frau mir
+einen entsprungenen Knopf an die Weste heftete, begann ich über die
+Sache mit ihr zu sprechen. Sie blickte mich befremdet an und sagte
+endlich: »Mann, das soll wohl nur ein Witz sein? Mit drei Banausen
+Himmel tragen -- du!«
+
+»Das einzige Mittel, um diesen interessanten Aufzug mit ansehen zu
+können.«
+
+Sie lachte laut, sehr laut und grell -- fast widerwärtig.
+
+»So ein Künstler hat seine Sachen,« sagte ich. »Man bedarf Anregung.«
+
+»Die du zu Hause natürlich entbehren mußt!«
+
+»Und gerade will ich diesen Aufzug sehen.«
+
+»So tu's eben.«
+
+»Ist verboten, wie gesagt. Ist nur erlaubt, wenn ich etwas zu der
+Begehung leiste. Wir haben beraten, die Oberin und ich; es gibt kein
+anderes Mittel, als daß ich eine Stange des Baldachins übernehme.«
+
+»Im roten Radmantel natürlich!« lachte sie.
+
+»Was es da nur so dreist zu lachen gibt. Von einem roten Mantel ist
+ja keine Rede. Ob man nur so an einem Einzuge teilnimmt oder ob man
++pro forma+ eine rote Stange in der Hand hat. Sind stets nur die
+würdigsten Männer dazu ausersehen.«
+
+»Und das Gerede der Leute, daß Professor Hertner bei den
+Marienschwestern Himmelträger geworden ist?«
+
+»Aber es erfährt's ja kein Mensch. In so einem Kloster, das ist ja eine
+geschlossene Gesellschaft.«
+
+»Ich sage dir, in allen Witzblättern bist du nächstens mit deiner
+Himmelstange. Nein, so was könnte einem doch im Traum nicht einfallen!
+Herr Jesses, wenn der Zaruzel draufkäme!«
+
+Sie legte die Weste hin und ging etwas lebhaft ins Nebenzimmer. Ich
+mußte sehr den Kopf schütteln. Wie die Frauen gleich alles auf die
+Spitze treiben! Wo sie doch sonst so viel Verständnis für meine
+künstlerischen Interessen hat! -- Der Zaruzel, meinte sie, dieser
+Karikaturenschmierer! In die Witzblätter! Na, das wäre so was!
+-- Aber all diese Vorstellungen und Bedenken verblaßten vor den
+weißen Jungfrauen, die ich just einmal sehen wollte. Der Oberin wurde
+angezeigt, daß ich mich zum Feste rechtzeitig einfinden würde.
+
+Meiner Frau sagte ich nichts mehr davon und auf ihre Frage, weshalb
+ich mich so feierlich schwarz ankleide, schützte ich dreist eine
+Aufwartung beim Statthalter vor. Du kannst dir denken, daß ich an
+diesem Tage nicht auf geraden Wegen dem Kloster zuging, sondern durch
+die Gassen und Gäßchen hinterwärts, wo man durch ein Pförtlein in den
+Klostergarten gelangen kann. Das Pförtlein war natürlich versperrt. Auf
+mein Läuten erschien der alte Gärtner, der mich auf meine Versicherung,
+ein Himmelträger zu sein, mit einiger Säumnis passieren ließ. Im
+großen Klosterhof wurde der Festzug zusammengestellt. Meine drei
+Berufsgenossen waren alte Männer mit Glatzen und grauen Bärten, die
+sich über den fremden vierten, der statt des erkrankten Schusters da
+war, ein wenig zu wundern schienen. Wir bekamen scharlachrote Mäntel;
+eiskalt ging es mir durchs Gebein, als ich den meinen über die Achsel
+legte. Doch für alle Fälle war das eine willkommene Vermummung. Wir
+holten aus der Kirche den rotseidenen, goldbefransten Baldachin mit
+den vier Tragstangen. Der Hof füllte sich mit ornadierten Priestern,
+dunkelgekleideten Nonnen und den weißen Jungfrauen. Nachdem der
+Patriarch in golddurchwirktem Meßkleide unter dem Himmel stand, bewegte
+sich der Zug um die Kirche und zum Hauptportal hinein. Ich sage dir,
+es war eine Pracht! Dieses Lichtgespiel, diese bunte Gestaltenreihe.
+Die weißen Jungfrauen, eine lange Reihe, waren geschmückt mit roten und
+blauen Schleifen; ihre Locken schwarz und gold und bis zum lichtesten
+flachs, wallten über den Nacken; ihre Augen, ganz entweltlicht,
+möchte ich sagen, schauten groß und unschuldig gleichsam in die
+himmlischen Räume auf; andere senkten die Lider oder schlossen sie
+ganz. In den Händen trugen sie brennende Kerzen. Und dieses Singen,
+Freund! Man hört manchmal das Wort Engelsgesang und denkt sich nichts
+dabei. Ganz himmlische Stimmen sind es gewesen, auf Erden gibt es
+keine solchen. Die rote Stange in meiner Hand und der rote Mantel
+über mir waren rein vergessen über dieses wunderschöne Bild, über
+diesen bezaubernden Gesang. Nun in der Kirche angelangt, stellten die
+Jungfrauen sich am Altare auf in Reihen, die rückwärtigen höher als
+die vorderen, so daß es ein wunderbares Mosaik aus Engelsgesichtern
+ward -- ein unbeschreiblicher Liebreiz. Der Himmel, umdrängt von
+andächtigen Frauen, hatte mitten in der Kirche angehalten, der
+Prälat stieg zwischen den Jungfrauen zum Altar hinauf. Es begann das
+Hochamt. Die Priester knieten nieder, die Nonnen knieten nieder, die
+Jungfrauen knieten nieder. Alles kniete in großer Demut nieder auf
+beide Knie. Auch meine drei Himmelträgergenossen. Und auch ich. Aber
+die Minute, die der erste Segen dauerte, war schmerzlich lang, denn
+die feinen Sandkörnchen des Steinbodens bissen durch das Beinkleid
+in das verweichlichte Knie, das seit meiner Knabenzeit nicht mehr
+geübt worden war. O Freund! Ich ahnte nicht, daß es erst der Anfang
+einer qualvollen Stunde sein sollte. Unmittelbar nach dem Segen wollte
+ich mich aufrichten, aber -- alles blieb knien. Auch meine Banausen
+knieten so fest, als ob sie in den Steinboden hineingewachsen wären.
+Ich allein aufstehen und stehen bleiben neben der Stange? Unmöglich.
+Abgesehen von dem unsühnbaren Ärgernisse, das damit gegeben worden
+wäre, hätte ich mich unberufenen Blicken ausgesetzt -- der akademische
+Bildhauer Professor Hertner als Himmelträger hätte alles überragt.
+Ich blieb knien, aber frage nicht wie und in welchem Jammer. Es war
+eine wahre Folter. Ein weniges geschah mir wohler, daß ich mich fest
+an die Stange klammern konnte, erst mit der einen Hand, dann mit
+beiden Händen. Aber diese Stütze wurde bald belanglos und die Last des
+Körpers lag auf den armen Knien, die auf dem unbarmherzigen Stein laut
+geächzt hätten, wenn Knie ächzen könnten. Ich konnte es, durfte es
+aber nicht. Mußte in schweigender Frommheit bewegungslos daknien. Die
+anderen, so weit ich sie beobachten konnte, knieten ganz behaglich,
+dem regen Mundgebete, den weidenden Augen sah man an, daß sie alles
+eher als an ihre Knie dachten. Keiner ahnte den Büßer in ihrer Mitte,
+der seinen Vorwitz so blutig sühnen mußte. Ich hatte es ja versucht,
+mich in die Schönheit des Bildes zu versenken, das gerade vor mir so
+lieblich und licht entfaltet war, dem Gesang zu lauschen, dessen Klang
+in die Hallen aufstieg, aber ich empfand nichts, als den Schmerz an den
+Knien. Das Ovalgesicht suchte ich, das mit den runden Blauaugen und den
+Wangengrübchen; dort hinten, zwischen zwei brünetten Lärvchen guckte es
+hervor, schier himmlisch verzückt und ein bißchen schalkisch. Allerlei
+liebliche Gedanken und Vorstellungen wollte ich anspinnen an dieses
+Engelsbild, aber es gelang nichts -- mein Knie, mein Knie! Da gedachte
+ich der Warnung meiner Frau, doch es war zu spät. Ich fühlte mich als
+Verdammter unter den Seligen. In meinem Leben nie hatte ich mich so
+heiß dem Evangelium entgegengesehnt als in dieser Stunde. Du weißt es,
+beim Evangelium steht man auf. Es kam endlich, alles erhob sich, ich
+mich fast zu früh, und atmete auf. Eine kleine Hoffnung leuchtete, als
+würde man von nun ab stehen dürfen, doch als das Evangelium vorüber
+war, kniete alles wieder nieder. In Gottesnamen, fest an die Stange
+geklammert, kauerte ich da und war entschlossen, knien zu bleiben, bis
+sie mich ohnmächtig hinaustragen würden. Aber so weit kam es nicht. Als
+die Not wieder sehr groß geworden war, entdeckte ich eine Kunst, die,
+auf den Waden zu sitzen. Was die anderen darüber dächten, das kümmerte
+mich nicht mehr, in dieser Selbsterniedrigung sahen mich ja auch nur
+die nächsten der dichtgedrängten Nachbarn und sie waren mitleidig. Die
+Knie waren sanft entlastet, ich saß auf meinen Beinen. Jetzt dachte
+ich wieder an das Gesicht mit den Wangengrübchen, aber ich konnte über
+die Köpfe nicht mehr hinwegsehen, der breite Buckel meines Vormannes
+begrenzte meinen Horizont. Doch nun war leicht standzuhalten und als
+es endlich vorüber, kräbelte ich mich mit Hilfe der Himmelstange
+krampfhaft und schier ungern empor.
+
+Gesehen hatte ich's also. Dann den Mantel los, das Beinkleid an den
+Knien mit dem Taschentuch entstaubt, durch das Gartenpförtchen wieder
+hinaus und mit der unschuldigsten Miene die Gasse entlang. Rief mich
+eine bekannte Stimme an: »Professorlein, he! Ich dachte, wer einmal im
+Himmel gewesen, der käme nicht wieder zurück.«
+
+Und war's der kleine Zaruzel, der berüchtigte Karikaturenzeichner für
+Witzblätter.
+
+»Woher des Weges?« fragte ich mit kühn gespielter Harmlosigkeit.
+
+»Von der Kirche der Marienschwestern, wo es heute so schön gewesen
+ist!« antwortete er mit widerlicher Süßlichkeit. »Du kennst ja den
+gelbhaarigen Teufelszwerg.«
+
+»Von der Klosterkirche?« tat ich überrascht, »aber da darf ja kein
+Mannsbild hinein.«
+
+»Doch, doch,« antwortete er. »Entweder es geht hinten durch das
+Gartenpförtchen oder es geht durch ein Dachfenster der Sakristei.
+Ersteren Weg pflegen die Bildhauer zu wählen; der letztere,
+beschwerlichere, bleibt für arme Witzblattzeichner übrig. Ich sage
+dir, Freund, köstlich warst du im roten Mantel an der Himmelsstange,
+unbezahlbar. An fünf Witzblätter verschicke ich.«
+
+Hub ich an stark zu leugnen. Da sagte er ganz gütig: »Mühe dich nicht,
+es hilft dir nichts,« und zog seinen photographischen Momentapparat aus
+der Tasche.
+
+Der schneidigste Mut kommt allemal, wenn nichts mehr zu verlieren ist.
+Ich blieb stehen und sagte leise: »Also Zahn um Zahn. Gut. An dem Tag,
+als das Bild im Blatt steht, wirst du umgearbeitet. Ich bin Bildhauer
+in Stein und Bein!« -- -- Das hat er verstanden. -- Seitdem sind Jahre
+vorüber, es hat niemand etwas erfahren. --
+
+So erzählte mir der Professor am Fußsteig entlang. Da wunderte ich mich
+laut, daß er es selbst ausplaudere, was ein so tiefes Geheimnis hätte
+bleiben sollen.
+
+»Jetzt ist alles verjährt,« entgegnete er. »Wenn's die Leute nun auch
+erfahren, sie glauben es nicht. Und wenn sie es glauben, so macht's mir
+nichts mehr. Übrigens geschah es doch nur aus Liebe zur Kunst und das
+vorzeitige Eindringen unter den Himmel habe ich an Ort und Stelle ja
+gründlich gebüßt.«
+
+
+
+
+ Der unglückliche Kammerdiener.
+
+
+»Glauben Sie ja nicht,« sagte die Königin zur Gesellschaft, die nach
+dem Diner im Zerkle sich um sie versammelt hatte, »glauben Sie ja
+nicht, meine Herrschaften, daß unsereins so mächtig sei und alles nach
+Herzenswunsch schlichten könne. In vielen Fällen können wir das weit
+weniger als andere Leute; oft nicht einmal das Selbstverständlichste.
+Ach allzuoft war ich schon in heller Verzweiflung darüber, wie uns die
+Hände gefesselt sind, und das Herz, und ich sage sogar, auch der Kopf.
+Soll ich Ihnen eine Geschichte erzählen? Die Geschichte hat sich vor
+etwa einem halben Jahre im Schloß zugetragen und ist sehr tragisch.
+-- Wollen die Damen und Herren nicht rauchen? Schön, ich will, wie es
+Pflicht der Fürsten ist, mit gutem Beispiele vorangehen.«
+
+Bei dieser launigen Bemerkung nahm sie aus der Kupferschale eine
+Zigarette und der Lakai hielt ihr das Flämmchen vor. Die Königin sog es
+mit einem Atemzug in die »Ägypter spezial« und winkte dem Diener mit
+einem gütigen Blick, daß er sich entfernen könne.
+
+Der General strich seinen langen weißen Schnurrbart und horchte
+schmunzelnd der tragischen Geschichte entgegen, die im phantastischen
+Lockenhaupt Ihrer Majestät sich wieder zugetragen haben mochte.
+
+»Die Herrschaften erwarten jetzt den Vortrag einer Romanze oder
+dergleichen,« lächelte die Königin, weil sie zum schwarzen Kaffee
+manchmal eine ihrer neuerstandenen Poesien zum besten zu geben pflegte.
+»Diesmal werden Sie irren. Die unerhörtesten Geschichten macht nicht
+der Dichter, macht das Leben. Und Sie, mein General, dürften der
+Tragödie wohl etwas weniger skeptisch entgegensehen, als es offenbar
+der Fall ist. Vielleicht werden die kommenden Dinge sogar Ihr Herz
+engagieren!«
+
+»Mein Herz wird nicht mehr engagiert,« lachte der alte Weißbart, »außer
+Majestät geruhen zu gestatten, daß ich mir Kognak einschenke.«
+
+»Der König,« so begann die Königin zu erzählen, »hatte einen
+Kammerdiener aufgenommen. Ein junger Magyar wars, ein hübscher
+sympathischer Bursche mit braunen Augen und perlweißen Zähnen. Die
+blaue Livree mit den weißen Seidenschnüren stand ganz prächtig zu
+seinem frischen, glattrasierten Rundgesicht. Sehr bald wußte er sich
+in seine Stellung zu finden, bei seiner ruhigen und flinken Art. Dabei
+hatte er einen heimlichen Humor, der sich allerdings nur in den Mienen
+ausdrückte, trotzdem aber nicht weniger sprechend war. Anfangs war er
+zum Laufburschen aufgenommen worden, allein, nachdem unser alter Onkel
+Tom gestorben, machte ihn der König zu seinem Kammerdiener. Obschon der
+Bursche einige Jahre Soldat gewesen, hatte er von seiner Einfalt, die
+er aus der Pußta mitgebracht, noch den Löwenanteil bei sich behalten.
+Es war ein guter braver Junge, der sich selbst die Stiefel putzte,
+weil er es für unbegreiflich hielt, daß der Kammerdiener wieder einen
+Kammerdiener hätte. Wenn er dann im Vorzimmer nach dem Takte eines
+Tschardas drauf losbürstete, oder wenn er schwermütige Pußtalieder
+sang, da habe ich manchmal ein wenig an der Türe gehorcht. Das Liebchen
+und die Mutter, diese zwei Frauen rangen in den Liedern um sein Herz
+-- es war ganz rührend. Der kleine Prinz stand oft bei ihm und hatte
+seinen Spaß, wenn Lajosch sang und die Melodie manchmal lustig mit
+ein paar hüpfenden Sprüngen mittanzte, in der einen Hand die Bürste,
+über die andere den Stiefel gestreift -- es war furchtbar komisch.
+Einmal machte er dem Prinzen den Vorschlag, ob sie nicht miteinander
+Sprachstudien treiben wollten. Er möchte von dem Prinzen französisch
+lernen und würde hingegen diesem das Ungarische beibringen. Der Prinz
+ging darauf ein und ich glaube, er hat bei dieser philologischen
+Gegenseitigkeit mehr profitiert als der andere. Doch glaubte der
+Prinz eine Klage verstanden zu haben, die Lajosch in seiner Sprache
+ausdrückte: Nichts sei ihm furchtbarer als die drei Tage in der
+Woche! -- Was sind das nur für drei Tage in der Woche? Wir verstanden
+es nicht. Wenn durch den Schloßhof die bärtigen Husaren in ihrer
+schmucken Uniform ritten, und hinaus ins Weite, da konnte Lajosch
+ganz melancholisch werden. Da vergaß er sein Singen und Tanzen, ging
+schwermütig umher und versah mürrisch seinen Dienst. Oft, wenn der
+König vorüberging, blickte er ihm verstohlen nach und einmal will die
+Kammerfrau ihn murmeln gehört haben: Wie beneide ich ihn! Werde ich's
+auch einmal erreichen? Da soll ihr schrecklich unheimlich geworden
+sein. Mit der übrigen Dienerschaft hat er gar nicht verkehren wollen.
+Diese nackten Rundscheiben! Diese Vollmondgesichter! So soll er bei
+sich geknirscht haben, und es hätte ihn der Ekel geschüttelt. Dann
+hat er die braune Gesichtsfarbe verloren und das Feuer in den Augen
+und ist abgemagert und ist immer trauriger geworden. Da fragte ich
+ihn eines Tages: Lajosch, hast du noch eine Mutter? Er antwortete auf
+ungarisch. Hast du Heimweh? Was ist dir, Lajosch? Er brummte etwas und
+wendete sich ab. Gerne hätte ich ihm noch wegen einer unglücklichen
+Liebe auf den Zahn gefühlt, denn nach meiner Überzeugung konnte es
+nur die Liebe sein. Mein Gott, vielleicht wäre dem Braven zu helfen.
+Warum sollte er sein Magyarenmädchen nicht an den Hof bringen? Es ist
+gewiß sehr hübsch. Ich liebe Naturkinder und brauche ein Kammermädchen.
+Aber es war nichts herauszukriegen vom armen Lajosch. Wieder einmal
+hörte man eine Klage über die drei Tage in der Woche. Dann versank
+er ganz in eine stumme Schwermut. Der König sagte, er würde den
+Lajosch weggeben müssen, der Arme müsse krank sein. Dem Arzt, der ihn
+konsultieren wollte, rief er ein ungarisches Fluchwort zu. Dann ging
+er auf sein Zimmer und zertrümmerte den Toilettespiegel. Nun dachten
+wir allen Ernstes an eine Geisteskrankheit. Der arme junge Mensch! Es
+war furchtbar traurig. Dabei war eine so weiche, ich möchte sagen, um
+Hilfe flehende Melancholie in ihm, daß uns allen betrübt zu Mute ward
+und wir uns entschlossen, doch noch eine Weile mit dem Burschen Geduld
+zu haben und recht gütig mit ihm zu sein. Wäre es irgend ein Anliegen
+gewesen, gewiß -- hatten wir gedacht -- ließe es sich erfüllen. Aber
+eine solche Krankheit -- das ist schrecklich. Auch weinen soll man ihn
+einmal gesehen haben, und bei sich jammern, daß es ein Unglück sei,
+wenn er einen solchen Posten verlassen müsse. Aber es sei gräßlich,
+es sei zu gräßlich, das zu ertragen! Die Kammerfrau glaubte nicht an
+Krankheit. Sie meinte, da sei ein Geheimnis dahinter. Mein Himmel, ein
+dunkles, wenn nicht gar blutiges Geheimnis! Ich habe ihn gar nicht mehr
+sehen können, ohne daß mich Grauen anwandelte. Die Entlassung wird
+notwendig werden. Doch habe ich mir vorgenommen, ihn erst noch einmal
+ernstlich zur Rede zu stellen. Da findet sich eines Tages unter den
+eingelaufenen Bittschriften auch ein Gesuch von unserem Kammerdiener
+Lajosch. -- Ich merke, die Herrschaften werden aufmerksam,« unterbrach
+sich die Königin. »Sehen Sie, das war ganz mein Fall. Neugierde kann
+man es nicht mehr nennen. Ein Taumel höchster Spannung, unter dem ich
+die unbehilfliche Schrift entzifferte, die schlechte Behandlung der
+Landessprache nicht achtete, um das Geheimnis endlich zu enthüllen. --
+Ich könnte die Herren nun raten lassen. Doch abgesehen davon, daß Sie
+es kaum erraten würden, ist es nicht danach. Ich habe ja gesagt, daß es
+eine tragische Geschichte ist, vielleicht eine tragisch komische -- ich
+finde es geradezu packend und das Herz seiner Exzellenz wird am Ende
+doch noch engagiert --«
+
+Denn der General lehnte nachlässig und ziemlich teilnahmslos in seinem
+Fauteuil und drehte seine Schnurrbartspitze.
+
+»Wir brennen, Majestät!« sagte der Graf.
+
+»Meine Herren, nur Geduld! Es wird episch erzählt,« entgegnete die
+Königin. »Man sollte das Schriftstück ja eigentlich vorlesen. Aber
+es ist besser, ich ziehe bloß den Inhalt heraus. Es ist zu rührend.
+Lajosch dankt für die Auszeichnung, ins Schloß aufgenommen worden zu
+sein. Er sagt, so gut wie jetzt ihm, sei es in seinem Heimatskomitat
+noch keinem Menschen ergangen, seit die Welt steht. Nur ein Anliegen
+trage er, es sei vielleicht dumm, aber er könne sonst nicht leben. Beim
+Militär sei er es so arg gewohnt worden und bei ihm zu Hause sei ein
+Mannsbild gar nicht anders denkbar. Gut und Blut wolle er mit Freuden
+opfern für den König, nur um die eine Gnade bitte er; wenn er schon
+bei Hof bleiben dürfe, so bitte er um einen Schnurrbart. Daß er nicht
+wöchentlich dreimal unter das schreckliche Messer kommen müsse, daß er
+einen Schnurrbart tragen dürfe, das sei sein untertäniges Bitten.«
+
+»Einen Schnurrbart?!« Die Gesellschaft brach in ein unbändiges
+Gelächter aus.
+
+Die Königin machte eine Gebärde des Mißmutes: »Ich wußte ja, daß Sie
+lachen würden. Mir war nun aber gar nicht ums Lachen. Der arme Bursche
+bittet ja um gar nichts anderes, als um seine Persönlichkeit, um das
+Selbstbestimmungsrecht über sich selbst. Kann man in unserer Zeit
+der Freiheit und der Menschenrechte um weniger bitten? Kann man um
+etwas Selbstverständlicheres bitten, als um sich selber? Um seinen
+Schnurrbart bittet er, der aus seiner eigenen Haut hervorwächst -- und
+siehe, ~ich kann ihm den Schnurrbart nicht bewilligen~. Ich bin
+Königin und habe nicht einmal die Macht, zu sagen: Ja, mein Junge,
+deinen Schnurrbart sollst du haben. Ist das nicht tragisch? Ist es
+nicht lächerlich tragisch? Wir regieren die Völker, und den Sitten
+unseres Hauses gegenüber sind wir ohnmächtig. Hofetikette! Die Diener
+haben stets in vorgeschriebener Livree und glatt rasiert zu erscheinen
+-- punktum. Welche Palastrevolution, wenn der König entschieden hätte:
+Lajosch, dir ist gestattet, den Schnurrbart zu tragen! Nach einem
+Monat prangten alle Diener in Schnurr-, Backen-, Spitz- und weiß der
+Himmel was für Bärten. Was bliebe dem König übrig, als sich den Bart --
+rasieren zu lassen! Es ist ja ein Unding und man kann's nicht ändern,
+man kann nicht. Wahrlich, diese Bartgeschichte des armen Lajosch hat
+mich sehr demütig gemacht. Wir, die sogenannten Mächtigen, in welchen
+Fesseln wir liegen! Spinnengewebe und doch unzerreißbar, so lange wir
+der Vorurteile nicht Herr werden können.«
+
+»Wenn ich mir eine Bemerkung gestatten dürfte,« sagte mit einer
+Verneigung der Professor.
+
+»Die kann ich nicht zulassen!« rief halb ernsthaft, halb humoristisch
+erregt die Königin. »Um höfische Torheiten zu schützen, muß ich die
+Zensur verhängen. Denn ich weiß, was sie sagen wollen, Professor. Sie
+wollen sagen, der König habe gottlob doch noch andere Eigenschaften, um
+sich von den Lakaien zu unterscheiden, so daß er für sich wie für jeden
+andern die Bartfreiheit unbedenklich gestatten könnte. Dem Könige eines
+freien Staates gezieme es, von freien Männern umgeben zu sein, selbst
+in seinem eigenen Hause, so daß das Volk sehe: im persönlichen Dienste
+des Königs zu stehen sei Rittersart, aber nicht Lakaienart. Das wollten
+Sie sagen!«
+
+»Ei doch nein, Majestät, so weit hätte ich mich nicht erdreistet --«
+
+»Ich bitte Sie, Professor, Sie sind zufällig glücklicher Besitzer Ihres
+Schnurrbartes -- behalten Sie ihn oben und gestehen Sie offen Ihre
+Meinung.«
+
+»Nun allerdings, wenn auch nicht ganz so geradeweg, ungefähr allerdings
+hatte ich mir so gedacht. Mir fällt nur noch ein, daß man -- anstatt
+den Schnurrbart bis auf das »Es ist erreicht« aufzustrammen -- auch
+sagen könnte: Wenn einer, so sollte der König bartlos gehen, weil er
+der erste -- Diener des Staates ist.«
+
+»Das nenne ich Schnurrbart!« lachte die Königin.
+
+Die Königin-Mutter hatte diesem Gespräche anfangs mit freundlichem
+Kopfnicken, nun aber mit einiger Unbehaglichkeit zugehört. Sie war auf
+Besuch im Schlosse und der freie Ton, der hier herrschte, war ihr neu
+und befremdlich. Sie warf nun die ablenkende Frage ein, ob der arme
+Lajosch sich getröstet habe.
+
+»Nein, teuere Mama,« antwortete die Königin, »der hat sich nicht
+getröstet. Wir haben uns trösten müssen. Als er merkte, daß sein
+Bittgesuch unberücksichtigt bleibe, hat er kurz und höflich den Dienst
+gekündigt. Noch nie habe ich einen Diener so ungern ziehen sehen als
+diesen, der seine Existenz dem Schnurrbart opferte.«
+
+»Dem Manne kann geholfen werden,« sagte nun der General. »Ich
+rekrutiere ihn neuerdings zum Heere. Dort muß der Mann -- sozusagen
+-- zwar auch manchmal Haare lassen, doch der Schnurrbart bleibt ihm
+stehen.«
+
+»Ich wußte es ja, General, daß Ihr Herz engagiert wird. Und Sie werden
+ihn doch gleich wenigstens beim Hauptmann anfangen lassen?«
+
+»Das allerdings, Majestät, dürfte sich schwer machen lassen. Es rückt
+alles nach der Rangordnung.«
+
+»Auch im Fall, daß einmal Verdienst und Tüchtigkeit --?«
+
+»Alles stets nach der Rangordnung, Majestät.« --
+
+Als der Zerkle aufgehoben war, die Gäste vor der Königin ihre
+gebührende Reverenz gemacht hatten und davongegangen waren, trällerte
+der Professor, auf der Straße dahinschlendernd: »Trallala, trallala!
+Rangordnung! Stehen die Haare vorne, so heißen sie Schnurrbart, stehen
+sie hinten, so heißen sie Zopf -- trallala, trallala!«
+
+Daß nun der General die Allerhöchste Protektion unberücksichtigt ließ,
+das hielt er für Schnurrbart, war in diesem Falle aber -- Zopf.
+
+
+
+
+ Die Einsiedler.
+
+
+Vom alten Hofe des Plattenbauer auf der Hohe steigt ein junges
+Frauenzimmer talwärts gegen die Grazerstadt. 's ist ihr schon seit
+etlichen Jahren vorgegangen, sie müßt' ins Kloster gehen. 's ist
+nichts, weltlicher Weise, 's freut sie nichts mehr, so lustig sie
+früher einmal ist gewesen. Bauernweis' ist allerweil arbeiten, aber
+der Mensch kann nicht genug beten. Immer ist ihr auch nicht so zu Mut
+gewesen. Aber -- die lieben Leut' laufen davon oder sterben ab.
+
+Abgestorben ist ihr Vater vor zwölf Wochen und jetzt hat sich's
+herausgestellt, daß sie ihrem Wunsch kann nachgehen. Zweihundert
+Gulden und noch was dazu hat sie Erbschaft. Jetzt hindert sie nichts
+mehr daran, sie kann in's Kloster gehen. Aber wie fängt man das lauter
+nur an? In der Grazerstadt gibt's ja Klöster genug, um den ganzen
+Schloßberg herum. Doch sie sagen, der Kaiser wollt' sie abstiften. 's
+wird nicht wahr sein, so grob wird er doch nicht sein. Wer schon einmal
+drin ist, wird ja sitzen bleiben dürfen. Aber wie hineinkommen? Halt
+aufnehmen werden sie niemand mehr wollen. Frauenkloster natürlich!
+Einen Bekannten wüßt' sie wohl, der sie könnt' weisen und der's gewiß
+auch gerne tät, weil er selber auch ist in die Buß' gegangen. Aber mein
+Eid, wo wird dieser Mensch zu finden sein. In einer Schloßberghöhle,
+hört man, soll er Einsiedler sein. Aber Schloßberghöhlen gibt's viele
+und in etlichen, sagen sie, täten Räuber hausen. Da kann ein schwach
+Weibsbild doch nicht gehen suchen. Daheim die Knechte haben eh schon
+g'lacht. Daß man's nit tät wissen, ob der Markel ein Einsiedler sei
+worden oder ein Räuberhauptmann. 's ist nur G'spött, weiß doch jeder,
+daß es dem Markel um den Himmel geht und nit um die Höll. Wenn er die
+Höll' hätt' wollen, hätt' er auch in Rinneg verbleiben können und ich
+hätt' leicht Ursach' sein können; nein, vor dem hätt' ih mich nit lang
+mögen derwehren. Aber jetzo, wenn er in der haarenen Kutten steckt --
+und die Raben werden ihm mit dem täglichen Brot auch nit gar zu ratlich
+(reichlich) sein -- da wird er schon frumm Lampel worden sein. Der
+kunnt mir freilich raten, der Markel. Wills halt doch probieren, ob ich
+ihn find.
+
+Das waren der Maid trautsame Gedanken, als sie herabstieg von der
+Plattenhöhe. Ein gesund Bröckel Weibsbild war's: wie alt, wie schön,
+das weiß man nicht genau. Sie hatte einen Stecken bei sich und um die
+Faust, in der sie ihn hielt, einen Rosenkranz gewunden, da war sie
+doch wehrhaft genug. Im Mariagrünerwald sah sie einen Hasen; er war
+vor ihr über den Weg gelaufen -- von links nach rechts. Das hat was zu
+bedeuten. Bei den Elisabetherinnen wird sie aufgenommen -- sicherlich.
+Lauf' nur, lauf' Has', daß dich der Jäger nit derwischt! Um dich
+wär's schad. Oder gar bei den Ursulinerinnen! Wenn sie fromm ist und
+zweihundert Gulden mitbringt! Aber sie kennt sich nit aus in der großen
+Herrenleutstadt. Ein einzigesmal ist sie drinnen gewest mit Milch. Hat
+ihr einer's Geld herausgelogen. Seitdem nimmermehr. Ganz schlechte Leut
+und ganz gute Leut sind bei einand in so einer Stadt. Achtgeben muß
+man.
+
+Ein Obersteirer begegnet ihr, oder wer er ist. Just so gewandet mit der
+ledernen Kniehose und dem grünen Hut. Der lange schwarze Backenbart
+dazu, der steht nit gut. Da tät ehenter ein Schnurrbartel gehören.
+-- Wie er vorbei ist, wendet die Maid sich um und schaut ihm nach.
+Der, wenn er nit so ein Bauerngewand tät anhaben. Den möcht' eins für
+den Mariagrüner Waldbruder halten -- so ähnlich ist er ihm. Den kunnt
+sie eigentlich auch aufsuchen, den Waldbruder. Nein, da geht sie doch
+lieber zum Markel, mit dem ist sie besser bekannt. Lachen wird er
+schon, der, daß sie jetzt auch so was Heiliges will werden.
+
+Wie sie über den Rücken des Rosenberges hinausgeht, sieht sie schon den
+Schloßberg. Der steht mitten auf aus der Eben' -- wie ein Heuschober,
+vergleichsweise. Und um und um die Laster von Häusern. Hoch auf dem
+Berg steht ein großes Schloß, viel Spitztürme und graue Mauern. Der
+steile Berg ist nackend über und über und lauter Steinwänd' und Löcher
+hinein. Dort, in einer solchen Höhl' wird er hocken, der Markel, und
+bußwirken. Aber nirgends ein Weg hinauf, man sieht keinen. Die Straßen
+zum Schloß ist auf der anderen Seiten. Jetzt läutet die Liesel[1] -- 's
+ist Mittag, die Maid steht still und betet den Englischen Gruß.
+
+
+Fußnoten: [1] Name der großen Glocke auf dem Grazer Schloßberg.
+
+
+Nachher steigt sie den Steig hin bis zu den Häusern. In einer Krämerei
+fragt sie an, ob man nichts wisse von einem Einsiedler Markel; am
+Schloßberg soll er seine Höhl' haben!
+
+»Wird's halt derselbig sein, der Markarius heißt und den Leuten die
+Schwindsucht kann abbeten. Schau hinauf einmal, dort zwischen den zwei
+Steinwandeln, siehst das schwarze Loch? Dort is er drinnen.«
+
+Denkt sie sich: Ist eh merkwürdig genug, daß ein Landmensch in die
+Stadt geht, um Einsiedler zu werden. Aber da oben, das glaub' ich,
+da bleibt er freilich hübsch allein. Möcht' schon wissen, wie ich da
+hinaufkomm'!
+
+Zur selbigen Stund' ist es gewesen, daß der fromme Einsiedler Markarius
+seine Lodenkutte sich vom Leibe reißt und heftig in den Winkel
+schleudert: »Jetzt soll dich schon der Teufel holen -- hätt' ich bald
+gesagt!«
+
+Lodenhosen hat er noch an, die gehen ihm bis unter die Achseln hinauf.
+Hemed keins, mit nackten Armen steht er da, schier glatt und weiß.
+Oft scheint die Sonne nicht drauf. Ist's doch das allererstemal, daß
+er tagsüber seine Kutte wegschmeißt. Aber das Gesicht voller Haar.
+Der Kopf geschoren wie ein Schaf zu Micheli. Die Kapuze hängt an der
+weggeschmissenen Kutte.
+
+Was ist denn das? Über dem Steinwall schaut ein Weiberkopf her. Auf
+allen Vieren ist sie emporgeklettert und ist rot im Gesichte und
+schnauft:
+
+»Markel!«
+
+»Katzl!«
+
+»G'funden hab' ich dich!« lacht sie auf. »Aber jetzt mußt dein' Rock
+anlegen.«
+
+»Die Kutten meinst. Die leg' ich nimmer an, mein liebes Katzel!«
+
+»Wir dürfen ja kein Fleisch mehr anschau'n. Denk dir Markel, ich auch.
+Ich will ins Kloster!«
+
+»Du?« sagt er. Dann patscht er mit den flachen Händen auf seine
+Schenkel: »Du ins Kloster?!« Und lacht hell heraus.
+
+»Wenn du ein frommer Einsiedler bist worden!« erinnerte sie vorsichtig.
+
+»Bins ja nimmer!« rief er und hob ein Papier auf, das im Schutte lag.
+»Da les'!«
+
+»Mein Gott, wie kann denn ich lesen!«
+
+»Der Kaiser hat mir schreiben lassen. Uns allen, uns Klosterleuten
+und Eremiten. Sollten schauen, daß wir weiterkommen, Faulenzer
+kunnt er nit brauchen. Alles aufgehoben. Nur die schulhaltenden und
+krankenwartenden Klöster hat er ausgenommen. Den Mariagrüner-Bruder
+sollen's auch schon abgesetzt haben. Ist aller Einsiedler um Graz
+Oberhaupt gewest.«
+
+»Jesses, ich hab's Haupt ja laufen sehen.«
+
+»Was für ein Haupt?«
+
+»Nau, euer Oberhaupt. Ist schon im Steirerg'wand g'west.«
+
+»Wird mir auch nix anderes übrig bleiben. Wenn ich in drei Tagen nit
+weg bin von da, so kommt der Wachter. Les' nur, da steht's.«
+
+»Was sagst denn, Markel!« schrie sie auf. »Ja, nachher wär's bei mir
+auch nix. Schulhalten kann ich nit, krankenwarten mag ich nit.«
+
+»Und mir gehts auch nit anders. Heut' steig' ih noch auffi, da ins
+Gschloß und red mit dem Guferneer!«
+
+»Red' für mich auch. Wenn ich nu wieder müßt' heimgehen zum
+Plattenbauer! Hab'ns dich nit brauchen können! möchtens sagen, und das
+G'lachter! -- Na, heim geh' ich nimmer. Ein bissel ein Kloster wird
+doch noch wo übrig bleiben für unsereins. Ich zahl' ja mein' Sach' und
+mein Beten und Fasten und Frommsein wird doch niemand irren. Geh',
+Markel, tu' anfragen. Im Kapuzinergraben wart' ich, bei der Kirchen.«
+
+So tat der Eremit Markarius seine alte Bauernjoppen wieder an und den
+schwarzen Strohhut mit dem breiten Dach und ging hinauf ins Schloß, um
+sich zu beschweren. Bis zum »Guferneer« kam er zwar nicht vor, aber der
+Schreiber in der Kanzlei hat ihn ins Gebet genommen. »Ja, mein Lieber,«
+sagte der, »jetzt ist eine andere Zeit, jetzt heißt's arbeiten. Unser
+Kaiser Josef ist der erste Arbeiter im Reich, der kann die Müßiggänger
+schon einmal gar nicht leiden, und sollten sie noch so fromm sein.«
+
+»Herr Amtmann,« antwortete der Bruder Markarius, »wenn unsereiner
+einmal nit mehr fromm sein darf, dann wird einer ein schlechter Mensch
+und tut Leut' ausrauben!«
+
+»Und wenn einer Leut' ausrauben tut,« antwortete der Schreiber in
+gleichem Ton, »dann lassen wir ihn henken.«
+
+»Beileib' nit,« sagte der Einsiedler und zog sein bärtiges Gesicht ins
+Lachen, »kein schlechter Mensch, das mag ich dennoch wohl nit werden.
+'s ist nur so ein G'spaß gewest. Halt anfangen, wenn ich wüßt, was ich
+jetzt sollt!«
+
+Hat der Schreiber mit den Achseln gezuckt:
+
+»Sollt' ich etwan dem Kaiser nach Wien nachlaufen und fragen, was alle
+die Leut', die er aus den Klöstern und Höhlen verjagt hat, jetzt machen
+sollen? Arbeiten soll'ns. Gestern hättet Ihr auf der Triesterstraße
+ganze Scharen von Klostergeistlichen wandern sehen können, etliche noch
+in der Kutte, die andern schon in ihrem weltlichen Gewand und auf dem
+Buckel Zegger und Binkel. Die einen taten laut Rosenkranz beten, die
+anderen greinen und lachen, und gejuchzet haben ihrer auch ein paar,
+daß sie wieder in der lustigen Welt taten sein. So sind sie fort.
+Loschament und Arbeit suchen, wo sie sie halt finden. Euch kann ich
+auch nichts anders raten. Fleißig arbeiten, vor der Arbeit eins beten,
+nach der Arbeit eins juchzen, so wirds dem Kaiser am liebsten sein und
+dem Herrgott auch.«
+
+Mit diesem Bescheid hat der Bruder Markarius wieder gehen können.
+Unterwegs in den Kapuzinergraben wollte er bei dem Eck-Kramerstandel
+für das Katzerl einen Wecken kaufen. Etliche Pfennige hatte er noch in
+der Wilflingjacke gefunden. Aber das Standel war heute geschlossen und
+die Kramerin war gestorben am Tag zuvor. Bleibt er stehen, denkt nach
+und geht weiter.
+
+Vor der Kirche steht sie.
+
+»Bist da, Katzerl?« ruft er ihr zu. »Ist's dir recht, daß ich alleweil
+noch Katzerl zu dir sag'?«
+
+»Wennst schon Katherl ganz und gar nit kannst sagen, muß es mir wohl
+recht sein. Magst's Katzerl derleiden, mußt auch 's Kratzerl
+derleiden.«
+
+»Will dich Katherl nennen. Ist eh ein schöner Nam'! Weil wir zwei itzo
+allein dastehen und zusamm'halten müssen.«
+
+»Was hat er denn gesagt, der Guferneer?« fragte die Maid.
+
+»Nix. Bin nur bei seinem Schreiberknecht gwest.«
+
+»Und was hat der gesagt?«
+
+»So viel wie nix. Das hätt' ich selber auch gewußt, daß 's jetzt
+arbeiten heißt. Wenn ich ein bissel Geld hätt'! Da enten beim
+Wildkästenbaum ist eine Kramerin g'west. Die ist gestorben. Das Standel
+möcht' ich gleich, da wollt' ich drauskommen. Kein schlecht's Platzl
+beim Kästenbaum, gehen drei Straßen z'samm!«
+
+Da sagte sie ihm nahe ans Ohr: »Ein bissel Geld hätt' ich.«
+
+Und ist's also geworden. Sie haben sich das Kramerstandel erworben,
+haben gehandelt mit Wecken, Bockshörndln und Feigen, mit heilsamen
+Wurzeln und Kräutern und anderlei guten und nützlichen Dingen. Drüben
+in Geidorf haben sie sich zwei Wohnungen genommen; denn das stand
+fest, hatten sie auch das Geschäft gemeinsam, persönlich wollten sie
+Einsiedler sein und verbleiben. Und die zwei Wohnungen sind gleim
+nebeneinandergestanden. Die Tür dazwischen war fest zugesperrt. Hat
+sich also jedes in seiner Stuben ein Altarl aufgerichtet an dieser
+Tür und hielt jedes für sich seine Vesper ab jeden Abend, so daß es
+war, als stünden zwei Klöster nebeneinander, ein Mannskloster und ein
+Frauenkloster. Und just an der Verbindungstür, damit sie nicht konnte
+aufgemacht werden, hatten sie ihr Altarl errichtet, sie herüben, er
+drüben. Und wenn sie davor knieten bei der Vesper, so knieten sie
+eigentlich voreinander, und ob die Andacht just immer am Altar haften
+blieb und nicht bisweilen durchs Türholz ging, das getraue ich mir
+nicht zu entscheiden.
+
+Beträchtlich klostermäßig ging es auch im Kramerstandel her. Das
+einemal saß der Markel drin, das anderemal die Kathel; beisammen nie,
+hätten auch schwer Platz gehabt. Die Preise waren christlich, maßen sie
+sich mit wenigen Pfennigen Gewinn begnügten im Erdentag. Ging ein armes
+Weibel vorbei, so erhielt es wohl gar den Wecken umsonst; schnaufte
+ein alter Mann daher, so schenkte ihm der Markel eine Gamswurzel, so
+für schweren Atem heilsam ist. Das alles sah sich gar erbaulich an
+für die Nachbarschaft, und dennoch ist der Spott laut geworden über
+das Einsiedlerpaar. Ein Schustergeselle erdreistete sich, das alte
+Volksliedel für den Markel umzubiegen:
+
+ »Der Mann auf dem G'wänd
+ Hat die Kutten verbrennt,
+ Hat die Beten verschmissen,
+ Ist dem Dirndl nachgrennt.«
+
+Ob solcher Kränkung wollte der Markel sich doch einmal gründlich
+verteidigen bei der Kathel, und eines Abends begann er das Altarl
+wegzuräumen, das an der Verbindungstür stand. Sie aber räumte das
+ihre derweil noch nicht weg, versuchte vielmehr den Schlüssel, ob er
+wohl sicher umgedreht war. Er war nicht umgedreht, die Tür war nicht
+verschlossen, was die Kathel für ein Mirakel hielt, weil sie sich
+alle Abend von dem Gegenteil überzeugt hatte. Fest glaubte sie das
+erstemal noch nicht dran; aber wenn das Mirakel ein zweites- und gar
+ein drittesmal geschehen sollte, dann müßte sie dem Altarl schon einen
+andern Platz anweisen. Aber wo ist der »Geistler« dazu?
+
+Zur Zeit war der Markel viel auswärts und stieg mit Krampen und
+Kräunzen auf dem Plawutsch oder auf dem Geierkogel herum, oder gar auf
+dem hohen Schöckelberg, um heilsame Wurzeln und Kräuter zu sammeln,
+weil er sich bei derlei wohl auskannte. Solche Waren wurden von den
+Käufern auch belobt. Aber der Pfarrer vom Kapuzinergraben blieb eines
+Tages stehen vor dem Standel und fragte deutsam an, ob da nicht auch
+ein Kräutel für den Tod zu haben sei?
+
+Bisher, antwortete der einfältige Markel, hab' er so eins noch nit
+gefunden.
+
+»Nun also, wenn du weißt, daß du sterben mußt, was lebst denn nachher
+mit dem Kebsweib? Kommst ja in die Höll' mit ihr!«
+
+Der Kramer verstund' die Lehr' nur zu halb und am Abend räumte er das
+zweitemal sein Altarl weg, um die Kathel fragen zu gehen, wie die
+Ansprach' wohl gemeint sein könne? Aber der Schlüssel war umgedreht. --
+Ihr alter Brauch; ganz nach dem Sprüchel: »Schmecken laßt sie, anbeißen
+nit.«
+
+Und ereignete es sich dann, daß der Markel von seinen Bergwanderungen
+einmal mehrere Tage lang nicht zurückkehrte. Zwei Tage war er öfter
+schon ausgewesen, aber drei Tage noch nie und jetzt fiel es der Maid
+aufs Herz, wie die wahrhaftige Einsiedelei ganz und gar nicht zu
+ertragen sei. Am vierten Tage kam er. Die Kräunzen voller Krautwerk
+und den Mund voller wundersamer Berichte. -- Er sei weiter hinteri
+gegangen, ganz hinteri ins Gebirg. Was es da für Wildnis gibt überall!
+Wald soweit das Aug' tragt. Und mitten auf steht er. ~Das~
+ist ein Steinberg! Da ist der Schloßberg wie ein Schotterhäuferl
+dagegen. Wundershalber steigt er hinauf, schier einen ganzen Tag. Und
+oben Arnika, ganze Wiesen voll zwischen den Steinen. Und Speik und
+Gamswurzeln und sonst Wurzelwerch allerhand. Und ist er über einem
+schaudervollen Gewänd gewest, wohl wie zwanzig Kirchtürm so hoch,
+und kirchturmsteil nieder ins tiefe Tal. Ist aber so ein Gamssteig
+zwischen den Wänden niedergangen und denkt er sich: Vielleicht sogar
+Edelweiß! und knorzt hinab ins Gewänd soweit er kann, und wo erst der
+schauderhaft Abgrund anhebt. Und findet unter der Wand ein eben Platzl
+und ein Wasserbründel, und darüber ein Bildnis: Unser' liebe Frau! --
+Fallts ihm ein: Hier ist das recht Ort für einen Einsiedler! In der
+Grazerstadt tun's eh alleweil spötteln. Was gilts, er packt z'samm,
+nimm sein Katzl und geht hinauf in die Felsenwildnis! Ein Hüttel sei
+leicht gebaut, habe sich das Fallholz und die dicken Baumrinden schon
+ausgeschaut. Kein Mensch hätt' ein' festere Burg.
+
+So lang und so viel erzählt er und macht alles so gut, daß die Kathel
+zuletzt sagt: Ihr sei's schon bald recht auch. Hätt' man sich das fromm
+Leben schon einmal vorgenommen -- dort oben gibts keine spöttelnden
+Leut', und dem Kaiser seine Hand wird wohl auch nit so lang sein. --
+Ob sie nit vorher der Geistler sollt' zusammentun allzwei, fällt ihr
+ein; und lacht sich auch schon darüber aus: Verheiratete Einsiedler!
+Ein bissel ein' Anfechtung macht ja nix. Wo wär' denn das Verdienst,
+wenn's kein' Anfechtung nit hätt! -- Geht in ihre Kammer und versucht
+den Schlüssel, der ist in Richtigkeit.
+
+Und eine Woche nachher: Die Waren haben sie teils verkauft, teils
+verschenkt und wie das Standel leer ist, rucken sie sich ihre Kräunzen
+mit Gewand und Werkzeug auf den Buckel und wandern ab. Einen Tag lang
+auf der Straßen der Mur entlang ins Gebirg. Dann rechterhand in eine
+Schlucht, und dräuen die Wänd schon himmelhoch herab, daß der Maid ein
+Schauder durch den Leib geht. Begegnet ihnen ein Halter, hat statt der
+Gert eine Flinten und sagt, sollten sich in acht nehmen vor Wölfen und
+Bären.
+
+»Hat mich keiner g'fressen, frißt mich keiner!« ruft der Markel -- und
+nachher halt anwärts, steil, durch Strupp, über Gefäll und Gestein. Mit
+ehrfürchtiger Freud sieht es die Kathel, wie in der Wildnis überall
+der Tisch ist gedeckt. Erdbeeren, Heidelbeeren, Himbeeren, Pilze und
+Tierwerch zu fangen überall, wer geschickt ist. Und überall frisches
+Wasser, und ein Brunnen ist, der fällt so dick wie ein Startinfaß viele
+Klafter hoch herab und ist's kein Rauschen mehr, ist's ein Krachen, daß
+man sein eigen Wort nicht versteht.
+
+Mit harter Plag sind sie endlich oben auf der wüsten Höh'. Die
+Kathel muß sich die Augen verhalten, so packt sie der Schwindel, wie
+sie in die Tiefen will schauen. Da ins G'wänd soll sie hinab? Das
+Gamssteigel, wo sie nachher nit weiter kunnt und nit mehr zurück! --
+Just einmal probieren! sagt der Markel und führt sie niederwärts in
+die schauderlich Felswand, bis zum Platzel, wo das Bildnis ist und das
+Brünnel in eine Steinschale tut rinnen.
+
+Gott wird's mit Willen gemacht haben, daß es zurzeit wochenlang ist
+schön geblieben und warm Tag und Nacht. Jedes in einer andern Felskluft
+hat geschlafen auf Moos und des Tags haben sie gesammelt und gebaut
+an der Klause bei dem Brünnlein. Also, da lehnt die Hütte an der
+überhängenden Wand. Eine Rindentür hat sie und zwei Fensterlein und
+einen Steinblock zum Tisch und zwei Holzblöcke zum Sitzen und eine
+Steingrube für das Herdfeuer und zwei Lager aus Bergheu und Moos. Und
+an der Wand zwei Baumäste gequert zu einem Kreuz. Die Vorratskammer
+ist draußen in einer Felsspalte, und hätten sie denn alles beisammen,
+was der Mensch braucht, um so lang zu leben, bis er selig ist. --
+Seligwerden, das ist beider ernsthaftes Fürnehmen.
+
+»Sie taten beten und arbeiten,« heißt es von den beiden Menschen in
+einer Chronik zu Breitenau. Und ist derselben zu entnehmen, daß sie
+allerlei wilde Früchte sammelten, daß sie aus Kraut und Wurzeln und
+manchen Beeren einen »Geist« haben gebrannt, mit dem der Markarius
+zeitweilig in den umliegenden Tälern hausieren ist gegangen. Auch
+sollen sie Wallfahrern, die weit her zum Bildnisse »Unserer lieben
+Frau« auf den Berg gekommen, mancherlei Dienste geleistet und
+Stärkung gespendet haben. Etliche Zeit der Einsiedler soll bitter
+hart gewesen sein. Es ist nicht gemeint die kalte Winterszeit, da sie
+monatelang eingemauert waren mit Schnee und den unbändigen Alpenstürmen
+preisgegeben. Es ist nicht gemeint der Mangel mancher Lebensmittel
+und es ist auch nicht gemeint die Bedrängnis, wenn eins krank war
+oder Steinlawinen sie bedrohten. Ein anderes Bedrängnis war's, das
+ihnen bisweilen bitterhart hat zugesetzt. Da ist der Markarius wohl
+aufgestanden in der Nacht und hinausgegangen zur Quelle, um kaltes
+Wasser zu trinken. Und wenn er, von Frost geschüttelt, in die Hütte
+zurückgekehrt und auf seinem Lager zur Ruhe gekommen war, stand die
+Kathel auf und ging auch hinaus, um zu trinken. Einsiedler sein, meint
+besagte Chronik, sei nicht das härtest', aber sotane Zweisiedler sein
+und gleichwohl Einsiedler verbleiben wollen, das sei vergleichbar
+einem Fegefeuer, wo ein Mensch all' Sündhaftigkeit könnt' löschen.
+Und hätten es nicht erzwungen, wenn der heilige Brunn' nicht wär
+gewest, also, daß der Gnadenquell sich geoffenbaret. So haben sie das
+Klosterleben, als davon sie vertrieben worden, auf hohem Birg streng
+geführet, als Zeugnis, was möglich ist an starkem Willen. Sind aber
+sonder Rast gewest und ist solchen Anachoreten das Fleisch abgefallen
+von den Knochen, und doch ein Augenlicht, brennend und begehrend,
+so daß sie angefangen, sich voreinander zu fürchten. Und ist dem
+Einsiedler die heilige Jungfrau erschienen und der Einsiedlerin der
+heilige Jüngling Aloisius. Und haben die Anachoreten vor Verzückung
+einander mit Wacholdergerten gegeißelt bis aufs Blut.
+
+Einer der Ortskundigen will aber dieser Schrift nicht Glauben
+schenken; sie sei aus einer alten Sagung gezogen und zum Spott auf
+die Leutlein oben am Schüsserlbrunn angewandt worden. Wahrheit sei
+vielmehr solches: Eines Tages seien die zwei herabgekommen zum Kuraten
+von Sankt Erhard und hätten lachend erklärt, die Sach' tät ihnen auf
+die Läng zu dumm werden. Gar jung seien sie freilich nicht mehr, aber
+auszahlen tät sich's vielleicht noch alleweil. Sie hätten einmal
+ernsthaftig Einsiedler werden wollen, jedes für sich, seien nachher der
+Umstände wegen Zweisiedler worden. Und jetzo möchten sie halt wiederum
+Einsiedler werden, ein einziger, aus zweien einer. Aus ihrer zwei eins
+machen, wenn er so gut wär'.
+
+Der Kurat war schon einer von solchen, die man später Josefiner genannt
+hat. Er sagte also: »Leutlein, das ist gescheit. Eins in der Gesinnung
+und in der Lieb', das ist eine gar heilsame Einsiedelei.«
+
+Und lacht die Kathel auf: Was sie doch einfältig wär'! Solang' hätt'
+sie sich vor dem Geistler gefürchtet und jetzo tät sich das so leicht!
+-- Der Wochen zwei und sie sind eins gewesen.
+
+Aus einem solchen Eins kommt gerne noch Eins. An drei Jahr' später
+ist's, an einem Hochsommermorgen, hält der Markari ein blondhaarig
+Bübel auf dem Arm. Das Bübel juchzet und schlagt die Ärmelein
+auseinand, als wollt' es den Sonnenball auffangen, der dort hinter den
+Bergspitzen aufsteigt. Und sagt der Vater: »Kerl, kleiner! Schau sie
+nur an. Wo sie aufgeht, dort weit hinterwärts ist die Wienerstadt. Und
+dort ist der Kaiser daheim. Und wenn der nit wär g'west, tätest du
+jetzt freilich kaum juchezen auf derer Höh'!«
+
+Zur Zeit ist anstatt der schlechten Klausen schon ein besseres Häuslein
+fertig gewesen und daneben ein Ziegenstall und daneben eine Kapelle mit
+Turm und Glöckel. Und die Wallfahrer, wenn sie von Schüsserlbrunn heim
+sind gekommen, haben erzählt von den guten Leutln, die mit gar Geringem
+so glückselig leben da oben auf wildem Birg. Also daß wir ohn' Sorg und
+Kümmernis können von ihnen scheiden.
+
+
+
+
+ Ein Wildling Christi.
+
+
+Gregor, der Hirtenhauser auf der Niederalm, hatte nun glücklich
+abgewirtschaftet. Das zerlemperte Gütel hatte er seiner Tochter
+übergeben, diese ihrem Mann, und der Alte hatte sein Ziel erreicht --
+er war der irdischen Sorgen und Güter frei geworden und konnte sich den
+himmlischen Freuden hingeben, mit denen er längst umgegangen, die ihm
+das kindliche Gemüt bewahrt, aber ihn um Haus und Vieh gebracht hatten.
+Er war ihnen dafür dankbar. Wozu braucht der Christenmensch solche
+Sachen! Hat der Apostel Jacobus ein Haus gehabt? Oder der heilige
+Joseph ein Vieh? Man liest nichts davon. Dach findet der Mensch,
+dessen Hut der Himmel ist, überall. Und wo er um einen Löffel Suppe
+zugesprochen, da hatte er stets auch die Brocken dazubekommen. Der
+Gregor war ein kluger Mann, doch benutzte er seine Klugheit nicht, um
+zu gewinnen, was Sorgen macht, vielmehr um die Sorgen und ihre Ursachen
+zu verlieren. Sein Lebtag war's ihm nicht so gut ergangen, denn jetzt
+als Bettelmann. Bettelmann? Ein Mann Gottes wollen wir werden, wenn
+uns nicht etwa die Demut abhanden kommt. Des Frommen größte Gefahr, er
+fürchtete sie, ist heimliche Hoffart.
+
+Der Halter-Gregl, wie er genannt war, hatte für sein gottseliges Leben
+einen besonderen Hinterhalt, an den er sich aber bisher nicht gelehnt.
+Sein einziger Bruder war Ordenspriester im Stift Hubertusbrunn. Seit
+der Gregl damals brieflich angesucht hatte, als Laienbruder in das
+Kloster eintreten zu dürfen und ihm vom Abte die Antwort zurückgekommen
+war, er möge nur hübsch bei seinem angestammten Beruf bleiben und
+die Arbeit auf Wiese und Feld zur Ehre Gottes verrichten, das wäre
+für ihn gescheiter als das Kloster -- seit dieser wunderlichen, ganz
+unpriesterlichen Antwort wollte er mit Hubertusbrunn nichts zu tun
+haben. Nun war's aber in diesem Stifte anders geworden. Und schon wie
+anders! Der alte Abt war gestorben, und Gregors Bruder, der Pater
+Dominikus, war zum Prälaten gewählt worden.
+
+Ob man in der Gegend der Niederalm umherbettelt, wo es doch immer nur
+in der Runde geht, oder einen mehr geraden Weg nimmt, den Häusern der
+Straße entlang -- für die alten Beine bleibt das gleich. Weiter kommt
+man aber auf gerade Art. Und kommt wohl gar bis Hubertusbrunn. Ob die
+Herren dort die Klostersuppe einem wildfremden Menschen vorsetzen, oder
+dem alten Bruder des Prälaten, das wird für Kloster und Suppe auch
+gleich sein. Ihm, dem Gregl, wäre doch damit gedient, daß er endlich in
+den Mauern des Gebets, der Betrachtungen und der guten Werke für seine
+letzten Lebenstage könnte Unterschlupf finden.
+
+Also hat der Halter-Gregl seinen Sack genommen und seinen Stecken, und
+ist barhäuptig, wie er stets gewesen, straßab und talaus gegangen,
+bis er am dritten Tage im weiten fruchtprangenden Talkessel auf einer
+Anhöhe stolz und herrlich das Gebäude ragen sah. Es war nicht wie ein
+Schloß, es war wie sieben Schlösser neben- und übereinander, mitten
+aufragend zwei Türme, eine Kuppel und die Schindeldächer schimmerten
+wie Silber. Um die Anhöhe schlang sich in Halbrund ein breiter,
+glitzernder Fluß, kleine Ortschaften und große Gärten bestreichend,
+die sich hinten in Laubwäldern verloren. Der Gregl saß am Wegrand und
+wollte von der einen langen Front die Fenster zählen. Bis achtzig oder
+neunzig kam er hinauf, dann vergingen ihm die Augen.
+
+Und das war Stift Hubertsbrunn.
+
+Der Erzähler ist in Klostersitten nicht recht bewandert, er muß
+sich auf die Berichte verlassen, die ihm zugekommen von den
+Berichterstattern zu dieser Geschichte.
+
+Am nächsten Tage wußte der Hirtenbauer Gregor schon, wie es da zuging.
+Aber es gefiel ihm nicht. Über die Aufnahme war so weit keine Klage
+gewesen. Der hochwürdige Bruder, Seine Gnaden ward er genannt, hatte
+ihn an beiden Händen gehalten, ihn besorgt angeblickt und gesagt:
+»Bruder Gregor, du gefällst mir gar nicht. Hast du denn kein besseres
+Gewand?«
+
+Und der Gregor: »Bruder Benedikt, oder wie du heißt, du gefällst mir
+auch nit. Was ich zu wenig am Leib han, das hast du zu viel.«
+
+Denn der Prälat trug einen Talar aus Seiden und Schuhe mit
+Silberschnallen und über der Brust eine Kette und ein Kreuz aus
+schwerem Golde. Der hochwürdige Herr lachte zum Ausspruch seines
+Bruders, tätschelte ihm mit zwei Fingern die rauhbraune Wange und
+sprach:
+
+»Na na, du bist immer noch der Alte. Glaubst du mir's, daß ich so
+arm bin, wie du? Dieses Kleid siehe, das deinen Augen Ärgernis gibt,
+es gehört nicht meiner Person, es gehört meiner Würde. Und das Stift
+gehört dem Orden. So viel erlaubt mir aber meine Armut, daß ich dich
+einlade, etliche Tage im Stifte zu bleiben und daß du dir gut sein
+lassest.«
+
+»Du sagst etliche Tage! Und ich wollte als Laienbruder eintreten, die
+Kirche ausfegen jeden Tag oder die Glocken läuten, oder wozu ihr mich
+verwenden möget, daß ich dem Herrgott ein wohlgefälliger Knecht sein
+darf.«
+
+»Tue dieser paar Tage gerade einmal, was dich freut, Bruder Gregor.
+Wie du doch unserem Vater ähnlich siehst, Gott habe ihn selig!«
+
+Und der Alte antwortete: »Wenn du mägerer wärest, kunnt ich dasselbe
+auch von dir sagen. Unser armer Vater, gelt! Wie sich der hat plagen
+müssen und sich die Bissen absparen, daß er dich hat können in die
+Studie geben.«
+
+»Laß es gut sein, Gregor, nach den ersten paar Jahren hat mich ja schon
+das Stift versorgt, so daß ich den Orden für meinen wahren Nährvater
+halten muß.«
+
+»Immer einmal wirst wohl doch noch eine heilige Messe lesen für unseren
+Vater?«
+
+»Wir beten für alle,« antwortete der Prälat.
+
+Da deuchte es dem Gregor schier, daß im Stifte auf Blutsverwandtschaft
+wenig gegeben würde. Trotzdem genoß er die Gastfreundschaft so gut es
+anging. Zufrieden fand er sich nicht, es war ihm alles zu viel, zu gut,
+zu weltlich, was es da gab. Des Prälaten abgelegte Hosen und Stiefel,
+die er geschenkt bekommen, waren -- von der vornehmen Art abgesehen --
+immer noch weit kostbarer als das schönste Ostersonntagsgewand, das er
+je auf der Niederalm getragen hatte. Desgleichen auch die Wäsche, in
+der so gar nichts von den härenen Hemden und stacheligen Gürteln zu
+spüren war, die nach seiner Heiligenlegende die Mönche gerne am Leibe
+gehabt.
+
+Eine einzige Weltsorge hatte der alte Mann noch an sich, die ihn
+manchmal sehr beunruhigte. Als vor Jahren sein Weib gestorben, hatte
+sie auf dem Totenbette ihm ein Lederbeutelchen um den Hals gehangen
+mit der Bitte, daß er es am bloßen Leib trage und nur in höchster Not
+davon Gebrauch machen solle. Der Gregor versprach das, weil er der
+Meinung war, es sei ein Amulett darin. Erst später kam er darauf, daß
+im Lederbeutelchen fünf Dukaten enthalten waren, die das gute Weib
+dem unpraktischen Mann als Notpfennig hinterlassen hatte. Dieses Geld
+nun brannte ihn, erstens aus Besorgnis, daß es sündhaft sein könne,
+nebst dem beinernen Kreuzlein, das er an der Brust trug, auch Geld
+dort verborgen zu halten, und zweitens aus Angst, er könne die Dukaten
+-- verlieren. Oft war er daran, diesen Mammon, der ihm so manche
+Unruhe machte, von sich zu werfen, aber es war ihm leid drum. Und das
+beunruhigte ihn noch mehr, weil es das Zeichen eines geldgierigen
+Herzens wäre.
+
+Nicht ungern ging Gregor mit dem Pater Isidor, dem die Landwirtschaft
+anlag, über die Felder. Da standen an Wegen und Rainen Kreuzsäulen und
+Heiligenstatuen, vor denen der Gregor zwar nicht den Hut zog, weil er
+eben keinen auf seinem weißhaarigen Kopf hatte, wohl aber niederkniete,
+um ein paar Vaterunser zu beten. Pater Isidor achtete nicht darauf,
+sondern besah sich die herbstlichen Ackerfurchen, ob sie tief genug
+wären und Erdschmalz hätten, und wenn der Gregor ein Gespräch über die
+Himmelskönigin Maria anheben wollte, wies der Pater ihm froh gestimmt
+die weiten Kohlgärten und Rübenfelder. Der Gregor ärgerte sich darüber,
+hielt sich aber vor: Du hast kein Recht, es ihm zu verübeln, so lange
+du selbst noch am Gelde hängest.
+
+Ein anderes Mal zog er mit dem Pater Hubert aus, der die Flinte auf
+der Achsel trug, auf dem Kopf den Federhut, und der die Forst- und
+Jagdangelegenheiten zu besorgen hatte. Als sie ins finstere Gebirge
+kamen, wo im tiefen Grund ein schwarzer See lag und zackige Schroffen
+in den hellen Himmel emporstanden, legte der Gregor seine Hände
+zusammen und sagte die Worte: »Wenn man's betrachtet! Die Allmacht
+Gottes!«
+
+»Pst!« machte der Pater. »Sie müssen still sein. Dort im Lärchschachen
+-- sehen Sie? Zwei Rehe! Ein altes und ein junges! Und ein -- Gott
+verdamm' mich, hätte ich bald gesagt, wenn das kein Bock ist, dort
+hinter dem Fichtenbusch. Ah, sapperment!« Er riß die Flinte von der
+Schulter, durfte aber nicht schießen.
+
+»Sie müssen dableiben bis zur Jagd!« sagte er zum Alten, »da sollen Sie
+einmal sehen, wie es purzelt! Da geht's lustig her!«
+
+»Tun Ihnen die armen Tiere denn nit derbarmen?«
+
+»Gott hat alle Kreatur erschaffen zur Freude und zum Nutzen des
+Menschen.«
+
+Dachte sich der Gregor: An Gott denkt er halt doch. --
+
+Dann suchte er weiter unter den Mönchen des Stiftes. Einen würde
+er doch finden, mit dem sich auch was Erbauliches reden ließe.
+Freundlich waren ja alle mit ihm, doch wenn er des Rosenkranzbetens
+erwähnte, sprachen sie vom Kugelschieben; wenn er der Wallfahrten
+gedachte, kamen sie auf Scheibenschießen und Fischfang, und wenn er
+über die Notwendigkeit des Bußwirkens sprach, meinten sie, das wäre
+brav von ihm, nur solle der Mensch die lieben Gottesgaben auch nicht
+verschmähen, und machten sich mit Behagen an den Krug. Freilich sah
+er, daß sie zu gewissen Tageszeiten auch beteten und Psalmen sangen,
+daß sie die Fasttage strenge einhielten, daß sie Almosen gaben. Ja,
+es war sogar ein Pater bestellt, der tat gar nichts anderes, als für
+die Armen zu sorgen, wie sie da dreimal in der Woche am Vormittag in
+der rückwärtigen Halle zusammenkamen. Da wollte auch der Gregor einmal
+sein Lederbeutelchen loslösen und dessen Inhalt den Armen auf die Hand
+schütten. Doch fiel ihm ein, so viel würde sie verderben, sie sind nur
+Kupferstücke gewohnt. Behielt seine Goldenen am Busen, war bekümmert
+sie zu besitzen und war bekümmert sie zu verlieren.
+
+Eines Tages gegen die Vesperzeit geschah es, daß der Gregor einen
+Mönch wandeln sah entlang den Kreuzgang und hinabsteigen eine dunkle
+Treppe in unterirdische Räume. Da war am Ende so etwas wie Katakomben,
+in denen die ersten Christen ihre Zusammenkünfte und Gottesdienste
+gehalten, nachdem sie überirdisch ein scheinbar ganz weltliches
+Leben geführt hatten. Gregor schlich dem Mönche nach und kam in die
+Weinkeller. Der Mönch lud ihn ein, sich mit einem Krüglein das Herz
+zu stärken, was denn auch geschehen ist, so gründlich, daß der alte
+Hirte in den feuchten Dämmerungen herzhaft anhub zu jodeln, wie er
+es in früheren Zeiten auf der Niederalm getan hatte. Am nächsten
+Tage hatte er wieder Durst, und zwar nach Wasser. Er stellte sich im
+Garten zu dem rieselnden Brunnen und schaute ihm zu. Er lechzte nach
+Wasser, sah es immer an, trank aber nicht, und das war seine Buße für
+gestern. Dann geschah es, daß er glaubte, endlich auf dem Wege nach
+dem Rechten zu sein. Er hörte von dem großen Büchersaale und wollte
+nun auch einmal all die frommen Gebet- und Erbauungsbücher sehen, in
+denen die ehrwürdigen Brüder den gottseligen Geist aufbewahrt hätten.
+Er hatte nicht gedacht, daß es auf der Welt so viele Bücher gebe; der
+große Saal war über und über mit Büchern bestanden, man sah nicht
+ein handbreit Stück Wand. Ein paar fremde Herren waren da, denen der
+Mönch immer wieder Bücher und Schriften hervorholte und auf den Tisch
+legte. Gebetbuch war keins dabei, fast lauter alte weltliche Schriften
+und -- wie es dem Gregor vorkam -- sogar heidnische darunter. Einige
+vorhandene Bildwerke, die so herumlagen, zeigten geradezu entsetzliche
+Sachen in den offenen Tag hinein. Weil dem Alten unheimlich ward,
+so ging er hinaus. In einer Wegkapelle, wo das Volk vorüberzog, war
+die heilige Jungfrau, darunter die Darstellung der armen Seelen
+im Fegefeuer. Hier kniete der Gregor nieder und murmelte seine
+altgewohnten Gebete. Er betete um Bekehrung der Heiden; plötzlich kam
+ihm das an sich selber ganz abscheulich pharisäerhaft vor und er betete
+demütig um Demut. Das erleichterte seine Bange.
+
+Am unbegreiflichsten war es schon im Speisesaal. Der Bruder des
+Prälaten sollte auch an der Tafel sitzen, wenn zwar weiter unten;
+allein die silbernen Schüsseln und die kristallenen Becher kamen auch
+zu ihm. Es wird halt heut ein Festtag sein, dachte er und ließ sich's
+nicht schlecht schmecken. Sein Beisitzer hatte ihm gesagt, daß auch
+Christus der Herr gerne Lammbraten gegessen und Wein getrunken habe. --
+Es ging mäßig ruhig und gemütlich dabei her.
+
+Gerne saß er im kühlen und stillen Münster. Die Kirche war sehr groß
+und herrlich anzuschauen -- aber zumeist ganz leer. Er saß in einem der
+schöngeschnitzten Chorstühle und betete stundenlang den Rosenkranz ab
+und konnte es nicht verstehen, daß die Mönche lieber weltlichen Freuden
+nachgingen, als hier im lieben Frieden zu sitzen und sich mit Gott zu
+unterhalten. Hatte er sich endlich müde gebetet, so nahm er den Besen
+oder den Fächel und fegte die schönen Steinbodentafeln, und staubte die
+Stühle ab, die Heiligenstatuen aus weißem Marmelstein, und scharrte das
+von den Kerzen abgetropfte Wachs zusammen und bat seinen Gott, er möge
+sich den armseligen Dienst gnädig gefallen lassen. In solchen Stunden
+war er am glücklichsten.
+
+Da kam der Sonntag. Alles Volk strömte bei dem Geläute der
+Klosterglocken zusammen und füllte die weiten Kirchenräume. Die Mönche,
+ihrer dreizehn waren, kamen in kirchlichen Gewändern, der Prälat, eine
+wahre Würdegestalt, im Ornat von lauter Seide und Gold. An allen
+Kronleuchtern brannten die Kerzen, aus silbernen Rauchfässern qualmten
+die Schleier des Weihrauchs am Hochaltare empor bis zu den dunklen
+Spitzbogengewölben. Wie ein jubelnder Sturm, so brauste die Orgel, und
+der Gesang der Chorknaben klang wie das lieblichste Glockengeläute. Und
+als im Hochamte das Sanctus kam, da erhob der Prälat seine Stimme und
+sang hell und feierlich das hehre Lied zum Allmächtigen. -- Der Gregor
+war außer sich vor Entzücken. Jetzt erst ging's ihm auf, was das heißt:
+Klosterleben, Priesterleben!
+
+Darauf im Refektorium, als Seine Gnaden schon bei Tische saß, kniete
+der Gregor nieder und wollte dem hochwürdigen Bruder die Schuhe
+küssen. Der Prälat lachte ihn stark aus und sagte: »Vorhin haben
+wir Gott gelobt im Gebete und jetzt wollen wir ihn loben in seinen
+Gaben. Tue das deine, Gregor!« Was nun alles erschien, das mußte der
+beisitzende Mönch dem alten Hirten erklären: Einmal das Gläschen
+»Sherry«, das schließt Magen und Herz auf. Die Krebssuppe drauf, die
+weckt den Appetit auf. Dann der Hummer, der frißt Sorg' und Kummer.
+Dann beim Fleisch vom Rind das Essen eigentlich beginnt. Dann auf
+Schweinskopf und gebrat'ne Enten muß man auch noch Andacht verwenden.
+Von den Eier- und Mandelkuchen lassen wir uns auch gerne versuchen.
+Käse, Obst und Kaffee tut keinem Christenmenschen weh. Und Bier und
+Wein laß dir gesegnet sein. Endlich und schließlich ist ein feiner
+Rauchstengel alleweil der beste Friedensengel. -- So lebhaft der Mönch
+seine Tafelsprüche belachte, so wenig zeigte der alte Hirte dafür
+Verständnis. Der hielt sich mehr an das Gemüse, obschon das gar nicht
+besungen wurde. Vom Glase hielt er -- Erfahrungen beherzigend -- sich
+fern. Nur als der Prälat ein feierliches Prosit ausbrachte auf das
+Kirchweihfest, das heute begangen wurde, trank auch der Gregor in
+Ehrerbietung seinen Becher aus. Die Festheiterkeit war in sangliche
+Tafellustigkeit übergegangen. Dann stand Bruder Isidor auf, klopfte
+ans Glas, erhob es, hielt eine frohe Rede von seinen Krautköpfen und
+Kartoffeln. Der Bruder Hubertus feierte mit vielem Humor die Rehböcke
+und Hirsche, die sich demnächst das Vergnügen machen würden, bei
+Seiner Gnaden Tafel die Aufwartung zu machen. Der Bruder Kellermeister
+erinnerte bei seiner Ansprache sogar an Luthers Wein, Weib und
+Wonnesang, bedauernd, daß die Klosterbuße nicht vollständig sei, weil
+von den drei W leider eins fehle.
+
+Das helle Gelächter, das diese Rede entfesselte, wurde unterbrochen. Am
+anderen Ende der Tafel war der alte Hirtenbauer aufgestanden und hatte,
+wie es die Redner vor ihm getan, mit dem Messer an sein Glas geschlagen.
+
+»Hört, hört! der Gregor!«
+
+»Ja freilich,« sagte dieser in gemütlicher Art, »der alte Gregor will
+auch was sagen.« Erst lugte er ein Weilchen vor sich hin und dann
+begann er halb grollend und halb schmunzelnd mit einigem Stottern
+anfangs, dann immer geläufiger also zu sprechen: »Der alte Halter von
+der Alm hat zwar das Predigen nit gelernt, will euch aber doch eine
+Predigt halten. Nehmt Ihr's für Spaß, ist's mir recht, nehmt Ihr's für
+Ernst, ist's mir noch lieber. Ich will nur sagen: Was die hochwürdige
+Geistlichkeit auf dem Stift Hubertusbrunn für ein Leben führt, das
+ist ein recht lustiges Leben, ist aber wenig Christentum dabei. Mit
+Verlaub, ihr seid viel zu weltliche Herren! Wie wollt ihr denn in
+den Himmel kommen, wenn ihr schon drinnen seid? 's Hineinkommen ist
+nit mehr möglich, aber 's Hinauskommen ist möglich. Alltag leset ihr
+Zeitung, wie viel Jammer und Pein es gibt auf der Welt, und ihr lebt
+in Freud, als ob euch allmiteinand nix tät angehen. Und nachher --
+auweh, mich deucht, ihr seid mir schon bös'. Alsdann will ich gleich
+aufhören. Amen.«
+
+Die Wirkung dieses Sermons war fürs Erste überlautes Gelächter. Doch
+soll es im Augenblicke einem der Festgenossen eingefallen sein:
+Bei diesen zwei Brüdern müsse es eine Verwechslung gegeben haben.
+Pater geworden sei der Unrechte! -- Der Prälat, ob der rechte oder
+unrechte, hatte ein schier röteres Gesicht bekommen, als es sonst bei
+Tafelfreuden der Fall war. Er trommelte mit den Fingern, an deren einem
+der große Ring funkelte, auf den Tisch, die andere Hand spielte mit dem
+goldenen Kreuz, das ihm über der Brust hing. Dann schüttelte er ein
+paarmal den Kopf. In dieser Beklemmnis erhob sich der Pater Franziskus,
+der Bibliotheksverwalter war, gab das Zeichen, daß er sprechen wolle
+und begann in wohlgesetzten Worten -- er war ja zugleich auch der
+Stiftsprediger -- zu sprechen, wie folgt:
+
+»Teure, ehrwürdige Patres und Fratres! Wir haben eben ein Beispiel
+erlebt, wie über einen der Geist kam, bei dem wir es nicht vermeint
+hätten. Vielleicht hat sich Gott der Stimme dieses einfachen Mannes
+deshalb bedient, um uns Ordenspriestern wieder einmal zu Gehör zu
+führen, wie die Welt über uns denkt. Wenn da draußen Leute wären, so
+möchte ich ein wenig zum Fenster hinaussprechen. Die draußen haben
+nämlich jetzt das Christentum entdeckt. Sie sagen, es sei eine Religion
+für die Welt, Christus selbst habe die Lebensfreuden geliebt, nur müsse
+man in Vertrauen und Liebe das Reich Gottes im Herzen haben. So sagen
+sie, ob sie das letzte tun, weiß ich nicht. Wenn ja, so bin ich damit
+einverstanden. Nun höret: Wenn wir ~Priester~ so leben, wie sie
+sagen, daß man solle, nämlich in der weltsinnlichen Gottfreudigkeit,
+dann heißt es gleich, es wäre unchristlich und ~wir~ sollten in
+Armut und Entsagung leben. ~Wenn~ wir's aber wirklich tun, wie ja
+gar viele Welt- und Ordenspriester in Armut und Entsagung leben müssen,
+hei, da nennen sie uns Mucker, Heuchler und Aszeten. Kurz, wir können
+machen was wir wollen, so ist es denen nicht recht. Anders ist es mit
+unserem lieben Gregor. Das ist die ehrliche Haut, die bloß zurückruft,
+was wir hingerufen haben. Wir, das heißt, viele von uns. Diese haben
+Aszese gepredigt, so verlangt der Mann, daß die Priester selbst das
+halten, was sie anderen predigen. Das ist ganz in Ordnung. Wir aber --
+und nun wende ich mich an unsern Freund Gregor -- wir Ordenspriester
+im Stifte Hubertsbrunn predigen nicht Aszese, sondern Freude in Gott.
+Wem sie gegeben wird, der soll sie nehmen. Sie haben selbst gesagt,
+lieber Gregor, daß es in der Welt draußen viel Jammer und Pein gibt.
+Ist es ein Wunder, wenn mancher ins Kloster flüchtet, wo man im Vereine
+mit Gleichgesinnten seiner Seele lebt? Wir persönlich besitzen keine
+weltlichen Güter, aber wir verwalten mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit
+die Güter des Ordens, die gestiftet worden sind, damit die Brüder
+im sorglosen Frieden des Herrn leben können, wie heute, so auch in
+Zukunft. Ebenso verwalten wir viele Wissenschaften, die durch Klöster
+aus alten Zeiten der Zukunft übermittelt werden. Wir pflegen die
+Künste und schmücken damit unser Gotteshaus, unsern Gottesdienst,
+erhöhen damit unsere Freude am Göttlichen, unsere Liebe zu Gott. So
+sind wir fern dem Unfrieden der Welt, sind eingefriedet ins Bereich,
+wo Lebensfreude und Gottseligkeit eins geworden sind. Das findet
+man nur im Kloster so, und nirgends anders. Und ich sehe die Zeit,
+da viele, des Streites und der Ungerechtigkeit da draußen übersatt
+geworden, die Klostermauern suchen werden. Vielleicht wird man ihrem
+Klosterleben einen anderen Namen geben, in der Tat wird es dasselbe
+sein, denn das Bedürfnis vieler Menschen nach Weltabgeschiedenheit
+und Frieden, nach harmlosem Lebensgenuß und nach Gottesfroheit wird
+nicht aussterben. Wenn sie, die weltlichen Leute da draußen, die
+Freiheit, die persönliche Freiheit so hoch halten, so wird man doch,
+wenn man will und kann, auch in das Kloster gehen und ein ruhiges
+beschauliches Leben führen dürfen? Unser Herrgott will nicht, daß
+der Mensch sich um Geld und Gut, um Lust und Ehre zu Tode hetze, er
+will auch nicht, daß einer Not leide, hungere, von anderen zertreten
+werde und zugrunde gehe, wie ein Wanderer bei den wilden Tieren in der
+Wüste. Denket doch an die übelriechenden Städte mit ihrem törichten
+Jagen; denket an die großen Fabriken, überfüllt mit Unzufriedenen und
+Mißgünstigen; denket an das kümmerliche, halbvertierte Leben in den
+Bauerndörfern -- und betrachtet euch diese friedensvolle Stätte des
+heiligen Hubertus, von lachenden Tälern und grünen Bergen umgeben, und
+wie wir hier leben in trauter Gemeinschaft mit allen großen Geistern
+der Erde und der Himmel. ~So~ zu leben ist Gotteswille, und daß
+wir den Himmel schon auf Erden anfangen sollen. Eigentlich gerade das,
+was die draußen auch angeblich wollen. Also warum gönnen sie uns nicht
+den Klosterfrieden? Und auch unser Freund Gregor hat unrecht, wenn er
+meint, der Christenmensch sei auf der Welt zur Selbstqual, anstatt zum
+Glücklichsein. Er soll das eine sein lassen und das andere bei uns
+versuchen. Fröhlich leben und selig sterben, das muß dem Teufel die
+Freud' verderben. Amen.«
+
+In fröhlichem Tone hatte der Pater also gesprochen, dann war er zum
+alten Hirtenbauer hingetreten, hatte ihm die Hand gekneipt, und er
+möchte die redlichen Worte nicht übelnehmen.
+
+»Hau,« sagte der Gregor, »so schön kann ich freilich nit. Da muß ich
+schon still sein. 's wird eh wahr sein, was ihr gesagt habt. Für's
+Gutleben laßt sich der Mensch gerne überzeugen, ich bin ganz bekehrt.
+Jetzt bleib' ich im Kloster, bitt' schön, kleidet mich ein. Und weil
+ich schon der Ältere bin, komm' ich vielleicht bei der nächsten
+Prälatenwahl dran. Will gleich anheben und Lateinisch lernen, hi, hi.«
+
+So war alles wieder ins Gemütliche übergegangen und als sie dann zur
+Vesper in die Kirche zogen, fand sich der Alte schon drein und während
+der Litanei dachte er, es wäre gescheiter gewesen, das Hirtenhaus auf
+der Niederalm dem Stifte Hubertsbrunn zu vermachen als dem groben
+Schwiegersohn, der sich mit seiner unfreiwilligen Elendigkeit doch
+nicht den Himmel, nur die Hölle kauft.
+
+Von diesem Tage an gefiel es ihm im Stifte besser und er fand, daß
+eine solche Vereinigung irdischer Freuden und himmlischer Beseligung
+eigentlich recht annehmbar wäre. Beten und Bußwirken könne ja auch
+jeder noch ein übriges. Der Klostergehorsam, nächtlicherweile doch
+manchmal aus dem warmen Bette aufzustehen zur Gebetstunde, hatte für
+ihn einen besonderen Reiz. Leider wurde er nicht geweckt, weil er ja
+nicht zum Orden gehörte, sondern nur Gast war. Dafür kniete er, wieder
+bange geworden, sonst lange Stunden auf dem kalten Kirchenpflaster und
+bat Gott in flehenden Gebeten um den rechten Weg in den Himmel. Sei der
+Weg dornig oder blumig, nur gottgefällig sein, das war sein einziges
+Verlangen.
+
+Da kam jene Nacht mit dem glühenden Atem Gottes. In einer Scheune
+war Feuer ausgebrochen und ein rasender Novembersturm hatte
+die brennenden Latten auf die Schindeldächer des Stiftsgebäudes
+gepeitscht. Die Flammen lohten nicht aufwärts, sondern gruben sich,
+vom Sturm geschärft, mit tausend Zungen pfeifend ins Gebäude ein,
+so daß nach kaum einer halben Stunde alle Fenster des weitläufigen
+Stiftes in weißem Lichte standen. Die Mönche huschten, nicht in ihrem
+priesterlichen Gewande, nur mit gekrümmten, schlecht verhüllten
+Körpern stumm oder angstvoll stöhnend durch die rauchigen, qualmenden
+Gänge, durch die Höfe, ins Freie; sie dachten nicht an die Güter, die
+verbrannten, sie dachten nicht an Gott -- ihr Einziges und Alles war
+die Rettung des nackten Lebens. Am nächsten Morgen war die Stätte
+ausgebrannt und aus hundert kahlen, dachlosen Mauern und geschwärzten
+Löchern stieg träger Rauch auf. Die Kirche allein war verschont
+geblieben und in der waren die Mönche versammelt, klagend, weinend,
+fröstelnd und schaudernd. Etliche brüteten stumpf vor sich hin. Andere
+verbanden mit feuchten Lappen ihre Brandwunden, wobei ihnen der alte
+Gregor beistand. Einer war da, der Pater Hubertus, der schüttelte
+fortwährend den Kopf und war sehr nachdenklich. Er hatte sonst manchmal
+an die Stunde des Unglücks, an Todesnot gedacht, aber so hatte er
+sich's nicht gedacht, daß man dabei ganz an alle Gottheit vergessen
+könne! Man rief wohl im Schreck die heiligen Namen, ohne auch nur
+flüchtig an die Himmlischen zu denken. Nicht einmal die Todesangst
+war eine christliche. Der stumpfe Instinkt des Tieres allein waltet,
+jagt dich, rettet dich. Und da fiel es ihm ein: Mensch, in solchen
+Stunden bist du just so gottlos und hilflos wie das arme Tier des
+Waldes, das du so oft verfolgt hast! -- Die Steinplatten der Kirche
+waren kalt und die Mönche hatten keine Decken, keine Kleider. Es kam
+der Hunger und sie hatten nichts zu essen. Ein Einziger war gefaßt.
+Auch dem Gregor war sein Bündel verbrannt, doch er fror nicht so sehr
+in seinem schlechten Nachtgewand, als die anderen, ihm tat der Hunger
+nicht so weh, ihn schüttelte die Verzweiflung nicht so arg, denn er
+hatte ja eigentlich nicht viel verloren. Er hatte nicht verloren die
+großen Vorratskammern, nicht verloren das heimliche Stübchen mit
+dem vergoldeten Marienbildnisse, nicht die fürstlichen Säle mit den
+Kunstwerken, nicht die Schriften der Weisen und der Dichter aller
+Zeiten. Da wollte er sagen zu den händeringenden Vätern und Brüdern:
+»Ihr habt ja doch wohl auch nix verloren, denn ihr habt ja nix
+besessen!« Aber er sagte es nicht, der Spott schien ihm zu herzlos.
+Umso eifriger wusch er die Brandwunden, deckte er die Fiebernden mit
+Stroh, machte Botengänge in die nächsten Ortschaften und tat, was er
+konnte. Sein Bruder, der Prälat, der auch nichts anderes hatte, als ein
+blaues Unterkleid, um sich zu schützen, der klopfte ihm einmal halb
+weinend auf die Achsel: »Bruder, jetzt bist du reicher und stärker
+als wir. Du bist das gewohnt, wir sind es nicht gewohnt. Und da wir's
+verloren und da wir jetzt nichts haben, deucht mich doch, es wäre unser
+Eigentum gewesen.«
+
+»Deucht dich, Bruder?« antwortete der alte Gregor. »Mich deucht auch.
+Aber wenn euer Christentum das richtige ist, so müßt ihr auch in
+schlechten Zeiten feststehen.«
+
+»Das werden wir auch, mein guter Gregor. Nur weh tut's, wenn's so
+plötzlich trifft. Das große Kreuz wird uns heilsam sein, wir wollen
+beten und uns kasteien.«
+
+Bald merkte es der alte Hirtenbauer, wie das gemeint war mit dem Beten
+und Kasteien. Wie Ameisen am zerstörten Haufen, so begannen die Mönche
+zu arbeiten, jeder in seiner Art. Was der Brand übrig gelassen, sie
+rafften es zusammen und bargen es; mehr war's, als man erwartet.
+Bauleute wurden herbeigezogen, anfangs für den Notbau, später für
+die Wiederaufrichtung des Stiftes, das allmählich aus seiner Asche
+herrlicher erstand. Wie Wunderbrunnen, so flossen die Hilfsquellen
+von allen Seiten, besonders von dem in der Welt weit verzweigten
+Orden. Die Mönche waren ohne Rast. Sie nahmen fürlieb mit spärlichster
+Kost; mancher brachte seinen heimlichen Pfennig herbei und gab ihn
+dem entstehenden Vaterhause. Der unermüdlichste und froheste aller
+Arbeiter war der alte Gregor. Jetzt konnte er nach Herzenswunsch
+»bußwirken«, nämlich Hand anlegen zum Wiederaufbau des Reiches Gottes.
+Nicht wie einst handelte es sich um eine melkende Kuh oder um einen
+fetten Ochsen, es handelte sich um eine Friedensstatt auf Erden.
+Brauchen ließ er sich überall, beim Steinegraben, beim Ziegeltragen,
+beim Karrnen und Zimmern und bei viel schlechteren Verrichtungen.
+Als sich niemand finden wollte, der auf den Dachgiebel das dreifache
+Kreuz trüge, gab er sich dazu her. Er sei in der Jugend auf allen
+hohen Bäumen der Niederalm umhergeklettert; fehle ihm jetzt gleichwohl
+die Eichhörnchengelenkigkeit, so werde doch der Schutzengel seine
+Schuldigkeit tun. An Nahrung und Verpflegung war er ganz anspruchslos.
+Lohn nahm er überhaupt keinen, sondern sagte, bei den Bauern sei der
+Brauch, daß die Kinder des Hauses umsonst arbeiteten.
+
+Der Prälat war schon lange wieder wohlgemut geworden, und so sagte er
+nun lachend einmal zu seinem Bruder: »Aber Gregor, wenn du immer so
+fleißig gewesen wärest, so müßtest du ein reicher Mann sein!«
+
+»Reich! Reich!« antwortete der Alte. »So ein schlecht Wort sollten
+Gnaden Herr Bruder nit im Mund haben!«
+
+Freilich hatte der Gregor ein heimliches Glück im Herzen, von dem er
+niemandem was sagte. Er war seines nagenden Kummers losgeworden. Das
+Ledersäckchen war ihm beim Brande abhanden gekommen, die fünf Dukaten
+verbrannt. Jetzt brauchte er sich nicht mehr zu fürchten, sie könnten
+seiner Seele schaden, sich nicht zu ängstigen, er könnte sie verlieren.
+Sie hatten seiner Seele geschadet, nun erst merkte er es recht. Nun
+war er frei. Alle Existenzsorgen hatte ihm ja der hochwürdigste Bruder
+abgenommen: »Du gehörst unserem Orden, Bruder Gregor, und daß du nicht
+Latein kannst, je nun! Du bist halt ein Wildling. Ein Wildling Christi.
+Ich meine, man könnte dich trotzdem weihen.«
+
+»Ich dank' dafür,« antwortete der Alte. »Bin einer Last glücklich los,
+will keine andere mehr haben. Wenn mir Gott zur Armut noch die Demut
+schenkt, dann bin ich aus dem Gröbsten heraußen.« --
+
+Nach fünf Jahren stand das neue Stiftsgebäude fertig und in hohem
+Glanze da. Jeder der dreizehn Mönche hatte es erlebt, nicht einmal der
+dreizehnte war gestorben. Einer von ihnen gestand, seit dem Unglücke
+fühle er sich ein wenig besser und stärker, er habe gelernt, etwas
+zu ertragen. Man stimmte ihm bei. Nur den Prälaten hatten die Sorgen
+der Wiedererrichtung alt und kränklich gemacht. Er erklärte, seine
+Würde und Bürde ablegen zu wollen. Alles war unschlüssig, ratlos
+darüber und mancher der Brüder verwahrte sich schon vorwegs gegen
+die Möglichkeit, Abt zu werden. Jeder wollte der Unwürdigste sein,
+vielleicht heimlich erwägend, daß gerade ~der~ erhöht werde, der
+sich selbst erniedrige. Bei der Wahleinleitung für seinen Nachfolger
+erzählte der Prälat die Geschichte von der Taube. Einmal bei einer
+Papstwahl zu Rom -- bei welcher, das wußte er nicht genau -- hätten die
+Kardinäle sich nicht einigen können. Da sei zum Fenster eine weiße
+Taube hereingeflogen, sei dreimal über den Köpfen der Versammelten
+herumgeflogen und habe sich dann auf das Haupt des Geringsten gesetzt,
+des Türhüters an der Pforte. Der sei auf diesen Wink Gottes zum Papste
+gewählt worden. »Und meine hochwürdigen Brüder,« so schloß der Prälat,
+»wenn heute auf dem Stifte Hubertusbrunn der heilige Geist in Gestalt
+einer Taube käme, um uns die Wahl des Oberen anzudeuten, auf wessen
+Haupt würde er sich setzen?«
+
+Die Brüder neigten sich und einer flüsterte dem andern zu: »Vielleicht
+gar auf das Haupt Gregors?«
+
+
+
+
+ Der mißratene Evangelist.
+
+
+In einer Tischgesellschaft von ernsten Männern kam eines Abends
+das Gespräch auf die Welttauglichkeit des Evangeliums. Mehrere der
+Anwesenden behaupteten, die christliche Lehre trage nicht allein die
+Bürgschaft der ewigen Seligkeit an sich, sondern auch das Glück der
+Erde, den Frieden in der Gesellschaft, das Gedeihen jedes einzelnen.
+
+Einer war da, der solches bestritt. »Wenn ~jedermann~ nach der
+christlichen Lehre lebt,« sagte dieser, »dann vielleicht. Dann gebe
+ichs zu, daß sie auch auf Erden zum Glücke führen kann. Anders ist
+es, wenn nur einzelne darnach leben. Für diese ist sie dann durchaus
+nicht förderlich, der einzelne geht vielmehr zeitlich daran zugrunde.
+Vorausgesetzt, daß es möglich ist, die Lehre in ihrer ganzen Strenge zu
+befolgen, macht sie den Menschen für die Aufgaben und Bestrebungen der
+modernen Gesellschaft ganz und gar unfähig, ja kann -- mißverstanden --
+auf Irrungen und Abwege führen, wovon ich ein Beispiel aus dem Leben zu
+erzählen wüßte.«
+
+Hierauf sagte ein anderer: »Wenn Sie ~ein~ Beispiel wissen, daß
+die Befolgung der christlichen Lehre auf Abwege leitet, so weiß ich
+hunderte und tausende von Beispielen, daß die ~Nicht~befolgung zum
+Verderben führt.«
+
+Nun, das sei selbstverständlich, meinten mehrere und sei längst
+bewiesen. Merkwürdig jedoch dürfte der Ausnahmsfall sein, wenn ihn
+jener erzählen wolle.
+
+Der Aufgeforderte sprach: »Da wohl nicht zu befürchten ist, daß das
+Schicksal des Helden meiner Geschichte einen von uns der christlichen
+Lehre noch mehr entfremden könnte, als es, wie wir uns kennen,
+wahrscheinlich ohnehin schon der Fall ist, und da sich ferner von uns
+wohl überhaupt keiner so wörtlich in die Bergpredigt einlassen wird,
+als es mein Herr Eberhard getan, so werde ich die Geschichte ohne
+jeden Widerspruch erzählen dürfen. Die Lehre, wenn man schon eine
+daraus ziehen wollte, könnte ja immerhin die sein: der eine ging an der
+Befolgung des Christentums nur deshalb zugrunde, weil es nicht auch die
+übrigen befolgten.«
+
+Und hierauf begann er zu erzählen.
+
+Im Landstädtchen K. lebte ein junger Buchhandlungsgehilfe namens
+Eberhard Roland. Er war aus einem Nachbarsorte eingewandert, nachdem er
+dort seine Mutter und seine Schwester begraben hatte. Das waren seine
+einzigen Verwandten gewesen, er hatte ihnen wacker leiden geholfen. Die
+Rolande waren einst eine geachtete Bürgersfamilie gewesen und dann von
+einem unermeßlichen Unglück heimgesucht worden. Ein Roland war nämlich
+einer schweren Gewalttat wegen zum Tode verurteilt und dann durch
+den Strang hingerichtet worden. Das war der Großvater des Eberhard
+gewesen. Von jener Zeit an war es mit der Familie abwärts gegangen,
+sie war entehrt, gemieden, verachtet. Das Geschäft stockte, ging zu
+Grunde, die Familie verarmte, brachte sich viele Jahre lang zwar
+redlich, aber kümmerlich durch. Man hatte nichts einzuwenden gegen die
+fleißigen Leute, daß aber jener Roland gehenkt worden war, blieb ihnen
+unvergessen und blitzte bei jeder Gelegenheit hervor. Eberhards Vater
+war als Leineweber in jungen Jahren gestorben, er selbst hatte die
+Buchbinderei gelernt und mit diesem Handwerk Mutter und Schwester recht
+und schlecht ernährt, bis beide bei einer Seuche in einer und derselben
+Woche verschieden.
+
+Seither wohnte Eberhard in der Stadt K., wo er vom Buchbinder zum
+Buchhändler aufstrebte, nachdem er es vorher mit mehreren anderen
+Erwerbsarten vergebens versucht hatte. Er war ein unruhiger Geist und
+sprang in Gegensätzen hin und her. Von einigermaßen beschaulicher und
+sogar schwärmerischer Naturanlage, trug er sich eine Zeitlang mit dem
+Gedanken, in ein Mönchskloster zu gehen, bis er in ein Bankgeschäft
+als Briefschreiber eintrat. In kurzer Zeit war er Buchhalter und hatte
+sich etliche hundert Taler Vermögen erspart. Da mietete er sich vor
+der Stadt einen Heuschoppen und begann mit Holz und Kohlen zu handeln.
+Als höchst anständiger Geschäftsmann bald bekannt, begann der Handel
+zu blühen, aus dem Schoppen ward ein stattliches Magazin, dem sich
+größere Lager anschlossen, aus dem schlichten Buchbinderjungen war
+ein geachteter Kaufmann geworden. Bei dem allein blieb es aber nicht.
+Von hübscher Gestalt und freundlichem Wesen, gewann er die einzige
+Tochter des Bankinhabers, bei dem er in Diensten gestanden und wurde
+ein wohlgesetzter Ehemann und Hausvater. Ein Jahr später kam ein
+kleines Kind und ein großer Treffer, er hatte in der Staatslotterie das
+Hauptlos gezogen. Jetzt war er auf einmal halber Millionär und wußte
+eigentlich selbst nicht, wie das zugegangen.
+
+Nun hatte in ihm aber sachte eine Änderung stattgefunden, die er wohl
+selber erst etwas spät bemerkte. Einst in armen Kreisen lebend, war er
+sehr mitleidig gewesen und hatte er schon in der Tat nur wenig Gutes
+tun können für die Notleidenden, so hatte er für sie doch stets ein
+warmes Herz, und das Wort der Teilnahme tröstete manchen Leidenden
+mehr, als eine Gabe auf die Hand. In dem Maße aber, als Herr Eberhard
+wohlhabend wurde, kühlte sich sein Gemüt ab für die Armen. Er war zwar
+wohltätig, gab Almosen, doch weniger aus innerem Drange, denn weil er
+sich als reicher Mann dazu verpflichtet fühlte. Die Armut vor sich zu
+sehen, war ihm unangenehm, und manchmal erschien sie ihm wie ein Makel,
+das etwa dem Leichtsinnigen oder Fahrlässigen anhaftet. Einst hätte er
+den hungernden Bettler sättigen mögen, ohne ihn erst seines Hungers
+wegen zur Rechenschaft zu ziehen, jetzt fragte Herr Eberhard schon:
+»Warum arbeitet Er nicht? Was hat Er getrieben, daß Er so verkommen
+ist?«
+
+Früher hatte er sich zu den wenigen Feierstunden in seinem Stübchen mit
+den paar Holzmöbeln und den kleinen Bildern seiner Mutter und Schwester
+an der Wand sehr heimlich und behaglich gefühlt. Jetzt in seinen reich
+ausgestatteten Gemächern war ihm einmal dieses, einmal jenes nicht
+recht und seine Wünsche und Bedürfnisse waren den Tatsachen immer um
+eine Spanne voraus. Manchmal empfand er die Last des Reichtums, die
+Last der damit verbundenen Pflichten, dann wieder kam es ihm vor, als
+nütze er seine Kraft, seinen Kredit, die Verhältnisse zu wenig aus und
+als sei es seine Aufgabe, noch reicher zu werden -- so reich als nur
+menschenmöglich. Er gönnte sich daher nur wenig Ruhe, rechnete, plante
+neue Unternehmungen, und wenn er dann zum Jahresschluß die Bilanz zog,
+soweit sie bei den ausgedehnten Besitzungen und Geschäften zu ziehen
+war, sah er immer mit freudigem Schreck, wie rasch die Millionen
+wachsen. Aber schon allemal in den nächsten Stunden fragte er sich,
+warum sie denn eigentlich nicht noch schneller wüchsen und was daran
+wohl die Ursache sein könne?
+
+In einer solchen Stunde, als er über den Teppich seiner Treppe
+herabstieg zum bereitstehenden Wagen, um auszufahren zur Sitzung in
+einem wohltätigen Verein, kauerte an der Pforte eine verwahrloste
+Bettlergestalt, schlotternd, mit eingefallenem, grünem Gesicht und
+verglastem Auge. Fast verstellte er dem Herrn den Ausgang, zudringlich
+hielt er seine mumienhafte Hand hin und verlangte ein Almosen.
+
+»Wie?« fragte Herr Eberhard aufgebracht über den vordringlichen
+Gesellen, »bin ich dem Kerl was schuldig? Arm? Aus Ihm riecht der
+Branntwein, dünkt mich. Warum arbeitet Er nicht? Schämt Er sich nicht,
+von anderer Leute Arbeit zu leben? Und frech?! Fort, Er ist mir
+zuwider, ich teile nichts!« Damit stieg er rasch in den Wagen, aber
+noch bevor der Diener den Schlag zuwarf, stürzte der Bettler zusammen
+und ein Blutquell sprang aus seinem Halse. Mit einem spitzen Messerchen
+hatte er sich den tödlichen Stich versetzt.
+
+Von diesem Tage an stieg der Reichtum des Herrn Eberhard nicht mehr.
+Nicht etwa, als ob auf dem Hause von nun an ein Fluch lastete, vielmehr
+ein Segen. Herr Eberhard hatte sich vorgenommen, mehr den Armen zu
+leben. Er verzichtete auf den bisher bezogenen großen Gewinn seiner
+Geschäfte und begnügte sich mit geringerem, den er nicht allein an
+wohltätige Anstalten, sondern auch an einzelne Arme verteilte. Dadurch
+aber wurde sein Geschäftshaus nur noch gesuchter und er konnte kaum
+so viel Wohltaten üben, daß der Reichtum nicht doch immer wieder
+stieg. Von seinem Katecheten hatte er als Knabe »Die Nachfolge
+Christi« zum Geschenk erhalten. Das war sein Lieblingsbuch gewesen in
+der leidensreichen Zeit seiner Jugend. Jetzt holte es Herr Eberhard
+wieder hervor und anstatt im Kurszettel las er im Erbauungsbuche. --
+Es war ihm ernst. -- Den schweren Prunk hatte er aus seiner Wohnung
+entfernt. Mit seiner Familie gab's Kämpfe, als es daranging, einen
+Überfluß um den anderen abzuschaffen, er aber sagte: »Meine Lieben,
+wir haben uns verirrt in die Wüste des Geldes, wir müssen umkehren und
+Menschen werden.« Die jungen Herrschaften mußten sich's wohl oder
+übel gefallen lassen, Menschen zu werden -- sie wurden es. Die Söhne
+entsagten dem Sporte, die Töchter dem Putze. Das taten sie aber erst,
+als Herr Eberhard ihnen eines Tages mitgeteilt hatte, bei einer großen
+fehlgeschlagenen Spekulation hätte er beinahe sein ganzes Vermögen
+verloren. In Wahrheit war dem nicht genau so, nur daß er selbst täglich
+tausende von Talern hinweggab an Armenhäuser, Krankenhäuser, Schulen,
+Kirchen und Bettler. Er arbeitete noch einige Stunden des Tages, die
+übrige Zeit verbrachte er, um Statistiken zu studieren, Armut und
+Elend zu erforschen und da sah er denn freilich, daß Armut und Elend
+über alle Maßen unergründlich sei, mit keinem Reichtum der Welt wett
+zu machen. Das ließ ihn nicht verzagt werden. Er wollte das Seine tun
+und sich ganz den Nebenmenschen opfern. Er las fleißig im Evangelium
+Christi: -- Selig sind die Armen im Geiste, ihrer ist das Himmelreich.
+Selig sind die Barmherzigen, sie werden Barmherzigkeit erlangen. Gib
+dem, der dich bittet, und wende dich von dem nicht ab, der von dir
+borgen will. Deine Linke wisse nicht, was deine Rechte tut und achte,
+daß dein Almosen verborgen bleibe. Sammle nicht Schätze auf der Erde,
+wo Rost und Motten fressen; sammle Schätze für den Himmel. -- Und wenn
+Herr Eberhard sich so versenkte in diese Lehren und sie befolgte, da
+atmete er oft wie erleichtert auf. Jener Sterbende an seiner Tür, er
+starrte ihn nicht mehr an mit seinem unendlichen Vorwurf, er blickte
+fast freundlich auf ihn ...
+
+An der Pforte des reichen Mannes drängten sich die Armen aller Art.
+Herr Eberhard unterschied nicht mehr strenge zwischen verdienter und
+unverdienter Armut, er half wo und wie er konnte. Dem einen zahlte
+er die Zinsen, dem anderen die Steuern, dem dritten schrieb er sich
+als Bürgen auf den Schuldschein. Einem Geldunterschlager, dem die
+Entdeckung drohte, gab er Geld zur Ersetzung des Abganges. Und wenn er
+von seiner Gemahlin, von seinen Kindern gefragt wurde, was denn die
+vielen Leute immer wollten, wenn sein Geschäft so ganz und gar ruiniert
+sei, so antwortete er: »Das sind eben die Gläubiger, die ihre Güter
+holen kommen, die ich ihnen bisher verwaltet habe.«
+
+Die Frau schwieg und blickte ahnungsvoll einer schlimmen Zukunft
+entgegen. Dabei war ihr aber süß, daß ihre Familie von der Bevölkerung
+geradezu vergöttert wurde, daß sie als die Gemahlin des reichen
+Wohltäters bei jeder Gelegenheit Ehren genoß, als wäre sie die Fürstin
+der Stadt und des Tales. Allerdings wurden im Hintergrunde auch Stimmen
+laut: Die Eberhardischen würden wohl wissen, warum sie so viel Gutes
+tun; sie könnten wohl noch mehr geben. Wenn so einer, wie der Eberhard
+hundert Taler gibt, die er nur aus der Kasse zu nehmen braucht, da
+ist's gerade so viel, als wenn der arme Mann einen Kreuzer schenkt. So
+einer kann eine Million verschenken und er tut sich nicht so weh, als
+wenn ein Armer ein Paar Stiefel versetzen muß.
+
+Herr Eberhard hörte von solchen Stimmen wenige, denn im Vordergrunde
+stand das laute Lob. Er kam sich selbst manchmal vor wie ein Heiliger,
+der aus Nächstenliebe die Güter der Erde hingibt. Seinen Kindern sprach
+er von der Unsittlichkeit ererbten oder nicht persönlich erworbenen
+Reichtums und wies sie an, ihren Lebensunterhalt sich selbst zu
+verdienen. Es ward ihm bitter hart, er kämpfte übermenschlich, ehe er
+sie verstieß, doch endlich siegte er durch den Ausspruch: Du sollst
+deine Familie verlassen und mir nachfolgen! -- Und er fuhr fort, die
+Reste seines Vermögens hinzugeben. Seine Gemahlin hätte ihn wohl
+rechtzeitig unter gerichtliche Aufsicht stellen lassen, wenn sie von
+seiner Darstellung, als wäre längst durch unglückliche Spekulation
+alles verloren worden und die seitherigen Weggaben seien nichts als das
+Zurückstellen aufbewahrten Geldes, sich nicht hätte irreführen lassen.
+Nun fiel sie ihm freilich um den Hals und sprach: »Lieber Mann, wir
+werden noch selber betteln gehen müssen.«
+
+»O kurzsichtiges Menschenkind,« sagte zu ihr Herr Eberhard, »denke
+an das Wort des Heilands: Wer zwei Röcke hat, der gebe den einen
+davon dem, der keinen hat. Siehe die Blümlein auf dem Felde, sie säen
+nicht, sie ernten nicht, und der himmlische Vater ernährt und kleidet
+sie doch. Wenn mir ein kleines Dachstübchen bleibt, wie ich es einst
+besessen, dann bin ich schon zufrieden.«
+
+Darauf vergingen noch wenige Jahre, dann war sein Ziel erreicht. Herr
+Eberhard wohnte in einem schiefwändigen frostigen Dachstübchen. Und
+wenn seine Frau, die auf dem Siechenbette lag, seinen Rock flicken
+wollte, so konnte er nicht ausgehen, um Lebensmittel zu sammeln,
+denn er hatte nur einen Rock. Seine in der Jugend verweichlichten
+Söhne hatten dem harten Existenzkampfe nicht standzuhalten vermocht
+und waren verkommen, die Töchter hatten sich einem Gewerbe ergeben,
+das ihnen unmöglich machte, noch einmal unter die Augen der Eltern
+zu treten. So waren die zwei alternden Leute nun ganz allein. Herr
+Eberhard hatte in seinem Dachstübchen aber doch die Beschaulichkeit
+und den Herzensfrieden nicht wieder gefunden, den er sich erhofft.
+Sein christliches Wohltun -- wie Schuld pochte es nun manchmal an sein
+bangendes Herz, besonders wenn er an die verlorenen Kinder dachte.
+Dazu ward er täglich beleidigt von der Roheit derer, zu denen er
+bittend kam; sie nannten ihn einen Verschwender, dem jetzt ganz recht
+geschehe. Von den nachgerade zahllosen Leuten, denen er einst Gutes
+getan im großen wie im kleinen, waren nur wenige vorhanden; von diesen
+entschuldigte sich der eine mit eigenen Sorgen, der andere reichte
+ihm widerwillig eine kleine Gabe und den guten Rat, sich doch selbst
+wieder etwas zu verdienen, auch der Hände Arbeit schände nicht. Von
+der Verehrung, die er einst genossen in der Gegend, war nichts mehr
+übrig geblieben, ja man erinnerte sich nun wieder, daß der Taugenichts
+doch im Blute liegen müsse, da ja sein Großvater stranguliert worden
+sei. -- Für solche Herzensbitterkeit fand Herr Eberhard in seinem
+Evangeliumbuche keinen rechten Spruch. Und bei den schönen Worten von
+der Seligkeit der Sanftmütigen, Traurigen und Verachteten war ihm, als
+paßten sie nicht auf seine Verhältnisse, als habe der Heiland eine so
+ungeheuerliche Undankbarkeit der Welt nicht voraussetzen können.
+
+Eines Tages kam ein gerichtlicher Auftrag, Herr Eberhard Roland habe
+tausendfünfhundert Taler zu zahlen für eine Bürgschaft, die er einst
+geleistet. Darauf antwortete er: »Machet, was ihr wollt, ich habe
+nichts.« Da erschien nach einem Weilchen ein Gerichtsbeamter mit zwei
+Dienern, und mit ihnen der Gläubiger, ein reicher Bäckermeister von
+K. Dieser riß seine große, mit Banknoten wohlgefüllte Brieftasche
+aus dem Sacke, zog aus derselben aber keine Banknoten, sondern den
+Schuldschein, unter dem Herr Eberhard als Bürge stand. Der Bäcker
+schimpfte und fluchte eine Weile über den voreinstigen Prasser und
+Windbeutel, der jetzt von anderer, von ehrlicher Leute Arbeit leben
+wolle und dann wurden die wenigen Möbel und Einrichtungsstücke in
+Beschlag genommen und dem Herrn Eberhard die Wohnung gekündigt.
+
+Am rechten Arm ein Bündel, am linken sein krankes Weib, so wankte
+Herr Eberhard hinaus. Bei wohlhabenden Leuten klopfte er an, die
+einst seine Nachbarn gewesen, sie hatten Ausflüchte. Eine alte arme
+Tabaksverkäuferin, die selber fror in ihrer Bude, lud die armen Leute
+ein, bei ihr zu rasten. Dem Herrn Eberhard aber war jetzt nicht
+ums Rasten; als er sein Weib in die Obhut der Ständlerin gegeben
+hatte, ging er hinaus in die Auen. In ihm war ein unerhörter Sturm.
+Er verfluchte nicht die undankbaren Menschen, nein, er wütete in
+grenzenloser Bitterkeit gegen das Evangelium, dem er so gläubig und
+opferwillig gefolgt war, und das ihn dahin geführt hatte, wo er sich
+jetzt befand.
+
+Dem Mühlbache ging er entlang. Da fiel ihm etwas ein. Er schlug
+es rasch von sich, sein Weib konnte er nicht verlassen. Aber was
+sonst? Was nun sonst? -- Nach langem Irren kehrte er um gegen die
+Stadt, es begann schon das Dunkeln des Abends. Vor sich sah er einen
+großen dicken Mann dahinwackeln, sein Stöcklein bei jedem Schritt
+gar selbstbewußt auf den steinigen Boden stoßend. Das war der
+Bäckermeister, der ihn vorher entheimt hatte. Er war wohl bei seiner
+Mühle draußen gewesen. Dem Herrn Eberhard wurde das Blut rasend, als
+er in diesem Manne gleichsam verkernt seinen ungeheueren Irrtum, sein
+Unglück sah. Der Bäcker war durchaus nicht christlich; er war hart
+und rücksichtslos, er zertrat unbedenklich Existenz um Existenz, wenn
+er daraus Nutzen ziehen konnte. Und wie ging's ihm gut und wie lief
+er sogar nicht Gefahr, einmal zu verarmen, einmal die Achtung der
+Mitmenschen zu verlieren. Hatte er diesen Bäcker nicht einst selbst aus
+einer großen Geschäftsverlegenheit gerissen? War das Geld seiner heute
+gefüllten Brieftasche nicht vielleicht Eberhards Geld? Konnte er es
+nicht wieder zurücknehmen jetzt ...?
+
+Plötzlich bückte sich Herr Eberhard, hob einen scharfkantigen Stein auf
+und schleuderte ihn nach dem Kopfe des Bäckers. Dieser stürzte fast
+zusammen.
+
+Herr Eberhard vergaß, weshalb er den Stein geworfen, ließ den
+Sterbenden liegen und ging der Stadt zu, um sich dem Gerichte zu
+stellen. Da lief ihm jemand nach und flüsterte: »Herr Eberhard! Herr
+Eberhard! Sie wollen Ihrem Großvater nach! Das dürfen Sie nicht.«
+
+Herr Eberhard blieb stehen und fragte den etwas unheimlich aussehenden
+Mann, was er wolle.
+
+»Nein,« wiederholte dieser, »das dürfen Sie nicht. Den Bäcker nehme
+ich auf mich. Wissen Sie noch? Der Geldunterschlager auf der Post! Der
+Fundler!«
+
+»Der Johann Fundler sind Sie? Jener Johann Fundler.«
+
+»Der bin ich. Und wissen Sie, was Sie damals gesagt haben, wie Sie
+mir die veruntreute Summe vorgestreckt? Der Herr im Himmel freue
+sich über ein verlorenes Schaf, das gerettet werde. Ich bin wieder
+ein ordentlicher Mensch geworden damals, ohne daß jemand eine Ahnung
+hatte, daß ich ein Lump gewesen. Und habe noch manch glückliches Jahr
+genossen.«
+
+»Wollen Sie mir jetzt etwa das Geld zurückzahlen?« fragte Herr Eberhard.
+
+»Das kann ich nicht.«
+
+»Ich brauch's auch nicht.«
+
+»Ich habe weniger als nichts,« sagte der Postbeamte, »ich habe wieder
+gestohlen und die Polizei ist mir schon auf den Fersen, jetzt hilft mir
+nichts mehr, und deswegen nehme ich auch gleich den Bäcker auf mich und
+Sie sind so gut und streichen mir die Schuld.«
+
+So hatte der Mensch in hastigen Stößen gesprochen und dann eilte er
+dahin.
+
+Herr Eberhard lehnte sich an den Stamm einer Wildkastanie. -- Also doch
+noch Dankbarkeit!
+
+Spät abends kam er zu seinem Weibe zurück, das in der Kammer jener
+Tabakverkäuferin auf einem alten Tuchmantel lag, und zu ihr sagte
+er: »Wärest du nur bei mir gewesen auf diesem Spaziergang, so hätten
+wir in Zukunft beide ein Quartier, nicht bloß ich allein. Weißt du
+etwas Neues? Just haben sie den toten Bäcker vorbeigetragen, der uns
+gepfändet hat. In der Au mit einem Stein erschlagen. Der Postbeamte
+Fundler will's getan haben. Der Fundler ist ein Lügner. Ich werde es
+den Herren schon beweisen, daß der Fundler ein Lump ist. Aber dieser
+schlechte Lump ist der bravste Mensch in der ganzen Stadt. -- Er ist
+dankbar.«
+
+Am nächsten Tag wurde das Weib ins Armenhaus gebracht und Herr Eberhard
+ins Gefängnis. Er hatte tüchtig zu tun gehabt, seinem dankbaren
+Postbeamten den erschlagenen Bäcker zu entwinden; es schien auch so
+unglaublich, daß Herr Eberhard einen Mord sollte begangen haben. Er
+legte einen freiwilligen Eid drauf ab. Ob's ein Rachemord oder ein
+Raubmord hätte sein sollen, das wüßte er selber nicht. -- Und nun
+hatte er wieder seine Beschaulichkeit. Nun konnte er nachdenken, warum
+er eigentlich dem Heiland bis zum Dachstübchen nachfolgen wollte,
+und nicht weiter -- nicht bis zur Kreuzigung? Warum er denn seine
+gesellschaftliche Stellung, sein Vermögen, ja selbst seine Familie
+hingeopfert hatte, um dem Evangelium gerecht zu werden, wenn er dann
+doch auf einmal der menschlichen Natur nachgab? Jetzt sah er, wohin
+die Nachfolge Christi führt: Wenn man dem Heiland auf dem ganzen Wege
+nachfolgt, so kommt man freilich in den Himmel, wenn man auf halbem
+Wege ablenkt, so kommt man in den Kerker. Und das passiert manchem.
+
+So der Erzähler. Die Gesellschaft schwieg.
+
+
+
+
+ Der alte Adam.
+
+
+Mit vernünftigen Gründen vermag die Weiserin Natur bei uns vernünftigen
+Leuten selten was auszurichten, und so steckt sie sich zuweilen hinter
+Sonderlinge und Narren; denn nur den Unverständigen belehrt der
+Vernünftige, des Weisen Lehrmeister aber ist und bleibt in Ewigkeit der
+Narr.
+
+Allerdings scheint es, als hätten die Strubacher-Leut' vom Lehm-Lamel
+nicht viel gelernt; der Lamel war gerade noch um ein halb Köpflein zu
+vernünftig für sie.
+
+In vergangenen Jahren war er eigentlich gar sehr vernünftig und
+tüchtig gewesen, der Lamel. Er besaß eine Lehmgrube, die ihm guten
+Gewinn und den Namen Lehm-Lamel eintrug; zu Recht aber war er Wegwart
+an der Reichsstraße, die damals in weißen staubigen Bändern mit
+Wagengeknarre, Rossegewieher, Fuhrmannsgeschrei, Peitschengeknatter
+und Handwerksburschengetriller durch die Länder schlängelte. Damals
+war noch die Zeit, in der die Dörfer und Flecken groß, die Postmeister
+reich, die Wirte dick wurden, die Städte aber, durch steinerne Gürtel
+zusammengeschnürt, an Engbrüstigkeit litten.
+
+Damals sind Wegwarte bedeutende Leute gewesen, ohne sie hätte das
+Räderwerk der Straße, des Landes, des Reichsverkehres gestockt, wäre
+versunken in Schlamm. Der Lamel hatte seine Pflicht wohl erfüllt, seine
+Strecke war stets die bestgeschotterte, auch hatte er an derselben
+eine Allee von Obstbäumen gepflanzt, wofür er anfangs gerügt, später
+aber, als sie zwar nur wenig Schatten, aber um so mehr Obst gaben,
+belobt wurde. Und er freute sich baß, wenn ihm Handwerksburschen Äpfel
+und Zwetschken stahlen, weil er wohl wußte, daß verbotene Früchte süß
+schmecken. So war er stolz auf sein süßes Obst, das geschenkt oder
+selbst gegessen schier ein wenig stark säuerlich schmecken wollte.
+
+Auch um sein Haus hatte der Lamel einen Garten von Obstbäumen; der war
+seine Erquickung, denn die Bäume trugen Äpfel, die ließ er pressen, den
+Most wahren und gären, und wenn das Getränke klar und herbe geworden,
+so trank er es als echten Wein. Und der Apfelwein -- dem Vater Noah zu
+Trutz sei's gesagt -- gab dem Traubenwein nichts nach, hingegen gab
+der Lamel dem Apfelwein nach, und zwar nicht selten auf Kosten seiner
+Selbständigkeit.
+
+Auf die kleine Schwäche müssen wir einen großen Vorzug erwähnen. Der
+Lamel war schriftgelehrt und ging in den Feierstunden daran, die sieben
+Siegel der Bibel zu lösen, wobei ihm der Apfelwein stets behilflich
+war, so daß er schließlich die Offenbarungen des heiligen Johannes
+leibhaftig um sich herumtanzen sah, mitsamt den vier Ältesten und dem
+Lamel.
+
+Eines Abends sprach ein alter hinkender und schielender
+Handwerksbursche im Hause des Wegwarts zu, nahm am Brunnen einen Trunk
+und wusch sich hierauf den Staub von den Füßen. Weil der Wegwart nicht
+weit davon stand und dem Alten lächelnd zusah, so wurde dieser dreist
+und bat um Nachtherberge. Bei Wegwächtern kehrt man sonst nicht zu,
+aber der Lamel wollte auch einmal ein Hausvater sein und sagte: »Hat Er
+ein Wanderbuch?«
+
+»Ein Wanderbuch?« fragte der Geselle schielend entgegen, »-- ein Wander
+-- -- das heißt -- ja freilich, freilich hab' ich ein Wanderbuch.«
+
+Der Lamel nahm das blau eingebundene Ding in Empfang, legte es in
+seinen Schrank und ließ dem Fremden Nachtmahl und Nachtlager geben.
+
+Am anderen Morgen, noch ehe die Sonne und der Lamel aufgingen, war
+der alte Wanderbursche davon und mit ihm das neue Paar Juchtenstiefel
+des Wegwart. -- Fand es eigentlich soweit in Ordnung, der Lamel, denn
+gute Stiefel müssen wandern und ein echter Haderlump muß stehlen. Aber
+wie ein Mensch so leichtfertig sein kann, sein Wanderbuch im Stiche
+zu lassen! -- Das blaue Buch lag noch im Schranke, der Lamel öffnete,
+durchblätterte es -- ja, was ist denn das für ein wunderlich Wesen?
+Ein Wanderbuch allerdings, aber ein gedrucktes. »Das Buch über die
+Seelenwanderung« war es benamset und bei näherer Untersuchung enthielt
+es große Abhandlungen in langen Kapiteln mit geheimnisvollem Dunkel und
+tiefer Weihe geschrieben. Der Verfasser war nicht genannt -- so konnte
+es auch der heilige Geist selber diktiert haben.
+
+Und als wieder die Feierstunden kamen, da schaffte sich der Lamel einen
+Krug Weines ins Stübchen und begann das Buch von der Seelenwanderung
+zu lesen. Das erzählte fürs erste die Geschichte des Glaubens an die
+Seelenwanderung, wobei natürlich viel von den alten Ägyptern die Rede
+war, kam auch später auf das Feld der Spiritisten. Und schließlich
+verharrte das Buch gläubig bei folgender Lehre:
+
+»Jene Engel, die im Himmel sich versündigt hatten, verstieß Gott in
+eine Ödnis, so die Erde heißet. Auf der Erde lebten die Verstorbenen
+in Leibern aus Lehm und waren anheimgestellt der Drangsal und sollten
+ihren Fehltritt sühnen, bevor ihr Leib wieder zu Lehm sich lösete.
+Wenigen gelang es, in ihrer irdischen Natur, sozusagen in einer Hülle
+von Kot, sich zu reinigen; denen es gelang, die wurden wieder in die
+Himmel aufgenommen; denen es nicht gelang, die mußten von neuem in
+irdische Leiber zurückkehren, und dies immer wieder und so lange, bis
+sie durch Not und Trübsal genugsam rein geworden, etwas Großes hier
+gewirkt hätten und endlich dereinst in die Himmel aufgenommen werden.
+So ist das Menschengeschlecht entstanden und so muß es fortbestehen,
+bis der letzte Engel seinen letzten Fehl, er rühre noch vom himmlischen
+Reiche oder von seinem vorhergegangenen Erdenleben her, gesühnt
+hat. Zum Beispiel Abraham, Moses, Paulus, Mohammed, Karl der Große,
+Kolumbus, Schiller usw. gehören nun zu den Erlöseten, die, wie oft
+sie auch früherhin in Erdenleibern gewesen sein mögen, ihre Büßerbahn
+erst mit dem Dasein, in dem sie das Große gewirkt, beschlossen haben.
+Hingegen, um nur weltberühmte Übeltäter zu nennen, zum Beispiel Pharao,
+Herodes, Nero, Alexander V., Napoleon und andere haben mit diesen ihren
+Existenzen nicht abgeschlossen, müssen so oft und so lange wieder in
+menschliche Leiber zurückkehren, bis nicht allein ihre Verbrechen in
+den Himmeln, sondern auch ihre bösen Taten auf Erden gebüßt sind. Wie
+oft, Leser -- so schaltete das Buch packend ein --, magst du schon auf
+Erden gewesen sein? Wer weiß es denn, ob du nicht der Kain warst, oder
+Alexander der Große geheißen, oder Pontius Pilatus, der unsern Herrn
+ans Kreuz schlagen ließ, oder Robespierre, der Wüterich von Paris? Der
+Urvater Adam selbst kann heute noch auf Erden wandern, etwa in deinem
+Gebietiger (so zu lesen), der dich schützt und schlägt, etwa in dem
+Bettelmann, der dich um Almosen anfleht, etwa in dir, in deinem Sohne!«
+--
+
+Fast hätte der Lehm-Lamel über das merkwürdige Buch des Apfelweines
+vergessen. ~Das~ war ein Buch. Das leuchtet ein. Ja, jetzt
+ist das Rätsel gelöst. Darum die Welt, darum die vielen armseligen
+Menschen, darum die wenigen großen Taten und darum das Sprichwort
+von einem großen Wohltäter: »So einer kommt nicht wieder!« Und das
+Böse wird bestraft und das Gute belohnt und die Erde ist eigentlich
+das Fegefeuer. Wie das stimmt! -- Und ein solches Licht für ein paar
+Juchtenstiefel! Wer weiß! Der alte Handwerksbursche kann ein guter
+Engel gewesen sein; man kann's nicht wissen -- gar nichts kann man
+wissen auf der Welt, als was in diesem Buche steht.
+
+Und wieder und immer wieder las der alte Wegwart in der wunderlichen
+Schrift. Oft sann er lange und ernstlich über sich selbst. -- »Jetzt
+steht die Welt schon sechstausend Jahr', und du bist noch nicht
+fertig, Lehm-Lamel, gefallener Engel, bist noch immer da? An die
+neunzig Menschenalter sind seit der Erschaffung der Welt, hast sie
+alle durchgemacht und bist erst noch nichts als der dumme Wegwächter,
+dem alle Rösser der Welt auf die Arbeit pissen. Was hast denn immer
+getrieben, du Haderlump? Viel mag ich nicht wetten, du bist bei den
+Zigeunern gewesen ...«
+
+Er las sich streng die Leviten und trank Apfelwein dabei, und
+tatsächlich, es war ihm zumute, als hätte er auch vor mehreren tausend
+Jahren schon aus dem Kruge getrunken -- zu Noahs Zeiten -- nur bedünkte
+ihm, der Wein wäre damals nicht ganz so sauer gewesen als heute. --
+Der Wein hat auch seinen Geist; seine Seele demnach. Wie wenn auch
+diese wanderte? Der Saure, der Gewässerte, der künstlich Gezuckerte und
+Durchgeistigte -- nimmer erfüllte er seinen Beruf, er muß noch einmal
+in die Kelter. Aber der Apfelwein ist ohne Falsch und vermag -- wenn
+man betrachtet, wie der kräftige Lamel zuweilen auf dem Boden liegt --
+Großes zu vollbringen. -- So wird der Apfelwein über kurz den reinen
+Geistern beigesellet sein ...
+
+Der Lamel war bisher Junggeselle geblieben, so war fürs erste niemand
+da, der zu seiner seelischen Reinigung beitrug, und der ihn fürs zweite
+in seinen Grübeleien zerstreut hätte. Also verbiß er sich immer mehr
+in das Buch von der Seelenwanderung, und also wurde er allmählich ein
+Narr. Die Idee, ob er nicht etwa doch einer aus dem Alten Testamente
+sei -- er las nebenbei auch immer die Bibel -- und ob nicht gar die
+Seele des unerlösten Adam in ihm stecke, trug er lange mit sich herum.
+Und in seiner Vermutung wurde er bestärkt, als er sich jählings in ein
+junges Weib verliebte. Er war noch nicht zweimal zwanzig Jahre alt und
+durchaus, vom Fuß bis zum Kopf, ein Wegwart, der sich sehen lassen
+durfte. Sie war eine Kalkbrennerin in der Gegend; die schöne Strinerl
+geheißen; ihre Haare waren so gelb wie das Korngehalme auf dem Felde
+zur Zeit, wenn der Schnitter kommt. Ging der Lamel zur Schnittzeit über
+die Felder, so las er nicht ungerne die bauchigen Körnlein aus den
+Ähren und zermalmte sie mit seinen urtüchtigen Zähnen. Und dachte dabei
+an den Schatz.
+
+Aber -- Lehm-Lamel-Adam, kannst du dich denn nicht mehr erinnern, das
+voreinstmalen die goldhaarige Eva schuld war an deinem Falle, an deiner
+Austreibung aus dem Paradiese und an deiner ruhelosen Seelenwanderung
+durch die Geschlechter der Menschen? -- Der Apfelbiß in der Bibel!
+nichts als Blumensprache, du weißt es recht gut. Lehm-Lamel-Adam! Was
+zieht doch täglich für ein Volk die Straße entlang, an dir vorbei?
+Ein unselig Volk von Bettlern, Vagabunden, Tagedieben! Dort wankt
+ein Blinder, geführt von seinem halbnackten Kinde; dort schleppt ein
+kraftloses Maultier einen lahmen Mann; dort geleiten Schergen einen
+Übeltäter heran und drüberhin flattern und krächzen die Raben. Hier
+sprengt mit Roß und Wagen ein anderer Übeltäter vorüber; dort liegt ein
+Waisenknabe im Straßengraben und ächzt. Sechs schwarze Hengste führen
+die Leiche eines reichen Selbstmörders ihrer prunkenden Gruft zu. Dort
+am Steinhaufen kauern Mann und Weib und Kinder in Lumpen; die Kinder
+schreien nach Brot, der Mann verflucht sein Geschick. Und hier wankt
+ein Enttäuschter, Vernichteter des Weges zurück, den er vor kurzer Zeit
+erst mit fliegenden Plänen und Hoffnungen gezogen. Und so zieht's Tag
+für Tag und Jahr für Jahr die breite Straße entlang; ganze Kriegsheere
+dazwischen, ausfahrend, um zu morden und zu rauben. Und das -- all das
+ist das Menschengeschlecht. Adam, das ist deine Sippe! -- Und wiederum
+gehst du auf Freiersfüßen, anstatt anzupacken, daß die ganze mißratene
+Brut vertilgt werde!
+
+So schrie das Gewissen dem Wegwart in die Ohren.
+
+Es war nur ein alter Eseltreiber, der eines Tages beim Wegwart zusprach.
+
+»Lehm-Lamel!« rief er durchs Fenster hinein, »weißt du schon, daß
+die Strubacher-Leut' nicht mehr sprechen können? Sie heißen dich den
+Lahm-Limmel.«
+
+»Treib' deine Esel in meinen Obstgarten,« sagte der Lamel, »und setz'
+dich zu mir, ich muß dir doch etwas aus diesem Buche vorlesen.« Dann
+hub er an und teilte dem Treiber die Lehre von der Seelenwanderung mit.
+-- »Und für ein Paar Stiefel hat mir ein Landstreicher dieses Werk im
+Haus gelassen!«
+
+»Der hat gewußt, was er getan hat,« rief der Eseltreiber und schlug mit
+der flachen Hand aufs Buch, »aber Leder ist hier ~mehr~ drin.«
+
+Als sie tiefer in das Gespräch kamen und der Lamel mitgeteilt hatte,
+daß mutmaßlich die Seele des Adam aus dem Paradiese in ihm stecke,
+neigte der Treiber zustimmend den Kopf. Und als sich jener Rates holte,
+was er denn eigentlich werde tun müssen, um sich zu erlösen, sagte
+dieser: »Luderleben sollst keins führen, das ist die verbotene Frucht.
+Selbst meine Esel möchten Heu haben und müssen Stroh fressen. Aber das
+Müssen gilt nicht. Wer's freiwillig tut, dem ist's ein Verdienst.«
+
+»Ich hüte mich wohl,« sagte der Lamel, »da schau meine Obstbäume an,
+die schönsten Äpfel, die prächtigsten Äpfel! Du, ich sag' dir, nicht
+einen einzigen ess' ich im Jahr. Gott hat schon im Paradiese den Apfel
+verboten.«
+
+»Geh,« lachte der Eseltreiber, »du bist schlau, die Äpfel ißt du nicht,
+aber ihren Saft pressest du heraus und damit trinkest du dir die
+Räusche!«
+
+Schier zu Tode erschrak der Lamel über diesen Vorwurf; er sah es
+plötzlich ein, der Eselmann hatte recht, im Apfelwein genoß er die
+verbotene Frucht.
+
+Und von dieser Zeit an hatte sich der Wegwart fest vorgenommen, nicht
+einen Tropfen des falschen Getränkes mehr zu trinken, als bis er im
+Reiche Gottes zur »Rechten« säße. Es gelang ihm eine erkleckliche
+Weile, seine argen Gelüste zu zähmen und seinen sündigen Menschen
+zu verleugnen, und er hatte schon gegründete Hoffnung, daß Adams
+langwierige und langweilige Seelenwanderung in dem schlichten Wegwart
+endlich ihren guten Abschluß finden würde.
+
+Da war einmal ein heißer Sommertag und da kam die schöne Strinerl
+die staubige Straße gegangen. Sie sah den Schatten in des Wegwarts
+Obstgarten, sie hörte den Brunnen rieseln; so trat sie in den kleinen
+Hof, um zu trinken.
+
+Schon hielt sie die braune, hohle Hand unter den klaren Strahl, als sie
+der Lamel vom Fenster aus bemerkte.
+
+»Närrchen, Närrchen!« rief er, »was wirst Wasser trinken! Ich habe
+einen guten Apfelwein im Keller, ich selber brauch' ihn nicht; für wen
+hätt' ich ihn, Dirndl, als für dich?«
+
+Er eilte in den Keller, entspundete ein Fäßchen und steckte einen
+Schlauch hinein, um die Gottesgabe in den bereiten Krug herauszuheben.
+Doch, als er mit dem Atem hob und als es kühl und feucht wurde unter
+seinem lechzenden Gaumen, da kam er ins Saugen und der Wein ging durch
+den Schlauch geradewegs in seine Gurgel. Er trank herzhaft drauflos,
+vergaß die gelblockige Strinerl, vergaß den Adam, trank und trank die
+langentbehrte Labe -- trank und sank endlich auf den kühlen Lehm des
+Kellers hin.
+
+»Lamel!« lallte er schläferig, »war ~das~ ein Durst! Und er ist
+noch -- nicht gelöscht. Will ihn gründlich löschen -- den Durst, weil
+ich schon dabei bin. -- Strinerl, komm' her! -- 's hilft nichts dafür,
+der Mensch ist wie er ist. Er mag sich drehen und spreizen wie er will,
+er mag ein Röckel tragen, blau oder rot. Oder gar keins. Er mag sich
+die Haut umwenden. Mag auf dem Fuß stehen oder auf dem Kopf. 's ist
+alles eins. 's ist und 's bleibt der alte Adam ...«
+
+
+
+
+ Der Säemann.
+
+
+Seit Jahrhunderten gab es im Tale keinen merkwürdigeren Mann als den
+Samstag-Christof. Er hätte dreimal Anrecht gehabt auf das Spital, denn
+er war übel geboren. Eine Krankheit hatte ihn zugerichtet, er war
+stocktaub und einäugig und hatte eine verstümmelte rechte Hand. Aber
+seine Linke war gesund und ernährte drei Gemeinden. Der Christof war
+arm und wohnte unter dem Strohdach einer Scheune. Als Knabe entsprang
+er dem Krankenhause, in das ihn der Vormund nach dem Tode der Eltern
+gesteckt hatte; die erste Nacht nach seiner Flucht verschlief er in der
+Scheune, und seitdem war diese sein Daheim gewesen, und er hatte in ihr
+seinen ersten Bart und seine weißen Haare erwartet. Aus Stroh hatte er
+sich ein Stübchen geflochten, das sah aus wie ein mächtiger Korb, und
+hielt die Kälte und Hitze ab. Das Stroh beschützte den Mann ja gern,
+denn jeder Halm verdankte ihm das Leben und die Ähren ließen gerne ihre
+rundesten Körner dem guten Christof zum Brot. Der Mann war eine Gestalt
+zum Erbarmen; aber es gab keinen Amtmann weit und breit, der so geehrt
+und in sich so glückselig war, als der Samstag-Christof.
+
+Der Samstag-Christof war wie die Kraft Gottes, des Schöpfers, könnte
+man sagen; worüber er seine Hand ausstreckte -- und es war doch nur
+die linke -- das wurde gesegnet. Man wußte nicht, woher es kam, es war
+eine angeborene Eigenschaft; Christof war der berühmteste Säemann im
+ganzen Bergland. Es gab sehr geschickte und erfahrene Bauern im Tal,
+sie hatten -- darüber war nicht zu klagen -- fleißige Hände und volle
+Speicher, sie verstanden das Ernten -- aber das Säen verstanden sie
+lange nicht immer. Einmal ging das Korn zu dicht auf und erstickte
+sich, das andere Mal standen die Halme schuhweit auseinander und jede
+Ähre hatte ein ganzes Ländchen für sich -- dafür trugen sie auch den
+Kopf hoch und waren leer und spießig, statt voll und glatt. Oft waren
+mitten in den Äckern leere Gassen, durch die Roß und Wagen hätten
+ziehen können, ohne ein Hälmlein zu beschädigen. Ein Sträfling kann
+die Gassen, durch die er Spießruten laufen muß, kaum stärker hassen,
+als der Bauer solch eine leere Gasse durch sein Kornfeld haßt. Die
+Samenkörner mit vollen Händen hinzuwerfen, ist freilich leicht, aber
+das Erdreich ist braun und die Körner sind braun, und es ist schwer,
+die Gleichmäßigkeit einzuhalten, daß kein Fleckchen leer bleibt oder
+keine Handvoll auf die andere fällt. Gute Augen, ein gleicher Schritt
+und eine sichere Hand gehören dazu.
+
+Der Samstag-Christof hatte nur ein einziges Auge, das gewiß nicht über
+die Ecke der Nase sah, und er hatte sichelkrumme Füße, und er hatte nur
+die »dengge« Hand, und dennoch blieb, wenn er säete, auf dem ganzen
+weiten Felde keine Handbreit leer und kein Korn fiel auf das andere.
+Wenn auf Christofs Acker der Same aufging, so war das so gleichmäßig
+wie eine grünende Wiese, und wenn er reifte, legte ein Halm seine
+schwere Ähre auf die Achsel des andern.
+
+Darum suchten alle den Christof auf in seinem Strohkorbe, darum tat der
+Christof im Frühjahre und Herbste zwei Monate nichts als säen, und er
+säete auf allen Feldern des ganzen weiten Tales. Da trug er ein großes,
+weißes Tuch um die Lenden, und darin hatte er das Samenkorn, ein
+strotziges Bündel. So legte er fast mit Grazie seine Linke hinein und
+schwang sie dann gefüllt -- nicht auf das gelockerte Feld. -- Die erste
+Handvoll warf er auf sandigen Boden oder auf einen Felsen, oder hin
+über das Heidekraut des Raines. Warum er's tat, das sagte er nicht und
+keiner stellte ihn darob zur Rede. Dann aber ging's über das Feld, von
+einem Rain bis zum andern. Wie er die Hand so schwang im Halbkreise,
+da zogen von ihr die braungelblichen Strahlen der Körner aus, und sie
+verdünnten sich in der weiten Runde und wurden unsichtbar, bis sie zur
+Erde fielen. Gleich kamen auch die Vöglein herbeigeflogen von den nahen
+Bäumen und von den Büschen. Sonst hüpfen sie gerne auf den Erdschollen
+herum und picken die frischgesäeten Körner auf, aber dem alten Christof
+flogen sie auf die Achsel oder die Lederhaube, und einmal ließen sie
+sich gar wundersam nieder zum Kornsack und schnappten nach Lust die
+Dingelchen heraus. Als ob es ihnen gesagt worden wäre, daß das Körnlein
+im Sacke geradeso sättigt wie das Körnlein im Erdreiche, obwohl das
+erstere nur ein einzig Körnlein bedeutet, das letztere aber eine ganze
+schwere Ähre.
+
+Keine Handlung im formreichen Kultus des Landmanns ist so würdevoll und
+heilig wie das Hinlegen des Samenkornes in die Erde. Das ist Glaube
+und Hoffnung, das ist ein Begräbnis mit der kindlichsten Zuversicht
+an die Auferstehung. Ich habe noch keinen lachenden, singenden oder
+plaudernden Säemann gesehen; der tollste, ausgelassenste Bursche
+schreitet bei dieser Arbeit still und ernst einher, als sei er zur
+selbigen Stunde ein Wundermann, der mit wenigen Broten viele speist. Es
+ist, als ob den Säemann bei dieser Handlung eine Ahnung überkäme von
+seinem eigenen Hinsinken in das Erdreich und Wiederhervorgehen zu neuem
+Leben.
+
+Freilich wohl liegt über diesem tiefen Meere der Poesie, sowie immer im
+Volke, der Schaum des Aberglaubens. Der Säemann soll ein Sonntagskind
+sein und die Arbeit nur bei aufnehmendem Monde verrichten. Gesagt ist,
+daß der Same besser gedeiht, wenn er früher mit Weihwasser übergossen
+wird; das Wasser müßte aber nicht gerade geweiht sein, die Hauptsache
+ist nur, daß es befeuchtet. Sonst wird beim Säen die erste und die
+letzte Handvoll kreuzweise hingeworfen, damit nicht etwa der böse Feind
+Unkraut unter den Weizen menge. Aber der Christof tat das nicht, die
+erste legte er auf unfruchtbaren Grund und die letzte -- es war recht
+und billig -- behielt er sich zum Eigentum. Hatte er an einem Tage
+zehn Äcker besäet, so hatte er sich zehn Hände voll Korn erworben;
+so ließ sich in der Säezeit der Lebensunterhalt für das ganze Jahr
+zusammenbringen.
+
+Im Tale lebte ein häßliches Weib, die Brennessel-Gret. Es war eine arme
+Witwe, mit drei kleinen Kindern; es war auch ein Säeweib und hatte sich
+und anderen durch seine böse Zunge schon viel Unkraut ausgestreut. Die
+Gret liebte keinen Unglücklichen, umsomehr haßte sie den Glücklichen.
+Der Samstag-Christof, arm und häßlich wie sie, aber geachtet von
+allmänniglich und geliebt von jedem Kinde, selbst von den Vöglein der
+Lüfte, war ihr ein Dorn im Auge. Im allgemeinen achtete man nicht auf
+die Brennessel-Gret, was sie auch sagen und tun mochte. Auf einmal aber
+ging ein Gerücht durch aller Leute Mund: Nun, endlich wisse man's,
+warum der Samstag-Christof so trefflich säe, er benütze den Bösen
+dazu, der müsse ihm jedes Korn auf den genau abgemessenen Platz in die
+Erde legen und bekäme dafür die erste Handvoll, die der Christof auf
+unfruchtbaren Boden wirft. Der Samstag-Christof sei ein Hexenmeister.
+
+Man weiß, wie Bauern sind -- im nächsten Jahre säete jeder sein
+Kornfeld eigenhändig, und dem alten Christof wich man aus und grüßte
+ihn kaum mehr. Dieser lebte verborgen in seiner Scheune, während
+draußen der Frühling war. Aber als die Saat aufging, gab es über die
+Felder hin viele aschgraue, kahle Streifen und zur Blütezeit wucherte
+Nesselkraut und Hederich zwischen den Halmen und in den Erntetagen
+lagen die Garben dünn zerstreut auf den Stoppeln.
+
+Im nächsten Herbste wurde in der Hütte der Brennessel-Gret viel gebetet
+und geflucht. Das Weib hatte sein Kornackerl bestellt, aber nun bekam
+es, wie sonst alljährlich, keinen Samen von der Nachbarschaft; erstens,
+weil solcher in diesem Jahre rarer war als sonst, zweitens, weil sich
+das Weib immer mehr verhaßt gemacht hatte. Alles bestellte seine
+Wintersaat, aber der Acker der Witwe blieb brach liegen. Christof hatte
+in seinem Vorrat einen Kübel Korn; da dachte er bei sich: Streue ich
+diese Körner auf ihr Feld, so bin ich wieder der Hexenmeister, und
+bleibt ihr Acker leer, so verhungert sie mit ihren Kindern. -- Da war
+der alte Mann einmal über eine Nacht nicht in seiner Scheune.
+
+Der Winter kam und ging vorüber; in der Hütte des Nesselweibes war
+Trostlosigkeit; die Grete betete für ihre Kinder und verfluchte alle
+übrigen Menschen. Aber im Frühjahre, als alle Felder grünten im weiten
+Tale, grünte auch das der Witwe; es ging aus demselben das Korn auf in
+saftiger Fülle und schöner Gleichmäßigkeit, erquickender zu sehen, wie
+alle Äcker der Großbauern. Der Samstag-Christof hatte hier gesäet, es
+ließ sich nicht leugnen. Nächtlicherweile mußte er es getan haben, und
+dennoch stand jedes Hälmlein von den anderen wie abgemessen. Das hätte
+den Argwohn von dem »Hexenmeister« wohl bestärkt, aber der Pfarrer
+sagte: »Er hat Almosen gegeben mit der Linken, ohne daß es die Rechte
+wußte; er ist, umgekehrt wie im Evangelium, gegangen auf den Acker des
+Feindes um Mitternacht und hat das Unkraut zertreten und guten Samen
+gestreut.«
+
+Ich habe den alten Samstag-Christof noch gekannt. Über seinen Körper
+schienen alle Übel kommen zu wollen; in seinen letzten Jahren war
+er so buckelig, daß er wie ein Ballen herangewandelt kam. Sein
+niedergebeugter Kopf war kaum einen Fuß von der Erde entfernt, seine
+hageren Hände, wovon die Rechte fingerlos war, hingen nieder bis zum
+Boden; es war, als ob er alle Körner wieder auflesen wollte, die er
+in seinem Leben ausgestreut hatte. An einem Samstagabend fand man ihn
+mitten auf einem reichen Kornfeld leblos, tief zusammengekauert wie ein
+Samenkorn, das, in Verwesung übergehend, keimen will. Man konnte den
+Greis nicht mehr gerade legen, der Sarg mußte kurz und breit sein.
+
+Das Grab des alten Christof wurde bald weit und breit bekannt; es
+wuchsen Halme auf ihm und Kornähren daran. Die alte Brennessel-Gret
+führte ihre drei Kinder zum Hügel, pflückte jedem eine Ähre und sagte:
+»Nehmt und bauet sie an.«
+
+Zwei dieser Kinder besitzen heute weite Kornfelder, herausgewachsen aus
+den zwei Ähren; das dritte aber hat seine Ähre verworfen und zieht hab-
+und heimatlos durch die Länder.
+
+
+
+
+ Der scheltend' Schuster.
+
+
+Da stand in den Zeitungen der Bericht von einem Manne in Boston, der
+jedesmal, wenn er fluche, ein Geschenk zu kirchlichen Zwecken gebe, auf
+diese Art bereits ein Bethaus erbaut habe und nun dabei wäre, einen
+Turm auf die Presbyterianerkirche zu fluchen.
+
+Dieser Bericht erinnerte mich an den Flucher Martin Leitner in
+Fischböckgraben, welcher Leitner unter dem Namen: »Der scheltend'
+Schuster« weit und breit bekannt war. Um ein guter Flucher zu sein,
+braucht man rhetorisches Talent; mit etlichen groben Redensarten allein
+ist's da nicht abgetan, die bringt jeder ungehobelte Bauer zuweg,
+ja selbst der Stadtherr und die Stadtfrau, was mir eine ganze Welt
+von dienstbaren Geistern beweisen helfen kann. Der geborene Flucher
+flucht mit Grazie, mit Humor, mit Wärme und Empfindung, mit schönem
+Pathos, kurz, mit dichterischem Schwung. Ihm steht eine unerschöpfliche
+Mannigfaltigkeit der Form zu Gebote, ein Bilderreichtum gewaltiger
+Phantasie, sein Fluch ist als Ausdruck der Empfindung ein poetisches
+Werk lyrischer Art. Fluchen und Beten sind scheinbar sich ganz
+entgegengesetzte Dinge, in Wahrheit aber gleichartiger Natur: Beides
+ist eine Wunschäußerung des Gemütes gegenüber einem übernatürlichen
+Geiste. Zum Glücke wird so selten andächtig geflucht als andächtig
+gebetet.
+
+Der Schuhmachermeister Martin und sein Geselle, der fromme Barthel,
+leisteten in beiden Fächern ganz Erkleckliches. So oft der Martin
+den Mund auftat, zitterten alle tausend Mordelemente im Himmel und
+auf Erden; und wenn der alte Barthel während des Drahtziehens seine
+frommen Stoßgebetlein ins Pech oder ins Leder murmelte, hatte es
+eine Art, daß, wie der Meister sagte, nur gerade das kreuzweis
+verschweifelte Donnerwetter dreinpfeifen müßte! Sie eiferten sich
+gegenseitig an zu ihren Tugenden; je mehr der eine fluchte, je mehr
+betete der andere, und je mehr dieser betete, je mehr fluchte jener.
+So gab es denn in der Schusterwerkstatt oftmals einen Geruch wie von
+Weihrauch und Schwefel durcheinander.
+
+Den Meister ärgerte des weiteren das Beten nicht, insofern war er
+duldsamer als sein Geselle, dem das Fluchen seines Herrn ein Greuel war.
+
+Nicht ungern erzählte der Schustergeselle die Geschichte von dem
+fluchenden Weber, der so lange in das bei einem ungeduldigen Weber
+stets verknüpfte und verworrene Garn hineinfluchte, bis er umgarnt war
+und ihn mit Haut und Haar der Böse holte, den er so oft angerufen hatte.
+
+»Das muß schon ein sternhageldick verzweifelter Narr gewesen sein,«
+meinte der Meister, »wer wird denn so fluchen?«
+
+Der Barthel glotzte ihn ganz dumm an, und eines Tages rückte er den
+Dreifuß und sagte: »Der Meister ist sonst kein zuwiderer Mensch nicht,
+aber halt das gottlose Schelten und Eitelnennen Gottes! So oft der
+Meister tut fluchen, gibt's mir einen Stich ins Herz, als wie wenn eins
+mit dem Ahl-Ertel ohne Schmer hinein tät' rennen. Das bin ich gar nicht
+gewohnt, und jetzt sag' ich meinen Dienst auf.«
+
+Wickelte der Meister den Pechdraht um die Hand, rückte auch seinerseits
+den Dreifuß und antwortete: »Was heißt das, Barthel? Wer nennt den
+Gottesnamen eitel, ich oder du? Schelten! Fluchen! Du tust ja, als
+wie wenn ich ein siebendoppelter Heid' tät' sein! So ein blitzblau
+vernagelter Unsinn! Ob mich schon wer fluchen gehört hat, möcht' ich
+wissen, du gottverdammter Ehrabschneider, du vermaledeiter, daß dich
+der Teufel hol--lertee trink' ich gern.«
+
+Aber fluchen tat er nicht.
+
+So klagte der Barthel seine Not einmal den Kirchenpröbsten, unter
+welchen die Sakristeidiener und Vorbeter verstanden sind, und zu denen
+er selber gehörte. Und sie einigten sich darin, daß der Meister Mirtl
+(Martin) wirklich der greulichste Flucher sei, der je Menschenfüße in
+Ochsenhaut steckte, daß man ihn allerwärts den scheltenden Schuster
+heiße, was dem Sprengel, in dem er lebe, keine Ehr' sei, und daß
+der Mann stumm gemacht werden müsse. -- Was half's, daß der Geselle
+nach jedem Fluch des Meisters ausrief: »Gott verzeih'!« wenn der
+andere sofort wieder mit einem: »Gott verdamm'!« dreinfuhr, und es
+drauflosging, daß sich ordentlich das bockigste Stierleder unter dem
+Knieriemen wand vor Entsetzen.
+
+Wenn der Meister bei guter Laune war, so hörte man von ihm
+fortwährend Gefühlsausbrüche harmloserer Art, als: »Bassama
+hint' auf d' Höh'!« oder: »Kruzi-Adaxel-Türkensabel, Ludervieh
+und Heugabel!« oder: »Kreuz-divi-domini, daß dich!« oder auch:
+»Fixzaunmarter-dürre-Krautstingelbutten!« Wenn er aber in Zorn und Wut
+kam, da ging ein ganz anderes, ein schweres Wetter nieder.
+
+»Geldstrafe!« sagte einer der Kirchenpröbste, »sonst weiß ich
+kein Mittel. So oft der Mirtel einen Flucher laßt, zahlt er einen
+Kupfersechser. Barthel, du passest auf und verwahrst das Geld, das
+nachher der Kirchen gehört.«
+
+»O, ihr lieben Eselein!« rief der Barthel, »da möcht' ich wohl wissen,
+wer ihm das Zahlen wollt' schaffen. Den schilt er maustot.«
+
+»Das laß gut sein, Schuster,« sagte der andere, »ich werd' mit dem
+Kaplan reden.«
+
+Und nach einiger Zeit, als der Meister Mirtel eines Tages von der
+Kirche heimkehrte, war er verzagt und fluchte nicht, so daß der Barthel
+glaubte, sein Meister müsse krank sein, und ihn darob befragte.
+
+»Ja, mein lieber Barthel,« antwortete der Meister traurig, »'s ist
+nicht richtig mit mir; bei der Beicht' bin ich gewesen. 's mag wohl
+sein, daß meine arme Seel' zum Teufel geht. Weil ich so viel schelten
+tät', sagt der geistliche Herr. Glaub's aber nicht, 's müßt mich nur
+zeitweilig der Höllsaggra so viel reiten. Sollt' mir's abgewöhnen, sagt
+der geistliche Herr. Der hat leicht reden, der hat alleweil die sieben
+Sakrament' im Mund und ist fromm dabei; und unsereinem darf nur eins
+auf die Zungen kommen, so heißt's, man schilt! Muß aber doch derlogen
+sein, daß ich mir das mordsschwerenots Fluchen nicht sollt' können
+abgewöhnen. -- Nu, so hat halt der geistliche Herr gesagt, sagt er: so
+oftmals ich einen feisten Flucher tät' loslassen, sollt' ich allemal
+einen Dreier für den Opferstock geben.«
+
+»Einen Sechser, Meister, einen Sechser!« rief der Barthel drein.
+
+»Einen Sechser? Wie kannst denn du das wissen, du neunmal verzweifelte
+Judashaut; hast leicht gelost?!«
+
+»Gar nicht, Meister, gar nicht; hab' nur gemeint, so ein Flucher vom
+Meister ist seinen Sechser schon wert.«
+
+»Hat's auch gesagt, der geistliche Herr, daß ich mich allemal um einen
+Sechser sollt' strafen. Meint er 'leicht, ich hätt' nicht Herr über
+mich! Justament will ich ihm's zeigen, dem Sakermenter, daß ich das
+Schelten kann lassen.«
+
+»Meister, ich bitt' um den Sechser.«
+
+»Was hast denn? Es gilt auch: so oft ich was fluch', kriegst du für die
+Kirche den Sechser. Daß ich euch weis', was ich kann, und das verdammte
+Gered' einmal aufhört: nicht ~einen~ setzt's, oder es soll mich
+das Kruzifix-Millionen-Donnerwetter in den Erdboden schlagen!«
+
+»Meister, ich bitt' um den Sechser.«
+
+Das Donnerwetter schlug nicht, aber er gab den Sechser: den ersten und
+bald noch etliche dran in derselbigen Woche. Jeder »Satan« und jedes
+»Mordselement«, jede »Pestilenz«, jeder »pechrabenschwarze Gallteufel«,
+sogar jede »Galgenstrick-Latern'« und jedes »Saggramosthosen« wurde mit
+einem Sechser belegt. Allerlei Drohungen und Träume, die dem braven
+Schuhmachermeister nächtlicher Weil' vorkamen, bewirkten es, daß er die
+Strafgelder nicht verweigerte, sondern mehr und mehr seinen Mund in
+acht nahm.
+
+Als die Kirchenpröpste wieder zusammenkamen, brachte der Barthel zwar
+ein nettes Häufchen Sechser mit, tat aber gleichzeitig kund, daß die
+Kupferquelle allbereits versiegt sei.
+
+»Das kömmt mir recht verdrießlich,« meinte der Lichtanzünder, »wie ihr
+sehen könnt, ist der Weihbrunnkessel an der Kirchentür kaputt geworden,
+worauf wir beim heurigen Geldanschlag nicht gezählt haben. So ist mir
+der Einfall gekommen, ob uns nicht der Schustermeister einen neuen
+Kessel zusammenfluchen wollt'.«
+
+»Flucht nimmer,« berichtete der Barthel. »Es müßte denn sein, daß man
+ihn reizen tät'. Wenn's zum Besten des Kessels ist ...«
+
+Und was geschah?
+
+Der Barthel ging heim in die Werkstatt, verknüpfte in Abwesenheit
+des Meisters den Draht, tauchte das Pech in kaltes Wasser, verklebte
+auch ein wenig den Leisten in den halbfertigen Schuh, brach ein paar
+Ahl-Erteln die Spitze ab, versteckte den Knieriemen unter das alte
+Lederwerk und bereitete in schöner Dienstfertigkeit noch dies und das
+für ein ausgiebig Flucherstündchen. Dann rückte er sich in seine Ecke
+und stach und schmierte und nähte mit der harmlosesten Miene von der
+Welt an seinem Stiefel.
+
+Bald darauf trat der Meister lustig pfeifend in die Stube und setzte
+sich an die Arbeit. Fürs erste wackelte der Dreifuß; den rückte er
+gelassen zurecht. Dann langte er nach dem Garnknäuel, um die Drahtfäden
+auf seine Finger und den Ellbogen zu haspeln. Dabei murmelte er etwas
+Unverständliches, denn das Garn war ein wenig verworren. Der Geselle
+lauerte, aber es kam weiter nichts. Das Pech zeigte sich heute, obwohl
+in der Stube geheizt war, ausnehmend spröde, das Schmer hinwiederum
+floß schier auseinander. Als der Meister den Leisten aus dem Schuh
+ziehen wollte, brach der Zughaken und er schleuderte die Trümmer
+zu Boden und starrte stillen Grimmes auf den Gesellen hin, der in
+musterhafter Ordnung weiter arbeitete. Der Meister nahm die Ahle zur
+Hand, da war die Spitze weg -- wieder ein Blick auf den Barthel. Bebend
+vor Wut, aber stumm wie ein Fisch, suchte der Meister den Knieriemen,
+schleuderte alle Leisten und Lederfetzen durcheinander, fand ihn
+endlich unter der zerfahrenen Beschuhung, stürzte damit auf den
+Gesellen und salbte ihm kräftigen Armes mit dem Riemen den Rücken.
+
+Und fluchte nicht.
+
+Aber der Weihbrunnkessel ist neu. Man sagt, der Barthel selbst hätte
+ihn zusammengescholten an demselbigen Tag.
+
+
+
+
+ Herr Trotzkopf, der Heiratsbeflissene.
+
+
+Bertram Siebener ging auf dieser Erde fünf Jahre lang mit
+Heiratsgelüsten um. Es tat ihm die Wahl weh unter den schönen Töchtern
+des Landes, und aus lauter Bedenken und Zuwarten passierte es mehrmals,
+daß ein anderer ihm die Braut vor der Nase weg heiratete. Denn gern
+haben die Frauen des Mannes Herz, aber dessen Hand haben sie noch
+lieber. Zudem hatte Bertram Siebener -- ein so prächtiger Mann er sonst
+war -- keinen sehr starken Willen, hingegen besaß er einen kräftigen
+Widerspruchsgeist. Ein Trotzkopf war er. Bei allem, was er vorhatte,
+befragte er seine Freunde um Rat, um hernach gerade das Gegenteil zu
+tun von dem, was sie ihm rieten.
+
+So saß er eines Tages im Extrastübel des Eschenwirtshauses und sagte
+zum Wirt: »Julius, was sagst du dazu? Jetzt hab' ich eine aufgestöbert.
+Blutjung ist sie und bildsauber. Hast noch keine gesehen, die so schön
+wäre. Ganz dumm bin ich dir vor Liebe. Die werde ich nehmen -- was
+meinst?«
+
+Der Wirt zuckte die Achseln: »Wenn du verliebt bist, dann ist dir nicht
+mehr zu raten.«
+
+»Daß man sich's halt etwa noch überlegt.«
+
+»Das tät' ich auch an deiner Stell', und diesmal schon gar.«
+
+»Meinst also, daß ich's bleiben lassen soll?«
+
+»Weißt, Bertram, ein anderer kann da nichts sagen, das kommt auf dich
+selber an. Ich red' nur das: geheiratet ist's bald, aber das Hausen
+währt lang'. Und just auf die Schönheit allein ginge ich auch nicht.
+So lang' das Weibel schön ist, gehört es oftmals nicht dem Ehemann
+allein; und ist es nicht mehr schön, nachher magst es leicht auch
+selber nicht. So ist die Sach'.«
+
+Der neidet mir die schöne Braut, dachte Bertram, als ob just ich kein
+sauberes Weib haben sollte! --
+
+Er ging zu seinem Freunde, dem jungen Tischlermeister, einem sehr
+einsichtsvollen Mann, der selber noch ledig war und bei seiner dicken
+Stiefmutter lebte.
+
+»Du, Franzel,« rief Bertram Siebener, »eilends laß dir Tanzschuhe
+machen. Ich bin Bräutigam. In die Allerschönste bin ich vernarrt, in
+die schöne Traut. Ich denk', ich mach' Ernst! Rate mir, Freund, aber
+rate mir nicht ab.«
+
+»Dazu läge nach meiner Meinung keine Ursache vor,« sagte der Tischler,
+»daß sie deinem Auge gefällt, und daß du sie lieb hast, ist die
+Hauptsache. Alles andere findet sich.«
+
+»Nur Vermögen, wenn sie zu ihrer Schönheit hätte, würde ich nicht
+verachten,« meinte Bertram.
+
+»Vermögen, Vermögen,« sagte der Tischler, »dann bist du der Herr im
+Hause nimmer. Du bist der Anwalt ihres Geldes und mußt durch das
+Kapital deiner Arbeitskraft den täglichen Bedarf schaffen, und dennoch
+würde sie dir's bei jeder Gelegenheit zu verstehen geben, daß sie dir
+Geld mitgebracht hätte.«
+
+»Wenn sie nur auch ein gutes Herz hat?« wendete Bertram ein.
+
+»Pah, ein gutes Herz haben alle, wenn es der Mann verlangt; nur
+häßliche Weiber sind auch böse Weiber. Greif' zu, Bertram, greif' zu
+mit allen Vieren!«
+
+Was der nur hat? dachte der Freier bei sich. Gerade auf der Stelle will
+er mich verheiraten. Er hat leicht reden; leben müßte ich mit ihr. Spät
+gefreit hat niemand gereut. Ich warte noch. --
+
+Ein halbes Jahr später saß Bertram Siebener wieder im Eschenwirtshause
+und zupfte den Wirt am Ärmel: Er hätte etwas zu reden.
+
+»Wenn's nur auch was Gescheites ist!« sagte Julius.
+
+»Das will ich schon meinen. Ich habe wieder eine Braut -- eine mit
+Geld!«
+
+»Das läßt sich hören!«
+
+»Aber gerade nicht mehr ganz jung -- so in den besten Jahren, eine
+Vierzigerin.«
+
+Der Wirt tat einen lauten Pfiff. -- »Nachher könnte sie ja deine Mutter
+sein.«
+
+»Ist's aber nicht. Ist eine recht angesehene Hausbesitzerin, auch
+gesund und heiter. Ich setz' mich in die Wirtschaft und bin ein
+gemachter Mann.«
+
+»Mensch!« rief der Wirt, »ich sage dir, nimm eine ältere! Eine
+Achtzigjährige, die wenigstens bald stirbt. Die Vierzigerin überdauert
+deine schönsten Jahre; du bist an sie gebunden wie der Kettenhund ans
+alte Hoftor. Bertram, ich bitte dich: renn' nicht in dein Unglück!«
+
+»Du hast ja selber eine Alte.«
+
+»Eben darum rede ich aus Erfahrung. Junge, nimm eine Häßliche, eine
+Dienstmagd, eine Dirne -- nur keine Alte!«
+
+Bertram ging mißmutig davon. -- Just weil sie glauben Nein, so sage ich
+Ja. Möchte doch sehen, wer mit mir schaffen kann! --
+
+Er ging zum Tischler.
+
+»Freund, du wirst Augen machen. Wie du mich da stehen siehst: ich bin
+so viel als Großbauer! Ich heirate die Hochschlagerin.«
+
+»Was?« lachte der Tischler, »o du Schelm du! So bist du's, der den
+fetten Vogel abschießt! Ich gratuliere!«
+
+»Sie ist just nicht alt.«
+
+»Na freilich nicht,« sagte der Tischler. »Vierzig ist ja noch kein
+Alter. Und so gut erhalten!«
+
+»Just, daß halt ~ich~ ein bissel jung für sie bin.«
+
+»Ist nicht deine Schuld. Brauchst du nicht eifersüchtig zu sein.
+Eifersucht ist ein Elend. Auf die Hochschlagerin kannst dich verlassen
+-- bist geborgen. Und sind die zufriedensten Ehen, dergleichen.
+Dann keine Brotsorgen, mein Lieber, keine Brotsorgen, das ist die
+Hauptsache.«
+
+»Es ist wahr,« bemerkte Bertram sinnend, »daß man auch -- der
+Nachkommenschaft wegen -- Kinder --«
+
+»Eins kriegst, mehr brauchst du nicht. Denke dir das Kinderkreuz! Den
+Kummer! Ich selbst, wenn ich heiraten würde, nähme so eine, wie die
+brave Hochschlagerin.«
+
+»So nimm sie!«
+
+»Ei, du siehst ja, daß ich mit meiner Stiefmutter ganz zufrieden lebe.
+Sie ist eine gutherzige, praktische Frau, besorgt mir die Wirtschaft.
+Und so lebt man fröhlich dahin.«
+
+»Und warum man just mich in den Ehestand jagen will?«
+
+»Jagen? Das nicht, aber mit gutem Gewissen dazu raten kann man dir. Du
+zögerst, aber du wirst heiraten, es ist eine Naturnotwendigkeit für
+dich. Du bist vielleicht gar nicht für den Ehestand geboren. Aber du
+bildest dir einmal ein, zu heiraten, du wirst keine Ruh' und keine Rast
+haben, so lange du nicht verheiratet bist.«
+
+»Und dann?«
+
+»~Dann~ gibt es keine Wahl mehr.«
+
+»Also gezwungen und gebunden leben!«
+
+»Bertram, du bist eine unentschlossene Natur, jede Wahl peinigt dich.
+Immer hin und her. Das Muß tut dir besser, das ist der Stock, an den
+gebunden du erstarken wirst.«
+
+»Franz, du redest in den Tag hinein. Du verstehst mich nicht. Weißt du,
+was ich tun werde? Ich bleibe ledig!« --
+
+Darauf verging ein Jahr. Die schöne Traut hatte einen schönen Förster,
+die reiche Hochschlagerin einen reichen Holzhändler geheiratet. Bertram
+Siebener war noch frei.
+
+Da saß er eines Tages wieder beim Eschenwirt und trank sich ein Herz
+an. Es war bei ihm, als ob er den Apfelwein nicht in den Magen, sondern
+in das Herz hinabschlürfte; denn mit jedem Humpen schwoll dieses und
+wurde voll, und wurde schwer. Und endlich begann er zu schluchzen ob
+seiner großen Verlassenheit.
+
+»Ich glaube gar, du hast Zahnreißen?« sagte der Wirt.
+
+»Laß mich gehen. Ihr alle miteinander versteht mich nicht -- ich fühle
+mich so einsam auf der Welt. -- Ich werde doch noch einmal mit der
+Meisterin reden.«
+
+»Am Ende hast du schon wieder eine Braut?«
+
+»Ich ~habe~ auch eine, ich verhehle dir's gar nicht, gleichwohl
+ich weiß, daß du mir sie wieder abreden wirst wollen.«
+
+»Abreden? Ich abreden? Was dir nicht einfällt. Im Gegenteile, ich habe
+dir immer gesagt, daß du heiraten mußt. Aber eine, die für dich paßt.
+Zweimal fragtest du mich schon, und ich will nicht fürchten, daß du es
+bereuest, mir gefolgt zu haben.«
+
+»Ich dir gefolgt, Julius! Nicht im Traume. Wenn ich zwei Weiber bisher
+laufen ließ, so waren es andere Gründe.«
+
+»Die dritte wirst du doch nicht mehr laufen lassen? Sie ist
+wahrscheinlich sehr hübsch?«
+
+»Sie ist nicht hübsch.«
+
+»Oder wenigstens jung?«
+
+»Sie ist nicht jung.«
+
+»So doch reich?«
+
+»Ist auch nicht reich.«
+
+»Also häßlich, alt und arm. Bertram, sei versichert, die rede ich dir
+nicht ab. Es ist nicht nötig.«
+
+»Und gerade die werde ich heiraten.«
+
+»Ich gratuliere!«
+
+»Du höhnst mich. Ich aber sage dir: Die werde ich heiraten.« --
+
+Aufgebracht ging er davon -- ging zu seinem andern Freunde, dem
+Tischler.
+
+»Hast du wieder eine?« rief ihm der entgegen.
+
+»Eine gutmütige, bescheidene, ältliche Person, arm, aber häuslich und
+brav.«
+
+»Siehst du, ~das~ ist die Rechte.«
+
+»Eine Witwe ohne Kinder. Nur ein Stiefsohn ist da.«
+
+»Für einen gescheiten, anspruchslosen Mann gewiß eine passende Partie.
+Mache nur diesmal Ernst.«
+
+»Aber --«
+
+»Ist sie eine Hiesige!«
+
+»Freilich, du kennst sie recht gut. Und daß der Sohn um ein paar Jahre
+älter sein wird als der Vater, hörst, das macht nichts.«
+
+»Was sprichst du denn?«
+
+»Geh', geh', ich laß dich nicht raten. Wir sind auch schon auf gleich.
+Hat sie dir wirklich noch nichts gesagt?«
+
+»Wer?«
+
+»Deine Frau Stiefmutter.«
+
+Der Tischler schrak zurück. -- Meine Stiefmutter will er heiraten?
+Meine Mutter, von der ich hoffe, daß sie mir in nächster Zeit die
+Wirtschaft übergibt, und mich zum Erben ihres Ersparten machen wird?
+
+»Freund!« sagte er mit dumpfer Stimme und legte seine Hand dem
+Heiratsbeflissenen auf die Achsel: »Das wäre ein unglücklicher
+Gedanke. Glaube mir, ich würde sehr erfreut sein, dich in unserer
+Familie zu wissen. Aber als Freund muß ich dir im Vertrauen mitteilen:
+Meine Stiefmutter ist kein Weib für dich. Erstens hat sie das Alter
+wirklich etwas sehr häßlich gemacht; die Leute würden ordentlich
+zurückschrecken, wenn du sie ihnen als deine Braut aufführtest.«
+
+»Was geht das die Leute an!«
+
+»Dich, dich geht's an. Und das eben ist das Schlimme. Ferner glaube ja
+nicht, daß diese Frau so überaus gutmütig ist. Ich kenne sie besser!«
+
+»Du kennst sie als Stiefmutter, da glaub' ich's schon.«
+
+»Wenn es je eine eitle, geschwätzige, geizige, schmutzige, launenhafte
+und mürrische Alte gibt, so ist es meine Stiefmutter.«
+
+»Du übertreibst, wie hätte denn dein seliger Vater --«
+
+»Der nahm sie vor einem Vierteljahrhundert. Und wenn es je ein Mann bei
+diesem Weibe aushalten könnte, so würde mein Vater noch leben.«
+
+»Diesmal ist alles dagegen,« murmelte Bertram, »nur mir keine Frau.
+Jetzt möchte ich aber doch sehen, wer mir das Heiraten wehren kann.
+Justament!«
+
+O, Tischler Franz, das hast du schlecht gemacht. Warum fielest du ihm
+nicht in die Arme und riefst: »Bertram Siebener! ja und tausendmal ja,
+werde mein Vater! Meine Stiefmutter ist das schönste, liebenswürdigste
+Weib unter der Sonne. In üppigster Reife prangt sie dir entgegen!
+Und wie sinnig weiß sie sich zu schmücken, wie anmutig versteht sie
+zu plaudern, wie sparsam ist sie im Haushalte, wie anregend ist die
+Mannigfaltigkeit ihrer Stimmungen und neckischen Launen, wie reizend
+ist ihr erkünsteltes Zürnen und Schmollen. Wie selig war mein
+seliger Vater in ihrem Besitze, der, ach, so kurz war. Tritt in seine
+Fußstapfen, mein Freund, ich beglückwünsche dich aus voller Brust!«
+
+So mißrät man einem Bertram Siebener die Partie. Ei geh', Tischler, du
+verstehst dich nicht aufs Leimen. Was du zusammenfügen willst, das geht
+auseinander, was du trennen möchtest, das kittet sich zusammen.
+
+Jetzt lauf' zum Schneider, er soll dir flugs ein Hochzeitsjöppel
+machen, deine Mutter heiratet dir einen Vater ins Haus, und aufs Jahr
+vielleicht -- kommt der Storch! --
+
+Die Hochzeit ist lange über ein Jahr schon vorbei. Das Ehepaar lebt
+im Frieden. Der erheiratete Sohn wird ganz anständig gehalten, denn
+er leitet das Geschäft. Der Storch kam, setzte sich aber auf den
+Giebel der Mägdekammer, und wenn man den Bertram Siebener fragt, wie
+er ihm denn anschlage, der heilige Eh'stand, so antwortete er: »Dank'
+der Nachfrag'!« Und wenn man sagt: Es wäre ja zu erwarten gewesen,
+daß er mitten in sein Glück hineinsäße, so entgegnet er: »Na, na!«
+Und wenn ihm einer zuflüstert: »Armer Bertram, du bist bei dieser
+Tischlermeisterin wohl recht jämmerlich auf den Leim gegangen!« so
+ruft er aus: »Auf den Leim? Zum Lachen, so was! Ich bin über und über
+zufrieden, ich verlange nichts Besseres.«
+
+Auch solche Käuze gibt es.
+
+
+
+
+ Der Samer-Sim.
+
+
+Es ist doch recht schmeichelhaft für diese Welt, daß keiner aus ihr
+hinaussterben will. »Das Sterben, das spar' ich mir bis zuletzt,« sagt
+ein Volkswort, aber wenn dieses »zuletzt« kommt -- es kommt zu früh.
+Die Jungen möchten alt werden, die Alten möchten sich am Sonnenlichte
+ein Jährchen oder zweie noch erfreuen; der Gesunde möchte leben, der
+Kranke gesund werden; der Arme möchte sich erst Schätze erwerben, der
+Reiche sie genießen; der Totengräber hängt mit denselben Stricken
+am Leben, als die in Weltlust badende Tänzerin auf der Bühne. Der
+Familienvater will leben, um der Seinen Glück zu gründen und sich
+daran zu laben. Dem Junggesellen ist es schon gar bitter, von der Erde
+zu scheiden, denn er weiß, er läßt keine Spur zurück, ist mit seinem
+letzten Atemzuge verweht und vertilgt -- wahrhaftig gestorben.
+
+Denen aber der Tod nicht zu früh kommt, denen kommt er -- zu spät; sie
+wollten ja sterben, wenn's nur schon -- geschehen wäre. Es liegt ihnen
+am Leben nichts, aber ihnen graut vor dem Todeskampf.
+
+Zu diesen letzteren gehört auch der Samer-Sim. Dem kann am Leben
+freilich nichts liegen, er ist im Dorf der Einleger. Vor Zeiten hat er
+mit einem Maulesel Kornsäcke übers Gebirg' gesäumt; den Namen hat der
+Sim noch davon, aber sonst nichts. Er weiß, wie der Hunger schmeckt
+und wie der Frost bohrt; weiß, wie die Gicht tut und wie böser Leute
+Spottreden und geiziger Leute Nachreden klingen. Er weiß auch, daß
+nichts Besseres für ihn mehr kommen wird, daß er nichts mehr wünschen
+darf, daß er zeitlebens der Schuhhadern des Dorfes sein wird -- aber
+nur leben, lange leben, immer leben -- nur nicht sterben.
+
+Der Samer-Sim meidet den Friedhof, der außer dem Orte liegt, aber auch
+den Weg dahin; er tut oft einen halbstundenlangen Umgang, nur um den
+Friedhofsweg nicht zu kreuzen. Vor Leichen fürchtet er sich wie vor
+der Pest, und es geht ihm wie allen, die selten Leichen sehen und also
+glauben, was ihnen die Einbildung vormacht, daß nämlich die Toten so
+grauenhaft zu schauen wären.
+
+Am Ende des Dorfes steht eine Wirtskeusche; diese ist dem Sim der
+liebste Ort; nicht als ob er den schlechten Krätzer, den man in
+der Keusche haben kann, gerne tränke, sondern weil der Wirt ein
+Geschichtenbuch besitzt. In diesem Buche steht die anmutigste
+Geschichte, die der Sim je gehört hat, die Geschichte von dem ewigen
+Juden -- das ist der Mensch, der nicht stirbt.
+
+Beim Wirt sitzt zuweilen auch der Bader des Ortes, ein Spaßvogel. »Ja,
+mein Lieber,« sagte der eines Tages zum Sim, »letzthin hätt's den Mann
+doch bald getroffen -- nu, wie lange mag's sein, Hirschenwirt, daß der
+ewige Jude bei dir da vorbeigegangen ist?«
+
+»Je,« antwortete der Wirt, auf den Scherz eingehend, »das wird sein
+höchstens sechs Wochen -- nit länger. Hat bei mir eingekehrt; just da
+auf der Ofenbank, wo der Sim sitzt, ist er gesessen.«
+
+»Ja, schau,« fuhr der Bader zum alten Sim gewendet fort, »und da
+hat der Mann unvorsichtigerweis', wie er schon von seinem ewigen
+Herumvagabundieren erhitzt ist, ein Glas von Hirschenwirts Vierziger
+getrunken. Augenblicklich hat er auch das schauderlichste Bauchgrimmen
+gehabt und Krämpfe dabei, wie mir erzählt ist worden -- hat schon
+alles gemeint, 's wär' das letzt' End' mit dem ewigen Juden.«
+
+Der Hirschenwirt stutzte, als er die Spitze des Scherzes nicht gegen
+den Sim, sondern gegen sich selber gekehrt sah. -- »Na wart', Bader --
+dachte er -- du kriegst mir auch eins.«
+
+»Ja, ja,« bekräftigte der Wirt dem Sim gegenüber, »'s ist, wie der Herr
+Doktor gesagt hat. -- Leut'! schreit er jählings, der ewige Jud', mir
+ist auf einmal nit gut -- lauft's geschwind um einen Doktor! -- Ich
+schick' den Halterbuben eilends ins Dorf, aber der Herr Doktor da ist
+nit zu Haus gewesen; der arme kranke Mann hat keine Hilf' können haben
+und so ist er richtig wieder gesund worden.«
+
+Der Bader hat einen klanglosen Lacher gemacht und nichts mehr
+gesagt. Der Sim aber, die zwei scharfen Nadeln des Gespräches nicht
+ahnend, schüttelte verwundert sein Haupt. »Welch' Seite ist er denn
+zugegangen?« fragte er angelegentlich. Es fiel ihm ein, dem ewigen
+Juden nachzugehen, ihn aufzusuchen und nicht mehr von seiner Seite zu
+weichen, auf daß auch er dem Tod entrinne.
+
+Es sind der kleinen Geschichten und Wunderlichkeiten mehr, die man von
+dem Alten erzählt. Vor kurzem wollte er, der Siebzigjährige, mit einem
+zwanzigjährigen Mädchen eine Liebschaft anfangen, weil man ihm gesagt
+hatte, er müsse, um den Tod zu hintergehen, sich wieder jung stellen.
+In vollem Ernste machte er seinen Liebesantrag, und das ganze Dorf
+hatte was zu lachen.
+
+Das Lachen war dumm. Der Samer-Sim ist ein armer schwachsinniger Greis,
+der mit Angst die letzten Körner seiner Sanduhr verrinnen sieht. Das
+falsche Leben, das ihm vorenthalten, was es anderen in reichem Maße
+hingeschüttet, das ihm keinen seiner Wünsche erfüllt hat, das ihn um
+seine berechtigtesten Hoffnungen betrog -- dieses falsche Leben will
+der alte Mann noch zurückhalten am Mantelsaum, wie man einen fliehenden
+Dieb zu halten sucht. Das Gebaren des alten Samer-Sim, die vieljährige
+Todesangst des im Sonnenlicht Wandelnden ist seltsam genug -- aber
+etwas zum Lachen ist es nicht.
+
+Als ich dem Manne begegnete und er mir wie so vielen anderen Leuten
+seine Todesfurcht bekundete, suchte ich ihn zu trösten. -- »Wenn's
+dereinst dazu kommt, guter Sim, so ist es nicht halb so schrecklich,
+als es von weitem aussieht. Bei betagten Leuten gar ist es wie ein
+ruhiges Einschlummern nach der Lebensmüh' und sie wissen gar nicht, daß
+es der Tod ist.«
+
+»Aber Herr,« rief der Alte, »der Todesstoß, der Todesstoß im Herzen!
+Und nachher, wenn sie einen hineinlegen in den Sarg, hinabsenken in die
+Erden und es kriechen die Würmer heran!«
+
+»Mußt denken, Simon, du liegst nicht ~lebendig~ drin, und es ist
+ja ein Glück, daß du früher ~gestorben~ bist.«
+
+»Und erst die arme Seele!« sagte darauf der Alte, »die muß in den
+glühenden Ofen des Fegefeuers!«
+
+»Wer hat dir denn das gesagt, Sim?«
+
+»Das? -- Ach, ich hab' doch so viele Sünden und keinen Kreuzer Geld für
+ein paar heilige Messen!«
+
+»Lieber Sim,« sagte ich und faßte seine kalte Hand. »Glaubst du nicht,
+daß Gott besser ist als die Menschen?«
+
+»Das glaub' ich wohl.«
+
+»So siehe, gute Menschen verzeihen ihren Beleidigern, anstatt sich an
+ihnen mit Feuer oder anderswie zu rächen.«
+
+»Ja freilich,« unterbrach mich der Sim, »so hat's Gott gelehrt!«
+
+»Und wird er's nicht auch selber halten?«
+
+Alte Menschen lassen sich aber nicht umwenden wie alte Röcke.
+
+Der Samer-Sim murmelte was und holperte seines Weges. Einige Wochen
+später erhielt ich vom Schullehrer jenes Dorfes folgenden Brief:
+
+ »Geschätzter Freund!
+
+ Sie haben sich immer für den alten Samer-Sim interessiert. Den haben
+ wir heute begraben. Der Mann ist ~lachend~ gestorben. Seit
+ längerer Zeit schon lag er beim Moosbrunner auf dem Oberboden krank.
+ Ich habe ihn selber einmal daselbst besucht; er war stets der Alte mit
+ seiner Todesfurcht und meinte, er wollte gern alles Böse ertragen auf
+ dieser Welt, wenn er nur wisse, daß er nicht auf dem Todbette liege.
+ -- Nun, es ist eigentlich komisch, hat ihn eine Maus umgebracht.
+ Eine solche war unter seine Decke gekommen; vor Zappeln und Lachen
+ über den Gast fiel der Alte in einen Krampf und nach wenigen Minuten
+ war's vorbei. Der plötzliche Überreiz der Nerven, sagt der Arzt, habe
+ ihn getötet. -- Vielleicht vermag Ihre Feder etwas aus der Sache zu
+ machen« usw.
+
+So das Schreiben. Ich habe aus der Sache nichts anderes zu machen
+versucht, als was sie in Wirklichkeit ist. -- Der Samer-Sim hat seit
+vielen Jahren nicht mehr gelacht aus Angst und Furcht vor dem Tode.
+Derselbe Samer-Sim ist lachend gestorben.
+
+
+
+
+ Der Zillacher-Anderl.
+
+
+Samstag war's. Der Anderl saß in der Flachsdörrkammer, wo er auch sein
+Bett hatte, und tat sich den Bart rasieren.
+
+Die jungen Stadtherrchen kratzen mit dem Schermesser zumeist just dort
+herum, wo sie gerne einen Bart haben möchten. Der Bauernbursch rasiert
+sich, wo ein Bart steht. Freilich war der Anderl schon fünfunddreißig
+Jahre alt und sein Bart so steif, daß man nach der Bauern Sprichwort
+den Dreschflegel daran hätte hängen können. Trotzdem ließ der Anderl
+vor dem Scheren die Seife ordentlich in die Borsten trocknen und kramte
+mittlerweile seine grauen Backen vollblasend in den Hosentaschen herum.
+Da drin hatte er einen alten Taschenveitel, ein Stück Zunder und
+einige Kreuzer, die sich aber bei näherer Untersuchung in der Mehrzahl
+als Messingknöpfe herausstellten. Der Anderl blies die Backen noch
+bauchiger. Messingknöpfe? Für den morgigen Sonntag Messingknöpfe! Mit
+derlei hat der Hirschenwirt seine Hosen und Wämser sicherlich versehen.
+Heute schon hätte der Anderl Durst.
+
+Jetzt trat eine alte Magd in die Flachsdörrkammer: Der Anderl möge
+eilends in die Stube zum kranken Vater kommen. Und als der Bursche
+bei dessen Bette stand, sagte der alte Zillacher: »Anderl, nimm deine
+Zipfelmütze ab. Anderl, paß auf, dein Vater macht's Testament. -- Aha!
+gelt, jetzt kannst losen! Hast gleichwohl nicht immer so auf mich
+hören wollen; soll dir aber geschenkt sein, will dich nicht verkürzen.
+Deine Brüder und Schwestern, die haben das Ihrige. Wenn ich die
+Augen zugemacht hab', Anderl, so weißt es, die braune Kuh ist deine
+Erbschaft.«
+
+»Vergelt's Gott!« rief der Anderl.
+
+»Aber sei brav und tu' dir das Trinken ab, und der himmlisch' Vater
+soll dich beschützen und bewahren.«
+
+Der Alte schwieg. »Kann ich jetzt die Zipfelmütze wieder aufsetzen?«
+fragte der Anderl.
+
+»Jetzt kannst du machen, was du willst,« sagte der Zillacher.
+
+Als nach einigen Tagen der Alte tot und begraben war, führte der Anderl
+die braune Kuh aus dem Stall. Er trieb sie die Straße entlang, und
+da er so hinter dem Tiere dahertrottete, führte er mit ihm folgendes
+Gespräch: »Du alte Kuh, du bist ein zaunmarterdürres Vieh. Ich möcht'
+meine Joppe an deinen Hüftknochen hängen.« Und als sie zu einem
+Wassertrog kamen und das Rind stehen blieb und trank, sagte der Anderl:
+»Ja, meine liebe Kuh, ich hätte auch Durst!« Er trank aber doch nicht.
+
+Da kam ein Bauer des Weges, der fragte: »Wo treibst du deine Haut
+hin?« Der Bursche knirschte die Zähne und schritt fürbaß. Mittlerweile
+war das Euter voll geworden, und als sie zu einer Schenke kamen,
+unterhandelte der Anderl mit der Wirtin, ob sie nicht seine braune
+Kuh melken und ihm dafür ein Krügl Wein geben wolle. Das Geschäft war
+abgemacht. Und so trieb der Zillacher-Anderl seine Erbschaft viele
+Stunden weit fort, weidete sie an guten Rasenplätzen, tränkte sie
+an den Brunnen, und wenn das Euter voll war, so vertauschte er die
+Milch gegen Wein. Für die Länge aber blieb das Euter der braunen Kuh
+immer kleiner, während der Durst des Burschen größer wurde. Da dachte
+der Anderl, das muß anders gemacht werden, und verkaufte das Rind an
+einen Wegmacher. Der Wegmacher vermied die Frage, ob die Kuh nicht
+etwa gestohlen sei, bot hingegen nur fünfunddreißig Gulden Kaufpreis.
+»Meinetwegen!« sagte der Bursche, und als er das Geld in die Tasche
+schob: »Hab' ich noch weit zu einem Wirtshaus?«
+
+Fünfunddreißig Gulden, das ist meine Erbschaft, dachte er dann, mit
+dieser will ich recht wirtschaftlich umgehen. Mit dreißig Gulden läßt
+sich schon was anfangen; die weiteren fünf Gulden -- damit will ich
+jetzt gründlich meinen Durst löschen. Einmal im Leben muß der Mensch
+seinen guten Tag haben; -- dann heißt's arbeiten und fleißig sein.
+
+Als er zum nächsten Wirtshaus kam, suchte er sich den bequemsten
+Tischwinkel aus und hub an zu trinken. Die Wirtin setzte sich zu ihm
+und schwätzte und sagte, sie hätte frische Butterkrapfen in der Küche,
+die seien ihr diesmal vortrefflich geraten; ob er -- der Anderl -- denn
+nicht ein paar verkosten wolle. Ihm war's recht, und die umsichtige
+Frau Wirtin wußte wohl, daß nach den Butterkrapfen wieder neuer Durst
+kommen müsse. Der Wirt jedoch hatte sich seinem Gaste gegenüber so
+verhalten: In das erste und das zweite Glas schenkte er reinen Wein; in
+das dritte und vierte tat er ein wenig Obstmost dazu; dann tat er zur
+Hälfte Wein und zur Hälfte Most in den Becher; später goß er die Hälfte
+Obstmost, ein Viertel Wein und ein Viertel Wasser zusammen. Als endlich
+dem Anderl auf seiner Bank einmal ordentlich warm geworden, sein Durst
+doch immer noch nicht gelöscht war, da schüttete ihm der Wirt im Keller
+bloß Obstmost mit ein wenig Zwetschkenbranntwein vermischt in das
+Weinglas, hernach nur mehr Most allein, und endlich, wer am dritten
+Tage den Wein des Anderl vorurteilslos untersucht hätte, der würde
+gefunden haben, daß der Bursche gut gegorenen Apfelmost mit frischem
+Wasser trinke.
+
+Natürlich tat dieses der Rechnung keinen Eintrag, und am dritten Tage
+waren fünf Gulden vertrunken. Zu dieser Zeit hatte die Wirtin jedoch
+bereits für frischen Durst gesorgt. Da sagte sich der Anderl: im Grunde
+ist es eine Narrheit, wenn ich mir jetzt einen Abbruch tue, der leicht
+der Gesundheit schaden könnte. Der Fieberdurst muß gelöscht, durch und
+durch gelöscht werden. -- Dasselbe sagt auch der Bader daheim. Zwei
+Gulden spendier' ich noch.
+
+Er bleibt wieder ein paar Tage sitzen; dann aber brach er auf, um mit
+seinen achtundzwanzig Gulden ein nutzbares Geschäft zu beginnen. Als
+jedoch der gute Zillacher-Anderl im heißen Tage auf der staubigen
+Straße so wanderte, da kam er mit sich überein, daß er seine Erbschaft
+auf ein viertelhundert Gulden abrunden wolle! Blieben ihm drei Gulden
+gut, die er in der nächsten Schenke vertrank.
+
+Da war aber in demselben Jahre ein sehr heißer Sommer; entweder es
+war die Hitze oder es waren die heftigen Gewitterregen unerträglich,
+in beiden Fällen muß der Mensch ein Dach haben, und dazu hat Gott
+die Wirtshäuser erschaffen. Als die Barschaft des jungen Zillacher
+auf beiläufig zwanzig Gulden herabgesunken war, da sagte er: »Jetzt,
+Anderl, ist's g'nug!« Da er nun die Zeche gezahlt hatte, blieben
+ihm bloß neunzehn Gulden und fünfundneunzig Kreuzer in der Tasche.
+Ei, dachte er sich, der Gulden ist angezwickt, weg damit! -- Und in
+ähnlicher Weise ging's auf fünfzehn, auf zwölf, auf zehn herab. Und
+nun sagte der Zillacher-Anderl das denkwürdige Wort: »Mit zehn Gulden
+richtet einer heutzutage nicht viel aus. Der Mensch, der auf eine
+Erbschaft ansteht, ist eh nix nutz; mit eigener Kraft muß der Mann das
+Seine erwerben.«
+
+Er ging von einem Wirtshaus ins andere, und trank und trank. Und
+endlich war nichts mehr in seiner Tasche, als die Messingknöpfe. Da
+haben aber die Wirte neben der Wanduhr oder neben der Stubentür so
+schwarze Tafeln hängen, auf die mit der Kreide allerhand Buchstaben
+geschrieben werden können. Sagte eines Tages der Anderl: »Herr Wirt!
+Meines Vaters Sohn trägt einen ehrlichen Namen; tät Euch keine Schand'
+machen auf der Tafel.«
+
+»Das nicht,« antwortete der Wirt, »aber die Tafel könnte leicht dem
+ehrlichen Namen was herabzwicken. Traue dieser schwarzen Tafel nicht,
+Freund!«
+
+Der Anderl stutzte und war trübsinnig. Endlich sagte er zu sich: Was
+braucht man auch so einen dicken Brustfleck in der heißen Zeit? -- Er
+verkaufte seine Tuchweste und vertrank das Geld. Dann vertauschte er
+seine Ochsenlederstiefel gegen ein paar leichte Schuhe, sein Lodenwams
+gegen ein kühles Leinwandröcklein; das dadurch gewonnene Geld vertrank
+er.
+
+Wohl hatte er sich mittlerweile auch ein paar Groschen Taglohn
+erworben; aber das liebe Wirtshaus hatte ihm's angetan, und ehe noch
+zwei Monde nach seines Vaters Tod verflossen waren, saß der Anderl
+da, arm wie eine Kirchenmaus, bärtig wie ein Waldteufel; auch sein
+Schermesser hatte er vertrunken.
+
+Jetzt war er tief verzagt. -- Wenn einer nichts mehr hinabzugießen
+hat, so muß man die Gurgel zubinden, hat einmal einer gesagt --
+das leuchtete dem Zillacher-Anderl ein. Wenn der Fisch nicht mehr
+trinken kann, was hat er sonst auf dieser Welt? -- 's ist gar grausam
+bitterlich! -- Aber was kannst machen?
+
+Der Anderl wußte draußen in der Dorfau einen alten Birnbaum. Zu dem
+ging er hinaus, an dem kletterte er empor mit harter Mühe bis zum Aste,
+von dem aus er das Dorf sehen konnte mit seiner Kirche und mit seinem
+Wirtshaus. Hierauf machte er Reue und Leid, nestelte sein Hosenband
+los und schlang es um den Hals.
+
+Zur selben Stunde ging der Pfarrer am Birnbaum vorüber, er erschrak,
+als er das Beginnen des Mannes da oben bemerkte. -- Zachäus, steig'
+eilends vom Baum herab! heißt's in der Bibel. Jener hörte es nicht.
+»Anderl,« rief der Pfarrer, »tu' dir ~das~ nicht an! Aufknüpfen,
+na, das wär' doch eine Dummheit, die dich dein Lebtag reuen würde!«
+Vergebens, der Anderl wand bereits das Hosenband um den Ast. Der
+Pfarrer versuchte auf den Baum zu klettern, um die Tat zu verhindern,
+und der Selbstmörder kam mit seinen Vorbereitungen schon zu Rande.
+Da fiel dem Priester was ein. »Anderl!« rief er auf den Baum, »du
+~mußt~ herabsteigen, ich such' dich schon seit einer Stunde, ich
+habe just ein frisches Faß angezapft.«
+
+»So!« sagte der Anderl, »ja das ist schon wieder ganz was anders,«
+und sogleich kletterte er dem Erdboden zu. Sie gingen mitsammen in
+den Pfarrhof. Der Pfarrer schoß eine Weile im Hause herum, dann kam
+er zurück. »Das ist schon eine verzwickte Sach', Anderl, jetzt haben
+wir den Kellerschlüssel vertan. Die Köchin war beim Teich unten, hat
+Karpfen ausgeweidet, da ist ihr der Schlüsselbund ins Wasser gefallen.
+Was wir nur anfangen?«
+
+Der Anderl riet den Schlosser an, allein der Pfarrer versicherte, das
+Kellerschloß sei so gar heiklich bestellt und ein hiesiger Schlosser
+könne es justament nicht aufsperren. -- Die Tür erbrechen, schlug der
+Durstige vor; nicht möglich, meinte der Pfarrer, sie sei mit eitel
+Eisen beschlagen über und über. Das einzige Mittel: der Schlüssel müsse
+aus dem Wasser hervorgeholt werden -- ob der Anderl dazu behilflich
+sein wolle? -- Das versteht sich. -- Wurde denn fürs erste der Teich
+abgelassen, der da war, um des Pfarrers Kornmühle zu treiben; und als
+das Wasser verflossen war, machte sich der Anderl an den Schlamm, hub
+ihn schaufelvoll um schaufelvoll an das Ufer, arbeitete bis spät in den
+Abend und suchte den Schlüsselbund.
+
+Und als es finster geworden, rief ihn der Pfarrer ins Haus und sagte:
+»So, mein lieber Zillacher-Anderl, jetzt hast du mir ein gut Teil
+Schlamm aus dem Teich gefaßt, dafür sollst heut' fünf Groschen haben
+und das Nachtmahl und ein Krügel Wein -- der Kellerschlüssel hat sich
+vorgefunden.«
+
+Glotzte der Anderl verwunderlich drein.
+
+»Und wenn du mir den ganzen Teich ausschaufelst,« fuhr der Pfarrer
+fort, »so sollst du für das Tagwerk zwölf Groschen haben und die
+Köstigung und dein Krügel Wein.«
+
+So wurde es abgemacht. Und als der Teich in Ordnung und wieder mit
+Wasser gefüllt war, da bekam der Anderl Geschäfte in der Mühle. Nur
+immer hübsch beim Wasser, daß der Durst nicht zu stark wird. -- Es ist
+gar nicht zu glauben, wie ein Mensch sich ändern kann, wenn er danach
+geleitet wird. Der Pfarrer wußte den Zillacher wohl zu behandeln, und
+der Anderl wurde der beste Arbeiter, den er je noch gehabt hatte.
+
+Wenn sie dann abends beim Krügel Wein saßen, das dem braven
+Hausgenossen bislang vorenthalten wurde, und es anmutig zu sehen war,
+wie glatt und lind die lieben Tropfen ihrer Wege gingen, sagte einmal
+der Herr Pfarrer, dem Anderl auf die Achsel klopfend: »Wär' doch
+jammerschade um deine Gurgel, wenn du sie dazumal zugeschnürt hättest!«
+
+
+
+
+ 's Guderl.
+
+
+Wenn ich bei dir, mein lieber, himmlischer Vater eine Bitte frei
+habe: dem »Guderl« bereite ein recht feines, warmes Plätzchen dort
+oben in Deinem Himmel, vielleicht ganz nah' bei der Lieben Frau, sie
+wird sich mit dieser Nachbarin aus dem Steirerland nicht zu schämen
+brauchen. Aber eilen brauchst nicht, wir mögen die alte Ludmilla recht
+gern noch eine Zeitlang bei uns herunten haben und sie -- so arm und
+mühselig sie gleichwohl ist -- hat auch noch kein Verlangen, dieses
+Jammertal mit der himmlischen Freud' zu vertauschen. Sie fürchtet,
+dort oben wird sich niemand von ihr was Gutes tun lassen wollen, weil
+es ja ohnehin jedem so göttlich gut gehen soll -- und nachher freut
+sie der ganze Himmel nicht. Vielleicht, wenn sie einmal kommt, ist
+der heilige Laurentius so gut, seine Brandmale von ihr mit frischem
+Leinöl bestreichen zu lassen; oder der heilige Sebastian, sich von ihr
+die Pfeile aus den Wunden ziehen zu lassen; oder die blinde heilige
+Ottilia, sich von der Ludmilla herumführen zu lassen im Paradies, sich
+von ihr die himmlische Pracht erzählen und manchmal eine Butterbirne
+reichen zu lassen vom Baume. Ja dann, wenn sie wem einen Gefallen
+tun kann, wird es ihr auch selber gefallen im hohen Himmel oben,
+einstweilen paßt sie aber für die Erde besser.
+
+Alt und mühselig ist sie, und das kann ihr niemand nehmen. Seit sie
+im Vorbeigehen einmal jene Erklärung vom Schulmeister gehört hat, daß
+nach den Aufmerkungen im Lande eine gewisse, sich fast gleichbleibende
+Anzahl von Krüppeln vorkomme, seither trägt sie ihre verkümmerten
+Beine noch lieber, weil sie denkt: Gut ist's, ich trag' sie für einen
+anderen. Sie trägt die Beine, anstatt, wie sonst gebräuchlich, von
+ihnen getragen zu werden. Einmal ist auch die Ludmilla jung und gesund
+gewesen. Da ist vor Jahren drüben auf der Reisinger-Seiten ein Pferd
+scheu geworden, an das Pferd war ein Streuwagen gespannt, und auf dem
+Streuwagen hockten zwei Knaben, die sich krampfhaft an die Sprosseln
+klammerten und jämmerlich schrien. Der Reisinger reckte seine Arme
+zum Himmel und rief Gott und die Heiligen um Beistand an für seine
+Söhnlein. Gott und die Heiligen schoben rasch die Ludmilla voran, die
+am Feldraine Strauchwerk schnitt: Der alte Narr steht da und kann
+nichts als schreien, lauf du, Ludmilla, und pack' das Roß, ehe es zur
+Schlucht hinabkommt! -- Die Magd lief hinzu, erfaßte das Pferd am
+Kopfriemen. Eine Strecke weit wurde sie mitgeschleppt hinab über den
+steinigen Hang, endlich stand das Fuhrwerk still, die Knaben sprangen
+unversehrt davon, aber der Leib der Magd war arg zerschunden und
+zerrissen, ein Bein gequetscht, das andere gebrochen.
+
+Der Reisinger sagte hierauf zu seinen Söhnen: »Wenn die Ludl nicht
+wär', so wäret ihr jetzt auch nimmer. Wäret auch nimmer, daß ihr es
+wißt. Und sie ist jetzt ein elendiger Krüppel, und wenn ich nicht
+mehr bin und ihr seid auf dem Hof und sie ist noch am Leben, weil
+solche Leut' leider Gottes oft eine zähe Natur haben, so müßt ihr sie
+behalten, das ist eure verfluchte Schuldigkeit, daß ihr es wißt!«
+
+Als die Ludmilla das gehört hatte, packte sie still ihre Sachen
+zusammen. Da hatte sie warten wollen im Reisingerhof, bis ihr Sebast
+zurückkäme aus dem Strafhaus; in einem Jahr muß er ja endlich kommen
+und dann sind zwei arme Leut' mehr in der Gegend. -- Kaum noch zur
+Not geheilt, stolperte sie zu vier Füßen, wovon die zwei hölzernen
+verläßlicher waren als die zwei beinernen, vom Berg herab nach Bärndorf
+und bat um einen Platz im Armenhaus. Das ward ihr natürlich versagt,
+denn sie gehörte in die Gemeinde zum »Steinernen Elend« hinauf. Das
+Steinerne Elend aber hatte kein Armenhaus und auch kaum ein anderes
+mehr. Schier die ganze Gemeinde war abgestiftet worden und Abstifter
+war der Staat mit seinen Lasten, und jetzt wußte das Restlein der im
+Steinernen Elend Geborenen nicht einmal, wo es daheim war, und die arme
+Ludmilla hatte keine Heimgemeinde. Aber das unfreiwillige Gnadenbrot
+beim Reisinger wollte sie einmal nicht essen; es wäre ihr zu stark
+gesalzen, sagte sie. Dann kam sie doch noch in das Bärndorfer Armenhaus
+hinein.
+
+Als Aushilfswärterin kam sie zuerst nur auf ein paar Tage. Als diese
+paar Tage vorbei waren, ersuchte man sie um Verlängerung ihrer
+Aushilfstätigkeit und bald war ihr stillgeschäftiges, ratsames, sanftes
+und stets munteres Wesen den Kranken und Bresthaften so unentbehrlich
+geworden, daß sie im Armenhaus verblieb. »Und da g'freut's mich!« sagte
+sie nun oft. Dem Einen bettete sie das Lager bequemer, dem Anderen
+teilte sie etwelches von ihrem Brot, dem Dritten stellte sie was Grünes
+und Blühendes ans Fenster, dem Vierten besserte sie ein Kleid aus,
+sie konnte ja gar schneidern; und wo sie ein Zwirnfädlein liegen sah,
+und war es auch nur fingerlang, da tat sie es in ihren Nähkorb, der
+jedem, so ein Bändlein oder eine Nadel oder Schere oder ein Knöpfel
+brauchte, zur Nutzung stand. Für lange Abendstunden, wann sonst Tratsch
+und Mißlaune und Streit sich einzustellen pflegten unter den müßigen,
+mürrischen Bewohnern des Armenhauses, erzählte sie Geschichten, sang
+Lieder, wobei freilich ihre Lebhaftigkeit im Vortrag, sie half auch mit
+den Händen mit, die Stimmittel ersetzen mußte. Die dankbaren Gemüter
+behaupteten rundweg, die Ludmilla sei ein Engel, worauf sie allemal
+entgegnete: »Ja, wär' schon recht, wenn ich Flügeln hätt', auf den
+Füßen will's eh nit gehen.«
+
+Das Elend der Armut liegt zumeist nicht im Nichtshaben und Nichtssein
+allein, es liegt vielmehr noch in der Giftigkeit des Herzens, in der
+Scheelsucht des Armen gegen die Mitmenschen, selbst im Mißtrauen
+gegen die Wohltäter. So war ein Mann im Armenhause, sie hießen ihn
+den Einhandel, weil er nur eine Hand hatte. Der hatte sich in der
+Jugend aus Furcht vor dem Soldatenleben mit einer Zimmermannshacke
+den Zeigefinger der rechten Hand abgehauen; zur Wunde kam der »Brand«
+und mußte ihm die ganze Hand abgenommen werden. Viele Monate war er
+im Spitale gelegen und als er endlich geheilt war, kam er seiner
+Selbstverstümmelung wegen auf Jahre in das Zuchthaus und dann von
+diesem schnurgerade in das Armenhaus. Am meisten beklagte er hier
+den Verlust seiner Hand, weil er beim Beten den Rosenkranz nicht
+so handhaben konnte wie andere Leute, denn zwei Dinge waren seine
+Hauptbeschäftigung: das Beten und das Ehrabschneiden. An jedem und
+jeder wußte er was auszusetzen, gegen jedes Gute hatte er sein
+Bedenken, und es ging kein braver Mann um im Dorf, der nicht doch ein
+»schlechter Kerl« war. Gegen die Ludmilla wußte der Einhandel aber
+spottwenig aufzubringen und so ließ er gelegentlich nur durchblicken,
+sie würde es schon wissen, warum sie so fromm tue, und trotz ihrer
+Demütigkeit würde sie am Ende doch lieber mit neun Teufeln in die Hölle
+fahren, als mit einem Engel in den Himmel.
+
+»Geh, geh, Einhandel,« sagte ihm die Ludmilla einmal, »mach' dich nicht
+gar so bös' mit deinem losen Maul, bist ja doch ein guter Lapp.« Und
+schnitt ihm das Suppenfleisch klein, denn -- so scharf sein Mund sonst
+war -- mit dem Gebiß stand's schlecht.
+
+Am Armenhaus führte ein Feldweg vorbei, der gewöhnlich durch eine
+Torschranke abgesperrt war. Wenn nun die Ludmilla durchs Fenster ein
+Fuhrwerk daherkommen sah, torkelte sie allsogleich hinaus, um die
+Torschranke zu öffnen, damit der Fuhrmann sitzen bleiben konnte auf
+seinem Karren.
+
+Vor dem Armenhaus war auch ein Brunnen, der aus dem Ständerrohr
+armdick und rauschend in den Trog schoß. An diesem Brunnen hatte ich
+die Ludmilla das erstemal gesehen. An einem heißen Sommertag war's,
+ich kam als unbedachtsamer Student halbverschmachtet vom Gebirge über
+die sonnigen Felder her und nun eilends dem Brunnen zu, daß ich mich
+erquicke. In demselben Augenblicke, wie ich mein glühendes Gesicht
+zum Wasserquell senkte, kam das kleine, runde, wackelnde Weiblein aus
+dem Hause und erhob ein Zetergeschrei, daß ich emporfuhr und glaubte,
+es schlügen zum Dach die Flammen heraus. »Kruziwetter Paraplie, du
+leichtsinnig Volk du!« rief sie, dann nahm sie mich an der Hand und
+sagte ganz ruhig und warmherzig wie eine Mutter: »Mußt nicht trinken,
+Bübel, der Brunnen ist giftig. Nur ein Vaterunser lang wart', ich bin
+geschwind wieder da.« Damit verschwand sie im Hause, kam im nächsten
+Augenblick mit einer Schnitte Brot hervor: »So, da im Schatten setzest
+dich jetzt nieder und das issest schön langsam und wenn du es gegessen
+hast, netzest die Hände mit Wasser und den Nacken mit Wasser, und
+nachher kannst ein wenig trinken.«
+
+Aus dem Hause heraus hörte ich später noch sagen: »In der Hitz' so
+hineintrinken! -- Ich weiß zwar nicht, wem er gehört, hat aber gewiß
+Vater und Mutter, und so ein Bürschel darf man heut' noch nicht auf die
+Bahr legen.«
+
+Als ich mich hernach im Dorf erkundigte nach der Person, antwortete
+man mir: Das »Guderl« wäre es gewesen. Das Guderl, so wäre sie ihres
+guten, dienstfertigen und einfältigen Herzens wegen von den Insassen
+des Armenhauses getauft worden. Und sie wäre ein ganz merkwürdiges
+Geschöpf, hieß es, in der Jugend sei sie gar fein gewesen und man höre
+Geschichten, die sich ihretwegen einstmals zugetragen, aber man wisse
+nichts Sicheres; in ~der~ Gegend sei sie damals nicht gewesen und
+erzählen wollte sie auch nichts davon.
+
+Das hat mich denn gleich gepackt, und ein nächstesmal -- ich fand sie
+auf dem Dorfweg damit beschäftigt, eine Wasserkehre auszukrauen, damit
+die Gieß ablaufen konnte -- suchte ich mit ihr anzuknüpfen. Sie wäre
+wohl keine hiesige? fragte ich.
+
+Wie ich ihr das ansehe? fragte sie entgegen und stützte sich ein wenig
+auf den Haustiel, weil sie doch recht unsicher stand auf ihren Füßen.
+
+»Ansehen nicht, aber anhören am Sprechen.«
+
+»So, haben die Leut' im Steinernen Elend eine andere Sprache, wie die
+Bärndorfer dahier?«
+
+»Also vom Steinernen Elend seid Ihr? Das muß aber eine traurige Gegend
+sein.«
+
+»Das kommt auf die Leut' an, junger Herr,« gab sie zur Antwort, »die
+Steine sind überall hart.«
+
+»So ist es. Und die Leut' sollen auch im Steinernen Elend recht brav
+sein. Ich habe gehört, Ihr wisset so schöne Geschichten vom Steinernen
+Elend herab.«
+
+»Das hast du gehört!« rief sie aus, sie nannte mich »Du Herr«. »Aber,«
+fuhr sie lachend fort, »was doch die Leut' alles reden. Schöne
+Geschichten weiß ich! und etwan rechtschaffen lustige, nit?«
+
+»Rastet ein wenig, mit dem Weg eilt's nicht; ist ja der Himmel über
+und über blau, da ist die Gieß noch weit. Unter den Kirschbaum setzen
+wir uns hin und Ihr erzählt mir was.«
+
+»So närrische Sachen da!« rief sie, »ich weiß nix, ich weiß nix!« Damit
+schob sie sich um, daß das Röcklein flog, und kraute mit Hast an der
+Wasserkehre.
+
+Ein zweitesmal erging es mir nicht besser. Halb schmollend und halb
+bittend sagte sie, ich solle nicht kindisch sein, ich solle mich an
+junge Dirndeln machen, wenn ich was wissen wolle, und nicht an alte.
+Die alten hätten lauter Sauerampfergeschichten und möchte sich so ein
+flotter Herr leicht daran langweilen und darüber lustig machen.
+
+»Die Leute sagen, es hätte sich mit Euch etwas Besonderes zugetragen.«
+
+»Mein lieber Herrgott in der Krüppelkapellen!« lachte sie auf,
+»zutragen tut sich mit jedem Menschen was, wenn er sich's aufmerken
+will. Und das mag für ihn selber was sein, aber für andere nit. Ich
+erzähle nix.«
+
+Zwei Jahre später kam ich wieder nach Bärndorf, aber
+unfreiwilligerweise. Ich hatte mir bei einem kleinen Sturz im Gebirge
+die Kniescheibe verletzt, mußte zwei Tage lang in einer Köhlerei liegen
+und wurde dann nach Bärndorf hinabgebracht, wo ich beim »Weißen Lamm«
+eine Woche lang im Bette lag. Wer war's, der mich pflegte? Das alte,
+runde Guderl. Aber es war kaum mehr zu erkennen, über die ganze linke
+Seite des Gesichts, von der Stirne bis zum Halse hinab, hatte sie einen
+schier zinnoberroten Flecken und das linke Auge war geschwollen und
+hatte die Brauen und Wimpern verloren.
+
+»Gelt, jetzt gefall' ich dir, junger Herr?« sagte sie, als sie mein
+Befremden merkte, »jetzt, weil ich so schön rotwangig worden bin!«
+
+Des Einhandel wegen war sie rotwangig worden, und das ging so zu:
+Der Einhandel rauchte starken Tabak und rauchte den ganzen lieben
+Tag lang, und wenn er keinen Tabak hatte, dann rauchte er gedörrte
+Sauerampferblätter. Saß er zusammengekauert, einen Fuß über dem anderen
+und den Ellbogen auf dem Knie, auf der Ofenbank; die beiden Mundwinkel
+zog er tief hinab, in einem derselben stak das Pfeifenrohr, aus dem
+andern stieß er den Rauch herfür. Wenn die Pfeife nicht brannte, so
+machte er Gestank mit dem Ausputzen derselben, beim Anzünden wieder
+mit den Schwefelhölzern, die nicht brennen wollten. Und so ging es den
+ganzen Tag. Da hatte ihn die Ludmilla einmal in Güte gebeten: »Geh,
+Einhandel, sei so gut und tu nit gar so stark nebeln, oder rauch' beim
+Fenster hinaus, wenn du's schon eineinmal nit lassen kannst. Mußt halt
+betrachten, daß du nit allein im Haus bist. Schau, in der Stuben ist
+die alte Sanna, die muß so viel husten, und der Stindl hat Augenweh,
+weißt es eh, da tut der kratzend' Rauch halt wohl gar nit gut. Ist
+~dir~ was übel, so wird man's auch ändern, wenn's sein kann. Sei
+gescheit.«
+
+Auf so was wurde der Einhandel giftig wie ein welker Schierling. Er
+sagte es zwar nicht laut, aber zu seinem Kameraden, dem Marter-Hies,
+knurrte er: »Da hast es. Hab' ich nit alleweil gesagt, dieses Weibsbild
+ist ein Teufel! Und schon gewiß auch. Mir hat ihre Frommheit und
+Gutherzigkeit niemals gefallen, mir nit, mir! Hab's doch gewußt, es
+steckt ein höllischer Drach' dahinter. Desweg hinkt sie auch; der
+Teufel hinkt allemal. Guderl! ein sauberes Guderl, das! Luderl, ja, das
+ist das Richtige. Schau da her! Einem armen Menschen, der eh nix hat
+auf der Welt, als das bissel Rauchen, das auch noch nit gunnen mögen!
+Aber wart', jetzt erst zu Fleiß rauch' ich ihr recht unter der Nasen
+herum und das stinkendste Kraut, das ich auftreib'!«
+
+Er tat's, und wo die Ludmilla ging und stand und saß im Haus, immer
+war der Einhandel da und dampfte, daß man vor lauter Giftnebel die
+Stubenwände kaum sah. Sie hüstelte wohl und fuhr sich mit der Schürze
+über die brennenden Augen, sagte aber nichts, als einmal: »Wenn's schon
+sein muß, ich dertrag's, nur die Kranken tu ein wenig verschonen.«
+
+Von jetzt an dampfte der Einhandel den Augenleidenden und den
+Lungensüchtigen ins Gesicht. Nun beschwerten sie sich beim
+Armenhausverweser, dem Fleischhacker Marner, der zumeist auf Viehhandel
+aus war und sich daher um das Armenhaus nicht viel kümmern konnte. Es
+war auch schon wirtschaftlich so geboten: Das Vieh bringt Geld, die
+Armen kosten Geld. Nun, auf die Beschwerde konnte er doch nicht leicht
+ausweichen, der Verweser. »Da muß Ordnung gemacht werden!« sagte er
+großsprecherisch. Wurde der und die und auch das Guderl befragt, ob
+es denn wirklich so arg sei mit dem Rauchen des Einhandel? »Wenn er's
+nit just in der Stuben tät,« antwortete die Ludmilla, »draußen auf der
+Gartenbank kunnt' er rauchen so viel er wollt'; man sieht's ja ein, daß
+er auch was haben muß.«
+
+Auf das bekam der Einhandel einen Verweis, der noch um einiges stärker
+war als sein »Tubak« und der ihm so lange in der Nase rauchte, bis er
+eines Tages ein Fläschchen Scheidewasser von der Stelle nahm, wo er es
+»zum Putzen des messing'nen Pfeifenbeschlachtes« aufbewahrt hatte, und
+es der Ludmilla ins Gesicht goß.
+
+Es sei aus Zufall geschehen, behauptete nachher der Einhandel, er
+habe das Fläschchen zum Putzen hernehmen und den Stoppel herausziehen
+wollen, aber mein Gott, mit einer einzigen Hand! es sei halt ein Elend
+auf der Welt. Die Ludmilla sah wohl ein, daß sie und der Einhandel nun
+nicht mehr unter ~einem~ Dach hausen konnten, und um ihn nicht
+unterstandslos zu machen, ging sie selbst davon. Sie ging in den
+Häusern um, und gerade in solchen, wo das Elend war, sie brachte sich
+mit Krankenwarten durch. Es war ein rechtes Geriß um sie, überall in
+der Gegend, wo ein Kranker lag, wollte man das Guderl haben, und als
+ich nun mit meinem verletzten Knie beim »Weißen Lamm« darniederlag,
+hatte die Wirtin eben auch das alte Dirndl, die hinkende Ludmilla rufen
+lassen. Wie sie da geschäftig um mich herumtat! einmal den Eisumschlag,
+dann das Auswaschen der Wunde mit Arnikatee, dann jede halbe Stunde ein
+frisches Glas Wasser auf den Bettisch, falls ich trinken wolle; hernach
+den Fenstervorhang zugezogen, daß mir die Sonne nicht ins Gesicht
+scheine, oder das Kissen aufgeschichtet, daß ich hübsch lehnen konnte
+im Bett, auch unter den Arm einen Polster zur Stütze gelegt, damit mir
+beim Lesen das Halten des Buches die Hand nicht ermüde. In allem wußte
+sie mir es besser zu machen als ich es selbst konnte, ja besser, als
+ich es ahnte, wie man unermüdlich in liebevollem Sorgen und Erfinden
+allerlei kleiner Vorteile und Annehmlichkeiten gar das Kranksein zu
+einem Genuß machen könne. Dabei war sie doch so unaufdringlich und war
+so still heiter, wußte auch ein fröhliches Sprüchlein, ein anregendes
+Geschichtchen zu rechter Zeit.
+
+Und der rote Brandflecken auf ihrem Gesicht, der mir anfangs so häßlich
+erschienen -- ich sah ihn nicht mehr; ihre freundlichen Züge, der
+sanfte, gütige Glanz ihres Auges verbreitete eine andere Schönheit über
+die kleine verkümmerte Gestalt.
+
+Als ich endlich wieder laufen konnte, nahm ich die Ludmilla so an den
+beiden Händen, wie man seinen Schatz nimmt, wenn man ihm in die Augen
+sehen will, und sagte: »Mir tut nur eines leid. Daß ich schon laufen
+kann.«
+
+»Da sollst du froh sein, junger Herr, und unserem Herrgott Dank sagen,«
+so war ihre Meinung. Sie riß ihre Hand aus der meinigen, erfaßte den
+alten Strumpf, den sie zur Ausbesserung vorgenommen hatte und strickte
+emsig.
+
+Jetzt kam mir der Schalk und da rede ich allemal anders, als es einem
+Christenmenschen ansteht. »Heut' die ganze Nacht,« sagte ich, »hab'
+ich unserem Herrgott Dank gesagt. Auf das schaut er endlich herfür
+aus seinen Wolken und sagt: Geh' zu der Ludmilla. Die laß ich heilig
+sprechen, wenn der Papst einverstanden ist. Du hättest sie aber in der
+Jugend kennen sollen -- sie ist jetzt noch nicht alt -- aber in ihrer
+besten Jungheit, da ist sie ein lustig Dirndl gewesen!«
+
+»Wer sagt das?« fragte die Ludmilla scharf.
+
+»Unser Herrgott sagt's. Und wird auch nicht anders sein, brave Leut'
+sind immer lustig. Aber Esel müssen sie gewesen sein, die Burschen zu
+deiner Zeit!«
+
+»Warum?«
+
+»Daß dich keiner geheiratet hat.«
+
+Der Grund, warum ich so niederträchtig war, ihr ein solches Wort zu
+sagen? Weil ich endlich einmal ihre Jugendgeschichte hören wollte, und
+richtig, sie ging augenblicklich ins Garn.
+
+»Das just nit, Herr, daß mich keiner geheiratet hat,« sagte sie mit
+leiser Stimme und einem eigentümlichen Nachdruck. »Ich bin neunzehn
+Jahre lang verheiratet gewesen.«
+
+Ich erschrak ordentlich. Die Ludmilla, die man seit Gedenken als
+lediges Dirndl und Dienstbot kennt in und um Bärndorf herum, soll eine
+alte Witwe sein?
+
+»Jetzt gleich kannst du ohnehin nit fortlaufen, junger Herr,« sagte sie
+nun, »es ist ja der Socken noch nit fertig.« Ich gewahrte, daß es mein
+Socken war, an dem sie die durchgetretene Ferse anstrickte. »Haben
+noch ein Randl Zeit, wenn so einem Herrn mein Plaudern nit zuwider ist.
+Unterhaltsames ist halt nit dabei, da kann ich aber nix dafür. Ja, wenn
+sich der Mensch seine Lebensgeschichte kunnt anfrimmen (bestellen), ich
+hätt' mir die meinige schon besser eingerichtet. -- Willst den Fuß nit
+dieweil noch auf den Polster legen? er wird noch harten Weg genug unter
+sich kriegen, bis er heimkommt.«
+
+Sie wollte das gesunde Bein betreuen, als ob es noch immer das kranke
+wäre, und erst als sie sah, daß mein Körper in durchaus behaglicher
+Stellung war, setzte sie sich in den dunklen Winkel am Ofen, strickte
+und begann die Geschichte ihrer Jugend zu erzählen.
+
+»Gar gut,« so hub sie an, »ist es mir mein Lebtag nit ergangen, aber
+die liebste Zeit ist mir doch im Steinernen Elend gewesen. Mein Vater
+ist Bretterschneider gewesen im Steinernen Elend, hat jung sterben
+müssen. Wie ich ihm einmal -- just am Mittwoch ist's vor Fronleichnam
+-- das Essen in die Brettersäge trag', wundert's mich, daß das Werk
+steht, darauf sehe ich auf dem Sägespänhaufen, der unterhalb drin
+ist, eine blutige Hand liegen. Der Vater ist oben gelegen neben dem
+Bretterblock. Ist mit seiner Hand in die Säge hineingekommen, ist
+die Hand abgeschnitten worden, ist der Vater ohne Hilf' verblutet.
+Ich bin dazumal ein Dirndl gewesen, mit zehn Jahren; die Leut' haben
+mir und der Mutter gesagt: sterben müßten wir alle; das ist halt der
+Trost gewesen. Meine Mutter hat mir nachher das Gewandmachen gelehrt
+und sind wir zu den Häusern umgegangen und haben genäht. Etliche Jahr
+d'rauf ist meine Mutter auch gestorben. Hat sie mir auf einmal die
+Hand hergehalten über den Tisch, als wollt sie mir Behütgott geben,
+ist an die Wand zurückgesunken und eingeschlafen. -- »Du sollst,« so
+unterbrach sie sich, »den Fuß besser ausstrecken, sonst schlaft er dir
+ein.«
+
+»Erzähle nur weiter,« sagte ich.
+
+»Ja,« fuhr sie fort, »jetzt kommt bald das, was die Leut' so gern
+hören. Hast du vom Preishubinger noch nix gehört? Gewiß wohl, das Haus
+steht heut' noch und wird schier das letzte sein im Steinernen Elend.
+Dazumal, wie die Gemeinde noch größer, ist er ehrengeachtet gewesen,
+der Preishubingerhof. Von seinem Wald hat mein Vater die meisten
+Bretterblöck' bekommen. Der junge Preishubinger und ich haben uns gern
+gesehen. Und wie jetzt sein Vater stirbt und er den Hof muß übernehmen,
+will er mich heiraten. Ja gewiß auch noch, vom Fleck weg heiraten!
+Aber seine Mutter hat nit wollen. Die ist ein gestrenges Weib gewesen
+und hat gesagt: Keine Arme wird nit Preishubingerin, so lang' ich die
+Augen offen hab'. Aber sonst war sie gut, die alte Preishubingerin.
+Der Donat ist sonst woltern weich gewesen und hat gern bei allem
+nachgegeben; aber jetzt hat er sich auf seine zwei Füß' gestellt, und
+wenn er vier hätt' gehabt, hätt' er sich auf vier gestellt, und hat
+gesagt: ich heirate für mich und nit für die Mutter und ich laß mir
+keine aufmessen. Fest hat er sich gehalten. Ist bald alles richtig
+gewesen und hat uns der Pfarrer schon von der Kanzel geworfen. Denk'
+ich mir, das wird nit gut sein und wird der Donat sein Lebtag d'ran
+zu tragen haben, daß er ihren Segen nit hat. Und schon gar, wenn sie
+einmal gestorben ist. -- Nein, Donat, sage ich zu ihm noch zwei Tage,
+ehvor die Hochzeit hätt' sein sollen; ich sehe ihn noch, er ist an der
+Kirchhofplanken gelehnt und ich bin neben ihm gestanden und hab' die
+Händ' zusammengehalten. Nein, Donat, ohne ihren Willen tun wir's nit.
+Sie ist deine Mutter und meint dir's gut. Sie soll im Bett sein vor
+lauter Kränkung. Schieben wir's auf. Ich gehe hin zu ihr und sie soll
+mich kennen lernen, wie ich bin, und sie muß sehen, daß ich nicht so
+bin, wie sie denkt. Nachher ist's gut, wir haben uns keinen Vorwurf
+zu machen und deine Mutter -- schau, sie hat auch niemand mehr auf
+der Welt als dich -- soll sich auf ihre alten Tage nit kränken. --
+Der Donat sagt darauf: Wenn wir's jetzt nit fortmachen, was wir haben
+angefangen, so bleibt's aus. -- Nein, sage ich, es bleibt deswegen nit
+aus, man soll nur nix übereilen. -- Du kennst meine Mutter nit, sagt
+er, hat sie uns nur erst all zwei bei sich, so zerstört sie alles. Wir
+lassen uns nix zerstören, sage ich, und wenn wir unseren Fleiß haben
+angewendet und alles getan haben, wie es Brauch und Pflicht ist, dann
+mach' ich mir nix mehr d'raus, dann heiraten wir zusammen, ist's ihr
+recht oder nit. Und jetzt komm', hab' ich gesagt, wir gehen zu deiner
+Mutter. -- Da hat er nachgegeben. Wie wir in die Stuben eintreten,
+wo die alte Preishubingerin im Bett liegt und sie mich sieht, tut
+sie einen Schrei, als hätt' ihr einer mit der Hack' auf den Kopf
+geschlagen; die Decken zieht sie über ihr Gesicht hinauf und schreit:
+Das Unglück ist da! und setzt sich im Bett auf und ruft die Hausleute,
+man sollt' mich aus dem Haus jagen, und gibt mir einen Namen, daß ich
+gerade genug hab' gehabt. Ich bin fortgegangen, und dem Donat hab' ich
+gesagt, er soll' bei seiner Mutter bleiben und sie beruhigen und wenn's
+so wär', da wollt' ich auf alles verzichten. -- Nein! sagt der Donat,
+du wirst mein Weib, und fallt mir um den Hals.«
+
+Das Guderl war still und ganz ruhig; ich merkte warum: wenn sie sich
+jetzt bewegt und noch ein Wort sagt, so überkommt sie's. Ich wartete,
+und da sie nicht mehr anhaben wollte, so sagte ich: »Erzähle doch
+weiter, Ludmilla.«
+
+»Das ist nix zum Erzählen, ich sehe es wohl,« versetzte sie gedämpft.
+»Nun, wenn du schon willst, Herr, du kannst dir ja wohl denken, wie
+es kommt. -- Die Preishubingerin ist in eine Krankheit gefallen, der
+Donat ist bei ihr geblieben. Sie hat viel geweint, hat ihn gehalst und
+geherzt und er wäre ihr Einziges auf der Welt, und er sollt' ihr nit
+untreu sein. Die Steffen-Tochter wäre ein gutes, braves Dirndl, die
+sollt' er nehmen. Mit der Bretterschneider-Dirn' würde er nie glücklich
+werden, die schnitte ihm die Bretter zum Sarg.«
+
+»Du mußt dieses Weib doch einmal beleidigt haben, daß es so gegen dich
+sein konnte,« wendete ich jetzt der Erzählerin ein.
+
+»Ja, ich weiß es wohl,« antwortete sie, »ich bin unbedacht gewesen und
+hab's versäumt, ihr den Besuch zu machen wie es schon Zeit gewesen
+wäre. Aber weil ich immer gehört, sie wäre eine hitzige Frau, im guten
+wie im harten gäh und wild, so habe ich Angst vor ihr gehabt. Hätte ich
+mich schicken können zu ihr! Im Grund' soll sie doch eine gute Frau
+gewesen sein, sagen die Leute. Nun, Gott tröste ihre Seel'. Das ist
+lang vorbei.«
+
+»Der Donat wird doch fest geblieben sein?« war meine Frage.
+
+»Wie es ans Sterben ist gegangen bei der Preishubingerin,« sagte die
+Ludmilla, »da hat ihr der Donat das Versprechen geben müssen« ....
+
+»Und hat er's wirklich gegeben?«
+
+»Er hat nit anders können, er ist ein guter Sohn gewesen,« antwortete
+die Ludmilla. »Ich bin ihm nachher ausgewichen. Gottlob, habe ich
+gedacht, wir sind einander nix schuldig worden, und es ist das
+beste, wenn wir uns nimmer sehen. Er hat nachher die Steffen-Tochter
+geheiratet; das ist auch ein braves Weib gewesen, arbeitsam und zu
+der Wirtschaft tüchtig und gut auf den Donat. Aber das hat man wohl
+gemerkt: Glücklich ist er nit viel mit ihr. Ist mir heiß und kalt
+worden, wenn mich auf dem Kirchweg sein Blick hat getroffen. Und
+einmal, wie ich -- just am Mariahimmelfahrtstag ist's gewesen, ich weiß
+es noch wie von gestern -- auf dem Friedhof bei meinem Elterngrab knie
+und der Donat von dem seinigen über die Hügel hergeht! Wie er neben
+mir vorbeigeht, da stolpert er, stützt sich noch an einem Holzkreuz,
+daß es kracht, und ohne daß er mich anschaut, höre ich, wie er sagt:
+Hinfallen? Soll sein, heut' lieber als morgen. -- Ich rühr' mich nit
+und tu' als wär' ich im Gebet, und mir ist zum Umsinken so schlecht. --
+Er ist davongewest: Da habe ich mir gedacht: Jetzt muß was geschehen.
+Was, das weiß ich selber nit. Er denkt noch auf mich, und das darf
+nit sein. -- Und wie sich schon oft was schickt auf der Welt -- ich
+will nit sagen, unser Herrgott hat's so haben wollen; ich denk', es
+kommt auch auf die Leut' selber an -- auf dem Heimweg gesellt sich der
+Vorholzer Sebast zu mir. Der hat mir schon lang' alleweil schön getan.
+Und wie wir jetzt zum Lindenhäusel kommen, wo zu derselbigen Zeit Most
+und Branntwein ausgeschenkt worden ist, will er mich mit ins Wirtshaus
+haben. Das tue ich nit. Gut, sagt der Sebast, wenn du nit magst, mag
+ich auch nit -- und geht mit mir weiter. Da denke ich bei mir: Kannst
+dir was einbilden d'rauf, wenn der deinetweg das Wirtshaus fahren läßt!
+Wie wir durch den Waldschachen gehen, es ist dem Preishubinger sein
+Wald, da hat er mich gefragt, der Sebast, ob ich ja sagen wollt', er
+hätt' ein Häusel und zwei Gaißen und braucht' ein Weibsbild dazu. --
+Das Häusel ist im Steinwald drinnen; vom Preishubinger-Haus braucht man
+länger als zwei Stunden hinein. Das wird doch weit genug sein, denke
+ich mir und habe ja gesagt.«
+
+Nun schwieg sie und zählte die Maschen am Strickstrumpf.
+
+»So bist dem Vorholzer-Sebast sein Weib geworden?«
+
+»Ich hätt's nit schlecht getroffen,« fuhr die Ludmilla fort, »der
+Sebast ist ein braver, fleißiger Mensch gewesen, aber das Wirtshaus hat
+er sich halt nit mögen abgewöhnen, und wenn ihm dann der Branntwein
+in den Kopf gestiegen ist! So viel jäh ist er gewesen. -- Mein Gott,
+es hat halt jeder Mensch seinen Fehler. Ich werd' wohl auch nit gar
+zu fein gewesen sein, wenn er so heimgekommen ist. 's geht eins aufs
+andere. -- Aufkommt auch alles auf der Welt und alles wird viel stärker
+gemacht, und soll jetzt der Preishubinger gehört haben, mein Mann tät
+mich schlagen. Und da hat ihm halt einmal, wie er meinen Mann betrunken
+hat heimgehen sehen, der böse Feind den Einfall gegeben: geh ihm nach
+und schau', was Wahres ist am Gered'. -- Wie der Sebast heimkommt, laß
+ich ihn an: Es wäre doch Sünd' und Schad' ums Geld; sich im Wirtshaus
+Kopfweh trinken und daheim treibt der Holzknecht Thomas die Gaiß weg --
+weil wir ihm Geld schuldig gewesen sind. Da kommt meinem Mann der Zorn
+und er fahrt über mich her. Jetzt ist auf einmal der Preishubinger da
+und schleudert meinen Mann an die Wand. Und darauf --« Die Erzählerin
+wendet sich ab und murmelt gegen die Ofenmauer hin: »Darauf ist das
+Unglück geschehen.«
+
+»Was ist geschehen?« fragte ich und stand auf.
+
+»Mein Mann hat die Holzhacke von der Wand gerissen und den Donat
+niedergeschlagen.«
+
+Weich und leise hatte sie das gesagt, dann legte sie das Strickzeug auf
+die Ofenbank und ging still zur Tür hinaus.
+
+-- Niedergeschlagen! Erst später erfuhr ich den Rest. Der Donat hatte
+sich nach dem Schlage auf den Sebast gestürzt, war dann zu Boden
+gesunken und hatte den Geist aufgegeben. Der Vorholzer Sebast schrie
+noch der Ludmilla zu: »Du bist ~sein~ Unglück und bist ~mein~
+Unglück!« Dann ergriff er die Flucht. In der Niederau drüben, unter
+einem Heuschober hatten ihn die Gendarmen gefunden und gefangen.
+Zwanzig Jahre Kerker!
+
+Die Ludmilla hatte hernach wieder ihr Gewerbe, die Nähterei ergriffen,
+arbeitete und darbte und wartete auf den Sebast. »Wenn ich's nur
+erlebe,« sagte sie oft, »krank und mit weißen Haaren wird er mir
+zurückkommen, aber ich will ihm die alten Tage so gut machen, als es
+sein kann. Wenn ich's nur erlebe.«
+
+Von dem Donat sagte sie kein Wort mehr. Aber auf seinem Grabe --
+trotzdem die Witwe der großen Wirtschaft und vielem Sorgen wegen nicht
+Zeit hatte, es zu zieren -- fand sich immer ein grünender Strauch, ein
+helles Blümel. -- Als die Leute im Steinernen Elend durch Holzhändler
+verarmt, durch die Steuern abgestiftet waren und auswandern mußten,
+fand auch die Ludmilla keinen Erwerb mehr in ihrer Heimat. So kam sie
+herüber in die Bärndorfer Gegend und suchte ihr Brot als Dienstmagd, wo
+nachher das mit dem Pferde geschehen ist. Immer zählte sie die Jahre,
+bis ihr Mann zurückkehren sollte vom Strafhaus. Schon im voraus suchte
+sie die Leute für ihn zu gewinnen, erzählte von seinen Vorzügen, von
+seiner Bravheit. Man wartete schon mit einer gewissen Neugierde auf den
+Sebast und mehrere Bauern in Bärndorf stellten ihm der Ludmilla wegen,
+die sie überall gerne hatten, Dienstplätze in Aussicht. So hielt sie
+ihr Haupt aufrecht und ebnete -- wo sie konnte -- die Wege für ihren
+Mann. Da starb der Sebast ein Jahr vor Ablauf seiner Strafzeit!
+
+Nun wußte ich alles. Als ich dann den frisch beguteten Socken am Fuß
+hatte und den Wanderstab in der linken Hand, und ihre Hand in der
+rechten -- es war unter dem Tore des Wirtshauses -- da sagte ich zu
+ihr: »Ja, die Leute haben recht, du bist das Guderl. Aber wie es schon
+schlecht eingerichtet ist auf der Welt, dir ist das Gute schier noch
+allemal zum Schlimmen ausgefallen.«
+
+»Wie sie ihn festhält bei der Hand!« rief jetzt im Hofraum eine der
+Stallmägde der anderen zu. »Wie sie ihn festhält! Hat sie ihm ein
+Pflaster auf die Füß' bunden, daß er nit fort kann! Jetzt ist er doch
+auf der Höh'.« Und dann zur Ludmilla: »Nur nit auslassen, Luderl! So
+ein feiner Stadtherr kommt dir nimmer.«
+
+Erschrocken ließ ich ihre Hand los.
+
+»Hast du's gehört, Herr?« lachte die Ludmilla. »Es wird mir auch
+~das~ schlimm ausfallen. Aber das macht nix. Wenn sie ihre Mäuler
+schon alle Tage füttern müssen, so wollen sie sie halt auch brauchen.
+Das schadet mir nimmer, gleichwohl ich manchmal über und über möcht'
+rot werden im Gesicht, wenn mich nicht schon der Einhandel so schön
+gefärbt hätt'. -- Daß ich aber nicht vergess', ein Töpfel hätt' ich da,
+es ist ganz klein, du bringst es leicht ins Rocktaschel und macht nicht
+einmal einen Kropf.« Damit schob sie mir was Rundes in den Rocksack:
+»Arnikasalben ist drinnen, und ein Leinwandfleckel dabei. 's ist nur
+für den Fall, wenn der Fuß wieder sollt' anheben weh zu tun, oder sonst
+-- ei geh nein! Mußt halt sauber achtgeben, junger Herr, daß nit wieder
+was passiert. Behüt' Gott schön!«
+
+Sie rieselte davon, ich sah sie nimmer.
+
+Seither sind fünfzehn Jahre vergangen. Das Guderl lebt noch immer
+als Krankenwärterin in Bärndorf. Vor einigen Jahren habe ich ihr,
+eingedenk der Wohltaten, die sie mir erwiesen, einen kleinen Geldbetrag
+geschickt. Den soll sie zur Hälfte verschenkt haben, zur anderen
+Hälfte ist er ihr von einem ihrer Pfleglinge gestohlen worden. Später
+sandte ich ihr ein silbernes Kreuzlein; das ist ihr -- auch abhanden
+gekommen. Nun habe ich ihr vor einigen Monaten, als ich sie in Bärndorf
+wieder aufsuchte, zum Andenken ein aus Holz geschnitztes Kreuz
+gebracht. Das hat sie heute noch und das wird ihr bleiben.
+
+Jetzt, da ich fertig bin mit meiner Geschichte, höre ich meinen Leser
+entrüstet ausrufen: Elende, gottverlassene Welt, in der die Güte und
+die Treue so undankbar vergolten wird!
+
+Darauf antworte ich: Glückselige, gottbegnadete Welt, in der trotz
+alles Undankes die Güte und Treue nicht ausstirbt.
+
+
+
+
+ Der Figurlmacher.
+
+
+Es mag nun an die dreißig Jahre her sein seit jener Fahrt durchs
+Pustertal. Aber ich vergesse sie bis an mein Lebensende nicht. Nie vor-
+und nie seither hatte ich einem weltfremden Menschen so rasch und so
+tief in seinen Mittelpunkt geschaut, als diesem schlanken Knaben.
+
+Es war ein Sonntagsnachmittag. Über den Dolomiten war ein Gewitter
+gestanden, das nach einigen scharfen Tropfen, die es an mein
+Waggonfenster geschleudert, sich sachte verzogen hatte. Abendlicher
+Sonnenschein brach hervor und beleuchtete die Berge und die Kirchtürme
+und die frohen Menschen, die auf dem Bahnhofe versammelt waren, in
+den der Zug eben einfuhr. Aus der Gruppe von Männern und Burschen
+sprang jetzt ein junger, schmucker Mann mit Stock und Handbündel,
+verabschiedete sich rasch, schwang seinen Spitzhut, stieß einen
+grellen Juchschrei aus und stieg in mein Abteil, wo ich bisher allein
+gesessen war. Voll überlauter Lust rief er jedem einzelnen noch
+neckende Grußworte zu, und die Zurückbleibenden schrien: »Figurlmacher,
+behüt dich Gott, laß dir's schmecken, das Herrenleben!« Er sang einen
+schalkhaften Vierzeiler, jauchzte wieder, und der Zug fuhr ab. Ohne
+mich zu beachten, warf mein Reisegefährte den kurzen Kranabetstock und
+das rote Handbündel neben sich auf die Bank, setzte sich hin, trommelte
+mit der Fußspitze und pfiff ein heiteres Liedel. Vielleicht, so dachte
+ich, ist er darum so lustig, weil er seine ganze Sach' in einem
+Sacktuche mit sich tragen kann. Nicht jeder ist so glücklich, ich zum
+Beispiel war schon der Sklave meines Reisekoffers.
+
+Der Bursche war so, daß er den Weibern hätte gefallen müssen: schlank,
+stramm, und trug ein keckes falbes Schnurrbärtel; nur das Auge war
+zu zahm; das war mattblau und hatte einen feuchten Glanz wie bei
+einem Weibe, in dem die sittsam bezähmte und doch begehrende Liebe
+ist. -- Endlich war er ruhig geworden, stemmte seine Ellbogen auf die
+ausgespreizten Knie, und den Kopf auf die Hände gestützt, starrte er
+in den Boden hinein. Manchmal schaute er zum Fenster hinaus in die
+abendlich dämmernde Landschaft, dann hob sich seine Brust, als sollte
+wieder ein Jauchzen herauskommen, aber es kam keines, und mit einem
+leisen Seufzer sank sie wieder ein.
+
+Der Zug rollte fort und fort, an der Decke brannte zuckend die
+Lampe; schon lange mochte sie keine so stillverschlossenen Insassen
+gesehen haben, als an diesem Abende. An drei Stunden mochten wir so
+gefahren sein, als der Bursche ganz plötzlich an meine Brust sank
+und schluchzte. Ich war fast zu Tode erschrocken und tat mehrmals
+nacheinander die Frage, was das bedeute, was ihm geschehen wäre?
+
+»Ich kann's nit tragen!« stieß er hervor, »ich kann's allein nit
+tragen. Es ist zu hart.«
+
+Ich sprach ihm freundliche Worte zu. Wenn er ein Anliegen habe, so möge
+er es mir vertrauen, der Mensch dem Menschen. Bei Kummer und Leid,
+da gebe es kein Fremdsein. -- Denn ich kann niemanden weinen sehen;
+Frauentränen wird man zur Not gewohnt, aber ein solches Schluchzen aus
+der Mannesbrust ist erschütternd wie der Ausbruch eines Vulkans. Ich
+legte die Hand auf sein Haupt, das an meinem Busen lag, und sagte noch
+einmal: »Freund, Freund, was ist dir?«
+
+»Es ist so hart,« sagte er und sein Körper bebte.
+
+»Du bist ja erst so lustig gewesen?«
+
+Da lachte er krampfhaft auf: »Lustig! -- Mein Elend habe ich
+totschreien wollen.«
+
+»Ist dir ein lieber Mensch gestorben?«
+
+»Wie sie meinen Vater ins Grab gelegt haben,« entgegnete er, »und ich
+allein dasteh auf der weiten Welt -- es ist auch ein Schmerz gewesen.
+Aber so! So wie jetzt! -- Ich kann's nicht aushalten, ich muß es wem
+erzählen. Meine Kameraden daheim wissen nichts und wollten mich nur
+auslachen. Mit Spott will ich nit fort.«
+
+»Wenn ich recht verstehe, es ist gewiß ein Weibsbild im Spiele!« sagte
+ich.
+
+»Ja freilich,« antwortete er.
+
+»Ich habe mir's gedacht. Ein rechter Mann weint nur dreimal in seinem
+Leben: Wenn ihm Vater und Mutter gestorben sind, wenn ihm seine Ehre
+vernichtet wird und wenn er unglücklich in der Liebe ist. Zweimal
+habe ich auch schon geweint, mein Lieber, du kannst mir schon etwas
+vertrauen.«
+
+Es dauerte eine Weile, bis er so weit mit sich zurechtkam, daß er
+ruhiger sprechen konnte. Dann begann er zu erzählen:
+
+»Meine Eltern, die sind kleine Häusler gewesen, kümmerliche Leut'. Ich
+hab' mir mit Heiligenschnitzen die Groschen verdient und es werden nit
+viel Kirchen und Kapellen sein in der Gegend, wo nit von mir ein Figurl
+steht. Ich hätt' eine Freud' zum Schnitzen, aber mir fehlt's halt noch.
+Die Leut' loben mich überall und zahlen oft mehr, als ich verlang'.
+Nur eine --.« Da brach er ein wenig ab, fuhr sich mit der flachen Hand
+über die Stirn, machte dann eine Bewegung mit ihr, als wollte er etwas
+von sich scheuchen. »Es ist eine Torheit,« fuhr er nachher fort, »daß
+sich der Mensch so was zu Herzen nimmt. Aber halt gefreut hätt's mich,
+wenn sie mir ein einzigmal 'kommen wär' mit einem guten Wort über meine
+Figurln. Ja, den krummen Fuß oder die schiefe Nasen, oder wie schon
+was fehlschlagen kann, das hat sie gleich gesehen und hat mit ihrer Red
+den Fuß noch verkrüppelter und die Nasen noch birniger gemacht. Und
+ist mir was geraten, daß die Leut' gesagt haben: Schau' das kann er!
+-- da ist sie still gewesen und nit ein gutes Wörtel! Hab ich ihr's
+hingehalten: Was sagst zu diesem Herrgottel? Nit übel, gelt? Hernach
+ihre Antwort: Ist gut, wenn es dir gefällt, Figurlmacher. -- Jetzt, sie
+heißt Kathrin, und da hab ich ihr eine heilige Katharina geschnitzt,
+auch mit dem Rad, und sauber gemalt, daß solches Figurl ganz nett
+ausgesehen hat. Sie tut nit viel um und nimmt's und ich denk, gefreuen
+wird sie's, wenn sie es auch nit so scheinen laßt. Bei ihr ist alles
+inwendig, und in Ehren halten wird sie das Bild wohl dennoch, ich wette
+drauf, sie stellt's über ihr Bett aufs Wandkastel. -- Hernach nächstens
+wie ich wieder einmal zu ihr komm, ist mein erster Blick an ihr Bett
+hin auf die Wand. Was ich nit seh, das ist mein Figurl. Herentgegen
+hängt am Nagel ein mit Silber beschlagenes Gamsfüßel, wie solche Sachen
+der Knopfdrachsler, der Marx Zeindler, so hübsch herrichten kann. Mir
+fallt aber nichts ein und wie wir miteinand ein bissel heimgarten, frag
+ich so nebenhin, wo sie das Figürl hätt? -- Ja richtig, sagt sie, das
+muß ich wo vergessen haben, jetzt fallt's mir ein, das steht gewiß bei
+der Ahndl oder wo. -- Laß es stehen, sag ich, und bald nachher richt
+ich mich zum Fortgehen, weil mich die Sach ein klein bissel verdrossen
+hat. Jetzt, wie ich aber nit bei ihr gewesen bin, hab ich doch alleweil
+an sie denken müssen. Kein Mensch glaubt's. Ich kenne Schönere, als wie
+sie, und solche, die mich lieber hätten, aber es ist just, als ob mir
+die ins Herz gebrannt wär'.«
+
+Da der Bursche einhielt, so sprach ich: »Mein Lieber, das geht nicht
+dir allein so. Die Leute haben das Wort Liebe dafür erfunden, ist aber
+nicht das rechte. Verhext, wahnwitzig, das würde besser stimmen. Ein
+schwarzes Weiberauge und eine Tollkirsche haben auf uns Männer manchmal
+die gleiche Wirkung. Gegen Tollkirschengift ist frische Kuhmilch das
+beste Mittel, gegen das schwarze Auge hat es mancher mit dem Wein
+versucht.«
+
+»Trinken!« rief der Bursche, »hab mir's auch schon gedacht, aber wenn
+ich ein Anliegen hab, da schmeckt mir kein Wein, und es schmeckt mir
+keiner. Ich brauch wen, den ich ~gern~ hab und der mich wieder
+gern hat, und der meine Figurln mag -- wenn das ist, nachher bin ich zu
+allem aufgelegt. Aber so --«
+
+Er ließ den Kopf hängen.
+
+»Du bist auch so einer, der auf der Welt schon den Himmel haben
+möchte,« sagte ich. »Schau um, ob es ~einer~ so gut hat! Denke,
+du bist auf der Welt und halt dich an die Arbeit. Das Figurnschnitzeln
+wird dir dein Lebtag mehr Freude machen, als alle Weiber zusammen.«
+
+Jetzt begann er ganz unvermittelt vom Blitz zu erzählen: »In der
+Siebenbrunnkirche hat der Blitz eingeschlagen. Beim Turm ist er herab,
+hat die Orgel zerrissen, nachher zur Kanzel, zum Altar, zertrümmert die
+Mutter Gottes, und beim Taufstein wieder hinaus. Jetzt sind sie kommen
+und ich hab müssen ein Muttergottesbild schnitzen. Ist auch alles
+zufrieden gewest damit, nur der Marx Zeindler hat gesagt: Zu dieser
+Sternguckerin ging er nit beten, da ginge er schon lieber zu einer, die
+ihm keck ins Gesicht schaut und die Händ zum Halsen auseinander tät. --
+Weil ich meiner Mutter Gottes die Augen gegen Himmel hab richten lassen
+und die Händ' zusammenhalten, auf ein Gleichnis, als wollt' sie für
+die Siebenbrunner Pfarr fürbitten. Nun, so hat er gespottet, der Marx,
+und ich hab mir weiter nichts draus gemacht; er ist auch sonst so
+viel roh, wie soll er just bei mir fein sein. Es gibt ja allerhand so
+Leut auf der Welt. Sollt bei seiner Arbeit bleiben, Knöpfe drachseln,
+Hirschzähne einfassen, wie man sie so an den Sackuhren baumeln hat,
+Gamsbart und Schildhahnstöße binden für die Jäger, und so Sachen,
+das kann er, aber vom Figurlschnitzeln versteht er nichts. Hab ihm's
+gesagt. -- Jetzt hab ich mich aber doch gefreut auf die Kathrin. Das
+Muttergottesfigurl wird ihr wohl recht sein, und wenn sie sieht, wie
+die Leut zusammenlaufen und davor beten und ihm die Füß küssen -- und
+hat's der ihrige gemacht. Und einmal nach der Kirche, da frag ich sie:
+Du, was sagst denn eigentlich zu meinem Bildnis? -- Geh laß mich aus,
+dalkerter Figurlmacher, ist ihre Antwort, eine solche Sternguckerin
+da! -- Hab ich einmal gestutzt. Wie ist das? Jetzt haben die zwei, die
+Kathrin und der Marx, gleiche Gedanken! -- Und von dieser Stund ist
+meine Pein angegangen. Die zwei halten zusammen, hab ich gedacht, wo
+ich geh und steh. Sonst alles überhört, vergessen, ganz dumm im Kopf,
+nur alleweil denken: die zwei halten zusammen! Sie lachen die Figurln
+aus und den Schnitzler, und was sich der immer sittsam hat aufgespart
+für den Ehestand, an dem prassen sie allbeid, und ich bin der Gefoppte.
+-- Nit essen und nit schlafen hab ich können, zugrund gehen, hab ich
+gemeint, muß ich vor lauter Kränken; hab mir aber nichts merken lassen.
+Bin ich mit ihr zusammenkommen, so tut sie nit süß und nit sauer,
+spricht aber ein paarmal vom Heiraten, denn es ist schon ausgemacht
+gewesen zwischen uns, und einmal hat sie noch im Spaß gesagt: den
+Figurlmacher mag sonst keine, so will ich ihn aus Barmherzigkeit
+nehmen. -- Tut mannigmal weh, so was, aber laß mir's gefallen. Jetzt
+aber wird's mir ungleich und hab ich's versuchen wollen, ob's denn
+nicht möglich wär, sie zu meiden und mit einer anderen was anzuheben,
+weil ihrer genug sind gewest, die mir nachgeschaut haben. Aber je
+weniger ich an die Kathrin denken hab wollen, je fester ist sie mir
+im Sinn gelegen, und je höllischer ich sie hassen hab wollen, je
+höllischer hat's mich zu ihr gezogen, und wenn ich mir gar vorstell,
+daß sie mit ihm beisammen ist -- deutlich hab ich alles gesehen im
+Geist -- da hätt ich rasend werden mögen vor lauter Wut und Lieb. --
+Herr, wenn sie einen Mörder henken, ich werf keinen Stein auf ihn! Gott
+hüt uns, kein Mensch weiß es, wie nah er am Abgrund steht.«
+
+»Also weißt es, was noch schlimmer ist, denn so eine dumme Liebe!«
+bemerkte ich.
+
+»Am vorigen Samstag ist's gewesen,« fuhr der junge Mann fort. »Ich geh
+ins Breit-Viertel hinüber, Lindenholz kaufen. Wie ich im Wald bin,
+seh ich einen Knaben, der sich einen Peitschenstecken brechen will,
+das Lärchbäumerl ist aber zäh, läßt sich winden und drehen und will
+nit los. Halt, denk ich, nimm mein Messer, schneid's ab, äst's auch
+aus und richt's gerad, -- hat das Bübel eine Freud gehabt. Wie ich in
+den Graben hinab komm, wird's schon dunkel. Auf der Wiese ist Heu und
+mitten drin sitzt der Marx-Zeindler. Mit seinem braunen Schnurrbart und
+Funkelaugen und wie die Haarfetzen über die Stirn herabfahren -- ein
+schöner Mensch. Jetzt, wie ich noch ein paar Schritt weiter geh, sehe
+ich neben seiner die Kathrin. Reden tun sie nichts miteinand, schauen
+sich aber fest in die Augen, also daß man meinen kunnt, ihr Blick wäre
+ein eiserner Nagel, der die zwei Köpf zusammenheftet. Ich hab's meiner
+Hand nit befohlen, sie greift von selber um's Messer. Sucht im Sack
+und in allen Säcken und findet es nit; hab das Zeug unversehens liegen
+lassen oben im Lärchenwald. So schön! denke ich, einen Schutzengel
+haben die auch noch! Jetzt, was soll ich machen? Ich geh langsam rund
+herum; bin ich herüben, so hab ich sein Gesicht, bin ich drüben, so
+hab ich ihres. Eine so verdammte Unterhaltung hab ich mein Lebtag nit
+gehabt! -- Wenn die Liebe nit blind machen tät, sie hätten mich sehen
+müssen. Auf einmal, wie ich wieder hinschau, kommen sie mir allzwei
+häßlich vor, so häßlich, daß mir übel wird. -- Jetzt weißt es, sage
+ich zu mir, jetzt, was willst anfangen? Willst Lärm schlagen zu deiner
+Schand? Willst ihn erwürgen und sie heiraten? Nein. Da gibt's nichts,
+als still davongehen. -- Schon lang mein Wunsch nach Innsbruck in die
+Schnitzerschul. Eine ganze Nacht hat's gearbeitet in meinem Kopf:
+Sollst gehen? Sollst bleiben? Und je länger ich sinnier, je enger wird
+mir die Siebenbrunner Gegend und je breiter die Straßen nach Innsbruck.
+Wie die Sonn aufgeht, steht's fest. Und heut -- heut geh ich halt.«
+
+»Ich gratulier!« Mit diesem Wort wollte ich seine Hand fassen, er zog
+sie rasch zurück.
+
+»Denke dir, lieber Mensch,« sagte ich, »sie hätte sich dir angesüßelt
+und du kommst erst nach der Hochzeit zum Heu auf der Wiese!«
+
+»Mich däucht,« knirschte er und holte die Faust wie zum Stoß aus.
+
+»Das ist nichts,« unterbrach ich ihn, »du mußt dich weit furchtbarer
+rächen. Laß sie zusammen heiraten, er mit der Roheit, sie mit
+der Untreue, das geht weit über's Schnitzmesser! Und das bedenk:
+ein gleichgültiges oder absprechendes Wesen paßt nicht für einen
+Figurlschnitzler. Das würde dich mutloser machen, als alle
+absprechenden Urteile neidischer Kollegen, und deine Kraft lähmen. Die
+Mitfreude des geliebten Weibes an seinem Werke bedarf der Künstler, wie
+die Blume den Sonnenschein. Kein Mensch glaubt's, welch ein Segen für
+den Künstler das rechte Weib ist. Bedenk's und danke Gott.«
+
+»Aber --« entgegnete er, und die Stimme brach sich im Halse, »ich --
+hab sie lieb.«
+
+Es ist ewig dieselbe Geschichte. Da hatte er aus Trotz gejauchzt, aus
+Wut sich zum Auswandern entschlossen, aus Rache nach dem Messer gelangt
+und muß sie lieben, als wäre sie ihm ins Herz gebrannt.
+
+Wir waren in Franzensfeste, wo unsere Straßen sich trennten, die meine
+ging nach dem Süden, die seine über den Brenner nach der Hauptstadt.
+Vor dem Scheiden hatten wir gegenseitig unsere Namen genannt. Er hatte
+mich noch um Verzeihung gebeten, daß er mir sein Anliegen so vor die
+Füße geworfen, und gedankt, daß ich gut mit ihm gewesen. Jetzt sei ihm
+schon leichter. Dann gab ich ihm noch den Rat, er solle aufhören, sie
+zu hassen, dann würde er auch aufhören, sie zu lieben, und falls uns
+der Lebensweg noch einmal zusammenführe, würde er wirklich so lustig
+sein, als er es heut ~scheinen~ wollte. --
+
+Acht Jahre später brachte ich folgendes in Erfahrung. Die Katharina
+Zeindlerin machte eine Wallfahrt nach Maria im Anger. Die Kirche ragte
+in einer Waldgegend, in der manch freundliches Dörfchen und manch
+schmuckes Landhaus stand. Aber die Katharina schleppte eine Last von
+Kummer daher. Ihre Kinder waren teils blöde, teils ungeraten; ihr
+Mann war ein Wüterich, der sie mit seiner Eifersucht zu Tode quälte,
+während er selbst unlauteren Schlichen frönte, und so frech, daß die
+betrogene Gattin von seinen Zuhälterinnen noch verhöhnt wurde. -- Nun
+trat das arme, vor Schmerz gebeugte Weib in die Kirche. Auf den Knien
+rutschte sie bis zum Hochaltar, auf dem die Mutter des Heilandes stand.
+Das Angesicht von himmlischem Frieden verklärt, die Hände über der
+Brust gekreuzt, die Augen zur Höhe gehoben voll heiliger Inbrunst, so
+stand die hehre Gestalt da; und Katharina, als sie emporblickte zu
+ihr, mußte weinen. Vielleicht gedachte sie einer vergangenen Zeit,
+in der sie ein Bildnis mit gen Himmel gehobenem Blick spottweise die
+Sternguckerin genannt; heute war sie selber eine solche Sternguckerin,
+und es tat ihr wohl, daß das Auge der Gottesmutter ihrem trostlosen
+Herzen ein Wegweiser war empor zu himmlischer Erhebung.
+
+Und als das so hohen Fluges ungewohnte trübe Auge des Weibes wieder
+erdwärts sank, blieb es haften an dem Sockel der Bildsäule, in dem der
+Name des Schöpfers derselben eingegraben war. Ihr Herz hub zu pochen
+an, sie kannte den Namen.
+
+Aus der Kirche tretend, fragte sie den Beschließer, ob denn vielleicht
+der Künstler noch lebe, der das schöne Gnadenbildnis gemeißelt habe?
+
+Der Beschließer streckte seine Hand aus, nach einem stattlichen
+Landhause weisend, das auf einer sachten Höhung stand und von schönen
+Bäumen umgeben war: »Das dort ist sein Haus, und da wohnt er drinnen.«
+
+Also schlich nun in der Abenddämmerung das Weib zu dem bezeichneten
+Hause hin, und zwischen den Planken lugte sie hinein in den Garten.
+Da hörte und sah sie eine Schar hübscher, munterer Kinder, da sah sie
+eine schöne, freundlichschauende Frau, und mitten unter diesen Menschen
+sah sie ihn. In seinem Wesen lag eine Ruhe, aus seinen Augen strahlte
+lauteres Glück.
+
+Der Figurlmacher! -- Das Weib taumelte wegshin. Sie sah jetzt den
+Unterschied, der da ist, wenn man den Blick zur Höhe richtet, wo
+freudige, himmeldurchfliegende Gläubigkeit herrscht, oder der
+schmutzigen Erde zu, wo solche krauchen, die nichts können, als Knöpfe
+drachseln, Gamsfüßeln beschlagen und auf dem Heu liegen.
+
+
+
+
+ Der junge Geigenspieler.
+
+
+Eines Tages sah der junge Ministrant Giedel bei seinem Pfarrer in
+Schwandau ein Holzkistchen. Er betrachtete es über und über; es war
+von länglicher Form, inwendig leer, und hatte sehr dünne Wände. Als
+der Herr Pfarrer dem Knaben den Ministrantenanteil von der Messe --
+zwei Kreuzer -- ausbezahlte, sagte der Giedel bescheidentlich: Auf
+Bargeld gehe er schon weniger, aber wenn der hochwürdige Herr ihm das
+Holzkistel schenken wollte, so würde er dafür gerne den Winter über
+umsonst ministrieren.
+
+»Kind!« rief der Pfarrer, »wozu willst denn das Ding? Es ist ja ganz
+leer!«
+
+»Just deswegen,« antwortete der Kleine, »ich kann bloß die leeren
+Sachen brauchen.«
+
+»Du bist nicht klug, Giedel. Das Zigarrenkistel kannst mitnehmen, und
+für die Meß kriegst täglich deine Kreuzer, wie sonst. Bist ja ein
+braver Bub du! Gott behüte dich!«
+
+Voller Freude lief der Knabe mit seinem hohlen Schatze heim in des
+Vaters Hütte. Dort hub er an zu schaffen. Er bohrte durch das Kistchen
+Löcher, zog einen Balken durch, so daß dieser an beiden Seiten
+hervorstand. Dann erbettelte er von der Mutter mit List einige Fäden
+Hanfgarn, glättete sie mit Harz und spannte sie über das Kistchen,
+ähnlich wie man auf eine Geige die Saiten spannt. Und als er mit den
+Fingern die Fäden zupfte, wohl, wohl, da gab's einen Ton, der im
+Kistchen eine Weile nachklang. Der Giedel hatte auf dem Kirchenchor
+Pfeifen- und Saitenspiel gehört, er war dabei bis in den dritten Himmel
+verzückt gewesen, aber jetzt war er's bis in den siebenten, denn der
+Klang war von ihm selbst erfunden und erzeugt, und je nachdem er mit
+dem Finger den Faden strammer oder loser spannte, gab es einen höheren
+oder tieferen Ton. Als das so weit war, wagte der kleine Giedel einen
+schweren Gang. Der Pferdeknecht des Nachbars war sein Feind, denn er
+war ein roher Geselle, und die Töne, die der rote Rupert durch Fluchen,
+Peitschenknallen und andere Mittel hervorbrachte, waren dem Giedel
+verabscheuenswert. Und gerade dieser Mensch konnte ihm jetzt helfen.
+
+»Guter Roßknecht Rupert!« redete ihn der Kleine an. »Hast du keinen
+Roßschweif?«
+
+»Ich nicht, Narr, aber mein Pferd.«
+
+»Verkauf mir davon ein Strähnl?«
+
+»Was zahlst?«
+
+»Das Ministrantengeld bis Weihnachten.«
+
+Der rote Knecht glotzte mit seinen unterlaufenen Augen den hübschen,
+treuherzig blickenden Knaben ein Weilchen an, dann sagte er:
+»Pferdeschweifhaare willst. Sollst ihrer haben. Dein Ministrantengeld?
+den Bettel behalt' selber, aber zu mir herüber in den Stall kannst
+du manchmal kommen, wenn du Zeit hast. Weißt, wenn ich am Feierabend
+meinen Tabak rauch', da hab' ich's gern, wenn mir wer das Haar kraut.
+Bin's von Kindes her so gewohnt. 's tut mir halt wohl. Wenn du manchmal
+herüberkommst krauen, so kannst Pferdeschweif haben, so viel du willst.«
+
+Dem Knaben ging es ganz kalt über den Rücken. Diesem Menschen das Haar
+krauen! »Die Mutter laßt mich halt nicht,« sagte er dann verzagt, »aber
+das Ministrantengeld bis Heiligdreikönig!«
+
+»So wart' ein wenig,« sprach der Pferdeknecht, und der Giedel bekam
+einen silbergrauen Strähn vom alten Schimmel. Jetzt war's gewonnen.
+
+Er schnitt einen Weidenzweig, spannte daran die Haare, und der
+Fiedelbogen war fertig. Dann hub er an auf seiner Geige zu fiedeln. Es
+war außerordentlich! Es war darum außerordentlich, weil das ganz anders
+stimmte, als andere Geigen, wenn auch nicht schöner, aber durchaus
+anders. Tagelang spielte der kleine Musikant auf seinem Instrumente,
+anfangs mit großer Selbstbefriedigung und Hoffnung, daß sich das Zeug
+vervollkommnen lassen werde, allmählich aber mit weniger Zuversicht,
+und als gar sein Vater, der Weber Franz, ein Donnerwetter losließ über
+das schauderhafte Gekrächze, das da sein Bub hervorbringe, war es
+geschehen. Der Giedel legte seine Geige auf den Holzblock, ging hinaus
+unter den Apfelbaum und war betrübt. Musizieren, geigen! Er schnitt
+sonst Pfeifen und blies hinein, er machte Pauken und trommelte darauf.
+Alles ging leidlich, nur die Geige nicht. Wenn er dann am Sonntage den
+Schulmeister das Meßlied geigen hörte, da vergaß er seine lateinischen
+Sprüche und horchte versunken dem Spiel. Minutenlang konnte der Pfarrer
+seinen Kelch hinhalten, der Knabe hielt die Wein- und Wassergefäßchen
+in den Händen und goß nichts hinein. Er horchte auf das Geigen. Der
+Pfarrer schalt ihn nicht, es wurden ihm die Augen feucht. In diesem
+Kinde der glühende Drang nach dem Schönen, und es kann sich nicht
+helfen? Wie reich ist die Welt an Herrlichkeit und Kunst! Wie üppig
+blüht in den Städten und Höfen der Großen die göttliche Musik auf! Die
+Harfe, die in einem Dorfe zu Gottes Lob ertönt, ist nur ein Stammeln
+dagegen! Und selbst dieses Stammeln ist dem Knaben unerreichbar ...
+
+Ging der Pfarrer zum Weber Franz und bettelte ihm mit vieler Mühe den
+Giedel ab für eine tägliche Musikstunde.
+
+»Du lieber Gott!« sagte der Weber: »Eine Stunde des Tages haben ihn
+Hochwürden ohnehin bei der Messe; jetzt soll ich ihn noch eine zweite
+Stunde herlassen? Muß ihn ja doch für mich abrichten, und er soll
+arbeiten lernen. Wir sind halt arme Leute. Aber wenn er um eine Stunde
+früher aufsteht, -- der Junge liegt mir jetzt alle Tage bis sechse in
+der Früh'! -- so kann er meinetwegen seine Musikstunde haben.«
+
+Nun, da hätten wir ihn ledig. Jetzt ging der Pfarrer zum Schulmeister
+und sagte: »Unser Giedel. Mir tut er ins Herz hinein weh. Probieren Sie
+es alle Tage ein Stündel mit ihm. Zahlen kann sein Vater nichts, aber
+ich meine, es ist so viel als Kirchenmusik zum Lobe Gottes, wenn Sie
+diesem musikbegeisterten Kinde das Saitenspiel lehren?«
+
+Der Schulmeister reichte dem Pfarrer schweigend die Hand, da war es
+abgemacht.
+
+Also geschah es nun, daß der Giedel täglich in das Schulhaus kam und
+auf einer alten Geige, die der Schulmeister ihm lieh, nach mühesam
+eingelernten Noten die Saiten strich. Es war ein Glück, und es war ein
+Fleiß, und es war eine Plage. Nach etwa einem halben Jahre waren sie
+soweit, daß der Schulmeister zum Pfarrer sagte: »Mit dem Knaben ist es
+ein Elend. Ich bringe ihm keine Noten und keine Regeln in den Kopf. Wo
+er nach der Vorschrift sich üben soll, ist es gar nichts; er vergreift
+sich, und man kann ihm auf die Finger klopfen wie man will. Wenn er
+aber für sich phantasieren kann, da ist es manchmal erstaunlich,
+geradezu erstaunlich! Das hilft alles nichts, wenn er das Theoretische
+nicht inne kriegt, so ist alle Mühe verloren.«
+
+Doch taten sie eine Weile so fort. Allmählich aber änderten sich die
+Zeiten. Der gute alte Pfarrer zu Schwandau ging zum Altenruhsitz in
+ein Kloster. Der Schulmeister wurde versetzt, der Weber Franz starb,
+und der Giedel mußte als Majoratsherr in der armen Hütte die Ernährung
+der Familie über sich nehmen. Die Geige, schon mit Abgang des
+Schulmeisters ihm aus der Hand gesunken, mußte er sich nun auch aus dem
+Kopfe schlagen. Es kamen die Jahre, in welchen dem Menschen der Himmel
+voller Geigen zu hängen pflegt; an Giedels Himmel hing nichts als eine
+große Flöte, auf der er Trübsal blasen konnte, wenn er das Blasen
+überhaupt gelernt hätte.
+
+Eine halbe Wegstunde von Schwandau in einem Seitengraben stand damals
+ein kleiner Eisenhammer. Heute ist er ganz verfallen, nur der blockige
+Schornstein steht noch da, und rings um ihn wuchert Holundergesträuche
+und Nesselwerk. Der voreinstige Besitzer ist hinausgezogen in das weite
+Tal, hat dort ein großes Sensenwerk gegründet, hat Ländereien und Wald
+dazugekauft, und als der Besitz recht groß und die Werkschaft recht
+angesehen war, hat er alles an eine Aktiengesellschaft abgetreten und
+sich selber in die Stadt gezogen, wo er sein Geld in vornehmer Weise
+und sorgenlos genießen konnte. Zu jener Zeit, von der hier die Rede
+ist, pochte das emsige Eisenhämmerlein in der Waldschlucht Tag für
+Tag, und dem Weber Giedel pochte fast noch heftiger das Herz, wenn er
+es hörte. Denn im Hammerhause war Eine! Jung und gut und lieb! Das war
+ihm schon recht, wenn sie nur nicht so schön gewesen wäre! Wie kann
+ein armer Weberbursche sich an eine Hammerschmiedstochter wagen, wenn
+sie so gottlos schön ist! Er kriegt sie nicht. Hundert andere sind,
+reiche, vornehme, kecke! So gern kann sie freilich keiner haben, als
+der Giedel, aber sie weiß es nicht, und er kann es ihr nicht sagen, und
+so wird der Jüngste Tag kommen und die Paula Radhuberin wird es immer
+noch nicht wissen, daß sie auf Erden einer so über alle Beschreibung
+gern gehabt hat. Denn wie kann er es sagen und schreiben, wenn es
+unsagbar und unbeschreiblich ist! -- Einmal an einem Sonntage hatte er
+sie von der Kirche aus begleitet bis zur Brücke, über die der Weg zum
+Eisenhammer hinanführt. Garnkaufen müsse er gehen, hatte der Giedel
+gelogen, um eine Weile neben ihr herschreiten zu dürfen. Sie plauderten
+und es war von sehr wichtigen Sachen die Rede: Daß doch die Straße
+einmal geschottert werden sollte! Daß es wieder gar so viel regne in
+diesem Sommer! Daß Korn und Obst verderbe! Nur das Heu würde geraten!
+Und beim Heu hielten sie sich so lange auf, bis die Brücke kam. Dann
+wünschte sie ihm einen guten Garnhandel, und er sagte: »Dank' schön!«
+und also stand er wieder allein. Hinter einer Fichte stand er und
+guckte ihr nach, solange der rote Punkt, denn sie hatte ein kirschrotes
+Kittlein an, im Hohlweg zu sehen war.
+
+Nach diesem Spaziergange verschloß sich der junge Weber in seine Stube
+und verfaßte ein Schreiben an die ehr- und liebsame Jungfrau Paula
+Radhuberin. Als er das Schreiben durchlas, war es trocken wie ein
+dürrer Ast. Kein grünes Blatt und keine rote Blüte war daran und doch
+wucherte in seinem Herzen ein so üppiger Rosengarten, daß der arme
+Junge fast erstickte. Den Brief zerknitterte er und warf ihn in die
+Asche des Ofens.
+
+Leute, die vielleicht noch Hemden am Leibe tragen aus jener Zeit und
+von jener Leinwand, die der verliebte Weberbursche Giedel gewoben,
+müßten es eigentlich heute noch spüren, das trostlose Herzweh, das
+er in die Fäden hineingewebert. Damals hat's kein Mensch geahnt, wo
+es fehlte; weil er so blaß und traurig war, der Giedel, so meinten
+etliche, er hätte es auf der Brust. Sie hatten recht, aber anders, als
+sie meinten. Seine alte Mutter riet ihm oft, er solle nicht immer am
+Webstuhl sitzen, er solle sich besser zerstreuen. -- Wieso denn? Lieben
+darf ich nicht, und geigen kann ich nicht. -- Denn er hatte gar keine
+Geige, und es war noch nie möglich gewesen, sich eine anzuschaffen. Da
+kam eines Tages eine große Aufregung.
+
+In Schwandau lebte seit kurzer Zeit ein ausgedienter Major, der eine
+große Geigensammlung besaß. Wie es schon allerhand Sammler gibt auf
+der Welt: Käfersammler, Tabakspfeifensammler, Hosenknöpfesammler,
+Spielkartensammler, Spazierstöckesammler, Uhrschlüsselsammler und
+immer so fort, so kam es dem Major, als er in seinem Ruhestande
+nichts zu tun hatte auf der Welt, plötzlich in den Sinn, er müsse
+eine Geigensammlung haben. Da er, wie gesagt, selbst nicht geigte und
+sein Museum auch selten einem neugierigen Auge aufschloß, so hatten
+die guten Leute zu Schwandau kaum eine Ahnung von all den Walzern,
+Ländlern und anderen Weisen, die ungeweckt in ihren Mauern schliefen.
+Da kam jener Sonntagnachmittag, an dem der Weber am Waldhange die
+zwei Ziegen weidete. Sein Schwesterl, das sonst den Hirtendienst zu
+besorgen hatte, war in den nächsten Kirchort zur Firmung gegangen.
+Wie er im Moose so dalag und ganz gedankenlos in das offene Fenster
+eines gegenüberstehenden Hauses blickte, ging es sachte und traumhaft
+in ihm auf wie eine übernatürliche Erscheinung. Dort drin an der Wand
+hing eine Geige, ihr zur Rechten hing auch eine solche, ihr zur Linken
+hingen deren zwei kleine, ihr zu Füßen war eine Riesengeige -- aus dem
+Stubenschatten immer deutlicher hervortretend Geigen und Geigen.
+
+Dem Burschen begann fast zu schwindeln, die Wangen, die Stirne waren
+ihm heiß, das Herz wurde ungeberdig, die leidenschaftliche Gier zur
+Geige war wieder da. Als er am Abend nach Hause kam, und die Mutter
+nach den Ziegen fragte, war er verwundert, weshalb just er von den
+Ziegen etwas wissen sollte. Zum Glück kamen sie selbst heim und
+meckerten ihre Ankunft. In der darauffolgenden Nacht schritt der
+Giedel den Weg hin und wieder von Schwandau bis zum Eisenhammer. Als
+er das erste Mal vor ihr Fenster kam, war noch Licht darin, das zweite
+Mal war schon alles finster. Unterwegs begegneten ihm Nachbarsburschen,
+die zu den Fenstern ihrer Liebsten gingen, dort allerlei Ständchen
+brachten und getröstet heimkehren konnten. Der eine spielte unterwegs
+eine Mundharmonika, der andere eine Maultrommel, der dritte jodelte und
+der vierte pfiff vergnüglich vor sich hin. Und jener, der ganz still
+war, atmete die Harmonie inneren Glückes. Also ist die Liebe stets
+musikalisch. Nur der arme Giedel empfand keinen Wohlklang in seinem
+Wesen. Er kam sich dumm und häßlich vor, ihm mangelte jener Wohlklang
+des Herzens, der zu rechter Zeit mutig macht, ein Glück zu erringen. Im
+Dorfe stand der Giedel vor dem Hause, in dem der Major mit den Geigen
+wohnte. -- Daß es so herzzerdrückend still sein kann auf dieser Welt!
+Da haben die Leute einen Mund und eine Sprache, und Geigen, und sind
+doch stumm.
+
+Lange nach Mitternacht ging er zu Bette, erst gegen Morgen schlief er
+ein und geigte und geigte.
+
+Noch ganz verschlafen war er, als übertags zwei Frauenzimmer ins Haus
+kamen mit Körben Garn; das eine war die Magd vom Eisenhammer, das
+andere war die Paula. Diese blickte den schlanken, blondhaarigen,
+sanftdreinschauenden Burschen frisch an und sagte: »In vier Wochen
+müssen wir Leinwand haben. Sie ist zur Ausstattung!«
+
+»Will wohl trachten,« antwortete der Giedel, hatte aber nicht den Mut
+zu fragen, wer denn heirate? Man atmet ja gern noch ein wenig in der
+süßen Ungewißheit. ~Dann~ ist ohnehin alles aus.
+
+Auf dem Heimweg sagte die Magd zur Hammerschmiedstochter: »Etwas
+antappert ist der Weber.«
+
+»Ich denk', der ist ein bissel gescheiter wie du!« entgegnete strafend
+die Paula. Weiteres wurde nicht gesprochen.
+
+Der Giedel wußte wohl, daß er als einzige Stütze seiner Familie
+wehrfrei war. Dennoch ging er eines Tages zum Major, um Rat zu bitten,
+wie er dem Soldatenleben entkommen könne.
+
+Der Major, eine schlanke, hagere Gestalt, deren einzige Lebensaufgabe
+es noch war, den dummen, krummen, plumpen Dorfleuten militärische
+Haltung zu zeigen, strich heftig seinen Bart und ließ den Burschen die
+Oberkleider ausziehen.
+
+»Bravo!« schnarrte der alte Offizier, »das ist wieder einmal ein
+Brustkorb!« Mit der Faust hieb er darauf, daß es dröhnte. »Hören Sie!
+Das ist Grundton. Nein, nein, lieber Junge, Sie brauchen sich gar nicht
+zu grämen, Sie sind tauglich. Gerad' halten!«
+
+Giedels Blicke waren mittlerweile wirr im Zimmer umhergeflogen, aber
+nicht so sehr aus Angst vor dem Militär, als vielmehr aus Hoffnung,
+durch irgendeine halbgeöffnete Tür ins Geigenzimmer lugen zu können.
+Da er aber nichts dergleichen entdeckte, da er wieder vollkommen
+angekleidet zum Fortgehen bereit war und seine ganze Falschheit umsonst
+zu sein schien, hob er mit einem tiefen Atemzug sein Herz aus der Brust
+und fragte: »Haben der Herr nicht eine Geigensammlung?«
+
+»Wissen Sie mir ein interessantes Instrument?« fragte der Major rasch
+entgegen.
+
+»Das nicht, aber,« stotterte der Giedel, »ein wenig anschauen, wenn ich
+sie dürfte!«
+
+Allsogleich war die Tür offen in das Nebenzimmer. Ehrfurchtsvoll wie in
+ein Heiligtum trat der Bursche ein, so daß er vor lauter Andacht über
+die Schwelle stolperte und »oha!« rief. Er war ganz rot im Gesicht,
+teils wegen seiner Ungeschicklichkeit, teils vor innerer Erregung. Die
+Wände des Zimmers waren mit grauem Tuche überzogen, und daran hingen
+sie nun in allen Größen, Arten und Formen. Wie schön geflammt war das
+Ahornholz dieser Instrumente, wie fein geschwungen und gewölbt war der
+Bau, wie reizend waren die langen Hälse mit ihren köstlich gewundenen
+Schnecken! Und die Fiedelbögen: schlanke und kurze, breite und schmale,
+gerade und gebogene in allen Farben! Der Major, sich darüber freuend,
+daß einmal eine menschliche Seele Anteil nahm an seinen Schätzen,
+begann zu erklären, von wem diese und jene stamme, welche Seltenheit an
+dieser und jener wäre, er hatte da Geigen von Amati, von Montana, von
+Guarneri, von Bergonzi, von Jakob Stainer usw. »Und hier!« flüsterte
+er, eine sehr flachgebaute Violine mit fast hellrotem Anstrich
+feierlich von der Wand nehmend, »hier, die ist von Stradivarius! --
+Eine Cremoneser! -- Geradhalten, saperment!«
+
+Unserem Giedel waren nun zwar die fremden Namen ziemlich gleichgültig,
+doch hörte er sie mit Ehrerbietung nennen. Als der Major an der
+Cremoneser mit dem Finger die Saiten berührte, um den herrlichen Ton zu
+zeigen, sagte der Bursche: »Bitte, geigen Sie eins!«
+
+»Ich spiele nie,« antwortete der Major, hing das Instrument mit größter
+Sorgfalt wieder an seinen Platz und schob den Burschen sachte zur Tür
+hinaus.
+
+Seit diesem Tag war's schier vorbei mit dem Giedel. Er dachte Geigen,
+er weberte Geigen, er träumte Geigen, und wenn er Zeit hatte, ging
+er hinaus und schaute auf das Haus hin, in dem der Major die Geigen
+hatte. Eines Tages hörte er vom Schulmeister sagen, der Major sei ein
+Fex. Hoffentlich habe er einst den Säbel besser zu handhaben gewußt,
+als jetzt den Fiedelbogen, denn er könne gar nicht Violin spielen
+und habe die Sammlung nur so aus Rappelköpfigkeit zusammengekauft und
+erbettelt. Es sei an dem ganzen Quark nichts, eine einzige ausgenommen.
+-- Schulmeister! dachte sich der Giedel, wie du nur so sprechen kannst!
+Ich wollte, ich hätte die geringste dieser geringen! Aber, daß er nicht
+soll geigen können? So viele Geigen haben und nicht geigen können! --
+Nur auf ein paar Stunden möchte ich eine haben!
+
+Nicht lange hernach, und es ergab sich eine zufällige Gelegenheit, daß
+der Weber den Major fragen konnte, ob er ihm nicht eine Geige borgen
+wollte für einen Tag, nur für einen einzigen! Und nur jene, an der ihm,
+dem Herrn Major, etwa am wenigsten gelegen wäre! Er, der Giedel, setze
+eine Ziege dafür zum Pfand.
+
+Ein plumpes Lachen stieß er aus, der Herr Major, ein schreckbar
+hochmütiges Lachen, dann wandte er sich ab. Und das war der Bescheid
+gewesen. --
+
+Ein stiller, warmer Herbstsonntag. Die Dorfleute ergingen sich draußen
+auf Feldrainen oder saßen im Wirtshause. Der Major war mit einem
+Steirerwägel in den nächsten Ort gefahren zu einem alten Kameraden, der
+ihm -- so viel verlautete -- geschrieben, daß er irgendwo eine uralte
+Violine entdeckt habe. Sie stamme noch aus den Zeiten der Minnesänger
+und ein Zigeuner gehe damit um, der darauf ohrenzerreißend spiele und
+von dem Werte des Instrumentes gewiß keine Ahnung habe. Hau, das mußte
+unser Major näher erfahren, und er fuhr hinüber. -- In der Wohnung des
+Majors waren ein paar Fenster offen geblieben. Der Giedel kauerte am
+Berghang und schaute hinein zu den Geigen. Die Haushälterin des Majors
+war auch fortgegangen, nachdem sie das Haustor mit großem Gerassel
+verschlossen hatte. Der Giedel blickte hinein zum offenen Fenster.
+»Der hat so viele, und ich hab' gar keine!« murmelte er. Plötzlich
+schlug er mit dem Daumen ein Kreuz über sein Gesicht und lief davon.
+Er ging den Weg hinein bis zur Brücke, er schritt hinan bis zum
+Hammerhaus. Auf dem Fenster, hinter dem sie wohnte, standen schöne
+Blumen, sonst sah er nichts. Das Wasser rauschte und der Berg legte
+schon seinen dunkelblauen Schatten über das Haus. Ein paar junge Männer
+gingen im Garten umher mit spitzen Schnurrbärten und unternehmenden
+Mienen. Dann traten sie ins Haus. Ob das Verwandte sind von ihr, oder
+Eisenhändler?
+
+Der arme Giedel ging wieder gegen das Dorf zurück. -- Am Werktage,
+dachte er bei sich, da ist die Arbeit, da geht's zur Not; aber am
+Sonntag, wenn einer in der Müßigkeit so umherstreicht, da ist's schier
+nicht auszuhalten. ~Der~ Druck in der Brust, der grausame Druck!
+Mit dem Taschenmesser ein Loch aufmachen hinein, daß dieses wilde Blut
+heraus könnt' springen ....
+
+Als er zum Hause des Majors kam, dunkelte es schon ein wenig, und im
+Tale dem Bache entlang war ein bläulicher Dunsthauch. Kein Vogel, kein
+Heimchen, kein Mühlrad -- nichts. Daß es doch so still sein kann auf
+der Welt! ...
+
+Um das Haus war es öde, und nichts rührte sich. Die Fenster standen
+offen. Der Giedel kletterte an einem Mauervorsprung empor und stieg zum
+Fenster hinein. An der Wand huschte er hin, nahm die Cremoneser Geige
+mit dem Fiedelbogen von der Wand, barg sie unter seinen Rock, sprang
+rasch zum Fenster hinaus und eilte davon gegen den Wald hin.
+
+In der darauffolgenden Nacht war's. Über den Wipfeln des Bergwaldes
+stand der Mond. Der Eisenhammer stand still, das Wasser rieselte leise
+über das hinterseitige Floß. Wer das Rauschen und Pochen gewohnt
+ist, dem wird's unheimlich. Paula lag in ihrem Bette, konnte aber
+vor lauter Ruhe, die sie umgab, nicht schlafen. -- Sie dachte an
+ihre Mutter, die seit langem schon auf dem Kirchhof lag. Sie dachte
+seufzend, wie das jetzt werden würde, wenn der Vater wieder heiratet.
+Die reiche Sensenschmied-Witwe von Tiefwasser. Dann will er den kleinen
+Eisenhammer hier verkaufen und hinüberziehen und in Tiefwasser eine
+Gewerkschaft bauen. Was das noch werden wird? ...
+
+Als das Mädchen im einsamen Stübchen so sann und dabei recht traurig
+ward, hörte es draußen einen klingenden Ton. Es war anfangs wie eine
+leise vor sich hin singende menschliche Stimme. Sie wurde lebhafter,
+es klang wie ein süßes Locken und dann wieder wie ein betrübtes
+Klagen. Es war wie ein allmähliches Aufschwingen, wie ein Anklopfen
+und treues Bekennen und endlich wie das Freiwerden und Übersprudeln
+eines warmen, leidvollen Menschenherzens. -- Nie in ihrem Leben noch
+hatte Paula so singen, so weinen gehört. Sie war selbst einmal in einer
+Singschule gewesen, aber dieser unendlich rührende Tonhauch, den sie
+jetzt vernahm, er hatte keine Ähnlichkeit mit anderen Kehlenklängen,
+und doch war er das unmittelbare Aufquellen eines Geheimnisses. -- Sie
+konnte sich das nicht so denken, aber ein Gefühl war in ihr wach, als
+ob sie in diesem Augenblicke sterben müßte, und als ob sie im nächsten
+Augenblicke eingehen würde zur himmlischen Seligkeit. --
+
+Nach einer Weile richtete sie sich auf und blickte hinaus zum Fenster.
+Da unten auf weißem Kieswege stand eine dunkle Gestalt. Sie erkannte
+den Weber Giedel und sah jetzt, wie er eine Geige spielte. Sie verhielt
+sich ganz ruhig, sah hinab und horchte. Sie horchte so lange, bis ihr
+die Tropfen von den Augen rannen. So über alle Maßen lieb hatte sie
+diesen Menschen. So viel Mitleid hatte sie empfunden, seit sie ihn
+kannte, weil er so sanft, so freundlich und still, so brav und so
+verlassen war. Als sie einst, ein kleines Mädchen, das erste Mal in die
+Kirche mitgenommen wurde, war am Altar neben dem Priester ein schöner
+blonder Knabe gestanden, und so oft sie an Engel dachte, von Engeln
+hörte, kam ihr dieser Knabe zu Sinn. Allmählich, ganz allmählich wuchs
+dieser Engel heran zu einem Menschen ...
+
+Paula öffnete das Fenster, da hörte der Bursche unten auf, zu geigen.
+
+»Giedel,« sagte sie mit vor Innigkeit zitternder Stimme, »Giedel, geh'
+jetzt heim. Die Nacht ist kühl.«
+
+Da trat er ein paar Schritte gegen das Fenster und flüsterte herauf:
+»Paula, ich hab' dich lieb!«
+
+»Nimm ihn hopp!« rief plötzlich eine Männerstimme. Da sprangen aus dem
+Schatten zwei Gesellen mit Waffen und glänzendem Riemzeug herbei und
+rissen den Burschen nach rückwärts zu Boden. Noch hielt der Giedel
+trotz des Schrecks die Geige hoch in die Luft, daß ihr nichts geschehe,
+weiter wehrte er sich nicht, biß die Zähne zusammen und ließ sich
+fesseln.
+
+Mittlerweile war es im Hammerhause lebendig geworden, die Leute eilten
+auf die Gasse: was da geschehen wäre, was das bedeute?
+
+»Den Dieb haben wir,« berichtete einer der Gendarmen. »Dem Herrn Major
+Stramper ist er in die Wohnung gestiegen. Eine Violine gestohlen.«
+
+»Der Weber Giedel!« schrien nun die Schmiede und das Gesinde. »Das ist
+nicht übel!«
+
+Auch der Schmiedmeister war, flüchtig in seine Bettdecke gehüllt,
+hervorgekrochen. »Ein Dieb? Ein Eisendieb?«
+
+»Ein Bettelgeiger.«
+
+»Der Strolch!« knurrte der Schmiedmeister, »was hat er denn vor meinem
+Hause gesucht, bei der Nacht?«
+
+»Das Töchterl hat er angegeigt!« lachten sie.
+
+»Ein anderes Mal stiehl Butterbrot! Das frißt man ungehört,« höhnte ein
+Knecht. »Geigen krächzen zu viel, kommst allemal auf.«
+
+»Was kostet der Bettel?« rief jetzt Paula, die sich schneidig in den
+Handel mischte.
+
+»Jungfer!« antwortete der Gendarm, »es handelt sich nicht um die Geige,
+es handelt sich um den Diebstahl.«
+
+»Sag' etwas!« forderte das Mädchen den Giedel auf. »Verteidige dich!«
+
+»Das hilft nichts,« antwortete der Bursche ganz ruhig. »Sie glauben es
+mir nicht. Morgen hätt' ich sie dem Herrn ja wieder zurückgebracht. Sie
+glauben es mir nicht. Aber macht nichts, jetzt ist mir ganz leicht.
+Sei nur so gut, Paula, und stell' sie ihm zurück. Und daß ihr nichts
+geschieht. So leicht ist mir schon lang' nicht mehr gewesen, wie jetzt.
+Vergiß nur nicht ganz auf mich, Paula, wenn ich gestorben bin.«
+
+Das Mädchen wollte darauf etwas sagen, konnte aber vor Bewegung nicht
+mehr sprechen, und also führten sie den armen Jungen davon in der
+stillen Mondnacht, führten ihn hinaus in das Dorf und taten ihn in den
+Gemeindekotter.
+
+Am nächsten Morgen war ganz Schwandau außer Rand und Band. Das
+Unglaubliche! Manche meinten, der Giedel sei irrsinnig geworden.
+Etliche fluchten über die Hexe, die ihm's angetan. Nur wenige gaben
+sich stiller Schadenfreude hin. Im Gemeindehause kamen um die
+Mittagsstunde mehrere Männer zusammen, der Dorfrichter, der Pfarrer,
+der Hammerschmiedmeister und auch der Major Stramper.
+
+»Ist es Ihr Ernst, daß Sie klagbar werden wollen?« fragte der Richter
+den Major.
+
+»Bare achtzig Gulden hat sie mich gekostet, die Cremoneser!« antwortete
+der Major.
+
+»Aber sie ist ja doch wieder in Ihrem Besitze,« sprach nun der Pfarrer,
+»und gänzlich unversehrt. Den Burschen haben wir alle gern, er ist
+fleißig, gutmütig, keiner weiß sonst etwas Ungutes von ihm. Auch wir
+haben Torenstreiche gemacht in der Jugend. Lassen Sie es gut sein, Herr
+Major!«
+
+»Von mir soll niemand sagen, daß ich sein Unglück gewesen bin,«
+antwortete der alte Soldat. »So vernarrt zu sein! Na ja, auch wir
+einmal! -- Gerad'halten soll er sich! Es ist gut.«
+
+»Wenn's gut ist,« sprach jetzt der Hammerschmiedmeister, »so möchte ich
+auch noch ein paar Worte sagen. Mein Mädel ist wie verrückt. Ich habe
+keine Ahnung gehabt. Wenn es so steht mit den zwei jungen Leuten, und
+daß sie toll werden, wenn sie einander nicht kriegen -- ich sag': in
+Gottesnamen.«
+
+Denn er hatte sich's überlegt, daß es besser ist, wenn er die
+erwachsene Tochter an den Mann bringt, ehe er selbst noch einmal
+zugreift drüben in Tiefwasser. Es bleiben auf solche Weise allerhand
+Unannehmlichkeiten aus. Das Mädel hat seine mütterliche Sach', damit
+kann es dem Weber aufhelfen und die Wirtschaft herrichten. Also ist's
+recht, und der Vater und die Tochter sollen an einem Tage Hochzeit
+halten.
+
+Als der Giedel aus dem Kotter trat, wartete schon die Paula, fiel ihm
+lachend und schluchzend um den Hals: »Wir haben uns!«
+
+Am Tage der Hochzeit kam der Major mit der Geige. Die Cremoneser war's.
+
+»Mir steht ein Duplikat in Aussicht,« sagte er einleitend. »Auch
+dem Zigeuner mit der alten Fiedel bin ich auf der Spur. Diese da
+-- ein sehr seltenes Stück! -- sie gehört dem Bräutigam. Er hat
+damit der Seinigen das Ständchen gebracht, er wird sie noch öfter
+brauchen können. Ist die Geige verstimmt, so soll er küssen, und ist
+das Weibchen verstimmt, so soll er geigen. Und jetzt einen kecken
+Steirischen aufgefiedelt! Gerad'halten, Junge!«
+
+
+
+
+ Der singende Schabelwirt.
+
+
+Der dicke Schabelwirt in Rusterholz hatte zwei Stimmen, eine im
+Gemeinderat und die andere auf dem Kirchenchor. Die erstere war so
+gewichtig, daß sie mit Leichtigkeit ein halb Dutzend Häuslerstimmen in
+die Luft schnellte; die zweite war so mächtig, daß in der Kirche die
+Leute sich umwendeten, um diese Stimme nicht bloß zu hören, sondern
+auch zu sehen. Sie mußte wie ein Strick von Bärenhaar aus dem viereckig
+aufgespreizten Munde des Schabelwirtes hervorgewirbelt kommen. Die
+Stimme dieses Chorsängers weckte Skalen in der Menschenbrust; wer sie
+das erstemal hörte, dem war zum Lachen, wer sie oft hörte, dem war zum
+Weinen.
+
+Selbst dem Chormeister war zum Weinen. Allein ohne Schabelwirtsgesang
+in der Kirche gab's keinen Kaffee zum Frühstück. Mehrmals hatte er
+es versucht und nur solche Messen auf die Pulte gelegt, die ohne
+Männerstimme gegeben werden konnten. Allsogleich jammerte der Wirt
+seinen Gästen vor über den Niedergang der Musik und daß der Chormeister
+Sägespäne im Kopf haben müsse! Ob die menschliche Stimme nicht
+der Höhepunkt aller Musik wäre -- besonders eine schöne kräftige
+Männerstimme! Wenn dieser Herr töricht werde, so müsse man ihm die
+Zitzen höher halten! -- Und dem Chormeister blieb die Milch aus. Des
+Wirtes Kuhmädel kam des Morgens nicht mehr mit der Zinnkanne, wie
+sonst, und da fand der Chormeister endlich doch allemal wieder, daß
+zur würdigen Kirchenmusik auch eine kräftige Männerstimme gehöre. Der
+Schabelwirt »mußte« wieder singen, und das Mädel erschien mit der
+Zinnkanne.
+
+Kamen Fremde nach Rusterholz, so eiferte sie der Wirt an, doch auch
+die Kirche zu besuchen, womöglich beim Gottesdienst, es wäre sehr
+feierlich, besonders mit der Musik wären sie gut bestellt. Der
+Chormeister hingegen, der sonst auch nicht unchristlich dachte, riet
+den Fremden lieber einen Ausflug auf den Schirmberg, oder auf den
+Rotkofel an, als den Gottesdienst in Rusterholz. Die einheimischen
+Kirchenbesucher opferten ihre Ohrenpein für die armen Seelen im
+Fegefeuer auf und so oblag der Schabelwirt ungestört seinem Gesang.
+Ein halbberauschter Zecher wagte eines Tages den Zweifel laut werden
+zu lassen, ob der Wirt wohl auch alle Noten kenne! Der kam an! Prügel
+bekam er nach Noten! Da hatte er's blau auf weiß! Aber ungarische
+Schweinetreiber, die eines Tages während der Messe ihre Herde
+vorbeiführten, machten doch halt vor der Kirche und der eine lugte zum
+Tore hinein, ob nicht Hilfe nottäte. Er schien sich nicht sicher, ob es
+Gesang oder Notschrei wäre. -- Sollten sich nur beruhigen, die Herren
+Sauhändler -- es ist Gesang!
+
+Auch in dem Jungen steckte es, in Schabelwirts Sohn, dem Damian.
+Stimme hatte der keine zum Singen, sie gixte. Eine Weile meinte der
+Chormeister, sie mutiere; wenn das vorüber, würde die Stimme des
+Burschen alle anderen Sänger der Erde gründlich ausstechen. Nun war
+der Junge mannbar geworden, allein die Stimme gixte noch immer, der
+Chormeister hatte Todesangst. Wenn ihm der auch noch auf den Chor kommt!
+
+»Dem Damian seine Stimme muß geschont werden,« sagte er vorbeugend,
+»wenn sie jetzt einige Jahre lang auf das Sorgfältigste geschont wird,
+dann können wir einmal etwas Phänomenales erleben!« Einstweilen schlug
+er dem Burschen vor, geigen zu lernen. Das Geigen aber gefiel dem
+Alten nicht. »Die Geige ist ein Konkurrent der menschlichen Stimme,
+aber ein ganz unfähiger! Trompetenblasen, ~das~ ist das richtige.
+Blech, ~das~ gibt Musik!«
+
+Indessen -- ein großes Dorfwirtshaus hat noch andere Aufgaben, als
+Singen und Trompetenblasen. Man weiß ja doch nicht, ~wann~ er
+einmal dazukommt, der Blitzstrahl, und das neuerrichtete Thörlwirtshaus
+da drüben in den Boden zündet! »Der Thörlwirt ist ein hautfalsches
+Luder! Sein Süßtun mit den Gästen -- alles nur ums Geld! das kennt man.
+An Süßtun bist ihm nicht gewachsen, Damian!« So der Schabelwirt, und
+dann kamen Lehren und Ratschläge.
+
+»Es ist möglich, mein Sohn, daß ich mich einmal vom Geschäfte
+zurückziehe, um ganz der Musik zu leben. Da mußt du wissen, wie man
+es mit den Gästen macht, daß sie sitzen bleiben. Unser Herrgott, mußt
+bedenken, schickt einem Gastwirt allerhand Kostgänger ins Haus. Wie
+viel Geld sie dalassen, das ist deine Sache. Daß du die Tanzpfeifen
+hernimmst, wenn junge Leut' kommen, so gescheit wirst wohl selber
+sein. Daß du sie wegschmeißt, wenn Viehhändler und Hausierer vom
+Geschäfte reden wollen, na, das wirst auch noch einsehen. Selber
+mußt dich ausspielen, mein Lieber! Tut einer bei seinem Glas Trübsal
+blasen, so mußt dich zu ihm hinsetzen und ihm allerhand vorreden, bis
+du draufkommst, was ihm ist. Nachher, wenn er mit seinem Anliegen
+ausrückt, hör' ihm aufmerksam zu, nicke bisweilen mit dem Kopf und
+schlag' mit der Hand immer einmal vor Überraschung oder Entrüstung,
+woran es halt ist, auf den Tisch, damit er sieht, daß du Anteil nimmst
+und er sein Glas nachfüllen läßt. Überhaupt, bei Gästen, die gern
+schwatzen, die mußt schwatzen lassen und dich aufs Zuhören verlegen --
+denken kannst dabei, was der will. Merk' dir nur das: hast ein gutes
+Benehmen, so brauchst keinen guten Wein. Unterhalten sie sich mit dir,
+ist auch das wohlfeile Gesüff gut. Wird manchmal ein besoffener Patron
+ungut, so mußt du ihn der andern wegen hinauswerfen, aber ja nicht
+so, daß er's merkt. Ich hab' zu so einem halt allemal gesagt: Geh,
+sei gescheit, Michel, laß die dummen Leut' dort sitzen, die verstehen
+keinen Spaß. Geh' einmal bissel in die frische Luft hinaus. Halt,
+ich führ' dich, daß du nicht stolperst! -- und derweil hab' ich ihn
+hinausgeschoben. So einer hält dich für seinen besten Freund und kommt
+dir allemal wieder, wenn er Geld hat. Gibt dir aber auch Bockige. Der
+Riffel-Toni, das ist noch der harbste! Wenn der anhebt zu schimpfen, so
+muß man alle Stalltüren zusperren, sonst laufen die Vieher davon. Am
+besten ist's, man schimpft mit. Wenn man ihm hilft, da wird er ehzeit
+fertig, wenn man ihn löschen will, da zündet er sich erst rechtschaffen
+an und schlagt drein. Und so wie du beim Riffel-Toni mitschimpfen
+mußt, so mußt beim Krautruben-Barthel mitröhren! Weißt eh, daß der
+Alte allemal zum flennen anhebt, wenn er einen Rausch hat. Lachst ihn
+aus, so vertreibst ihn. Wär' ein Unsinn! Der Krautruben-Barthel zahlt
+allemal fleißig die Zech'! So Leut' muß man estimieren! Ist eh ein
+Kreuz. Wer heut' im Dusel nicht zahlt, zahlt morgen beim Kopfweh noch
+weniger. Daß man die Tafel mit den Angekreideten an die Wand hängt,
+wo sie jeder vor der Nase hat, brauch' ich dir wohl nicht zu sagen.
+Überhaupt wirst du mit der Zeit selber drauf kommen, wie die Leut'
+behandelt, gefoppt, gerupft sein wollen. -- Ich hab' in den ersten
+Jahren mit dem Singen die Leut' vertrieben. Und das hab' ich dumm
+gemacht. Wer ein so Mordsochs war und über den Gesang geschimpft hat,
+den hab' ich hinausgeschmissen, aber anders, als ich es grad' vorher
+auseinandergesetzt hab'. Den hab' ich das letztemal gesehen gehabt.
+Den anderen, den mehr Gebildeten, die eine Musikfreud' gehabt und mir
+zugehört haben, ist immer einmal eine Maß vom Bessern aufgetischt
+worden, geschenkterweis'. Wie ich aber seh', daß trotzdem einer um den
+andern bei der Tür hinausschlupft, hab' ich mir gedacht: Die Pölli
+verstehen nix. Was sollst deine Perlen den Säuen vorschmeißen! und hab'
+im Wirtshaus das Singen sein lassen. Jawohl, mein Sohn, ein Wirt muß
+sich aufopfern können für seine Gäst' -- wenn er ein Geschäft machen
+will.« --
+
+Man wird nun wohl überzeugt sein von dem großen Takt des Schabelwirts.
+In der Kirche, allerdings, wollte er seine Perlen nicht zurückbehalten;
+er sei sein Talent dem Herrgott schuldig! war sein Bescheid, wenn er
+manchmal teilnehmend befragt wurde, warum er sich auf dem Chor so
+abmühe für nichts und wieder nichts, und hätte doch nur Undank dafür.
+»Undank ist Künstlerlos!« Diesen Spruch hatte er sich aus einem alten
+Volkskalender herausgeschrieben, zitierte ihn aber nicht oft, weil er
+überzeugt war, daß seine Stimme wohl von allen Verständigen gewürdigt
+werde. Nun, und die Unverständigen? Auf die pfeift die Katz, damit sie
+auch was Musikalisches haben.
+
+Beim Schabelwirt hielt sich zeitweise ein hinkender Mann auf, der hatte
+ebenfalls was Musikalisches. Nämlich einen redenden und singenden
+Kasten. Hielt man sich daran zwei Schläuche an die Ohren, so hörten
+sich die Stimmen berühmter Redner und Sängerinnen und ganze Musikchöre
+heraus, wie sie einst in großen Städten und anderswo hineingesprochen,
+gesungen und gepfiffen worden waren. Diesen Kasten verehrte der Wirt
+als den größten Künstler der Neuzeit, der -- wie er liebenswürdig
+scherzend sagte -- deshalb auch in den Grafenstand erhoben worden sei.
+Denn es war der Phonograf. Für das Horchen zog der Hinkende Geld ein,
+nur der Wirt zahlte nichts, leistete dafür jedoch dem Eigentümer freie
+Kost und Verpflegung; bloß das Getränk mußte bezahlt werden. Als der
+Mann den Schabelwirt einlud, einmal mit seiner phänomenalen Stimme
+etwas in den Kasten hineinzusingen, gab der Wirt das Lied »In diesen
+heiligen Hallen« ab. Der Hinkende jedoch tat geheimnisvoll und ließ ihn
+das gesungene Produkt nicht zurückhören, denn er fürchtete für seinen
+Kasten ...
+
+Eines Tages kehrten zwei Herren aus Murstadt beim Schabelwirt ein. Er
+war sehr artig, ließ vom »Besseren« auftragen, in der Absicht, ihnen
+nachher etwas vorzusingen. Denn das waren offenbar gebildete Leute. Die
+Fremden hinwiederum luden ihn ein, mitzutrinken, in der Absicht, ihm
+dann eine Angelegenheit vorzutragen. Und als sie beiderseits lustig
+waren, meinte einer der Fremden, so ein wackerer Gastgeber, wie der
+Schabelwirt in Rusterholz, verdiene, daß er ein Geschäft mache. Sie
+wollten an einem der nächsten Sonntage seinen großen Tanzboden mit
+Gästen anfüllen. Sie möchten bei ihm nämlich eine Volksversammlung
+veranstalten und Reden über den Fortschritt und über die Freiheit
+halten.
+
+»Ah, meine Herren, seid ihr die Aufklärung?« fragte der Wirt, »hab'
+schon gehört davon. Tut einer eine Red' reden? Schön, brav! Tu' meinen
+Tanzboden schon hergeben dazu. Nachher zum Schluß können wir auch was
+singen -- daß es recht lustig wird.«
+
+So wurde ein Freidenkertag beschlossen. Waren die Rusterholzer auch
+nicht gerade fortschrittlich gesinnt, so waren sie doch neugierig.
+Und waren durstig. Je mehr ihrer zusammenkamen in die warme Stube, je
+durstiger waren sie allemal. Das sollte sich wieder einmal machen.
+
+Nun sandte der Schabelwirt seinen Laufburschen aus: »Geh' im ganzen
+Gai um, von Haus zu Haus, und die Leute sollen nächst' Sonntag zum
+Schabelwirt und Gemeinderat kommen, nachmittags nach dem Segen wäre
+dort Freidenkerversammlung!«
+
+Der Knabe lief mit dieser Freudenbotschaft, so schnell er konnte und
+überall schrie er es gleich zur Tür hinein: »Nächst' Sonntag nach dem
+Segen ist beim Schabelwirt Freitrinkerversammlung. Alle sollt's kommen!«
+
+»Donnerwetter noch einmal, der dicke Wirt! Will er bei der nächsten
+Wahl wieder in die Gemeinde?« Die Klügeren rieten: Ansingen wird er uns
+wieder einmal wollen, und da gibt er halt einen Labetrunk. -- Nun, sie
+wollten dabei sein bei dieser Freitrinkergesellschaft. »Müssen ihn in
+der Kirche umsonst anhören; dasmal kriegen wir dafür was zu trinken.
+Nett von ihm, daß er was lohnt.«
+
+Der Pfarrer von Rusterholz jedoch hatte ein feineres Ohr, oder eine
+bessere Nase. Kam er kurz nachher ganz langsam ins Wirtshaus getreten,
+ging aber nicht in das Extrastübel, wo der Tisch mit einem rot und
+weiß quadrierten Tuch bedeckt war, sondern stand in der großen Stube
+ein wenig so herum, lehnte endlich seinen Stock an den Uhrkasten, den
+Hut behielt er heute auf und so setzte er sich zum Leutetisch. Als
+auch diesen der geschäftige Schabelwirt rasch mit einem roten Tuch
+überziehen wollte, tat der Pfarrer mit der Hand einen Deuter: »Lassen
+Sie's, lassen Sie's. Es ist auch so gut.«
+
+Aber feierlich war heute der alte Herr und es wollte keine Ansprache
+recht verfangen. Von dem Achtel Wein, das er sich bestellt, hatte er
+kaum erst genippt.
+
+»Es wird ein anderes Wetter kommen,« meinte der Wirt.
+
+»Ich muß Sie doch fragen,« sagte nun der Pfarrer, »sollte es wahr
+sein, daß Sie in Ihrem Hause eine Freidenkerversammlung abhalten
+wollen?«
+
+»Ah na, ich nicht,« antwortete der Wirt. »Ein paar Herren aus Murstadt
+sind dagewesen und haben sich angefragt. Wenn sie wollen, hab' ich
+gesagt. Muß eh froh sein, wenn man wieder einmal was hört. Über das
+elektrische Licht, oder so was, werden sie sprechen.«
+
+»Das sehe ich wohl nicht gern, lieber Nachbar. Schauen Sie, unsere
+Leut' sind alle gut christlich. Die verstehen solche Sachen ja gar
+nicht und wozu sie beunruhigen?«
+
+»Bei unserer Wasserkraft, sagen sie, könnten wir soviel Elektrizität
+haben, daß die Mühlen und Dreschmaschinen davon gehen könnten und extra
+noch für Licht genug übrig bliebe.«
+
+Unterbrach der Pfarrer den Wirt: »Gehn's, gehn's! Für die Elektrizität
+wird man Freidenkerversammlungen machen! Da ist was anderes dahinter.
+Sie lesen doch von der Übertrittsbewegung. Die Lutheraner kommen, und
+weil Sie ein alter Liberaler sind, so will man Sie mit der Freidenkerei
+fangen. Ist übrigens eins wies andere. Tun Sie mir den Gefallen,
+Nachbar, und sagen Sie ab.«
+
+Der Wirt hatte eine dicke Zigarre angeraucht, es war eine mit der
+Bauchbinde.
+
+»Will mir's noch überlegen,« sagte er dann.
+
+Das überlegen fiel aber zu ungunsten des Pfarrers aus. -- Wesweg soll
+just in Rusterholz keine Versammlung abgehalten werden? Von überall
+hört man. Wenn der Wirt einmal ein volles Haus haben will, wen geht's
+was an? Und eine Unterhaltung. Ist ohnehin so selten Gelegenheit zum
+Singen. Weil sie von Musik nichts verstehen, diese Bauerngogel. Und
+wenn sich einmal ein Schüberl gebildete Leut' ansagen -- gleich das
+Geschrei: die Lutherischen! Freidenker, was schadet's denn? Wird eh
+jeder denken, was er will. Und wer anders denkt als er spricht, ist eh
+ein Lump! Abhalten tun wir die Freidenkerversammlung!
+
+Und am Vortage derselben schrieb der Pfarrer an den Schabelwirt solchen
+Brief:
+
+ »Euer Wohlgeboren!
+
+ Indem Sie sich trotz wohlmeinender Abratung doch für eine
+ Freidenkerversammlung bestimmt gefunden haben und hiemit offenbar
+ gegen die Absichten der Kirche verstoßen, so muß ich zu meinem
+ Bedauern für die Zukunft Ihre musikalische Mitwirkung auf unserem
+ Kirchenchore ablehnen, denn Gott kann unmöglich Gefallen finden an
+ dem Gesange eines Freidenkers, der die christliche Gemeinde in Gefahr
+ bringt.
+
+ Mit gebührender Achtung
+
+ N. N., Pfarrer.«
+
+So! -- -- So! -- --
+
+Der Schabelwirt war empört. Hat der Mann das Recht, mir den Kirchenchor
+zu verbieten? -- Aber an demselben Tage bedeutete ihm auch der
+Chormeister, daß er mitsamt allen Musikern leider unter Botmäßigkeit
+des Pfarramtes stehe. Es tue ihm aufrichtig leid! -- Um was es ihm leid
+tat, hat er weiter nicht dargetan. Aber bitter ist es schon, anstatt
+des gewohnten Frühstückkaffees sich mit Einbrennsuppe abfinden zu
+müssen.
+
+Gut. -- Auch Kaiser Heinrich ist nach Kanossa gegangen, was liegt
+dran. Das will der brave Schabelwirt dem Herrgott nicht antun, daß
+er an Sonntagen seines Gesanges entbehren müsse. Auch die Mehrzahl
+der Andächtigen wird sich eine ungesungene Messe nicht gefallen
+lassen wollen. Und dann trägt auch der Gesang zur Herzensbildung bei.
+Vielleicht mehr, als ein Freidenkertag. Den Freidenkern aus Murstadt
+wird schleunig und heimlich abgewinkt. Den Leuten braucht man nichts
+kundzutun, sie sollen nur zusammenkommen. Statt so einer gespreizten
+Freidenkerrede wird gesungen, da unterhalten sie sich weit besser und
+ist nach keiner Seite hin Verdruß.
+
+Also am folgenden Sonntag nach dem Segen kamen sie zusammen, die Bauern
+und Häusler und Handwerker von Rusterholz beim Schabelwirt zum --
+Freitrinken. Der Tanzboden wurde viel zu eng, die Gaststube und das
+Extrazimmer waren so gesteckt voll, wie bei einem Viehmarkt. Mehr als
+vier Bierkrügeln in jeder Hand kann die Kellnerin auf einmal nicht
+befördern. Der Sohn Damian schoß auch herum, goß aber den größten Teil
+seiner Bierkrüge über die Achseln der Gäste aus, weil das nicht geht,
+Getränk auftragen und dabei mit jungen Weibsleuten schäkern. Der Wirt
+selber machte es sich mit dem Wein leichter, er schleppte Tonplutzer
+aus dem Keller und ließ daraus ununterbrochen in die Gläser rinnen. So
+nagelt man sie fest auf ihren Bänken und dann wird gesungen.
+
+Als sie nun aber merkten, daß der Wirt mit dem blauen Sacktuch seine
+Augengläser putzte -- denn ohne Augengläser konnte er nicht singen --
+da schlichen sich etliche sachte ins Vorhaus und von dort ins Freie.
+Auch der Steinbrecher Einsel wollte es so machen, den hielt jedoch
+der Wirt an und fragte, ob er in der Stube nichts vergessen habe? Der
+Einsel tastete nach dem Haupte -- der Kopf war da, der Hut saß auch
+drauf; den roten Regenschirm hatte er in der Hand. Nein, vergessen
+hätte er nichts. -- Ob er doch wohl das Geldtaschel in den Sack
+gesteckt habe, als er die Zeche beglich?
+
+Bei dieser Erinnerung machte der Einsel große Augen.
+
+»Zech? Zech' sagst, Wirt? Wer wird denn heut' Zech' zahlen, wenn
+Freitrinkertag ist!« -- Dem Schabelwirt gab's einen Stoß in der Brust.
+Wenn es ein Mißverständnis wäre? Er hatte sich ohnehin gewundert, daß
+die Rusterholzer so plötzlich bildungsdurstig geworden und so zahlreich
+erschienen waren! Wenn's ein verhängnisvoller Irrtum wäre? -- Sogleich
+stieg er auf eine Bank und machte laut, daß heute bei ihm nicht eine
+~Freitrinker~-, sondern eine ~Freidenker~versammlung hätte
+stattfinden sollen, daß aber die Herren aus Murstadt nicht gekommen
+seien.
+
+Himmel Hagelstern, wurden jetzt die Gesichter unschön! Die einen
+krebsrot, die anderen käseblaß -- in die Länge zogen sich alle.
+
+»Du Wirt!« begehrte ein alter Pechbrenner auf, »wenn du wieder einmal
+einen Boten schickst, so schau erst, ob er auch reden kann. Alle
+ehrenwerten Manner, die da sind, werden meine Zeugen sein, daß dein
+Schickbub ~Freitrinker~versammlung hat gesagt!«
+
+Des stimmten ihm alle bei. Der Wirt zuckte die Achseln. Das sei ihm
+wohl höchst unlieb. Darum, das undeutliche Reden hätt' er eh auf dem
+Zug! Da käme gewiß allemal ein Balawatsch heraus. Übrigens werde es
+ja kein Unglück sein, am Sonntag nach dem Segen einmal ins Wirtshaus
+zu gehen, besonders, wenn gesungen würde. Er wolle sie für die
+ausgebliebenen Freidenker entschädigen und ihnen jetzt eins vorsingen.
+
+»Für die Freidenker brauchen wir keine Entschädigung,« sagte der
+Pechbrennen, »aber zahlen tun wir heut' nix!«
+
+Sie stimmten alle bei, schrecklich stimmten sie bei. Ein Gelächter
+war entstanden. Allein der Bauer kann »Krowaten zerreißen und lachen
+dabei«, ein Sprichwort, das dem Wirt nicht unbekannt war.
+
+»Alles, was recht ist,« sagte der Wirt und stellte sich mit
+Geistesgegenwart auf einen Dreifuß. In der Hand hielt er ein
+Notenblatt, aber -- wie ein Nebenstehender wissen wollte -- verkehrt.
+Wie sein Singen zu hören war, das soll ein anderer sagen, ich kann
+bloß beschreiben, wie es zu sehen gewesen ist. Mit ausgespreizten
+Beinen, über deren eines noch die weiße Schürze niederhing, stand
+er da, den Bauch weit hervorgewölbt, den Oberkörper nach rückwärts
+gebogen. Das Doppelkinn quoll vorne und der wulstige Nacken hinten über
+den Rockkragen hinaus. Das rote Gesicht breit gepolstert, den Mund
+aufgesperrt und ausgeböscht, daß er schier viereckig wurde -- so kam es
+nun hervor aus dem mächtigen Brustkorb und das Blatt wurde von einem
+zarten Sprühregen befeuchtet.
+
+Nach dem ersten Liede »Im tiefen Keller« -- erschollen einige Rufe. Das
+»Bravo« ist in Rusterholz nicht der Brauch, aber nach Vergeltung riefen
+sie und frisch Bier und Wein wollten sie haben. Auf der Ofenbank, in
+den Wolken des Tabakqualms verschleiert, stand ein Mensch und der rief,
+sie sollten einmal auf ihn hören, er wisse auch was. Das war der Riffel
+Toni.
+
+»So red', Toni!« sagte der Wirt. Es war zwar der harbe Kampel, doch man
+kann vorbauen. »Willst noch ein Glas Wein haben?« Denn er dachte, der
+Mensch wolle ihm vielleicht doch eine Gesundheit ausbringen.
+
+»Wein ist mir allemal recht,« hub der Riffel Toni knurrig an. »Erst
+will ich dich aber einmal fragen, Schabelwirt, was wir heut' sind, da
+in der Stuben -- Freitrinker oder Freidenker?«
+
+»Freidenker, schon gewiß!« beschied der Wirt.
+
+»Das glaub' ich auch,« rief der Toni. »Und dazu brauchen wir nicht
+einmal die feinen Herren aus Murstadt. Und derohalben wollen wir reden,
+was wir uns denken.«
+
+Dann riß er mit den Fingerspitzen der beiden Hände den wüsten Bart
+auseinander, daß die freie Rede auch freien Ausweg habe durch den Mund,
+aus dem ein paar scharfe Oberzähne hervorstanden, wie bei einem Eber.
+
+»Schabelwirt!« begann er, »willst du wissen, wie du singst? Sollst es
+hören. -- Wenn ein kropfeter Hahn in einen alten Kochhäfen hineinkräht,
+wenn der Altweibersommer-Wind ein rostiges Stadltor auf und zu wirft
+und dem Elmbauern sein Moidel mit dem Nussensack reixelt, so meinen die
+Rusterholzer allmiteinand, es singt unser Schabelwirt!«
+
+»Hau!« lachten die Bauern, »hau saxen, das lei schon ah!«
+
+»Du bist ein Lästermaul!« rief der Wirt, doch sein Gelächter, das er
+dazu ausstieß, ging ihm nicht vom Herzen. Allein, wenn er nicht gute
+Miene macht, so gehen sie mit der Zeche durch und zum Thörlwirt hinüber.
+
+Der Riffel Toni hielt einen alten Hut hin, als wolle er Geld sammeln.
+»Zusammenschießen, Leut', daß uns der Maurer und der Schmied-Franzl
+in der Kirchen die Heiligen festmacht, die wackelig sind worden
+an der Wand vom Schabelwirt seinem Singen! Und wegen was soll der
+Krämer-Bastel just mit der Baumwoll ein so gutes Geschäft machen?
+Stecken wir uns Lärchenzapfen in die Ohrwaschel, die tun's auch und
+halten besser. Den Engeln über dem Altarl binden wir mit den blauen
+Fastentüchern die Köpfe ein -- nachher soll er halt wieder singen, der
+Schabelwirt.«
+
+Stürmisches Gelächter und etliche warfen Kreuzer in den Hut, um gegen
+den bedrohlichen Gesang Vorkehrungen treffen zu können.
+
+»Wie du das nur anstellst, Schabelwirt,« setzte der schreckliche
+Mensch auf der Ofenbank seine Auslassungen fort, »daß du selber nichts
+hörst von deinem Singen. Sonst wär' es weiger nicht möglich, daß du so
+gesund und wohlgenährt könntest ausschaun. Oder nimmst Gegengift ein?«
+
+Der Wirt rief heiser nach dem Hausknecht. Die Versammelten jedoch
+erinnerten ihn an den Freidenkertag, wo man wohl frei denken und reden
+werde können. Und riefen weiter durcheinander: »Laß das Singen sein,
+wir lassen das Frozeln sein und tun dich nächstmal wieder in den Rat,
+daß du deine Stimm' besser kannst brauchen. -- Erkennst es denn nicht
+selber, daß du ganz schandmäßig singst? Narr, daß du's nicht besser
+kannst, ist kein Gespött, aber daß du's nicht sein laßt, ist dumm. Wir
+lachen dich ja all aus, ha, ha, ha, ha, ha!«
+
+Der Wirt hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und schoß von
+einem Winkel zum andern. -- Wenn ich sie jetzt hinausschmeißen lasse,
+dachte er, so ist die Zeche verloren und sie laufen zum Luderskerl
+hinüber. Ach, Künstlertum! Künstlertum! In der Stadt sind es die
+Zeitungsschreiber, hier sind es die Bauernmäuler. -- Aber ich werde
+singen, justament, und sie werden ihr Trinken bezahlen. Das möcht' ich
+schon sehen, ob man kein Recht mehr hat, in seinem eigenen Haus!
+
+Dieweilen war jener hinkende Mann zur Tür hereingetorkelt, der Besitzer
+des in den Grafenstand erhobenen »großen Künstlers der Neuzeit«. Heute
+fand er sich gedeckt und so lud er den wütenden Schabelwirt wohlwollend
+ein, die Schimpfer schimpfen zu lassen und in das hehre Bereich der
+Kunst zu flüchten. Er habe im Kasten einen großartigen Sänger.
+
+Der Wirt beruhigte sich gutmütig, ging in die Vorlauben, wo das Zeug
+stand, steckte die Gummischläuche in die Ohren und horchte, während
+der Hinkende das Werk spielen ließ.
+
+»Abscheulich!« schrie der Wirt zurückfahrend, »das kräht ja wie ein
+altes Kamel!«
+
+Drinnen schnarrte und pfauchte und röchelte und gixte das Lied: »In
+diesen heiligen Hallen, da herrscht die Rache nicht!«
+
+Der Wirt rannte umher nach einer Axt, um den Kasten zu zertrümmern. Der
+Hinkende jedoch sagte besänftigend: »Herr Vater, der Phonograf kann
+nichts dafür. Der singt halt heraus, wie hinein gesungen worden ist --«
+
+»Ja Teuxel, welches Ungeheuer hat denn hineingeplärrt?«
+
+Der Hinkende grinste niederträchtig und verneigte sich vor dem Wirt. --
+--
+
+Dieser befahl seinem Sohn, seiner Kellnerin und seinem Hausknecht,
+strenge achtzugeben, daß niemand ungebüßt entkomme. Er selber zog sich
+zurück in seinen tiefsten Keller.
+
+Von solcher Zeit an hatte der Schabelwirt zu Rusterholz keinen
+Freidenkertag mehr veranstaltet und keinen Sang mehr getan. Seine
+Wirtschaft gedieh, seine Person gewann an Vertrauen -- denn man fühlte
+sich endlich in seiner Nähe sicher. Und im Gemeinderat wurde seine
+Stimme geachtet.
+
+
+
+
+ Das reiche Waldschulmeisterlein.
+
+
+Über den schwarzen Waldbergen lag schon der Goldgrundhimmel des Abends,
+als im Wiesentale ein Dörfchen dalag vor dem müden Gebirgswanderer.
+Eine verwitterte Wegtafel hatte gerade noch so viele leserliche
+Buchstaben, um dem hinkenden Fremden zu sagen, das Dorf heiße »In der
+Krumpa«.
+
+Auf meine Frage an einen heimwärts treibenden Ziegenhirten, welches
+in der Krumpa wohl das beste Wirtshaus sei, blickte mich der Junge
+verblüfft an -- Wirtshaus? Ist keins.
+
+»Aber mein Gott! Mindestens ein halbes Dutzend Häuser, und kein
+Wirtshaus darunter! Und das will ein deutsches Dorf sein?«
+
+Zu essen bekäme man manchmal im Forsthause etwas -- das große steinerne
+Haus, dort bei der Linde.
+
+Ein Forsthaus, um so besser. Das läßt sich romantisch, besonders wenn,
+so Gott will, auch noch eine Försterstochter dazukommt. Also ins
+Forsthaus.
+
+In der großen Stube gab es wohl Hirschgeweihe und Tabakrauch, aber
+keine Försterstochter. Ein kleiner, hagerer, spießiger Alter, die
+Knie nackt, hingegen das Gesicht verdeckt mit einem wildwuchernden
+Schnauzbart. -- Das war der Förster und Jagdheger. Er brachte in einem
+Kruge Wein, sagte mir Nachtquartier zu, setzte sich dann mit seinem
+Dampftiegel zu mir an den Tisch und fragte gleich, ob ich unterwegs
+nichts gesehen hätte. Ich zählte Berge auf, Felswände, Wasserfälle,
+hohe Brücken, Wegkreuze und Martertafeln, wie sie im Laufe des Tages
+dem Wanderer vorgekommen waren. Darüber tat der Alte verwundert
+und murmelte etwas. Endlich merkte ich doch, was er wissen wollte,
+nämlich, ob mir Wildspuren, Rehe, Hirsche, Waldhühner und dergleichen
+aufgestoßen wären.
+
+Meine Antwort: darauf hätte ich gar nicht geachtet, derlei läge
+mir ferne, und ich verstünde nichts davon. Es mochte wohl etwas
+geringschätzig gesagt sein. Der Alte blies ein paar starke Rauchwolken
+von sich, stand auf und ging hinaus. Er verachtete mich.
+
+Nach einer Weile, als es schon finster und in der Stube kein Licht
+angezündet worden war, fragte ich nach meinem Abendbrot. Da kreischte
+der Alte aus der Küche her: »Wenn man das Wild nicht will, wird 'leicht
+auch der Hirschbraten nicht genehm sein!«
+
+Jetzt schlich ich im Dunkeln zu ihm hin und sagte schon ein wenig
+gereizt: »Mir scheint, da ist jemand beleidigt, weil ich von der
+Jägerei nichts verstehe. Allerdings, ich halte nicht viel darauf. Ein
+guter Bekannter von mir sitzt im Kotter, weil er einen Hirschen schoß,
+der ihm den Kohl gefressen hat.«
+
+Der Forstjäger reckte sein Köpflein vor, der Schnauzer borstete sich
+auf: »Han mir's denkt. Von der Gattung ist er einer! Oder gar -- oder
+gar --!« Mit einem Streichholz fuhr er sich über den Hinterteil der
+Lederhose, leuchtete mir ins Gesicht: -- »Groß werd' ich mich nicht
+irren. Der Teufel hol's, er ist es. Der Jagerfresser, ah, da schaut's
+her, der Jagerfresser! Na, Korrschamerdiener! Und will im Jagerhaus
+essen und trinken und schlafen. Aus ist's!«
+
+Ein argloser Mensch würde diese Rufe für das gewohnheitsmäßige Poltern
+alter Leute genommen haben, mein böses Gewissen erkannte es sofort als
+das, was es war -- als einen wohlgezimmerten Abschied. Der Mann hatte
+den Verfasser »Jakob des Letzten« erkannt. Eines Buches, das jeder
+Jäger naturgemäß tödlich hassen muß.
+
+Nun stand ich in dunkler Nacht auf der Gasse und sann, was zu machen
+war. »Ins Schulhaus gehe!« flüsterte mir der Schutzengel zu. Denn die
+zwei beleuchteten Fenster dort waren just wie zwei Augen, die mir
+winkten. Der Lehrer, ein noch jugendlicher Mann mit schwarzem Vollbart,
+war nicht abgeneigt, einen obdachlosen Wanderer aufzunehmen. Er hieß
+mich ins Zimmer und zum Tische treten, wo von einem munteren Frauchen
+just Rauchfleisch mit Sauerkraut aufgetragen wurde. Er wollte mich dazu
+einladen, da blieb ihm das Wort im Munde stecken.
+
+»Ich glaube, den Herrn sogar zu kennen,« sagte er, mir starr ins
+Gesicht blickend. »Es möchte mich aber doch wundernehmen, daß der Herr
+Dichter bei einem linkischen Dorfschulmeister zuspricht, oder wohl gar
+bei einem athletischen Lehrer, der seine ganze geistige Kraft in den
+Armen hat!«
+
+Jessas! denke ich, der spielt an auf Bemerkungen in meinen Büchern. Im
+»Ewigen Licht« ist der athletische Lehrer mit den geistreichen Fäusten,
+im »Erdsegen« geht ein linkischer Dorfschulmeister umher. Ich wußte
+schon, daß einige Lehrer an den besagten Bemerkungen mehr herausfanden,
+als ich hineingelegt hatte, nämlich eine Beleidigung ihres Standes;
+es war mir daher klar, was ich hier zu tun hatte, nämlich Hut und
+Stock wieder in die Hand zu nehmen und allseitig eine ruhsame Nacht zu
+wünschen. Mit tragischem Ernste begleitete der Schwarzbart mich zur
+Tür, die er sofort auch dienstbereit öffnete.
+
+Wieder im Freien, hatte ich Muße, die Sternbilder des Himmels zu
+betrachten; es mangelte mir für diese Erhabenheit aber einigermaßen
+die Stimmung. Eine Magd, die vom Brunnen Wasser geholt hatte, trat
+ich höflich an, wo man doch in diesem Orte ein Obdach haben könne über
+die Nacht? Sie blieb stehen und beratschlagte mit mir. Das Försterhaus
+war auch ihr eingefallen, ich bekannte, dem Forstjäger zu wenig wildes
+Tier gewesen zu sein. So verfiel sie auf ihren Dienstgeber, das sei ein
+herzensguter Herr und hätte in der Apotheke ein feines Fremdenbett.
+
+Nun klopfte ich beim Arzt an. Eine alte runzelige Frau kam hervor, mit
+langem, schmalem Schleppkleid. Die erklärte barsch, jetzt wäre keine
+Ordinationsstunde.
+
+»Ich bin auch kein Kranker!« meine Versicherung.
+
+»Ah so, dann ist's was anderes. -- Jonathan! Ein Herr will bei dir die
+Aufwartung machen.«
+
+Der Herr Doktor Jonathan kam nun selbst an die Tür, forschend, ob
+endlich vielleicht einmal ein richtiger Tarockspieler da wäre für die
+langen Herbstabende. Seine Augengläser rückte er von der Stirn herab
+und besichtigte mich. Und murmelte was und besichtigte mich eingehender
+und kraute seinen Weißkopf.
+
+»Nun, Herr Doktor!« rief ich lustig, »wo fehlt's bei mir?«
+
+Er ging drauf ein, tippte mit dem Finger an meine Stirn und sagte
+bedächtig: »Bei Ihnen fehlt's ~da~!«
+
+»Was tausend! Mir fehlt's ja nur an einem Nachtquartier!«
+
+Er blieb mit dem Kerzenlicht in der Hand an der Tür stehen und fuhr
+fort, mit behaglicher Langsamkeit zu sprechen: »Ich habe von Wien aus
+das Vergnügen, den Herrn Volksdichter zu kennen. Von einer steirischen
+Vorlesung her; und aus den Büchern, wo er sich so infam über uns Ärzte
+lustig macht. Als würden wir nur gerufen, um den Leuten leichter
+sterben zu helfen, oder so was. Und hätten für alle Krankheiten nur
+ein Mittel, das Hasenöl, das aber nichts anderes, als ein verdorbenes
+Schweinefett wäre. So ein alter Dorfbader hat ein gutes Gedächtnis,
+nicht wahr?«
+
+Mittlerweile hatte er sich in den Zorn geredet und nun kam's: »Jawohl,
+solche Torheiten oder Bosheiten merkt man sich. Wo im Volke ohnehin
+schon bald alles Vertrauen beim Teufel ist! Ja, mein lieber Herr, wenn
+man sich so in Dinge mischt, die man nicht versteht, da kann dies nur
+mit Dummheit entschuldigt werden. Beim Esel im Stall, wenn Sie schlafen
+wollen!«
+
+Und klapps, schlug die Tür ins Schloß.
+
+Noch kam die alte Frau, entschuldigte ihren Mann, der halt über seinen
+Beruf keinen Spott kommen lasse und schon oft gesagt habe: Wenn er
+ihn einmal derwischen täte, denselbigen -- gut ginge es ihm nicht!
+Übrigens, er sei so arg nervös, aber fressen täte er keinen, und sie
+wolle mich heimlich auf den Oberboden führen, auf einen Strohschaub aus
+Barmherzigkeit. Verderben dürfe der Mensch ja doch auch seinen Feind
+nicht lassen.
+
+Offen gesagt, diese Alte mit ihrem barmherzigen Strohschaub war mir
+noch zuwiderer wie der wütende Doktor, dessen Beruf halt schon so ernst
+ist, daß er keinen Spaß verträgt. Ich ging wieder einmal hinaus unter
+Gottes freien Himmel und hatte Zeit, mich über die große Popularität
+zu freuen. Nur hatte ich sie mir teilweise anders gedacht, diese
+Popularität.
+
+Da stand er, der Missetäter, der ausgestoßene. Da hatte er immer
+gemeint, die guten armen Menschen erheitern und erheben zu wollen,
+während er sie der Reihe nach tödlich beleidigte. Mitten im »treuen
+Alpenvolke« stand er nun einsam in eitler Nacht, fremd und fröstelnd,
+erschöpft von weiter Wanderschaft. Hinter mir bellte ein Hund, dem
+gesellten sich mehrere, groß und klein -- die Hundeschaft des ganzen
+Dorfes -- und brachten mir ein vielstimmiges Ständchen.
+
+Es schnitt die Bergluft. Der Tau des Grases gedachte kalter Reif zu
+werden über Nacht.
+
+Dort auf dem Hügel stand ein fahles Gemäuer. Es war die Kirche,
+deren Turmuhr die neunte Stunde schlug. Wie lang ist eine solche
+Septembernacht! -- Aber neben der Kirche pflegt ein Pfarrhof zu stehen,
+und im Pfarrhofe ein christlicher Mann zu wohnen. Man hatte mir so oft
+geschmeichelt, in meinen Schriften stecke doch ein bißchen Religion.
+Nun, dann dürfte vielleicht ein Versuch im Pfarrhof nicht fehlgehen.
+
+Dort an der Tür mußte ich aber lange ziehen am Glockendraht.
+
+Endlich klirrte hoch an der Wand ein Fenster auf, und eine kräftige
+Männerstimme fragte herab, was es gebe?
+
+»Ein obdachloser Reisender! er bäte um Unterstand über Nacht, sei es im
+Stalle, sei es in der Scheune, wo immer!«
+
+»Es gibt wohl doch noch andere Häuser in der Krumpa.«
+
+»Ich habe keine Geneigtheit gefunden!«
+
+»Dann wird man schon der Richtige sein. Wer sind Sie denn?«
+
+»Feuergefährliches, oder so was, habe ich nicht bei mir!«
+
+»Wer Sie sind, will ich wissen?«
+
+Auf diese unentwegte Frage nannte ich meinen Namen.
+
+Da beugte sich der Pfarrer aus dem Fenster weiter hervor, fragte noch
+einmal und sagte dann: »Ich verstehe immer: Rosegger!«
+
+»Es ist richtig, Herr Pfarrer!«
+
+»Wohl doch nicht der Poet?«
+
+»Er ist es, Herr Pfarrer. Aber zur Zeit ohne Poesie, nur stark
+schläfrig!«
+
+Der Herr oben begann zu lachen.
+
+»Sie verzeihen schon, Herr Rosegger,« entschuldigte er sich, »ich
+lachte über den Zahltag. Daß Sie heute um Unterkunft bitten müssen
+an der Pforte jenes Standes, den Sie so oft dem Hohne der Menge
+preisgegeben haben. Erinnern Sie sich an den Stiefelknecht? An des
+Pfarrers Fiederl? Schaun's wie es geht. Wenn man die Kirche einreißt,
+dann sitzt man schutzlos auf der Welt. Übrigens sind wir Priester
+besser, als der Ruf, den Sie mit verbreiten halfen. Die Haushälterin
+wird bald aufschließen.«
+
+Die Haushälterin hatte mich nicht mehr an der Tür gefunden. Doch vor
+dem Erfrieren war keine Gefahr mehr, erstens, weil mir dieser Leute
+Gastfreundschaft heiß gemacht hatte in der Brust, zweitens, weil ich
+einen Heustadl fand. Der stand auf der Wiese neben dem rauschenden
+Bach. Ich vergrub mich ins duftende Heu. Nur schade, dachte ich mir zu,
+daß nicht eine Fabrik, oder ein Grafenschloß dasteht, man würde dich
+auch an solchen Toren abweisen. Hernach die Gelehrten, die Studenten
+und derlei Kasten mehr. Oder die Parteien: die Antisemiten, die Juden!
+Allen hast du gelegentlich eine Schelle angehängt. Und wenn du bei dir
+selber anklopfest, keinen bayrischen Pfennig wette ich, du schreist dir
+zu: Kerl, auch über mich hast du dich schon lustig gemacht, marsch! --
+In Gottesnamen, bist halt ein Bösewicht. -- Damit legte ich mich aufs
+andere Ohr.
+
+Aber gerade, als es zum Einschlafen kommen wollte, war draußen eine
+rufende Stimme zu vernehmen. Sie kam näher, sie entfernte sich, sie kam
+wieder näher, und endlich war es deutlich, man rief meinen Namen.
+
+Ich hob den Kopf: »Was Teuxel ist denn los?«
+
+»Hau!« rief es draußen, »im Heuschupfen ist er!« Dann kam der Rufer
+auch schon an die Wand und sagte: »Wenn er drinnen ist, so muß er
+heraus. Das wollen wir Schullehrer uns nicht ankreiden lassen, daß
+unser Waldschulmeister-Dichter in dem Heuschupfen schlafen soll! Ich
+bin ja auch so ein Waldschulmeister, aber nicht der in der Krumpa. Wir
+gehen zusammen jetzt nach Sankt Marten hinauf, ein Stündel. Dort gibt's
+ein gutes Bett!«
+
+Als er das gesagt hatte, war meine wohlgesetzte Antwort: »Ich danke
+Euch, Waldschulmeister von Sankt Marten. Aber aufstehen tu' ich jetzt
+nicht. Wie ich just lieg', so gut liegt der Kaiser von China nicht
+auf seinen chinesischen Seidenkissen. Sollte ich aber morgen an Sankt
+Marten vorüberkommen, dann melde ich mich bei Euch, und itzo seid so
+gut und laßt mich in Frieden.« --
+
+Am nächsten Morgen stieg ein göttlicher Sonntag auf. Ich ging aus
+meinem Heugrabe wie neugeboren hervor, und das Dörfchen Krumpa lag
+im feuchten Walddufte so lieblich da, als wären alle Rächer meiner
+literarischen Missetaten ausgezogen über Nacht. Die Wiese hatte
+einen silberweißen Reif, die Ahorne waren schon rot, und die Lärchen
+gelb, und hoch auf den Berggipfeln lag goldgrünlicher Sonnenschein,
+so daß es im blumigen Mai nicht farbenleuchtender sein kann, als
+an diesem stillen Herbstmorgen. Und vor meinem Heustadl stand ein
+ältliches Herrchen. Es stand durchaus nicht ruhig, es zappelte mit
+den Füßen, es schlenkerte die Arme hin und her, einmal über die
+Brust, einmal über den Rücken, der einen weidlichen Höcker hatte.
+Nach dem Gewandschnitte hätte es wohl ein notiges Bäuerlein sein
+mögen, allein der Hut, der rabenschwarze hochgebaute Filzhut mit der
+funkelnden Bandschnalle zeigte einen vornehmen Herrn an. Solche Hüte
+trugen die Gerichtsverweser und Doktoris vor achtzig Jahren. Und
+diesen letzten, nur wenig entarteten seines Geschlechtes, trägt mein
+Waldschulmeisterlein von Sankt Marten.
+
+Das war in aller Herrgottsfrühe herabgekommen, hatte vor der Heuscheune
+auf meine Urständ gewartet und sich dabei fast Zehen und Finger
+verfroren. An der weichen, breiten Stimme erkannte ich den nächtlichen
+Schreier.
+
+Und er im ersten Schreck: »Jesses, der ist es ja nicht!«
+
+»Wer soll es denn sein?« fragte ich und streifte mir die Halme von den
+Kleidern.
+
+Er zog ein Bildchen aus der kleinen Ledertasche, betrachtete es,
+verglich es: »Der da -- auf dem Bildel -- hat den Bart unter dem Kinn,
+und der vor mir steht, hat ihn unter der Nase!«
+
+»Wenn der Mensch alt wird, so muß er sich jung machen,« meinte ich.
+»Ihr habt Euch ja noch jünger gemacht und den Bart ganz weggeschabt,
+daß Ihr wohl kaum mehr davon habet, als Eure ABC-Schützen!«
+
+»Wahr ist's!« rief er lustig aus. »Und wenn Ihr's seid, so grüß Euch
+Gott!«
+
+Dann gingen wir miteinander. Ich wollte an demselben Tage ja über das
+Martenjoch, da hatten wir durch den Sulzergraben den gleichen Weg. Und
+er erzählte mir den Schick. War nämlich dieser Lehrer von Sankt Marten
+gestern spät abends bei seinem jüngern Amtsbruder in der Krumpa gewesen
+und hatte von ihm gehört, daß eben vorhin der »Lehrerspöttler« von
+ihm abgeschafft worden wäre. Zuerst hatte der von Sankt Marten nicht
+gewußt, wer da gemeint sei, dann näher unterrichtet, habe er gesagt:
+»Kollege, hast du die Schriften des Waldschulmeisters gelesen?«
+
+Nein, für derlei habe er keine Zeit.
+
+»Du bist halt erst aus der Stadt gekommen und noch zu wenig lang im
+Walde, um für derlei Sinn zu haben. Ich gehe ihn jetzt suchen, falls er
+noch keine Herberge hätte.«
+
+So war der Alte an die Heuscheune gekommen, um das »Versehen seines
+Amtsbruders« gutzumachen. Und auf solche Weise habe ich dieses rührende
+Schulmeisterlein kennen gelernt.
+
+Durch den langen Graben holte uns ein laufendes Weib ein, eine
+Holzknechtin. Sie war schon in der Krumpa gewesen beim Arzt.
+
+»Ist das Kindel noch nicht besser?« fragte sie mein Waldschulmeister.
+
+»Weiger nein, es wird alleweil schlechter!« gab sie weinerlich zur
+Antwort, »der Bader sagt gar, die Dipfterie!«
+
+»Die Dipfterie sagt er! so schlimm wird's wohl nicht sein. Eine starke
+Halsentzündung, wie sie vor kurzem die Kohlnatzel-Kinder gehabt haben.
+Für arme Leute ist die auch gut genug, braucht's keine herrische
+Diphtheritis zu sein. Mein Weib wird dir Rotholleröl schicken. Den Hals
+recht schmieren damit und ein paar Tropfen eingeben!«
+
+»Kommt mir eh ganz herab, das Bübel,« klagte das Weib, »nichts als Haut
+und Knochen.«
+
+»Wenn du Geld brauchst, so komm halt noch einmal zu mir.«
+
+»Bitt' hundertmal!« sagte sie und eilte voran, der Waldwildnis und
+ihrem kranken Kinde zu.
+
+»Es geht Euch wohl gut auf Eurem Posten?« fragte ich nun den Alten,
+der, so klein er war, mit weiten Schritten gar würdig neben meiner
+einherstapfte.
+
+»Besser schon, wie dem in der Krumpa,« antwortete er. »Aber Gehalt
+hat mein Kollege da draußen einen höheren, und Naturalien hat er
+auch mehr. Die Sache ist die, er ist ganz und gar nicht zufrieden in
+der Krumpa, er schaut alleweil aufwärts, anstatt abwärts, und das ist
+gefehlt!«
+
+»Hohe Ideale muß sich freilich auch ein Schullehrer stellen.«
+
+»So meine ich's nicht. Der Lehrer in der Krumpa schaut alleweil
+hinauf zum Oberlehrer in Schwarzbach, einen so großen Gehalt möchte
+er haben. Der zu Schwarzbach denkt sich wieder: Ei, was hat's der
+Schuldirektor in Elmstadt gut! Und der Schuldirektor in Elmstadt kann
+nicht begreifen, weshalb er nicht schon Landesschulinspektor ist. Na,
+na, wenn der Mensch alleweil ins Licht blickt, wird er blind. Da muß
+man die Holzlieserl anschauen, die uns vorhin wegfür gegangen ist, eine
+Stube voll kränklicher Kinder und einen schnapssaufenden Mann dazu.
+Oder unsere Kohlenbrennerleute, die sich zeitweise rein von der guten
+Luft und dem bißchen Wildobst nähren müssen. Oder immer ein Bäuerlein,
+das mehr Schulden als Schuhnägel hat, weil ihm das Weib heimlich Mehl
+und Butter austrägt und an ihre Lotter vertut. Freilich wohl, mein
+lieber Herr, mit solchen Leuten verglichen, ist unsereiner ein reicher
+Mann. So war das vom Auf- und Abwärtsschauen gemeint.«
+
+Am Ende der Schlucht war eine Holzbrücke, diesseits derselben standen
+ein paar Hütten, und jenseits an der Felswand war die Kapelle mit einem
+hölzernen Dachreitertürmchen.
+
+»So,« sagte mein Begleiter, »das wäre der Dom zu Sankt Marten. Und hier
+beim Bach die Universität.«
+
+Ein hölzernes Schulhaus mit geräumigem Unterrichtszimmer und der
+niedlichen Lehrerswohnung.
+
+»Ich habe ihn schon!« lachte mein Lehrer einer kleinen, weißlockigen
+Frau zu, die im Sonntagsstaat, aber mit einer breiten Küchenschürze um
+die Mitte, vor mir den Knicks machte:
+
+»Wenn man ein einfaches Nachtmahl gehabt hat und in der frischen
+Gottesfrühe schon eine Stunde marschiert ist, da wird ein Tröpfel
+Kaffee wohl schmecken. Ich bitt' schön!«
+
+Im sonnigen Stübchen, auf weißgedecktem Tische gab es dampfenden
+Kaffee, Weißbrot, Butter, Honig und einen Strauß frischer Blumen,
+wie sie im Herbst auf den Feldern wachsen. Alles in feinen
+Porzellantassen und daneben in einer Stahlschale zwei Zigarren. An der
+blankgescheuerten Wand Hausgeräte, Heiligenbilder und eine auffallend
+große Photographie in kunstvoll durchbrochener Metallrahme. Das Bild
+stimmte so eigentlich gar nicht zur Umgebung, und es war das Porträt
+des berühmten Chirurgen Professor Doktor Rottacher in Wien.
+
+»Seid Ihr mit diesem Herrn bekannt?«
+
+»Na, ich glaub's, daß wir mit ihm bekannt sind!« sagte das weißlockige
+Frauchen und legte die Hände über der Brust zusammen.
+
+Dann kamen schon die Sonntagsleute, die so eine Weile vor den Hütten
+umherstanden.
+
+Es war heimlich im Schulhause, und ich blieb den ganzen Tag dort.
+Vormittags versammelten sich im Kirchlein an dreißig Menschen,
+der Lehrer setzte sich in eine Bank und las laut und langsam das
+Sonntagsevangelium und ein Kapitel aus Thomas von Kempis' »Nachfolge
+Christi«. Seit einigen Jahren haben die zu Sankt Marten keinen Pfarrer,
+und so tut's halt der Schulmeister. Dann setzte er sich ans Harmonium
+und spielte ein Kirchenlied, bei dem einige Weiber mitsangen. Hernach
+sagten sie gemeinsam »Vergelt's Gott«, und der Gottesdienst war aus.
+
+Jetzt ging's aber beim Schulhause an. Ein Häuslersweib kam und bat die
+Frau Lehrerin, daß sie im Obstgarten das Gras abmähen dürfe für die
+Ziege, der Jäger wolle das Tier auf freier Weide nicht mehr dulden. Die
+Lehrerin gestattete es. Das Gras wird auch so zertreten, sagte sie dann
+zu ihrem Mann. Ein anderes armes Weib fragte demütig an, ob sie die von
+den Bäumen gefallenen Äpfel zusammenklauben dürfe, um sie zu dörren für
+die Kinder. Die Lehrerin gestattete es und begründete ihrem Manne: die
+Äpfel wären ohnehin wurmstichig. An der Hausecke lehnte ein besonders
+ärmlich gekleideter Mann und hielt sich den Hut vors Gesicht, als
+schäme er sich. Der Lehrer ging zu ihm: »Deine Kinder haben wohl schon
+wieder einmal Magenweh, Sebastian!«
+
+»Freilich, freilich, Herr Lehrer, schon seit gestern mittags!«
+
+»Hast du die Flasche bei dir?«
+
+»Wohl, wohl, Herr Lehrer!«
+
+»Geh' nur in die Kammer zur Frau!«
+
+Und die Frau Lehrerin füllte ihm die Flasche mit Milch und gab noch ein
+Stück Brot dazu.
+
+Später kam ein hinkendes Weiblein dahergehumpelt und fragte an, ob die
+Frau Schulmeisterin denn gar nichts für sie zu stricken hätte.
+
+Die Frau bestellte zwei Paar Socken, die Alte blieb aber noch stehen
+und sie hätte halt frei keinen Kreuzer Geld.
+
+So ging das fort, dem Lehrerpaare schien alles ganz in Ordnung zu sein.
+Sie gaben und gestatteten, und wo das nicht ging, vertrösteten sie
+leutselig auf später.
+
+»Zu wem sollen diese armen Leute sonst gehen!« meinte der Lehrer: »sie
+haben halt auch ihre Anliegen, und den Weg zum Schulhaus finden sie
+seit kindesher.«
+
+Beim Mittagsmahl saßen wir unser drei beisammen, ich zwischen den
+alten Leuten, wie eine Art von Sohn. Da gab es gekochte Milchsahne,
+blaugesottene Forellen, Eiersalat und Zwetschkenklöße. Die Fürsten
+können solches nicht besser haben und es koste, wie die Frau
+versichert, fast gar nichts. »Die Sahne ist von unserer Kuh, die Eier
+sind von unseren Hühnern, die Zwetschken wachsen auf unseren Bäumen,
+und die Forellen angelt mein Mann von seinem Fenster aus dem Bache.«
+
+Der Förster, der auch das Fischwasser hütet, habe deswegen zwar einmal
+Umstände gemacht, doch der Bezirksrichter habe entschieden, das wäre
+schon seit altersher so, daß mit der Hand gefangene und aus der eigenen
+Wohnung geangelte Fische Freigut sind.
+
+Sie hätten es seit jeher so gehalten, wären ja schon zweiundvierzig
+Jahre in diesem Bergwinkel. Die ersten Jahre hätte es wohl geplagt.
+Acht Tage nach dem Herzug habe die junge Frau bei den Waldhäuslerinnen
+um Brot und Kartoffeln betteln müssen. Dazu eine verfallene Hütte als
+Schulhaus, das wäre dann aber vom Waldherrn neu gebaut worden. Später
+sei das Gehalt erhöht worden und die Frau hätte eine Erbschaft gemacht,
+so daß sie jährlich schier über sechshundert Gulden aufzubrauchen
+hätten. »Wir sind aber auch schier die einzigen Steuerzahler in Sankt
+Marten!« --
+
+Das wurde mir mit Stolz erzählt, obschon der Alte gleich beisetzte:
+»Man soll sich freilich nicht prahlen, sondern Gott danken. Und das
+tut man alleweil am besten zu armen Leuten. Fünfhundert Gulden Gehalt,
+hundertzehn Gulden Renten! Zu Tod müßt' sich einer schämen mit so einem
+Vermögen, wenn man damit nicht ein bissel Vorsehung spielen wollte.«
+
+»Und erst, seit uns der Julius so viel Sachen schickt!« rief die Frau
+drein, »aber der meinige will ja nichts nehmen!«
+
+»Der Julius, wer ist denn das?«
+
+»Das ist der da!« sagte der Lehrer und tippte mit dem Finger auf die
+Photographie an der Wand.
+
+»Professor Rottacher! Ein guter Freund von Euch?«
+
+»Aber ich bitt' Euch, das ist ja unser Julius!« rief die Lehrersfrau,
+»unser Herr Sohn!«
+
+»Unser Bub'!« verbesserte der Alte.
+
+Da habe ich erst einmal aufgehorcht.
+
+»Ist halt ein bisserl auf Abwege geraten, unser Sohn,« fuhr der Lehrer
+gesprächig fort -- wir saßen ja bei einem Kruge Apfelwein -- »hätt'
+auch Lehrer werden sollen nach meinem Wunsch, weil wir derer ohnehin
+nicht allzuviel taugliche haben. Aber der gute Julius war halt auch
+kein tauglicher, und so hat er ein Handwerk lernen müssen.«
+
+»Ihr meint doch den Chirurgen Julius Rottacher!«
+
+»Chirurgie ist mehr Handwerk als Wissenschaft, lieber Herr
+Volksdichter. Hat auch einen goldenen Boden. Aber tauschen täten wir
+nicht mit ihm, gelt Mutter! Sind einmal bei ihm in Wien gewesen --«
+
+»Das prächtig schöne Haus, das er hat!« rief die Frau dazwischen, »wie
+ein Graf. Und Diener mit Silberknöpfen!«
+
+»Ein Holzarbeiter da drinn im hinteren Martenwald, hat's besser,«
+darauf wieder der Alte, »der hat wenigstens bei der Nacht eine Ruh'.
+Beim Doktor, wenn's nicht klingelt, so beißt die Sorge, wie es mit den
+Kranken steht, ob die Operation geglückt ist. Heut' ist er noch im
+Ungewissen, morgen nicht mehr. Der Operierte? -- Nein, da danke ich
+für den silberknöpfigen Lakaien und alles miteinander. Nie, Julius,
+hab' ich ihm gesagt, nie wieder komme ich zu dir, müßte krank werden
+vor lauter Angst um deine Patienten. Dem Schullehrer schlägt bei
+seinen Kindern ja auch nicht alles zum Guten an, aber da gibt's nicht
+leicht den Vorwurf, daß man die Krankheit mißkannt, daß man sich im
+Mittel vergriffen hat, man behandelt die Kinder mit Güte und heilsamer
+Strenge, alles andere muß man Gott überlassen.«
+
+»Und so wird's der Julius auch mit seinen Kranken machen,« sagte die
+Frau, »Fritz, du willst mir halt immer die Freud' verderben an ihm.«
+
+»Ärgern tu' ich mich!« rief der Alte hitzig, »weil er mir erbarmt,
+der arme Mensch, mitten in seinen Ehren und Reichtümern. Keine Ruhe
+und keine Sammlung und kein Besinnen auf sich selber. Nein, das ist
+kein Leben. Und was hat er aufzuweisen? Recht selten eine Arbeit,
+wo nichts zurückbleibt, so gut er's auch meint. So ein Metzgern da!
+Seit zehn Jahren, denkt Euch, war er einmal bei uns in Sankt Marten,
+ein einzigesmal auf drei Tage. Glaubt Ihr, er hätt' was Lustiges
+mitgemacht oder wäre im Wald umhergegangen? Nichts, als immer studiert,
+spintisiert, an Hasen und Hühnern herumprobiert, daß es oft schon gar
+nicht mehr schön war, hernach Briefe geschrieben und Zeitung gelesen,
+bis er -- hast es nicht gesehen -- wieder fort ist.«
+
+»Dafür verdient er sich zehnmal leichter den Himmel, als unsereins im
+sorglosen Leben!« das sagte die Frau, schüttelte den weißbelockten Kopf
+und forschte nach dem Eindruck, den ihr Ausspruch bei uns gemacht.
+
+Dieser Eindruck war nicht bedeutend.
+
+»Nicht einmal zum Heiraten hat er Zeit!« rief der alte Lehrer. »Und da
+möchte ich wissen, wie man ohne Hauskreuz soll in den Himmel kommen
+können!«
+
+Sofort hatte er für die heitere Bosheit seinen kleinen Klaps auf der
+Wange, der Ernst des Gespräches war abgebrochen.
+
+Auf Einladung der Leutchen bin ich über die nächste Nacht im Schulhause
+geblieben. In dem wohlverschalten Dachgelaß wurde mir ein Bett
+angewiesen; grobe, weißgebleichte Bauernleinwand und mitten über das
+mit Haferrispenspreu gefüllte Kopfkissen ein gestickter hellroter
+Streifen. Der Lehrer war noch eine Weile an meinem Bette gesessen, um
+zu plaudern. Endlich war's ihm darum zu sagen, ich möchte in diesem
+Bette besser schlafen als sein Julius geschlafen habe, der die ganze
+Nacht Patienten klingeln hörte. »Und ich,« schloß mein Gastgeber
+schalkhaft, »muß jetzt noch ins Schulzimmer, um ~meine~ Schriften
+des Waldschulmeisters zu schreiben!«
+
+Am nächsten Morgen vor dem Antritte meiner Wanderung habe ich Einsicht
+genommen in diese Schriften des Waldschulmeisters: Auf der schwarzen
+Schultafel mit Kreide geschrieben standen Buchstaben des ABC für die
+Anfänger. -- Und damit leistete er sicherlich mehr, als unsereiner mit
+den Fabeleien.
+
+
+
+
+ Der Orgler zu Sankt Thomas.
+
+
+An einem taufrischen Sommer-Sonntagsmorgen kamen drei Touristen aus
+Wien in das Alpendorf, genannt Sankt Thomas in der Klausen. Auf dem
+Hügel stand das Häuschen Gottes, dessen zwei Glocken durch das enge
+Tal klangen, um die auf allen Höckern und in allen Falten des Gebirges
+zerstreute Gemeinde zusammenzurufen. Die Touristen stiegen zum Kirchl
+hinan. Aus Frömmigkeit geschah es nicht. Sie wollten nur einmal sehen,
+wie es in so einer Dorfkirche zugeht. Da gab es nun was Besonderes zu
+hören auf dem Chore. Dort saß ein Knabe und spielte die Orgel in einer
+verwunderlichen Weise. Er spielte ein Kirchenlied so rührend, schlicht
+und fromm -- man meinte gar, die Orgelpfeifen wären lebendig und
+lobten aus eigenem Herzen den Herrn. Unsere Städter hatten wohl schon
+die größte Kunstfertigkeit auf ähnlichen Instrumenten zu bewundern
+Gelegenheit gehabt, aber eine solche Innigkeit, ja Heiligkeit im
+Orgelspiel war ihnen was Neues. Zudem war der spielende Bauernknabe
+schön wie ein Engel. Sein Haupt mit den lichten Locken war etwas
+vorgebeugt, auf den Wangen blühte die Freude über die Klänge, seine
+schattigen Augenlider waren geschlossen. Seine Lippen bewegten sich
+leicht, als begleite er die Orgel mit leisem Gesang. Als sich das Spiel
+in höhere Töne hob, hob auch der Spielende sein Haupt, schlug die
+Augenlider auf und -- in diesen Augen leuchteten keine Sterne.
+
+Der Knabe war blind.
+
+Hier will ich die kleine Geschichte des blinden Musikanten erzählen,
+wie sie den Touristen erzählt worden ist.
+
+Mit dem Rocken-Hans hebt sie an. Der war vor fünfzehn Jahren noch
+Wildschütze gewesen -- teils aus Hunger -- weil Notwehr erlaubt ist
+-- und teils aus Neigung -- weil das Wildern verboten ist. -- Arme
+Wildschützen sollte man nicht zu Verbrechern machen -- sondern zu
+Jägern. Das sind die findigsten, wachsamsten Kerle, die verläßlichsten
+Hüter und, gilt es, die schärfsten Schützen. Auch den Rocken-Hans hatte
+man zum Jäger gemacht, aber aus der Klausen in eine andere Gegend
+versetzt, wo er an die zehn Jahre verblieb, sich ein Weib beilegte
+und fast zufrieden war. Vollauf zufrieden darf selbst ein Jäger im
+grünen Walde nicht sein. So scharfe Augen der Vater hatte, das Kind
+war blind. So schön das Mutterantlitz ist, wenn es zum Kinde lächelt,
+der Knabe sah es nicht. Nur ihre Wiegenlieder hörte er. Dann, als die
+Mutter stumm geworden war, und fortgetragen, saß der Knabe auf dem
+Bankl vor dem Jägerhause und hörte den Finken und den Drosseln zu und
+allem Gevögel, das da sang und zirpte im Waldland. Am Abende waren die
+Grillen und Frösche zu hören und das Rieseln des Baches und das Säuseln
+der Wipfel im Abendhauch. Im Winter aber -- wenn alles still war --
+schlafend die Vöglein, hartgefroren der Bach, verhüllt die Bäume -- saß
+der Jäger neben dem kleinen Sohne und machte ihm vor, wie die Gemse
+pfeift, das Reh bellt, der Auerhahn balzt und der Rabe kräht. Das war
+alle Musik in weitem Bergrund', und der blinde Knabe dürstete nach dem
+Lichte der Töne.
+
+Sagte der Jäger eines Tages zu seinem Sohne: »Jetzt bist du schon
+stark, Heinrich, und morgen ist Lichtmeß; du gehst mit mir nach Thomas
+in die Klausen -- bin selber schon eine gute Weil' nicht mehr dort
+gewesen -- und da wirst du auf dem Kirchenchor was hören, was du
+deiner Tage noch nicht hast gehört. Mußt dich jetzt schlafen legen, wir
+stehen um eins in der Nacht auf.«
+
+Der Weg vom Jägerhause bis in die Klausen ist im Sommer fünf Stunden
+lang, im Winter zieht er sich auf sechs und unter kurzen Beinen ist er
+noch länger. Der Knabe ging zu Bette, aber schlafen konnte er nicht.
+In Trauer schläft sich's leicht ein, in Freude schwer. Heinrich dachte
+an des Vaters Worte vom Kirchenchor -- was das sein sollte, wußte er
+freilich nicht, was Besonderes gewiß. Endlich, als er einschlummern
+wollte, kam der Jäger, ihn zu wecken. Und sorgfältig kleidete der Mann
+den Knaben an, gab ihm heiße Ziegenmilch zu trinken und schnallte ihn
+auf die hölzerne Rückentrage, wie solche im Gebirge gebräuchlich sind.
+Und nahm die Trage auf den Rücken, verschloß das Haus und ging in
+sternheller Winternacht davon.
+
+Nach einer halben Stunde fragte der Knabe: »Kommen wir schon in die
+Klausen, wo die Kirche steht?«
+
+»Jetzt noch nicht, Heinrich. Bist du müde, so schlafe.«
+
+In zwei Fuchshäute gewickelt, schlief der Knabe ein und der Vater
+ging und ging und freute sich insgeheim auf die Kirchenmusik in Sankt
+Thomas, die immer so prächtig war gewesen, freute sich auf die Freude
+seines Kindes.
+
+Und dann, als hoch an den starren Felsen die Morgensonne leuchtete,
+ging er durch die Schlucht der Klausen. Und als die Glocken vom Sankt
+Thomas-Kirchlein läuteten, wachte der kleine Heinrich auf und sagte:
+»Vater, hörst du's auch, wie der Vogel schön singt?«
+
+Der Jäger tat den Kleinen von der Rückentrage und nun gingen beide den
+Hügel hinan und ins Kirchl hinein.
+
+Am Altare stand der Priester, die Gemeinde lallte Vaterunser auf
+Vaterunser -- und nichts als das.
+
+Heinrich horchte andächtig und meinte, das wäre jenes Seltsame am Chor,
+wovon der Vater gesprochen. Der Jäger aber wendete sich flüsternd an
+einen alten Bauer: »Was ist's denn, haben 'leicht die Thomasler keine
+Musik?«
+
+»Freilich nicht, freilich haben wir keine,« gab jener zur Antwort,
+»die Orgel und die Pfeifen und Geigen sind wohl noch oben, aber kein
+Musikant ist dabei. Die alten sind weggestorben und junge werden keine
+mehr abgerichtet. 's schaut kein Geld dabei heraus und umsonst wollen
+die Leut' heutzutag' nicht einmal für den Herrgott was tun. Der Herr
+Pfarrer kann wohl orgeln -- aber wer liest hernach die Mess'? Unser
+Lehrer bläst nur eine Pfeife, seine meerschaumene. -- Gottsredlich
+wahr, jetzt hat eins in der Kirche auch keine Freud' mehr.«
+
+Der Mann hätte sicherlich noch eine Zeitlang fortgeflüstert, da stieß
+ihn ein Beisitzer mit dem Ellbogen: »Willst schwatzen, Michel, so geh'
+hinaus.«
+
+Der Alte war still, der Rocken-Hans führte sein Söhnlein wieder aus der
+Kirche, daß der Kleine doch zum wenigsten die Spatzen und die Gimpel
+höre, die auf den Dächern zwitscherten.
+
+Gingen hierauf zum Bäckerwirt und der Vater rückte dem Knaben das
+Suppenschallerl unter das Kinn und das Weinglas in die Hand.
+
+»Vater, wann ist das auf dem Kirchenchor, was ich mein Lebtag noch
+nicht habe gehört?«
+
+Am Nebentische saß, eben vom Gottesdienste zurückgekommen, der Pfarrer.
+Er nahm das Frühstück ein, hörte die Worte und rief zum Jäger herüber:
+»Der Rocken-Hans? Auch wieder mal bei uns herüben? Brav, brav! -- Sohn
+das? Recht brav. Ein sauberes Bübel! Nicht Handküssen. Wie heißest
+denn, Kleiner, he? Heinrich? Brav. Mein Gott, das Kind hat ja --
+schlechte Augen?«
+
+»Halt ja, halt ja, Hochwürden,« sagte der Jäger, »und desweg', weil er
+nicht sehen tut, so wollt' ich ihn was hören lassen.« Und erzählte nun,
+daß sie gekommen wären, um die Orgel zu hören in der Kirche zu Sankt
+Thomas. Allsogleich rannen dem Pfarrer die Tränen über die Wangen; das
+blaue Sacktuch kam schon zu spät.
+
+»Ah na,« sagte er hernach, »umsonst sollt ihr den Weg nicht gemacht
+haben. Ist dir warm, Bübel? Dann wollen wir miteinander in die Kirche
+gehen.«
+
+Sie gingen in die Kirche, es war kein Mensch mehr drin. Die Leute
+hatten sich satt gebetet und dabei Appetit für ein Mittagessen
+bekommen. Die drei stiegen auf das Chor. Der Pfarrer setzte den Knaben
+in die Orgelbank, legte dessen Fingerchen auf die Tasten. »So, Kleiner,
+jetzt halte still, gerade so, wie die Finger liegen. Brav. Und wenn ich
+sag': Druck' nieder, verstehst, so druck' nieder und halte aus -- halte
+aus, so lang's dich freut.«
+
+Zog hierauf die Riemen des Blasebalges und rief sein: »Druck' nieder!«
+Der Knabe tat's und erschrak vor dem, was jetzt war: ein klingendes
+Band, ein tönender Stab -- und doch unvergleichbar mit allem, ganz
+einzig zu hören, wie ein Gedanke, der schallt, wie eine Freude, die
+klingt.
+
+Unbeweglich saß der Knabe da -- sein Antlitz blaß wie ein Steinbild,
+so horchte er der Musik. Die Hände preßte er auf die Tasten, bis die
+Finger vor Wonne zu zittern begannen. Und siehe, da zitterte auch der
+tönende Stab und nun wurde er es inne, der Knabe aus dem Wald, daß man
+seine Seele kann ausrufen in solcher Weise.
+
+Dann spielte der Pfarrer und der Knabe hat gemeint, er sei im Himmel.
+-- Er sah mit den Ohren.
+
+So war der Anfang gewesen.
+
+Und von diesem Tage an verblieb Heinrich, der kleine Junge, in Sankt
+Thomas und lernte von dem Pfarrer das Orgelspielen. Traurig und
+glücklich im Vaterherzen kehrte der Rocken-Hans allein zurück in sein
+Revier. Zu jedem Sonntag aber kam er in die Klausen und nach einem und
+einem halben Jahre -- am hohen Frauentage im August -- als er wieder
+in die kleine Kirche trat, summte nicht mehr der eintönige Psalter an
+sein Ohr, da der Pfarrer am Altare stand. Die Orgel klang, und der alte
+Waldmensch fühlte in jenen Tönen das liebe, junge, weiche Herz seines
+Kindes.
+
+So ist die Gemeinde von Sankt Thomas wieder zur Kirchenmusik gekommen.
+--
+
+Einer von unseren Touristen war nach solcher Kunde zum Pfarrer des
+Alpendörfchens gegangen, um ihm die Hand zu drücken.
+
+
+
+
+ Der Naturfreund.
+
+
+Das war auch wieder einmal eine Kindesseele, die sich in einen
+Stadtmenschen verirrt hatte, und solches ist so häufig ein Unglück.
+
+Ich sehe ihn sehr lebhaft vor mir, obzwar er sich vor einiger Zeit
+wieder aus dem Staube gemacht hat. Seine Gestalt war komisch, und sein
+Herz war rührend. Man hätte ihn geliebt, wenn man ihn nicht immer hätte
+auslachen müssen. Er war ein kleiner untersetzter Mann, dessen Frohmut
+es erlaubte, daß das Bäuchlein wuchs. Die Beine schienen der Last, auf
+die sie ursprünglich nicht berechnet gewesen, auch nicht ganz gewachsen
+zu sein, sie ließen sich etwas weich und unsicher, so daß bei jedem
+Schritte der Körper stark hin und her neigte. Auch mit den stets etwas
+krummgebogenen Armen tat er mit, gleichsam, als wollte er den schwachen
+Füßen durch Schwimmen in der Luft nachhelfen. (Für das Schwimmen in
+der Luft hatte er überhaupt Vorliebe, wie sich's später zeigen wird.)
+Zumeist trug er lichtgraue, wenn nicht gar weiße Blusen und Beinkleider
+und auf dem Haupt einen Zylinder mit stark geschweifter Krempe und von
+lichtgrauer Farbe. Der Hemdkragen war selbstverständlich fast immer
+blank, und an der Brust wehte ein flottgeschwungenes buntes Halstuch.
+Das wirkliche Merkmal aber war das Haupt, das Gesicht. Zu Salzburg, wo
+er sich seinerzeit in den Tagen der Kaiserzusammenkunft aufhielt, wurde
+er von den Tor- und Stadtwachen mit den höchsten Ehren begrüßt, die
+einem Potentaten zustehen, denn man hielt ihn für Napoleon III. Auch
+als er einst eine Weile in Paris bei seinem Freunde, dem Luftschiffer
+Godard, lebte, stürzten die Leute, wenn er harmlos lustwandelte, auf
+die Gasse und hielten ihn für den Kaiser. Einmal trieb ein Gendarm den
+Pöbel zurück und rief, wenn es Seiner Majestät beliebe, im Inkognito
+spazieren zu gehen, so habe Paris ruhig zu bleiben und den Kaiser nicht
+zu sehen.
+
+Die Ähnlichkeit unseres Mannes mit dem letzten Franzosenkaiser war
+in der Tat merkwürdig! Dieselben scharfen, grauen, lebhaften Augen,
+dieselbe derb gewachsene und »feinausgearbeitete« Napoleonnase,
+derselbe aufgehörndelte Schnurrbart, derselbe graudurchwirkte kühne
+Knebelbart, dasselbe meist kurzgeschnittene Haar, das die Glatze bloß
+zur hohen Stirne machte, dieselben feinen Runzeln des fahlen Gesichtes,
+und vollends die französisch lebhaften, nervösen Gebärden in allen
+Bewegungen, in der Sprache, die, weiß Gott woher, welschen Akzent hatte
+und sich gerne sprudelnd und munter in krausen Hyperbeln erging.
+
+Ja, das war der gute, harmlose Peter Berner, geborener Steiermärker und
+Handelsreisender mehrerer solider Firmen in Wien, Brünn und Triest.
+
+In unserer Stadt kannte ihn jedes Kind, es war ja keiner unter
+den hunderttausend Einwohnern so wie er. Er hatte es gerade nicht
+ungern, wenn man ihn mit Napoleon verglich und er wußte den Mann zu
+repräsentieren, von außen. Die Natur mußte in einer köstlichen Laune
+gewesen sein, als sie es unternahm, diesem gutherzigen, harmlosen,
+poetisch angelegten Gemüte die Maske des Erzschelmes an der Seine zu
+geben.
+
+»Die Natur!« Da habe ich ein Wort ausgesprochen, welches mit seinem
+unermessenen Inhalte das Leben Peter Berners mit Schmerzen und
+Wonne ausfüllte, ja demselben geradezu verhängnisvoll wurde. Er
+verstand unter der »Natur« die Landschaft mit ihren Wiesen, Feldern
+und Wäldern, die Bergwelt mit ihren Felsen, Gletschern und Seen,
+und das einfache Leben des Landvolkes mitten drinnen. Es ist ein
+wunderliches Merkmal unserer Zeit, daß sich der Kulturmensch so sehr
+sehnt nach der stillen Größe des ländlichen Lebens. In Peter Berner,
+dem Handelsagenten, hatte diese Sehnsucht die dreisteste Verkörperung
+gefunden. Streckte und reckte denn auf seinen Handelsreisen »Napoleon
+der Dritte« ununterbrochen den Kopf zum Wagenfenster hinaus und tat
+fortwährend Ausrufe der Freude, der Überraschung, der Begeisterung, so
+oft ein hübsches Landschaftsbild -- und er mochte es schon hundertmal
+gesehen haben -- vorbeiglitt. Mußte er in der Stadt weilen, so
+besuchte er Gasthäuser, wo sich irgendeine Tischgesellschaft fand,
+die ihm zuhörte, beistimmte, wenn er von der »herrlichen Natur« und
+einzelnen Gegenständen derselben in unbeschreiblicher Lebhaftigkeit und
+Begeisterung schwärmte. Fand er nicht das gewünschte Verständnis an
+seinen Tischgenossen, so verfiel er bald in schweigsame Schwermut und
+war über kurz aus der Gesellschaft verschwunden.
+
+Es gab Zeiten, wo er besonders Ursache hatte, den Hang der Städter
+nach Prunk, Flitter und falschem Schein und die tölpelhafte Stumpfheit
+gegen Sonnenauf- und Untergang, gegen Waldeszauber, Vogeljubel und
+Bergesherrlichkeit zu beklagen. Wissenschaftliche Dinge liebte er
+nicht, weil derlei -- wie er sagte -- die Schönheit von den Wesen
+reißt; Musik, bildende Kunst und Theater waren ihm leidig, weil er das
+Echte daran nicht sehen konnte, und wenn der Karneval kam, da verlor er
+kein Wort, sondern floh aus der Stadt. Verehelicht war er nicht, und so
+vergaß er leicht alle Bande, die ihn mit der »in Unsinn rasenden Welt«
+zusammenhielt, vergaß seine Freunde, seine Geschäfte, verlor sich auf
+Wochen lang und niemand wußte, wohin er geraten.
+
+Kehrte er endlich wieder zurück, so war es stets etwas zerfahren
+bestellt mit seiner Gewandung, mit seinen geschäftlichen Verbindungen,
+mit seinem Haushalte überhaupt, aber sein Auge war hell und sein Mund
+sprudelte unerschöpflichen Preis »den paradiesischen Gefilden der
+Bergwelt«.
+
+Weil Peter Berner ein geschickter Agent war, so kam er rasch in gute
+Verhältnisse; und weil Peter Berner ein so unbändiger Naturschwärmer
+war, so kam er auch allemal rasch wieder in die kümmerlichen Umstände
+zurück.
+
+Einst sollte seine Sehnsucht nach den Höhen, nach dem Ausblick ins
+weite, liebliche Land, sein Drang, aus dem Bereiche des städtischen
+Staubes, »des anmaßenden und hohlen Pöbels aller Stände« zu kommen,
+eine seltsame Erfüllung finden.
+
+Der französische Luftschiffer Godard kam in unsere Stadt. Sofort bot
+Peter Berner dem Manne alle seine Dienste an, wenn ihm dagegen die
+freie Mitfahrt in die Lüfte gestattet werde. Seine Tätigkeit für
+diese Sache war erstaunlich; er schlichtete alles Nötige bei den
+Behörden, besorgte den Platz der Auffahrt, die Ausbesserung des durch
+frühere mißlungene Fahrt und die Reise geschädigten riesigen Ballons,
+besorgte die Füllungsarbeiten, hatte den ganzen tausendgestaltigen
+Reklameapparat der Stadt in die klapperndste Bewegung gesetzt -- und
+daß die weite Wiese die herbeiströmende Menschenmenge kaum zu fassen
+vermochte, es war sein Werk.
+
+Man hatte den guten Peter noch niemals so in seinem Elemente gesehen.
+Er schleppte Holz zur Feuerstelle, wo die Luft erwärmt wurde, er
+spannte die Stricke an, er machte den Korb zurecht, und zwar mit einer
+Fertigkeit, die den Luftschiffer selbst zur Bewunderung hinriß, so
+daß er in seinem gebrochenen Deutsch ihn sogleich für seine Reisen
+als Helfer warb. -- Nun gab es aber unter den Zuschauern Leute, die
+ihr Geld nicht dafür gezahlt haben wollten, daß sie den Peter Berner
+glückselig gen Himmel fahren sehen könnten, sondern dafür, daß sie das
+Napoleongesicht mit einer noch längeren Nase erblicken sollten. Wie es
+zuwege kam, konnte nicht erhärtet werden, aber auf einmal wehte von
+einer Seite des schier völlig gefüllten Ballons ein lustiger gelber
+Rauch auf, und im selben Augenblick sank das bauchige Ungeheuer in sich
+zusammen.
+
+Zuerst schlug Peter Berner die Hände zusammen und rief alle Heiligen
+an. Dann, als es sich herausstellte, daß der Ballon an seinen
+Brandwunden verloren sei, begann er zu rasen. Mit geballten Fäusten
+rannte er umher, warf Holzstücke, warf Steine in das Feuer, hastete
+suchend nach dem Missetäter, fiel dann wieder Monsieur Godard um den
+Hals und weinte laut. Die Zuschauer unterhielten sich köstlich.
+
+Als Peter wieder zur Besinnung kam, rief er in die Menge hinein, die
+Vorstellung sei noch nicht aus; wenn sie ihn steigen lassen wollten,
+so sollten sie es nur tun! Hierauf nahm er seinen weißen Zylinder
+in die Hand, und mit feuchten Augen ging er Geld sammeln für das
+verunglückte Luftschiff. Da flogen die Papierfetzen nur so in den Hut,
+denn im Grunde tut die Welt einer guten Seele doch mehr zulieb', als
+sie sich selber gestehen mag. Die Sammlung wurde in den nächsten Tagen
+fortgesetzt durch einen öffentlichen Aufruf, in dem Berner an die
+»~edlen~ Menschenherzen« klopfte, seinen ~teuren~ Freund, den
+so schwer geschädigten Luftfahrer, der »zur Ehre Gottes und zum Heile
+der Menschen die ~unbeschreiblichen~ Wunder der ~großartigen~
+Natur erforschen wollte«, nicht zu verlassen.
+
+In wenigen Wochen nachher war Godard instand gesetzt, einen neuen
+Ballon zu bauen, mit welchem er endlich an der Seite seines Gönners und
+Freundes Peter Berner eine glückliche Fahrt tat.
+
+Berners Beschreibung dieser Fahrt ist in Druck gelegt worden, sie
+spricht in stets gesperrten fetten Lettern von der »~unbeschreiblich
+herrlichen~ Pracht, der über ~alle Maßen großartigen~
+Aussicht und dem ~furchtbaren~ Schwindel, der einen auf dieser
+~unendlichen~ Höhe erfaßt.«
+
+An Kaufmann Steinbacher in unserer Stadt hatte Peter einen Freund,
+der nicht, wie andere, mit ihm sein Spiel trieb, der das goldene Herz
+mit Kennerblicken wog und schätzte. Dieser Mann wußte den Naturfreund
+von seinen aeronautischen Plänen abzubringen und vermittelte ihm eine
+Agentschaft für steierischen Bauernloden, die ihm den Verkehr mit den
+Landleuten und der Natur von neuem erschloß.
+
+Der Luftschiffer zog nach stürmischen Umarmungen und heißen Küssen
+seitens Berners von dannen, und Berner zog ins Gebirge.
+
+Von Zeit zu Zeit las man im Inseratenteile unserer Blätter Aufrufe, wie
+folgenden:
+
+ »~Aufruf!~
+
+ Anläßlich der bevorstehenden ~Feiertage~ sehe ich es als
+ meine ~heiligste Pflicht~ an, alle ~Naturfreunde~,
+ ~Bergbesteiger~, wie nicht minder alle ~Ausflügler~ auf die
+ ~herrliche~ prächtige ~Perle~ unseres Heimatlandes, auf das
+ ~Paradies Steiermarks~, (z. B.) auf ~Deutsch-Landsberg~, als
+ das ~würdigste Ziel~ eines Touristen, aufmerksam zu machen und
+ sie aufzufordern, diesem ~wahrhaft gelobten Lande~ zuzuwallen.
+ Dort, umgeben von den ~herrlichsten Bergen~, fühlt man sich frei
+ und dankt dem
+
+ Schöpfer, der all das ~Herrliche~ geschaffen. Drum auf, nach
+ Deutsch-Landsberg, wo nicht nur für die ~Seele~, sondern auch für
+ den ~Leib~ gesorgt ist durch die vortreffliche ~Küche~ und
+ den ausgezeichneten ~Keller~ im Brauhause.
+
+ ~Peter Berner~, Tourist.«
+
+Selten und seltener wurde der Mann, der nun -- wie er in der
+Beschreibung seiner Luftreise dartat -- schon mehr als »~fünfzig~
+Lebensjahre sein eigen nannte«, in der Stadt gesehen, immer
+unregelmäßiger besorgte er die Handelsinteressen seiner Firmen, und
+endlich blieb er ganz aus. Sonst war Peter seiner absonderlichen
+Wesenheit wegen allemal unschwer auffindbar gewesen, diesmal aber
+vergingen Monate, ohne daß eine Spur von ihm zu entdecken war. In den
+Blättern blieben die Aufrufe aus; der Hausherr, bei dem Peter sich
+die Kammer gemietet hatte, warf die bescheidenen Armseligkeiten ins
+Versatzamt, oder sonstwohin, und man mußte annehmen, daß der »Tourist«
+auf einer seiner Hochtouren verunglückt sei. Da ging im Spätsommer
+desselben Jahres in der Stadt das Gerede um, draußen hoch in den
+Bergen, im Dorfe des heiligen Oswald, sei ein Bauernknecht gesehen
+worden, der zwar nicht an Gewandung, wohl aber im Angesichte und allem
+Gebaren dem verschollenen Peter Berner aufs Haar ähnlich sehe.
+
+Kaufmann Steinbacher machte sich auf den Weg in das entlegene
+Bauerndorf, dort fand er nach vielem Suchen seinen Mann hoch oben an
+einer Feldlehne, wo dieser hinter einem Ochsenfuhrwerk vermittelst
+einer Eisenkrampe mit nervöser Hast vom Karren Stalldung auf die Erde
+kraute. Sein Anzug bestand aus arg zerfahrenen Bauernkleidern, wovon
+die Hose zu schlotternd, die Joppe zu knapp war. An den Füßen trug er
+nichts als »Schuh von Menschenhaut«, wie er die Barfüße nannte, auf
+seinem Haupte aber saß -- von braunen Stallfliegen umsummt -- der weiße
+Zylinder.
+
+»Peter!« rief der Kaufmann, »Peter, aber was treibst du da?«
+
+»Grüß' dich!« knurrte Peter, ohne von seiner Arbeit abzulassen, befahl
+dann den Ochsen, daß sie ein paar Schritte weitergehen sollten und er
+ein neues Häuflein vom Karren krauen könne.
+
+»Bist du endlich toll geworden, mein lieber Freund!« rief der Kaufmann.
+Da warf Peter die Krampe weg, schlug die Arme aus. »Toll geworden! Toll
+geworden!« sprudelte er in seiner schnarrenden Weise, »weil ich aus dem
+übelriechenden Steinhaufen geflohen bin, den ihr Stadt nennt, ihr armen
+Teufel! Weil ich eure Windbeuteleien verlache, die ihr Kulturleben
+heißt, ihr armen Teufel! Weil ich in der schönen Natur leben will,
+in der frischen Luft, unter dem freien Himmel Gottes, den ihr nicht
+ertragen könnt, ihr armen Teufel! Da er die blendende Sonne hat, die
+gewaltigen Stürme hat, darum, sagt ihr, toll geworden?! O, du armer,
+armer Knabe, komm an meine Brust, laß dich küssen!«
+
+Damit stürzte er dem Freunde ans Herz. Der Kaufmann schämte sich
+unbändig, aber es war nicht anders, denn Peter weinte wie ein Kind.
+
+So hatte dieser wunderliche Mann, dessen Existenz nach allgemeiner
+Schätzung eine sorglose, behagliche gewesen, solche von sich geworfen;
+so hatte er sich als Bauernknecht verdingt aus Liebe zur Natur. Willig
+hatte er die schwersten Arbeiten, denen sein Körper nicht gewachsen
+war, verrichtet, die ungewohnte Nahrung, das schlechte Nachtlager
+ertragen und die Roheiten der Dorfleute, die ihn freilich nicht so
+anwiderten, weil sie ja »Natur« waren gegenüber den giftigen Bosheiten
+und süßelnden Falschheiten der Städter.
+
+»Stadtdodel!« schrie ein Junge vom Hof herüber und meinte Peter. »Ja,«
+sagte dieser, zum Kaufmann gewendet, »das muß ich mir gefallen lassen,
+weil ich's einmal gewesen bin, weil ich heute noch städtische Unarten
+an mir habe. Stadtdodel! Hast schon recht, Franz! Mordsbub!«
+
+Es bedurfte viel, den Mann, den sie auf dem Dorfe geradezu verhöhnten
+dafür, daß er ihnen seine Kraft weihte, sein Herz gebracht hatte! -- es
+bedurfte viel, um ihn von den Fluren des heiligen Oswald loszubringen
+und wieder zu einem halbwegs zivilisierten Menschen zu machen. Es
+bedurfte vielen Zuredens, vieler List und besonders vieler Seife.
+
+Aber endlich sah man den Napoleon doch wieder durch die Stadt haspeln,
+hörte im Gasthause wieder seinen scharfen Laut, wie er in rasch
+herausgestoßenen Worten unermüdlich das ländliche Leben beschrieb, bis
+ihm vor Begeisterung und Rührung die Stimme brach.
+
+Und nun zu dieser Zeit, da seine Schwärmerei für Idylle und Einfachheit
+den höchsten Grad erreicht hatte, tat er etwas, was er tun mußte, weil
+es im Schicksalsbuche solcher Menschen steht, mit heiligem Schwunge
+stets das Ungereimteste zu vollbringen. Peter Berner ging nach Paris.
+Freilich nicht die Weltstadt lockte ihn, aber der Freund rief ihn,
+Godard der Luftschiffer telegraphierte aus Paris, er möge so bald als
+möglich zu ihm kommen.
+
+»Der Mann ist in Not!« rief Peter aus, »ich muß ihm zu Hilfe kommen!«
+Mit einem Ruck waren alle kommerziellen Fäden, die ihn bereits wieder
+umgarnt hatten, zerrissen, er reiste nach Paris.
+
+Dort fand er seinen Freund in einem Zustand, von dem er bis ins
+Innerste erschrak. Godard war reich geworden. Mit den Luftballon, den
+ihm Peter einst erbettelt, hatte er sich ein Vermögen erworben, den
+Ballon dann in die Rumpelkammer geworfen und sich in das Weltleben
+gestürzt, an dem er nun mit allen Fasern eines lustigen Franzosen hing
+und sog.
+
+»Was willst du mich? Was soll ich da?« schrie ihn der empörte Berner
+an, als ihn jener in die prunkenden Gemächer seines Hotels führte.
+
+»O, Freund! Freund!« rief der Franzose, »ik dich aben lassen holl,
++pour remercier+, ik dir danken, +ma fortune+, +ma prospérité+, mein
+Sukunft! Ik dir wollen erweisen +la joie+, +l'honneur+, +l'amitié+! Oh,
+Freund, +pardon+, daß ik sprecke +en ma+ Muttersprak, es jauchzen mein
+'erz zu können dich umarm! Ik grüßen, ik grüßen dich!«
+
+Godard gab hierauf zu Ehren der Anwesenheit seines Freundes ein
+glänzendes Fest, überhäufte ihn mit Ehren. Der Mann, der ein paar
+Monate früher in einem steierischen Gebirgsdorfe Stalldung vom
+Karren gekraut hatte, war jetzt Mittelpunkt einer der feinsten,
+geistsprühendsten Gesellschaften der Seinestadt. Die französische
+Liebenswürdigkeit, mit der ihm das Fest in großem Stile geboten
+wurde, berückte sein leicht erregbares Gemüt; das Weltleben, das er
+bisher verachtet hatte, umgarnte ihn plötzlich mit allen Zaubern
+und Reizen einer schönen, koketten Frau, die ihn »zu einer nie
+dagewesenen Begeisterung« hinrissen. Nach seiner Rückkehr aus Paris
+erzählte er uns strahlenden Angesichtes, daß er bei jenem Feste »mit
+~tiefbewegter~ Stimme eine ~brillante~, von ~tosendem~
+Beifall oft unterbrochene Rede« gehalten habe, in der er für die
+»~höchst ehrende~, eines Königs würdige Auszeichnung« dankte.
+
+Der Aufenthalt in Paris schien für einige Zeit der Mittelpunkt seines
+Lebens geworden zu sein. Wohl pries er die Natur wie vor und eh, aber
+er stand nicht mehr mit jener weltüberlegenen Lust auf dem hohen Berge,
+sah nicht mehr durch die glückselige Kindesträne den Aufgang der Sonne.
+Es beunruhigte ihn -- Paris. Es war ein Zwiespalt in ihn gekommen,
+dessen er sich selbst kaum bewußt ward, der aber tückisch an seinem
+Gemüte nagte. -- Das Gedächtnis seines Freundes hielt er fort und fort
+über alles hoch in Ehren und das großmütige Geschenk, eine goldene,
+auf seinen Namen geprägte Erinnerungsmedaille, mit dem der dankbare
+Franzose sein Fest gekrönt hatte, war und blieb sein Stolz und seine
+Freude bis an sein Ende.
+
+
+
+
+ Der lange Rauk.
+
+
+Von meinem Fenster aus gegen Osten hin sehe ich eine Hochebene, auf
+der lauter Wald steht. Junger, gemischter, stundenlanger Nadelwald.
+An klaren Tagen werden im fernsten Hintergrunde blasse Berge
+sichtbar, sonst aber scheint sich mein Wald ins Blaue und Unendliche
+zu verlaufen. Hie und da stehen über das jüngere Baumgeschlecht
+breitkronige oder spitzige Stämme aus den vorigen Jahrhunderten empor
+wie Kuppeln oder Kirchtürme in einer Stadt.
+
+Besonders ist es ein Baum, der weit draußen im blauenden Meere des
+Waldes steht, von unten hinauf buschig ist, sich aber allmählich in
+eine schlanke, scharfe Nadel aufspitzt -- nicht anders zu sehen als der
+Stefansturm, wenn man von einer Anhöhe der Umgebung hineinblickt auf
+Wien. Wenn ich dann noch ein Übriges tue, nämlich den Kopf niederbeuge
+und zwischen die Beine durchblicke hin auf den Wald, da hat mein
+solcher Stellung ungewohntes Auge das schönste Schattenbild von Wien,
+wie es mit seinen Zinnen und Türmen daliegt. Nur daß die Einzelheiten
+dort der Stadtdunst verhüllt und hier der Höhenrauch. Aus Wien ist es
+mir noch nie gelungen, einen Wald zu schaffen, aber aus diesem Walde
+baue ich Euch dergestalt ein Wien, so oft ihr wollt. Und wenn ich meine
+beschauliche Stunde habe, so setze ich mich in einen Winkel meiner
+Stube, so daß mir das Waldmeer mit dem Stefansturme im Fenster liegt,
+und denke: das ist das ausgestorbene Wien; man hört keinen Laut, sieht
+kein Rauchwölklein aufsteigen aus seinen Giebeln. Und was war das einst
+für Lust und Leben in diesem Wien! Aber die Lust ist erstickt in der
+Begier, das Leben ist versunken in seinen Sünden. Nur die Formen der
+Stadt ragen noch starr und düster.
+
+Ein frevelhaftes Träumen! Wie kann man den reinen, friedensvollen,
+tausendfältig lebenden, in hundert klaren Quellen sprudelnden, in allen
+Wipfeln säuselnden und von Vogelsang erklingenden Wald -- wie kann und
+darf man ihn vergleichen mit einer großen Stadt! -- Aber wenn ihr nur
+erst kommt und seht, besonders diesen Baum: es ist der leibhafte Turm
+von Sankt Stefan.
+
+Des ward ich mir endlich klar, eine uralte Fichte muß es sein, an der
+Sturm und Blitz Wipfel und Astwerk zerrissen, den Stamm von oben herab
+kahl gehauen, und der in seinem Schaft und in seinen tieferen Kronen
+doch zu gewaltig ist, als daß ihn Sturm und Blitz vernichten konnten.
+So steht er da, ein vielhundertjähriger Geierhorst, und die ältesten
+Leute der Gegend sagen mir, ihres Erinnerns habe der Baum nie anders
+ausgesehen als heute.
+
+In früheren Jahren, da ich den Wald durchstreifte, habe ich mich
+bemüht, den Baum aufzufinden und an seinen Fuß zu gelangen. Es war
+mir aber nie gelungen. Entweder ich verlor die Richtung oder kam in
+Dickicht, Gefällholz, Struppwerk, auf grundlosen Moorboden, so daß ich
+umkehren mußte. Es gibt Gründe darin, auf die jahraus jahrein kein
+Sonnenstrahl fällt, aber ich weiß es wohl, daß der Eigentümer schon
+sehnsüchtig die Jahre zählt, bis er »stocken« wird. Manchem prächtigen
+Tier begegnet man im Wald, aber auch manchem stattlichen Jäger. Mit
+dem Zauber des Urwaldes wäre es also nicht sehr weit her, und doch
+war es wie verhext, daß -- so sehr mir außerhalb des Waldes stehend
+die Richtung klar war -- ich in ihm wandelnd meinen Stefansturm nicht
+finden konnte. Es ist aber auch in der wirklichen steinernen Stadt
+Wien Etlichen nicht anders ergangen. Ich fand manchen mächtigen Baum,
+der hoch über die andern hinausstand, der wild und zerrissen war und
+von dem ich mir einbildete, er sei's. Bei näherer Prüfung war er's
+allemal nicht. Ich hatte mich auch schon mehrmals im Walde verirrt,
+so daß mir einfiel, was die Leute sagen, es wären Irrwurzeln drin,
+und wer auf eine solche trete, der finde gar nicht mehr aus dem Walde
+hervor, sondern müsse immer im Kreise herumgehen, so lange bis ihm
+ein Sonntagskind begegne. Die Erfahrung lehrt aber, daß man sich mit
+Sonntagskindern auch verirren kann, besonders wenn sie hübsch sind.
+-- Dabei hatte mir das Suchen einen solchen Reiz, daß ich mich nie
+entschließen konnte, einen Führer zu nehmen. Und so sind elf Sommer
+vergangen, an denen ich oftmals nach Sankt Stefan im Walde pilgerte,
+ohne ans Ziel zu gelangen.
+
+Im heurigen Frühsommer, als auf den freien Matten die Hitze zu groß
+ward, als auf den Wiesen die klaren Bächlein im Sande versickerten und
+das kurze Federgras zu gelbem Heu welkte noch auf den Wurzeln, als
+fortwährend die trockenwarmen Winde hinfegten über das fahle Erdreich
+und die Wolken des Himmels aufsogen, als in meiner Nachbarschaft sogar
+ein Brunnenständer samt Trog niederbrannte -- da war keine Freude mehr
+auf freien Weiten, da hielt ich mich die längste Zeit im Walde auf. Man
+konnte viele Stunden im Moose liegen und bekam keinen Schnupfen; die
+Mückenschwärme mit dem prickelnden Gifte existierten fast nicht, dafür
+drückte die heiße Sonne, die über dem Walde lag, allen Wohlduft der
+Harze zu Boden und das fliegende und kletternde Getier kam auch herab
+gegen den kühleren Erdengrund und trieb sein munteres Wesen vor meinen
+Augen. So war es ein wonniges Sein.
+
+Manchmal begegnete ich einem Waldbruder, nicht viel seltener einer
+Waldschwester -- Früchtesammler, auch arme Leute, denen draußen, »weil
+des Gesindels schon allzuviel ist«, die Tür vor der Nase zugeworfen
+wurde, und die gekommen waren, um in unseres Herrgotts schattigem
+Speisesaal zu essen. Am merkwürdigsten von all diesen wunderlichen
+Leuten war mir der lange Rauk. Ich kenne ihn schon seit ein paar
+Jahren, er bringt bisweilen Beeren ins Dorf. Ein hochschlanker,
+blatternarbiger Geselle ist's, mit einem schwarzen Bart und einem
+langen braunen Lodenmantel, den er um den Leib zu werfen weiß, daß er
+darin schier nicht anders aussieht, wie der heilige Apostel Jakobus.
+Den hat nicht der heiße Sommer dürr gemacht, sondern die Faulheit, er
+will nicht arbeiten. Die Leute sagen, er wäre so häßlich, der lange
+Rauk; ich sage, er wäre das Entzücken der Maler.
+
+Als ich denn auf meinen diesjährigen Waldgängen öfter mit dem Rauk
+zusammentraf, gab ich ihm den Rat, er möchte sein Geschäft aufgeben.
+
+»Welches Geschäft?« fragte er.
+
+»Das Hungerleiden.« Möchte es aufgeben, möchte in Malerschulen gehen
+und sich abmalen lassen.
+
+»So!« antwortete er und ich merkte, wie er innerlich empört war. »So!«
+sagte er.
+
+»Dort braucht Ihr nichts, als dazusitzen,« belehrte ich, »oder auch an
+der Wand zu lehnen, wie eben die Herren wollen; es sind unterhaltsame
+Burschen, diese Maler; mancher auch sagt gar nichts und ist ganz
+Pinsel. Ein Pfeifel Tabak spendieren sie mitunter und zahlen auch noch
+das Tagwerk, achtzig Kreuzer, die Verschwender gar einen Gulden und
+mehr.«
+
+»So!« antwortete er tief gedämpft, »so!« sagte er. Und fuhr dann fort:
+»Ein Kerl, dem's schon übel genug ist, daß er auf seinem heustanglangen
+Geripp' ein anschieches G'friß (häßliches Gesicht) herumtragen muß
+auf der Welt! Wenn ich mich noch ducken kunnt! verstecken kunnt und in
+der Kirchen nit so höllisch lang hinausstehen tät' über die anderen
+Köpf, just wie die Rauberfeichten im Ziselwald! Zum Hasenschrecker
+möchten sie mich gern brauchen auf ihren Krautäckern, wenn sie mich in
+die Erden stecken kunnten, wie einen Krautscheuchstecken und nit Angst
+hätten, daß ich ihnen selber die Gebel tät' fressen. Und so ein Kerl
+soll sich noch abmalen lassen? Sollen ein paar Jahrl warten, bis von
+meinen Knochen Haut und Haar weg ist, nachher bin ich so schön wie die
+anderen im Beinhaus!«
+
+Es stellte sich heraus, daß der lange Rauk sich nur darum von den
+Leuten und ihren Arbeiten zurückgezogen hatte, weil sie ihn seiner
+Häßlichkeit wegen verhöhnten.
+
+»Ich ertrag's nit!« sagte er, »ich hab' Weiberhoffart in mir, die
+hab' ich von meiner Mutter geerbt. Faulheit! sagt vor etlichen Tagen
+der Herr Meigel aus dem Flecken zu mir. Bei sich selber nennt er's
+Ruhestand. Ich weiß recht gut, daß man Gott den Herrn kniend verehrt
+und den Teufel liegend. Oh, ich fürcht' mich allzusehr vorm Stinken,
+als daß ich nichts tun möcht'. Mach's freilich nit so wie die andern
+Leut', die nur desweg arbeiten, damit sie Mittel kriegen zum Faulenzen.«
+
+»Aber ein Krügel Wein bisweilen will doch verdient sein!«
+
+»Was hilft mir der Wein, wenn ich ihn im Wirtshaus nit mit Frieden
+trinken kann! Allerweil: Der lange Rauk! Der schieche Rauk! Der dürre
+Rauk! Und -- der dumme Rauk! Das sag' ich mir selber, der dumme
+Rauk, der sich unter die Leut' setzt und seines Vaters einzigen Sohn
+ausspotten laßt!«
+
+Was die Wirtshausgesellen sagen, meinte ich hierauf, das könne ihm
+ziemlich gleichgültig sein; wichtiger sei es, was die Weibsleute von
+ihm dächten.
+
+»O Jeß, die Weibsleute!« rief er aus. »Ihrer zehn oder zwölf Jahr' lang
+hab' ich mich foppen lassen, alsdann hab' ich genug gehabt.«
+
+Das sei nichts, meinte ich, die schönsten und tüchtigsten Männer würden
+ihr Lebtag lang gefoppt.
+
+»Das schon,« sagte der Rauk, »und die schönsten und tüchtigsten Männer
+foppen wieder. Von einem Kerl wie unsereiner ~laßt~ sich aber
+keine foppen, und das verdrießt mich.«
+
+Ob er ein Hiesiger wäre?
+
+»Vaters halber ist's schon möglich,« antwortete er, »der Pfarrer sagt,
+er weiß nichts davon -- heißt das, im Kirchenbuch. Mit den Musikanten
+bin ich umgegangen, aber wie mir die Zähne ausgefallen sind, hat das
+Blasen ein End' gehabt. Hab' ich mich halt im Ziselwald eingenistet,
+und muß alle Tag' ein bissel achtgeben, daß ich nit verhunger'.«
+
+Wo er seine Wohnung habe?
+
+»Gleich können Sie ihn sehen, den Turm von meinem Gschloß!« rief er,
+und in der Tat, als wir noch einige hundert Schritte zwischen jungem
+Fichtenwald hingestrichen waren, stand uns über dem Gewipfel her das
+Bild entgegen. Fast schon in der Nähe ragte aus dem Schober eines
+wildmassigen finsteren Astwerks die knorzige Nadel empor. Es war mein
+Stefansturm.
+
+»Das freut mich,« sagte ich, »daß wir auf einmal bei diesem Baume sind.«
+
+»Wir sind noch nit bei ihm,« entgegnete der Rauk. Und wahrlich,
+wir hatten noch eine halbe Stunde oder länger zu tun, bis wir ihn
+erreichten. Die Bäume standen sehr dünn, waren verkrüppelt und hatten
+Flechtenbärte, der Boden hatte eine blaßgrüne Moosdecke, auf der
+gruppenweise Binsen mit ihren weißwolligen Federbüschen standen, und
+Sauerklee, Seidelbast und Wildfarnkraut. Der Waldsteig, den mein
+Begleiter früher einzuhalten wußte, obwohl er streckenweise kaum zu
+erkennen war, hatte sich ganz verloren, und mit jedem Schritte sanken
+wir bis über die Knöchel in den schwarzen, moorigen Ungrund. Der Rauk
+schleppte einen Zipfel seines Mantels hinter sich nach wie ein König,
+doch sank er nicht so tief ein als ich, weil er breiteres Schuhwerk
+hatte und das Gehen auf solchem Boden besser verstand.
+
+»Sich fein gering machen!« rief er mir immer zu. Wenn ich nur auch
+gewußt hätte, wie man das anstellt. Leicht und vorsichtig auftreten,
+das kann man, doch der Rauk behauptete, man könne mehr. Man könne sich
+mit gutem Willen um etliche Pfunde leichter machen; der feste Willen
+hebe einen hoch, wie der Suppendampf den Hafendeckel. Er habe schon
+Wetten gewonnen, indem er sich in derselben Minute mehrmals wiegen
+gelassen auf der Fleischhauerwage, und ganz verschiedenes Gewicht
+gegeben. »Gebt acht, jetzt mach' ich mich schwer!« sagte er, und sank
+auf der Stelle tiefer ein.
+
+Ich hätte ihm seine Kunst aufgelöst, wenn Zeit und Stimmung dazu
+gewesen wäre. Einstweilen mußte ich trachten, einen so starken Willen
+zu entwickeln, daß er mich zur Höhe hob, »wie der Suppendampf den
+Hafendeckel«, und wir weiter kamen.
+
+Endlich blieben wir aber doch stecken. Bis zu den Knien im Morast, so
+rasteten wir uns aus, und der lange Rauk lachte.
+
+Er hatte leichter lachen als ich, denn bis er von unten bis oben
+versank, das brauchte länger, als bei mir Durchschnittsmenschen.
+
+Ich war etliche Schritte hinter ihm steckengeblieben, wir konnten uns
+nicht mit den Stecken, geschweige mit den Armen erreichen.
+
+»Der größte Spaß wäre,« rief er, »wenn jetzt die Geier kämen!«
+
+»Welche Geier?«
+
+»Die auf der Rauberfeichten ihre Nester haben und erst im vorigen Jahr
+einem Hirschen, der hier steckengeblieben ist, das Fleisch aus dem Leib
+gehackt haben.«
+
+»Vergelt's Gott für Euren schönen Zuspruch!« sagte ich.
+
+»Oder die Hornussen, die gar nit weit von da ihre Bruten haben und von
+den Mardern gern wild gemacht werden. Nachher stechen sie, die Vieher;
+ihrer sieben erstechen ein Roß. Grausam stechen sie!«
+
+Da ich wirklich das Schwirren eines solchen Tierchens bemerkt zu haben
+glaubte, so hatte ich Gelegenheit zu erfahren, was ein fester Wille
+vermag. Ich arbeitete mich mit Macht heraus, um dann wie ein Krokodil
+auf dem Bauche zu kriechen.
+
+»Aha, Sie haben es!« lachte der Rauk schnaufend und knetete an
+sich herum; »ja, für den Notfall macht man's so. Passiert mir aber
+wunderselten, daß ich just an die Stelle komm'. Die hoffärtigen Engel
+aus dem Himmel sind durch das große Loch, das hier gewesen, in die
+Höll' gefahren. Später hat's der Teufel mit Morast zugestopft.«
+
+Mittlerweile war auch er herausgekommen. Wir gelangten allmählich auf
+festeres Erdreich -- und nach wenigen Minuten standen wir am gewaltigen
+Baum.
+
+Ringsum ist eine Art von Anger mit Sumpf, in welchen die Arme der
+Wurzeln ausgreifen, teils unter der Moosdecke verborgen, teils über
+derselben in hundert Knien und Verzweigungen ausklammernd, teils morsch
+und rindig, teils hart und weiß wie Elfenbein. -- Die anderen Bäume
+halten sich in respektvoller Ferne, die stattlichsten von ihnen reichen
+dem Koloß bis zum untersten Astwerk empor. Der Stamm ist zerklüftet,
+teilweise entrindet und fast wie ein Strick gedreht. Ich glaube, daß
+ihn vier Männer nicht zu umspannen vermögen. Viele Arme des Geästes
+sind für sich schon Baumstämme; einzelnes Geknorre ist kahl und fahl
+wie Knochen, anderes ist so dicht in ein dunkelgrünes Reisiggefilze
+eingewoben, daß es der Blick nicht durchdringt und man über sich nur
+eine dunkle Masse sieht, in der die korbartigen Horste der Raubvögel
+sind und aus der mancher Strunk seine abenteuerlich geformten Glieder
+in die Weite reckt.
+
+Ich wunderte mich, daß dieser Baum, der ein ganzes Dorf über den Winter
+mit Brennholz versehen könnte, noch nicht gefällt worden sei. »Sie
+getrauen sich nicht über ihn,« sagte der Rauk, »der fällt nicht wie
+andere!«
+
+Zur Stunde fächelte und rauschte der Wald in einem lebhaften Winde.
+
+An der Riesenfichte regte sich nichts, alles starr, nur ein dumpfes
+Sausen war zu hören hoch im Astwerk. Über demselben ragt der kahle
+Schaft, vielfach zerrissen und dennoch urkräftig in die Einsamkeit der
+Lüfte auf. Die Gestalt ist wuchtig und viel gegliedert, aber der spitze
+Schaft über dem Kronenwerk schien mir hier kaum hoch genug, um für die
+Ferne die schlanke Nadel des Stefansturmes vorzustellen.
+
+Fast schade, daß der Name: »Rauberfichte« so harmlosen Ursprungs ist.
+Zusammenkünfte von Räubern an diesem Platze, Räubergelage im Schatten
+des Baumes, wilde Mordgesellen ihre Beute teilend und wie der Rauch vom
+Feuer des üppigen Mahles langsam ins Astwerk aufsteigt und der Gegend
+weitum die Schrecken verkündet, oder ein paar Erzräuber baumelnd an den
+Ästen -- und wäre es auch nur in Sage und Märchen -- würde mir den
+Baum recht aufputzen. Dergleichen ist nicht.
+
+Draußen im Tale stehen zwei Bauernhäuser mit dem Vulgärnamen: Die
+Rauber. Die Gründe des »oberen Raubers« erstreckten sich einst weit in
+den Wald bis zur Stelle, wo die alte Fichte als Grenzbaum steht, die
+daher die Benennung: »Rauberfichte« erhalten hatte.
+
+Der Rauk war langsam um den Baum gegangen und jetzt auf einmal
+verschwunden. Durch eine Höhlung zwischen dem Gewurzel war er ins
+Innere geschlüpft. Ich guckte ihm nach.
+
+Im hohlen Raum war ein Lager von Binsenstroh, eine Holzaxt und ein
+Sack, halbgefüllt mit Harzrinden. Die Wände der Höhlung waren teils
+verkohlt, als würde auf diesem häuslichen Herd auch bisweilen Feuer
+unterhalten.
+
+Die Höhlung ging hoch in den Baum empor, und wenn man mit dem Stock
+hinauffuhr, so erreichte man keine Decke, und an den Wänden rieselte
+Moder nieder und Käfergezücht.
+
+So sieht es mit dem Innern dieses Baumes aus. Aber die Haut und Hülse
+ist noch dicker, als mancher fünfzigjährige Stamm, und vermittelt Mark
+und Saft der Fichtenkrone, die hoch auf solchem Holze wuchert.
+
+»Das ist das Haus des langen Rauk,« sagte der lange Rauk. »Wir haben
+auch beide Platz herinnen, wenn Sie Ihre Füße rein machen wollen. Wir
+machen Feuer, daß die Strümpfe trocknen mögen.«
+
+»Ist Euer Haus gegen Feuer assekuriert?« fragte ich.
+
+»Lebendige Häuser brennen nicht nieder,« war die Antwort.
+
+»Von außen gesehen wäre es das stolzeste Wohnhaus im ganzen Land.«
+
+»Ist aber nur meine Werktagsresidenz,« berichtete er, »und nur wenn
+ich am Abend diesem Baume näher bin, als einer Köhlerhütte, übernachte
+ich in ihm. Weiter ist's nichts.«
+
+So hat sich die ganze Sache mit dem Stefansturm, mit der Rauberfichte,
+mit dem Rauk und seiner Abenteuerlichkeit als etwas hohl erwiesen. Der
+Schlupfwinkel eines Pechschabers.
+
+Ich kehrte an jenem Tage spät und müde vom Walde heim.
+
+Und wenn ich nun wieder sitze in der kühlen Stubenecke, und im Fenster
+liegt das sonnenblaue Meer des Waldes mit seiner spitzen Nadel im
+Horizont, da will meiner Phantasie die alte Herrlichkeit nicht mehr
+so ganz gelingen. Aber leid täte es mir doch, wenn eines Tages ein
+Rauchqualm aufstiege oder eine Feuersäule emporlohte in stiller Nacht
+-- und mein schlanker Turm in sich zusammenbräche.
+
+»Das nit!« sagt der lange Rauk, »der Baum steht noch länger als wir
+zwei zusammen.«
+
+
+
+
+ Hans Johanns Hauptsache.
+
+
+Wenn ich sage es war ein einzig guter rührender Mensch, so legt
+jeder das Buch hin und läuft davon. So sage ich lieber, er war ein
+Taugenichts.
+
+Und das war er auch.
+
+In den Schulen, wo er stets vorgeschriebene Marschroute hatte, da ging
+es noch an. Aber als er selbst der leitende Teil ward, als Lehrer
+in der Dorfschule, da ging es nicht mehr an. Die unterschiedlichen
+Kinder machten ihm viel zu große Sorgen, als daß er sich ihrem
+Unterrichte widmen konnte. Ob sie in der Fibel lesen konnten oder
+auf der Schiefertafel die Ziffern zusammenzählen und in einer sehr
+verläßlichen Ordnung hinschreiben, das war Nebensache. Hauptsache
+war die Gesundheit. Und so kümmerte er sich, ob das kleine Volk
+auch warme Joppen hätte und Schuhe an den Füßen, ob die Kinder wohl
+gewaschen und gekämmt wären -- und wo es mangelte, da griff er flink
+zu und trachtete, beim Bäcker, beim Müller, beim Fleischer, als den
+Großen des Dorfes, für die armen Wald- und Gebirgskinder altes Gewand
+zu bekommen; er nahm auch Eßwaren und ließ durchblicken, daß solche
+Wohltaten an ihren eigenen Kindern würden vergolten werden. Die
+großmütigen Spender verstanden das so, daß -- wie die Kinder der Armen
+Not an Hemden und Strümpfen hätten -- die Kinder der Reichen zumeist
+Not an guten Schulnoten haben, und daß der Herr Lehrer dann wohl den
+richtigen Ausgleich treffen würde. Hans Johann sah auch wirklich
+nicht ein, weshalb er die Spenden für mittellose Kinder nicht mit
+hübschen Fleißzetteln und ausgiebigen Fortgangsklassen der reichen
+Bürgerskinder schlichten sollte. Hauptsache war die Gesundheit. Und
+so setzte er sich auch gerne zu den Kindern auf eine Bank und gab
+ihnen Verhaltungsmaßregeln, wie sie gesund bleiben, ihren Körper
+stärken und zur Arbeit tüchtig werden könnten. Solches Bestreben war
+nicht fruchtlos und nach einem Jahre schon waren alle Kinder reinlich
+gehalten, soweit ordentlich gekleidet und von frischerem Aussehen. Der
+Bezirksschulinspektor aber konnte bei der Schulschlußprüfung nichts
+als den Kopf schütteln und die Hände ringen, und als die Kinder nach
+überstandener Plage lustig davontrollten, stellte er sich vor den
+Lehrer hin, rang wieder die Hände und rief: »Aber um Gottes willen!
+Herr Johann!«
+
+Sonst sagte er nichts. War auch nicht nötig.
+
+»Seh's eh ein,« sprach der Lehrer ganz gemütsruhig, »daß ich nicht
+recht tauge zu einem Lehrer.«
+
+»Wenn Sie irgendwo eine Stelle als Kindsmagd bekommen können,
+greifen Sie sofort zu.« Mit diesem wohlwollenden Rate ging der
+Bezirksschulinspektor seines Weges.
+
+Und der Johann des seinen. Denn er war erledigt. Aber nicht auf lange.
+In demselben Orte hatte er unschwer die Briefträgerstelle bekommen. Er
+hatte täglich über Berg und Tal zu gehen und den zerstreuten Vierteln
+die Post zu vermitteln. Das tat er auf das gewissenhafteste, und wenn
+ihm ein Bauer eine Post auftrug, für ihn im Dorf Einkäufe zu besorgen,
+oder eine Bäuerin irgend was Wichtiges zur Nachbarin zu befördern
+hatte, so tat er's bereitwillig, vergaß aber dabei manchmal, den
+Brief abzugeben. Es war zuwider, aber Besonderes daran konnte Johann
+nun nicht finden. Was pflegen sich die Leute denn zu schreiben? Daß
+sie, Gott sei Dank, soweit gesund sind, daß der oder die geheiratet
+hat oder gestorben ist, daß es sonst nichts Neues gibt und daß sie
+schön grüßen lassen. Ob die Bauern das wissen oder nicht, Hauptsache
+ist, daß man ihnen mitunter eine Gefälligkeit erweisen kann. Das ging
+ein Jährchen so herum. Dann kam die Geschichte mit dem Geldbrief.
+An den Obergamshofer in Spittelberg hatte Johann einen Geldbrief zu
+bestellen. Aber der Weg dahin ist ziemlich weit, unterwegs hatte er ein
+mühseliges Bettelweib getroffen. Dem war die Fußkrücke entzweigegangen
+und so konnte es nicht recht vorwärts. Johann ging ins Wegmacherhaus
+um Werkzeug und zimmerte der Alten eine neue Krücke. Denn es war just
+des Obergamshofers Weidknecht des Weges gekommen, dem konnte er den
+Geldbrief mitgeben. »Ja richtig, Mathes,« sagte er noch, »das Blattel
+da mußt unterschreiben. Nicht können tust schreiben? Nachher mach halt
+drei Kreuzeln. Bin froh, daß du mir den Weg ersparst. Hauptsach' ist,
+daß das Mutterl da wieder auf die Füße kommt. Bleib' schön gesund,
+Mathes.«
+
+Einige Wochen später kam's zutage, daß der Obergamshofer keinen
+Geldbrief erhalten hatte, daß ihm aber sein Weidknecht durchgebrannt
+war. Dieses Ereignis kostete dem Briefträger allerhand und auch den
+Dienst.
+
+Jetzt hatte er Zeit, sich den Hauptsachen zu widmen, und merkwürdig
+-- jetzt verlangte niemand danach. Ja, es kam allmählich ungefähr so
+heraus, als ob für den Hans Johann nun die Hauptsache wäre, einstweilen
+nicht zu verhungern. Er bewarb sich also wieder um einen Dienst. Das
+Steueramt im nächsten Bezirksorte suchte einen Amtsboten. Aber den
+Johann nahm man nicht an, aus Besorgnis, er würde aus Erbarmen mit den
+Parteien die Steueraufträge unterschlagen. Das Landesgericht hatte für
+einen Gerichtsarrest die Profosenstelle ausgeschrieben; der Bewerber
+Hans Johann wurde rundweg abgelehnt; der hätte keinem Arrestanten die
+Türe verschlossen gehalten nach dem Grundsatz, Hauptsache bei den
+Menschen sei die Freiheit. Soweit war unser Johann schon in Verruf
+gekommen. Dann verscholl er auf einige Zeit, um später in einem
+Haushaltungsbureau aufzutauchen.
+
+Hier war er fleißig und gewissenhaft und füllte seine Stelle völlig
+aus. Aber es war das Haushaltungsbureau eines Siechenhauses. Seine
+Erholungsstunden brachte er bei den Siechenden und Krüppeln zu, um
+ihnen die Zeit zu vertreiben und sie aufzumuntern. Er ließ sich von
+ihnen ihre Anliegen erzählen; sie, auf die sonst niemand mehr hören
+wollte, an denen jeder gleichgültig vorüberging, waren seiner Teilnahme
+so froh. Er besorgte den Ofen, wenn sie fröstelten, holte ihnen ein
+frisches Glas Wasser, wenn sie dürsteten, schrieb ihnen Briefe an
+Angehörige. Dann blieb er noch länger und las ihnen erbauliche oder
+lustige Geschichten vor oder trieb Schwänke und Späße in eigner Person.
+So daß die Armen getröstet und munter wurden. Wenn er darob bisweilen
+seinen Bureaudienst versäumte, so dachte er, ob die Reisballen, die
+Strohsäcke und Bettdecken und Medizinen aufgeschrieben werden oder
+nicht, wenn sie nur da sind. Hauptsache sind die armen Leutle und daß
+sie immer einmal ein bissel Zerstreuung haben.
+
+Da war in der Anstalt ein alter Holzhändler, so vergichtet und
+mühselig, daß er in der dunkeln Stube bleiben mußte, wenn draußen die
+warme Sonne schien, weil niemand war, der ihn ins Freie führte. Als
+nun der Schreiber Johann erschien, der tat es gerne. Er blieb auch
+sitzen unter dem Kastanienbaum neben dem alten Manne und hörte geduldig
+seinen Klagen zu. Und eines Abends, als die übrigen Spazierhumpler und
+Sitzer sich verzogen hatten, weil es kühl geworden, und auch Johann
+seinen Schützling ins Haus führen wollte, blieb der Alte sitzen, langte
+mit der dürren, fiebernden Hand hinter seine Brustjacke und zog ein
+verknülltes, vergriffenes Paket heraus.
+
+»Herr Johann!« sagte er leise und hastig, »das gehört Ihnen. Es ist
+mein Geld, sie wissen nichts davon. Ich mag nit, daß es in den großen
+Sack kommt, da spürt kein Mensch was davon. Sie sind der Mensch, der's
+recht anwendet. Es gehört Ihnen. Da, da -- nur geschwind einstecken!«
+
+Johann nahm das Paket in die Hand. »Sie meinen, daß ich's Ihnen
+aufheben soll.«
+
+»Ich brauch's nimmer. Will nur, daß wer was hat davon. Erspart ist's
+redlich. Aber dumm dürfen Sie nit sein und es ausplauschen. Tun's es
+gut einschieben.«
+
+Es schien ihm nicht weh zu tun, dem Alten, wie er nun seinen
+Sparpfennig hingab, an dem er wohl viele Jahre lang gesammelt hatte und
+an dem sein Herz gehangen war. Aber angelegentlich verfolgte sein Auge
+den Vorgang, wie Johann das Paket in seine Brusttasche steckte. »Schön
+fleißig zuknöpfeln!« murmelte der Alte und knöpfte mit krampfigen
+Fingern über Johanns Tasche den Knopf ein. Bald hernach wankte er am
+Arm des Schreibers ins Haus.
+
+An demselben Abend war's, daß der Direktor der Anstalt dem Hans Johann
+eröffnete, daß er entlassen sei. Grund gab er keinen an, war auch
+überflüssig. Johann wußte recht gut, daß er nicht aufgenommen worden,
+um die Pfleglinge zu unterhalten, sondern um die Rechnungen und
+Wirtschaftskorrespondenzen zu besorgen. Da er letztere vernachlässigt
+hatte, so fand er seine Abdankung völlig in Ordnung.
+
+Stärker überrascht war er nachher auf seinem Zimmerchen, und zwar von
+der Menge Geldes, die er im Paket fand. Dafür kann man ja ein Schloß
+kaufen und den alten Holzhändler in der Kalesche hineinführen! Und dann
+kann der Hans Johann sein Kammerdiener werden -- so ist allen geholfen.
+
+An einem der nächsten Tage, als er mit solch neuem Lebenslaufe beginnen
+will, ist der alte Gichtkrüppel richtig schon seit frühmorgens tot.
+Der Johann steht wie zerschlagen da. »Was tu' ich jetzt!« Auf die
+Leiche verwendete er nicht viel, denn davon hat niemand was und der
+Hans Johann ist ein praktischer Mann. Auch Almosen teilte er nur
+spärlich aus; Almosen, sagte er, mache Bettler; den Leuten müsse man
+viel gründlicher helfen. Von seinen großen Mitteln ließ er noch nichts
+verlauten, nur daß er ein Weilchen später im vorderen Labachtal,
+dort wo es windgeschützt und sonnig ist, ein Grundstück kaufte und
+große Erdarbeiten beginnen ließ. Eine Anstalt für Gichtleidende und
+Unheilbare soll errichtet werden, wo die armen Kranken besonders gut
+gehalten werden müssen und wo er mitten unter ihnen leben will, um zu
+helfen, zu trösten, wie es nötig sein wird.
+
+Während die weitläufigen Grundfesten zu diesem Gebäude gegraben und
+gebaut wurden und stellenweise schon ein Mauerwerk emporzustreben
+begann, half der Johann einem notigen Kleinhäusler das Heu und das
+reife Korn unter Dach bringen, denn das -- meinte er -- sei für den
+Bauern die Hauptsache. Inzwischen, zu den kleinen Ruhepausen, trachtete
+er im Heu oder auf den Garben dem Söhnlein des Kleinhäuslers das
+Abc beizubringen; derlei Buchstaben, sagte er, seien zwar nicht die
+Hauptsache, auch die Lesekunst nicht und auch die Gelehrtheit nicht,
+aber daß man mit solchen Wissenschaften in der lieben Welt weiterkomme
+und ein tüchtiger Mann werde, das sei die Hauptsache.
+
+»Wann d' schon alleweil von der Hauptsach' redest, da hast eine!«
+Mit diesen Worten versetzte ihm der Kleinhäusler eine klatschende
+Ohrfeige. »Garbentragen heißt's jetzt und nit schulfuchsen!«
+
+Der Johann griff sich an sein also bedachtes Haupt und schwieg. Nichtig
+ist's eh, dachte er, wenn sie im Winter was zu essen haben wollen,
+muß man jetzt ernten. Daß er für sich nur Undank erntete, das war
+er schon gewohnt und fand es auch für selbstverständlich. So viel
+Tiefblick hatte er wohl, um zu wissen, daß es am besten sei, einem,
+dem man was Gutes getan hat, nachher in weitem Bogen auszuweichen;
+denn die Begegnung mit dem Wohltäter, den sie nicht mehr brauchen,
+ist den Leuten zuwider und der ganze Mensch wird ihnen zuwider,
+sie wollen am liebsten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Außer sie
+brauchen ihn wieder plötzlich einmal, dann halten sie es auch für
+selbstverständlich, daß er ihnen neuerdings hilft, und wenn er das
+zufällig einmal nicht kann, so werden sie ihm weit feindseliger als
+einem anderen, der ihnen nie was Gutes getan hat. Das alles hatte
+Johann erfahren und er dachte weiter nicht darüber nach. Er war jedem
+dankbar, der sich von ihm etwas Gutes tun ließ und blieb ihm dankbar
+und betrachtete ihn als einen Gönner, dieser mochte oft noch so roh
+und erkennungslos sein. Nun, so hat den Johann auch die Ohrfeige nicht
+im mindesten beirrt, er half emsig Garben tragen, und abends, als
+der Häusler ihm fast freundlich eine gute Nacht zurief, schlich der
+Johann gerührt in seine Behausung und dankte Gott für die vielen guten
+Menschen, die er erschaffen hat.
+
+Wenn Johann dann wieder hinausging, um die Fortschritte seines Baues zu
+beschauen und wie emsig hier brave Leute arbeiteten, um armen Kranken
+ein Heim zu schaffen, da freute ihn die ganze Welt. Jedoch aber! Als
+die dritte Auszahlung war und der Baumeister darauf drang, endlich
+doch auch einen Kostenüberschlag zu bestimmen, da kam für unsern
+Idealisten einmal eine wirkliche Überraschung. Er hatte gemeint, mit
+seinen zweieinhalbtausend Gulden, dem Nachlasse des alten Holzhändlers,
+ein stattliches Krankenhaus mit den hierzu erforderlichen Stiftungen
+bestreiten zu können, und nun zeigte es sich, daß das Geld schon
+verbraucht war, während das Mauerwerk kaum noch mannshoch aus der Erde
+hervorstand. Da haben wir's jetzt. Der Johann griff sich an den Kopf
+und rief: »Deuxl, Deuxl noch einmal, daß so was so saumäßig teuer mag
+sein!« Nun mußte der Bau eingestellt werden und mit dem Gelde, das
+zu so hohen Dingen bestimmt gewesen, war nichts geschaffen als ein
+durchwühlter Boden mit Schutt und Steinen. Hans Johann wollte sich
+jetzt den Kopf wegreißen. Nicht ob der Leute Gelächter und Spott, denn
+hierin hatten sie ja recht, und er lachte und spottete mit ihnen --
+ach wie bitter bitterlich ist es, sich selbst auslachen zu müssen.
+Daß er aber ein so grundschlechter Verwalter des Nachlasses gewesen
+und kein einziger Notleidender davon auch nur um eines Hellers Wert
+Erleichterung hatte, das wollte ihm nicht gestatten, einen solchen Kopf
+noch länger auf dem Rumpfe stehen zu lassen. Jetzt wußte er endlich
+auch, was bei ihm die Hauptsache war. Eine grenzenlose Dummheit.
+
+Fast schien es, als hätte er nun auch allen Kredit verloren. Wenn
+er jemand auf der Straße das Bündel wollte tragen helfen, oder wenn
+er am geländerlosen Labachsteg schwindelige Leute hinüberführen
+wollte, da sagten sie dreist: »Schau du auf dich selber!« Und das war
+tatsächlich ein guter Rat, denn er begann leiblich zu verkommen und
+zu verderben. Auf der Baustelle, zwischen den Mauern und Sandhaufen,
+baute er Erdäpfel an, aber diese wußten, daß der stolze Grund nicht
+ihnen vermeint gewesen, fühlten darob ihre Ehre verletzt und wollten
+nicht recht wachsen. Als sie im Spätherbste endlich doch so weit waren,
+daß sie den Spaten lohnten, dachten die Nachbarsleute: der Johann
+verschenkt sie ja doch! und stahlen ihm die Erdäpfel in der Mondnacht.
+
+So ist die praktische Seite von Johanns Tätigkeit stets unpraktisch
+ausgefallen, während über die ideale Rechnung im Himmel gewacht
+wird, wir einstweilen also keinen Einblick haben. Zu jener Zeit
+aber behauptete ein tiefsinniger Mann, der Hans Johann würde seinen
+Mitmenschen noch einmal tüchtig imponieren und er hätte das Zeug zu
+einer großen Heldentat. Man hörte aber nichts weiter, als daß Johann in
+einem Eisenwerke ein Weilchen Schichtenschreiber war. Später soll er in
+einem Meierhofe des Unterlandes als Taglöhner gesehen worden sein. Und
+dann hörte man gar nichts mehr von ihm. Er war verschollen und auf der
+verlassenen Baustelle, wo das große Krankenhaus hätte stehen sollen,
+wucherten Nesseln und Disteln.
+
+Um so merkwürdiger ist es, daß viele Jahre später von Leuten, die darum
+wußten, bei Mostar in der Herzegowina auf einem Friedhof ein halb
+verwitterter Grabstein gefunden wurde, der die Inschrift trug: Hans
+Johann, Soldat aus dem steierischen Infanterieregiment 27. Und darunter
+einige Worte in türkischer Sprache. Die darauf angestellten Forschungen
+ergaben folgendes: Hans Johann soll unter außergewöhnlichen Umständen
+für einen jungen Rekruten, der sehr an Heimweh litt, eingestanden sein,
+sei aber ein spottschlechter Soldat gewesen. Bei dem Einmarsche der
+Österreicher in die Herzegowina habe sich auf einem Bergpasse zwischen
+den Österreichern und den Türken ein Gefecht entsponnen. Johann sollte
+schießen, da sah er in demselben Augenblick, von einer anderen Kugel
+getroffen, einen türkischen Soldaten fallen. Das Gewehr warf er weg und
+eilte hin, um dem Schwerverwundeten beizustehen. Während er ihm aus
+seiner Feldflasche Labung einzuflößen suchte und ihn aus dem Bereich
+des Kampfes schleppen wollte, sank er selbst nieder, von einer Kugel
+getroffen. Der türkische Soldat, der mit dem Leben davongekommen,
+habe den barmherzigen Österreicher mit Ehren begraben lassen und
+den Denkstein mit der Inschrift gestiftet. Die türkischen Worte auf
+demselben heißen zu deutsch: Aller Hauptsachen Hauptsache ist die
+Liebe.
+
+
+
+
+ Der Himmelherrgottswirt.
+
+
+Eins sagt man den Tirolern nach. Sie hätten nämlich -- sagt man --
+ihre Straßen darum so krummlinig angelegt, damit die Fremden um so
+länger durchs Land zu reisen und dabei um so mehr Geld im Lande zu
+lassen hätten. Indeß vermute ich, daß die krummen Linien weniger vom
+geradsinnigen Tiroler, als vielmehr von seinen höckerigen Bergen
+herrühren. Wohl wahr, die Straßen, die dort und auch anderswo im
+Zickzack die Täler durchziehen, wie eine mit schwerfälliger Hand
+gezogene Schrift, könnten streckenweise nachdenklich machen, wenn
+nicht schon die Eisenbahn da wäre, die, keinen Berg und keine Schlucht
+respektierend, die alte Schrift mit geraderen Linien durchstreicht.
+
+Ich bin kein Ehrabschneider, aber dem Himmelherrgottswirt zu St. Peter
+beweise ich's, daß er viele Jahre lang jene Absicht hatte, die man den
+Tirolern ungerechtfertigterweise zuschreibt.
+
+Man sieht's ihm sonst nicht an, er ist ein Bauer wie jeder andere,
+und trägt auch gerade kein Gesicht um, dem man so viel Bösartigkeit
+zutrauen könnte! Aber er hat ein Wirtshaus und treibt Handel, und so
+Leute, die ihren Vorteil bei anderen Leuten suchen müssen, werden es
+allmählich gewohnt, andere zu übervorteilen. »Geschäft« heißen sie es.
+Ja, wenn jedes unschöne Ding einen so schönen Namen hätte, es gäbe
+keine Betrüger und Gauner und Galgenstricke auf der Welt.
+
+Weiter sagt man dem Himmelherrgottswirt nichts Unrechtes nach. Daß ich
+nur erzähle.
+
+Das Dörflein St. Peter mit der Kirche und dem Wirtshaus steht auf
+einem Hügel. Die belebte Straße, die durch das Tal geht, steigt diesen
+Hügel hinan und drüben wieder hinunter in dasselbe Tal. Auf der
+Höhe, just vor dem Kirchhofstore, auf einer weißen Tafel steht mit
+schwarzen Lettern der schöne Spruch: »Radschuh bei Strafe von zwei
+Gulden!« Was sind an diesen beiden Steigungen nicht für höllische
+Wetter zusammengeflucht worden von blaukitteligen Fuhrleuten! Ruckweise
+gehetzt und geflucht, dann wieder geschoben und geflucht, dann wieder
+stecken geblieben und geflucht, und nachher die wilde Jagd von einer
+Wasserkehre zur andern und geflucht.
+
+So ging's Tag und Nacht und selbst am Festtage war keine Stunde frei
+von solchem Lärm. Was sind die Rösser seit Urzeiten nicht geprügelt
+worden auf diesem Wege zum heiligen Peter hinan! Aber oben -- fast
+schon oben nah' der Kirche -- stand das Wirtshaus, da gossen die
+Fuhrleute Wein auf ihre Galle. Und hinunter ging's lustiger, da gab's
+nur zu fluchen, wenn bei Nichtanwendung des Radschuhes der Wagen einmal
+ein paar Pferde niederstieß und darauf der Zöllner die zwei Gulden
+Strafe einhob.
+
+Ähnlich ging's Jahrzehnte lang zu. Da kam den Leuten vor wenigen Jahren
+eine merkwürdige Idee, die weiß Gott wie lange schon in der Luft
+gehangen sein mochte oder unten auf dem Erdboden gelegen neben dem
+Bach, ohne daß sie ein Mensch gefunden hätte.
+
+»Warum,« sagten die Leute auf einmal, »muß die Straße den vertrakten
+Berg hinansteigen? Warum soll sie nicht unten im ebenen Tal neben dem
+Bach hinlaufen wie die vielen Meilen her?«
+
+Warum? Ja, es wußte keiner warum. Nur der Kirchenwirt zu St. Peter gab
+Antwort.
+
+»Warum?« sagte er und machte die Augen zu, wie er immer tat, wenn er
+etwas Gescheites sagte, »das ist desweg', weil im Tal beim Bach meine
+Wiese ist, über die ich nicht fahren lasse.«
+
+»Du laßt nicht fahren!«
+
+»Laß nicht fahren.«
+
+»Kirchenwirt,« sprach ein anderer, »du weißt recht wohl, daß dir deine
+Wiese gut bezahlt werden wird.«
+
+»Weiß es wohl.«
+
+»Aber du weißt es auch, daß dein Wirtshaus auf dem Berg von der Straße
+leben muß. ~So~ steht die Sach'!«
+
+»Und so wird sie auch stehen bleiben!« Damit schnitt der Wirt das
+Gespräch ab.
+
+Seitdem war's wieder beim Alten. Aber doch nicht ganz. Früher fluchten
+die Fuhrleute, aber sie wußten nicht, auf wen; die steile Straße
+war unschuldig, sie wäre am liebsten gar keine Straße und möchte
+grünes Gras auf sich wachsen lassen; die schweren Eisenflossen waren
+unschuldig, sie wären am liebsten für alle Ewigkeit im Erzberg ruhen
+geblieben. Und die Weinfässer, Salzladungen und Kornsäcke konnten
+nichts dafür, daß sie so schwer wogen -- und den Pferden konnte im
+Grunde nichts Überpferdliches zugemutet werden. Und wenn manchmal
+eine Kutsche mit Leuten bepackt heranächzte, so waren es gerade diese
+Lasten, die am wenigsten ein Scheltwort annehmen wollten. Die schönsten
+Flüche verpufften in der Luft. So früher. Aber jetzt! Jetzt wußten
+sie, wer Ursache war des blutigen Marterweges zu diesem Dorfe hinan,
+wo schließlich keiner was zu tun hatte, was nicht auch im Tale getan
+werden konnte. Die Flüche nannten von nun an den Kirchenwirt, schossen
+dem Kirchenwirt zu, diesem »kreuzvermarideiten Himmelherrgottswirt!«
+Wer wüßte es nicht, wie einzig so ein blaukitteliger Fuhrknecht in
+seiner Wut schelten kann. Und so bekam der Kirchenwirt den an und für
+sich sehr schönen, aber seiner Ursache wegen nicht schmeichelhaften
+Titel: »Himmelherrgottswirt«. Man muß es nur hören, wie das klingt,
+wenn es zwischen knirschenden Zähnen herausgeknurrt wird.
+
+Aber der Himmelherrgottswirt machte sich nichts draus. Eher, als
+er die Straße unten im Tale über seine Wiese gehen ließe -- an St.
+Peter vorüber, ohne nach St. Peter zu kommen, und die Fuhrleute und
+die Reisenden etwa gar unten beim Mosthansel einkehrten -- eher läßt
+er sich kohlschwarz anfluchen über und über; dem Geldbeutel tut das
+ja nicht weh. -- Dem Geldbeutel, meint ihr, das Fluchen nicht weh?
+Ja, seht, das Heranfluchen freilich nicht, aber das Vorbeifluchen
+doch! Die schwersten Fuhrwerke ächzten an dem Wirtshause vorüber und
+kehrten im Tale beim Mosthansel ein. Das war sonst eine recht kleine,
+schlichte Wirtschaft gewesen, beim Hansel, denn der Kirchenwirt hatte
+sie nie emporkommen lassen. Aber jetzt schaffte sich der Hansel mehrere
+Gattungen Weine an -- alte und junge, weiße und rote, süße und saure
+-- fast so verschiedenerlei, als der Gäste waren; legte sich auch Heu,
+Hafer und Mais zu, den Zugtieren zu Nutz; und Tierfleisch für solche,
+die Heu und Hafer verschmähten und sich doch sättigen und stärken
+wollten zum Fluchen über den Hügel, oder sich davon zu erholen hatten.
+Der Hansel selbst war ein junger, umsichtiger und unterhaltsamer
+Mann, der mit einer alten Muhme, die recht schwätzen konnte, die nun
+aufblühende Wirtschaft betrieb. Und wenn der Sonntag kam, so kamen
+sogar die Bauern der Umgegend zum Hansel zusammen, weil dort jetzt
+immer Gesellschaft war, und auch weil es freier herging, als wie beim
+Kirchenwirt, wo der Pfarrhof und der Friedhof so nahe waren. Da fanden
+sich auch Musikanten ein, und es tat sich zur Sommerszeit oft ein
+ganzes Volksfest zusammen vor dem Mosthanselhaus.
+
+Zu solcher Zeit schien es fast, als käme die Reihe zum Fluchen an den
+Himmelherrgottswirt. Tat's aber nur im Gedanken; auswendig schnitt er
+ein lustiges Gesicht.
+
+»Das wär' schon zum Lachen, wenn unsereiner auf so ein paar läppische
+Roßknecht' anstünd'. Man hat eh' von diesen Leuten mehr Schaden gehabt
+als Nutzen. Den Hof voll Mist, ja, das machen sie einem, und schuldig
+bleiben, das können sie wie's Schmenten (Fluchen) und das Schmenten
+können sie weit besser wie Vaterunser beten. Fuhrleut' Geld haben! Ja,
+wer's glaubt, wird selig; auf meiner schwarzen Tafel steht ein ganz
+anderes Evangeli zu lesen. Und die Herren Kavaliere, die vorbeifahren
+-- hört mir auf, denen ist das beste zu schlecht und das wohlfeilste
+zu teuer. Mag mich gar nimmer scheren mit so Leuten -- mag nicht, sag'
+ich!«
+
+»Da hast einmal in Grund und Boden recht, Wirt,« entgegnete ihm darauf
+eines Tages der Tabakkrämer. »Desweg' ist's am gescheitesten, wir
+bringen die Straße zum Dorf herauf ganz ab. Lassen es gar nicht mehr
+herauffahren, das Bettelvolk -- soll unten bleiben am Bach und Kroißen
+(Krebsen) fangen.«
+
+»So redest ~du~!« rief der Wirt, »du, der morgen schon Hunger
+leidet, wenn heut' kein Fuhrknecht mit der Blader vorspricht! Oder
+willst du ihn dir mit Essig und Öl machen lassen, deinen Tabak?«
+
+Der Andere schupfte die Achseln: »Was kann ich machen! Die Landstraß'
+haben sie nicht gebaut, daß ich meinen Tabak anbring'. Verlegen
+sie den Weg, so muß ich mir halt helfen, wie ich kann. Daß ich ein
+Narr wär' und gegen die Vielheit streiten wollt'! -- Schnupf eins,
+Himmelherrgottswirt!«
+
+Der Wirt schlug ihm die Dose aus der Hand.
+
+»Geschieht mir recht,« murmelte der Tabakkrämer, »wenn man den heiligen
+Namen auf ~den~ hängt, das ist Gotteslästerung.«
+
+ * * * * *
+
+Aber der Bau der Straße im Tal verzögerte sich von Jahr zu Jahr, denn
+gutwillig gab der Wirt die Wiese nicht und Gewalt wollte man nicht
+brauchen.
+
+Da ging einmal ein alter Wurzelgräber durch das Dorf; der hörte das
+Schelten und Gotteslästern der Fuhrleute, die dem Kirchenwirt alle
+schwere Not und den Teufel ins Haus wünschten. An der hinteren Tür des
+Wirtshauses standen die Kinder des Wirtes, denen rief der alte Mann
+zu: »Euer Vater führt ein gutes Leben. Wenn aber die Flüche all' an
+~euch~ ausgehen sollen! Es heißt ja doch, der Eltern Sünden müssen
+die Kinder büßen. 's ist schauderlich! Behüt' euch Gott, Kinder, ich
+tu' euch nichts.«
+
+Und ging von Hundegekläff begleitet vorüber.
+
+Da stund es an noch etliche Jahre, und es kamen die Weihnachten 1876.
+Der Heilige Abend ist doch sonst gewiß kein Unglückstag, gleichwohl
+er der Jahrestag ist, an welchem Adam und Eva erschaffen worden sein
+sollen. Aber beim Kirchenwirt zu St. Peter trug sich an diesem Tage was
+Trauriges zu.
+
+Bisher, so lange von steifen Trotzköpfen und bösem Fluchen die Rede
+gewesen war, wollte ich das Dasein eines schönen Kirchenwirtstöchterls
+nicht verraten. »Sie war wie eine Blume,« man kann's besser nicht
+sagen. Sie war nun siebzehn Jahre alt und das Einzige, welches dem
+Wirte von seinen Kindern übrig geblieben. Ihretwegen war die letzte
+Zeit her mancher junge Fuhrknecht, der zu Trotz hier nicht mehr
+einkehren wollte, weit schwerer auf dem ebenen Boden vor dem Wirtshause
+vorübergefahren, als den Berg heran. Dieses Wirtstöchterl war bei so
+manchem der triftigste Grund, daß die Straße an beiden Seiten den
+steilen Hügel zum Dorfe hinanstieg. Ob Julchen für oder gegen die
+Verlegung der Straße war, das getraue ich mir nicht zu entscheiden,
+denn junge Leute gehen ihre eigenen Wege.
+
+Und einen solchen, ganz absonderlichen, ging sie an jenem Heiligen
+Abend.
+
+Man kennt ja die Weiber -- aus lauter Warmherzigkeit und
+Lebenssehnsucht und Ahnen und Bangen abergläubisch über alle Maßen!
+Schon die jungen! -- Da ist der rote Holler. Am Christabende während
+des Ave-Läutens gepflückt und dann in einen Blumentopf gesteckt, kann
+er im nächsten Fasching grünen. Tut er's, so kommt in demselbigen
+Jahre der Bräutigam. Ein Dirndl von siebzehn Jahren -- da kann der
+Hollerzweig doch wohl schon treiben ... Man probiert's, nützt es nicht,
+so schadet es auch nicht.
+
+An der rückwärtigen Kirchhofsmauer zu St. Peter wächst roter Holler.
+Mit einigem Zagen, aber vielem Mute läuft Julchen, während auf dem
+Turme die Ave-Glocke klingt, im Dunkel über den Kirchhof. Sie schaut
+sich nicht viel um, erhascht einen Zweig, eilt rasch wieder zurück und
+stürzt aus Hast in ein offenes Grab. Das war für einen alten, müden
+Pilger bereitet worden, der just am heiligen Christtag in die ewige
+Ruh' gehen wollte, oder -- wie man's nimmt -- in die Krippe aus Erden.
+-- Wie der Küster das Tor schließt, hört er den Schrei -- läuft hin und
+zerrt das vor Schreck ohnmächtige Mädchen aus dem Grabe hervor; es ist
+bewegungslos wie eine Leiche, und so wird sie nach Hause getragen.
+
+Der Wirt ist dem Zusammenbrechen nahe, er meint, das Kind sei tot. Die
+Leute rennen auf der Gasse um und der böse Leumund, der immer nur auf
+einen Anlaß -- am liebsten ein Unglück -- wartet, bricht los wie ein
+zischend Heer in der Luft, das man nicht sieht und nicht fassen kann,
+und das in jedes Ohr bläst Spott und Hohn, und Schadenfreude weckt
+in dem Menschenherzen, auf welches reuig zu schlagen wohl jeder eine
+Ursache hätte.
+
+»Da seht, da seht,« riefen die Leute, »das hat er jetzt! Umsonst ist
+da nicht so oft geflucht worden. Jetzt geht die Frucht auf. Fällt ihm
+sein Kind lebendig ins Grab! Ist das nicht augenscheinlich eine Strafe
+Gottes?«
+
+Kann ein abgerissener Zweig wieder grünen, so kann auch ein junges, dem
+Grabe entrissenes Menschenkind wieder leben. Meint ihr nicht, Leute?
+Tretet ins Haus und seht, Julchen sitzt aufrecht, es fehlt ihr nichts.
+Ohnmachten bei jungen Leuten ziehen vorüber wie eine Frühlingswolke an
+der Sonne. Ihr Vater ist noch blaß vor Schreck, mit zitternder Hand
+streicht er ihr die Friedhofserde von ihrem braunlockigen Haar.
+
+ * * * * *
+
+Und in der Nacht, als das Mädchen geruhsam im Bette schlief und auf
+dem Turme des Himmels Engel schon die Glocken läuteten, auf daß die
+zerstreute Gemeinde zusammenkomme zum strahlenden Altare -- da schritt
+auch der Wirt in die Kirche. Er wankte wie ein Greis, der Schreck stak
+ihm noch in den Gliedern, noch bebte ihm das aufgerüttelte Herz. Daß
+sie an dem bedeutungsvollen Tage in das Grab fiel, das konnte kein
+gutes Zeichen sein ... Ihm war hart und bang.
+
+So wollte denn in dieser Nacht, in welcher der Christ mit seiner Gnade
+herabgestiegen ist zur Erde -- der Kirchenwirt vor der Krippe knien
+und Beruhigung erflehen. -- Und als die zwölfte Stunde schlug, als das
+Christamt begann und das Lied: »Dies ist der Tag, von Gott gemacht!«
+erklang, da wurde dem Manne leichter ums Herz.
+
+Zur Wandlung verstummte die Orgel. Die Gemeinde lag auf den Knien
+und jeder betete in dieser feierlichen Stunde für das liebste seines
+Herzens. -- Mit gefalteten Händen betete der Wirt vor der Krippe
+für sein Kind. -- Still war's. -- Da rasselten draußen auf dem
+hartgefrorenen Boden schwere Wagenräder, Pferde stampften und wieherten
+unter pfeifenden Peitschenhieben, und von den Lippen des Fuhrmannes
+gellte ein grober Fluch. Und das war auf des Kirchenwirts Gebet die
+Antwort gewesen. --
+
+Was bei diesem Zwischenfalle der Kirchenwirt empfunden hatte, das zeigt
+am besten sein Gang in die Sakristei, als kaum der Gottesdienst zu Ende
+war.
+
+»Ein Wort mit dem Herrn Pfarrer,« stotterte er, »vielleicht wäre auch
+der Gemeindevorstand zuwege. Ein Stück Papier und Schreibzeug!«
+
+Mit bebender Hand schrieb er's hin:
+
+ »Die Wiese am Bach für ewige Zeiten zur Straße.
+
+ Anton Egghofer,
+ Kirchenwirt zu St. Peter.«
+
+Heute ist die Straße fertig. Sie geht, wie die Leute sagen, »handeben«
+im Tale hin. Das Fluchen kann man den Fuhrleuten nicht nehmen, sie
+haben sonst auch nicht viel Unterhaltliches auf der Welt, aber auf
+ebener Straße hört sich das ganz anders, als auf bergigem Grund.
+
+Zu beschreiben wäre noch die Dankbarkeit der Pferde -- doch, wir wollen
+die Wagen aller Art mit Gott und gutem Gespann ihrer Wege ziehen
+lassen.
+
+Wer nach St. Peter hinauf ~will~, die alte Straße ist und bleibt
+noch fahrbar. Im Herbst des nächsten Jahres war's, als etliche sehr
+schwere Wagen vom Dorfe zu Tale ächzten. »Radschuh bei Strafe von zwei
+Gulden!«
+
+Ja, freilich, bei ~solchen~ Brautfuhren, da heißt's einschleifen.
+--
+
+Gekommen war's so: Im Fasching hatte der Hollerzweig gegrünt, im Mai
+hatte er geblüht, im Juni war der Mosthansel zum Julchen gegangen. Und
+jetzt Hochzeit.
+
+
+
+
+ Herr v. Florin.
+
+
+Er hätte Künstler werden können, er hätte Professor werden können,
+er hätte Bürgermeister werden können -- Landtagsabgeordneter,
+Herrenhausmitglied -- dann Baron oder Präsident, so oder so. Baron,
+wenn der Staat eine Monarchie verblieben, Präsident, wenn er eine
+Republik geworden. -- Und ist nichts, als ein windiger Rasierer.
+
+Ein Bartscherer, ein Haarkräusler und Geckenaufputzer, ein
+Perückenflechter und Haarzopfsträhner. Man verlangt, daß er Späße
+mache, und da er sie nicht macht, so macht man sich welche mit
+ihm. Man nennt ihn Doktor, er protestiert nicht dagegen, der Titel
+gebührt ihm; er ist belesen, er nennt alle hohen Berge der Welt beim
+Namen und weiß, wie hoch sie sind, weiß es in Fuß und Metern, kennt
+die Tiefen des Meeres und berechnet nach einem alten Atlas, wo die
+größten Tiefen sind. Er gibt dem Landmann, während er ihm den Bart
+abschabt, Fingerzeige über die Witterung der nächsten Monate, belehrt
+ihn, wie er den Dung streuen, woher er den Samen beziehen müsse.
+Er hat Agentschaften, und zwar deren so viele, daß er vor lauter
+Schildertafeln die Tünche seines Häuschens erspart. Er versichert dem
+Bauer das Haus, das Vieh, die Feldfrüchte, das Leben. -- Wenn mir
+dieser »Lebensversicherer«, denkt sich der Bauer, »nur jetzt die Gurgel
+nicht abschneidet! Anstellt er sich g'rad so. Kratzen tut der Saggra
+schon, daß man die Engel singen hört! Schneidet denn das Messer nit?«
+-- Allerdings, das Messer rostet schon, denn Herr Florin hängt das
+Geschäft an den Nagel und rasiert den Mann nur aus Gefälligkeit. Er
+will ihm auch aus Gefälligkeit den Prozeß führen helfen, den der Bauer
+mit einem Nachbar hat. Meister Florin weiß sich gut aus im Gesetzbuch
+und wird dem findigsten Doktor zu gescheit. Er führt verschiedenerlei
+Schreibergeschäfte, hat hier einen Strauß mit dem Steueramt, dort einen
+Handel mit dem Bezirksgericht, da ein Renkontre mit dem Notar oder mit
+einem Gläubiger, mit dem oder jenen -- und gewinnt, gewinnt alles.
+
+Daher will er das Rasiergeschäft aufgeben, es sind schlechte
+Zeiten. Ja, früher, in seines seligen Vaters Jahren, wo jeder brave
+Staatsbürger fortweg sein glattes Gesicht haben mußte, da war's
+leicht, Rasierer zu sein. Aber jetzt, wo die Leute ihren Patriotismus
+und ihre Weisheit und ihr politisches Bekenntnis in den Barthaaren
+herauswachsen lassen, jetzt wird der Rasierer -- und er mag der klügste
+und fleißigste Mann sein -- ein fallider Fallot.
+
+Überhaupt -- und das Wörtlein hat Meister Florin immer auf der Zunge
+-- überhaupt, das fliegt so über alles hin, da steckt alles d'rin, was
+der Sprecher meint, aber nicht weiß, oder wenn er gar nichts meint
+und nichts weiß, als nur, daß hier ein Wort gut stehe, so sagt er:
+überhaupt, und hat damit sehr viel und sehr vernünftig gesprochen. Also
+-- »überhaupt«, sagt der Meister Florin, »es ist nicht mehr so wie
+früher, die Welt ist ganz anders geworden, heute siegt nur das Geld und
+der Protze, der Brutale, der Aufdringliche, überhaupt der Windbeutel.
+Ich könnte heut' auch anders dastehen, aber ich bin immer zu ehrlich
+und bescheiden gewesen. Den ersten Prügel hat mir mein Vater unter
+die Füße geworfen, weil er mich nicht studieren ließ, sondern mich
+zu seinem Handwerk zwang, zu dem ich niemals Lust und Schick gehabt
+habe. Ich bitt' euch, ein strebsamer, intelligenter, für alles Schöne
+begeisterter junger Mann, Friseur! Aber ich habe mich herausgearbeitet.
+Wenn ich heute das Geld hätte, das mir die Kerzen gekostet haben,
+bei denen ich die ganzen Nächte hindurch studiert habe! In den
+einundzwanzig Jahrgängen der Theaterzeitung und in den Jahrbüchern
+des Gothaer Almanach und im Selbstadvokat gibt's kein Blatt, das ich
+nicht in mich aufgenommen hätte. Ich habe meine Freude dran gehabt,
+überhaupt, ich habe immer Sinn für was Besseres gehabt. Und ich hab's
+mitgemacht, wie wir die Eisenbahn bekommen haben und den Telegraph. Bei
+meinem Aufwachsen hat noch keiner in unserer Gegend eine Baumwolljoppe
+getragen, und das Einjährig-Freiwilligen-Institut jetzt, die
+Hinterlader, überhaupt das ganze Kriegswesen. Das ist ein Fortschritt!
+Ich bin fortweg bei den Fortschrittsmännern und Aufgeklärten gestanden
+und überhaupt, früher ist die Welt in zweihundert Jahren nicht um das
+weitergekommen, als wie zu meiner Zeit. Es ist besser geworden und
+es wäre ganz gut geworden, wenn nicht die Anmaßung das große Wort
+führte. Der ehrliche Mann verarmt. Es ist ja zum Rasendwerden, wenn man
+betrachtet, wer heute das Heft in der Hand hat.« So seine Betrachtungen.
+
+Er war im Stadtschulrat, aber sie haben ihn nicht zum Obmann
+gemacht, er ist in den Gemeinderat gewählt worden, aber bei der
+Bürgermeisterwahl, da --! Er hätte wenigstens zwei Drittel der Stimmen
+gehabt, aber die Kabale! Die Kabale, ihr Herren! -- Sie haben es ganz
+gut gewußt, was sie tun; denn wenn er, der Meister Florin, obenauf
+gekommen wäre, da hätt's anders gehen müssen. Er wüßte schon, was zu
+machen wäre! Eine Mustergemeinde hätte er geschaffen, an der sich
+selbst der Staat ein Muster genommen haben würde. Man hätte »oben«
+gefragt: wer ist der treffliche Mann? Gehörte er nicht vielmehr
+hierher an's Ruder, als daß er seine Kraft in dem engen Wirkungskreise
+vergeude?
+
+Vor einer solchen Aussicht wird jeder Geschäftsmann -- er braucht nicht
+erst Friseur zu sein -- die Lust an seinem Berufe verlieren. Meister
+Florin macht bekannt: er rasiert nicht mehr. Jetzt kommen Fremde ins
+Städtchen, Touristen, sie suchen einen Friseur. Ist keiner da. Sie
+suchen auch einen Führer. Allsogleich tritt Meister Florin hervor und
+macht seine höfliche Aufwartung, er kennt die Gegend, wie sonst gar
+keiner mehr, er ist gerne bereit. -- Schön, was er begehre? -- Bitte,
+es macht ihm ein Vergnügen, er ist mit von der Partie. Sie suchten
+einen Führer und finden einen Kavalier. Um so besser. Den Träger für
+Mäntel und Mundvorrat bestellt der Herr Florin; sie laden ihn ein, aus
+ihrem Vorrate zu essen, mitzutrinken; er will nicht ablehnen, er tut
+den Schinken und Flaschen sehr viel Ehre an; er ist stets delikat, aber
+das ist zufällig seine Leibspeise, sein Tropfen -- hoch sollen sie
+leben!
+
+Er weiß unterwegs stets zu erzählen und spricht ganz im Geiste der
+Zeit, heißt das, wenn er merkt, die Fremden hätten keinen. Er erzählt
+gern von sich und was ihm eben so am geläufigsten ist; die Fremden
+heucheln Interesse, so lange sie's vermögen, endlich aber danken sie
+für seine freundliche Begleitung und gehen ihrer Wege.
+
+Trotzdem, oder -- überhaupt, die Fremdenführerschaft trägt mehr, als
+das Friseur- und Rasiergeschäft, sie trägt wenigstens die Kost und
+man ist in der frischen Luft und Naturfreund ist man auch. Ist's und
+wird's von Tour zu Tour mehr, denn überall erinnert man sich, was einen
+früheren Touristen entzückt hat und das entzückt einen nun auch und so
+bringt man im Laufe der Jahre eine Unzahl von »romantischen« Wegen,
+entzückenden Punkten und Aussichten zusammen.
+
+Endlich nimmt er wahr, daß er ein so gewaltiger Naturfreund und
+Tourist geworden ist, daß er davon leben kann. Er läßt sich als Führer
+immer noch nicht lohnen, aber die Präsente, die der Kavalier dem
+Kavalier verehrt, die darf er nicht abweisen. Er hat davon schon eine
+respektable Sammlung, er verkauft sie nicht, es sind werte Andenken
+von hohen Bekanntschaften und lieben Freunden -- und versetzen, nur
+wenn's sein muß. Auch die Touristenvereine sind ihm erkenntlich, und
+wie die Assekuranzen -- die er längst vernachlässigt und verloren
+hat -- einst das Äußere seines Hauses mit Agenturtafeln dekoriert
+haben, so dekorieren die Touristenvereine es von innen mit Diplomen,
+Gebirgskarten und Edelweißorden. Er übt wieder Gegenerkenntlichkeiten
+und wirbt Mitglieder für die Vereine. So wird er bekannt und gesucht
+und jeder Fremde, der am Bahnhof dem Zug entsteigt, frägt als sein
+erstes nach dem Herrn Florin. Der steht schon da, stets nett beisammen,
+in Nationaltracht, stets höflich, lüftet seinen Touristenhut, ist dem
+Herrn zuvorkommend zur Hand beim Aussteigen, beim Gepäcktragen, bei der
+Suche nach einem Hotel, und dem Fremden bleibt nichts anderes übrig,
+als sich gefangen zu geben.
+
+Der Gasthofbesitzer weiß meinen Florin wohl zu würdigen, und wenn
+dieser für genossene Speis und Trank um die Rechnung ersucht, so
+vertröstet ihn der Wirt von Tag zu Tag, bis Herr Florin endlich nicht
+mehr ersucht und sich die Gasthauskost von Tag zu Tag so trefflich
+munden läßt, als ob's auf der weiten Welt kein Stücklein Kreide gäbe.
+Es geht. Sehr gut geht's, und Meister Florin sagt es selber: es ginge
+ihm sehr gut! und er muß es am besten wissen. Daß er einmal Rasierer
+gewesen, hört er nicht gern, es war auch nur ein Spaß von ihm gewesen,
+ein schlechter Spaß. Er wohnt auch gar nicht mehr im Friseurhäuschen,
+das ist der Habgier eines Gläubigers zum Opfer gefallen, gegen den
+der Meister den langjährig geführten Prozeß ganz unstreitig gewonnen
+hätte, wenn nicht Bestechung und Hinterlist von Seite des Gläubigers
+stattgefunden hätte. Überhaupt sind die Leute heutzutage von einem
+greulichen Eigennutz besessen, nur der Wirt nicht, nein, der ist ein
+braver Mann. Jetzt wohnt er auch bei ihm.
+
+So verkehrt Meister -- was Meister! Herr von Florin nur mehr mit
+vornehmeren Leuten, und wenn man dem Gespräche zuhört, das er und ein
+zugereister Universitäts-Professor führen, so ist kein Zweifel, wer
+der Gescheitere ist -- nämlich der Herr von Florin. Man kann aber
+ordentlich erschrecken, wenn Florin plötzlich behauptet, das deutsche
+Kaiserreich tauge nichts und er mit wenigen diktatorischen Aussprüchen
+mir nichts dir nichts die Republik einführt und der Fürst Bismarck
+wie ein armer Schlucker dasteht, noch um ein paar Stündlein Leben
+bittend. Der Professor ist gar nicht imstande, der Tragweite dieser
+unerhörten Reformen zu folgen, daher schweigt er, und das imponiert
+den umsitzenden Zuhörern. -- »Ja, wie Florin gesprochen, da hat der
+gelehrte Herr nachher kein Wort mehr zu sagen gewußt.«
+
+Wie steht er jetzt da, der Herr von Florin! Von altersher -- und zwar
+seit etlichen vierzig Jahren -- heißt er Franz Viktor Florin; jetzt,
+der Name ist ihm zu lang, er ist selber nicht über fünf Schuh lang, er
+braucht keinen so langen Namen, er kürzt ihn, setzt anstatt des Wortes
+Viktor bescheiden nur ein kleines v. und jetzt lautet die Visitkarte:
+Franz v. Florin. Das steht! sehr gut steht's, und somit wäre er nun
+eigentlich oben.
+
+Aber da sehe man den Neid des Schicksals! Überhaupt, wer zum Unglück
+geboren ist usw. Auf einmal legt sich der Wirt hin und stirbt und macht
+den Herrn v. Florin brotlos und dachlos. Denn der junge Wirt ist ein
+Zopf und sagt, Florin solle arbeiten, er sei noch stark genug dazu.
+-- So! Also das ist der Lohn, daß er die Fremden herbeigezogen und
+die Gegend bekannt gemacht hat! Das ist der Lohn für die Dienste, die
+er dem Hause und der Gemeinde und jedermann geleistet hat! Die Kinder
+werden einst als alte Leute erzählen von Herrn von Florin, wie schlicht
+er war und jovial und welche Reden er der Jugend oft gehalten hat und
+wie er für den Fortschritt gewesen und was ihm das Städtchen verdankt.
+Manche alte Schrift von seiner Hand wird verblaßt und vergilbt noch
+Zeugnis ablegen von dem strebsamen, vielseitigen Manne, der seiner Zeit
+voraus gewesen. Aber heute! Heute läßt man ihn darben. Zwar findet
+er immer noch gute Seelen, die seinen Nahrungsbedürfnissen Rechnung
+tragen, mein Gott, er ist ja leicht zufrieden! Aber der Rock will
+verblassen und die fremden Herren, wenn sie kommen, wollen mit dem
+fadenscheinigen Rock nicht gerne an einem Tische sitzen. Er ist immer
+noch geistesfrisch, ja lustiger als früher und weiß allerlei Schnurren,
+auch singt er und macht Musik dazu auf der Zither oder der Gitarre.
+Er weiß possierliche Lieder, Sprüche und schalkhafte Anekdoten. Man
+lacht darüber, man wartet ihm mit einer Zigarre auf oder läßt ihm ein
+Glas Wein vorsetzen und so ist es immer noch unterhaltsam. Es gibt
+Leute, die sagen ihm, er solle sich nicht so an die Fersen der Fremden
+heften und sich nicht zum Spaßmacher hergeben, er solle lieber wieder
+seinen Rasierladen aufmachen. Das sind die Kurzsichtigen. Sie wissen
+nicht, was er will und worauf er es abgesehen hat. Er wird noch eine
+einflußreiche Stellung gewinnen und dann seine weltbeglückenden Pläne
+durchführen.
+
+Einstweilen verkommt er immer mehr. Mancher Fremde, der im Städtchen
+absteigt, er mag Tourist sein oder Agent oder Vereinsmeier, nützt ihn
+aus, so viel noch auszunützen ist. Er ist eine allbekannte Figur und
+viel armseliger und niedriger denkende Subjekte, als er ist, machen ihn
+zur Zielscheibe ihres Spottes.
+
+Endlich glaubt er's, daß er nichts erreichen wird; er klagt über ein
+verfehltes Leben, setzt die Hoffnung aber auf seine Kinder.
+
+Er hat einen Sohn; der ist geistig sehr begabt, hat ganz den Kopf von
+seinem Vater. Der soll studieren. Es ist kein Geld da, es ist keine
+Protektion da, oder hat ein oder der andere seiner guten Bekannten doch
+etwas zugesagt? Gewerbsmeister des Städtchens wollen den aufgeweckten
+Jungen ins Geschäft nehmen, ihm ein Handwerk lehren. Ha, das wäre
+wieder die alte Leier; dieses florinische Blut ist für was besseres rot
+geworden; der Bursche muß in die Hauptstadt. Er soll sich dort selber
+fortbringen, Freunde suchen und sich aus eigener Kraft aufschwingen.
+Das macht den Mann. Der Vater hält ihm noch eine schwunghafte
+Standrede, wie sie wortprächtiger in keinem Buche zu finden ist, und
+der Junge geht in die Stadt. Er schreibt verzagte Episteln heim, der
+Vater schickt ihm Briefe voll begeisternder Phrasen, aber sonst ohne
+Inhalt. Da schreibt der Sohn in immer längeren Zwischenräumen immer
+kürzere Briefe, endlich bleiben die Briefe ganz aus und das ist dem
+Herrn Florin ein Zeichen, daß die Taube ein Gestade gefunden hat.
+
+Nun hat Florin -- sein Weib ist ganz Nebensache, das ist da oder es
+ist nicht da, einerlei; ist es da, so wird es wohl irgendwo eine
+Dachkammer haben, wo es sich mit Nähen oder Stricken fortbringt --
+trotzdem hat Herr Florin auch eine Tochter. Mit der läßt er sich nicht
+ungern auf der Gasse blicken, denn sie ist schon bald kein Kind mehr
+und wächst sich recht sauber aus. Sie als Küchenmädchen zum Wirt geben,
+oder gar zu einem Bauer in die Arbeit? Nein. Das Mädchen hat bessere
+Aussichten. Ein Baron war da, ein Tourist, der sagte, das Kind müsse
+in die Stadt, da könne es sein Glück machen. Da erinnert sich der
+umsichtige Vater sofort an gelesene oder gehörte Fälle, wo arme aber
+hübsche Mädchen auch in der Stadt ihr Glück -- bisweilen sogar ein
+unglaublich großes Glück gemacht haben. Der Herr Baron erklärt sich
+bereit, für das Kind eine Stellung ausfindig zu machen, einstweilen
+könne es in seinem eigenen Hause wohnen. -- Also doch gute Leute, und
+Herr v. Florin sagt, Glück habe er niemalen viel gehabt, aber gute
+Menschen habe er immer gefunden, überhaupt habe es den Anschein, daß
+sich sein Glück erst bei seinen Kindern einstellen werde.
+
+Er läßt das Mädchen fort und nun -- sind die Kinder versorgt. Sie
+sind's zwar nicht, aber Florin ist gewohnt, alles so auszulegen, wie es
+am schönsten klingt. Sein Stolz ist, wenn er erzählen kann: Der Sohn
+studiert auf einen Doktor, die Tochter ist beim Herrn Baron.
+
+Florin beginnt zu altern, aber er hat noch einen Plan, das ist der
+einzige, den er in seinem Leben durchgeführt hätte, ~wenn~ er ihn
+durchgeführt hätte. Er kann singen, versteht sich auf Saitenspiel, hat
+die Gabe, zu unterhalten; er will fahrender Musiker werden. Das ist
+gar nicht dumm, das ist der erste Schritt zum Mitgliede eines größeren
+Kunstinstitutes.
+
+Das Mißgeschick ließ es aber nicht dazu kommen. Überhaupt, das
+Mißgeschick! Nun sitzt er viel in den Schänken herum und setzt sich zu
+dem, der just da ist und hebt einen flotten Diskurs an und läßt Possen
+los und will fortgehen. Die Leute sind warm, da darf der Herr von
+Florin nicht fortgehen, sie lassen ihm Wein bringen. Das Wasser, das er
+zum Wein gießt, hält ihn noch aufrecht. Aber beim Branntwein, da ....
+
+Der Branntwein tut das seine und es gibt einflußreiche Leute in der
+Gemeinde, die behaupten, für den alten Florin wäre es am besten, wenn
+man ihn ins Armenhaus täte.
+
+Der ~alte~ Florin?
+
+Ja, es ist wahr, er ist grau, er sieht verfallen aus. Wenn er sich nur
+öfters ein Stück Fleisch gönnen könnte! Warum sollen denn seine Kinder,
+denen es in der Stadt gut geht, nichts für den Vater tun? Keines läßt
+was von sich hören.
+
+Nun wird in die Stadt geschrieben. Es kommt eine Antwort; sie ist
+von fremder Hand und berichtet, daß der Sohn vor längerer Zeit wegen
+Bauernfängerei eingezogen, später wieder freigelassen und seitdem
+verschollen sei.
+
+Herr v. Florin erschrickt zuerst, dann aber lächelt er, denn er glaubt
+es nicht.
+
+Aufgefordert, schreibt auch die Tochter, sie sei nicht beim Herrn
+Baron, aber sie wolle ihren Eltern nicht mehr unter die Augen treten.
+
+Herr Florin schüttelt den Kopf -- er kann es nicht verstehen.
+
+Und so rinnt die Zeit hin, von Tag zu Tag mit steigender
+Geschwindigkeit -- wie es im Alter schon geht. Der Florin sitzt auf
+der Gartenbank des Armenhauses und schaut den Bienen zu. Einer, der
+vorbeigeht, denkt sich: Ja, alter Florin, du hättest den Bienen früher
+zuschauen und dir an ihnen ein Beispiel nehmen sollen. Du hast dich
+deines ehrlichen Gewerbes geschämt, hast es verlassen und verleugnet.
+Hast hingeflunkert, hast hergeflunkert, dein spitzfindiges Spintisieren
+und deine hohle Schlauheit hat dich auf die Holzbank vor dem Armenhaus
+gebracht. Und wenn jetzt von den fremden Herren, denen du gefällig
+warst, von den hochgestellten Freunden, die dir geschmeichelt haben,
+einer hier vorbeigeht, so wird er dich nicht kennen, und kennt er
+dich, vielleicht sein Haupt wegwenden und in sich hineinmurmeln: Ei,
+das ist ja dieser Schwätzer, dieser Fex, dieser -- er hat allerlei
+Namen zur Auswahl. Er ist bald vorüber. Ich aber bin der, welcher dir
+einst vielleicht den Rat gegeben hat: bleibe deinem Gewerbe treu und
+arbeite! Ich gehe nicht an dir vorbei, ich frage dich: »Wie geht es
+dir, alter Florin?«
+
+Er schrickt auf. »Danke, danke,« sagt er, »so weit gut, recht gut. Dank
+der Nachfrage!«
+
+Eine solche Zufriedenheit auf dieser Bank verdient doch einen Zehner.
+»Da, Alter, kannst damit nichts mehr verderben -- gönne dir ein Glas
+auf mein Wohl!«
+
+O, im Glase, das er nun trinkt, ist mehr d'rin, als der Spender
+ahnt, der Florin -- der Herr Franz von Florin ist Bürgermeister,
+Touristenvater, Abgeordneter, Regierungsrat, Schöpfer und Ordner aller
+politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse des
+Landes.
+
+Um einen Silberzehner! In der Tat, billiger kann man das Glück nicht
+haben. -- Und überhaupt das Glück ....
+
+
+
+
+ Der Steinschädel.
+
+
+Es war ein so prächtiges Bauerngut gewesen. Voreh'! Voreh'!
+
+Dann wurde es anders. Der Hinterberger zahlte keine Steuern. Und
+doch war er der Besitzer und Nutznießer aller Grundstücke, die den
+Hinterberg einhüllten und die sich fast herab ins Tal der Lansa
+erstreckten.
+
+Der Hinterberger war nichts weniger als glaubselig. Was in den Büchern
+stand, von dem meinte er, das Papier wäre geduldig und man könne
+d'rauf drucken, was man wolle. Was auf der Kanzel gepredigt wurde,
+von dem hatte er eine nicht viel bessere Meinung: reden ließe sich
+alles, was man reden wolle, und man wolle gerade das reden, was zu
+eigenem Vorteile wäre. Gegen die Meinungen der Nachbarn und den Rat der
+Verwandten war er nicht minder verstockt -- der Steinschädel wurde er
+geheißen.
+
+Da kam im Jahre 1848 einer jener Wanderprediger, wovon manche
+vernünftig, viele aber Narren gewesen sind. Und dieser Mann predigte,
+daß der Bauer von nun an freier Herr seines Grund und Bodens wäre und
+also keine Steuern und Abgaben mehr zu entrichten brauche.
+
+Keine Steuern und Abgaben mehr! Das glaubte der Hinterberger aufs Wort.
+Das leuchtete ihm ein; denn was mein ist, davon bin ich keinem Menschen
+was schuldig. Zudem stand's ja auch in den »Herrschaftsbriefen«, er
+bekam ein- für allemal die Papiere über die Grundablösung -- und nun
+war er ein freier Mann im freien Staate.
+
+Er zahlte keine Steuern mehr, blieb aber trotz aller Behörden Besitzer
+und Nutznießer des ganzen Hinterberges. Die Behörden zwangen ihn auch
+nicht -- sie ließen ihm bloß das Vieh aus dem Stalle und das Getreide
+von der Scheune führen und deckten damit die Steuern und die Unkosten,
+die aus solchem Gebaren erwuchsen.
+
+Da schrie der Hinterberger freilich auf, man täte ihm kreuzunrecht, und
+der Staat, der verpflichtet sei, Hab' und Gut seiner Bürger gegen Raub
+zu schützen, sei selber der Schelm ...
+
+Zu den Advokaten ging er und suchte Gerechtigkeit, wie er sie dachte.
+
+»Ja, Bauer, das ist nicht so!« sagten die Advokaten.
+
+»Warum ist das nicht so?«
+
+»Ihr sagt ja selbst, daß Ihr den Schutz des Staates erwartet -- wollt
+Ihr den umsonst haben?«
+
+»Ich? Den Schutz des Staates? Wozu? Können mir meine Felder gestohlen
+werden? Kann mir mein Wald von Räubern umgehauen werden über Nacht? He?«
+
+»Aber in Eure Wohnung kann man einbrechen, mißhandeln kann man Euch und
+das Haus über dem Kopf anzünden.«
+
+»Freilich,« rief der Hinterberger, »wer's will und stark genug ist, der
+tut's, bricht in meine Wohnung, schlagt mich tot, zündet mir das Haus
+an. Bis Eure Polizei hinaufkommt auf den Hinterberg, ist alles vorbei.
+Wenn ich selber kein Gewehr im Haus hab', so bin ich hin. Jetzt möcht'
+ich wissen, wofür ich Steuern zahlen soll!«
+
+»So wollt Ihr dem Staate entsagen, Hinterberger? Glaubt Ihr, daß Ihr
+allein bestehen könnt? Habt Ihr alles auf Eurem Grund, was Ihr zum
+Lebensunterhalte braucht? Seid Ihr nicht angewiesen, die überschüssigen
+Früchte Eurer Felder zu vertauschen, zu verkaufen, um anderen Bedarf,
+der bei Euch auf dem Hinterberge nicht wächst, einzulösen?«
+
+»Ich?« fragte der Bauer, »nein. Wir Hinterberger Bauern sind auf
+ein solches Austauschen nicht angewiesen, aber Ihr Herrenleut' seid
+es. Ihr sollt froh sein, wenn wir Euch das Korn und das Rindfleisch
+~verkaufen~. Freilich kommt Ihr billiger dazu, wenn Ihr mir's mit
+Gewalt wegnehmt.«
+
+Das war die Logik des Hinterbergers. Und die Advokaten, die sonst jeden
+Prozeß der Klienten mit Zuversicht auf sich zu nehmen pflegen, ließen
+ihn im Stich -- alle. Der Bauer fand's ja erklärlich -- sie halten all'
+zusammen.
+
+Die Nachbarn sagten ihm: »Sei gescheit, Hinterberger!«
+
+Er antwortete: »Oh, ich bin gescheit genug, aber ihr seid dumm. Tätet
+ihr mit mir halten, durchsetzen wollten wir's! Aber einer allein? ...
+Und doch geb' ich nicht auf, was mein ist, davon zahl' ich nichts weg!«
+
+So ging es fort. Alljährlich war dasselbe. Zuerst kam der Bote mit
+der Aufforderung zum Steuerzahlen, dann kam die Drohung, dann kam die
+Pfändung.
+
+Und hierauf saß der Mann traurig vor seiner Haustür und murmelte:
+»Jetzt sind wieder die Schelme dagewesen.«
+
+Er hatte Weib und Kinder. Die Kinder verwahrlosten, das Weib verkam.
+Dem weinenden Weibe drückte der Gerichtsmann gutmütig die Hand und
+bat um Verzeihung, daß er seine Pflicht tun müsse. -- Als die Knaben
+heranwuchsen, kannten sie nur eine Ungerechtigkeit auf der Welt: das
+Gesetz, und nur einen Feind: den Steuerbeamten.
+
+Der Gerichtsbote weigerte sich, in den Hinterbergerhof hinaufzugehen;
+die Knaben empfingen ihn mit Steinwürfen, der Bauer tat sein altes
+Schußgewehr zurecht. »Jeden Schelm, der in mein Haus kommt, schieß' ich
+nieder.«
+
+Da mußte er's erfahren, daß das Gesetz noch ungerechter sein konnte,
+als bloß Hab' und Gut wegzunehmen, daß es auch die persönliche
+Freiheit vernichten konnte. Zwei Standarn (Gendarmen) kamen und
+reckten zur Tür die Gewehrläufe mit den Bajonetten hinein. Das Weib
+des Hinterbergers kreischte auf -- ~solche~ Räuber waren noch nie
+dagewesen. Der Mann sagte gleichgültig: »Ein dummer Kerl müßt' ich
+sein, wenn ich mich jetzt wehren wollt'. Da habt's mich, schleppt's
+mich mit, bringt's mich um!«
+
+Er saß wochenlang im Arrest. Er machte dort Bekanntschaft mit anderen,
+die mit dem Gesetze ebenfalls im Kriege lebten. Der »Steinschädel« war
+sonst ein Feind des Lernens, weil er ja ohnehin alles wußte und weil
+Fremdes seiner Überzeugung stets entgegen war. Aber im Arrest -- das
+gestand er sich -- war manches zu profitieren. Die Genossen waren reich
+an Erfahrungen und hatten neue Ideen. -- Entweder der Mensch hat sein
+Eigentum für seine Person, dann muß der Mensch dieses Eigentum fest
+zusammenhalten, und keiner hat das Recht, davon zu nehmen. Oder der
+Mensch hat kein Eigentum, alles ist gemeinschaftlich, gut, nachher muß
+aber der Reichtum so verteilt sein, daß jeder gleich viel hat. Nachher
+hat jeder Sachen genug, nachher gibt es keinen Armen mehr.
+
+Der Hinterberger hatte sein Lebtag noch keinen Menschen so gescheit
+sprechen gehört als den arretierten Tischlergehilfen, der obiges
+erörterte. Entweder so oder so! -- Aber Steuerzahlen, das ist nicht so
+und nicht so und hat keinen Sinn.
+
+Als der Hinterberger endlich vom Gefängnisse entlassen nach Hause
+kam, fand er das Elend noch größer. Die letzte Kuh war aus dem Stall
+gepfändet; das Weib lag krank auf dem Stroh und die Kinder balgten sich
+um die letzte Brotkrume. Zu den Nachbarn war sein Weg, daß sie ihm
+hülfen. Sie lachten ihn aus: »Du Narr, du bist selber schuld. Hättest
+nur etliche Bäume aus deinem Wald verkauft und die Steuerschulden wären
+gedeckt gewesen.«
+
+»Die Steuer-~Schulden~? Wieso Schulden?«
+
+»Ja glaubst denn, Nachbar, du kommst auf, gegen die Weltordnung?«
+
+»Ich weiß es, daß ich zugrunde gehe, aber ich weiß es auch, daß ich
+recht habe, und das ist ein ganz anderes Recht als jenes, so in euern
+Gesetzbüchern steht. Und es wird kommen, daß kein Mensch mehr Steuern
+zahlt, als etwa der Pächter. Ja, da möcht' ich leben.«
+
+Es kam die Zeit heran, da der älteste Sohn des Hinterbergers
+militärpflichtig wurde. Das wird wieder einen Sturm geben mit dem
+Alten, meinten die Leute. Aber siehe, der Bauer hatte kein Wort dagegen
+und ermahnte noch den Burschen, seinen Vorgesetzten zu gehorchen und
+ein tapferer Beschützer des Vaterlandes zu sein.
+
+Die Behörde hatte mit ihm so viel Nachsicht als möglich. Der Pfarrer
+besuchte ihn einmal und suchte ihn mit Vernunftgründen zu bekehren.
+»Hochwürden« sprach der Bauer rundweg, »wenn Er vom Himmel und Hölle
+predigt, da hört man Ihm gern zu; wenn er anstatt Saufen und Raufen
+das Beten und Almosengeben aufbringen will, so hat's auch noch seinen
+Schick, aber vom Steuerzahlen -- mit Verlaub -- versteht Er gar nichts.«
+
+Da stieg der Oberamtmann selber einmal hinauf gegen den Hinterberg mit
+der Absicht und der festen Überzeugung, den närrischen Kauz mit Güte
+zu bekehren. Er kam eher zurück, als er sich gedacht hatte, kam sehr
+aufgeregt zurück und gab Befehl, gegen diesen wilden Menschen auf dem
+Berge nicht die geringste Rücksicht mehr walten zu lassen. Was ihm
+passiert war, ist nicht offenbar worden.
+
+Nun pfändeten sie dem Hinterberger den schwanken Tisch und den
+wurmstichigen Kasten, so daß die wenigen Habseligkeiten hingeworfen
+lagen auf dem morschen Fußboden. Elend sah es aus im Hause, und die
+erwachsenen Jungen lungerten arbeits- und zuchtlos draußen in den
+Weiten herum und aßen ihr Brot, wo und wie sie es fanden. Eines Tages
+wurden zwei davon als Wildschützen eingefangen.
+
+»Ist nicht in Ordnung das!« meinte der Alte, »nur abstrafen, ist schon
+recht, nur abstrafen!«
+
+»Dann muß man auch dich mitabstrafen,« rief ein Nachbar, »wie du
+deine Kinder hast gebogen, so sind sie erzogen. Darf man ein Gesetz
+überschreiten, warum nicht auch zwei, warum nicht auch das dritte,
+wenn's gelegen ist, warum nicht alle?«
+
+Mit der armen Hinterbergerin hatte es endlich ein Ende. Ihr letztes
+Wort im Sterben war gewesen: »Gott Lob und Dank!«
+
+Die Leichenkosten bezahlte er willig und bar. Aber als die
+Verlassenschaftsgebühren zu erlegen waren, fluchte er: »Der Tod auch
+besteuert? Auch mit ~dem~ machen sie noch ein Geschäft? Verdammt!«
+
+Eines Montagmorgens war die ganze Gegend in Aufregung. In der Lansa
+war ein junger Bursche erschlagen gefunden worden. Ein Raufhandel war
+in der Nacht gewesen. Am nächsten Tage kehrte der jüngste Sohn des
+Hinterbergers nicht ins Haus zurück. Dafür kam die Botschaft, der
+Hinterberger möge mit dem Mittagessen nicht auf sein Bürschl warten,
+dasselbe käme heute nicht heim, käme vielleicht auch morgen nicht,
+käme vielleicht viele Jahre lang nicht -- die Standarm hätten ihn mit
+sich genommen, weil er einen blutigen Rockärmling gehabt habe. Und
+einen blutigen Ärmling habe er gehabt, weil er den Sager-Urb umgebracht
+hätte.
+
+»Was hätte er?« fragte der Hinterberger.
+
+»Den Sager-Urb hat er umgebracht.«
+
+»Wer?«
+
+»Dein Bürschl -- dein Hans.«
+
+Da legte der Alte die Hand ans Ohr, daß sie die Schallwellen
+hineinleite und sagte leise: »Jetzt muß ich noch einmal fragen, wie
+du's meinst!«
+
+Und der Bote antwortete eben noch einmal.
+
+Jetzt nannte der Alte den Boten eine Bestie.
+
+Aber solcher Bestien waren mehr. Keiner hat es zwar gesehen, daß
+der Hinterberger-Hans den Sager-Urb erschlagen und in die Lansa
+geworfen hatte, doch jeder war davon überzeugt. Beim Lindenwirt
+waren sie des Abends zusammen gewesen, es wurde getrunken, gesungen,
+gezankt und gerauft. Der Metzger Pankraz hetzte, der Urb gab dem
+Hans einen Schlag auf die Wange und nannte ihn einen Strolchen von
+der Hinterberger-Höhlen, von der seit Jahren schon kein braver
+Mensch mehr herausgegangen sei, weil keiner hineingehe. Auch eine
+Wilderergeschichte war dabei und einer Liebschaft wegen ging es her.
+Der Hans war so wütend, daß er das Ofengeländer zerriß, um mit der
+Holzlatte den Urban niederzuschlagen, hätten ihn nicht mehrere Männer
+davon abgehalten. Nun ging er in die Nacht hinaus und kam nicht mehr
+zurück. Um Mitternacht steckte der Urb seine große Brieftasche ein und
+verließ das Wirtshaus; eine halbe Stunde später war an der Lansa ein
+Schrei.
+
+Und am nächsten Morgen begegneten zwei in die Arbeit gehende Männer dem
+Hinterberger-Hans, der just am Hollerbrunnen Blut von seinem Ärmling
+wusch. Ein paar Stunden später fand man unten an der Hammerwehr den
+toten Sager-Urb, der mehrere Stiche am Halse und an der Brust hatte.
+
+Der Hans wurde als Verbrecher zu Gericht geführt. Er leugnete die Tat,
+die Leute lachten ihm ins Gesicht: Was das Leugnen helfe, wenn alles
+sonnenklar liegt!
+
+»Daß ich beim Nachhausegehen in der Nacht Nasenbluten gehabt, das wird
+mich doch nicht unglücklich machen!«
+
+Man befahl ihm, daß er schweige. --
+
+Der Hinterberger lief zum Gericht: »Den Buben laßt mir aus! Ich
+verpfänd' Haus und Hof für meinen Hans! Er hat nichts getan.«
+
+»Geht, Alter, Haus und Hof habt Ihr nicht mehr zu verpfänden!«
+
+Der Hinterberger schwankte heim zu, da fand er die Türe seines Hauses
+versperrt und versiegelt. -- Seit so vielen Jahren die Steuern
+verweigert, da hat man ihm endlich den Prozeß gemacht.
+
+So lag nun unter dem Schatten der Esche ein Bettelmann. Nein. Er wollte
+nicht betteln, er wollte da liegen bleiben und sterben als ein vom
+Staate Zugrundegerichteter. Aber zwei mitleidige Bauern schleppten ihn
+mit sich. Er blieb dabei, der Hans wäre an dem Morde unschuldig; und
+die Leute blieben dabei: kein anderer hätte den Sager-Urb erschlagen
+als der Hinterberger-Bursch'. Die einen gaben ihm lebenslänglichen
+Kerker, die anderen ließen ihn hängen.
+
+Im Gerichtssaale ging es heiß zu. Und das Urteil wurde gesprochen. --
+Der Hans kehrte aus dem Kriminal zurück und war frei.
+
+Der Alte hatte es nicht glauben können, daß er schuldig sei und konnte
+es jetzt nicht glauben, daß er frei war.
+
+»So hat dich doch der heilige Johannes von Nepomuk gerettet?« Der von
+Nepomuk ist nämlich ein Patron, den man anruft, um eine verlorene Ehre
+wieder zu finden.
+
+»Glaub' nicht, daß er's gewesen ist,« berichtete der Hans, »er hat
+einen schwarzen Frack angehabt. Ein Doktor ist's gewesen, und der hat
+alles genau untersuchen lassen und hat alle Zeugen überwiesen und hat
+nicht eher Ruh' gegeben, bis es ist herausgekommen, daß ich unschuldig
+bin, nachdem sie derweil den richtigen Mörder erwischt haben. Der
+Pankrazl, der Schelm! Wegen Geld. -- So haben sie mich freilassen
+müssen.«
+
+»Und hast nichts Gewisses erfahren, wer der brave Mensch ist gewesen?«
+
+»Nichts Gewisses nicht; den Verteidiger haben sie ihn geheißen und
+haben gesagt, das Gesetz tät' vorschreiben, daß jeder Angeklagte einen
+Verteidiger müßt' haben.«
+
+»Das Gesetz tät's vorschreiben?« fragte der Alte.
+
+War schon der Gemeindevorsteher da und sagte: »Wenn du auch ein Feind
+bist gewesen gegen den Staat und das Gesetz, so hat dich der Staat und
+das Gesetz doch nit verlassen.«
+
+Von dieser Stunde ging der Hinterberger in der Einsamkeit um. Dann ging
+er zur Behörde und fiel nieder auf die Knie: »Meine Herren, tun's mir
+verzeihen!«
+
+
+
+
+ Der Feuermann Balthasar.
+
+
+Das Jahr ist alt geworden. Und der Knabe ist noch so jung. Er steht
+unter dem Birnbaum und schaut zu zu den Zweigen, an welchen die
+Eiszähnchen des Rauhreifes wuchern. Er schaut hinaus über die Heide und
+sieht eine kleine Strecke hin die braunen Birnbaumblätter liegen, und
+hie und da einen Stein oder einen gebrochenen Rispenhalm; dann geht
+alles in den grauen Nebel hinein. Und der Knabe schaut vor sich auf den
+Boden hin und vergräbt seine Füßchen in das froststarre Laub, das vor
+kurzen Monden noch hier oben grünte.
+
+Und dann zieht er mit seinen kleinen hageren Händen das Linnenwämschen
+zurecht, daß es überall langen und wärmen solle, und dann steht er
+unbeweglich und blickt in den Nebel hinaus.
+
+Und sieh, dort im Nebel ist ein kleiner dunkler Punkt, und der wird
+schärfer und größer und löset sich endlich ganz ab von dem Grauen, und
+es ist ein Mensch, der hastig des Weges kommt; ein sorgsam eingemummtes
+Mädchen, wohl ein wenig erwachsener als der Knabe, aber doch lang'
+nicht tausend Wochen alt.
+
+Das Mädchen hält an und sieht auf den Knaben hin:
+
+»Was stehst denn du da?«
+
+»Ich weiß es nicht,« war die zaghafte Antwort.
+
+»Wer bist du denn?«
+
+»Ich bin der Bübi.«
+
+»Wartest du auf wen?«
+
+»Auf den Tati.«
+
+»Du armer Narr, du frierst ja in den Nebel hinein. Mußt du noch lange
+warten?«
+
+Der Kleine sah mit seinen braunen Augen auf. Diese Augen taten dieselbe
+Frage: »Muß ich noch lange warten?«
+
+»So will ich dir ein Feuer machen, daß du dich wärmen kannst, bis der
+Tati kommt.«
+
+Sie zog ihre Hände aus der Schürze und hub an, Reisig zusammenzutragen
+auf einen Haufen, dann tat sie ein Streichhölzchengefäß hervor und dann
+brannte das Holz.
+
+»So, und jetzt stelle dich daran und wärme dich und versenge dein
+Gewand nicht und warte.«
+
+Das Mädchen ging weiter, ging wieder in den Nebel hinein, bis es in
+ihm verschwand. Der Knabe hatte dem Mädchen unverwandt zugeschaut,
+und als es nun nicht mehr zu sehen war, wendete er sein Auge auf den
+Reisighaufen. Da drin knisterte es und die Flämmchen mehrten sich und
+hüpften von einem Ästchen zum andern und strebten empor. Hastig stieg
+der dünne, blaue Rauch auf und verschwamm in dem Nebel. Der Knabe
+blickte in die Flammen. Ganz nahe stand er am Feuer, rührte kein Glied,
+bewegte keine Miene, starrte gleichweg in die Flammen.
+
+Das Feuer prasselte, schlug hoch empor; das Reisig brach ein, die
+Flammen schrumpften zusammen, die Kohlen knisterten milder, glühten
+still, bröckelten und sanken zur Asche in den Boden.
+
+Stunden waren vergangen, und der Knabe blickte mit geröteten Wangen in
+das versterbende Feuer. Er hatte kein abseits gefallenes Ästlein in die
+Glut geschoben, er hatte keine Kohle geschürt; wie das Feuer strebte
+und verging, so ließ er es streben und vergehen. Die letzten Kohlen
+glühten heller und tiefer, denn es hub an zu dunkeln, und der Nebel lag
+dichter und finsterer auf der Heide.
+
+Seit dem Mädchen war kein Mensch mehr gekommen und gegangen; der Knabe
+hatte nach keinem ausgeblickt. Es war, als wollte er so stehen bleiben
+durch den Abend, durch die lange Nacht und immer.
+
+Als es schon sehr dunkelte, kam von jener Seite, in die das Mädchen
+hingegangen, ein Knarren und Ächzen heran. Es war ein Fuhrwerk; zwei
+Rinder zogen einen Wagen, auf dem ein Mann saß, der Tabak rauchte. Als
+er den Knaben sah, rief er: »Ho, oha!« Da blieben die Ochsen stehen und
+nun fragte der Fuhrmann, wie vor Stunden das Mädchen gefragt hatte:
+»Was stehst denn du da? Wer bist? Auf wen wartest du so spät in der
+Weite?«
+
+»Auf den Tati.«
+
+»Auf deinen Vater? Wo ist er denn hingegangen?«
+
+»Der ist auf die Kirmes gegangen.«
+
+»Sprich die Wahrheit, Kleiner! Heute gibt es weit und breit herum keine
+Kirmes.«
+
+»Auf der Kirmes hat er Musik gemacht bis in die späte Nacht, und
+jetzunder ist er noch nicht zurückgekommen.«
+
+»Alle Heiligen!« ruft der Mann, »das war ja der Musikant, den es vor
+drei Tagen in Ottenkirch auf der Kirchweih getroffen hat! Kleiner, das
+Warten ist nichts. Komm' zu mir auf den Wagen.«
+
+Jetzt wurde der Knabe verwirrt, aber er kletterte mit Hilfe des Mannes
+auf den Karren und setzte sich auf das Stroh. Hierauf taten sie eine
+härene Decke über ihre Glieder und der Mann rief »Hie jetzt!« und der
+Wagen hub an zu knarren. Sie fuhren durch Nacht und Nebel über die
+Heide. Der Knabe antwortete kaum auf die Fragen seines Schirmers,
+sondern starrte fast unverwandt in das Glimmen der Pfeife, aus der
+jener den Rauch sog. -- --
+
+Seit diesem Tage waren ungezählte Tage vergangen. Der Knabe von
+der Heide war erwachsen und ein wohlgebildeter Jüngling geworden.
+Jener Fuhrmann war ein Schmiedmeister gewesen und hatte den kleinen
+Balthasar in seinem Handwerke erziehen wollen. Aber das ging nicht, der
+sonst so fleißige Bursche starrte fortweg in die sprühende Esse oder
+blickte träumerisch das glühende Eisen an, statt auf dasselbe frisch
+loszuhämmern. »Junger Mann, das Eisen muß man schmieden, solange es
+warm ist!« sagte hierauf der Meister eines Tages und riet dann dem
+Burschen, er möge es einmal anderswo versuchen.
+
+Balthasar kam in einen Pachthof. Das war ein flinkes Arbeiten auf
+dem Felde und im Obstgarten; aber des Abends, wenn andere im Freien
+herumstreiften, scherzten und mit den Weibsleuten schäkerten, saß der
+Balthasar am Herd und sah den Flammen zu.
+
+»Balthasar,« sagte nun der Pächter einmal, »was schaust du so drein und
+bist nicht lustig wie die andern?«
+
+Da blickte der Bursche auf: »Ich? Warum sollt' ich denn nicht lustig
+sein? mir geht es gut.« Sein Auge sank wieder der Glut des Herdes zu
+und das Antlitz des Jünglings sah nicht betrübt.
+
+»Wenn ich nur wüßte,« rief der Pächter, »was um des Himmelswillen da in
+der Aschengrube drin zu sehen ist.«
+
+Jetzt hob der Balthasar wieder sein Haupt und sagte die Worte: »Ich
+weiß auf der Welt nichts Schöneres.«
+
+Der Pächter schwieg eine Weile und starrte auch in die Flamme, aber
+nur im Sinnen, was er auf die Worte entgegnen sollte. Und endlich
+entgegnete er: »Wärst du sonst nicht so bündig und findig, man müßte
+hell meinen, du bist ein Narr!«
+
+Und der Pächter ging davon. Der Balthasar aber blieb sitzen am Herde
+und murmelte in die Glut hinein: »Allmiteinander wissen sie es nicht,
+wer das Feuer hat angezündet. Mädchen, dich will ich nicht verraten,
+aber du bist so schön und so gut wie das Licht.«
+
+Balthasar konnte gar flink und heiter sein; viel öfter aber verlor
+er sich in stilles Sinnen und Träumen. -- Ich weiß nicht woher, aber
+sie ist gekommen und hat mir das Feuer gemacht auf der Heide, daß ich
+Waisenkind nicht bin erfroren. Und sie ist wieder gegangen, ich weiß
+nicht wohin. Mir schwant, ich soll sie nimmermehr sehen. Aber in den
+Flammen, da ist sie bei mir.
+
+Sie haben es nicht geahnt, welche Art von Frömmigkeit es war, wenn
+Balthasar am Sonntag in der Kirche sein Auge vom Altar nicht abwendete,
+bis die letzte Kerze verloschen.
+
+Eines Tages brannte das Armenhaus; ein Kind war in Lebensgefahr.
+Balthasar brach lustig durch die Flammen und befreite das Kind.
+
+»Der ist der Prophet Daniel oder der Teufel,« sagten die Leute.
+
+»Ei, das ist ja der Narr, der die schönsten Weiber übersieht und mit
+der Herdglut liebäugelt; dem tut kein Funke was, das ist der Feuermann!«
+
+Der Feuermann! Dieser Name ist dem Burschen geblieben, und in diesem
+Namen war es ihm, als sei er mit dem Feuer, dem Sinnbilde seines
+Glückes, getraut und vermählt.
+
+Stiller und verschlossener wurde der Balthasar; teils schwermütige,
+teils heitere Schwärmerei webte in ihm; er lebte in vergangenen Zeiten.
+Seine Vergangenheit, sonst so arm und dunkel und frostigkalt, hatte
+einen leuchtenden Stern. Die Mitmenschen spotteten seiner, da wendete
+er sich noch mehr von ihnen ab und noch mehr der Flamme zu. Fast
+unheimlich war es, wie er an Feuerstätten des Herdes oder des Waldes
+saß, und dem wunderbaren ewigen Rätsel des Flammenlebens zusah und
+darüber alles andere vergaß. Zuletzt wurde Balthasars Auge so geübt,
+daß er selbst in die Sonne hineinblicken konnte, wenn er auf dem Felde
+lag. Hingegen zogen sich nach und nach alle anderen Gegenstände von
+seinem Auge ab und verschwammen zitternd und unsicher in Dämmerung.
+Endlich hatte die Flamme wahrhaftig gesiegt. Eines Tages war Balthasar
+erblindet.
+
+Jetzt waren genug Leute da, die behaupteten, so hätten sie es
+vorausgesehen, und so hätte es kommen müssen. Und früher war kein
+einziger gewesen, der dem seelenkranken Burschen das zehrende Feuer zu
+mildern gesucht hätte durch die Wärme eines verstehenden Herzens.
+
+Balthasar aber saß nun stets auf der Bank vor dem neugebauten
+Armenhause und wendete das Antlitz ruhig hinaus gegen das Weite. Er
+war's zufrieden. Von allen lichtlosen Dingen der Erde verlangte ihm
+nichts zu sehen, und die Flamme hatte er, schaute er noch immer mit
+seinem Auge. »Wie schön hell sie leuchtet!« lispelte er zuweilen vor
+sich hin; und ein anderesmal wieder war er betrübt und murmelte: »Weh',
+heut' ist sie matt. Wenn sie verlischt! Balthasar, wenn du erblindest!«
+Er wußte es kaum, daß er längst erblindet war, daß er keine Blume und
+keines Menschen Angesicht und in Wahrheit keinen einzigen Lichtfunken
+mehr sah. Sein Sehnerv träumte nur noch von dem Flammenreiche, in dem
+er seit Kindestagen gewandelt war.
+
+Manches lange, einsame Jahr hatte die Sonne seitdem erweckt und
+versenkt. Da kam wieder einmal die Kirchweih in Ottenkirch.
+
+»Balthasar,« sagte der Ortsrichter zu dem Blinden, der auf der Bank
+des Armenhauses saß, »dein Vater hat auf der Ottenkircher Kirmes
+musiziert, so magst du wohl auch auf diese Kirmes gehen, auf daß du
+kleine Gaben für dich sammelst.«
+
+»Wohl, wohl,« sagte Balthasar.
+
+Und am Morgen der Kirchweih lächelte Balthasar vergnügt bei sich. --
+Er wird Glück haben bei seinem Gabensammeln, die Flamme, die er stetig
+sieht, brennt heute hell. -- Ein Knabe führte ihn nach Ottenkirch und
+dort, wo am Beginne des Dorfes das Kreuz steht, ließ er den Blinden
+hinsitzen auf den reiftauigen Rasen und ging davon. Balthasar fühlte
+den Frost und den Nebel wie einst auf der Heide, aber er hörte die
+Kirchenglocken und die Schritte und das Plaudern und das Lachen der
+Leute, die vorübergingen. Die Leute sahen den Blinden nicht, oder
+gedachten auf dem Rückweg ihm das Almosen zu reichen. -- Auch Musik
+hörte Balthasar von den Häusern her; ihm war, als ob sein Vater geigte.
+Die Flamme flackerte vor seinem Auge, als ob ein Sturmwind ginge.
+
+Zwei übermütige junge Herren in feinen Tuchröcken und Seidenhüten kamen
+des Weges.
+
+»Ei, schau,« sagte der eine, »da sitzt ein armer Blinder, dem müssen
+wir ein Almosen reichen!« und warf ein schweres Stück in den Hut.
+
+»Vergelt's euch Gott!« rief Balthasar, und tastete nach der Gabe;
+»Herr,« sagte er dann, »das ist ein Kieselstein. Und man kann daraus
+Funken schlagen. Vergelt's Euch Gott!«
+
+Die jungen Herren gingen lachend weiter, gingen in das Dorf. Sie riefen
+jedem Krämer einen scharfen Spott zu. Vor der bekränzten Kirchentür saß
+ein Weib und bot Obst feil. Das Weib war nicht alt, aber auffallend
+häßlich geartet im Antlitze, bis auf die großen schönen Augen.
+
+»Ei,« rief einer der beiden jungen Herren und hob einen Apfel aus dem
+Korb; »sind diese Äpfel aus jenem Urwalde, in welchem deine Eltern auf
+den Bäumen herumgeklettert?«
+
+Die Obstverkäuferin erschrak. Wohl mochte sie gewohnt sein, ihrer
+Häßlichkeit wegen manchen Spott zu verwinden, aber diesmal ging's ihre
+Eltern an -- das grub wild.
+
+Die Obstverkäuferin war im Herzen verletzt, sie nahm den Korb und ging
+davon, ehe das Fest noch recht anhub.
+
+Als sie vor das Dorf hinauskam, sah sie den Bettler. Sie blieb stehen
+und blickte eine Weile auf die Züge des Mannes, der noch fast jung
+war und ein solches Schicksal hatte. Der ist zu gut, um vor der rohen
+Menge zu betteln, dachte sie, und dann, indem sie ein Geldstück aus der
+Tasche zog, sagte sie: »Armer Mann, was willst denn du da?«
+
+Kaum den Ton der Worte vernehmend, springt Balthasar auf, tastet mit
+den bebenden Händen und stöhnt: »Mädchen, Mädchen, du -- du bist es,
+die mir das Feuer hat angezündet! -- O, ich kenne dich, ich sehe dich,
+du schöner, du guter Engel! Bleib' nur ein wenig, bleib' bei mir!«
+
+Das Mädchen setzte den Korb ab und suchte den erregten Mann zu
+beruhigen. »Weißt du's nimmer!« rief Balthasar mit freudeglühenden
+Wangen, »es ist Herbst gewesen; der Waisenknabe ist gestanden auf der
+Heide, zum Erfrieren. Dann bist du gekommen und hast das Feuer gemacht.
+Du mußt es wissen, das Feuer brennt ja noch.«
+
+Die Obstverkäuferin hat dem blinden Manne das bereitete Geldstück nicht
+gegeben; sie hat den armen Balthasar mitgenommen, am Arm geführt und
+zuletzt auf einem Wagen heimgebracht in den Wohlstand und den Frieden
+ihres Hauses.
+
+Er wußte seine Blindheit nicht, er sah das Herrlichste, was man sehen
+kann, die Schönheit einer guten Seele.
+
+
+
+
+ Herr Meyer, der Belehrende.
+
+
+Michel war von väterlicher Seite ein geborener Meyer, von mütterlicher
+Seite ein geborener Sonderling. Sein Vater war Landwirt im oberen
+Ennstale; seine Mutter war die Landwirtin dazu. Sie waren vom Haus aus
+lutherische Leut', und die Frau trug -- so ging die böse Mär -- unter
+ihrem letzten innersten Brustfleck ein Amulett, ein kleines Bild des
+großen Tintenkleckses, welchen Luther erzeugte, als er sein Tintenfaß
+dem Teufel an den Schädel geschleudert hatte. Der Meyerin liebster
+Wandel war, daß sie umherging, um die Nachbarn zur reinen christlichen
+Lehre zu bekehren. Das gelang ihr nur bei einigen von denen, die
+ihr Geld oder Butter schuldig waren, die andern blieben verstockte
+Katholiken. Da wurde der Meyerin eines Tages gesagt: »Du scher' dich
+nicht um fremder Leut' Glauben und schau einmal, wie's dein Michel
+treibt, der glaubt nichts Katholisches und nichts Lutherisches; Heid
+ist er keiner, Jud ist er keiner. Dein Michel ist gar nichts.«
+
+Ihr Michel, der war seit seiner Kindheit in der Stadt und hätte die
+Gottesgelehrtheit studieren sollen. Aber weil er alles wissen wollte,
+so studierte er auch andere Gelehrtheiten. Und als ihrer solche immer
+mehr wurden und im Gehirne des Jünglings kräftig aufwuchsen, so fielen
+sie über die arme Gottesgelehrtheit her und fraßen sie auf. Und der
+Michel Meyer war auf einmal ein Weltgelehrter; er blickte in das Wesen
+der Dinge ein, aber von Muttern blieben die Gelder aus -- denn die
+Gelder waren lutherisch.
+
+Hingegen hatte der Vater, der alte Meyer, etwas Konfessionsloses in
+seinem Kasten, und das half dem Studiosus recht christlich über Zeiten
+hinaus, die sonst schwer gewesen sein würden.
+
+Der Michel aber war kein regelmäßiger Studiosus, der nach regelmäßigen
+Rigorosen und Kommersen ein regelmäßiger Professor wird. Ihm war die
+Wissenschaft mehr als ein Handwerk, das sonst mit allen Vorurteilen
+einer alten Zunft ausgeübt wird. Und doch steckte in dem Michel dickes
+Schulmeisterblut. Die Wissenschaften, die er eingesogen, die in ihm
+großgewachsen waren, wollten ihn nun fast zersprengen, und schier, wo
+er stand und ging, explodierte sein Gehirn. Das heißt, wo er stand
+und ging, dozierte er; ja noch mehr, schon des Morgens, wenn er noch
+im Bette lag und die alte Haushälterin mit dem Frühstück in die Stube
+trat, tat er derselben dar, wieso es eigentlich komme, daß das Glas
+schwitzt, wenn es mit frischem Wasser vom Brunnen kommt, und wie das
+mit dem Wetter zusammenhänge, so daß an einem schwitzenden Glase die
+Beständigkeit der schönen Witterung vorausgesagt werden könne. Auch
+machte er die Alte oftmals darauf aufmerksam, daß der Kaffee in der
+Schale ein vorzüglicher Barometer sei. »Wenn sich in der Schale jetzt
+der Zucker, den ich hineingeworfen habe, aufgelöst, so werden Sie
+sehen, daß auf der Oberfläche ein Schaum entsteht; steht dieser Schaum
+in der Mitte, so hält das schöne Wetter an, legt er sich aber an den
+Rand, so haben wir bald Regen. Sehen Sie, er steht in der Mitte! --
+Das ist merkwürdig, nicht wahr? Nun hören Sie, jetzt will ich Ihnen
+erklären, wie das kommt.«
+
+Die Haushälterin machte sich stets beizeiten aus dem Staube, der noch
+nicht aufgewischt war; sie bewunderte die Weisheit ihres Zimmerherrn,
+aber sie verstand nichts von dem, was er erklärte. Sie glaube es schon
+auch ohne Erläuterung, meinte sie, und sie sei halt so viel eine
+einfache Person.
+
+Der Herr Meyer aber benützte fleißig das schöne Wetter, das ihm
+von seinem Kaffee vorausgesagt worden war, und ging hinaus in die
+freie Natur zu den schlichten Landleuten, um sie zu unterweisen und
+aufzuklären. Denn »in der Dorfschule lernen sie nichts und auf die
+Universität gehen sie nicht; aber eines jeden Gebildeten Pflicht ist
+es, sie aus der ägyptischen Finsternis herauszuführen«. -- So der
+Grundsatz des braven Michel, der zudem auch Schick hatte, die Dinge
+einfach und gemeinverständlich darzutun. Er sprach daher mit dem Bauer
+von der rationellsten Bewirtschaftung der Felder, erklärte, was der
+Humus eigentlich ist, was der Dünger tut, und daß der Regen nicht
+unmittelbar als Wasser auf den Boden wirkt, sondern als Lösungsmittel,
+welches die Salze in der Erde auflöst und den Pflanzen also zugänglich
+macht.
+
+Kam er zu einem Hirten auf die Au, so setzte der Michel bei diesem das
+größte Interesse für die Blumen und Kräuter voraus und hielt ihm auf
+der Stelle einen botanischen Vortrag. Und wenn der Hirt davonlief,
+so schüttelte der Michel über einen solch krassen Indifferentismus
+schwermütig den Kopf.
+
+Hingegen war er glücklich, wenn er unterwegs irgendwo einen jener
+grübelnden Handwerksleute traf, die über alles sinnieren, nach allem
+fragen oder im Notfalle auch alles selbst zu erklären wissen. Weiß der
+eine: Ja, so ein winziges Sternl am Himmel ist viel größer, als es uns
+scheint; nur die Entfernung macht es uns so klein, in Wirklichkeit
+ist es gewiß so groß wie ein Eimerfassel. -- Oder aber: Das Erdbeben!
+Da ist halt ein großer Drache in der Erden d'rin, und so oft sich der
+bewegt, schüttelt sich der Boden und das ist das Erdbeben. -- Wieder
+ein anderer berichtet: Ja, jetzt kriegen wir Krieg. Unser Kaiser hat
+seinen Alleröbersten, der nach ihm halt der Höchste ist, zum Türken
+in die Türkei hineingeschickt, und daß er -- der Türk' -- halt sollt'
+Fried' geben und nicht Krieg führen. Und jetzt, da ist der Türk'
+hergegangen und hat dem Kaiser seinen Freund, halt, der nach ihm der
+Alleröberste ist, abschlachten und braten lassen, und hat ihn gebraten
+unserem Kaiser in einer Kisten zurückgeschickt. Deswegen wird jetzt ein
+schauderlicher Krieg anheben. -- Oder: Unsere liebe Frau ist ja wieder
+einem Hirtenmädchen erschienen und hat ihr's vertraut: daß, wenn sich
+die Menschen nicht bekehren, eine solche Hungersnot kommen wird, daß
+die Leut' Brot von gemahlenem Haberstroh essen, und das nicht einmal
+genug haben werden.
+
+Da gab's denn für Herrn Michel Meyer in Hülle und Fülle zu tun. Derlei
+Ansichten und Reden machten ihm das Blut heiß, und mit Eifer suchte er
+sie zu widerlegen und die Wahrheit, wissenschaftlich bewiesen, dafür
+hinzustellen. Nur in einem hätte er selbst belehrt werden sollen,
+nämlich, daß die Seele des Volkes am liebsten von der Phantasie lebt.
+
+Aber der Michel predigte drauflos. Dem erklärte er das Wachstum
+der Bäume; einem anderen bewies er, daß die Erde rund ist wie ein
+Ball; einen Dritten belehrte er über die Natur der Staatsschuld,
+ihre Ursache und Rückwirkung und ihre Notwendigkeit; einem Vierten
+zeigte er mit Kerzenlicht und einem Apfel das Wesen der Sonnen- und
+Mondesfinsternisse; einem weiteren legte er die Eigenarten gewisser
+Steine dar, erläuterte die Anziehungskraft großer Körper oder eine
+andere der physischen Kräfte: den Magnetismus, die Elektrizität.
+
+Häufig fand der Wanderdozent ein geneigtes Ohr, bisweilen sogar ein
+gelehriges -- und da kam eine tiefe Befriedigung in sein Wesen, und
+er sagte sich: Also, endlich geht es doch vorwärts -- ~muß~ es
+vorwärts gehen. Die nächste Generation wird vernünftig sein; vielleicht
+richte ich schon in dieser was aus.
+
+Eines Tages begegnete Herr Meyer einem kropfigen, schnaufenden,
+grinsenden Kretin. Den faßte er liebevoll an der Hand, zog ihn zu
+sich auf eine Bank und sprach vom Kretinismus. Er sagte, daß er --
+der Kretin -- nicht selbst schuld sei an seinem Unglücke, daß die
+Ursache oftmals in den geologischen Verhältnissen, in der Feuchtigkeit
+der Gegend und der Luft, im Trinkwasser und leider auch oft in der
+Erziehung liege.
+
+Der Kretin starrte ihn an, streckte seine langen, dürren Finger nach
+einem Härchen aus, das dem Michel gerade auf der Nasenspitze wuchs und
+grinste. Allein, der Herr Meyer ließ sich nicht irre machen, gab seinem
+Bankgenossen Verhaltungsmaßregeln, was die Lebensweise anlangt: viel
+Bewegung machen, sich von Fleischspeisen nähren, stets auf gesunde
+Luft und Reinlichkeit sehen; dadurch entwickle sich der Körper und die
+Entwickelung des Körpers hätte jene des Geistes zur Folge.
+
+Der Kretin brach in ein röchelndes Lachen aus; denn es hatte sich das
+Härchen auf der Nase bewegt.
+
+Und ein andermal, da sah der Michel auf der Wiese vor einem Haus ein
+Mädchen. Das sang ein schelmisches Liebeslied und begoß einen langen
+Leinwandstreifen, der auf der Wiese zum Bleichen ausgebreitet lag. Der
+Herr Michel sah dem hübschen Wesen eine Weile zu, und aus der Gießkanne
+regnete es hin auf das von der Sonne beschienene Leinwandfach, welches
+ohnehin schon weiß genug schien, um von einer anmutigen Hausfrau
+geglättet und in den Schrank gelegt zu werden.
+
+Eine anmutige Hausfrau! In Ermangelung eines anderen Hörers hatte es
+sich der Herr Michel selbst einmal auf Grundlage seines Charakters und
+Alters sehr folgerichtig bewiesen, daß er eine Hausfrau haben müsse.
+Und als er nun das Mädchen sah, welches das schelmische Liebeslied
+sang und ihn dabei so holdselig anblickte, drängte sich ihm sonder
+jeglichen Beweises die Überzeugung auf: das ist die zukünftige ehr- und
+tugendsame Hausfrau des Herrn Michel Meyer. Er trat daher ganz zu ihr
+hin und sagte: »Tust du Leinwand spritzen, Dirn?«
+
+»Ja, ich tu' Leinwand spritzen, Bub'.«
+
+Das trauliche Bub' machte dem Michel das Herz lebendig.
+
+»Und weißt du wohl, wie das ist, daß die Leinwand durch das Bespritzen
+weiß wird?« fragte er.
+
+»Freilich, weil sie gewaschen wird.«
+
+»Daß sie gewaschen wird,« sagte er, »würde nicht genügen, es muß noch
+die wohltätige Einwirkung der Sonne dazukommen.« Und hierauf erklärte
+er den Einfluß des Lichtes auf die Farbe; und wie die Leinwand noch auf
+anderem, dem chemischen Wege weiß gemacht werden könne.
+
+Das Mädchen hielt die leere Kanne in der Hand, hörte zu und wendete
+kein Auge von dem jungen Manne, der so schön sprach, daß sie nachgerade
+noch weniger davon verstand, als bei der Viehausstellung, wenn der Herr
+Doktor eine Rede hielt, die doch auch immer sehr schön ausfiel.
+
+Und als er seinen Vortrag geendet hatte, sagte sie: »Laß es wohl
+gelten.«
+
+Und er dachte jubelnd bei sich: Das ist ein intelligentes Mädchen!
+Meinem nicht ganz unschwierigen Gedankengang hat sie zu folgen
+vermocht. Sie liebt mich, und die Liebe hebt naturgemäß das Weib zum
+Manne empor -- auch in geistiger Beziehung.
+
+Mit einem sehr höflichen Gruß verließ er die Leinwandbleichende und
+nahm sich vor, am nächsten Tage um dieselbe Zeit wieder an der Stelle
+zu erscheinen. Allein am nächsten Tage war ein anderer da, der das
+Geschäft der Sprenge besorgte -- ein schöner, frischer Landregen. Doch
+wie schon echte Weisheit jedes Hindernis zur Fördernis zu machen weiß,
+so kehrte der Herr Michel heute im Hause ein -- bittend um Obdach. Das
+Mädchen war allein daheim; Vater und Mutter waren auf die Hochzeit
+eines Verwandten gegangen.
+
+»Zum Glücke bist du nicht gegangen,« sagte der Michel, »du wärest doch
+gewiß viel hochzeitlicher wie Vater und Mutter.«
+
+»Ich mag nicht früher auf die Hochzeit gehen, als bis ich selber dabei
+die Braut sein kann,« war die Antwort.
+
+»Da hast du schon recht. Ich mag ebenfalls bei keiner dabei sein, außer
+ich wäre der Bräutigam.«
+
+»Da hat der Herr auch recht.«
+
+»Du Mädel,« versetzte der Michel fast zärtlicher, als es einem Manne
+der Wissenschaft ansteht, »gestern hast du mich ~Bub'~ geheißen.
+Der möchte ich auch heute wieder sein.«
+
+»Man ist nicht alle Tag' zu so Dummheiten aufgelegt. Heut' ist
+Regenwetter, und ich hab' nicht gut ausgeschlafen.«
+
+»Hat dich etwa gar deine Hochzeit nicht mehr schlafen lassen?«
+
+»Die Trud hat mich gedrückt.«
+
+»Der Alp?«
+
+»Ist auf mir gelegen -- ein schauderhaftes Getier, und gemeint hab'
+ich, ich müßt' ersticken.«
+
+»Das ist ja kein Getier gewesen,« lachte der Herr Michel, und dann
+fuhr er ernsthaft fort: »Der Alp oder die Trud, wie Ihr sagt -- auch
+Nachtmahr wird die Erscheinung genannt -- ist weder ein Körper noch
+ein Gespenst, sondern das Produkt einer Atemnot. Das Alpdrücken wird
+erzeugt, wenn auf Mund oder den Nasenöffnungen die Bettdecke, das
+Kissen oder dergleichen zu liegen kommt. Diesen Beschwerden gesellen
+sich sofort beängstigende Träume bei, welche so lange währen, bis
+es dem Schlafenden gelingt, durch eine unwillkürliche Bewegung die
+Respirationsöffnungen wieder zu befreien.«
+
+»Der Herr kann gewiß ein Trudenkreuz machen?« fragte das Mädchen, »aber
+sieben Ecken muß es haben. Mit fünf Ecken kann's der Peter auch, die
+helfen nichts.«
+
+Sie gab ihm ein Stück Kreide in die Hand und führte ihn in die Kammer
+zu ihrem Bette. Es war fein und hoch geschwellt, hatte eine lichtblaue
+Decke mit schneeweißem Linnenüberschlag und ein rosenrotes Kissen.
+
+»Da sollt's halt herkommen, da,« sagte sie und deutete mit der Hand auf
+das Kopfbrett.
+
+»Liebes Kind,« sagte er, »das kann ich nicht tun, weil es den
+Aberglauben befördert, oder wenn du mir lohnst, so zeichne ich dir
+etwas anderes auf die Bettstatt. Doch -- ich muß einen Kuß dafür
+kriegen.«
+
+»Aber na!« lachte sie, »Er ist doch recht ein verliebter Ding!«
+
+»Ich gestehe es dir, Mädchen, ich liebe dich. Ich trete in kurzer Zeit
+eine Professur an und heirate dich, Mädchen, wie du mir schon gestern
+gefallen hast; ich will dich aus der Unwissenheit des Volkes reißen und
+eine rechte, gebildete Frau aus dir machen. -- Wie heißest du?«
+
+»Gusta,« flüsterte das Mädchen errötend und schlug die Augen zu Boden.
+
+»Also, Augusta, willst du mein sein?«
+
+Sie hielt ihr Köpfchen tief gesenkt und schwieg.
+
+»Ich begreife es wohl,« sagte er, »daß du mit deiner Antwort zögerst,
+so lange dir das Wesen der Liebe in seiner Definition noch unbekannt
+ist. -- Die Liebe, Augusta, in welche beide wir nun einzugehen
+gedenken, haben in ihrer Totalität die größten Männer aller Zeiten
+bisher nicht vollständig zu erklären vermocht. Doch vom modern
+wissenschaftlichen Standpunkte aus ist sie eine elektromagnetische
+Kraft, welche zwei Personen beiderlei Geschlechts zusammenführt, aber
+stets nur in solcher Wahl, daß die physischen Eigenschaften, sowie auch
+die psychische Bildung der beiden Personen sich gegenseitig ersetzen
+und vervollständigen. Um hiervon den Beweis zu erbringen, wird es
+allerdings nötig sein, eine mathematische Formel aufzustellen, und zwar
+--«
+
+Er begann mit der Kreide auf die Bettstatt zu schreiben.
+
+»+Plus A+ und +minus B+ können, um mich populär auszudrücken,
+nicht mitsammen harmonieren; noch weniger werden sich +plus A+
+und +plus B+ mitsammen vertragen, ein Verhältnis, das sich mit
++minus A+ und +minus B+ wiederholt. Demnach ist im gegebenen
+Beispiele nur eine Komposition möglich, nämlich +plus A+ und
++minus A+, oder auch +plus B+ und +minus B+ -- eben so
+viel, als zwei gleichgeartete, aber nicht gleichartige Wesen, die sich
+gegenseitig ersetzen und den Unterschied in ihrer Vereinigung aufheben
+-- was zu beweisen war.«
+
+Gusta sagte, sie höre das Ferkel so arg grunzen und müsse nachsehen, ob
+es sich etwa nicht wieder, wie letzthin, den Fuß zwischen den Barren
+verklemmt habe. Sie ging hinaus und ließ den Herrn Michel stehen in der
+Kammer.
+
+An einem der nächsten Tage suchte er das Mädchen wieder auf und sagte,
+wenn es ihn von nun an definitiv liebe, so würde er sich vielleicht
+gelegentlich doch noch entschließen, das Opfer zu bringen, gegen seine
+Prinzipien zu verstoßen und ihr zu Liebe das Trudenkreuz an ihre
+Bettstatt zu malen.
+
+»Je!« rief Gusta, »da ist der Herr schon zu spat dran. Just gestern
+hat mir der Peter das Trudenkreuz gemacht -- ein siebeneckig's ist's
+worden, und heut' in der Nacht hab' ich gut geschlafen.«
+
+Freilich hat sie ihm verschwiegen, daß sie gestern noch
+Atembeschwerden gehabt, weil ihr der Peter einige Augenblicke lang die
+Respirationsöffnung durch einen Kuß verschloß.
+
+Aber der Herr Michel ahnte etwas dergleichen und zog fürbaß. Und als er
+sich auf seinen Wanderungen vielfach überzeugt hatte, daß die besten
+seiner verkündeten Theorien im Volke schon längst praktisch geübt
+werden und es eben diese Theorien waren, die ihm selbst nicht Zeit
+ließen, praktisch zu sein, beschloß er, seine Fahrten aufzugeben.
+
+Wir finden ihn heute in Wien als Dozenten; jede Lehrstunde, die er
+gibt, läßt er sich vergüten.
+
+Und recht hat er. Das Gold des Wissens schleudert man nicht in
+Hellerchen unter die Leute, die es in den Staub treten. Selbst die
+feingebildete Hausfrau des Herrn Professors, die er in der Stadt
+gefunden, verzichtet gerne auf den mathematischen Beweis seiner Liebe.
+
+
+
+
+ Ein Mann, ein Wort.
+
+
+In einer kleinen Männergesellschaft war davon die Rede, daß in dem
+Spruch: »Ein Mann, ein Wort« eigentlich der Hauptgrund des bürgerlichen
+Rechtes, sowie des Völkerrechtes, folglich die Basis aller Zivilisation
+liege.
+
+Obwohl diese Behauptung Stoff zu einer schönen Gegenrede gegeben hätte,
+widersprach ihr kein einziger -- bis auf den Major Schläger.
+
+»Ein Mann, ein Wort!« sagte er ablehnend, »ich bin auch ein Mann, aber
+ich kann dieses Wort nicht hören.«
+
+Das machte Aufsehen, denn just den Major kannte man als einen höchst
+wahrhaftigen, pflichttreuen Charakter.
+
+»Ja,« sprach der Major mit einem Ernste, der für diesen Abend sonst die
+Gesellschaft nicht beherrschte, »der Spruch ist mein Schild geworden,
+ihm lebe ich, aber hören kann ich ihn nicht mehr, er ist hart, manchmal
+zu hart für den Menschen. Mit dem Prinzip von der Gerechtigkeit ist's
+nicht immer getan, wir alle bedürfen Rücksicht, Nachlaß, Liebe. Die
+Liebe ist schöpferisch, die Gerechtigkeit ist im besten Falle nur
+erhaltend. Man kann aus Gerechtigkeitsliebe manchmal ungerecht werden.
+Wenn ich von mir verlange, mein Versprechen zu halten, so ist das
+recht; wenn ich das unerbittlich von anderen begehre, so kann das unter
+Umständen sehr unrecht sein. Ein gegebenes Wort läßt sich nicht mehr
+biegen, aber ein Mensch kann sich biegen, wenn er daran denkt, daß
+höher als Gerechtigkeit die Liebe steht.«
+
+Da sich die Gesellschaft über eine solche Weichheit des sonst
+trotzigen, auch physisch soldatenhaft strammen Mannes verwunderte, so
+begann der Major ein Erlebnis zu erzählen, durch das seine Aussprüche
+tiefere Begründung erlangten.
+
+»In der Touristensaison des vorigen Jahres« -- so erzählte der Major
+-- »beschloß ich, die Schwabenkette in Steiermark zu durchwandern. Ich
+begab mich nach Aflenz, um von dort aus den Hochschwab zu besteigen
+und jenseits des Bergstockes den Abstieg nach Weichselboden oder
+Wildalpen zu machen. Ich hatte mich schon am Vortage in Aflenz eines
+Führers versichert, eines kräftigen Älplers, der -- da in der Gegend
+die Holzarbeiten eingestellt waren -- keinen Erwerb hatte, wohl aber
+ein zurzeit arbeitsunfähiges Weib und eine Hütte voll von Kindern. Der
+Schütter-Franz war mir als ein sehr verläßlicher und gutmütiger Führer
+geschildert worden, und so war ich für meine nicht unbeschwerliche Tour
+der Hauptsorge enthoben.
+
+Am nächsten Morgen -- es war ein prächtiger Tag zum Wandern -- sprach
+ich verabredetermaßen in der Hütte meines Führers, die am Wege in die
+Fölz lag, vor, um den Franz abzuholen. Durch die Hüttentür eilten
+mehrere Weiber aus und ein, und im Innern hörte ich ein gewisses zartes
+Geschrei, so daß ich zum Franz, der an der Schwelle stand und nicht
+recht wußte, was er hier zu tun habe, die Bemerkung machte:
+
+»Ich glaube, daß du heute nicht auf den Hochschwab steigen wirst.«
+
+»Warum denn nicht?« fragte der Mann befremdet.
+
+»Wenn das, was ich da drinnen in der Stube bemerke, deine Familie
+angeht.«
+
+Er zog mich ein wenig zur Seite und vertraute mir, sein Weib hätte eben
+einen kleinen Buben kriegt, weiter wäre es nichts.
+
+Ich beglückwünschte ihn und erkundigte mich, ob er mir einen anderen
+Führer anraten oder verschaffen könne.
+
+»Will der Herr denn mich nicht haben?« rief er erschrocken.
+
+»Wie sie, so bist auch du entbunden -- von deiner Zusage, das ist
+selbstverständlich.«
+
+»Des kleinen Buben wegen soll ich daheimbleiben? O du blutiger Heiland,
+wenn ich allemal daheim bleiben hätt' wollen, so oft ich einen kleinen
+Buben kriegt hab', da hätte ich mein Lebtag viele Tagewerke versäumt!«
+
+»Nein, nein,« sagte ich, »das geht nicht.«.
+
+Hierauf zog er mich mit in die Stube, und insofern es ihm gelang, dort
+den Jüngsten zu überschreien, verklagte er mich bei seinem Weibe, daß
+nun doch wieder nichts aus dem Verdienst würde, weil ich, unserer
+Verabredung entgegen, ihn nicht mitnehmen wolle.
+
+Die Wöchnerin, die wohl ein recht blasses Gesicht mit den Dulderzügen
+der Armut hatte, bat mich mit leiser Stimme, unsere Vereinbarung
+doch gelten zu lassen; es sei alles in guter Ordnung, was auch die
+anwesenden Nachbarinnen bestätigen könnten. Sie wüßten ja gar nicht,
+was jetzt anfangen, wenn kein Kreuzer Geld im Hause.
+
+Der Führerlohn war auf vier Gulden festgesetzt, wovon ich allsogleich
+den vierten Teil dem jungen Weltbürger zum Angebinde auf das
+Fensterbrett legte und den Franz, der mir als gemütvoller Mensch
+geschildert worden, nochmals aufforderte, in dieser Zeit bei Weib und
+Kind zu verbleiben. Die Partie würde an drei Tage in Anspruch nehmen,
+ich könnte es nicht verantworten, ihn so lange von seinem Hause
+abzuziehen.
+
+Ob es nur das wäre oder ob ich etwa sonst einen Widerwillen gegen ihn
+gefaßt hätte, daß ich seiner auf einmal los sein wolle? So seine
+Frage. Ich versicherte ihn, daß es einzig nur aus Rücksicht auf das
+eingetretene Ereignis seines Hauses geschehe, wenn ich ihn ablehne.
+
+Er ließe sich aber nicht ablehnen, meinte der Franz.
+
+»Du gingest mit und würdest unterwegs unruhig sein, in steter Furcht
+und Angst: wie mag's daheim zugehen? Würdest mürrisch werden, die
+Partie abkürzen wollen und kein Ohr und Auge haben für das, was ich
+will. Einen solchen Führer und Gesellschafter kann ich nicht brauchen.
+Mein Begleiter ißt und trinkt und raucht mit mir, soll mich aufmerksam
+machen auf dies und das, soll mich unterhalten, ein munteres Gesicht
+haben und so sorglos sein, als ich es bin. Guter Franz, dazu bist du
+dieser Tage nun einmal nicht der Mann.«
+
+Ich sah es, wie er mit leichtem Kopfnicken beistimmte, aber als er
+sein bekümmertes Weib anschaute, das Kind, welches sie in arme Fetzen
+wickelten, die größeren, die sich um die Rinde des Morgenbrotes
+balgten, da war er doch wieder entschlossen, er ginge mit mir. Die
+Weiber versicherten einstimmig, es sei um und um gar kein Bedenken da
+und sollte sich etwas ändern, so könne der Mann am wenigsten dabei was
+ausrichten, so Leute stünden bei derlei Dingen eher zum Hindernis im
+Wege, als daß sie sich nützlich machen könnten. Der Franz versprach
+mir, unterwegs recht lustig zu sein und mein treuer Diener, so lange
+ich ihn brauche.
+
+»Bedenke es wohl!« stellte ich ihm noch einmal vor, »bis wir Mittag
+zur Fölzerhütte kommen, wird dir schon bange werden, durch die Dulwitz
+wirst du nichts mehr anderes reden, mindestens denken, als: wie wird
+dem Weib sein? dem Kind? Es ist leicht was geschehen. Am Abend, wenn
+wir in der Dulwitzhütte schlafen sollen, wirst du nach Hause wollen und
+vielleicht morgens wieder kommen, abgehetzt und schläfrig. Ich aber
+sage dir, Franz, ich werde keine Rücksicht haben, ich werde dich nicht
+von mir lassen. Du wirst mich übergeben wollen an einen andern Führer,
+wenn uns einer begegnet, daß du nach Hause eilen kannst. Ich aber werde
+dich halten fest, wie der Herr den Sklaven; ich bin nicht gewohnt, mich
+in fremder Gegend an fremde Leute hintauschen zu lassen, ich behalte
+den, dessen Dienste ich mir gekauft habe, so lange, bis der Vertrag
+abgelaufen ist. Ich werde unerbittlich sein, darum rate ich dir noch
+einmal: Bleibe zu Hause, ich werde einen andern finden, dich aber für
+ein andermal vormerken und bei Gelegenheit empfehlen. Wir scheiden als
+gute Freunde.«
+
+»Ich gehe mit!« rief er entschlossen, »ich werde meinen Mann stellen,
+wie es der Herr wünscht.«
+
+»Also denn!« sagte ich, »wenn du durchaus nicht anders willst. Du wirst
+drei Tage lang mit mir sein.«
+
+»Ich werde den Herrn nicht verlassen.«
+
+»Ein Mann, ein Wort!«
+
+Er schlug in meine Rechte.
+
+Der Wöchnerin schien ordentlich leichter zu sein, da sie das Geschäft
+abgemacht sah. Sie lächelte, als sie ihre kühle Hand in die meine legte
+und dann in die ihres Mannes: Wir sollten nur recht gutes Wetter haben,
+und der Franz sollte ihretwegen ganz und gar unbesorgt sein. Sie sagten
+sich: »Behüt' dich Gott!« und das Weib ermahnte ihn noch, wenn er schon
+was tun wolle, so solle er dem Bübl ein Kreuz über das Gesicht machen,
+es würde dann zur Taufe getragen.
+
+Er tat's, lud die bereiteten Sachen auf, und wir gingen davon. Der
+Weg durch die Fölz ist schön. In der stundenlangen Schlucht lagen
+noch die Schatten, die Alpenrosensträucher am Wege feucht vom Tau
+und dem Wasserstaube der rauschenden Fölz. Voll Harz- und Tannen-
+und Speikduft war die kühle reine Luft. Hoch an den Felsen lag der
+Sonnenschein. Frisch und flink, wie wir wanderten, war freilich das
+Herz heiter und die Seele klingend.
+
+»Franz,« sagte ich unterwegs, »nachdem wir beide uns unserer
+Pflichten und Rechte wohl bewußt sind, wollen wir als Kameraden
+miteinander wandern. Ich bin aus der großen Stadt gekommen, um mir als
+Unterbrechung meines Berufes einige frohe Tage zu machen. Ich wünsche,
+daß du sie mit mir teilst und, so wie ich, das herbe Leben vergessest.«
+
+Er ließ einen Juchschrei los als Antwort, wie sehr er mit meinem
+Vorschlage einverstanden sei, und er suchte mich durch Munterkeit und
+mancherlei Schwänke, die er vorbrachte, zu überzeugen, daß er den guten
+Humor nicht zu Hause gelassen hätte.
+
+Dann kamen die Anstiege, es kam die heiße Sonne, es kam der Durst. Wir
+rasteten im Schatten und labten uns aus unserem reichlichen Vorrat. Der
+Tag war lang, wir erfreuten uns an den Almen mit ihrer Flora und ihren
+Herden, an den wildschründigen Felsen des Fölzstein, der Mitteralpe,
+der Dulwitz, wir ergötzten uns an Steinfalken und Stoßgeiern, die
+den blauen Himmel belebten, an den Schroffen und Überhängen des
+»Ochsensteiges«, an dem eisigen Kristall des »goldenen Brünnleins«, an
+den Gemsen, die in ganzen Rudeln über Kare und Schuttriesen setzten
+oder von den Zinnen auf uns niederlauerten. Mein Franz tat manche
+treffende Bemerkung mit klarem Hausverstand, der stets anspruchslos
+auftrat, nicht so wie bei manchen Bergführern, deren Urwüchsigkeit
+ausgeklügelt und gemacht ist. Ich erinnere mich noch, daß ich ihn
+fragte, weshalb er bei seiner Mittellosigkeit geheiratet hätte, worauf
+er zur Antwort gab: als er nicht hätte heiraten wollen, habe ihm sein
+Vater gesagt: »Willst ein rechter Mann sein, so mußt auch Weib und
+Kind haben!« So hätte er freilich heiraten müssen. -- Ich bin, wie ihr
+wißt, Junggeselle und habe dieses Gespräch nicht fortgesetzt. Indeß
+gab's mancherlei Stoff. Doch der Tag ist lang, das Wandern macht müde,
+auch wenn man noch so oft rastet; die Ergötzung spannt ab. Das würde
+ein Älpler leicht verwinden, wenn die Ermüdung und Abspannung nur die
+Schatten nicht aufkommen ließe, die im Herzen schlummern mögen! -- Es
+kam, wie ich gesagt hatte, es kam genau so.
+
+Franz sagte kein Wort von daheim, aber er war kleinlaut geworden.
+
+Ich begann von seinem Weibe zu sprechen, daß er vielleicht sein
+Herz ausschütten wollte, er lenkte ab und schwieg. In der oberen
+Dulwitzhütte, die leer stand, machten wir Feuer, bereiteten uns ein
+Abendbrot und Nachtlager. Er ging zwar nicht davon, aber ich merkte,
+daß er auf seinem Reisig nicht schlief, ich hörte die Seufzer, die er
+zu unterdrücken suchte. Ich sagte nichts, freute mich fast, daß der
+Mann nun erfahren mußte, wie ich, der Fremde aus der Stadt, ihn besser
+kenne, als er sich selbst.
+
+Am andern Tage stiegen wir an bis zur höchsten Spitze des Gebirges.
+Mein Genosse sprach unterwegs sehr wenig und ich nicht viel mehr,
+denn dieser Aufstieg, die steilen Hänge und Wände beschäftigten die
+Lunge andererseits zur Genüge. Auf der Höhe, wo kein Strauch und
+kein Halm mehr wächst, peitschten kalte Winde, flogen Nebelfetzen,
+zwischen denen wir nur zeit- und stellenweise die Aussicht in die weite
+Alpenwelt genießen konnten. Mein Führer war stets hinter mir her, gab
+meinen Bemerkungen und Fragen kurze und verkehrte Antworten und schien
+gleichgültig sowohl gegen mich, als auch gegen die Schönheiten des
+Gebirges.
+
+Auf der Spitze des Berges begegneten wir einigen Touristen, die von
+Weichselboden heraufgestiegen waren und just ihren Führer entließen,
+da sie den Abstieg durch die Dulwitz nach der Fölz allein zu machen
+gedachten. Aus dem kleinen Gespräche, das ich mit ihnen führte,
+erinnere ich mich nur, daß sie zum Teil aus Graz, zum Teil aus Leoben
+waren.
+
+Wir hielten gemeinsamen Ausblick mit freiem Auge, wie mit Fernrohren,
+wir tranken uns gegenseitig Wein zu, steckten dann in die leeren
+Flaschen unsere Visitkarten und friedeten sie mit Steinen ein, damit
+die Nachkömmlinge von uns auf solcher Höhe ein Denkmal fänden, und
+taten, was Bergbesteiger an ihrem Ziele eben zu tun pflegen. Ich hätte
+es vorgezogen, mit meinem Franz allein auf der Spitze dieses Berges zu
+stehen, vorausgesetzt, daß wir beide bei Humor gewesen wären.
+
+Als ich mich wieder nach meinem Genossen umsah, stand der abseits
+hinter einem Felsblock und führte mit dem Führer aus Weichselboden ein
+Gespräch. Mir kam das gleich verdächtig vor.
+
+Nicht lange währte es, so kam -- während sich Franz hinter dem Felsen
+mit seinen Bergschuhen zu schaffen machte -- der fremde Führer zu mir
+heran und sagte: »'s ist schade, daß die Aussicht nicht ganz rein ist,
+gnädiger Herr, aber es wird heute noch heiter. Der Barometer steigt.
+Sehen Sie, dieser Kamelrücken dort, das ist die hohe Veitsch.«
+
+»Ich weiß es,« war kurz meine Antwort und wendete mich nach der anderen
+Seite.
+
+»Aha, der gnädige Herr schauen sich die Ennstaleralpen an,« schwatzte
+er weiter, »der Dachstein hat leider Gottes eine Haube auf. Der hohe
+Berg, der dort wie ein Heuschober steht, das ist der Grimming.«
+
+»Ich weiß es!« schnauzte ich ihn an, »Franz, wo steckst du denn?«
+
+Der Führer aus Weichselboden ließ sich nicht verblüffen. »Der Herr
+sind von Aflenz heraufgekommen,« sagte er, »und wollen gewiß zur Salza
+hinabsteigen. Das ist auch mein Weg und könnten wir leicht miteinander
+gehen. Mit Verlaub!« Er suchte mir diensteifrig den Plaid umzuhüllen,
+den mir der Wind von der Achsel gerissen hatte. Ich ging gegen den
+Felsen und sah, wie dort Franz kauerte und in die Gegend von Aflenz
+hinabschaute. Der Weichselbodner Führer kam mir nach und sagte:
+
+»Ganz im Ernst auch noch, gnädiger Herr, wir haben den gleichen Weg
+hinab und ich will den gnädigen Herrn für ein kleines Trinkgeld recht
+gern weisen.«
+
+Nun merkte ich wohl schon, daß ich verraten und verkauft war, doch
+stieß ich derb heraus, man möge mich in Ruhe lassen, ich hätte ohnehin
+meinen Führer.
+
+»Das schon,« meinte der Weichselbodner, »aber der sagt mir, daß ihm
+schlecht geworden ist.«
+
+Da kam schon der Franz auf mich zu mit gefalteten Händen und bat:
+»Herr, ich kann's nicht mehr aushalten, ich muß heim. Ich bitte
+tausendmal, daß mich der Herr gehen läßt. Der Mathias dort, der ist aus
+Weichselboden, ich kenne ihn gut, er übernimmt meinen Dienst gerne und
+kennt den Weg besser als ich. Ich kann nicht mehr, -- -- wenn ich auf
+heim denk'.«
+
+So sprach er. Ich habe ihn an der Hand genommen und in aller Ruhe
+folgendes zu ihm gesagt: »Franz, du wirst nicht gehen, du wirst bei
+mir bleiben, so lange ich dich brauche. Ich habe dir früh genug alles
+vorgestellt, du hast es so haben wollen, du hast mir dein Wort gegeben.
+Ich bin ein alter Soldat und lasse mit einem Ehrenwort nicht spaßen.
+Ich lasse mich nicht nach Laune und Stimmung verschachern, ich habe
+dich gekauft, du bist mein und du bleibst bei mir, bis die drei Tage um
+sind.«
+
+»Wenn daheim ein Unglück geschieht!« stotterte er.
+
+»So geschieht's!« rief ich zornig, »und wenn dein Weib stirbt, deine
+Kinder umkommen, deine Hütte niederbrennt, du hast dein Wort gegeben,
+daß du bei mir bleibst und das fällt nicht. Du bleibst!«
+
+Darauf war der Franz still und sagte kein Wort mehr -- und blieb bei
+mir.
+
+Wir begannen den Abstieg, passierten das Gschöderkar, und auf
+dem Edelboden, wo uns wieder die ganze Milde eines heiteren
+Sommernachmittags umfloß und die Würze der Alpenkräuter uns erquickte,
+hielten wir Rast. Franz war immer noch still, aber aufmerksam für alle
+meine Wünsche und gutmütig. Ich war sehr mit mir zufrieden, daß ich
+meine Sache so gut durchgesetzt hatte. Wohin käme auch die Welt, wenn
+das Verhältnis zwischen Herrn und Diener so lax würde und willkürlich!
+Die ganze gesellschaftliche Ordnung ginge aus den Fugen und der Teufel
+möchte da noch Herr sein. Es tat mir leid, aber mein Franz, der mußte
+nun parieren, und als wir spät abends im Wirtshause zu Weichselboden
+anlangten, wollte ich ihn und mich für die Mühen entschädigen mit
+allem, was das Haus bieten konnte. Doch mein Franz suchte bald das
+Bett. Wie er geschlafen, das weiß ich nicht.
+
+Am nächsten Morgen mochte er, so lange ich schlief, mäuschenstill
+gewesen sein, aber als ich die Augen auftat, machte er Lärm. »Es gibt
+nichts Schöneres auf dieser Welt, als den heutigen Tag!« so rief er
+aus. Ich fand den Tag nicht just besonders, der Himmel war mit Wolken
+bedeckt, die stellenweise an den Wänden niederhingen. Als wir später
+durch das großartig wilde Engtal gingen, das der Ring heißt, und dann
+in der Steinwüste, der »Höll«, dem Karstriegel zuwanderten, schnitt uns
+von den Höhen nieder eine frostige Luft entgegen; dort und da rieselte
+es in den Schuttmulden oben, dann krächzte irgendwo ein Rabe. In den
+schwarzen Wassertümpeln, an denen wir vorbeikamen, spiegelte sich das
+Gebirgsbild in seiner Düsternis. -- Aber nichts Schöneres als dieser
+Tag! hatte mein Begleiter ausgerufen; es war eben der dritte unserer
+Partie, der letzte, an dessen Abend er frei sein und die Seinigen sehen
+sollte! -- Den Ausläufer des Schwab, die Aflenzerstarritze, wußte
+er auf schlechten Steigen zu umgehen, so daß wir am Mittag schon in
+Seewiesen waren.
+
+Im Wirtshause zu Seewiesen lag ein schwerkranker Maria-Zeller
+Wallfahrer, der schon früh nach Aflenz um Arzt und Priester geschickt
+hatte und immer noch vergebens auf sie wartete. Franz machte ihm die
+Zusage: wenn sie uns auf dem Wege begegnen sollten, so würde er zur
+Eile ermahnen.
+
+Wir waren eine Stunde gegangen, da begegneten sie uns. Der Priester,
+vom Boten mit dem Versehglöcklein und dem heiligen Licht in der Laterne
+begleitet, war im Chorrock und trug das Allerheiligste. Wir beugten die
+Knie, er segnete uns und warf dabei einen Blick auf meinen Begleiter,
+den der aber nicht bemerkte, weil er das Haupt gesenkt hielt. -- Ein
+paar hundert Schritte weiter hin begegnete uns der Arzt.
+
+»Ihr sollt nur eilen!« rief ihm der Franz zu, »sonst kommt ihr zu spät.«
+
+»Wer wird uns aufgehalten haben!« sagte der Arzt im eiligen
+Vorübergehen, »du kommst halt auch zu spät, mein lieber Franz!«
+
+Ich weiß kaum, wie wir nach Aflenz kamen, ich weiß nicht, wie mir
+zumute war, ich erinnere mich auch nicht, ob Franz ein einziges Wort
+des Vorwurfes, der Klage sprach, oder ganz stumm war.
+
+Sein Weib fand er auf der Bahre.
+
+Er trug den Schmerz, wie man den herbsten trägt -- tränenlos.
+
+Ich bat ihn um Verzeihung, daß er meines Starrsinns wegen sein Weib
+nicht mehr lebendig sehen konnte, ich bot ihm alles an, was ich bei mir
+trug. Er lehnte es ab und sagte nur, ich sei im Recht gewesen.
+
+Im ~Recht~! Seitdem ist mir das Wort verdächtig. Der Franz
+hatte wie ein Mensch gehandelt. Ich wie der Dämon eines Prinzips.
+Daß er mit mir gegangen, aus Pflichtgefühl war es geschehen, er
+hatte seiner Familie Brot zu schaffen. Aus Sorge und Angst um seine
+Familie war's, als er mich auf dem Berge verlassen wollte. Ich dachte
+und fühlte nichts, als daß ich im Rechte sei, ich war ein blutloser
+Gesetzparagraph -- und das ist ein Ungeheuer. Ein Mann, ein Wort!
+Vielleicht wäre diesmal die Erinnerung: Ein Mann, ein Weib! besser
+gewesen.«
+
+So hatte der Major erzählt, und die Gesellschaft blieb nachdenklich,
+bis sie auseinanderging.
+
+
+
+
+ Hauptmann Alles.
+
+
+Ja, diesen Weihnachtsmorgen vergesse ich nicht. Eben trete ich hinaus
+in die kalte Morgenröte und schaue hin über die feuchten Schneefelder
+und denke: Heute ist Christtag, da muß man Gutes tun, und so will ich
+mir einen guten Tag antun.
+
+Da kommt mein alter Knecht Martin von der Frühmesse daher -- er hat
+heute seinen hochgespitzten Hut mit dem weißen Federbusch auf und sein
+vergnügtes Feiertagsgesicht an und eine große Zigarre d'rin stecken.
+Er raucht sonst Pfeifen, aber zu den hohen Festtagen, wenn der Meßner
+frische Kerzen in die Altarleuchter tut, da steckt sich der Martin zur
+größeren Ehre Gottes eine Zigarre in den Mund. Kann's aber nicht recht,
+zieht zu oft an, nebelt zu stark, nimmt sie dann nach jedem zweiten Zug
+aus dem Mund und spuckt die Tabakblättchen aus, die ihm an den Lippen
+kleben geblieben sind. »Guten Morgen,« sagt er jetzt zu mir, »aber in
+der Stadt geht's heut' zu!«
+
+»Aha, sind die Wirtshäuser schon voll?« war meine Frage.
+
+»Wäre schon recht,« antwortete mein Martin, »die Wirtsstuben sind
+leer und alle Türen haben sie offen gelassen. Die Leute umstehen
+das Kranzbäckenhaus. Im Kranzbäckenhaus hat sich in der Nacht was
+zugetragen.«
+
+Auf diese Worte tat der Schalk, als wollte er weitergehen. Ich hielt
+ihn nicht zurück, und da er das merkte, blieb er von selbst wieder
+stehen und sagte:
+
+»Der Herr soll mit ihm gestern spät in die Nacht hinein ja Karten
+gespielt haben?«
+
+»Mit wem?« frage ich nun.
+
+»Mit dem Hauptmann.«
+
+»Was ist's mit dem Hauptmann?«
+
+»Das erfährt man nicht. Ich bin während der ganzen Frühmesse vor dem
+Haus gestanden und habe gesehen, wie die Weiber ein- und auslaufen und
+hinter sich allemal das Tor verriegeln. Eine hat gesagt, wir Leute
+sollten auseinandergehen und zusehen, daß uns selber die Gnad' Gottes
+nicht verlasse. Sonst erfährt man nichts.«
+
+»Was muß das sein, wenn's den Weibern die Stimme verschlagen hat!«
+
+»Im ganzen Kranzbäckenhaus,« fuhr mein Martin fort, »soll man noch die
+Schießbaumwolle riechen, sagen die Leute. Ich bin gegenüber auf das
+Wagenschuppendach gestiegen, aber man sieht nicht hinein; im Zimmer, wo
+der Hauptmann gewohnt hat, sind die Fenstervorhänge herabgelassen.«
+
+Das war mir just genug. Ich eilte sogleich ins Städtchen. -- Sollte
+er's denn wirklich vollbracht haben? Wir hatten am Abend zuvor das Wort
+für einen derben Scherz gehalten; in der Nacht, da ich schlaflos auf
+meinem Bette lag und die Christglocken klingen hörte, fiel es mir aber
+plötzlich ein: Dieser Mensch ist alles imstande.
+
+Unter den Sonderlingen des Städtchens war mein Hauptmann das
+Prachtexemplar. Mit seiner Jugend soll es ganz regelmäßig zugegangen
+sein. Er war ein Soldatenkind, wurde selbst Soldat und war demnach
+auf jener festen Bahn, auf der man nie entgleisen kann, in seinem
+neunundzwanzigsten Jahre Hauptmann. In seinem dreißigsten hatte er
+das Mißgeschick, eine unvorhergesehene, sehr namhafte Erbschaft zu
+machen. ~Vor~ dieser Erbschaft -- das versteht sich -- war das
+Soldatenleben ein Glück für jeden, den es traf; es kräftigte Körper
+und Charakter; Pünktlichkeit, Gehorsam, Mut, Ritterlichkeit, und
+was weiß ich, lernte man nur beim Militär. Nach der Erbschaft war es
+plötzlich ein Knechteleben, ein Hundeleben -- jeder ein Narr, der
+weggehen kann und es nicht tut. Hauptmann Alles wurde ein freier
+Mann und wandte sich den schönsten Seiten der Welt zu. Manche freie
+Stunde hatte er sonst mit Zeichnen, Farbenstudien, Musik oder anderen
+Künsten verbracht, jetzt wurde er Maler. Er wurde es so plötzlich, als
+man Staffelei, Leinwand, Farben kaufen und bereiten kann. Die braune
+Sammetjoppe war auch da, nur das Wachsen des Knebelbartes konnte mit
+der Vollendung des Meisters nicht gleichen Schritt halten. Und als die
+Freunde kamen und schauten, war es eine blendende Farbenpracht, und
+in den Blättern war die Rede von der edlen Komposition, von der Wärme
+des Tones, von dem harmonischen Zusammenstimmen, als handle es sich um
+eine Symphonie, und es war Meisters Ahles' Gemälde gemeint. Da dachte
+Ahles, wenn das schon auf der Leinwand so fein komponiert, so warm im
+Tone, so harmonisch zusammenklingend ist, um wie viel besser noch läßt
+sich das in einem Musikstück machen. Und er komponierte eine Oper. Von
+dieser sagten seine Freunde, sie wäre bei der Unvollkommenheit unserer
+Opernbühne, bei dem Mangel an bedeutenden Sängern heutigestags absolut
+nicht aufführbar. Während nun der Meister auf einen fürstlichen Mäcen
+wartete, der ihm die Aufführung ermöglichen sollte, vertrieb er sich
+die Zeit mit Poesie. Er schrieb ein großes Werk um das sich allsogleich
+zahlreiche Verleger bewarben -- der Autor bezahlte nämlich im voraus
+bar den Druck.
+
+Trotz alledem war dem Meister nicht wohl zumute. Anfangs hatte er
+keinen Tadel zu ertragen vermocht, allein das vorlaute, unbedingteste
+Lob, mit dem sie jetzt alles ohne Ausnahme, was von ihm kam,
+überschütteten, war ihm auf die Länge schier noch unangenehmer, ja
+nachgerade verdächtig. Eines Tages sagte ihm sein rücksichtslosester
+Freund: »Mir tut's weh, lieber Moritz, dich fortweg hänseln zu sehen.
+Laß das mit dem Malen, Komponieren und Dichten, du bist der Mann für
+etwas anderes.« Eine Weile nach diesem undankbaren Freundschaftsdienste
+führte der Hauptmann seine Liebhabereien noch fort, und zwar dem
+Freunde zum Trotz mit großtuerischem Wesen. Plötzlich jedoch
+verschleuderte und verschenkte er all seine Requisiten und Instrumente
+und kaufte sich in entlegener Gegend ein großes Landgut. Er verschrieb
+sich eine Anzahl landwirtschaftlicher Werke und fing an, genau nach
+solchen Lehren seine Wirtschaft zu betreiben. Er war glücklich über
+die Entdeckung, daß er ein genialer Landwirt sei. Die Kleinbauern um
+ihn her wagten es anfangs, seine neuen Methoden zu bezweifeln, indem
+sie sagten, daß eine Kappe nicht für alle Köpfe passe, und daß man die
+Gegend, das Klima und den Boden kennen und berücksichtigen, wenn man
+die Wirtschaft ertragsfähig machen wolle. Der Hauptmann ignorierte den
+verrosteten Sinn der fortschrittfeindlichen Nachbarn und arbeitete
+nach den allgemeinen Anleitungen der Fachgelehrten. Sonst aber gefiel
+der Mann den Bauern, er hielt mit ihnen, war stets nachbarschaftlich
+und uneigennützig, erleichterte ihnen den nötigen Verkehr mit der
+Außenwelt, indem er Roß und Wagen auf den Straßen hielt und Personen,
+auch oft kleine Warenladungen unentgeltlich beförderte. Auch nahm er
+sich in Steuerangelegenheiten ihrer an, bemühte sich, ihre Söhne dem
+Soldatenleben zu entziehen, und er sagte, wenn das Volk einmal die
+Soldaten verweigere, dann höre auch die Steuerplage auf. -- Das war ihr
+Mann. Bei einer nächsten Wahl machten sie Herrn Ahles zum Abgeordneten.
+
+Bei der ersten Sitzung verhielt sich der Gutsbesitzer im Parlamente
+ganz ruhig; es handelte sich um einen Zollvertrag. Er hörte die
+Vorschläge, ohne dafür oder dagegen zu stimmen, zum Schlusse aber
+bat er ums Wort. Er stellte folgenden Antrag: Es sei ein Zirkular an
+alle Fürsten der Welt zu erlassen, in dem sie gebeten würden, sich
+gegenseitig zu vereinigen, sich friedlich miteinander zu vertragen und
+ihre stehenden Heere zu entlassen. Er, der Antragsteller, glaube, daß
+sich keiner der hohen Herren weigern werde, diesen zu Gunsten eines
+jeden aufgestellten Vertrag eigenhändig zu unterschreiben.
+
+Die Versammlung stutzte über diesen Spaß, den sich nach ihrer Meinung
+das neue Parlamentsmitglied an so ernster Stelle erlaubte. Als sie
+aber den ganzen Ernst des Redners sah, da gab's Gelächter. Während die
+Glocke des Präsidenten zur Ruhe klingelte, trat Herr Ahles zornig von
+seinem Sitze ab und wurde im Hause nicht mehr gesehen.
+
+Nach dieser Zeit verlegte er sich mit großer Passion auf die
+Zuckerrübenkultur und erbaute auch eine Tuchfabrik, zu deren Zweck er
+eine große Schäferei anlegte von friesischen und englischen Schafen,
+die eine recht lange Wolle hatten.
+
+Mittlerweile war seine Feldwirtschaft glücklich so tief herabgekommen,
+daß Ahles, dem man wegen seiner Allseitigkeit den Spitznamen »Alles«
+gab, daran die Freude verlor. Er suchte sich nun für seine Sorgen
+und Mühen zu zerstreuen, indem er in den Städten umherfuhr und das
+Leben genoß. Endlich kam er in unser kleines Landstädtchen, das nicht
+allzuweit von seinen Besitzungen entfernt lag, und in dem er sich beim
+Kranzbäcken ein Zimmer mietete. Er hatte das Bedürfnis, jemand zu sein.
+Er hatte allerlei Erfahrungen, hatte noch immer Geld, so wollte er
+noch einmal widerhallen. Das Städtchen war just klein und groß genug
+dazu, daß ein Mensch, wie der Hauptmann, darin seine überlegene Rolle
+spielen konnte. Er förderte Gesellschaften, die sich von ihm begasten
+und unterhalten ließen; er gründete Vereine, die ihn zum Präses
+machten, er veranlaßte öffentliche Wohltätigkeiten, und es erschien
+keine Nummer des Wochenblattes, die nicht preisend seinen Namen
+nannte. Daneben fand der noch immer als Garçon lebende Mann auch noch
+Zeit, den Frauen ein feiner Ritter zu sein. Er war der aufmerksamste
+Kavalier und versäumte keine Gelegenheit, den Damen gefällig zu sein,
+ihnen etwas Verbindliches zu sagen, sie zu verteidigen, wo es einen
+lustigen Strauß gab, ihnen Blumen zu pflücken, von denen er auch immer
+selbst im Knopfloche trug. Es fiel im Städtchen von schöner Hand kein
+Batisttüchlein zu Boden, das der Hauptmann nicht auf die galanteste
+Weise aufhob. Dazu war er ein schöner Mann, der sich den in seinen
+diplomatischen Tagen gegründeten Backenbart wieder wegschnitt, den
+Schnurrbart spitzte, sich wieder gerne Hauptmann nennen ließ, und der
+sich mit seiner Landwirtschaft nur insofern abgab, als er monatlich
+ein gut Stück Geld in sie hineinsteckte und täglich herzhaft auf sie
+losschimpfte.
+
+Aber auch in diesem harmlosen Städtchen gab es Leute, die eine so
+schöne segensreiche Existenz allmählich zu untergraben suchten.
+Es erwuchsen gesellschaftliche Zirkel, die ohne Hauptmannsspäße
+bestanden, Vereine, in denen der Hauptmann nicht Präses war,
+Wohltätigkeitsvorstellungen, die der Hauptmann nicht anordnete,
+Wochenblattnummern, die den Namen des Hauptmanns nicht oder leise
+spottend nannten, und es gab Frauen, die seinen Aufmerksamkeiten in
+sehr kühler Weise dankten und sie hinter seinem Rücken in sehr warmer
+Weise belächelten. Nur eines mußten ihm auch seine Feinde nachsagen,
+nämlich, daß er ein Mann sei in den besten Jahren. Aber sie setzten
+dazu, daß es traurig sei, wenn ein Mann in den besten Jahren soweit
+fertig ist, daß er die Zeit in Wirtsstuben mit Knasterrauchen und
+Kartenspiel zubringt.
+
+Und fürwahr, es war soweit gekommen; der Hauptmann Alles saß mit
+verlotterten Spießgesellen in den rußigen Schenken, und so verbrachten
+wir die Winterabende mit Trinken, Rauchen, Knurren und Karteln.
+Seine Laune war nicht die beste, und außer daß er bisweilen einen
+warmherzigen Fluch ausstieß, wenn ihm ein sehr schlechtes oder ein sehr
+gutes Blatt zufiel, war er wortkarg. Er trank dabei alten Wein, lud uns
+aber selten mehr zu seinem Trinken, wie er es früher gewohnt war. Gegen
+die Weiber war er etwas süßsauer geworden, und als uns am Christabende
+die stets heitere Wirtin einen Teller mit Früchtenbrot auftischte, das
+sie eigenhändig gebacken hatte, schob er den Teller unwirsch zurück
+und brummte, es möge jeder die Früchte seiner Taten selber genießen.
+Um so mehr sprach er dem Weine zu; wir anderen ließen uns auch den
+Lieblingstropfen holen, und so war der Abend recht leidlich vergangen.
+Auf einmal legte der schweigsame Hauptmann seine Karten auf den Tisch
+und sagte: »Es wird das Ersprießlichste sein, wenn ich jetzt nach Hause
+gehe und mich totschieße.«
+
+Wir taten einen freundschaftlichen Lacher, obwohl jeder von uns denken
+mochte, daß ein so schaler Spaß eines so prächtigen Lachers eigentlich
+nicht wert sei. Wir spielten nicht weiter, denn wir hörten die draußen
+im Schnee knarrenden Tritte der nächtigen Kirchengänger. Wir standen
+auf und gingen auseinander. --
+
+Während ich mir nun die ganze Geschichte so ins Gedächtnis gerufen
+hatte, kam ich ins Städtchen und vor das Haus des Kranzbäcken. Die
+Leute hatten sich verlaufen, ich ging den geradesten Weg in die Wohnung
+meines Zech- und Spielgenossen. An der halbangelehnten Tür derselben
+stand eine alte Frau. Dieses Anzeichen war schlecht; aber die alte
+Frau machte eine wichtige, nicht gerade trübselige Miene und dieses
+Anzeichen war gut. Sie deutete mit der Hand, welche ein Milchtöpfchen
+hielt, gegen die Türe und flüsterte, ich möge nur eintreten, aber nicht
+allzuviel kalte Luft mit durchlassen. Ich tat's; das Zimmer war dunkel
+und still -- meine Augen suchten den Hauptmann. Endlich fanden sie ihn,
+er saß unweit des Ofens in einem geborgenen Winkel, rauchte die lange
+Hauspfeife und schaute auf ein Ding hin, das in seinem Bette lag, sehr
+sorgfältig verwahrt, und das bei näherer Besichtigung auf der weiten
+Welt nichts anderes war als ein neugeborenes Knäblein.
+
+»Hauptmann!« rief ich.
+
+»Halte dein Maul!« pfauchte er.
+
+Allerdings, das Christkind schlummerte. Und das Angesicht des alten
+Kerls mit dem Schnurrbart schmunzelte. Mein Seel', das war ein
+redliches Schmunzeln -- der Mann kam mir noch niemals so schön und gut
+vor als jetzt mit diesem Angesichte, das der Rauch umwölkte und in dem
+die zwei Augen leuchteten wie Sterne der Christnacht.
+
+Jetzt trat die alte Frau zu ihm, fragte bescheidentlich, ob er bei
+Troste sei, und nahm ihm die Pfeife vom Munde weg. Nun hatte aber
+dieser Hauptmann die gottlose Gewohnheit, immer etwas vor den Lippen
+haben zu müssen; als ihm das Pfeifenrohr weggenommen wurde, neigte er
+sich hin und küßte das Kindl.
+
+»Der Bursch' ist mein!« rief er dann, und hat es mir begründet.
+
+Hat hernach auch das weitere erzählt. Er war in der Nacht nach Hause
+gegangen mit dem festen Vorsatze, einmal in seinem Leben eine wirkliche
+Tat zu üben, nämlich zu sterben, bevor er noch weiteren Unsinn begehe.
+Da fand er in seinem Zimmer die alte Frau, sie legte ihm etwas in die
+Arme und sagte: »Da bringe ich dem Herrn ein Christkindel.« Der Kleine
+wolle sich an den Vater halten, dem gehe es besser als der Mutter; die
+Mutter käme auf Wunsch auch nach.
+
+Was ließ sich dazu sagen, was ließ sich machen?
+
+Alsbald verbreitete sich das Gerücht, daß in der Stube des Hauptmannes
+etwas Absonderliches, Geheimnisvolles sei, und am Morgen versammelten
+sich vor dem Hause die Leute, zu denen die alte Frau dann sagte, sie
+sollen auseinandergehen und sich selber vorsehen. Nach wenigen Wochen
+kam auch die Mutter -- ein armes, aber schönes blasses Weib, und nun
+war zum Totschießen keine Zeit und kein Verlangen mehr. Der Hauptmann
+zog mit Weib und Kind auf sein Landgut. Die Häuslichkeit mit ihrer
+Liebe und ihren Sorgen hat seinem zerfahrenen Leben endlich Inhalt und
+Wert verliehen.
+
+Seit jener Zeit ist das fünfte Weihnachten vorbei. Hauptmann Alles hat
+der Welt nicht mehr Anlaß gegeben, seiner zu spotten.
+
+
+
+
+ Die Tafelrunde der Berühmten.
+
+
+Nach einem glanzvollen, aber kurzen Empfangsabend bei Hof saßen in
+einer Weinkneipe etliche berühmte Männer beisammen. Sie hatten sich
+heute ganz zufällig zusammengetan, aber große Seelen finden sich leicht
+und berühmte Menschen haben stets etwas Weltbürgerliches, vertrautsam
+Brüderliches an sich; in der Sphäre, in die sie emporragen, weht eine
+frischere, freiere Luft, in der sich die Elektrizität der Geister rasch
+sammeln und entladen kann.
+
+Die Unterhaltung war munter genug, und jetzt machte einer -- man weiß
+nicht aus welchem Anlaß, wahrscheinlich infolge eines Gespräches über
+die Berühmtheiten des Empfangsabends -- den Vorschlag, jeder in der
+kleinen Gesellschaft solle nun erzählen, wie er berühmt geworden sei.
+
+Wie er berühmt geworden? In der Tat, das war etwas. Ja! und +eh
+bien!+ und wohlan! riefen sie durcheinander, und jeder war darauf
+gespannt, von jedem die persönliche Geschichte zu hören.
+
+»Ganz merkwürdig, meine Herren, ist das bei ~mir~ zugegangen,«
+ergriff der Romanzier Paulo sofort das Wort.
+
+»Ich bitte!« rief der Schauspieler Werner, »es muß systematisch
+vorgegangen werden; etwa nach der Popularität des Faches, in dem sich
+jeder bewegt.«
+
+»Nach dem Alter die Reihe!« schlug der Chemiker Iseling vor, dessen
+Berühmtheit von der Erfindung des spanischen Brustmalzes im Jahre 1818
+nach Christus herrührte.
+
+»Nach dem Alphabet!« rief der Major Abacitz.
+
+»Jetzt ist nur noch der akademische Maler Rakutti, der sich nicht
+gemeldet hat,« sagte Doktor Sauermann.
+
+»Und Sauermann, Doktor der gesamten Heilkunde,« entgegnete der Maler.
+»Die Gesundheit ist die Hauptsache, der Doktor soll beginnen.«
+
+»Nun, wenn ihr durchaus wollt!« sagte Doktor Sauermann, denn er war der
+Bescheidene. Die Gesellschaft dämpfte ihre Stimmen. So begann er seine
+Geschichte.
+
+Sie ist einfach genug. Sie ist schlicht, wie der Doktor selbst war. Auf
+einer Gebirgspartie verunglückte der reiche Baron Schuß von Überschuß.
+Der Chirurg des Alpendorfes, in welchem der Verletzte liegen bleiben
+mußte, behandelte ihn und telegraphierte täglich das Bulletin in die
+Welt hinaus: »In dem Befinden des Herrn Barons Schuß von Überschuß
+keine bedenklichen Symptome. Dr. Eras Sauermann.« -- »Der Zustand
+des Herrn Barons nimmt seinen normalen Verlauf. Dr. Eras Sauermann.«
+-- »In dem Befinden des Herrn Barons ist eine kleine Verschlimmerung
+eingetreten. Dr. Eras Sauermann.« -- »Das Wundfieber des Patienten hat
+sich in besorgniserregender Weise gesteigert. Die Kräfte schwinden.
+Dr. Eras Sauermann.« -- »In dem Befinden des Herrn Barons Schuß ist
+eine leichte Besserung eingetreten. Dr. Eras Sauermann.« -- »Der
+hochgeborne Herr Baron Schuß von Überschuß, k. Oberkämmerer, der Krone
+geheimer Rat, Ordensritter des goldenen Kreuzes, Besitzer vom Orden
+des heiligen Ludwig usw., ist heute morgens drei Uhr gestorben. Dr.
+Eras Sauermann.« -- Bei dem Leichenbegängnisse folgt unweit hinter
+dem Galawagen in offener Kalesche ein interessanter blasser Mann in
+tiefer Trauer. -- Wer ist das? -- Der Arzt, der ihn behandelt hatte.
+-- Also ein Leibarzt. -- Doktor Eras Sauermann. -- Bald hernach
+zieht er in die Stadt und ist der renommierteste Arzt der Geld- und
+Geburtsaristokratie. »Ich kann wohl sagen,« schloß der Herr Doktor,
+»ich bin auf ganz normalem Wege emporgekommen. Von Reklame war ich
+stets ein geschworener Feind, das einzige, was ich mir in dieser
+Beziehung gestatte, ist, daß ich meinen Patienten möglichst das letzte
+Geleite gebe.«
+
+»Nun, es ist ja gewiß keine Schande, heutzutage durch Reklame etwas
+zu erreichen,« sagte der akademische Maler Rakutti. »Neun Trommler
+und vierundzwanzig Trompeter müssen siebenmal sieben Wochen jeden Tag
+lärmend durch die Stadt ziehen, bis endlich jemand frägt, was der
+Teufel denn eigentlich los sei? -- Meine Herrschaften, seht ihr dort
+den verkommenen Menschen?« -- Jawohl, was soll der? -- »Der soll viel,
+ihr schönen Frauen und ihr noblen Herren, denn er kann alles. Es ist
+das ~Genie~! -- Ah!«
+
+»Sehr gut, sehr wahr!« rief die Tischgesellschaft.
+
+»Eine eigenartige Illustration für oder, wenn Sie wollen, gegen
+das Gesagte ist meine Geschichte,« fuhr der Maler fort. »Ich habe
+Kunstwerke geschaffen, ich bin kein Freund von vielen Worten, ich sage
+bloß: Kunstwerke. Dieselben hingen in den Ausstellungen oder sie wurden
+durch Mißgunst der Akademie-Direktoren, von welchen die meisten leider
+auch selbst malen, dem Publikum vorenthalten. Die Kritik verschwieg,
+oder was noch schlimmer, lobte mich mit jenen tückischen Phrasen, die
+dem Publikum nichts sagen als: Der Mann ist sehr arm, denn seht, wir
+geben ihm Almosen. -- Kurz, als ich das dreiundzwanzigste Bild schuf,
+war das erste noch nicht verkauft. -- Vierundzwanzig macht majorenn,
+dachte ich, und das vierundzwanzigste Bild soll etwas Besonderes
+werden. Es wurde auch! Das ewig Weibliche, Frauen in unverhüllter
+Schönheit sind immer willkommen! Als ich eine Reihe solcher Gestalten
+gemalt hatte, ohne eigentlich dabei an etwas anderes zu denken, als
+an die Wirkung der Farben (denn die Farben sind bei einem Gemälde
+doch die Hauptsache) nannte ich sie: die Genien der Freude. -- Sie
+gelangten mühelos in die Kunstausstellung, denn das Echte siegt
+endlich doch. Aber am dritten Tage nach der Eröffnung verlangten die
+Journale die Entfernung des Bildes -- aus Sittlichkeitsrücksichten.
+Noch an demselben Tage strömte das Publikum massenweise in die Galerie,
+um sich an den Genien der Freude weidlich zu entrüsten. Allein, wo
+das Bild gehangen, gähnte nur mehr die leere schmutzigrote Wand mit
+dem Zettel: Nr. 52 zurückgezogen. Aber die Genien blieben in ihrer
+Zurückgezogenheit nicht allein. Durch besondere Schliche war es
+immerhin möglich, das Bild in seinem Gewahrsam zu sehen, und weil
+jeder mit starkem Kopfschütteln aus der Kammer trat, so wollten immer
+noch mehr Besucher hinein. Es war ein Skandal, von dem die halbe Stadt
+sprach. Der Skandal lag jedoch nur im Skandal, nicht im Bilde. Und was
+geschah? Ich erhielt eine Zuschrift: Euer Wohlgeboren, da ich kaum
+voraussetzen darf, daß Sie als Verfertiger -- Verfertiger schrieb der
+Gauch! -- und Eigentümer Ihres geradezu skandalösen Bildes: Die Genien
+der Freude, dasselbe vernichten werden, so fühle ich mich im Namen
+des guten Anstandes veranlaßt, es ein- für allemal vor unberufenen
+Augen unsichtbar zu machen. Ich biete Ihnen dafür dreitausend Mark. --
+Unterschrift der Name eines bekannten Börsenjobbers.«
+
+»Selbstverständlich waren Sie entrüstet über das unwürdige Angebot und
+verlangten sechstausend Mark!« lachte der Major.
+
+»Nein,« sagte der Maler, »ich sandte dem Herrn ein höfliches +billet
+de correspondance+, in dem ich sehr bedauerte, das Bild unter
+zehntausend Talern nicht abtreten zu können. -- Am nächsten Tage
+hatte ich die dafür lautende Kassa-Anweisung in der Hand. -- Die
+Genien wurden allsogleich abgeholt, sollen aber bis heute noch nicht
+vernichtet sein. -- Ich malte nun Bild für Bild ähnlichen Genres,
+keines kam in die Ausstellung, jedes wurde von den Reporters, die sich
+in den Ateliers herumtreiben, und auch von neugierigen Kunstmäcen mit
+Interesse beblinzelt, mit Würde verdammt und fast noch vor seiner
+Vollendung von Privaten angekauft. -- Jetzt erst verstand ich das
+Wohlwollen der Presse und ich wollte den Rezensenten zu Ehren ein Fest
+geben. Sie lehnten es in Mehrzahl höflich ab. Ich aber bin seither der
+berühmte Mann und gedenke es auch noch ein Weilchen zu bleiben.«
+
+Nun war die Reihe -- es ging um den Tisch wie ein Rundgesang -- an dem
+Major Abacitz. Der war jedoch zur Tür hinausgegangen.
+
+»Er soll sich ja im letzten Kriege ausgezeichnet haben,« sagte der
+Chemiker Iseling.
+
+»Meines Wissens,« antwortete der Doktor, »hat er bloß das Gefecht von
+Otterlitz verloren.«
+
+»Darüber ließe sich zur Tagesordnung gehen, und so hätte wohl Herr
+Werner das Wort.«
+
+»Meine Geschichte ist groß!« versetzte der Schauspieler hohlen Tones,
+als begänne er den Franz Moor des Lewinsky zu deklamieren, »sie ist
+sehr groß. Ich will den Schauspieler nicht mit anderen Künstlern
+vergleichen. Was ist der Maler? Er hat als Material die Leinwand, die
+Farbe; der Bildhauer hat den Marmor, der Dichter das Wort, der Musiker
+den Ton. Der Schauspieler allein ist sein eigenes Material, seine
+eigene Leinwand und Farbe, sein eigener Marmor, sein eigenes Klavier.
+Der Schauspieler ist der einzige Künstler, der aus sich selbst schafft.«
+
+»Also aus nichts --« warf der Maler ein.
+
+»Was sagen Sie?«
+
+»Ich meine, aus nichts, wie Gott die Welt erschuf.«
+
+»In der Tat, ja. Doch davon zu sprechen gebührt mir nicht,« sagte der
+Schauspieler, »ich komme zu meiner Geschichte. -- In wenigen Monden
+gehen sieben Jahre um, seitdem ich nicht mehr am Leben wäre, wenn mich
+damals auf dem Theaterplatz in -- doch, wozu Ortsnamen! -- die Polizei
+nicht geschützt hätte. Was sagt ihr? -- Ich frage euch: ist ein Applaus
+im Auditorium ein Applaus? Ist das Klatschen und Strampfen und Johlen
+und Namenrufen ein Applaus? Nein, meine Herren, das ist kein Applaus.
+Sind Lorbeerkränze mit roten Seidenschleifen und Goldbuchstaben: »Dem
+großen Mimen Fridolin Werner« ein Applaus? Sind hundert verhimmelnde
+Notizen in den Tagesblättern über unvergleichliche Darstellungskraft,
+über Wiedergabe der Rolle, wie wir sie nachgerade noch nie erlebt, über
+fingierte Engagements in großen Hoftheatern und dem unersetzlichen
+Verlust, der unserer Bühne droht; sind glorifizierende Feuilletons
+mit Biographie und schwungvoller Aufzählung aller Triumphe in
+glühenden Superlativen ein Beifall? Wenn dich Studenten von der
+Bühne zur Garderobe auf den Achseln tragen -- nennt ihr das Erfolg?
+-- Es tut mir leid, dann seid ihr schlecht berichtet. -- Wenn du
+aber in »Kabale und Liebe« den Wurm spielst, und das Publikum gerät
+über den elenden Bösewicht derart außer sich, daß es dich nach der
+Vorstellung auf deinem Wege in den Klub abpaßt und aus wütend empörtem
+Gerechtigkeitsgefühl totschlagen will: ~Das~ ist Applaus, Beifall,
+Erfolg!«
+
+Werner ließ sich auf die Lehne seines Sitzes zurücksinken und
+sagte weiter kein Wort. Es war auch keines mehr nötig. Das war die
+Geschichte, wie er berühmt wurde; der Vorfall stand damals in allen
+Blättern, und auch seither, so oft Herr Werner auf irgend einer Bühne
+Gastrollen gab, vollends wenn er den Wurm brachte, ließ er's »auf dem
+Platze« abdrucken, wieso ihm der Erfolg dieser Rolle schier einmal
+an's Leben gegangen sei.
+
+Jetzt war's am Chemiker Iseling.
+
+»Ihr sprecht da von Erfolgen,« sagte dieser, »die mir nicht imponieren
+können. Ich möchte sie Zufallserfolge nennen. Eine mit männlicher
+Entschlossenheit durch allerlei Hindernisse mit schweren Opfern
+zielbewußt selbstgeschaffene Existenz weise mir einer auf, wie die
+meine! Eine Berühmtheit, die über den Großen und Stillen Ozean ebenso
+mächtig hinklingt, wie über unsere Donaugelände, weise mir einer auf,
+die der meinen gleichkommt! Iseling's spanisches Brustmalz! Depots in
+Paris, London, Kalkutta, San Franzisko, Melbourne --«
+
+»Fischamend, Benslau --« spottete der Maler.
+
+»Nicht zu verachten, meine Herren! In kleinere Orte ist es schwerer zu
+dringen, als in die großen. Wen der Kleinbürger und der Bauer kennt,
+~der~ darf sich auf seine Berühmtheit eins gönnen!«
+
+Er trank scharf sein Glas Rheinwein aus. »Es hat mich ein gut Stück
+Geld gekostet,« fuhr er fort, mit der hohlen Hand seinen Bart
+trocknend. »In ein paar Jahren hoffe ich das Jubiläum der Million
+feiern zu können.«
+
+»Die Sie mit dem spanischen Brustmalz gewonnen haben?«
+
+»Ach Gott, dieses Jubiläum ist längst gefeiert. Die Million, die ich
+für Inserate und andere Reklame ausgegeben habe!«
+
+»Ich kann mich aber in der Tat kaum erinnern, je einmal ein Inserat
+über das spanische Brustmalz in den Zeitungen gelesen zu haben,«
+bemerkte der Maler.
+
+»Lieber Freund,« belehrte Iseling, »mit dem gewöhnlichen Annoncieren
+und Anpreisen, mit dem Abdruckenlassen der Dankschreiben durch das
+Brustmalz geretteter Personen und was dergleichen Schwindel mehr ist,
+befasse ich mich nicht. Da täte mir wahrhaftig meine Ware leid. Wir
+verfügen über andere Mittel.«
+
+»Zum Beispiel?«
+
+»Zum Beispiel wollen wir einmal den Kalender von der Wand nehmen.
+Da haben wir gleich -- Zeitrechnung auf das Jahr 1883. Sie sehen!
+Seit der Erschaffung der Welt 5832 Jahre. -- Seit der Einführung des
+Gregorianischen Kalenders 304 Jahre. Seit der Erfindung des spanischen
+Brustmalzes 35 Jahre ....«
+
+Lachend stießen sie mit ihm die Gläser an, nur Paulo, der Romanzier,
+starrte finster auf die Tischplatte, und als er wegen seiner schweren
+Schweigsamkeit zur Rede gestellt wurde, murmelte er: »Das ist mir zu
+frivol.«
+
+»Nun müssen ja Sie mit Ihrem Latein vorrücken.«
+
+»Ich schweige,« antwortete Paulo und schüttelte seine lange schwarze
+Mähne, die das blasse Gesicht wie bei einem Magier umrahmte. Dazu hatte
+er eine Art Schlangenbändigeraugen und um den Mund die Furchen des
+Weltschmerzes und die Klammern des Spottes. »Ich schweige,« antwortete
+er, »denn an einer Tafelrunde, wo Erfolg und Ruhm in ~solcher~
+Weise charakterisiert worden sind, könnte die Erzählung eines sich
+aus schwerer Not und mit sittlicher Kraft zur Anerkennung der Nation
+emporgerungenen Mannes wohl kaum jemals Verständnis finden.«
+
+»So könnten wir jetzt vielleicht ein Kartenspielchen arrangieren,«
+meinte sehr boshafterweise der Schauspieler Werner.
+
+»Ja und tausendmal ja!« rief Paulo, wirklich erbost darüber, daß just
+er nicht zum Erzählen kommen sollte. »Spielet, spielet! Das ist ja
+die Art der guten Deutschen, zechen und kartenspielen, anstatt sich
+an dem geistigen Schatze der Nation zu belehren und aufzurichten und
+ihre Schriftsteller vom Untergange zu retten. -- Mich haben, das kann
+ich wohl sagen, lediglich die Gelegenheitsgedichte zu Hochzeitsfesten,
+Kindstaufen und Jubiläen vor dem Hungertode gerettet. Meine
+Jugendgedichte! -- außer Schiller und Heine schriebe sie mir keiner
+nach! -- Und wenn ich Ihnen sage, daß ich die Druckkosten derselben
+mit der kleinen Erbschaft meiner Tante als meinem einzigen Vermögen
+bestreiten mußte! In Deutschland, wo jährlich Tausende für Zeitungs-
+und Kolportagegeschmiere ausgegeben werden! Ich wollte hierauf eine
+große Dichtung schreiben als Seitenstück zum »Faust«. Doch nein, Paulo,
+sagte ich mir, die Deutschen sind derlei nicht wert; sie hätten auch
+den Geheimrat Goethe verhungern lassen, wenn Geheimräte zu solcher
+Todesart überhaupt inklinierten. Hingegen schrieb ich nach manch
+kleineren Arbeiten, die mir viel Lob eintrugen, aber kein Geld, einen
+großen Roman unter dem Titel: Die Auster von Tergestum. Daß diese
+Dichtung mein Glück machen werde -- ich wußte es im voraus. Ich trug
+das Manuskript zu meinem Verleger. -- Gucken Sie nicht so sauer drein,
+lieber Mann, sage ich, heute habe ich einmal etwas für Sie. Sie wollen
+doch Millionär sein? -- Ich hätte nichts dagegen, meinte er. Gut,
+ich verkaufe Ihnen das ein- für allemal, für alle Auflagen, für die
+Übersetzungen in allen Sprachen. -- Aber, mein Teurer, es tut mir leid!
+sagte der Verleger, und solche Leute, wenn sie höflich werden, sind
+unausstehlich. Teuerster! sagt er, heutzutage einen dreibändigen Roman,
+und von einem unbekannten Namen! Wo denken Sie hin! -- Herr, der Roman
+ist gut! rufe ich. -- Ach, das ist Nebensache, der Name muß gut sein!
+sagte der Verleger. Schreiben Sie ein schlechtes Buch, so schlecht Sie
+wollen, aber setzen Sie auf's Titelblatt einen berühmten Namen, zum
+Beispiel: Max Freihag, und ich drucke es und zahle dreißig Taler für
+den Druckbogen. -- Tun Sie das? frage ich. -- Jawohl. -- Gut. -- Ich
+nehme mein Manuskript unter den Arm und gehe geradewegs zu Freihag. --
+Der Romanschriftsteller Freihag wohnte nämlich in derselben Stadt in
+-- doch wozu Ortsnamen! rufe ich mit Freund Werner. -- Freihag, ich
+wußte aus mancherlei Anlässen, daß er mir wohlgestimmt war und ein
+gutes Herz hatte. -- Ich traf ihn zu Hause. Oh, lieber Freund! rief er
+mir schon an der Türe entgegen, heute ist's nicht! -- Was ist nichts?
+frage ich. -- Sie wollen ja doch wieder Geld von mir! -- Ach nein,
+Herr Doktor, sage ich. -- Das ist gut, meinte er, denn heute habe ich
+selbst keines. -- Das macht gar nichts, sage ich, denn heute müssen
+Sie mir mit etwas anderm helfen. Sie müssen mich glücklich machen für
+mein ganzes Leben! Ich will nämlich heiraten -- und ich wollte in
+der Tat, ich war gerade in ein reizendes Ballettmädchen verliebt und
+in dem rechten Moment fiel es mir nun bei: wahrhaftig, das könntest
+du als Motiv anführen, und sie hernach wirklich heiraten. -- Da soll
+ich Ihnen wohl gar den Brautwerber abgeben? lachte der Doktor. -- Das
+nicht, sage ich, oder ja, wenn Sie's so nehmen wollen. Sie müssen mir
+nämlich meine materielle Existenz gründen. -- Aber, lieber Freund, wie
+vermöchte ich das? -- Doktor, Sie vermögen es, Sie können es und Sie
+werden es tun. Hier habe ich einen Roman geschrieben und Sie werden
+meinen Verleger vermögen, daß er mir dafür Honorar zahlt. -- Wie soll
+ich das anfangen? fragt er; ach, 's ist ein liebenswürdiger Mann. --
+Das ist sehr leicht, berichte ich, es wird Ihnen im Leben selten etwas
+so wenig Mühe gemacht haben, als das, und Sie werden nicht leicht
+wieder einen finden, der sich mit so geringem Opfer namenlos glücklich
+machen läßt, als ich. Denken Sie: eine schöne, herrliche Braut, in
+die ich sterblich verliebt bin. Es wäre mir unmöglich, auch nur einen
+Tag noch zu leben, ohne die Gewißheit, sie heiraten zu können. -- Ja,
+es scheint, daß Ihnen die Liebe wirklich schlimm mitspielt, sagt der
+Doktor nicht ohne Zweideutigkeit; wenn es jedoch in dem Bereiche der
+Möglichkeit liegen sollte, Ihnen zu dienen --! Gut, sage ich, so wäre
+das abgemacht. Ich danke Ihnen. -- Nun, was wollen Sie denn eigentlich?
+ruft er aus. -- Ach ja so. Sehen Sie, sage ich, das ist der neue Roman:
+Die Auster von Tergestum, von Emil Paulo und Max Freihag. Oder wollen
+Sie voranstehen? -- Ich soll als Autor des Romanes? -- Ja, Doktor,
+Sie werden als Mitverfasser Ihren Namen auf das Titelblatt drucken
+lassen. -- Als Mitverfasser! ruft er, ich als Mitarbeiter an Ihrem
+Roman, ohne eine Zeile daran geschrieben zu haben?! -- Das können Sie
+nachholen, wenn Ihnen daran gelegen ist. -- So müßte ich das Werk doch
+zum mindesten durchlesen, denn Sie werden begreifen, daß --. Nein,
+unterbrach ich ihn, Doktor, das begreife ich nicht. Haben Sie Lust,
+den Roman heute zu lesen, so wird's mich freuen, aber was gewinnen Sie
+dabei? Entweder Sie finden, daß Sie ihn verantworten können, dann war's
+unnützer Zeitverlust; oder Sie werden durch die Lektüre veranlaßt, Ihr
+Versprechen zurückzunehmen, dann bin ich verloren. Und daran, Herr,
+daran zweifle ich keinen Augenblick, wenn Sie mit einem Namenszug
+einen Menschen retten, ja deren zwei glücklich machen können, so
+schreiben Sie Ihren Namen, wenn es sein muß, selbst auf ein ägyptisches
+Traumbuch. Die Revisionsbogen werden Ihnen ja Gelegenheit geben, den
+Roman kennen zu lernen, respektive zu bearbeiten. Die Hauptsache ist
+jetzt Ihr Name; mein Verleger schließt in einer halben Stunde das
+Kontor. -- Das war mein Begehr, und nicht einmal die Pistole brauchte
+man dazu in der Hand zu haben. -- -- Er hat's getan. Ich wußte recht
+gut: nach einer Stunde tut er's nicht mehr; sobald ihm wieder der
+Herzschlag langsamer geht, sobald er nachzudenken beginnt, tut er's
+nicht mehr. Nun, es gelang und er hat's getan.
+
+Atemlos hatte die Gesellschaft dem Romanzier zugehört.
+
+»Und wie verlief die Sache?« fragte der Schauspieler, der früher der
+Gleichgültigste geschienen und jetzt der Aufmerksamste war.
+
+»Sie verlief gar nicht,« antwortete Paulo, »sie ist noch heute, und
+ganz vortrefflich. Ich kam mit dem Roman zum Verleger zurück, der sah
+auf demselben freudestrahlend den berühmten Namen, den er für seinen
+Verlag schon seit langem vergeblich zu gewinnen gesucht, und zahlte mir
+fünfzehnhundert Taler als die erste Hälfte des Honorars auf die Hand.
+-- Außer einigen Streichungen fand der Doktor an dem Roman nicht viel
+zu modifizieren, das Buch ging reißend ab und hat bis heute sieben
+Auflagen erlebt. Selbstverständlich schrieb ich nun munter voran und
+für den Kompagnon Max Freihag's taten die Verleger allerorts ihre Arme
+und Börsen auf, obwohl die folgenden meiner Bücher nur mehr unter
+meiner Firma allein erschienen.«
+
+»Und hat der Streich dem Renommee Freihag's doch nicht etwa --?«
+Iseling sprach's, hatte aber nicht den Mut, den Satz zu Ende zu bringen.
+
+»Geschadet, meinen Sie!« fuhr Paulo empört auf. »Herr, seit der
+Erfindung des spanischen Brustmalzes mag es allerdings erst
+fünfunddreißig Jahre her sein, aber seit der Entdeckung des gesunden
+Menschenverstandes ist es doch etwas länger. Und der Menschenverstand
+sagt sonnenklar: Zwei ist mehr als eins. Freihag kann froh sein, ein
+höchst bedeutendes Werk unter seinem Schilde zu führen, zu dem er kaum
+die Feder angesetzt hat.«
+
+»Und Ihre Braut haben Sie geheiratet?« fragte der Maler.
+
+Ohne darauf zu antworten, nahm Paulo seinen Überrock und sagte: »Gute
+Nacht, meine Herren!«
+
+
+
+
+ Der Mann mit den dreizehn Talern.
+
+
+Der Mann, dessen Geschichte ich in schaulustigen Jugendtagen
+aufgeschrieben, war eine sehr wunderliche Erscheinung. Auswendig und
+noch mehr inwendig. Er war nicht groß, aber stark untersetzt und
+unter der rechten Achsel auffallend ausgewachsen, so daß an derselben
+Seite der kurze graue Wollspenser zwischen sich und der Hose das Hemd
+hervorlugen ließ. Das bleiche Gesicht sah recht offenherzig aus, war
+rund und hatte für das Dorf astronomische Bedeutsamkeit. Wenn dieses
+Gesicht neu und glatt rasiert war, so konnte man überzeugt sein, daß
+der Mond im ersten Viertel stand.
+
+Die Welt sah er nur halb, das heißt immer bloß mit dem einen, rechten
+Auge an, das linke hielt er stets zugedrückt. Und doch war er nicht
+einäugig, denn einmal hatte es sich ereignet, daß beide Augen hellicht
+offen standen. Die Leute meinten, der Alte verschließe das linke,
+weil er alles ~recht~ sehen wollte; andere behaupteten, er tue
+es aus Sparsamkeit, damit, wenn sich im Greisenalter die gewöhnliche
+Sehkraft erschöpfe, er noch ein neues, frisches Auge habe, und wieder
+andere vermuteten, der Alte tue es aus Nachsicht, daß er immer ein Auge
+zudrücke.
+
+Einen Zweck mußte es wohl haben, denn alles, was der Alte tat oder
+ließ, hatte einen Zweck. Oder weshalb ließ er seine nun bereits weißen
+Haare so lang wachsen, daß er sie wie einen Turban um die Stirne
+drehen konnte, als daß er dadurch die Kopfbedeckung von fremden
+Haaren ersparte? Und weshalb kaute er immer und immer wieder an einem
+Strohhalm, als zum Ersatz für das Rauchen, das er sich in seiner
+Jugend einmal angewöhnt hatte? Und weshalb hatte er in seinem Stübchen
+eine beflügelte Windmühle, die mehr als den halben Raum einnahm? -- Ja,
+die Geschichte von der Windmühle ist nicht einfach! Die Maschine stand
+aber auch nur im Winter in der Wohnung des Mannes, im Sommer ruhte
+sie in einer Rumpelkammer, die gleich daneben, und zu der die Stube
+des Mannes eigentlich das Vorzimmer war. Ob über diese Räume der alte
+Mann oder die Mäuse Hausherr waren, das ist nie recht klar geworden;
+bestimmt ist nur anzunehmen, daß beide Parteien in den Dachstuhlräumen
+des alten Pfarrhofes wohnten.
+
+So bedenklich die Holzleiter aussah, die zu diesen Räumen emporführte,
+so wohnlich waren sie eingerichtet. Eine Matratze, die am Boden lag,
+ein dreibeiniger Sessel, der daneben lehnte, ein wurmstichiger Schrank,
+der an der Wand stand und ein kleiner eiserner Ofen, der im Winkel
+kauerte -- das war außer der Windmühle die Einrichtung der Wohnung
+des Malchus Zacharias Rosenkranz. Das Fenster, das in der schiefen,
+reichlich mit Lehm überworfenen Dachwand in einer Nische stand, war
+wie der alte Malchus einäugig, da der andere Flügel mit blauem Papier
+verklebt gewesen. Indeß war der Ausblick durch die eine Glasscheibe
+um so erfreulicher, sie ging in den Hof zu den lieben Haustieren. Dem
+Fenster des Malchus gegenüber stand das Wirtschaftsgebäude und auf
+dem First desselben saß zu allen Stunden des Tages ein Spatz oder die
+Katz'! Und über dieses Bild wölbte sich am Tag der blaue Himmel, zur
+Nacht das Sternenzelt und zu trüben Zeiten der Nebel.
+
+Gelänge es mir, nun euren Blick von diesem Bilde ab- und nochmals auf
+das Innere der Behausung des Malchus zu lenken, so möchte ich auf den
+schwärzlichen Hafentopf aufmerksam machen, der am eisernen Ofen steht.
+Dieser birgt das Mittags- und Abendmahl des Mannes, sowohl für alle
+gewöhnlichen Tage, als auch für alle Feste des Jahres berechnet -- ein
+nahrhaftes Erbsengericht. Lohnend dürfte es sein, auch einen Blick in
+den Schrank zu tun. Da uns die zahlreichen Wurmstichlöcher aber doch
+immer keinen Einblick in das Innere zu gewähren vermögen, ist Malchus
+Zacharias Rosenkranz bereit, die Decke zu öffnen. Die hier verwahrten
+Holzschuhe und falbledernen Beinkleider, sowie der Sack Erbsenvorrat
+sind von minderem Belange; um so auffälliger aber ist uns die viele
+Schafwolle, die auf Spulen und Knäuel gewickelt ist, und das sorgsam
+gehaltene Strickzeug. Wir haben hier die Stätte der Arbeit vor uns;
+Malchus beschäftigt sich jahraus jahrein mit Stricken und versorgt alle
+Bauern, Hirten und Holzhauer der Umgebung mit Fäustlingen und Socken.
+
+Im untersten Winkel des Schrankes befindet sich aber ein Wollbeutel,
+der einen feinen, zarten Metallklang gibt, sobald ihn der Mann berührt;
+Malchus schichtet alle vorrätige Wolle über den Beutel und blinzelt
+dabei ganz merkwürdig mit dem rechten Auge. Dann blickt er unstet um
+sich, aber das linke Auge bleibt zu, nur der Strohhalm, an dem Malchus
+kaut, macht ein paar Schwingungen auf und nieder, was wohl gar eine
+Drohung bedeuten mag.
+
+Ein Geizhals, meint Ihr? -- Recht gut, so hat es einen Zweck, daß ich
+euch die Geschichte des Mannes erzähle.
+
+ * * * * *
+
+Malchus Zacharias Rosenkranz lebte schon seit einigen fünfzig Jahren in
+dem Dachstübchen des Pfarrhofes, und ihm sind auch die Tage bekannt,
+die er noch hier verleben wird. Er weiß den Tag seines Todes. Wie
+sie ihn über die hinfällige Leiter hinabbringen werden, das ist ihre
+Sache -- gewiß nur ist, daß sie nach Verlauf der bestimmten Zeit den
+alten Malchus hinaustragen werden auf den Kirchhof. Der Alte verzehrt
+trotzdem heute sein Erbsengericht so ruhig als vor dreißig Jahren. Er
+betet und hofft nur, daß bishin kein Unglück mehr komme.
+
+Eine Tagereise von unserem Dorfe, in einer schönen Gebirgsgegend, liegt
+der rote See. Dieser ist an vielen Stellen grundlos tief, birgt sogar
+Forellen in sich und hat seinen Namen von den roten Felswänden, die an
+seinen Ufern aufragen und sich in dem klaren Wasser spiegeln.
+
+Am Ufer dieses Sees stand vor vielen Jahren eine Fischerhütte. Sie war
+aus rohen Waldstämmen gezimmert und mit Lehm und Moos gegen Wind und
+Wetter wohlverwahrt. In der Hütte wohnten ein Mann und ein Weib und
+ein Kind. Der Mann war kühn und trieb sich die meiste Zeit auf dem See
+herum, bis er zu Abend mit beladenem Kahne gegen die Hütte ruderte. Das
+Weib war arbeitsam und pflegte den Gemüsegarten und die Ziegen, und in
+der Winterszeit höhlte es Holzschuhe aus zum Verkaufen. Das Kind war
+ein freudvoller Knabe, in welchem Jugendlust sprudelte und ein reiches,
+kraftvolles Leben zu schlummern schien.
+
+Das Fischerpaar liebte sein Kind unsäglich, aber es lag eine Betrübnis
+in seiner Doppelseele, so oft es den heiteren Knaben ansah. An jenem
+Tage nämlich, als dem Fischer das Kind geboren wurde, fing er in seinem
+Netze eine große Seespinne, wie er noch nie eine gesehen hatte, weil
+sie im roten See nicht vorzukommen pflegten. Er schleuderte das Tier
+wohl wieder zurück in die Wellen, aber nach seinem Sinn sollte der Fang
+für die Zukunft seines Neugebornen von böser Bedeutung sein. Er teilte
+dies auch seinem Weibe mit, welches zwar den Wahn des Gatten überlaut
+zu widerlegen suchte, im Innern aber bangte, des unglücklichen Lebens
+gedenkend, das vielleicht ihrem Kinde bevorstehe.
+
+Trotzdem wuchs der Knabe auf zum schönen Jüngling, der da lachte, als
+ihm die Eltern die Geschichte von der Seespinne mitteilten.
+
+Der Jüngling kam selten zu fremden Menschen; er sah dann und wann nur
+einen Holzhauer, einen Jägersmann, und wenn er auch bisweilen hinauskam
+in die Gegend, wo das Dorf und die Kirche standen und wo die Leute auf
+dem Felde oder auf der Wiese arbeiteten, so fühlte er sich dort nicht
+behaglich. Die ganze Liebe seines Herzens wendete er den Eltern zu.
+
+Zur Liebe kam auch der Segen. Jener Wahn des alternden Paares begann in
+diesem ruhigen und heiteren Fortleben zu schwinden.
+
+In einem Winkel oben unter dem Dache wohlverwahrt stand ein Kästlein
+aus hartem Buchenholz voll blanker Silbermünzen. Durch die vielen Jahre
+der Arbeit und des Fleißes hatte sich die kleine Familie ein Vermögen
+erworben, welches in dem alten Fischer keinen geringeren Plan wachrief,
+als den, die baufällige Hütte niederzureißen und sich am Ufer des Sees
+ein größeres Wohnhaus zu bauen. In seiner Seele mochte vielleicht das
+Bild einer lieben Tochter zu dämmern beginnen, die der Junge früher
+oder später bei den vielen Menschen draußen finden und nach Hause
+bringen werde.
+
+So zog der Jüngling eines schönen Julimorgens aus, um einen Baumeister
+und Arbeiter zu dingen. Wenn er an großen, stolzen Bauernhöfen
+vorüberkam, so studierte er die Bauart und den Geschmack, und er freute
+sich auf das Leben im neuen Hause, das sich in der Einsamkeit zwischen
+dem See und den roten Wänden doppelt schön ausnehmen werde, und er
+freute sich auf das Lieben und Pflegen der alten Eltern.
+
+Als er hierauf nach gewissenhaft vollführter Sendung in das
+Felsengebirge zum roten See zurückkehrte, da war alles aus. Wo die
+Hütte gestanden hatte, knisterte ein Gluthaufen und von demselben
+rieselte über die breiten Steine ein schmales Silberbächlein gegen
+den See, gleichsam als fordere dieser die unzähligen Silbermünzen,
+die er durch seine Fische erwerben half, geschmolzen wieder zurück.
+Und in dem Aschenhaufen lagen die verkohlten Leichname. -- -- Schöner
+Fischerjunge! Dort am Ufer steht noch der Kahn, dein Erbe. Geh' hinab,
+mache ihn los, springe hinein und fahre hinaus bis in die Mitte des
+Sees. Dort stürze dich kopfüber hinab -- zur Seespinne. --
+
+Er sprang nicht in die Glut, er sprang nicht in den See; er brach nicht
+zusammen; es trat ihm keine Träne ins Auge. Einen kurzen, gellenden
+Schrei stieß er aus -- -- dann drückte er sein linkes Auge zu und
+blinzelte mit dem rechten.
+
+Später wühlte er in den Kohlen und Bränden. Die Leichen seines Vaters
+und seiner Mutter ließ er liegen, wie sie lagen, bis nach vielen
+Stunden Leute kamen, die das Unglück sahen, das Fischerpaar begruben
+und den Jüngling mit hinaus nahmen ins Dorf.
+
+Aber seine Jugend war zu Ende. -- Das plötzliche unfaßbare Unglück, das
+mit einem einzigen Schlage alles geraubt hatte, was er besaß, was er
+liebte und an dem er hing mit seinem ganzen Wesen, hatte sein Gehirn
+erschüttert, sein Lebensmark geschmolzen -- ein blödsinniger Greis von
+siebzehn Jahren -- drückte stets das linke Auge zu und kaute an einem
+Strohhalm.
+
+Die Brandstätte seiner Heimatshütte lag öde da; Fischlein im See
+reckten oft ihre Köpfe empor, ob denn der Alte nicht wieder einmal
+käme mit seinem hinterlistigen Garnsack, und da er nicht kam, so
+veranstalteten sie lustige Spiele und feierten das Fest durch Tänze
+und Wettrennen nach Mücken und Würmchen. Doch endlich kam wieder ein
+starker Mann, der mit riesigen Garnbeuteln den roten See neuerdings
+unsicher machte.
+
+Für das geschmolzene Silber, welches von der Hütte über die breiten
+Steine gegen den See geflossen und unterwegs gestockt war, bekam der
+arme Malchus dreizehn Taler.
+
+Bisher hatte er eine Wollmütze am Kopfe getragen, die nahm er nun ab
+und wickelte das Geld hinein und sagte zu sich: »Das ist gerade genug,
+daß sie die Glocken läuten und daß der Pfarrer mitlauft, wenn mich
+die sechs Träger hinaustragen. Sechs? Ei, ich dächte, für den Malchus
+tätens auch bloß zwei.«
+
+Ein alter Pechbrenner, in dessen Hütte Malchus seit dem Unglücke
+wohnte, ließ sich die dreizehn Taler zeigen, legte dann den Finger auf
+den Mund und flüsterte: »Malchus, das ist ein Kapital, geh' damit ein
+Geschäft an! Schau, ich habe vor fünfunddreißig Jahren, als ich in
+den Wald ging, nur zwei Sechser gehabt, kaum, daß ich mir davon den
+Pechhafen hab' kaufen können, und heute schau dir einmal meine Pecherei
+an! Probier's auch du. Kannst es so weit bringen wie ich!«
+
+Auf diese Worte legte der junge Mann einen Grashalm auf die Zunge;
+indem er an demselben zu kauen begann, sagte er langsam: »Meinst? Wart,
+Domini, wart, mit fünfunddreißig Jahren hab' ich's weiter gebracht als
+du. Bin ja ein Glückspilz, ich!«
+
+»Wie du ein Kerl bist, sollst du ja die Welt auf die Achseln nehmen wie
+einen alten Heukorb! Fikra sikra Haferstern! Wenn ich der Malchus wär',
+ein Schloß von Elfenbein müßt' ich haben und das schönst' Weible drin
+und ein goldenes Bettstattl mit Roßhaar! -- tät's nicht billiger!«
+
+Malchus lächelte, aber sagte nichts drauf; er wickelte seine dreizehn
+Taler wieder langsam in die Wollmütze.
+
+»Und was willst du nachher mit deinen dreizehn Aposteln da? Geh, ist ja
+der Judas noch dabei! Du, Malchus, den mußt weg, er verrät dir sonst
+die andern all. Oder der dreizehnte stirbt und steckt dir die anderen
+an. Mußt ihn weg, Malchus!«
+
+»Mag wohl wahr sein,« meinte der Bursche, faltete seine Mütze wieder
+auseinander und hielt dem Pecher eine Münze hin.
+
+»Junge, da tust du gescheit,« sagte der andere schnell und steckte den
+Taler in die Tasche, »bei mir hat er's gut, wenn du ihn brauchst, so
+komm und hol ihn.«
+
+Ein andersmal, als Malchus tagelang zwecklos im Walde herumgelaufen
+war, sagte der Pechbrenner zu ihm: »Ja, was willst denn, Malchus, du
+bist ein ganzer Narr!«
+
+»Das hab' ich mir auch schon gedacht,« entgegnete der Bursche. Dann
+warf er sich schluchzend an die Brust des alten Mannes und sagte:
+»Domini, lieber Domini, ich weiß mir keinen Rat. Du, ich sag' dir's,
+wenn sie mich nicht gleich auf die Bahr' legen, so kommt noch früher
+ein großes Glück über mich!«
+
+»Ein großes Glück, meinst? Tät' dir schon recht geschehen und ich
+wollt' dir's wünschen.«
+
+»Weh!« rief Malchus aus und wollte dem Pechbrenner den Mund verhalten.
+Und nachher sagte er: »Ja, ja, Glück wär schon recht! Aber da kommt
+dir auf einmal eine Stunde, und das Glück, fleißig aufgebaut in vielen
+Jahren, wird in einer Nacht zum Unglück. Domini, ich sag' dir's, wenn
+unten beim roten See jetzt eine Fischerhütte stünde, und es lebte ein
+guter Mann drin, der mein Vater, und eine gute Frau, die meine Mutter
+wäre -- ich ginge nicht hinab zu dieser Hütte; nein, alter Domini, und
+wenn ich nur mit den Tieren des Waldes leben müßte, ich ginge nicht
+hinab -- 's möcht vielleicht schön sein unten -- schau mich an, Domini
+-- schön sein unten; es möchten Tage sein wie die himmlischen Freuden
+-- da kommt das Unglück und alles ist hin. Nein, nein, ich ertrags
+nicht mehr, das Glück, das falsche, und du wirst wohl recht haben,
+Domini, ich bin ein ganzer Narr.«
+
+Dem alten, lustigen Domini war diesmal zur Entgegnung kein Scherz
+eingefallen. Er schwieg und dachte daran, wie das plötzliche Unheil auf
+den Burschen einen solchen Eindruck gemacht hatte, daß er das Glück nur
+als Ursache des Unglückes betrachtete und es fürchtete, wie das Unglück
+selbst.
+
+»'s wird alles wegen der Seespinne geschehen sein,« sagte Malchus, »und
+ich weiß nun schon, ich darf nichts anfangen in der Welt, 's tät' mit
+allem schlecht ausgehen. Ich will keine Freude mehr haben, die Trauer
+nachher ist zu bitterlich; mag auch kein Geld und Gut, tät's doch
+wieder verlieren. Mag gar nichts, bin einmal zum Unglück geboren. --
+Ich will das Elend schon ertragen, Domini, den Hunger fürcht ich nicht,
+die Kälte nicht. -- Ich ertrag' die Not, nur jäh darf sie nicht kommen.
+Domini, ich kann stricken; ich find' schon wo ein Platzel für die paar
+Jahre, und da stricke ich und erwerbe mir für jeden Tag eine Brotsuppe,
+oder, wenn das Geschäft gut geht, von Erbsen was. Die Lederhose da,
+schau einmal, Domini, sie ist von Hirschleder, die hält mir's reichlich
+aus, und dann soll das Unglück nur kommen, wo wills denn aufsitzen?
+-- Bleibt mir mein Geld nicht, ist recht, nur fort, liegt mir wenig
+daran; und bleibt es mir, so ist's gut. Die dreizehn Taler sind für
+mein Begräbnis.«
+
+»Hast nur zwölf mehr,« warf der Pechbrenner ein.
+
+»Zwölf?« sagte Malchus befremdet, »wo hätt' ich hernach den
+dreizehnten?«
+
+»Hast ihn ja mir gegeben, von wegen dem, weil er der Judas war,« lachte
+der Alte, »aber, wenn du ihn wieder haben willst ...«
+
+»Nein, behalt' ihn nur,« sagte Malchus, »du hast mir jetzt lange
+Zeit hier in deinem Hause Dach und zu essen gegeben. Ich dank' dir's
+tausendmal, Domini, aber jetzt werde ich dich verlassen, ich gehe ins
+Stricken aus; bet' dann und wann ein Vaterunser für mich; schau der
+Malchus ist eigentlich doch ein armer Teufel.«
+
+Das waren die Abschiedsworte. Seine Wollmütze im Sack, einen Stock
+in der Hand und einen langen Halm zwischen den Zähnen -- so wandelte
+Malchus langsam durch den Wald und hinab zum See, wo am Ufer eine
+kleine rötliche Mauer stand. Der Herd ist noch geblieben, als ob das
+Schicksal höhnen möchte: Ei, sieh' da, Malchus Zacharias Rosenkranz hat
+doch auch einen eigenen Herd! --
+
+Der blödsinnige Bursche wühlte -- weil er just vorüberging -- ein wenig
+in dem Aschenboden, ob etwa nicht irgendwo noch ein Eisennagel läge.
+Einen rostigen Pfeifendeckel aus Stahl fand er -- -- den hatte der alte
+Fischer einst auf- und zugedrückt, als er behaglich schmauchend am
+Tischchen gesessen war und zu seinem Weib und zu seinem Sohne gesagt
+hatte: »Nu, was meint ihr, werden uns halt ein Häuslein bauen müssen,
+das ein wenig größer und bequemer ist. Junge, zuletzt wirst du auch
+noch zwei Stuben haben wollen!«
+
+ * * * * *
+
+Als sich der Bursche in einem entfernteren Tale nach Strickarbeiten
+umsah, lachten ihn die Leute aus. -- So jung und ein Altweibergeschäft!
+
+Aber weil's gar zu sonderbar war, so gaben sie ihm doch eine Arbeit.
+
+Malchus half auch auf dem Felde, aber da war er sehr unbeholfen. Einmal
+zur Erntezeit sagte man ihm: »Nur fleißig Korn tragen, Malchus.« Und
+setzten das Sprichwort dazu: »Die Kornträger werden reich.« Auf diese
+Worte wollte der Bursche keine Garbe mehr anrühren.
+
+»Warum gehst du denn immer barhaupt?« fragte ihn einmal eine junge
+Magd, und wickelte sich seine wirren Locken um den Finger.
+
+»Das weiß ich nicht,« antwortete Malchus und blickte seitwärts.
+
+Wenn er mit andern zu Tische war, so aß er immer nur Brotsuppe und
+Gemüse, und wenn sie ihn zum Fleischgericht oder zu fetten Mehlspeisen
+einluden, sagte er: »Vergelt's euch Gott, nach so was ist's so viel
+schwer, sich was Einfacheres anzugewöhnen.«
+
+Einmal sagte der Bauer, bei dem er arbeitete: »Malchus, ich schenk' dir
+eine Pfeife, daß du nicht immer an einem Strohhalm zu saugen brauchst.«
+
+Darauf der Bursche: »Wenn du auch den Tabak dazu gibst?«
+
+»Wie hast dir denn dein linkes Aug' abgebrochen, Malchus?« fragte
+ihn die schalkhafte Bäuerin eines Mittags, als sie dem Burschen eine
+Erbsensuppe vorsetzte.
+
+Dieser aß die Erbsensuppe, antwortete jedoch nicht auf die Frage. --
+
+Endlich sah man ein, daß der Malchus ein Hascher sei, und man
+behelligte ihn nicht mehr mit Witzen und Zumutungen, denen er
+nicht entsprechen konnte; man gab ihm Wolle und ließ ihn bei seinen
+Stricknadeln, und Malchus strickte und schien zufrieden.
+
+Er war ruhig, gutmütig und anhänglich, man ließ dem armen, heimatlosen
+Burschen auf dem Dachboden des alten Pfarrhofes ein Stübchen.
+
+Malchus, der seit dem Unglücke bisher im Tale in verschiedenen
+Bauernhöfen gelebt und gearbeitet hatte, war anfangs kaum zu
+bewegen, seine neue Wohnung zu beziehen. »Auf einmal wird mein Haus
+niederbrennen.«
+
+Gegen die Stiege, die man ihm zu seiner Dachkammer bauen wollte,
+verwahrte er sich auch. »Gebt mir nur eine Leiter, die man allzeit
+wegziehen kann; dem Unglück darf man nicht auch noch die Wege machen.«
+
+So begann nun Malchus in seinem neuen Hause zu leben. Bei trübem Wetter
+saß er auf der Matratze und strickte oder sah sich dann und wann auch
+seine zwölf Taler an, die er im alten Holzschranke verwahrt hielt. Die
+sind halt für's Läuten und für's Hinaustragen und für den Segen in die
+Grube. Ja, wo war denn der dreizehnte? Den hatte er zuletzt gar dem
+alten Domini geschenkt? Ei, ei!
+
+An heiteren Tagen aber kletterte er über die Leiter herab, ging durch
+das Dorf, über Feldwege und redete einige Worte mit den Leuten, die ihm
+begegneten, und strickte.
+
+Mit seinem lockigen Barhaupte und dem zwinkernden Auge und den
+unvermeidlichen Halm zwischen den Lippen sah er aus wie ein
+stillheiteres Gemüt.
+
+Die Arbeit holte er sich von seinen Kunden selbst, wer hätte es auch
+wagen mögen, über die gebrechliche Leiter in sein Stübchen zu steigen!
+
+So saß er denn allein und strickte oder sah am kleinen Ofen nach,
+was die Erbsen machten; zu Zeiten, wenn eine lebhafte Flamme war,
+wurden sie gar lebendig und stiegen heraus, und Malchus mußte sie mit
+kaltem Wasser wieder zurück hineinjagen, die Flüchtlinge, die er doch
+verzehren wollte. --
+
+An einem Sonntag Vormittag. Die Leute waren alle in der Kirche,
+auch Malchus saß in einem Winkel hinter dem Taufstein und betete
+seinen Rosenkranz ab und murmelte zu der braunen Korallenkette: »Du
+bist ein Rosenkranz und ich bin auch einer; du hast ein Kreuz und
+einen »Glauben« und zweiundsiebzig Perlen; ich hab' auch ein Kreuz
+und einen Glauben, aber ob ich mein Lebtag zweiundsiebzig Tugenden
+zusammenbring', d'rauf wollt' ich nicht wetten. Bin doch oft recht
+untugendsam, wenn ich gar so übermäßig über mein Unglück trauere und
+das Leben und meine Jugend verachte, als ob just auf mich alles Elend
+kommen wollte. Zuletzt werde ich so glücklich sein wie alle anderen,
+und mein Klagen und Zittern ist ein Frevel. Deswegen, du tugendsamer
+Rosenkranz, tu' nur ein wenig beten für den untugendsamen!«
+
+Da kam plötzlich der Kirchendiener aus der Sakristei und sagte dem
+Pfarrer am Altare etwas ins Ohr. Der Pfarrer kehrte sich gegen die
+Gemeinde und rief laut: »Feuer ist im Dorf, geht löschen!« Am Turm
+schlugen schon die Glocken an.
+
+»Aha, ist schon da!« murmelte Malchus und erhob sich von seinem Stein.
+
+»Wo brennt's denn?« fragten sich die Leute und stürmten in das Freie.
+
+»Wo wird's brennen, ihr Kindischen,« sagte Malchus ruhig, »im Pfarrhof
+brennt's; oben in meiner Stube brennt's; 's wird wieder meinen Vater
+und meine Mutter haben wollen oder mich, und jetzt bin ich gar nicht zu
+Hause.«
+
+Er steckte seinen Rosenkranz in die Tasche und ging hinaus.
+
+Am unteren Ende des Dorfes qualmte dichter, rötlich-brauner Rauch
+auf. »Das ist der große Heustadl!« hieß es, und die Leute eilten mit
+Eimern und Kübeln und Leitern und Haken gegen den Brand, und weil
+keine Feuerspritze im Orte war, so trugen sie aus dem Ziehbrunnen, der
+auf dem Platze stand und aus dem Bächlein, das weiter unten hinfloß,
+Wasser auf die Dächer. Der Stadl war nicht mehr zu retten, da pfiffen
+die Flammen schon aus allen Fugen und Löchern; jetzt brachen sie
+gewaltig aus; glühendes Stroh, brennende Schindeln flogen hoch. Auf
+den Nachbargebäuden kletterten Männer herum, warfen die Dachbretter
+herab, begossen die Firste und Dachstühle, vermauerten die Fenster. Sie
+riefen sich zu, aber im Knattern der Bretter und im Brüllen des Feuers
+hörten sie sich kaum. Die Weiber jammerten in den Gassen und schleppten
+Hausgeräte aus ihren Wohnungen; alte Kästen und Bettstätten zerrten
+sie hervor und vergaßen den Sparpfennig. Auf dem Turme schrillten
+stoßweise, in ungleichen Zwischenräumen die Glocken, daß von den
+Nachbargemeinden Hilfe kommen möge.
+
+Über all das lag der klare Sommertag und Sonnenschein, wenn auch die
+Schatten des Rauches über Dorf und Kirche hinflogen.
+
+Malchus half nicht im Löschen, nur daß er in der Nähe des Feuers beim
+Ausbringen von Hab und Gut tätig war.
+
+Zuletzt ging er gar davon, setzte sich auf einer Anhöhe nieder und sah
+dem Feuer zu. »Wie ihr auch löschen und wahren mögt,« sagte er, »das
+ganze Dorf brennt nieder. Das Feuer ist dort unten und mein Pfarrhof
+ist da oben am andern Ende. Du rothaariges Unglück, du hast es doch nur
+auf mich abgesehen, und jetzt hüpfest du über alle Hausdächer bis zu
+meiner Wohnung. Und ich bring' so viel Unheil über alles; es wär' doch
+das beste, ich tät der ganzen Welt aus dem Weg gehen -- ganz, ganz aus
+dem Weg -- die Seespinne wird keine Ruh' geben.«
+
+In einer Stunde später war der Heustadl eingestürzt und die Flammen
+leckten nur mehr an den Wandbäumen, die am Boden lagen. Die nächst
+angrenzenden Gebäude standen unversehrt da, nur daß bei einigen das
+rötlichgraue Dachstuhlgerippe nackt aufragte, weil es die Leute
+abgedeckt hatten.
+
+Die Kirchenglocken waren zur Ruhe gekommen, das Schreien war verstummt,
+die Weiber trugen ihre Geräte wieder in die Häuser und sie lachten,
+wenn sie gleich noch vor Aufregung zitterten.
+
+Malchus stieg vom Hügel, schüttelte wiederholt den Kopf: »Jetzt hat die
+rothaarige Bestie sicher gemeint, ich wohne im Heustadl!«
+
+Als er über seine Leiter steigen wollte, lag diese in Trümmern auf dem
+Boden, und neben ihr, ächzend und sich in Schmerzen windend, lag der
+Schuhflicker Fritz.
+
+Malchus kannte ihn gleich, der Mann flickte ihm ja seine
+Kuhlederschuhe. Er rief also: »Ja, Schuster, was ist denn dir
+geschehen?«
+
+Dieser wimmerte: »Wie das Feuer auskommen ist, hab' ich dem Malchus
+wollen sein Hab und Gut retten und bin über die Leiter gestürzt -- Fuß
+und Hand hab' ich mir gebrochen.«
+
+Während er dies sagte, wälzte er sich um und suchte einen grauen
+Wollbeutel zu verdecken, der neben ihm lag. Aber Malchus hatte diesen
+bemerkt und sagte: »Fritz, es schaut so aus, als ob du mir mein Geld
+gestohlen hättest!«
+
+»Malchus, nur retten hab' ich dir's wollen -- oh weh!«
+
+»Das kann sein, und es kann auch nicht sein -- gib nur her, Fritz.«
+
+»Zu tausendmal gern; aber sag niemandem was davon. Malchus, schau,
+bin ein armer Mann und hab' Weib und Kind. Hab' sonst noch keinem was
+gestohlen, mein Lebtag nicht. Sag nichts davon, Malchus; muß ja eh bald
+sterben!«
+
+So jammerte der Schuhflicker, und Malchus beruhigte ihn: »Ist dir
+vergessen; und zuletzt hätt' doch nur ich da herabstürzen sollen; das
+Unglück ist heut' schon das zweitemal zum Unrechten gekommen. Magst
+dich auf meine Achsel helfen, Fritz, ich trag' dich heim in dein
+Häusel.«
+
+Und er trug den Fritz heim in sein Häusel. »Frau Schusterin,« sagte
+er, »tut Euch nicht erschrecken; beim Löschen ist er auf den Erdboden
+gefallen«.
+
+Dann ging Malchus wieder seiner Wohnung zu, band die Leiter zusammen
+und stieg zu seiner Stube hinauf. Die Türe war offen, der Schrank
+ebenfalls. Malchus barg seine zwölf Taler wieder an ihrer Stelle.
+
+Leute, die den jungen Mann während des Brandes auf dem Hügel hatten
+sitzen sehen, sagten lieblose Worte. Andere, die ihn mit dem Schuster
+Fritz begegneten, erzählten Gutes von dem blödsinnigen Stricker.
+
+ * * * * *
+
+Es war im Spätherbste desselben Jahres, als eines Abends durch das
+Dorf der lustig polternde, pudelnärrische Brechelzug ging. Die Leute
+kehrten eben von der »Haarstube« zurück, wo sie gemeinsam ihren Flachs
+gebrechelt hatten; gingen jetzt zu einem reichlichen Mahle, welchem
+Tanz und anderes Freudige folgen sollte. Die Pfeifen und Geigen waren
+schon da und die Bläser und Streicher auch dazu, und die Füße des
+jungen Völkleins waren bereits voll Räder und Federn, besonders die der
+Dirndeln.
+
+ »Wia liab daß so a Diandl,
+ Wan's bleedan tuat, is!«
+
+Dem Zug voran gingen zwei Burschen, die mit Besen die Gasse auskehrten,
+und hinter her zog eine Magd und streute Agen auf den Weg, damit der
+Lust und der Freude, die hier im Triumph einherzog, die Kümmernis nicht
+folgen konnte.
+
+Als sie über den Platz am tiefen Dorfbrunnen vorüberkamen, standen
+einige plötzlich still und legten die Finger an den Mund; »ein
+Gespenst!« Andere blieben ebenfalls stehen und horchten. -- »Du
+Kreuzsappermost, was ist denn das da unten?«
+
+Aus der Tiefe des Brunnens hörte man Laute -- wie ein Wimmern und
+Weinen, dann wieder wie ein Lachen. Das war ja wieder dieselbe
+Stimme, wie man sie vor dreißig Jahren gehört hatte, als darauf eine
+Überschwemmung kam; und das war auch dieselbe Stimme, die vor achtzehn
+Jahren im Brunnen rief, als dann die große »Sterb« in der Gemeinde
+ausgebrochen.
+
+Die Pfeifen waren in schrillen Tönen ausgelaufen und schwiegen; die
+Leute flohen.
+
+Nur Malchus floh nicht. Er stand am niederen Brunnengeländer, starrte
+in die Tiefe und rief hinab: »Na heut' geraten wir zusamm', verdammte
+Seespinne du!« Dann verlangte er einen Strick, sie sollten ihn
+hinablassen.
+
+Die Leute wußten nicht was, aber sie brachten einen Strick und ließen
+Malchus in den Brunnen.
+
+Der Arme -- noch einen Blick gegen die Abendröte, gegen die Waldberge,
+gegen die weiße Dorfkirche, gegen die Menschen -- dann hatte er den
+Eimerbaum seitwärts gestoßen und es ging hinab -- von dem Lichte zur
+Dämmerung, zur Dunkelheit, zur Finsternis, den schauerlichen Tönen
+näher.
+
+Der Strick war lang und ging tief und tiefer hinab.
+
+Endlich schien die Last auf dem Wasser zu sein, der Strick war locker.
+
+Man horchte, man hörte kaum mehr die Laute von früher. Das halbe Dorf
+hatte sich um den Brunnen versammelt.
+
+Die Mauern und weißen Schindeldächer der Häuser waren gefärbt von der
+Abendröte; Fensterscheiben leuchteten, als ob alle inneren Räume in
+Flammen ständen -- so herrlich scheidet der Tag, so unheimlich naht die
+Nacht, und dem Manne im Abgrund -- wie wird's ihm ergehen?
+
+Endlich tönte aus dem Brunnen ein hohles, langgezogenes: »Auf!«
+
+Man spannte den Strick, man zog und zog; die Last war schwer, das Seil
+lag schon am Boden in unzähligen Ringen und Schlingungen wie eine
+endlose Schlange, und endlich --
+
+Malchus kam herauf und in seinen Armen hatte er, bedeckt von Schlamm --
+
+»Martha, meine Martha!« erscholl in dem Augenblicke eine Stimme, und
+ein Weib stürzte zum Brunnengeländer, auf das sich Malchus erschöpft
+mit seiner Beute gesetzt hatte. Nun erst sah er recht, was er trug: ein
+bleiches, schönes Mädchen, dessen feuchte Locken weit über seinen Arm
+hinabhingen.
+
+Malchus riß die Augen auf, auch das linke, und diesmal war es, daß der
+Mann die Welt zweifach anschaute.
+
+Das eine sank aber sogleich wieder zu, als das Weib, eine Näherin, mit
+ihrem Kinde laut weinend in das nächste Haus ging.
+
+Aber Malchus ging nach in das Haus und blieb so lange bei dem Mädchen,
+bis es die Augen aufschlug -- die blauen Augen, und bis es die Mutter
+küßte auf seinen zarten Mund und sagte: »Martha, du mein Leben, was
+hätte ich getan, wenn du dahin gewesen wärest!«
+
+Martha war neun Jahre alt und der Häuslerin einziges Kind. Zum Krämer
+war sie heute gegangen, auf daß sie Zwirn hole; spielend mit der
+kleinen Geldnote dahin über den Dorfplatz. Das Lüftchen spielte in
+ihren losen Haaren, aber dasselbe Lüftchen entführte ihr die Geldnote
+und trug das Papier hin und hin über das Geländer des Dorfbrunnens.
+Und wie nur zu viele Menschen dem Gelde nachjagen und in den Abgrund
+stürzen, so erging es auch der kleinen Martha; am Geländer blieb das
+Blättchen nicht liegen, es schwebte, das Mädchen langte über -- und so
+kam's.
+
+Unten unmittelbar in dem Wasser stand ein Balken in die Quere, daran
+klammerte sie sich, da kam Malchus hinab.
+
+Wie ihm das arme Weib dankte, wie ihn Martha anblickte, da war's doch,
+wie noch nie, wie noch gar nie in allen seinen Lebenstagen.
+
+»Und jetzt geh' ich dem Brechlerhause zu, heut' möcht' ich tanzen.«
+
+ * * * * *
+
+So vergingen wieder einige Jahre und das erwartete Unglück kam nicht.
+
+Malchus war um ein gut Stück heiterer geworden, aber er lebte immer in
+seinem Dachstübchen und strickte oder tat andere Kleinigkeiten. Zur
+Weihnachtszeit erhielt er immer ein Paket Wäsche, er wußte nicht von
+wem; der Pfarrer sagte: »Ich weiß wohl, wer dir das schickt, darf es
+aber nicht sagen.«
+
+Malchus fragte auch nicht mehr, sondern fühlte sich behaglich in den
+weichen Linnen und war zufrieden.
+
+Zweimal des Jahres war ein Fest in seiner Stube, da schickte ihm
+Martha, die indeß zu einer lieben Jungfrau geworden war, einen
+Strauß schneeweißer Röslein, wie sie im kleinen Garten der Näherin
+am Hagebuttengesträuche wuchsen. Der eine Strauß kam immer zu seinem
+Namenstag, der andere an einem Tag im Herbst -- der Empfänger wußte es
+kaum, warum.
+
+Martha hätte ihm die Rosen selbst gebracht, aber Malchus sagte einmal
+zu ihr: »Martha, die Leiter zu meiner Stube ist gebrechlich.«
+
+Du guter Bursche, dein Herz war gebrechlich. Du bist fünfundzwanzig
+Jahre alt.
+
+Wohl dachte der Jüngling daran. Aber er will keine Nahrung sammeln für
+die Seespinne.
+
+Und die gab doch keine Ruh', er sollte nicht glücklich werden.
+
+Marthas Mutter, die Näherin, war dürftig. Da kam eines Tages Malchus
+mit seinem Wollbeutel, öffnete ihn und legte die zwölf Taler auf den
+Tisch, dann suchte er noch eine Weile im leeren Beutel herum und
+murmelte: »Weiß nicht, aber ich hab' doch dreizehn gehabt!«
+
+»Was machst denn da, Malchus?« fragte die Näherin.
+
+»Mutter,« sagte der Bursche und blinzelte stark, »ich hab' ein
+Anliegen. Schenkt mir so viel Liebe und nehmt die paar Groschen!«
+
+Da sagte das Weib: »Eher ins Grab, Malchus, eh' ich einen Groschen von
+dir nehmen tät; wir sind dir viel tausend Gottesdank schuldig!«
+
+Malchus mußte sein Geld wieder in seine Wohnung tragen. Sein Leben
+hatte er aber so eingerichtet, daß er nicht notwendig hatte, etwas von
+den zwölf Talern anzubrauchen, so wie er von seinem kleinen Erwerbe
+auch nichts dazu tat, sondern damit seine Bedürfnisse bestritt. Auf
+diese Art besaß er durch alle die Jahre zwölf Taler und nicht mehr und
+nicht weniger.
+
+Ein erzählender Hausierer in der Schenke eines Bergdorfes ist den
+Leuten Zeitung, Romanliteratur, Anekdotenschatz, Theater und Erbauung.
+Aber die Gurgel muß so einem Mann feucht sein, sonst ist kein glattes
+Wort hervorzubringen. Der Wirt hat ein Fäßchen, da ist ein treffliches
+Gurgelöl darin, davon werden alle Gedanken los und ledig und kommen
+herauf in merkwürdigen Worten, und da schlüpft freilich auch manches
+Geheimnis mit.
+
+Kommt so ein gesprächiger unterhaltsamer Hausierer ins Haus, so
+schmiert der Wirt gerne und unentgeltlich mit diesem Öle, denn er weiß,
+alle Gäste bleiben um zwei, drei Gläser länger sitzen als sonst, um den
+Geschichten und Neuigkeiten zu horchen.
+
+Ein solcher Hausierer kam auch in unser Dorf.
+
+Und heute wußte der Hausierer eine ganz besondere Neuigkeit, wie sie
+nicht alle zehn Jahre zu hören ist im Dorfe.
+
+»Ja, Leutchen,« erzählte er in seiner stets ruhigen Weise, aber jedem
+Worte Gewicht gebend, »da draußen im Land soll jetzt ein reicher Graf
+gehenkt werden, der den König hat ermorden wollen. Wißt ihr's, daß
+Raben und große Herren sich einander die Augen nicht auskratzen? Nu,
+wenn ihr's wisset, nachher trinken wir einmal.«
+
+Er hob den Humpen und neigte ihn so gegen seinen Mund hin, daß er
+wacker rinnen lassen konnte; die ihm zuhörten, taten es nach.
+
+»Wär's ein kleiner Spitzbub gewesen,« fuhr der Erzähler fort, »man
+hätt' einen neunundneunzig Klafter hohen Galgen gebaut, daß sie den
+kleinen Spitzbuben hätten baumeln sehen im ganzen Land. Weil's aber ein
+großer Herr, nu, so ist's erlaubt worden, einen anderen für ihn zu
+hängen.«
+
+»Was?« riefen die Gäste und ein paar sprangen von ihren Sitzen auf.
+
+»Je nu,« sagte der Erzähler, »freilich einen andern, der sich eben dazu
+hergibt. Der sich einschreiben läßt. Wisset, wie ich hab' vernommen,
+soll die Sache so sein: der Graf ist begünstigt und darf zwanzig Lose
+ausgeben und muß jedes derselben aus seinem Reichtum mit zwanzigtausend
+Gulden ausstatten. Eines von den zwanzig Losen aber ist schwarz --
+schwarz wie der Teufel -- und wer das zieht, der muß sich für ihn
+henken lassen. D'rin in der Stadt beim Kreisgericht sind die Lose zu
+haben. Eh' ich mir das meine hol', trink' ich den Wein aus.«
+
+Und er trank.
+
+»Du liebe Welt mit Sauerkraut!« sagten einige, »so Lose werden doch
+noch anzubringen sein. Die Unwahrscheinlichkeit, daß man den Fehlgriff
+tue, ist neunzehnmal da und die Wahrscheinlichkeit einmal; eine
+kleinere Ziffer kann sie kaum mehr haben. Dem einen wird bigott wohl
+auszuweichen sein, und das Glück ist gemacht, und sein Lebtag braucht
+einer nicht ein Tüpfel mehr zu arbeiten, kann liegen im Gras und die
+Zwanzigtausend vergurgeln. Ich nehm' gleich ein Los.«
+
+»Ei ja, so denkt jeder von den Zwanzigen,« sprach ein alter
+Strohdecker, »den's aber erwischt, der ärgert sich und denkt: Donner,
+warum denn just mich? Jetzt muß ich mich henken lassen und weiß nicht
+warum. 's mag richtig sein; neunzehn Stück taugen der Gurgel von innen,
+aber das zwanzigste greift sie auswendig an.«
+
+»Wenn einer seine zwanzigtausend Gulden wenigstens früher verjuxen
+könnt',« sagte ein Schneidergeselle.
+
+»Drei Tag' hast Galgenfrist,« belehrte der Hausierer.
+
+»Drei Tag'! schau, das ginge noch an; da tät' ich gleich einen lustigen
+Handwerkertanz geben und drei Mädel foppen.«
+
+»Und ich tät' mir gleich den Freiherrntitel kaufen!« rief der Krämer.
+
+»Du den Freiherrntitel?« lachte der Schmied, »ja, bist du nicht unser
+Erzdemokrat, der die Adeligen nicht leiden kann?«
+
+»Just desweg',« sagte der Krämer, »so ließe ich den Baron statt des
+Bürgers henken.«
+
+So redeten sie in Spaß und Übermut, und es gab über den Gegenstand viel
+zu lachen.
+
+Und in den nächstfolgenden Tagen sagte so mancher, wenn ihm etwas nicht
+recht zusammenging: »Seh's schon, werd' wohl müssen auf das Kreisamt
+gehen um ein Los.«
+
+»Ja, wenn ich gewiß wissen tät', ich erwischte das schwarze nicht, ich
+tät mir gleich eins holen,« sagte mancher, und ein anderer entgegnete
+darauf: »Narr, wenn ich das wissen tät', alle neunzehn müßt' ich haben.«
+
+Es ging aber doch keiner.
+
+Es sollte aber doch einer gehen. Malchus hatte sich die Geschichte
+dreimal erzählen lassen, dann hatte er noch einmal nachgefragt: »Und
+das schwarze Los hat die zwanzigtausend Gulden auch?«
+
+Dann war er stundenlang auf seiner Matratze gesessen und hatte mit sehr
+großem Nachdruck seinen Strohhalm zerkaut.
+
+»Werde ich gehenkt oder lassen sie mich laufen,« murmelte er endlich,
+»das Geld bekommt Martha. Zwar, es wird kein Zweifel sein, die
+Seespinne wird mich abtun, aber schon recht, dann ist sie mit mir
+fertig und ich bringe auf diese Weise mein Leben noch am anständigsten
+weg, weiß so nichts damit anzufangen. Ja, so wird's sein.«
+
+Dann stand er auf, aß seine Erbsen, nahm einen Knotenstock, versperrte
+alles wohl und verließ den Pfarrhof und das Dorf.
+
+Als er am Häuschen der Näherin vorüberkam, klopfte er an die
+Fensterscheibe und sang das Liedel:
+
+ »Zwei Roß und ein Wäglein,
+ Und auf dem Wäglein ein Mägdlein,
+ Und neben dem Mägdlein ein Bräutigam,
+ Und der hat ein gold'nes Kleidlein an!«
+
+Dann schritt er fürbaß auf der Straße gegen das Kreisgericht.
+
+Als Malchus in das Städtl kam, begegnete ihm der alte Domini, welcher
+eben eine Harztrage auf den Markt gebracht hatte.
+
+»Hast du auch ein Los geholt?« war das erste Wort, welches Malchus dem
+Alten entgegenbrachte.
+
+Der wußte von allem kein Wort und der Bursche mußte ihm erzählen.
+
+Domini hörte auch ruhig zu, dann aber sagte er: »Malchus, ich will dir
+was sagen, du wirst kein Los bekommen. Schau, die Sache ist so: Leute,
+die keinen Kopf haben, die kann man nicht henken.«
+
+Schier wollte dem Malchus bei diesen Worten auch das linke Auge
+aufgehen.
+
+Aber Domini fuhr fort: »Hör' mich einmal, Junge, und wenn's auch wahr
+wäre, wer wollt' sich gleich aufknüpfen lassen! Das tät' ich nicht, und
+nicht um ein Gschloß! Aber sag' mir, hast denn gar nichts zu beißen,
+weil du auf solche Gedanken kommst?«
+
+»Ich schon,« sagte der Bursche, »aber, es gibt noch andere Leut' auf
+der Welt. Domini, ich weiß mir völlig nicht zu helfen, dir sag' ich's.
+Daheim in unserem Dorf kenn' ich was, und das wird mich nach und nach
+umbringen. Ich möchte sie oft gern ansehen, aber ich kann nicht. Es ist
+noch wie ein Kind, aber ich tu' so schwer mit ihm reden, wie mit einem
+König. Dann, wenn ich so dasteh', mein' ich, es ist nicht anders und es
+trifft mich der Schlag. Ich fürcht' nur, es ist mir was antan worden,
+Domini!«
+
+Der alte Pechbrenner sagte: »Ja, Malchus, du mußt heiraten?«
+
+Nach einer Weile entgegnete Malchus: »Das Zeug ist mir auch schon
+eingefallen. Aber ich darf doch andere Leut' nicht mit mir ins Unglück
+bringen.«
+
+Domini sah den Burschen mitleidig an. Er hatte über die armselige
+Denkweise des jungen Mannes unwirsch werden wollen, es war ihm schon
+ein herbes Wort auf der Zunge gelegen, aber er schluckte es wieder
+hinab -- der Arme kann ja nicht dafür, und kein Mensch auf der Welt
+kann ihn mehr anders machen. Domini sagte zuletzt nur: »Malchus, mach'
+was du willst und magst, ich, der alte Domini, der es immer gut mit dir
+gemeint hat, sag' dir nur das, tu' nicht sinnen und grübeln, sondern
+immer nur arbeiten und arbeiten. Kannst du singen? Lerne Lieder und
+singe; Malchus, das ist das allerbeste Mittel gegen die Seespinne. Mußt
+das nicht vergessen, Malchus, tu' fleißig singen. Geh' jetzt heim.«
+
+So gingen sie auseinander und Malchus zog sein blaues Sacktuch heraus
+und machte einen Knoten daran, daß er sich erinnere, was ihm der
+Pechbrenner gesagt hatte.
+
+Und der Knoten blieb lange im Sacktuch.
+
+Malchus wollte singen und er sang:
+
+ »Magst zählen die Sternlein am Himmel,
+ Die Halmlein im weiten Land.
+ Magst zählen die Tropfen der Wasser,
+ Magst zählen die Körnlein im Sand.
+
+ Doch nimmer magst du zählen,
+ Zu kurz ist die ewige Zeit,
+ Die Schmerzen in meinem Herzen,
+ Und meine Traurigkeit!«
+
+So hatte es der Pechbrenner aber nicht gemeint.
+
+Auf der Heide weidete eine junge Hirtin Ziegen.
+
+Malchus war einigemal strickend hingegangen, um im Walde abgefallenes
+Brennholz zu sammeln, das er in den Korb tat, den er auf dem Rücken
+trug.
+
+Immer, wenn er an der jungen Hirtin vorüberkam, sagte er: »Tust
+gaißhalten, Martha?«
+
+Und darauf antwortete stets das Mädchen: »Ja, ich tu' gaißhalten,
+Malchus.«
+
+Einmal sagte sie aber auch noch etwas anderes: »Gib deinen Hut her!«
+
+»Geh, Martha,« sprach er, »was tätest denn mit meinem Hut, ist schon
+ganz zerrissen.«
+
+Er gab ihr ihn aber und sie steckte ein Sträußchen Heideblumen darauf.
+Und es war doch nicht sein Namenstag, und es war auch nicht der
+Gedenktag im Herbst. Es war ein Sommertag.
+
+Dem Burschen war's wieder so, wie er es dem alten Pechbrenner erzählt
+hatte. Er drückte schier beide Augen zu; nicht einmal den Strauß sah
+er recht an, schnell tat er den Hut auf die wirren Haare, und schnell
+eilte er dem Walde zu.
+
+Am andern Tag ging Malchus mit einem kleinen Holzkübel taleinwärts dem
+Bach entlang. Oft unterwegs zog er seine Wolljacke aus, streifte die
+Hemdärmel zurück, legte sich am Ufer des Wassers hin und langte, wo es
+tief war, unter den Rasen. Wo ihm eine Forelle nur einmal in die Hand
+kam, entschlüpfen konnte sie ihm nicht mehr.
+
+Heute hatte der Bursche einen besonderen Vorsatz. Am Abend, wenn er
+die Fische hintrage, wollte er Martha sagen, daß er sie lieb habe und
+er wolle nicht mehr stricken, er sei an die dreißig, er wolle zu den
+Holzschlägern gehen und im Walde arbeiten und Geld verdienen.
+
+»Wart du verblitzter Fischdieb!« rief es plötzlich neben dem
+hingestreckten Burschen.
+
+Malchus sprang auf. Ein großer Mann mit einer langen Stange über der
+Achsel stand da, es war der Fischer.
+
+»Ei schau, der Malchus ist's. Na hörst, wie kommst denn du unter die
+Pharisäer?«
+
+Der Bursche war wie vernichtet, jetzt erst fiel es ihm ein, daß hier
+das Fischen verboten sei.
+
+Nun war er ein Dieb, und der Mann treibt ihn vor das Gericht. -- Die
+Seespinne!
+
+»Lass' es gut sein, Malchus, und geh' jetzt heim, die Forellen, die
+du da gefangen hast, die schenk' ich dir, lass' sie dir backen und
+schmecken.«
+
+»Will sie nicht!« brummte Malchus, seinen Strohhalm zerkauend, und
+stürzte den Kübel samt Wasser und Forellen in den Bach.
+
+Als er zu dem Pfarrhofe zurückkam, trat eben die alte Nähterin aus dem
+Hause, sie hatte es dem Seelsorger angezeigt, daß ihre Tochter heute
+aus der Gemeinde fortgezogen sei, um sich in der Fremde einen Erwerb
+zu suchen. Bei einem Verwandten, der in der Kreisstadt ein Haus habe,
+werde sie Dienst finden -- es sei so das beste.
+
+Malchus hörte es, stieg über seine Leiter und als er im Stübchen saß,
+murmelte er: »Ja, ja, es ist so das beste!«
+
+Dann fuhr er sich mit dem Sacktuch über die Augen. Was doch das für ein
+Knoten war im Sacktuch?
+
+Der Mann wußte es nicht mehr.
+
+Singen sollst!
+
+Aber der arme Malchus sagte zu sich: »Jetzt wär's schon bald Zeit, daß
+die Geschichte zu Ende ging' -- jetzt hab' ich kein' Freud' und kein
+Leid mehr auf der Welt.«
+
+Aber es kam der Herbst und der Winter und der Frühling und jeder hatte
+Freuden und Leiden, und es ging nicht zu Ende.
+
+Da war's an einem Maimorgen. Malchus saß in der Kammer am offenen
+Fenster, strickte und sah hinaus auf die Bretterdächer des
+Wirtschaftsgebäudes, aus welchen die Sonne noch den Tau sog. Die Luft
+war frisch und rein und der Himmel blau. Über das Dach ragte der
+Wimpfel einer junggrünenden Esche empor und auf diesem saß heute schon
+seit früher Morgenstunde ein Kuckuck. Er schrie in einem fort seinen
+hellen Ruf.
+
+Da warf Malchus sein Strickzeug weg, lehnte sich an die Fensterbrüstung
+und sagte: »Jetzt muß es gelten! Sag' mir, du Vogel, wie lange werde
+ich noch leben? Nenne mir die Jahre!«
+
+Der Kuckuck schwieg.
+
+»Kein Jahr mehr?« murmelte er dann, »nicht ein einzig Jahr mehr! Schau
+mich genau an, Vogel, ich bin noch jung!«
+
+Und es war wirklich, als ob sich der Kuckuck gegen ihn wendete. Dann
+begann er zu schreien. Er schrie zweiundvierzigmal.
+
+Dem Burschen ging schier das linke Auge auf. »Also zweiundvierzig
+Jahre! -- Oder willst noch weiter schreien?«
+
+Der Vogel flog ab. Aber eine Stimme hörte er irgendwo: »Nach
+zweiundvierzig Jahren am Urbanitag!« -- Ei der Kuckuck?
+
+Malchus wendete seinen Blick in die Stube zurück; sein Auge war
+geblendet, es war fast finster. Das Strickzeug ließ er eine Weile auf
+dem Boden liegen, nun war ja noch so viele, so viele Zeit zum Stricken.
+
+Zweiundvierzig Jahre, Malchus! Hast du Pläne? Wie wirst du diese Zeit
+ausfüllen? --
+
+Der Mann zog seinen Rosenkranz hervor, zählte zweiundvierzig Perlen ab,
+machte nach diesen einen Knoten in das Schnürchen. Die noch übrigen
+Kügelchen entfernte er, und nun bedeutete ihm der Rosenkranz die Zeit,
+die ihm noch beschieden war auf Erden.
+
+Seine zwölf Taler suchte er von nun an zu verwahren, seine Zeit und
+Lebensweise noch regelmäßiger einzuteilen und sein Leben so ruhig und
+einfach als möglich einzurichten, damit das Unglück nirgends eine
+Nahrung habe.
+
+So kamen und gingen nun Jahre und Jahre.
+
+Malchus Zacharias Rosenkranz lebte einsam in dem Dachkämmerlein des
+alten Pfarrhofes. An seinem Fenster blühte nie mehr ein Strauß von
+weißen Rosen.
+
+Nur die Mäuse, die kleinen, behenden, uralten, grauen Mäuse kamen von
+der nachbarlichen Rumpelkammer öfters zu ihm herüber auf Besuch und
+guckten ihn helläugig an und wisperten ihm auch oft was vor. Es freute
+ihn nicht, wußte er doch, daß der Besuch seinem Erbsentopfe galt.
+
+Mit den Menschen verkehrte Malchus nur wenig; sie hatten nichts für ihn
+als Wolle, und sie verlangten nichts von ihm als Strümpfe. Er strickte
+aber auch Handschuhe, Hauben und Unterjacken.
+
+Im Sommer ging er die stillsten Wege, die es im Tale gab, am liebsten
+aufwärts gegen die Heide, wo Martha einst die Ziegen gehütet.
+
+Vom Walde trug er weniges Brennholz heim; zur Erwärmung im Winter
+brauchte er nicht zu heizen, denn dafür hatte er eine Erfindung
+gemacht. Er hörte einmal, daß schnelle Bewegung der Körper Wärme
+erzeuge; sofort bat er den Pfarrer, daß dieser ihm die alte Windmühle
+borge, die schon lange Zeit unbenützt in der Scheune stand, weil sie
+keinen Rieselboden mehr hatte. Diese Windmühle nun stellte der Mann zur
+Winterszeit in sein Stüblein, und wenn ihn frieren wollte, begann er an
+der Handhabe zu treiben, daß es sauste und klapperte, und bald war ihm
+ganz leidlich warm und er konnte wieder stricken.
+
+Wohl schienen die Mäuse über ihren polternden Nachbar ungehalten zu
+sein, denn sie entzogen ihm nach dergleichen stets auf längere Zeit
+ihre Besuche.
+
+Seit mehreren Jahren hatte sich Malchus auch einen anderen, neuen
+Hausrat anzuschaffen bemüßigt gefunden -- ein Rasiermesser, mit dem er
+sich nach jedem Neumond regelmäßig seinen braunen Bart schnitt.
+
+Die Kopfhaare begann er stehen zu lassen, und er wand dieselben nun, da
+der alte Filzhut schon längst den Weg alles Irdischen gegangen war, wie
+einen Turban um das Haupt.
+
+Aus praktischen Gründen hatte Malchus auch die bereits grau gewordenen
+Lederschuhe gegen Holzschuhe vertauscht, eine Änderung, mit der die
+Nachbarschaft ebenfalls nicht einverstanden war. Zum Weihnachts- und
+Osterfeste war er immer beim Herrn Pfarrer zu Tische geladen, weil er
+im Laufe des Jahres dann und wann kleine Kirchendienste tat, aber
+Malchus fand sich bei der Tafel nicht behaglich. Der Braten, ei ja,
+der täte schon schmecken, das Glas Wein auch, aber wie leicht ist die
+böse Angewohnheit da! Zu Weihnachten bekam er immer das Paket Wäsche.
+In der Neujahrsnacht langte Malchus stets seinen Rosenkranz aus dem
+Schranke hervor, tat eine Koralle weg, warf sie aus dem Fenster und
+ließ sie hinabrollen über die Schneerinde des Daches, so wie das Jahr
+hinabgerollt war in die Ewigkeit.
+
+Schon viele Kügelchen hatte der Rosenkranz auf diese Weise verloren,
+und Malchus war durch sein Sitzen auf der Matratze buckelig und
+mühselig geworden.
+
+Auch sein Turban war nicht mehr dunkel, sondern lichtgrau.
+
+Im Dorfe und im Tale waren Menschen geboren worden und aufgewachsen.
+Sie hatten Hochzeiten und Kindstaufen und Begräbnisse gehabt, hatten
+sich endlich selbst auf das Brett gelegt, und Malchus Zacharias
+Rosenkranz hatte für sie gestrickt. Auch die alte Nähterin hatten sie
+auf den Kirchhof getragen. Ein fremder Wagen mit zwei Pferden war zum
+Begräbnis gekommen -- ein Mann und eine Frau saßen darin.
+
+Malchus bekam an demselben Tag vom Pfarrer einen neuen Anzug aus grauem
+Loden und ein silbernes Kreuz, das er um den Hals hing.
+
+Es waren große Ereignisse in der Gemeinde vorgegangen, noch größere
+draußen in der Welt. Für Malchus war es das größte gewesen, daß während
+der vielen Jahre zweimal am Dache des Pfarrhofes gedeckt werden mußte,
+wobei gräßlich gehämmert wurde, und daß auf dem gegenüberliegenden
+Dach des Wirtschaftsgebäudes einmal drei Kater rauften, und so wütend
+rauften, daß einer davon halb zu Tode gebissen über die Bretter
+kollerte.
+
+Auch war im Laufe der Zeit, wie er meinte, jenem Stern, der in
+den Sommernächten gerade über dem Stallfirst stand, einmal ein so
+ungeheurer Schweif gewachsen, daß alle anderen Sterne der Nachbarschaft
+weit auseinander gehen mußten, um dem wüsten Ungeheuer eine Gasse zu
+machen.
+
+ * * * * *
+
+So lebte der arme, alte Mann fort; er wußte schier nicht mehr,
+wie er in das Dachkämmerlein gekommen war. Er hatte vergessen den
+Schreckenstag in seiner Jugend, auch den alten Pechbrenner Domini, und
+wie dieser gesagt hatte, daß er singen solle. Aber der alte Mann hatte
+endlich ja auch die Seespinne vergessen, die als unheilvolles Erbe des
+elterlichen Aberglaubens durch die schönsten Jahre der Jugend hin sich
+an sein weiches Herz geklammert hatte.
+
+Nur das war dem armen Malchus noch: es habe ihm einmal geträumt von
+einem lieben Mädchen, das auf der Heide die Ziegen gehütet und ihm
+Blumen gegeben hatte.
+
+Wie einem doch so wunderlich träumen kann, nicht wahr, Malchus? -- Aber
+sag einmal, wie viel hast denn noch Korallen an deinem Rosenkranz?
+
+Der Alte mag selbst daran denken, der Grashalm wackelt ihm unsicher im
+Munde -- er hat ja schier keinen Zahn mehr.
+
+Draußen blüht und leuchtet der Maitag.
+
+An der Kirchentür wird ein großer Kranz aus Tannenreisern geflochten,
+es werden auch Rosen hineingewoben, rote und weiße -- es ist das Fest
+des Kirchenpatrones Urbanus nahe.
+
+Unten im Hofe bei den Schweinen ist großer Schrecken, wie er immer war,
+wenn ein großer Tag herannahte, und der Pfarrer für den Festbraten
+sorgte.
+
+Der alte Malchus befand sich ganz wohl. Aber er weiß, es naht der
+Tag ... Schon vor Wochen hatte er die Windmühle in die Rumpelkammer
+geschoben, wofür er von der Nachbarschaft eine sehr trauliche Gegen-
+und Dankvisite erhielt.
+
+Malchus holperte noch einmal durch das Tal; er konnte im Gehen nicht
+mehr arbeiten, er mußte schon den Stock recht fest halten. Heute wollte
+er sich die Welt noch einmal ansehen, diese Erde noch einmal, den
+Himmel noch einmal. Ist gut beisammen, alles. Und die Luft trägt den
+Duft der Blumen herum, und sie trägt den Gesang der Vögel herum. Der
+Kuckuck schreit auch; das wird derselbe nicht sein, von der Esche. --
+Malchus, das ist ein wunderlicher Morgengang! Und alles ist so mild
+gegen dich und weiß nichts davon, daß du -- schon in zwei Tagen.
+
+Malchus bückte sich und riß einen jungen Halm ab, und begann an ihm zu
+saugen.
+
+Zur Heide stieg er auch hinauf. Ein Bauer, der ihm begegnete, sagte:
+»Hab' dir's ein für allemal gesagt, Malchus, magst sie schon nehmen die
+herabgebrochenen Äste zum Heizen, brauchst nicht zu fragen.«
+
+Am nächsten Tage kamen die Krämer mit ihren Tragekästen, schlugen auf
+dem Dorfplatz Stöcke in die Erde, banden Stangen daran und richteten
+ihre Stände auf. Kinder standen dabei und sahen zu.
+
+In den Häusern wird gebacken und geschmort, ins Wirtshaus kommen schon
+vier Männer mit Pfeifen und Geigen; hinten geht eine ungeheure Baßgeige
+nach.
+
+Der alte Malchus Rosenkranz humpelte gebeugt am Stabe durch das Dorf.
+Er kam jetzt von der Kirche, wo er eine Beichte abgelegt und die
+Kommunion empfangen hatte. Vor dem alten Brunnen, der schon lange
+verfallen war, und auf dem roter Holunder wuchs, blieb er einmal
+stehen und sah blinzelnd das frischgrüne Gebüsch an. Dann ging er
+weiter hinab bis ans Ende der Häuser, wo einmal ein alter Heustadl
+niedergebrannt war, und er ging weiter den Weg entlang bis zu einem
+Häuschen, in dem einst die alte Nähterin gelebt hatte. Dort kehrte er
+wieder um und ging durch die hintere Dorfgasse dem Pfarrhofe zu. Vor
+einer Schreinerwerkstatt blieb er stehen und sah durch das offene Tor
+den Gesellen zu.
+
+Sie hobelten an Läden, die Späne schoben sich durch die Eisenscharte
+und flogen lustig davon. Dann nahmen sie den Zollstab und maßen, und
+schnitten in die Quer.
+
+»Mit Verlaub zu fragen, was wird denn da gemacht?« fragte Malchus.
+
+»Ja, mein lieber Malchus!« sagte der Obergeselle bedeutungsvoll.
+
+»Ich verstehe,« murmelte Malchus, »werde auch bald so was brauchen.«
+
+»Gratulier'!« sagte der Geselle.
+
+Die Schreiner zimmerten eine Wiege.
+
+Der alte Mann schritt langsam seiner Wohnung zu. Mühsam kletterte er
+über die alte, halbmorsche Leiter. Dann kochte er sich einen Topf
+Erbsen.
+
+Am Abende desselben Tages saß er lange am Fenster und strickte.
+Er hatte für die alte Einleger-Ploni noch ein Paar Strümpfe
+fertigzubringen; 's ist schon gezahlt dafür, und 's wär' doch eine
+Schand, wenn er jetzt, ohne die Arbeit zu vollenden, durchginge.
+
+Auf das gegenüberliegende Bretterdach fiel das bleiche Licht des
+aufgehenden Mondes. -- Wenn er über das Haus herüberkommt und nach
+Mitternacht zum Fenster hereinlugt, vielleicht bist du dann schon
+fertig.
+
+Auf dem Rosenkranz des Alten war keine Perle mehr, nur noch der Knoten
+-- der letzte Knoten.
+
+Auf dem Eschenwipfel, der über dem Dachfirst emporragte, meldete sich
+ein Vogel. War's wieder ein Kuckuck, wie vor einigen vierzig Jahren?
+Wollte er noch ein paar Jährchen draufgeben?
+
+Der Vogel krächzte -- es war eine Eule.
+
+Der Alte hörte dem Gekrächze eine Weile ruhig zu, endlich begann er zu
+brummen: »Ja, ja, ja, ist das eine ewige Kräherei! Weiß es ohnehin --
+hab' gemeint, die Arbeit da brächt' ich noch fertig, aber 's wird nicht
+sein mögen!«
+
+Und er strickte und strickte.
+
+Gegen Mitternacht zog er die letzte Nadel aus der letzten Masche und
+der Strumpf war fertig. Der Alte machte ein Kreuz über Stirne, Mund und
+Brust und legte sich auf die Matratze. Seine Glieder waren müde, sein
+Sinnen war umflort -- er schlief bald ein.
+
+Der Mond war über das Haus gekommen, blickte durch das Fenster und auf
+dem Fußboden lag seine weiße Tafel.
+
+Auf der weißen Tafel saß eine Maus und guckte mit hellen Äuglein den
+Mond an.
+
+Am andern Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen auf den Dachfirst
+fielen, läuteten alle Glocken. Malchus erwachte und schlug für einen
+Moment die beiden Augen auf. Es war das Fest des Kirchenpatrons Urbanus
+-- jener Tag, der ihm vorausgesagt worden war. Ei, der Kuckuck, dachte
+sich der Alte, ich steh' jetzt auf und geh' in die Kirche; bist schon
+wieder beim Erbsensack, du vertrackte Maus? Nu, nu, nur nicht gleich so
+betreten, nag' zu, beiß' zu! Und wenn er kommt, so sag' ihm, er möge
+warten, ich sei bei der Messe.
+
+Dem Alten war wunderlich um das Herz -- nicht so, als ob er sterben
+sollte. Klar war sein Denken nicht, statt der stumpfen Ergebung war
+eine Berauschung eingetreten. Mit seltener Sorgfalt ordnete er seinen
+Anzug und wand seine Locken um das Haupt.
+
+So kletterte er über die Leiter und ging in die Kirche.
+
+Da standen die Leute auf dem Dorfplatz, Kopf an Kopf, mit grünen,
+schwarzen, grauen und anderen Hüten; Weiber und Kinder drunter, mit
+bunten Hauben und Kopftüchern; alles schmuck, sogar Blumensträuße
+hatten sie bei sich auf den Hüten, im Knopfloch oder am rotseidenen
+Busentuch. Und sie waren fröhlich und plauderten miteinander und sahen
+die Marktsachen an, die in den Buden und Ständen ausgestellt waren, und
+sie feilschten mit den Krämern -- und das war ein Summen und Brummen
+über den Kirchplatz hin, und darüber lag die Morgensonne, und auf dem
+Turme klangen die Glocken und riefen zur Frühmesse. Da drängte sich das
+Volk der Kirchentüre zu -- viele blieben auch im Freien stehen oder
+gingen ins Wirtshaus.
+
+Trotzdem war die Kirche voll. Die Orgel war laut und hell --
+der Schulmeister hatte alle vier Register aufgezogen, sowie der
+Kirchendiener alle Kerzen, die in der Kirche waren, angezündet hatte.
+Der heilige Papst Urbanus, der in seinem goldenen Ornate über dem
+Altare stand und »der den Wein wachsen läßt«, hatte zwölf Kerzen und
+war in nicht geringer Feuersgefahr, was aber wenig zu sagen hatte, da
+der heilige Florian mit dem gefüllten Wasserbehälter daneben stand.
+
+Endlich war der Festgottesdienst vorüber und alles drängte sich in das
+Freie. Unser alter Malchus suchte sich auch durch die Menge zu winden.
+Man warf ihm Kreuzer zu, die er aber nicht auflas und für die er nicht
+dankte.
+
+Eine Bäuerin bat ihn, daß er ihrem Töchterlein ein Wollenjöpplein
+stricke, er sagte nicht zu. Er ging ein wenig durch das offene Tor in
+den kleinen Kirchhof. Da war alles grün und frisch. Es war aber keine
+rechte Stimmung. Malchus humpelte weiter.
+
+Als er in sein Dachstübchen zurückkam, blieb er einen Augenblick an der
+Türe stehen. Es war ein fremder Mann da. Er war dem Fenster zugekehrt,
+stützte sich auf die Brüstung und sah in den blauen Himmel hinaus.
+
+Er war sehr gebückt, hatte einen grauen Pelz an, und die wenigen Haare,
+die von seinem kahlen Kopfe über das Genick hinabhingen, waren weiß.
+Der Mann war uralt.
+
+Aha, da ist er schon! dachte Malchus, ging dann auf den Fremden zu.
+
+Der Alte kehrte sich langsam um. »Dennoch wohl, dennoch wohl!« sprach
+er nun, als er den Malchus erblickte. »Du, Junge, jetzt schau, ich
+bin keck gewesen, gelt? Nun, daß ich halt so heraufgekommen bin da in
+deine Stuben. Hab' wohl gewußt, daß du in der Mess' bist; hätt' auch
+können hineingehen, aber weißt, Junge, mag nicht recht, red' mit meinem
+Herrgott lieber, wenn ich mit ihm allein bin. Du schaust so! Kennen
+wirst mich doch wohl noch? -- Bin ja der alte Domini, ich, gelt?«
+
+Malchus glaubte, er träume. -- Das wird doch nicht der Pechbrenner
+Domini sein, den er vorzeiten als alten Mann gekannt hatte!
+
+»Siehst du, Malchus,« sagte der Domini, »dort auf dem Eschenwipfel
+sitzt ein kohlenschwarzer Rabe. Der ist ein Steinrabe, von dem gesagt
+wird, daß er zweihundert Jahre alt wird. Hab's noch nicht so weit
+gebracht, bin erst ein wenig über hundert, aber wir zwei werden es
+schon noch so weit bringen, Junge.«
+
+»Ei, versteht sich,« entgegnete Malchus, »'s ist nur schade, daß vor
+einigen vierzig Jahren ein anderer Vogel auf dem Wipfel dort gesessen
+ist. Wenn du aber der Domini bist und aus deinem Grab kommst -- sei
+nur so gut und mach' nicht viel Umstände, ich weiß es ja --«
+
+»Red' nicht so kindisch; pack' lieber deine sieben Sachen zusammen;
+wirst heut' mit mir gehen müssen. Mit dem Pfarrer hab' ich schon
+gesprochen, wirst kaum mehr zurückkommen in dieses Dorf!«
+
+Was hatte der alte Malchus Zacharias Rosenkranz zusammenzupacken?
+Seinen Wollenbeutel nahm er und seinen Stock, dann war er fertig. Er
+stieg voran über die Sprossen hinab; als Domini nachkletterte, brach
+die Leiter, der Greis erhielt sich noch glücklicherweise an einem Haken.
+
+Zur selben Stunde schritten die zwei alten Männer aufeinander gestützt
+durch die Dorfgasse. Viele Leute blickten ihnen nach. Mehrere folgten
+sogar, und aus dem Wirtshause klang die Tanzmusik.
+
+Wohl blieb Malchus noch einmal stehen und sah zurück, aber er dachte
+kaum an das, was kommen sollte, sein Geist war wieder in Stumpfheit
+versunken.
+
+Am Ende des Dorfes, wo das Häuschen der Nähterin stand, war Roß und
+Wagen. Der Fuhrmann, der dabei war, half den beiden Greisen in den
+Wagen, und dann rollte das Gefährte davon.
+
+Malchus fuhr sich mit dem Ärmling zweimal über die Augen, er öffnete
+auch das linke zuzeiten und sah in die Gegend hinaus und sah seinen
+wunderlichen Gefährten an. War's denn doch wohl der alte Domini? --
+Malchus fühlte sich nicht behaglich; er hatte vergessen, einen Halm
+aufzulesen, und jetzt wußte er nicht, woran er kauen sollte. Einmal
+öffnete er seinen Wollenbeutel, zählte die Taler und murmelte dann
+vor sich hin: »Wo hab' ich denn doch den andern gelassen? Es müssen
+dreizehn gewesen sein!«
+
+Gegen Abend, als im Tale schon die Schatten lagen, ließ der alte
+Domini vor einem Wirtshaus halten; nach einem Imbiß ging das Fuhrwerk
+weiter. Der hatte sogar geschmeckt. Es kam die Nacht, sie fuhren über
+Auen und durch Wälder. Malchus saß in sich versunken da.
+
+Als die Sonne aufging, stand Roß und Wagen still, und da war ein See
+und an beiden Seiten standen rote Felswände und spiegelten sich im
+dunklen Grunde. Am Ufer des Sees stand ein neues Haus und ein heiteres
+Gärtlein.
+
+Domini führte den Malchus gegen das Haus und sagte »Wir zwei sind wohl
+ein wenig alt, aber da ist alles wieder jung geworden, seh' ich. Mich
+deucht, Malchus, du hast dem Pechbrenner Domini vor fünfzig Jahren
+einen Taler geschenkt, weil dieser Taler der Judas war, und mich
+deucht, der Pechbrenner Domini hätte mit demselben Taler zu hausen und
+wirtschaften angefangen, und er hätte dann dieses Haus bauen lassen,
+daß du eine Ruhestatt hättest für deine alten Tage. Jetzt, Malchus,
+schau ein wenig nach, ob's wohl so ist!«
+
+Und als sie in das Haus gingen, da stand ein Weib vor der Tür, und das
+reichte dem Malchus die Hand, und der Malchus hat sie erkannt.
+
+Und dann gingen sie in die Stube, in die freundliche Stube mit den
+großen Fenstern, durch welche die Fülle des Sonnenlichtes auf den
+gedeckten Tisch und auf das weiße Ruhebett strömte.
+
+Das ist nun dein, Malchus, glücklicher Malchus, für den der Freund
+gesorgt, den die Liebste nicht vergessen. -- Martha hatte einen Mann
+gehabt, hatte viele Jahre glücklich mit ihm gelebt. Als er starb, da
+war sie wieder allein, wie ehdem. Nur ihr Lebensretter war noch in der
+Welt, verlassen, vergessen. Nein, vergessen nicht, sie dachte ja an
+ihn und sie wollte dem alten pflegebedürftigen Mann ihre noch übrigen
+Lebenstage weihen.
+
+Malchus ging hinab zum See, dann hörte er dem Kuckuck zu, der fort und
+fort schrie; dann ging er wieder ins Haus, kletterte auf den Dachboden,
+schlang sich den Turban seiner Haare wieder um das Haupt und setzte
+sich auf einen Holzstrunk. Dort saß er Stunden und Stunden und drückte
+das linke Auge zu und kaute an einem Halm. --
+
+Und jetzt ist das Gesicht zu Ende. Ich weiß nicht, wie es weitergeht.
+
+
+
+
+ Der glücklichste Mann von Graz.
+
+
+»Wollen Sie, lieber Freund, nicht einmal mit mir gehen? Ich möchte Sie
+gerne zum glücklichsten Manne von Graz führen.« Mit diesen Worten lud
+mich ein Nachbar in genannter Stadt zu einem Spaziergange ein.
+
+»Zum glücklichsten Mann von Graz?« entgegnete ich, »erlauben Sie, der
+bin ich ja selber.«
+
+Mein Nachbar stutzte, blickte mich an vom Haupt bis zum Fuße und
+schüttelte seinen Kopf. »Wirklich?« sagte er endlich, »um so besser, so
+werden Sie meinen Mann auch recht verstehen können.«
+
+Nicht lange danach, so stieg ich eines Nachmittags die südliche Lehne
+des Rosenberges hinan. Und auf sanfter Lehne, mit dem Ausblick auf die
+Wälder der Hilm und auf die schimmernde Kirche von Mariatrost habe ich
+den Mann gefunden. Ihr erkennt das Heim des Glücklichen an dem einen
+Merkmal: es ist mit einem Dornenkranze umgeben. Über Rosenzäune hüpft
+so gerne der Weltunfrieden; über eine Dornenhecke vermag Habsucht,
+Ehrgeiz und Neid schwer zu dringen. Wer aber an der kleinen Pforte
+zwischen den Dornen die Klingelschnur zu finden weiß, dem wird aufgetan.
+
+Unser Mann ist Grundbesitzer. Sein Erdboden mit Haus und Hof,
+mit Obst-, Gemüse- und Weingarten beträgt nicht weniger als 53
+Geviertklaftern. Auf diesem Grunde hat sich der Mann drei Häuser
+gebaut. Eines dieser Gebäude, ein hölzernes Bauernhaus, stand vor nicht
+langer Zeit in der Stadt. Viele Jahre wohnte und wirkte der Eigentümer
+in ihm und war's zufrieden. Aber das Haus stand auf keinem guten
+Boden; ein Sumpf- oder Moorgrund war es nicht, ein Zinsgrund war's.
+Und gleichwohl kein Fleckchen Erde in ganz Graz von den Mietern so
+gewissenhaft und haushälterisch verwertet wurde, als diese paar Klafter
+in der Lechgasse, so wucherte doch daraus das Unkraut der Mietzinse
+derart hervor, daß es das Häuschen und den Wohlstand darin gefährdete.
+Deß war nun unser Mann einmal nicht zufrieden. Rollte er denn vier
+Räder unter das Gebäude, spannte zwei Pferde daran und führte sein Haus
+davon. Er führte es am Hilmteiche vorbei und die Mariatrosterstraße
+kreuzend, den schönen Rosenberg hinan. Dort oben hatte er sich von dem
+Ersparten Grund und Boden zu eigen erworben und auf den stellte er das
+hölzerne Haus, so aus Graz ausgewandert war, und baute auch noch ein
+größeres dazu für Weib und Kind und gründete daneben ein Hüttchen, das
+»Industriegebäude« für den Erwerb. Und nun war er zu einem Gutsbesitze
+gekommen, wie es im Lande keinen seltsameren gibt. Da lächelt denn
+der Gute still in sich hinein, und wenn er von seinen Feld- und
+Gartenarbeiten spricht, so tut er's mit Selbstbewußtsein und mit
+Schalkheit zugleich. Nun gehört er mit zu den Besitzenden, und seinen
+Besitz und seine Welt hat er sich selbst erworben und geschaffen. Das
+ist eine Freude!
+
+Während das Weib Haus- und Landwirtschaft versorgt, sind der Mann und
+die Tochter in der Werkstatt tätig, und das Rauschen der Sägen und
+das Klopfen der Hämmerchen ist wohl weit und breit zu hören. Und was
+wird denn erzeugt? Je nun, vielleicht hängt in deiner Stube ein hübsch
+geschnitzter Vogelkäfig, vielleicht spielt dein Söhnchen gerne mit
+einem »Spatzenschießer«; vielleicht besitzt meine Leserin einen feinen,
+wohlriechenden Wacholderfächer -- hervorgegangen aus der kunstreichen
+Hand meines glücklichen Mannes.
+
+Ich will aber nicht Reklame machen für seine Vogelhäuser, sondern für
+sein Glück. Es ist bei ihm zu haben; seine heitere Gemütlichkeit,
+seine Zufriedenheit ist für den Besucher ansteckend, wenigstens so
+lange sich der im kleinen Bereiche des Dornenkranzes befindet. Fest
+steht der Steinbau, in dem des Schnitzers Familie wohnt; aber er, der
+alte Patriarch, lebt in seinem hölzernen Häuschen. Dieses ist das
+gelungenste Abbild eines steierischen Bauernhauses und hätte auf einer
+Weltausstellung den Preis erhalten. So freundlich und behäbig steht
+es da, das kleinwinzige Haus mit seinem Dachgiebel, seinem Söller,
+der zur Herbstzeit mit Kukuruzzapfen behangen ist, mit seinen glatten
+Fensterbalken und allem, was dran und drum dazu gehört. In der Stube,
+die etwa 5-7 Fuß lang und breit und hoch ist, steht der Wandkasten und
+der Gesindetisch und der Hausaltar und das Bett des Hausvaters und
+der Kachelofen. Aber das Bett ist zu kurz für eine Manneslänge und so
+muß für die Fußstelle der gute Kachelofen sein Inneres erschließen.
+Seit Menschengedenken ist in dem Hause noch nicht geheizt worden,
+weder zur Sommers-, noch zur Winterszeit; das ist ~ja~ auch eine
+Eigentümlichkeit des Mannes, daß er die Kälte nicht kennt. Wie viel
+Grad Wärme muß ein Herz haben, das in seinen Bretterwänden bei der
+ruhigen Schnitzarbeit im Jänner den Ofen erspart! Nichtsdestoweniger
+ragt ein Rauchfang über das Schindeldach; in diesem Rauchfang dreht
+sich eine Windmühle, die unten in der Stube ein Glockenspiel treibt.
+Tag und Nacht läßt solches Spiel, meist gemächlich langsam, zuweilen
+aber auch rasch und lebhaft, seine Musik erklingen. Und so hat sich's
+dieser Mann eingerichtet, daß, je stürmischer die Stunden, je lustiger
+sein Glockenspiel ertönt. In einer ganz windstillen, tonlosen Nacht
+kann der Mann gar nicht schlafen, und in einer Zeit, wo alles nach
+Wunsch ihm geht, kann er nicht recht ruhig sein; denn, sagt er, da
+kommt jählings was, das einen in die Haut zwickt. In der Stube hängt
+auch ein Vogelbauer; aber das Tor dieses Vogelbauers geht durch die
+Holzwand in das Freie, und da können die Vögelein aus- und einfliegen
+nach Belieben, und sie finden zu jeder Stunde Unterkunft und Nahrung in
+dem gastlichen Hause.
+
+»Der Mensch muß nicht alles in seiner Faust haben wollen,« sagt unser
+Schnitzer; »was gerne daherfliegt, dem mach' ich Tür und Tor auf, und
+will es wieder davon, so laß ich's fliegen.«
+
+Fragt ihn einmal, ob er zufrieden ist in seiner Lage, und seht dann
+sein Gesicht an. Er ist über die sechzig Jahre alt, und fragt ihr ihn,
+was ihm in seinem Leben schon Übles widerfahren ist, so antwortet er,
+er sei sein Lebtag nicht viel krank gewesen, und zu essen hab' er auch
+allweg gehabt. Und fragt ihr ihn, wie er mit der Welt stehe, so sagt er
+euch, an Geldeswert sei er niemand was schuldig und er kenne gute brave
+Leute die Menge. Und fragt ihr ihn endlich, was er von der Zukunft
+erwarte, so wird er entgegnen, er freue sich auf die Zeit, in der seine
+jungen Obstbäume Früchte trügen, und sollte er bis dahin nicht mehr
+sein, so würde wohl ein anderer die Nutznießung haben.
+
+Mehr will ich nicht verraten. Und sollte doch jemand in der
+freundlichen Stadt Graz leben, der die Überschrift meines Kapitels zu
+anmaßend findet und selbst auf sie Anspruch machen zu können glaubt,
+der möge sich deß ja nicht laut melden, der möge es halten wie der
+Schnitzer vom Rosenberge und eine Dornenhecke ziehen um die stille
+Stätte seines Glückes.
+
+
+
+
+ Der Waldteufel.
+
+
+In der Stadt Graz geht zeitweilig ein wunderlicher Mann um. Ein Mann
+mit klobigem, braunem Gesichte und einem großen roten Vollbart. Sein
+Lodenwams hat manchen Flicken, bisweilen sogar klaffende Nahte. Eine
+stattliche Ledertasche an der Seite, oder ein Bündel von Wurzeln und
+Kräutern. Über dem Bauch baumelt ein großes Bockshorn, mitunter auch
+manch andere seltsame Zier, deren Vorhandensein den Leuten nicht
+einleuchten will. Wozu an der Hüfte das Skelett eines Schafskopfes?
+Schafsköpfe trägt man doch sonst nur über dem Schlüsselbein. Das
+Merkwürdigste an dem Manne ist ein Riesenhut mit hohem Spitz, in
+der Art der alten Tiroler »Sternstecher«, nur noch viel größer; die
+breiten Krempen beherbergen den ganzen breitschulterigen Kumpan auf
+das beste. Dieser Hut ist zumeist mit wilden Blumen geschmückt,
+besonders aber mit Hahnen- oder Geierfedern, die hoch und keck in den
+Himmel hineinstechen. Sehr langsam schleift er dahin, immer wieder
+stehenbleibend, um mit singendem Rufe sich bemerkbar zu machen. Ich
+habe manchmal bemerkt, wie der Mann nicht ganz sicher durch die Straßen
+schritt; das ging nicht immer gerade aus, so wie es wohl sein Wille
+gewesen wäre. Gerne singt er ein dreistes Liedel oder läßt gar einen
+»Juchezer« fahren. Bisweilen aber grollt und flucht er -- und hat
+Grund dazu. Die Gassenjugend, die »liebe«, tut ihn nämlich manchmal
+gern ein wenig »aushetzen«, weshalb die Polizei ihn immer abschaffen
+will, anstatt die Gassenbuben abzuschaffen. Sie meint wohl, er solle
+nicht Ärgernis geben, und die gibt er auch nicht, so viel ich weiß.
+Es gibt viel ärgerlichere Dinge auf der Welt, als die absonderliche
+Tracht dieses lustigen Sonderlings, und werden doch nicht abgeschafft.
+Den Namen »Waldteufel« hat man ihm geschenkt, er hat ihn freundlich
+angenommen, erstens, weil er am Geierkogel eine alte Waldhütte
+bewohnt, zweitens, weil er im Walde Beeren, Pilze, Heilkräuter und
+Wacholderstauden sammelt, um sie den Stadtleuten zu verkaufen, und
+drittens, weil ja der Titel zu seiner Erscheinung nicht übel paßt.
+Wie andere Geschäftsleute ihre Orden und Ehrentitel, so benützt er
+den seinen zur Reklame und man kann manche Hauswirtin eilig über die
+Treppen herablaufen sehen, wenn sie nach dem Geschrei vernommen, daß
+der Waldteufel in der Nähe sei. Da lacht er dann gemütlich, bietet
+seine Wacholderstauden aus und meint, er möchte die »Kranabeten« gern
+in »Kranabetenen« umsetzen. Dieses Teufels einziges Höllenfeuer dürfte
+das Feuer des Wacholderbranntweins sein.
+
+Wo der Mann sich zeigt, mit jemandem spricht, oder auch mit sich
+selber, oder mit einer Straßenlaterne, oder mit einer Statue, da
+sammelt sich um ihn bald ein Kreis von Zuhörern, die teils mit
+Neugierde, teils mit spöttischer oder mißtrauischer Geberde die Gestalt
+anstaunen, bis dann plötzlich irgend so ein Range hervorspringt, an
+seinen Kleidern zerrt oder ihn mit Staub bewirft.
+
+Eines schönen Maimorgens sah ich den »Waldteufel« -- umringt wieder
+von Neugierigen -- vor dem neuen Hamerlingdenkmal stehen. Er schien
+gerade vertieft zu sein in ein Gespräch mit dem Dichter. »Du bist
+ein gescheiter Mensch gewesen,« hörte ich ihn noch sagen mit seiner
+rindenrauhen Stimme, »hast ihnen schon immer einmal was gesagt, denen,
+was sie nit ins Hutbandel stecken. Ein gescheiter Mensch! So wie auch
+ich einer bin!« Dabei verzerrte er sein klobiges Antlitz zu einer
+Fratze, als ob er seiner eigenen Gescheitheit ein Gesicht schneiden
+wollte. Der steinerne Dichter hat ihm nicht geantwortet; der lebendige
+Hamerling hätte für diesen Mann gewiß ein gutes Wort gehabt, obschon er
+solche Leute gerne mir überließ. »Die Waldteufel gehören Ihnen,« sagte
+er einmal, »mit diesen wissen Sie besser umzugehen als unsereiner, dem
+die Stadtteufel so viel zu schaffen machen.« Übrigens glaube ich, daß
+er das Wort »Stadtteufel« gar nicht ausgesprochen hat; man verstand
+auch, wenn er in halben Sätzen redete. Nun aber mit diesem »Waldteufel«
+wußte auch ich nichts anzufangen. So vor Leuten zu ihm hintreten und
+fragen: »Wie geht's euch! Wie lebt ihr? Was ist euch schon alles
+passiert? Was denkt ihr? Erzählt mir etwas!« -- das mag ich nicht,
+würde bei solchen Menschen auch nicht anschlagen. Oder man wird tüchtig
+gefoppt. Da heißt's möglichst gleichgültig dreinschauen und warten, bis
+so einer selber anfängt. Und mein Waldteufel fing an.
+
+Diesmal hatte er einen besonders merkwürdigen Hut auf. Auch der hatte
+die Form der Sternstecher, nur dünkt mich, er wäre noch wuchtiger
+und riesiger als seine sonstige Kopfbedeckung. Manchmal war solcher
+Hut beklebt mit illustrierten Zeitungsannoncen, weiß aber nicht,
+ob zur selbstgewählten Zier oder ob schlaue Geschäftsleute sie ihm
+angeschwätzt hatten, so daß er für sie eine wandelnde Annoncensäule
+abgab. Ich vermute den Mann des Lesens unkundig und immereinmal ein
+Opfer fremden Vorwitzes. Diesmal war der Hut aus Baumrinden gemacht,
+in doppelter Schichte, daß er besser halten sollte; die sehr breiten
+Krempen waren zierlich gezackt. Aber diese Krempen hatten ein paar
+Löcher. Der Hagel hatte ihn geschlagen. Er pflege -- sagte der Mann
+in langsamer, gemütlicher Tonart -- bei Ungewittern nie unter einen
+Baum zu gehen, er bleibe auf freiem Felde stehen und warte, bis es
+vorüber sei. Das sei sonst schier am sichersten, aber diesmal habe
+ihm der Hagel die Löcher geschlagen. Nun, es sei ja recht. Sonst hätte
+er doch auch nichts, was ihm der Hagel schlagen könne. Außer diesem
+Hut hätte er wohl einmal ein Haus gehabt, aber das sei ihm abgebrannt.
+Sei ihm immer noch leid um dieses Haus, seien ihm viel Altertümer
+mitverbrannt. Er meinte damit wahrscheinlich alte Kleider, besonders
+aber den weitbekannten Filzhut, den er sich vor vierzig Jahren selbst
+gebaut hatte. Um seine Angabe zu bezeugen, zog er ein Zeitungsblatt
+aus dem Sack; als er das abgegriffene Papier mit ungeschickten Fingern
+entfaltete, wollte es gleich auseinanderfallen, als ob auch diese
+letzte Erinnerung an seine Hütte zunichte werden sollte. Da stand
+denn in einer Notiz beiläufig erwähnt, daß am Geierkogel eine Hütte
+abgebrannt sei, in welcher der sogenannte Waldteufel sich manchmal
+aufgehalten habe. -- So weit war auch dieser Naturmensch schon von der
+Kultur beleckt, daß er sich etwas Besonderes dünkte, »weil er in der
+Zeitung stand«. -- Ja, Alter, das hat man davon, wenn man in die Stadt
+geht, Pilze und Kranabetstauden zu verkaufen. In die Zeitung kommt
+man, gedruckt wird man, gerade so wie der Dichter, der dort in Stein
+auf dem Sockel sitzt. -- Da sagte er auf einmal: »Ihr Herren! Wenn ich
+alle Steine, die mir in Graz die Gassenbuben schon nachgeworfen haben,
+zusammengetragen hätte auf einen Haufen, es wäre auch ein Denkmal. Wäre
+~auch~ eins! Wie mich die Kinder aushetzen.«
+
+Es gibt ja böse Buben, hier wie dort. Der Unterschied, daß die
+Landkinder sich vor dem Waldteufel fürchten, während die Stadtjugend
+mit ihm ihren Spaß hat. Wie die löbliche Polizei sagt, Ursache daran
+wird doch wohl er selber sein mit seiner auffallenden Tracht. Ob er
+sich aus Eitelkeit so trägt? Oder ob er damit die Aufmerksamkeit der
+Leute aus praktischen Gründen auf sich lenken will? Vielleicht beides.
+Leicht ist sein Geschick sicherlich nicht. Wenigstens nicht in unseren
+Augen. Er selbst -- wenn man ihn so sprechen hört -- wüßte allerdings
+nicht, was ihm fehlt. Es müßten nur die »Altertümer« sein, die ihm
+verbrannt sind.
+
+Als Beweis für die Schlauheit des Waldteufels wird ein Stückl erzählt.
+Wandern da einige bergfrohe Herren aus der Stadt auf den Geierkogel.
+Der Weg ist weit und die Sonne brennt heiß. Nirgends im Kalkboden eine
+Quelle, nirgends ein Labsal! Endlich ein Haus, vor dem einige Knechte
+stehen, darunter der wilde Waldteufel. Freundlich bitten die Ausflügler
+um einen Trunk Wasser, der ihnen aus einer Lagel gern und ohne Anspruch
+auf Bezahlung gewährt wird. Mit einem herzlichen »Gelt's Gott!« wollen
+sich die Städter wieder entfernen, da fängt der Waldteufel zu munkeln
+an: »Ich muß das Wasser weit hertragen und ihr schenkt es den reichen
+Städtern. Holt euch von morgen ab selber das Wasser herauf!« Natürlich
+griffen die Herren sofort in die Tasche und legten Nickel auf Nickel
+in die nun demütig dargebotene Hand des Waldteufels. Kaum waren die
+Ausflügler außer Hörweite, da zeigte der Fechtbruder seine Kollekte den
+Knechten mit den Worten: »Da, zwei Gulden fünfzig, und merkt's euch,
+wie leicht man bei den Städtern Geld verdienen kann!« Es braucht nur
+noch erwähnt zu werden, daß sich der Waldteufel nie mit Wassertragen
+abgegeben hat.
+
+So ist es ihm sein Lebtag gut gegangen. Sein Vater, ein Tiroler, hat
+seine Mutter, eine Kärntnerin geheiratet. Und das Kind nachher ist
+ein Steirer geworden. Also drei Heimländer. Wer hat mehr? Er ist sein
+Lebtag viel gereist. Nicht bloß in den drei Heimatländern, wohl auch
+in Italien, im Küstenland und weiter um. Sein Vater war »Künstler«,
+Holzschnitzler, und ist dann mit seinen Waren: Holzschüsseln,
+Kornschaufeln, Kochlöffeln und dergleichen hausieren gegangen. Der Sohn
+ist überall mit ihm gewesen. Nicht jede Nacht haben sie ihr Quartier
+gefunden.
+
+Nun, im Freien ist's auch bequemer, da hat man weit genug, hat frische
+Luft und wird nicht geniert. Das Gras auf der Wiese ist auch ein
+Federbett, ein ganz frisches, und kein Königskind hat ein süßeres
+Schlaflied, als das die Grillen singen. Aber noch lieber ist der
+»Franz« auf Steinhaufen gelegen, da kann man sich mit den Ellbogen das
+Bett graben wie man's gern hat. »San die Gliederlan wohl immer a bissel
+steif worden; muß einer nachher halt wieder brav laufen, alsdann werden
+sie schon wieder gelenkig.«
+
+»Und hat's Euch nicht geschadet, bei Nacht und Wetter so im Freien
+schlafen?«
+
+»Bis jetzt nit. Gesund, Gott sei Dank, bin ich alleweil gewest.«
+
+»Wie alt seid Ihr denn?«
+
+»Im Achtunddreißigerjahr geboren.«
+
+»Was? Und nicht ein graues Gran im Bart!«
+
+»Aber da, lieber Herr!«
+
+Er hob seinen Hut vom Kopf, da hatte er noch eine schwarze Haube auf,
+wohl zum Schutz vor dem drückenden Baumrindendach. Das verschwitzte
+Haar hatte graue Fäden.
+
+»Seht Ihr, und so einen würdigen Herrn will die Polizei abschaffen!« Er
+sagte es munter gegen einen Sicherheitswachmann hin, der den Waldteufel
+schon lange beobachtet hatte, ohne ein Arg an ihm zu finden. Dann hob
+er mit beiden Händen den Hut langsam und bedächtig wieder auf den
+Kopf. Einer, der diesen Hut vorwitzigerweise versucht, behauptete,
+er wiege wenigstens fünf Pfund. Dem Manne schien die Gefahr des
+Abgeschafftwerdens nicht aus dem Kopfe zu gehen. Es schien ihm schon
+oft passiert zu sein, obwohl die Behörden nie recht wußten, wohin mit
+ihm. Von den drei schönen Alpenländern wollte jedes das bescheidenste
+sein und auf den drolligen Vagabunden verzichten. Er wäre ja doch in
+keinem geblieben. »Ich tu' halt so viel gern reisen, so viel gern
+reisen! Und abgeschafft werden wir alle einmal!« lachte er laut, gegen
+den Wachmann hin. »Bis wir alt sind, werden wir alle abgeschafft. Aber
+ich bin decht noch jung.«
+
+»Ja, bloß sechsundsechzig Jahre!« redete ich drein.
+
+»Was ist das, sechsundsechzig Jahr! Meine Mutter ist hundertvier Jahr
+alt geworden. Mein Vater ist hundertvierzehn Jahr alt geworden, weil er
+brav Schnaps getrunken hat. Heut' kunnten sie noch leben, wenn --«. Er
+hielt ein mit irgend einer Anklage und setzte schmunzelnd bei: »Wenn
+sie nit gestorben wären.«
+
+»So habt auch Ihr Aussicht, alt zu werden?«
+
+»Ich werde zweiundachtzig Jahre alt,« antwortete er ruhig. »Damit wir
+zusammen dreihundert Jahr ausmachen, alle drei. Dreihundert ist kein
+Spott mehr. Mein Vater hat allemal gesagt, er möcht's gern derleben,
+daß die Leut' gescheiter werden. Hundertvierzehn Jahr ist er alt worden
+und hat's doch nit derwarten mögen. So lang mag ich nit leben, so lang
+nit. Nur das möcht' ich noch sehen, wie's ausschauen wird auf der Welt,
+bis die Leut' ~noch~ dümmer geworden sind.«
+
+Da hatten wir gleich seine Meinung über den Stand unserer Welt.
+Er brauchte keine langen anarchistischen Reden zu halten, keine
+pessimistischen Bücher zu schreiben -- das eine Wort sagte alles.
+Er, der keinen anderen Rock hat, als das in allen Nahten klaffende
+Lodenwams, kein anderes Dach, als den Rindenhut -- von der Art seiner
+Nahrung war überhaupt nicht die Rede -- er fühlte sich erhöht über die
+Millionen der Durchschnittsmenschen, die ihn erst dann interessieren
+werden, bis sie noch dümmer geworden sind.
+
+Wie war nun dem stolzen armen Manne beizukommen? »Waren« hatte er
+diesmal nicht bei sich, die ihm etwa abzukaufen gewesen wären. War man
+sicher, daß der hohe Herr, der bedürfnislose, freie König des Waldes,
+eine bescheidene Gabe nicht zurückweisen würde?
+
+»Wie würdet Ihr es halten?« fragte ich ihn tückisch, »wenn ein armer,
+braver und ganz zufriedener Mensch dastände und jemand gäbe ihm ein
+Silberstück in die Hand. Wäre das gescheit oder dumm?«
+
+»Das wäre gescheit, das wäre gescheit!« rief er aus.
+
+»Und was glaubet Ihr, daß der arme, brave und ganz zufriedene Mensch
+mit dem Silberstück anfangen würde?«
+
+»Schnaps kaufen!«
+
+So weit ging sein Freiheitsstolz -- und nicht weiter. Alle Bande
+hatte er abgestreift oder gesprengt, aber der Schnaps war sein Herr
+und Gebieter geblieben. Doch ich sah ihn keinen trinken. Ehe wir
+auseinandergingen, vertraute er mir noch ein Geheimnis an. Er sei
+gesonnen, sich demnächst zu veräußern. Er stehe in Unterhandlung
+mit der medizinischen Fakultät, er wolle ihr seinen heiligen Leib
+verkaufen. Bei dem Worte heilig schnitt er eine ganz abenteuerliche
+Grimasse. Er glaube, mit fünfhundert Gulden sei der Waldteufel nicht
+überzahlt, aber man spare immer am unrechten Orte und wolle ihm nur
+dreihundert geben. So viel aber sei die Haut allein wert, wenn sie
+ausgestopft werde. Was habe er dann für die Knochen? Daß diese auch
+hübsch was nutz seien, beweise er jedem, der es bewiesen haben wolle.
+Er hob den Arm mit der geballten Faust. Indes hätte ihm ein Wachmann
+geraten, sich nicht voreilig zu verkaufen, er lebe dann keine drei
+Wochen mehr! Die Studenten seien so viel gierige Leut', die würden
+seinen Tod nicht abwarten wollen, sondern recht bald mit »einem
+Stupferl von hinten« nachhelfen, daß sie zu ihrem Kadaver kämen.
+Überhaupt würde er am Arm gezeichnet werden und dürfe auch nicht nach
+Amerika, oder sonst übers große Wasser. Als Mann der Freiheit vertrage
+er das nicht. Es sei also eine Lebensfrage, ob er sich derweil nicht
+doch noch behalten solle. Es werde am besten sein, er gehe fleißig
+betteln. -- Und machte sich auch gleich ans Tagewerk.
+
+Weiter weiß ich nichts von ihm. Jedenfalls erreicht der Mann ein hohes
+Alter, besonders, wenn er nach dem Grundsatz seines Vaters so lange
+leben will, bis die Leute gescheiter geworden sind.
+
+
+
+
+ Von
+ Peter Rosegger
+ erschien zuletzt im gleichen Verlage:
+
+
+ Frohe Vergangenheiten
+ Launige Geschichten
+
+
+ Mit einem Vorwort von
+ ~Hans Ludwig Rosegger~
+
+ 15. Tausend
+
+
+
+
+»Der Titel trifft auf die Erzählungen, die, ernst und heiter vermischt,
+~das schalkhafte Gesicht des Waldschulmeisters fleckenlos spiegeln~,
+absolut zu. ~Es ist echtester Rosegger~: Waldweisheit, die allerhand
+reizvolle Patina angesetzt hat und dennoch nicht nur ehrwürdig, sondern
+lebendig wie jedes Wort ist, das Rosegger je geschrieben hat. --
+~Ganz ungewöhnlich lesenswert aber und als menschliches Dokument so
+ziemlich alles, was in den letzten Jahren auf dem Büchermarkt erschien,
+überragend, ist die dem Bande voran gesetzte »Lebns-Beschreibung«.~
+Die Orthographie ist die des fünfzehnjährigen Bauernbuben, aber das,
+was der »Autor« mit früherwachter Selbstkritik, »keine interesande
+Geschichte« nennt, ist nicht literarische Kuriosität, sondern in seiner
+Wahrhaftigkeit und in der Hilflosigkeit des von allen ersehnten Quellen
+des Wissens ausgesperrten Bauernbuben ~rührend und erschütternd.
+Alle Schulorthographie ist, gegen dieses erste Stammeln eines großen
+Menschen gehalten, Makulatur.~«
+
+ Karl Marilaun im »Neuen Wiener Journal«.
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75532 ***
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+.footnote .label {position: absolute; right: 84%; text-align: right;}
+
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+
+/* Poetry */
+/* uncomment the next line for centered poetry */
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+
+/* Transcriber's notes */
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+</head>
+<body>
+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75532 ***</div>
+
+<div class="transnote">
+<p class="s4 center"><b>Anmerkungen zur Transkription</b></p>
+<p class="p0">Der Text wurde in Fraktur gesetzt, Schreibweise und Interpunktion
+des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler
+sind stillschweigend korrigiert worden. Worte in Antiquaschrift sind "<i>kursiv</i>"
+dargestellt.<br>
+<p class="p0">Das Inhaltverzeichnis ist an den Anfang des Textes verschoben worden.</p>
+</div>
+
+<figure class="figcenter illowp49" id="cover" style="max-width: 90.1875em;">
+ <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt="">
+</figure>
+
+<h1 class="p2">Sonderlinge</h1>
+<p class="center">Von</p><br>
+
+<p class="s2 center"><b>Peter Rosegger</b></p><br>
+
+<p class="p2 center">Achtundzwanzigste bis zweiunddreißigste Auflage</p>
+<p class="center">(Der neubearbeiteten Ausgabe elfte bis fünfzehnte Auflage)</p><br>
+
+<div class="chapter">
+
+<figure class="figcenter illowe6 padtop5 padbot5" id="signet">
+ <img class="w100" src="images/signet.jpg" alt="signet">
+</figure>
+
+<p class="p2 center">1922</p>
+<p class="center">L. Staackmann Verlag Leipzig</p><br>
+
+<p class="center">Alle Rechte vorbehalten</p>
+<p class="center">Druck von C. Grumbach in Leipzig.</p><br>
+</div>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p class="s2 center"><b>Inhalt.</b></p>
+
+<table class="autotable">
+<tr>
+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdr">Seite</td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Vorwort</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_5">5</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Karl der Große</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_7">7</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der Fischer im Olymp</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_18">18</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der Geistbrenner</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_32">32</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der ordentliche Augustin</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_42">42</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Meister Sani</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_51">51</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der falsche Himmelträger</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_59">59</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der unglückliche Kammerdiener</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_68">68</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Die Einsiedler</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_76">76</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Ein Wildling Christi</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_90">90</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der mißratene Evangelist</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_109">109</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der alte Adam</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_121">121</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der Säemann</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_130">130</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der scheltend' Schuster</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_136">136</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Herr Trotzkopf, der Heiratsbeflissene</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_142">142</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der Samer-Sim</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_150">150</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der Zillacher-Anderl</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_155">155</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">s' Guderl</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_162">162</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der Figurlmacher</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_182">182</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der junge Geigenspieler</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_192">192</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Der singende Schabelwirt</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_209">209</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">Das reiche Waldschulmeisterlein</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_224">224</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Der Orgler zu Sankt Thomas</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_241">241</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Der Naturfreund</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_247">247</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Der lange Rauk</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_258">258</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Hans Johanns Hauptsache</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_269">269</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Der Himmelherrgottswirt</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_279">279</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Herr v. Florin</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_289">289</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Der Steinschädel</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_300">300</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Der Feuermann Balthasar</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_309">309</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Herr Meyer, der Belehrende</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_317">317</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Ein Mann, ein Wort</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_327">327</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Hauptmann Alles</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_339">339</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Die Tafelrunde der Berühmten</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_348">348</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Der Mann mit den dreizehn Talern</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_361">361</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Der glücklichste Mann von Graz</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_401">401</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"> Der Waldteufel</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_405">405</a></td>
+</tr>
+</table>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span></p>
+<div class="chapter">
+<h2 class="nobreak" id="Vorwort">Vorwort.</h2>
+</div>
+
+<p>Wenn man die Menge betrachtet, sind fast alle Leute gleich. Und wenn
+man in den Einzelnen schaut, ist fast jeder ein Original. Man soll auf
+allen Bäumen der Welt ja nicht zwei Blätter finden, die ganz gleich
+sind, und im unermeßlichen Menschenwald ja nicht zwei Gesichter, die
+in gar nichts verschieden wären. Jeder Mensch existiert nur in einem
+einzigen Exemplar.</p>
+
+<p>Ganz so sind die Sonderlinge dieses Buches nicht gemeint. Das
+sind vielmehr wunderliche Charaktere, durch Naturanlage, äußere
+Verhältnisse, besondere Weltanschauungen und Leidenschaften so
+gebildet. Bevorzugt habe ich die Harmlosen, Humorvollen, Gut- und
+Edelherzigen, besonders die froh verzichtenden Weltabweisenden, die
+meine Lieblinge sind. Aber es gibt auch finstere, dämonische Gesellen
+darunter; dann solche mit genialer Begabung und solche, die im Volk
+»halbe Narren« genannt werden, weil sie ganze Weise sind. Oft auch
+Menschen, die ihren Beruf verfehlt haben, oder die so eckig sind,
+daß sie sich in keinen einordnen lassen. Solche grollen dann gerne
+mit der Welt, führen ein verkümmertes, wunderliches Dasein. Manche
+machen sich aus Kleinlichkeit ein absonderliches Leben, manche aus
+Weltüberlegenheit.</p>
+
+<p>Gefunden habe ich derlei Leute nicht, denn ich habe nie nach ihnen
+gesucht. Auf langem, reichlich gewundenem Lebensweg und mit einem
+Auge für innere Eigenarten begegnet man ihnen auch so. Manche, die
+Plaudersamen, sich selbst Ausspielenden machen es einem leicht, sie zu
+fassen; nur darf man sich nicht zu sehr foppen lassen. Dann hängt<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> man
+ihnen gern einmal ein anekdotisches Mäntlein um. Etliche sind mir bloß
+erzählt worden und ein paar sind mir im Traume untergekommen, weniger
+aus der Umwelt, als aus mir selbst hervorgegangen.</p>
+
+<p>Und so ist eine wunderliche, gemischte Gesellschaft zusammengekommen,
+die sich gewiß nirgends anders als im duldsamen Buche miteinander
+vertragen würde.</p>
+
+<p class="mright5"><em class="gesperrt">Der Verfasser.</em></p><br>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Karl_der_Gro_e">Karl der Große.</h2>
+</div>
+
+<p>Karl Oberbergbreitebner war so groß, das der Witz seiner Dorfgenossen
+zwei aus ihm machen wollte, einen Langen und einen Dicken. Wäre noch
+auf einen Dritten etwas übrig geblieben, so hätte ich für einen Klugen
+gestimmt. Karls Gehirn war entweder so klein, wie bei einem Huhn, oder
+so groß, wie bei einem Büffel. Doch hatte er sein Lebtag nie etwas
+Dummes gesagt, denn er sprach nicht viel, hatte nie etwas Albernes
+gedacht, denn er dachte nicht, er handelte bloß. Er hätte aber auch das
+tollste Zeug schwatzen können, seine Körperstärke war so groß, daß er
+kaum viel Widerspruch erfahren haben dürfte. Zwei derbe Arme sind eine
+doppelte Beweisführung.</p>
+
+<p>Karl war der Sohn des Dorfschneidermeisters, hatte das ehrwürdige —
+nein, das ist zu viel — das ehrsame Handwerk des Vaters gelernt und
+ging mit diesem, einem kümmerlich kleinen und hageren Männl, auf der
+Ster um, von Hof zu Hof. Seit sein Karl groß geworden war, konnte das
+Meisterlein die entlegensten Höfe auch zur Winterszeit bei Schnee und
+Sturm besuchen. »Pack mich, Karl!« sagte er, und Karl nahm ihn auf
+den Rücken oder unter die Achsel und trug ihn gemächlich bergauf und
+talab; doch mußte der kleine Alte dem großen Jungen fortwährend den
+Weg zeigen. Karl konnte nicht Kleider anmessen, nicht zuschneiden,
+überhaupt selbständig nichts fertig machen. »Das nähe!« sagte sein
+Vater, und er nähte es, aber auch um keinen Stich mehr und keinen
+weniger. »Das bügle!« sagte sein Vater, und wenn er ihm eine lebendige
+Katze hingehalten, so hätte er sie gebügelt. Wozu das Nähen und wozu
+das Bügeln?<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> Ich glaube nicht, daß Karl jemals auch nur im Gedanken
+danach gefragt hatte. Warum auch?</p>
+
+<p>Aber die Leute schätzten seinen Wert. Wenn irgendwo ein großer
+Holzblock zu schleifen, ein schwerer Stein zu wälzen oder eine
+Kohlentracht zu schleppen oder eine andere Last zu bewältigen war, so
+schickte man nach dem Schneider.</p>
+
+<p>Da kam eines Tages eine Stadtherrschaft ins Dorf gefahren, mit der
+Absicht, den Hochstandel zu besteigen. Nun war aber der Hochstandel ein
+stattlicher Berg und die Dame der Herrschaft eine stattliche Frau, ein
+Gleich und Gleich, das sich nicht gerne gesellt. Ein alter, magerer
+Herr und die zwei munteren Töchterlein waren mutig, die stattliche Frau
+jedoch ließ Umfrage halten nach einem Wagen, um auf den Hochstandel
+zu fahren. Wägen leide der Berg nicht, wurde ihr gesagt; Maultiere,
+Esel oder dergleichen zum Reiten seien auch nicht vorhanden, hingegen
+lebe im Orte ein Schneider, der die Stelle genannter Vierfüßler recht
+gern übernehme und die Frau auf den schönen Berg tragen wolle. — Ein
+Schneider! Die vierfältige Herrschaft rümpfte ihre Nasen, ließ aber
+doch den Mann holen. Der erschien mit seinem riesigen Kohlenkorbe,
+dessen Boden er mit Reisig bedeckt hatte, so daß ein gar einladendes
+Nest ward. Als ihm dargetan ward, um was es sich handle, nahm er
+zuerst den großen Pack mit Eßwaren, legte ihn hinein, dann nahm er
+ohne Umstände die Dame und hob sie in den Korb; nahm hierauf eines der
+Fräulein und hob es in den Korb, nahm hernach das andere Fräulein und
+hob es in den Korb. »So,« murmelte er, »jetzt tut sich's, jetzt brauch
+ich nur noch etwas zum Festkeilen.« Nahm auch den alten Herrn her und
+steckte ihn zu seiner werten Familie in den Korb. Dann packte er sich
+die ganze Bergpartie auf den Rücken und stieg langsam an.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span></p>
+
+<p>Die beiden Stadtfräulein gehörten zur Gattung der Backfische, sie
+fürchteten sich daher gleich anfangs vor dem Riesen und hatten Angst
+davor, daß er sie unterwegs ermorden würde. Das Ungetüm zeigte sich
+jedoch überraschend harmlos, es ging mit dem Rückkorbe sachte den
+sonnigen Hang hinan und pflückte Erdbeeren. Ohne mündliche Artigkeiten
+warf er zwei Erdbeersträußchen hinter sich in den Korb. Die Fräulein
+verstanden das so, als sollte es für sie eine kleine Aufmerksamkeit
+sein, sie naschten daher die Beeren von dem Strauß und überlegten jedes
+für sich, ob man sich in diesen gewaltigen und doch so netten Mann
+nicht verlieben könne? Mittlerweile wimmerte die Frau Mama in ihrer
+Einpfropfung und der Herr Papa hielt eine Vorlesung über die Naturkraft.</p>
+
+<p>Nach drei Stunden waren sie dort, wo es nach allen Seiten abwärts
+geht, und wo man stehen muß, wenn man nachträglich will sagen
+können, wir standen zweitausend Meter hoch über dem Meere. — Karl
+Oberbergbreitebner ging immer vorwärts, als ob er ohne Säumen in
+die freien Lüfte weiter steigen oder ohne weiteres auf der anderen
+Bergseite wieder hinabgehen wollte. Die Bergpartie im Korbe mußte
+ihm ein vierfach donnerndes Halt! zurufen, bis er stehen blieb. Also
+stellte er den Korb auf das Gestein, die Insassen stiegen mit vieler
+Umständlichkeit aus und rieben sich die Beine. Während Karl zurückblieb
+beim Korb, suchte die Herrschaft den schönsten Aussichtspunkt, und
+das würdige Oberhaupt erklärte die Fernsicht. Sie wäre furchtbar
+hübsch, erklärte Frau Mama, während die Fräulein auf Steinblöcken
+saßen und auf Ansichtskarten kritzelten, wie das reizend gewesen wäre
+auf dem Hochstandel, ein junger schöner Mann habe sie alle zusammen
+hinaufgetragen, oben hätten sie dann die Aussicht angesehen und einen
+guten, reichlichen Imbiß eingenommen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span></p>
+
+<p>Auch Frau Mama erinnerte sich daran, daß es Zeit wäre zum Imbiß, und
+sie riefen den Karl, der hinter einer Felswand gelegen war, daß er mit
+dem Korbe herüberkommen solle. Karl kam mit dem Korbe herüber, aber es
+war nichts drinnen, als Reisig.</p>
+
+<p>»Wo ist der Pack mit den Speisen?« fragte die Dame.</p>
+
+<p>Karl schaute sie mit einigem Befremden an und antwortete: »Der Pack?
+Der ist nicht mehr.«</p>
+
+<p>»Um Gottes willen, er war ja im Korbe!«</p>
+
+<p>»Ich habe ihn herausgetan,« sagte Karl.</p>
+
+<p>»So hole ihn!«</p>
+
+<p>»Er ist halt nicht mehr.«</p>
+
+<p>»Was ist mit ihm geschehen?«</p>
+
+<p>»Weiter nichts,« antwortete Karl, »aufgegessen habe ich ihn.«</p>
+
+<p>»Ungeheuer!« Ein vierfacher Schreckensruf war's, gräßlich genug, daß
+Karl der Große vor Grauen umfallen konnte; aber er stand. Ganz ruhig
+und schlicht stand er da und blickte so treuherzig drein, als ob nichts
+geschehen wäre.</p>
+
+<p>Die Fräulein fielen den Eltern um den Hals und riefen: »Vater! Mutter!
+Wir müssen Hungers sterben auf diesem Berge!«</p>
+
+<p>Nun war Karl schier verzagt und meinte, er habe nicht gewußt, daß das
+Essen für die anderen wäre. Sie sollten aber nur rasch wieder in den
+Korb steigen, daß er sie hinabbringen könne, bevor sie verhungerten.</p>
+
+<p>Na, das war doch klug! Und also ist es auch geschehen. Da die
+Herrschaft glücklich in das Dorfwirtshaus zurückgekommen war und der
+Papa den Karl nach dem Trägerlohn fragte, bedeutete der Große, es sei
+nichts, es zähle sich nicht aus.</p>
+
+<p>Es waren sehr vornehme Leute aus der Stadt, und so<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> gering waren sie in
+ihrem Leben nicht geschätzt worden, als von diesem Schneider.</p>
+
+<p>Wenn Karl sechs Tage lang bei der Nadel gesessen war, wußte er am
+Samstag nicht mehr, wohin mit seiner Kraft. Da fiel es ihm ein, daß
+es eine ganz gute Erholung sein müsse, wenn er am Sonntag Steine
+auf den hohen Standel tragen würde. Die Steine waren vom Berge ja
+herabgekollert, weshalb sollten sie nicht wieder hinaufgetragen werden?
+Als er jedoch mit seiner Ladung zu den Almen hinaufgekommen war, brach
+der Kohlenkorb, und die Steine kollerten wieder talwärts. Als sie in
+hohen Sätzen dahinsausten und bei ihrem Auffallen tief in den Boden
+schlugen, daß hier Sand emporsprang, dort Funken aufstoben, erscholl
+ein Schrei. Karl blickte hin und sah eine kleine Sennerin, die Gras
+schnitt. Das Dirnlein war so niedlich und zart, daß die Arbeit nur mit
+Mühe und Anstrengung von statten ging. Nun geschah es, daß Karl zu ihm
+hintrat, aber nicht um die Kleine in den Sack zu stecken, sondern um
+unter Stottern und Mühen zu fragen, ob sie sein Schatz sein wolle?</p>
+
+<p>Das Dirnlein antwortete natürlich, daß er ihr für einen zu viel sei,
+und daß sie zwei nicht brauche.</p>
+
+<p>Als sie hernach in die Sennhütte ging, schlich ihr der Große trotzdem
+nach. Aber als er zur Tür kam, da plagte es. Diese war nicht allein
+viel zu niedrig, sondern auch zu schmal; er wand sich zwar hinein,
+aber die Türpfosten ächzten. Drinnen stand er mit gebeugtem Haupte vor
+der Kleinen, denn aufrecht stehend hätte sein Kopf durch die morschen
+Bodenbretter ein Loch gebohrt hinauf in den Dachraum, wo er nichts zu
+tun hatte. Also in demütiger Haltung fragte er sie noch einmal, und sie
+antwortete ihm spottweise, ein Schneider sei ihr zu windig.</p>
+
+<p>Karl setzte sich ruhig auf einen Schemel, da knickte dieser<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> ein, mit
+zwei Füßen zugleich, und Karl der Große lag mit gekrümmten Beinen
+ungefüg auf der Erde. Die Sennerin war ein gescheites Dirnlein und
+dachte: Die schwersten Baumstämme können ihm nichts anhaben, und ein
+armseliges Fußschemlein bringt ihn zum Falle. So steht es mit diesen
+starken Männern. — Sie foppte ihn weiter, da meinte er lächelnd, er
+würde ihr noch einmal etwas Schlimmes antun, wenn sie so arg gegen ihn
+wäre.</p>
+
+<p>»Hascherlein, was kannst denn du mir antun?« fragte die Kleine den
+Großen.</p>
+
+<p>»Ich?« sagte er, »dieweilen du einmal auf der Wiesen bist, trag' ich
+dir deine Hütten davon. Christel, was tust denn nachher, he?!«</p>
+
+<p>»Ja,« rief sie, »nachher lauf' ich dir mit einer Brennessel nach, bis
+du die Hütten fallen laßt!«</p>
+
+<p>Karl schwieg. Vor Brennesseln hatte er immer Grauen empfunden, und er
+beschloß, das Dirnlein nicht mehr zu reizen.</p>
+
+<p>»Nein, ich tu' dir nichts,« sagte er gutmütig, »mich kränkt es recht,
+daß du mich nicht magst, aber tun tu' ich dir deswegen doch nichts.«</p>
+
+<p>»Da bist du wohl brav,« antwortete sie, »und hat auch der Elefant zur
+Mücke gesagt, die lustig in den Lüften summt: Mückerl, fürcht' dich
+nit, ich tu' dir nichts. — Bist wohl brav, Karl!«</p>
+
+<p>Sie hat gesagt, ich bin brav. So mag sie mich ja. — Mit diesem
+tröstlichen und wirklich logischen Gedankenanflug stieg er vom Berge
+herab.</p>
+
+<p>Als das Gerede umging, der Schneider Karl wolle heiraten, rief sein
+Vater, das Meisterlein: »Wie soll denn der heiraten! Kann ja kein Weib
+ernähren.«</p>
+
+<p>»Wer eins ertragen kann, wird auch eins ernähren<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span> können,« antwortete
+der Pfarrer, der gegen Heiraten, Kindstaufen und Todesfälle selten was
+einzuwenden hatte.</p>
+
+<p>»Er kann nichts als tragen, ziehen und schieben,« gestand der Vater.</p>
+
+<p>Hierauf ein Nachbar: »Das ist ja genug. Kann mein Ochse auch nit mehr
+und baut mir doch den Acker an. Halt geleitet muß er werden.«</p>
+
+<p>Wie? Der Karl Oberbergbreitebner will sich beweiben? Da wollen wir
+den baumstarken Kerl doch besser nutzen. Soldat werden! so sagt
+die Militärbehörde. Vaterland verteidigen! sagt sie. In das Feld
+marschieren! sagt sie. Der Recke hebt an zu zagen. Im Felde tun sie ja
+schießen und stechen! Ist es nicht so? Tun sie im Felde nicht schießen
+und stechen? Und wir sind ja in einer viel größeren Gefahr, als jeder
+andere, weil wir sehr leicht zu treffen sind. — Und da sage man noch
+einmal, daß Karl nicht tiefsinnig denken könne!</p>
+
+<p>Drei Wochen war er bei den Soldaten, als endlich der Hauptmann laut
+ward: »Mit diesem Lümmel ist nichts anzufangen! Er hat in keiner Montur
+Platz und beim Exerzieren! Gott, beim Exerzieren ist er viel zu stabil.
+Wo er steht, da steht er, und es bedarf zu vieler Kraft und Taktik, um
+ihn in Bewegung zu setzen. Marschiert er, so marschiert er und findet
+nicht leicht einen hinreichenden Grund, um nach rechts oder links
+kehrtzumachen, oder gar stehenzubleiben. Wenn sich der alte Herkules
+einmal pensionieren läßt, so mag der Karl Oberbergbreitebner angestellt
+werden zum Weltkugeltragen — bei den Soldaten können wir ihn nicht
+brauchen.«</p>
+
+<p>Nun kam Karl wieder heim und klagte es seiner kleinen Sennerin: »Sie
+sagen, sie könnten mich nicht brauchen.«</p>
+
+<p>»Das will ich doch sehen!« rief die Kleine, »spute dich<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> zum Pfarrer
+und sag', ich wollt' dich heiraten in vierzehn Tagen. Marsch!«</p>
+
+<p>Die Leute schüttelten den Kopf, und warum sollten sie es nicht, es
+war ja der ihrige, und nicht der des kleinen Almdirndels, in welchem
+besondere Pläne webten. Wer pachtete jetzt das Straßenhäusel am Fuße
+des Sattelberges? Die kleine Christel pachtete. Wer vertröstete den
+Eigentümer mit dem Pachte auf das nächste Jahr, bis man sich mit
+dem Vorspannfuhrwerk Geld verdient haben würde? Die kleine Christel
+vertröstete. Und wer hatte kein Pferd und keinen Ochsen, als er
+Vorspann leisten sollte über den Sattelberg? Die kleine Christel
+hatte nicht. Wer aber spannte den Kohlen- und Roheisenfuhrwerken
+ihren jungen Ehemann vor über den Sattelberg? Die kleine Christel
+spannte vor. Jawohl, die kleine Frau Oberbergbreitebner spannte den
+Oberbergbreitebner vor, und der zog im Vereine mit Pferden und Ochsen
+tapfer an; die Pferde und Ochsen waren höchst verwundert, einen
+zweibeinigen Genossen an ihrem Gespann zu sehen, und sie mußten sich
+sehr zusammennehmen, um von ihm nicht beschämt zu werden.</p>
+
+<p>Die Löhnung, welche Klein-Christel für solche Vorspann einzog,
+berechnete sie auf zwei Pferdekraft, und sie begegnete damit keinem
+Widerspruche.</p>
+
+<p>Hatte sie den Karl zu Hause, so hegte und pflegte sie ihn mit allem
+Notwendigen, damit er gesund und stark bliebe. Er war ihr Kapital, und
+Karl fühlte sich sehr gehoben, nun eine seiner Natur entsprechende
+Tätigkeit gefunden zu haben. Christel mietete auch einen Acker, und da
+konnte man sehen, wie sie hinten am Pfluge dreinging, ihn führte und
+das Zuggespann mit Hi und Hott leitete. Das Zuggespann war ihr Karl.</p>
+
+<p>Also ging es nun in Eintracht und gemeinnütziger Wirksamkeit<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> voran.
+Da geschah etwas Unerwartetes. Zwischen dem Heimatsdorfe des Karl
+Oberbergbreitebner, das Lehbach hieß, und dem Nachbarsorte Standelegg
+war ein Streit ausgebrochen. Es lag nämlich zwischen diesen Orten
+die kleine Gemeinde Hüttel, deren Insassen »lebendige Lehbacher
+und tote Standelegger« waren. Mit ihren Kirchengängen, Hochzeiten,
+Taufen, Geschäften usw. kamen sie nämlich nach Lehbach herüber,
+ihre Leichen gehörten jedoch auf den Kirchhof des kleinen und näher
+gelegenen Standelegg. Als durch die Gemeinde-Autonomie die Dörfer
+zum Gebrauche ihrer Vernunft kamen, sagten die Standelegger: Wenn
+die Hüttler lebendigerweise nach Lehbach neigen, so brauchen wir sie
+auch toterweise nicht. Mit den Behörden ließ sich nichts anfangen,
+die sagten, es habe zu bleiben, wie es bisher gewesen, und so sahen
+die beiden Ortschaften, sie müßten die Angelegenheit unter sich
+entscheiden. Mit Reden und Schreien ging es nicht, das hatten sie schon
+erfahren; also schlug ein kluger Kopf vor, Lehbach und Standelegg
+sollten durch Krieg entscheiden, wie Deutschland und Frankreich
+entschieden hätten, nämlich tapfer miteinander raufen, und der Stärkere
+sei der Sieger. Aber nicht etwa so dumm, wie es die Reiche machen, wo
+ganze Völker aneinanderprallen und sich gegenseitig durch Mord und
+Brand schreckbar zugrunde richten, sondern vielmehr so, daß jedes
+der beiden Dörfer einen Mann auf den Kampfplatz schicke. Die beiden
+hätten miteinander ohne Waffe, nur mit ihren natürlichen Gliedern
+und körperlichen Fähigkeiten zu ringen, und der zuerst falle, dessen
+Gemeinde sei die besiegte.</p>
+
+<p>Das wurde abgemacht. Also hielt die Dorfgemeinde Lehbach Umschau nach
+ihrem stärksten Manne, und natürlich fiel die Wahl auf Karl den Großen.</p>
+
+<p>»Ja, ja,« sagte der, »ich tu's schon. Will schon raufen.«<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> Tat aber
+weiter nichts desgleichen, als ob die Wahl ihn freue oder aufrege, und
+ganz gleichmütig trottete er an dem bestimmten Tage auf den Kampfplatz.
+Siegte Karl, so gab es in der Zwischengemeinde Hüttel wie bisher
+lebendige Lehbacher und tote Standelegger. Siegte der von Standelegg
+gesandte Streiter, so sollte Hüttel fürderhin auch bei lebendigem
+Leibe, mit seinen Kirchgängen, Hochzeiten, Kindstaufen und Geschäften
+den Standeleggern zu eigen sein. Der Standelegger Kämpfer war ein ganz
+gefüger, flinker Tischlergeselle, mit dem ein Karl Oberbergbreitebner
+Fangball spielt. Aber bevor die hellen Haufen der Zuschauer und Zeugen
+sich noch recht versammelt hatten, lag der Karl schon im Sande, der
+Tischlergeselle saß festgeklammert auf seiner mächtigen Brust und
+zündete sich eine Pfeife an.</p>
+
+<p>Der Karl blieb ganz ruhig liegen und horchte gelassen dem Geschrei
+der Menge, die ihn verlachten und den Gegner bejubelte. Erst als
+Klein-Christel kam, ward es anders mit ihm. Totenblaß im Gesichte,
+leise flüsternd befahl sie, daß er aufstehe. Also begann er mit
+Händen und Füßen Anstalten zu treffen, daß er sich erhebe, und schon
+nach drei Minuten war es so weit, daß die Kleine den Großen vor sich
+hertreiben konnte gegen das Straßenhäusel. Die lebendigen Hütteler
+waren für Lehbach verspielt, alle Schmach entlud sich über das arme
+Straßenhäusel, und es schien kein Mittel mehr zu geben, die Ehre des
+Großen wieder herzustellen.</p>
+
+<p>Da kam ein schwerer Winter. Der Schnee lag mannshoch in der Gegend und
+alle Wege waren geschlossen. Seitdem die lustigen Hütteler nicht mehr
+nach Lehbach kamen, ging es hier recht langweilig zu und man tröstete
+sich nur mit dem Gedanken, daß sie bei dem großen Schnee auch nicht
+nach Standelegg gehen könnten; sie waren eingemauert in ihrem Dorfe
+Hüttel. Es nahten die Faschingstage. Zu dieser<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> Zeit sagte eines Tages
+Klein-Christel zu ihrem Großen: »Karl, mach' dich auf und geh' hinüber
+nach Hüttel. Geh' heute hinüber und morgen wieder zurück.«</p>
+
+<p>Karl fragte nicht warum; er verzehrte eine weite Schüssel Heidenbrei,
+dann ging er nach Hüttel. Der Schnee reichte ihm bis an die Brust, der
+Karl schob sich langsam voran und hinter ihm her war ein Hohlweg. Am
+nächsten Tage kam er wieder zurück, und hinter ihm her zog eine lange
+Reihe faschingslustiger Hütteler, Männlein und Weiblein, die bei dem
+frischgetretenen Pfad nach Lehbach eilten, um im Wirtshause zu tanzen,
+zu essen, zu trinken und beim Kaufmann Lebensmittel einzukaufen.</p>
+
+<p>Nun erst merkten die Leute von Lehbach, was Karl der Große als
+Schneepflug bedeutete, und als solchen mieteten sie ihn von
+Klein-Christel, so oft im Winter die Pfade verschneit waren zwischen
+Lehbach und Hüttel. Also gewöhnten die Hütteler sich neuerdings an
+Lehbach, sie waren wieder »lebendige Lehbacher und tote Standelegger.«</p>
+
+<p>Klein-Christel konnte sich wieder freuen an ihrem Karl; ihr Ansehen und
+der Wohlstand ihres Hauses wuchs. Sie wäre in der Lage gewesen, eine
+junge Familie zu ernähren, allein diese war nicht da und kam nicht, und
+es ist jammerschade, daß weder die kleine, fleißige und kluge Christel,
+noch der große Karl fortgepflanzt werden. Die Zukunft könnte beide
+brauchen, und zwar zusammen vermählt; mit Klugheit allein, oder mit
+Kraft allein läßt sich doch nicht viel machen.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Fischer_im_Olymp">Der Fischer im Olymp.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Dort, wo der Wildgarten des Schlosses an die Landstraße stößt, neben
+dem Einfahrtstor, steht eine Steingruppe von Ungehörigkeiten aus der
+griechischen Mythologie. Die größten Auswüchse der Phantasie sind schon
+wiederholt durch Steinwürfe weggeschlagen worden, allein der Schloßherr
+steift sich auf das alte Herkommen und läßt die verwundeten Arme, Beine
+und Nasen allemal wieder herstellen.</p>
+
+<p>Unter dieser alten weltmunteren Sandsteingruppe nun saß ein Bettelmann.
+Er saß jahrelang dort, immer nur an sonnigen Tagen, er saß auf dem
+Sockel, er saß sogar manchmal der einen Göttin auf dem Schoß und lehnte
+sich rückwärts an den schönen Busen, der allerdings nicht ganz so lind
+war, als der Künstler ihm mit kundigem Meißel den Anschein gegeben.
+Der Bettelmann trug stets ein weites blaues Beinkleid und einen gelben
+Pelzmantel, wie man sie bei ungarischen Schafhirten sieht, ferner hatte
+er ein grellrotes Tuch um das Haupt gewunden, ähnlich wie die Türken
+ihren Turban tragen; die Füße hielt der Mann in braune Lappen gewickelt
+und mit grünen Bändern umwunden. Das Gesicht war nicht fahl und nicht
+mager, war vielmehr rosig und rundlich und hatte zwei ungleiche Augen.
+Das eine gutmütig ausblickend, das andere verwulstet und mit manchmal
+zuckenden Wimpern, hinter welchen sich Schelmerei zu verstecken schien.
+Zur Zeit, als ich den Mann das erstemal sah, mochte er etwa fünfzig
+Jahre jung gewesen sein. Ja, es war eine Jugend und Frische in ihm, die
+Straßenbettler, wenn sie tatsächlich ein wenig davon haben, sonst nicht
+hervorzukehren, vielmehr zu verstecken pflegen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span></p>
+
+<p>Da er hoch auf dem Sockel der Götter saß, so hatte er an einer langen
+Stange ein Binsenkörblein, das er dem Wanderer entgegenhielt, ähnlich
+wie der Fischer seinen Angelstab niedersenkt. Gab es nichts, so
+zog er seine Angel ruhig wieder ein, lehnte sich an die Götter und
+wartete. Witzige Leute nannten ihn den Fischer im Olymp. Ich, der
+wöchentlich ein paarmal des Weges zu gehen hatte, warf ihm fast allemal
+einen Pfennig in das Körbel, nicht etwa, weil dieser Bettelmann so
+erbarmungswürdig aussah, als vielmehr weil er stets ein so heiteres
+Gesicht machte. Manchmal aber, wenn das bartlose Rundgesicht gar zu
+heiter und aufgeweckt dreinsah, dachte ich: Na, schenk' lieber du
+<em class="gesperrt">mir</em>! und ging zugeknöpft vorüber.</p>
+
+<p>Man wunderte sich, daß dem Manne die Polizei gelassen zusah, allein
+diese hatte diesmal Humor und meinte, fischen sei nicht betteln und es
+möge sich erst der beschweren, dem der Fluß gehöre. Der sickernde Fluß
+der Wanderer aber gehört Gott dem Herrn, und der läßt alle Fischer und
+alle Wilderer gewähren. Auch der Schloßherr fand nichts einzuwenden
+gegen eine Gestalt, die den Eingang in seinen Park so wunderlich
+schmückte. Er war ein Freund heiterer Gesichter und sagte, ein so
+glücklich munteres Antlitz gäbe es in seinem ganzen Schlosse nicht.
+Auch er warf dem Fischer manche kleine Münze in das Binsenkörbchen.
+Anfangs soll ein hoher Herr mit teilnahmsvoller Gebärde mehrmals einen
+Taler hineingelegt, damit aber den Bettelmann erzürnt haben. Er lasse
+sich nichts schenken! sagte der Fischer, zerteilte die große Münze in
+mehrere kleine und spendete sie den Armen.</p>
+
+<p>Bei schlechtem Wetter war er nicht vorhanden. Die liebe Sonne genoß er
+mit den Olympischen gemeinsam, in Sturm und Regen ließ er sie allein
+stehen mit ihren verrenkten<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> nackten Gliedern. Es fragte auch weiter
+niemand nach ihm, oder vielmehr, ich horchte nicht danach aus. Mir aber
+— und das ist seltsam genug! Ging ich auch, wenn er oben saß, fast
+gleichgültig vorüber, wenn er nicht oben saß, war mir geradezu bang um
+ihn. Dem Wege fehlte der Sonnenschein des Bettlerangesichts. Er wird
+doch nicht unpaß sein? Wo er nur wohnt? Was ihn doch verhindern mag,
+daß er heute nicht fischt? Was mag der Mann nur eigentlich gewesen
+sein, ehe er sich in den Olymp versetzte? Man sprach einmal davon,
+daß er in der Stadt Häuser besäße; das glaubte ich nicht, denn dann
+hätte er die Taler eingesteckt. — Demnächst war er doch wieder da mit
+seinem gelben Schafspelz und seinem roten Turban, und kein Engländer
+kann geduldiger am Bache angeln, als da oben der Bettler auf die
+kleinen Almosen wartete. Ein paarmal wollte ich ihn ansprechen; in dem
+Augenblick, als mein Fuß über den Straßengraben stieg, neigte er sich
+seithin, und sein Gesicht nahm einen unguten Ausdruck an. Da ließ ich
+ihn einsam sitzen auf seinem Thron und ging den kümmerlichen Geschäften
+des Tages nach.</p>
+
+<p>Nun war es eines Tages, daß vor mir ein barfüßiger Handwerksbursch die
+Straße dahinpatschte und unterwegs in der hohlen Hand mißmutig die
+Münzen besah, die er an dem Tage erfochten haben mochte. Eine schien
+dabei zu sein, die ihm nicht gefiel; war es nun ein schweizerischer
+Pfennig, der hierzulande ungültig ist, oder war es ein messingener
+Hosenknopf, der ebenfalls ungültig ist, ich weiß es nicht. Ich sah nur,
+wie der Handwerksbursch, als er zur Stelle kam, wo an der Steingruppe
+der Fischer saß, diesem zwar nichts in das Körbel warf, hingegen
+aber die Münze in die Luft schleuderte, dem Bettler zu. Der wollte
+die metallene Mücke abfangen, glitschte dabei aus und fiel in den
+Straßengraben herab.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span></p>
+
+<p>Ich eilte hinzu, um ihn aufzuheben, er wartete aber nicht auf mich,
+erhob sich gelassen und murmelte: »Das härteste Bett wäre es nicht«
+(denn es war weicher Lehm und langes Gras im Graben). »Und so kurz, wie
+die Bauernbetten ist es auch nicht.« (Denn der Straßengraben war viele
+Meilen lang.)</p>
+
+<p>»Warum Ihr nur nicht liegen geblieben seid in dem guten Bett!« sagte
+ich laut, um eine Anrede zu haben, und machte dabei mein Gesicht
+lachen, daß er sah, es wäre nicht bös gemeint.</p>
+
+<p>»Warum?« fragte er entgegen, »weil es noch zu früh ist zum
+Schlafengehen. Muß ja erst den Gruß und Kuß aufsuchen, den mir der Herr
+Vagabund zugeworfen hat.«</p>
+
+<p>Und er begann auf dem Boden umherzulugen, rechts und links und vorn und
+hinten, und das Geldstück war nirgends. Als er wieder hinanstieg zu den
+Himmlischen, rief er plötzlich: »Aha, jetzt hebt die auch an!« denn der
+schweizerische Pfennig lag auf dem Schoß der sitzenden Aphrodite. Dann
+hub er hell an zu lachen: »Der soll nur liegen bleiben drin, das ist
+ein Falscher! O Schand und Spott!«</p>
+
+<p>Ich wollte den angeknüpften Verkehr nicht sogleich wieder abgebrochen
+wissen, daher bat ich den Bettelmann, daß er mir den Schweizerischen
+schenke.</p>
+
+<p>»Wenn du ihn selber herausnehmen willst!« antwortete er mit komischer
+Miene und drückte fast beide Augen zu. »Ich hab' jetzt nicht Zeit, ich
+muß lachen. Ich muß lachen über des Vagabunden guten Witz, ha ha ha!«</p>
+
+<p>»Wenn ich auch so herzlich lachen könnt'!« war meine Bemerkung, denn
+jetzt wollte ich um jeden Preis mit ihm anbinden.</p>
+
+<p>»Kannst nicht?« sagte er, stieg nieder und hub an, mit<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> seinen kurzen
+Fingern unter meinem Kinn herumzukrabbeln, »da muß man dich halt
+kitzeln — lach, lach, lach!«</p>
+
+<p>Da lachte ich wirklich, sagte aber: »Lasset das. So ein Lachen tut
+weh.« Denn ich hatte gerade meinen sauren Tag.</p>
+
+<p>»Du bist gewiß einer von solchen, denen das Flennen lustiger ist, als
+das Lachen!«</p>
+
+<p>»Wenigstens wäre jenes eher am Platz, als dieses. Wie es zugeht in der
+Welt!«</p>
+
+<p>»Wie geht es denn zu?« fragte er, dieweilen er sich wieder auf seinen
+Sitz schwang, die Stange mit dem Binsenkörblein zur Hand nahm und über
+die Stange hinausblickte.</p>
+
+<p>»Ihr seht es doch!« sprach ich, den falschen Pfennig betupfend, »falsch
+im kleinen, falsch im großen, alles falsch, alles Betrug.«</p>
+
+<p>»Mich betrügt keiner,« antwortete er, machte die Augen auf und schaute
+so kühl über mich hinweg, als ob ich Luft wäre.</p>
+
+<p>»Ich wollt Euch um etwas gebeten haben,« so wand ich jetzt ein.</p>
+
+<p>»Gebeten? Du bitten? Du mich?« Sein Gesicht leuchtete auf wie Werg, an
+das man mit dem Zündflämmchen gefahren.</p>
+
+<p>»Ich wollt Euch gebeten haben um ein Stück Brot.«</p>
+
+<p>Nun schaute er mich forschend an. Mein Stadtherrengewand, das keinen
+Flicken und keinen Riß hatte, wollte ihm nicht recht stimmen zu dieser
+Bitte. Daß ich eigentlich nur um ein Stück geistigen Brotes bat, um ein
+warmes Menschenwort, um einen Funken seines frohen Wesens, er konnte
+das freilich nicht wissen.</p>
+
+<p>Sein Antlitz war ernst geworden, und völlig gedämpft sagte er: »Wenn
+du Hunger hast, dann ist's freilich nicht zum Lachen. Auch nicht zum
+Weinen. Dann ist's zum<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> Essen. Schau! daß du so spät daherkommst! Vor
+einer Stunde hätte ich noch einen Apfel und eine Traube gehabt. Ich
+trage mir des Morgens mein Essen allemal im Körbel mit hierher. Jetzt
+müssen wir was anderes suchen gehen. Aber es ist nicht weit.«</p>
+
+<p>»Wohin denn?«</p>
+
+<p>»Nach Hause.«</p>
+
+<p>Um so besser, dachte ich. Meine Obliegenheit war an diesem Tage
+vollzogen, ich hatte Zeit, auf Abenteuer auszugehen. Man kennt ja das,
+mit diesen Professionsbettlern! In Paris war einer, der dreißig Jahre
+lang mit verkrüppeltem Leib und in armseligen Lumpen an der Pforte
+von Notre-Dame saß. Abends nach Hause gekommen, zogen ihm täglich
+livrierte Diener die Saloneleganz an und dann ging's mit lustigen
+Freunden und Freundinnen zur Tafel, bei der man mit Champagner anfing
+und aufhörte mit was weiß ich. — Zu Madrid in Spanien soll es sogar
+eine Aktiengesellschaft auf Bettler geben. Die Krüppel, Kretins und
+Aussätzigen sind Kapital und Produktion zugleich. Sie werden im Volke
+zusammengekauft, entsprechend auf günstige Plätze verteilt, der
+Impresario leitet die Geschäfte, nimmt des Abends die Einnahme in
+Empfang, und führt sie wohlverbucht in die Hauptkasse ab, während die
+Bettler in ihren Pensionen standesgemäß verpflegt werden.</p>
+
+<p>Derlei ist mir eingefallen, als ich dem Manne folgte, der, in seinem
+langen Pelz, über der Achsel die Stange, hastig vor mir hinlief,
+dem Dorfe zu. Er war viel kleiner, als er auf seinem Stammsitze
+aussah, seine in Lappen gewickelten Füße huschten lautlos dahin. Den
+Dorfleuten, die uns, ohne zu grüßen oder gegrüßt zu werden, begegneten,
+schien er eine gewohnte Erscheinung zu sein, um so verwunderter
+betrachteten sie mich, der hinter dem gelben Pelz<span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span> dreinlief. Durch
+einen großen Bauernhof ging der Weg, hinaus in einen Obstgarten,
+dort zwischen Busch und Baum stand die Klause. Ursprünglich mochte
+sie als Hüterhaus gedient haben, jetzt war sie die Wohnung meines
+Götterlieblings. Im Stübchen ein Tisch, ein Stuhl, ein Kasten, ein
+Ofen, ein schmales kurzes Bett, ein Buch und ein Kerzenleuchter. Durch
+ein helles Fenster strömte Licht auf diese Herrlichkeiten.</p>
+
+<p>Sogleich öffnete mein Gastherr den Kasten, begann mit weißen Linnen den
+Tisch zu decken, einen kleinen zierlichen Kübel mit Butter, einen Laib
+Brot und ein Salzfäßchen herzurichten.</p>
+
+<p>Ich fiel ihm in den Arm: »Nein, mein Lieber, so ist es nicht gemeint.
+Ihr habt, wie ich sehe, hier die Bibel, und da drin steht's, daß der
+Mensch nicht allein vom Brote lebt, sondern auch vom Worte. Ihr sollet
+mir zuerst hübsch verzeihen, daß ich falsch, wie die Welt schon einmal
+ist, mich an Euch gemacht habe und sollet mir dann etwas sagen.«</p>
+
+<p>»Aber essen wirst du doch etwas!« rief er besorgt.</p>
+
+<p>»Ich sehe Euch nämlich schon seit Jahr und Tag an der Straße sitzen und
+Almosen heischen,« begann ich.</p>
+
+<p>»Da siehst du ganz richtig,« antwortete er.</p>
+
+<p>»Und nun möchte ich gerne wissen — nein, es wird doch nicht gehen. Ihr
+werdet böse sein, — und Euch beleidigen? Nein.«</p>
+
+<p>»Du mich beleidigen?!« fragte er mit langgezogenem Tone und blickte
+mich dabei mitleidig, aber sehr überlegen, mit halbem Auge an. »Du
+armer Narr!«</p>
+
+<p>»Nun gut. Ich möchte nämlich gerne wissen, warum Ihr bettelt.«</p>
+
+<p>»Warum ich —? Ha ha ha? — warum ich bettle?«<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> fuhr er lustig drein.
+»Sage mir doch, warum du Luft schöpfest! Sage es mir doch!«</p>
+
+<p>»Ihr seid gesund und stark wie einer. Ihr habet da ein gutes Brot, man
+sieht ihm's an, daß es Euch schmeckt. Aber würde es nicht noch besser
+schmecken, wenn Ihr es Euch verdient hättet? — Mit Arbeiten —«</p>
+
+<p>Jetzt trat er ein paar Schritte zurück, zog über der Brust seinen Pelz
+zusammen, legte die Arme darüber, schaute mich mit seinem munteren
+Gesicht herzlich mitleidig an und sprach: »Jetzt hast es gesagt. Jetzt
+hast es gesagt, das große Wort. Und wenn die sieben Weltweisen sieben
+Jahre lang dran studiert hätten — besser hätten sie es auch nicht
+sagen können. — Arbeiten!«</p>
+
+<p>»Na, ich meine nur ...«</p>
+
+<p>»Arbeiten!« rief er aus, und seine Züge verzogen sich wie im Schmerze.
+»Aber Freund, arbeiten tut ja weh! Schwitzen! Pfui Teufel! Schau her,
+das steht auch in diesem Buche: Im Schweiße deines Angesichtes sollst
+du dir dein Brot verdienen, weil du gesündigt hast!«</p>
+
+<p>»Nun, da habt Ihr es.«</p>
+
+<p>»Ich <em class="gesperrt">habe</em> aber nicht gesündigt!« rief er frisch und munter aus.
+»Ganz unschuldigerweise bin ich auf die Welt gekommen, hab's nicht
+betreiben und nicht hindern können. Zuleid' hab' ich auch niemand etwas
+getan, außer daß ich meiner Kindsfrau in den Finger gebissen haben
+soll, weil sie mir statt der rechtmäßigen Muttermilch Kuhmilch in den
+Mund schmuggeln wollte. Denn ich glaube schon mit Zähnen geboren worden
+zu sein. Und da soll man kein Naturrecht haben aufs Essen? Da soll
+man sich ein solches Recht erst durch allerlei Anstrengungen erwerben
+müssen? Tu' mir den Gefallen, Kindskopf, und glaube das nicht.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span></p>
+
+<p>»Ihr zieht es also vor, andere für Euch arbeiten zu lassen.«</p>
+
+<p>»Jetzt wirst du bitter, mein Freund,« sagte er gutmütig. »Und das
+taugt wieder nicht. Ärger ist kein kleineres Unrecht, als Arbeit. Ich
+will niemand verleiten, und ich habe all meiner Tage keinem Menschen
+befohlen, für mich zu arbeiten. Siehst du es denn nicht? die ganze Welt
+ist voller Tiere, alle sind frisch und munter, und kein einziges ist so
+dumm wie der Mensch, und arbeitet. Arbeiten die Menschen für sie? Lasse
+diese zweibeinigen Herrschaften nur erst aussterben, dann arbeitet
+niemand mehr, und die Welt wird doch voll Leben sein.«</p>
+
+<p>Als ich in das Häuschen getreten, hatte ich nicht gedacht, in wenigen
+Minuten hier vor einem hohen Herrn zu stehen. Nun sah ich's, das war
+einer. Das war einmal ein anderer, als die gewöhnlichen sind. Um ein
+Stück Brot war ich gekommen. Er gab ein großes. Ob es auch nahrhaft
+war, das sollte sich zeigen. Im ersten Augenblick fühlte ich mich
+schier betäubt. Wie? das Tier arbeitet nicht und lebt doch? Und
+glücklicher als der Mensch, gerechter, schuldloser?</p>
+
+<p>Es ist naturgemäß, nicht zu arbeiten.</p>
+
+<p>Diesen Gedanken hatte ich noch nie gedacht.</p>
+
+<p>Während ich noch befangen war, begannen sie heranzukommen. Zuerst
+die krabbelnde Ameise: »Es ist nicht wahr! Wir arbeiten.« — Dann
+die summende Biene: »Verleumdung! Wir arbeiten!« Dann der Biber, die
+Spinne, die Vögel, die Schlangen und andere in langen Reihen, und alle
+riefen pfeifend, piepsend, gröhlend, knurrend, bellend, krähend: »Wir
+arbeiten! Wir arbeiten!«</p>
+
+<p>Ich sagte es dem Bettler. Er lächelte freundlich und sprach: »Mein
+viellieber Gast! das weiß ich ja, daß der Maulwurf wühlt. Aber denke
+an, zwischen Arbeit und<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> Arbeit ist eine breite Straße. Bin ich ein
+Müßiggänger? Nein, ich bin ein Bettler. Ich gehe aus, um zu sammeln.
+Ich strecke meinen Stab aus, um Gaben in Empfang zu nehmen, ich
+trage sie nach Hause, die Münzen setze ich in Lebensmittel um, die
+Lebensmittel bereite ich zu, bewahre sie auf, achte, daß sie nicht
+verderben. Ist das Arbeit? Nein, es ist Tätigkeit. So betätigt sich
+freilich auch das Tier. — Aber ich mache keine Arbeit, die anderen
+zugute kommt, solchen, die nicht arbeiten, die faulenzend in Prunk und
+Hochmut das genießen, was andere erworben. <em class="gesperrt">So</em> arbeite ich nicht.«</p>
+
+<p>»Das ist eben eine menschliche Erfindung,« sagte ich.</p>
+
+<p>»Nein, eine teuflische!« rief er. Da war er erregt.</p>
+
+<p>»Tätigkeit und Arbeit, den Unterschied kennt man,« sagte ich. »Pflügen
+und Säen ist Arbeit, ernten ist nur Tätigkeit. Ihr, lieber Bettelmann,
+habt Euch für die letztere entschieden.«</p>
+
+<p>»Und das ist das Richtige!« fiel er ein. »Nicht arbeiten, nur sammeln.
+Die Natur, wenn sie gesund ist, produziert mühelos ihre Früchte aus
+sich selbst. Arbeit ist Sünde gegen die Natur. Töte mich, wenn's nicht
+wahr ist.«</p>
+
+<p>»Ich töte Euch nicht,« darauf meine Entgegnung, »denn Ihr müsset mir
+vorerst noch Antwort geben, Ihr wollet also nicht für andere arbeiten?«</p>
+
+<p>»Nein.«</p>
+
+<p>»Aber andere sollen für Euch arbeiten?«</p>
+
+<p>»Schaf Gottes, wer sagt denn das?« rief er aus. »Ich sammle ja nur
+Brosamen. Sie geben mir doch nur das in den Korb, was sie zu viel
+haben, was sie verstreuen wollen. Sie tun's nicht aus Barmherzigkeit,
+sie tun's, weil ihr Überfluß in ihnen das Bedürfnis gezeitigt
+hat, Abfälle zu haben,<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> armen Kreaturen manchmal etliche Brocken
+hinzuwerfen. Sie sollen nur geben. Dankbar müssen sie sein, daß sie
+geben dürfen.«</p>
+
+<p>»Wie kann man bei so hartem Urteil über die Menschen ein so heiteres
+Auge haben?« fragte ich ihn.</p>
+
+<p>»Junger Freund,« antwortete er, »das kann man, wenn man fertig ist. —
+Glaubst du: daß meine Mutter mich als Bettler geboren hat? Meine Wiege
+war der Reichtum, lieber Mensch! — Das, was ich heute bin, habe ich
+selbst aus mir gemacht!« Im stolzen Tone des Emporkömmlings waren diese
+Worte gesprochen. »Aber viel braucht's, bis man es so weit bringt!«
+fuhr er fort. »Viele Jahre lang, o meine schönste Lebenszeit, habe ich
+mich vom Besitz knechten lassen. Man glaubt sein Leben zu schmücken,
+und man belastet es nur. Die tausenderlei Dinge und Dingeln, die an
+den Reichen sich kletten, ein abscheulicher Ballast! Man kann nicht
+weiter, man kann nicht hinan, man ist ein Sklave und trägt die schwere
+Kette nur deshalb mit Gier, weil sie von Gold ist, und ist ein durch
+und durch lumpiger Lump. — Du hast gewiß Bekanntschaft mit reichen
+Leuten. Nun also. Ich war auch so einer. Betrachte ihr dummes Leben,
+und du hast das meine vor Augen. Aber endlich, als mir übel war aus-
+und inwendig, gerade schon auf dem Punkt, wo die Besseren sich zu
+töten pflegen, erwachte in mir der Egoismus. Hol's der Teufel! dachte
+ich, und schmiß den ganzen Krempel von mir. Es war eine wanstige
+Ledertasche.« —</p>
+
+<p>Als er nicht weiter sprach, fragte ich: »Was war mit dieser
+Ledertasche?«</p>
+
+<p>»Ins Wasser hab' ich sie geworfen.«</p>
+
+<p>— Man spricht auch bildlich so, aber bildlich war's nicht gemeint.
+Eine Stunde unterhalb der großen Stadt, in den Auen. Genau hat er den
+Platz bezeichnet, wo er seine<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> Papiere, im Werte von mehr als einer
+Million Gulden, in die Donau geworfen hat.</p>
+
+<p>»Ihr seid nicht klug!«</p>
+
+<p>Er klopfte mir auf die Achsel: »Das muß ich besser wissen.«</p>
+
+<p>»Das mag ja sehr philosophisch sein, aber gut ist es nicht.« Also mein
+überlegener Einwand. »Ein guter Mensch hätte das Vermögen, anstatt ins
+Wasser zu werfen, einem Armen geschenkt.«</p>
+
+<p>»Der wäre davon ja reich geworden, du Tropf!« rief der Bettler. »Ich
+habe mir ohnehin nachher Vorwürfe gemacht. Wie leicht konnte die
+Ledertasche aufgefangen werden und in Menschenhände kommen. Gift wirft
+man nicht ins Wasser.«</p>
+
+<p>»Ihr hättet das Vermögen ja an <em class="gesperrt">tausend</em> Arme verteilen können.«</p>
+
+<p>»Du hast leicht reden,« entgegnete er darauf. »Du bist sicherlich nicht
+aufgewachsen unter der Torheit der Million. Wäre ich damals weise
+gewesen, so hätte mir das Geld nichts angehabt. Ich habe nur gesehen,
+daß das Geld mein Unglück ist, so habe ich gemeint, es müßte auch
+das Unglück anderer sein. Und ob's nicht denn doch so ist, sage es,
+Mensch. Glaubst du nicht auch, daß dir geschenktes Geld zuwider ist?
+daß es dich verwüstet? daß dich nur der Besitz freut, den du dir selber
+erworben hast?«</p>
+
+<p>»Und so spricht ein Mann, der an der Straße sitzt und bettelt?«</p>
+
+<p>Er sprach: »Das verstehst du nicht. Die Pfennige, die ich bekomme,
+sind ehrlich erworben. Halte ich doch die Stange hinaus! Sage ich doch
+mein Vergeltsgott dafür! Der Taler, wenn er in den Korb fiele, wäre
+geschenkt. Ich lebe von Pfennigen, begleiche meinen Wohnungszins, nähre
+mich, kleide mich, bin niemandes Herr, niemandes Knecht, und stärker
+wie der König.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span></p>
+
+<p>»Das wäre!«</p>
+
+<p>»Ja, das ist,« fuhr er lustig fort. »Der König hat ein großes Heer und
+muß immer noch fürchten, daß ihm der Feind etwas wegnimmt. Mir kann
+niemand was wegnehmen.«</p>
+
+<p>Ich langte wie raubend nach dem Butterkübel.</p>
+
+<p>»Ha ha ha, sie gehört dem Hausherrn!« lachte er, »sie ist noch nicht
+bezahlt. Und deswegen, Freund, muß ich wieder ans Tagwerk.« Er langte
+seinen Korbstab vom Winkel.</p>
+
+<p>Ich hielt ihm die Hand hin: »Hat mich gefreut, endlich einmal die
+Bekanntschaft eines Glücklichen gemacht zu haben.«</p>
+
+<p>Er wendete sich rasch um, als ob der, zu dem ich sprach, hinter ihm
+stünde.</p>
+
+<p>»Ein Glücklicher — wo?« fragte er wie verblüfft. »Solltest du mich —?
+Ja, ja, es geht mir soweit gut, aber glücklich bin ich nicht. Du siehst
+es ja.« Er deutete auf seine Lagerstätte. »Viel zu kurz. Ich bin fünf
+Schuh lang, und der Trog vier. Was kannst machen? Bei den Bauern findet
+man's nicht anders. Man grübelt nicht weiter, klappt sich zusammen und
+gut ist's.«</p>
+
+<p>Ich sah es wohl ein. Auf sechs Schuh langen Erdenraum hat sogar der
+Tote Anspruch, und dieser Lebendige besaß ein Drittel weniger. Er hätte
+vielleicht nur das Fußbrett ausstoßen müssen ....</p>
+
+<p>So nahe ist mancher Mensch seinem vollkommenen Glücke. Aber er stößt
+das Brett nicht durch. —</p>
+
+<p>Als wir selbander die Straße dahingingen, begegnete uns der Schloßherr,
+er fuhr vierspännig und grüßte den Bettelmann mit einer Handbewegung.
+Dieser dankte »von oben herab«. Dann blieb er stehen, schaute ihm nach,
+schüttelte den Kopf und murmelte: »Armer Bruder! Das Kamel<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> hat vier
+Beine, und du hast achtzehn. Und kannst nicht gehen. Denn du fahrst ja.«</p>
+
+<p>»Sagt Ihr auch zu dem <em class="gesperrt">du</em>?« meine Frage.</p>
+
+<p>»Ha ha ha! das ist der erste gewesen, den ich geduzt. Zu den Eltern
+hat man damals Sie gesagt. Welche Narrheit. Aber die Geschwister
+untereinander ... immer du.«</p>
+
+<p>Er war zur Stelle. Ohne weiteres kletterte er mit guter Übung an den
+steinernen Statuen empor, setzte sich in den Schoß der Aphrodite und
+streckte den Stab mit dem Binsenkörbchen aus — nach mir.</p>
+
+<p>Ich reichte dem Bruder des Schloßherrn zwei Pfennige und schritt
+nachdenklich meines Weges.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Geistbrenner">Der Geistbrenner.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Wer einmal fünfzig Jahre lang Zeuge des Weltlaufes gewesen, bei dem
+müßte sich, so sollte man meinen, der ganze innere Mensch geändert
+haben. Alles ist ja so unerhört anders, als man's in der Jugend
+gesehen, geträumt hat. Die lange Reihe von Hoffnungen, Überraschungen
+und Enttäuschungen, von Freuden und Qualen, von Entwickelungen und
+Verwickelungen und Lösungen, bei denen immer wieder alles erwartet
+wird und immer wieder nichts herauskommt: diese Reihe von großartig
+aufgedonnerten Nichtigkeiten müßte ein denkendes Wesen doch endlich
+gleichgültig machen, in den Zustand jenes Träumenden versetzen,
+der bei keiner Feuersbrunst mehr aufschreit, bei keinem Sturz mehr
+zusammenzuckt, weil er in seinem Halbschlummer weiß: es ist doch nur
+ein Traum.</p>
+
+<p>Jawohl, wer fünfzig Jahre lang am sausenden Webstuhl der Zeit steht,
+der müßte es endlich doch weghaben, wie die Fäden geknüpft, geschlungen
+und die Knoten wieder gelöst oder zerhauen werden. Er müßte sehen,
+daß jeder, der da mit hineingewoben wird, eigentlich gleich gut daran
+ist, ob sein Faden nun geradeaus oder querüber läuft. Ein Kreuz
+bildet's immer. Der mitverwobene, mit den übrigen Fäden ringende und
+sich verklemmende, auf andere Fäden sich stützende, in andere Fäden
+sich bergende und doch für sich ein freier selbstsüchtiger Ichfaden
+sein wollende Hascher und Haber leidet ganz verzweifelt. Einer, der
+sich als von außen Sehender fühlt, ändert sich im Lauf seines Lebens.
+Der Haschende und Habende ändert sich nicht. Der ist lediglich Stoff,
+der nach gemeinsamen Naturgesetzen steigt und fällt,<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> sich physisch
+ausdehnt, chemisch verbindet und nicht anders als ein Klumpen Erde
+mittun muß in dem Kessel, aus dem ewig die Blasen steigen und in
+dem der Bodensatz in die Tiefe sinkt. Die Haschenden und Habenden,
+sie sind es, die den Kampf ums Dasein mit demselben trostlosen
+Stumpfsinn ringen wie der Wurm und die Milbe und die Eintagsfliege.
+Die Haschenden und Habenden, sie sind für sich nichts; erst wenn sie
+sich mit Gleichartigem, mit der Stoffmasse verbinden, scheinen sie
+etwas zu sein, wenigstens so viel, daß sie sich selbst genügen. Sie
+schauen nicht, sie denken nicht, sie sind bloß, wie ein Schwammtier
+oder ein Weichtier ist. Diese rein materiellen Menschen sind eigentlich
+das Unschuldigste, was es geben kann; sie sind ja halb unbewußte
+Wesen; sie dämmern so hin im Verdauungsschlummer, als ob sie zu viel
+gefressen hätten, oder sie greifen instinktiv immer und immer mit
+ihren Fängern aus wie Seetiere, die alles, was sie erhaschen können,
+einmal an sich ziehen, wenn sie auch, längst übersättigt, alles wieder
+fallen lassen müssen. Die Hascher und Haber, diese Ärmsten! Und diese
+Glücklichen! Weil sie ja so kurzsichtig sind und so tief in ihren Tag
+hineingebettet, daß sie keine Ahnung haben von den ewigen, glühenden,
+göttlichen Dingen, die den Schauenden nimmer zur Ruhe kommen lassen.</p>
+
+<p>Der reine Stoffmensch ändert sich nicht durch ein Erleben; er ist als
+Greis innerlich derselbe, der er als Kind gewesen, wenn auch nicht
+immer ein Habender, wohl aber immer ein Haschender. Er denkt nicht weit
+genug, um sich zu fragen, wie er die erhaschte Beute nutzen werde;
+er denkt kaum daran, welchen Wert sie für ihn hat; er lebt in der
+dämmernden Vorstellung dahin: Das gehört mir! Es ist ein Versunkensein
+in die Stoffwelt, ein fast friedlicher Schlaf. Aber der Schauende wird
+anders bis in seinen späteren<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> Tagen. Er mag in der Jugend von den
+Sinnen zum Stoff hingezogen worden sein; aber als ihm das Auge aufging,
+trat er ein wenig zurück von dem sausenden Webstuhl, um nicht in das
+grobe Tuch der Menge mitverwoben zu werden.</p>
+
+<p>Was da aufsteht, das wird von der Menge mit Jubel begrüßt, was
+hinfällt, mit Schreck und Klage bestattet. Der Schauende jubelt
+nicht, erschrickt nicht und klagt nicht. Er weiß: diese Schürzungen
+und Lösungen sind selbstverständliche Vorgänge am Webstuhl. Er sieht
+den Wandel und Wechsel im kleinen, er empfindet mit, wie die einzelne
+Kreatur vergehend aufschreit: Ich sterbe, jetzt ist alles aus! Und
+doch ist nichts aus; alles flutet im gleichen mächtigen Lebensstrom
+weiter dahin und der Lebensstrom ist und bleibt so urfrisch wie am
+ersten Schöpfungstage. — Dieses Sehen hat den Schauenden verwandelt.
+Er war Stoffwesen und ist ein vergeistigter Mensch geworden; er steht
+gleichsam außerhalb des Schlagbalkens, der die Fäden aneinanderstößt;
+er schaut vergnüglich dem Weber zu. Aber wenn er ihn fragt: »Meister,
+wozu das viele Tuch, das du webest und auf die Rolle windest?«, so
+bekommt er keine Antwort.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Vor etlichen Jahren war ich eines Tages an der Reichsstraße in eine
+Hütte eingekehrt. Eine armselige Hütte, in deren Mauerspalten Gras
+keimte. An der schiefwinkligen Tür, deren Fugen mit Moos verstopft
+waren, klebte ein Blatt Papier, auf dem in ungefüger Handschrift die
+Worte standen: »Hotel zum Napoleon«. In der Hütte saß ein alter Mann in
+einem Zwilchkittel, aber barfuß. Er hatte einen schönen weißen Bart,
+einen Holzblock zwischen den Händen und stampfte im Bottich Vogelbeeren
+ein. Meine Anfrage, ob ich während des Gewitterregens in seinem Haus
+Unterstand halten dürfe, wurde damit beantwortet, daß der Alte Körbe<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span>
+und Stiefel von der Wandbank wegräumte, auf daß der Gast sich behaglich
+niederlassen könne. Sogar einen Lodenmantel rollte er zusammen zu einem
+Hauptkissen, falls ich mich ein bißchen hinlegen wollte. Ich sei,
+meinte er, gewiß schon weit gegangen und hingestreckt ruhe sich der
+Wandersmann am besten aus. Auch in der ewigen Ruhe verlege sich der
+Mensch aufs Liegen.</p>
+
+<p>»Hab' mir's gleich gedacht, daß das ein vornehmes Hotel ist, das Hotel
+Napoleon,« sagte ich spaßend.</p>
+
+<p>»Das wohl; nobel sind wir schon!« Der Alte lachte und goß aus einer
+großen Flasche eine wasserklare Flüssigkeit ins kleine Kelchgläschen,
+das er vor mich auf die Tischecke stellte.</p>
+
+<p>Auf meine nähere Erkundigung nach der Geschichte dieser Firma
+antwortete er: »Will der Herr die zwei Dukaten sehen, die der Napoleon
+meinem Vater hat auszahlen lassen?« Und mit dem dürren Finger
+durchs Fenster zeigend: »Dort, wo jetzt der Brennofen steht, beim
+Hollerbuschen, ist die Schmiede gestanden. Von gestern und vorgestern
+rede ich nit. Ist ja mein Vater noch ein junger Bursch gewest.
+Hufschmied an der Straßen. Ein gutes Geschäft dazumal. Wenn auch nit
+gerade jeder fürs Pferdebeschlagen drei Dukaten hat gegeben wie der
+Franzosenkaiser, als er vorbei ist geritten gen Graz. Später, als es
+mein Vater erfahren, wer der kleine Reiter ist gewesen, hat er freilich
+die Dukaten auf den Steinhaufen geschleudert. Und noch später, viel
+später, wie es geheißen hat, der große Napoleon sei auf eine Insel im
+Weltmeer verstoßen worden, hat's die Leut' umgewendet und mein Vater
+hat den Steinhaufen abgetragen. Zwei hat er richtig wiedergefunden von
+den Goldstücken; und die sind in der Familie verblieben zum ewigen
+Andenken.«</p>
+
+<p>Es wollte mir nicht übel gefallen, daß dieser Hufschmied,<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> entgegen
+dem Weltbrauch, den Mächtigen gehaßt und den Unglücklichen geehrt hat.
+Ich nahm einen Schluck von der klaren Flüssigkeit. Das war Feuer,
+eines Hotels Napoleon würdig. Es regnete stundenlang, der Weg bis
+zum nächsten Bahnhof war nachher immer noch leicht zu machen und so
+verlor ich mich mit dem frohen alten Mann in ein anmutiges Gespräch,
+während er mit dem Kolben im Bottich seine Vogelbeeren stampfte. Dort,
+wo angeknüpft war, erzählte er weiter. Sein Vater habe neben der
+Schmiede eine Schänke aufgetan, damit den Fuhrleuten, die etwa in der
+Reihe auf das Pferdebeschlagen zu warten hatten, die Zeit nicht lang
+werde. Aus der Schänke sei allmählich ein Wirtshaus geworden und aus
+diesem ein großer Gasthof, wo alle Fuhrwerke und Herrschaftkutschen
+Einkehr gehalten. Um diese Zeit sei er, mein jetzt so weißbärtiger
+Mann, ans Licht gekommen, gehegt und erzogen und »von den Leuten
+verhunzt wie ein Prinz«. Der einzige Sohn des reichen Napoleonwirtes!
+Denn so hat der Gasthof geheißen und die Deutschen sind lieber beim
+»Napoleon« eingekehrt als beim »Kaiser Rotbart« auf der nächsten
+Poststation, weil beim Napoleon eben der Wein besser gewesen. Dann
+kamen die Eisenbahner ins Land. Da gab es Fuhrwerk über die Maßen und
+ungeheuer viel Geld. Die Leute hatten nur so gelacht dazu, obwohl
+ihnen der Strick schon um dem Halse lag. Aber er war noch locker.
+Der Napoleonwirt selbst hatte Tag für Tag vierundzwanzig schwere
+Pferde auf der Straße und am Tag der Eisenbahneröffnung saß er an der
+Ehrentafel fast ganz oben in der Nähe der hohen Herren und einer von
+ihnen feierte ihn durch einen Trinkspruch als den König der Straße.
+Das war vielleicht ein unbeabsichtigter Spott; aber ein großer. König
+der Straße hieß in diesem Fall König ohne Reich, denn wenige Jahre
+später: und auf der Straße konnten sich<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> Schafe satt weiden. Der alte
+Napoleonwirt kränkte sich sehr darüber, daß die Eisenbahn, die er so
+emsig miterbauen half, so treulos war. Kein Mensch, sagte er, sei noch
+so grob betrogen worden wie er, der Napoleonwirt. Der Eisenbahnzug,
+der oben am Berghang hinrollte, pfiff auf ihn herab und kein Gesetz
+kümmerte sich um die Straße. Ohne gewöhnlich andere Gäste zu haben als
+manchmal einen durstigen Nachbar, wirtschaftete er in seiner Weise noch
+eine Weile fort; und als er endlich Haus und Hof verkaufte, geschah es
+gerade so, daß die Gläubiger keinen Schaden hatten. Da meinte der alte
+Napoleonwirt, für ihn sei es nun die höchste Zeit, zu sterben, denn
+ein paar Jahr später hätte es nicht einmal mehr für einen Grabstein
+gereicht. Ein Leben ohne Nachlaß und ohne Grabstein hätte er für die
+überflüssigste Arbeit von der Welt gehalten.</p>
+
+<p>Und der junge Mensch, der Sohn, stand nun allein auf der Straße.
+Manchmal saß er auf der Bank vor der verfallenden Schmiede und
+beobachtete die Leute, wie deren doch von Zeit zu Zeit wieder
+vorüberkamen. Und wenn er sich so ins Schauen verlor, da war ihm
+anfangs, als vermöge er den Insassen des Viergespannes und den
+hinkenden Handwerksburschen nicht zu unterscheiden. Es sei denn,
+daß dieser einen munteren Marsch pfiff und jener ein gelangweiltes
+Gesicht machte. Und dann wieder zu sich kommend, fragte er: »Was
+tue ich jetzt? Am vollen Trog habe ich schon gesessen.« Nichts war
+davon übrig geblieben als der Nachteil, daß ihn nun der leere doppelt
+verdrießen konnte. Doch er verdroß ihn nicht eigentlich. Er war gegen
+alle weiteren Unfälle gut versichert bei der Assekuranzgesellschaft
+Habenichts &amp; Co. Der Pfarrer seines Ortes hatte einmal gepredigt, der
+Christ solle dem Geiste leben. Und weil er das nicht weiter erklärte,
+so legte der Zuhörer es sich selber zurecht.<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> Es wird auch am besten
+sein. Das braucht kein großes Betriebskapital. Ich will dem Geist
+leben. Und gründete eine kleine Branntweinbrennerei. Die Wurzeln,
+Beeren und Abfälle, aus denen er den Geist zog, hatte er umsonst; er
+brauchte sie nur zu sammeln, manchmal dafür ein »Vergelt's Gott!« zu
+sagen und ein »Stamperl Branntwein« zu versprechen. Wenn dann der
+Nachbar kam, um ihn zu trinken, griff er doch in den Sack; denn man
+hatte den fröhlichen Burschen nicht ungern und vermutete, daß er
+auch ein bißchen leben wolle. Er scheint auch in seiner Unterhaltung
+Geist geschenkt zu haben und nicht etwa Fusel, wie mancher zünftiger
+Ritter vom Geist zu destillieren pflegt. Da das große Einkehrhaus
+an der grünen Straße keine rechte Verwendung mehr finden konnte, so
+wurde es abgetragen und aus seinen Ziegeln am Bahnhof eine Waggonhalle
+erbaut. Nur die alte kleine Schmiede blieb stehen, um dem einzigen
+Übriggebliebenen zur Brennerei zu dienen. Das Wohnhaus dazu hatte er
+sich aus dem Fachgebälk des abgetragenen Gasthofes selbst gezimmert.
+Und hier lebte der Mann nun gelassen dahin, länger als fünfzig Jahre.</p>
+
+<p>Er war Zeuge, wie sich in dieser Zeit alles mehrmals umstürzte. Die
+Menschheit machte Purzelbäume. Stand sie auf den Füßen, so behauptete
+sie, die einzig richtige Grundlage für den Fortschritt sei der Kopf;
+und stand sie auf dem Kopf, so klagte sie, daß alles in der Welt
+verkehrt sei. Der Schauende stand abseits und war ein wenig verblüfft.
+Nicht der Wandel befremdete ihn, sondern die Stetigkeit der Kreatur.
+Trotz allem unbegreiflichen Wandel blieben die Leute sich gleich.
+Bauten diese Leute Häuser, so tranken sie Branntwein, um Kraft zu
+gewinnen. Brannten die Häuser nieder, so tranken sie Branntwein,
+um sich zu trösten. Die Felder wurden zu Wald: die Leute tranken
+Branntwein und wanderten<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> aus. In den Wildnissen streiften Jäger und
+tranken Branntwein. Und der Alte machte seinen Branntwein gerade so,
+wie man ihn vor so viel hundert Jahren gemacht haben mag. Und auch wo
+sie es anders machen, ist's im Grunde dasselbe. Alles kreist um den
+Punkt; und dieser Punkt rührt sich nicht vom Fleck. Zur Zeit der Ritter
+war es Mode geworden, in Kutschen zu fahren; zur Kutschenzeit ist es
+Sitte geworden, auf der Eisenbahn zu reisen; in der Eisenbahnzeit wurde
+es nobel, den Motorwagen zu hetzen; zur Zeit des Motorwagens wird es
+vornehm sein, im Luftschiff zu fliegen; und zur Zeit des Luftschiffes
+werden die Herren plötzlich finden, das Vornehmste, das Stolzeste, das
+Ritterlichste sei das Reiten auf dem Pferd. Dann ist man rund herum.
+Ein Ringelspiel wie auf Jahrmärkten. An einzelnen Stellen wurde wieder
+gerodet, wurde wieder gebaut: und immer tranken sie Branntwein und
+haschten nach Habe, nach grobem Genuß und waren stumpfsinnig für alles
+andere. So war die Masse immer gewesen und das Erdbeben der jungen Welt
+hatte wenig geändert. Die Masse ist Rohstoff, an dem die Wetter der
+Zeiten immerwährend formen und zerstören. So streute die Natur ihren
+Menschenstaub auch wieder einmal auf die Straße. Eines Tages kam der
+närrisch gewordene Scherenschleifer und der sausende Teufel. Der erste
+ein Reiter ohne Roß, der zweite ein Roß ohne Reiter. So der wörtliche
+Ausdruck des Alten; ich kann mir nur denken, daß damit die Radfahrer
+und Autofahrer gemeint sein sollten. — Und so, fuhr er fort zu sagen,
+habe sich seit fünfzig Jahren allerlei hingeändert und zurückgeändert,
+im Weltkasten sei alles ganz toll durcheinandergerüttelt. Aber die
+Zwetschken, seien sie braun oder blau, süß oder herb, frisch oder faul:
+der Kern sei gleich geblieben. Es sei derselbe harte Kern mit etwas
+Gift im Innern. Der Mensch turne und bade,<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> »doktere« und schneide
+an sich grausam herum, sei aber inwendig der Alte geblieben. Vor
+Zeiten habe eines Tages ein armes Weib verschmachtend an der Straße
+gelegen und ein vornehmer Vierspänner sei lustig vorübergefahren. Vor
+einigen Wochen habe da unten bei der Telephonstange Nummer 321 der
+Blitzschlag einen alten Hausierer betäubt und ein Automobiler sei
+lustig an ihm vorübergefahren. Einen Menschen aufheben und laben: Das
+kann man von so einem nicht verlangen. Muß noch froh sein, wenn er
+selber keinen niederrennt. Ja, der Kern ist hart und ein wenig giftig.
+Aber abgewöhnen mag man sich's doch nicht, das Zwetschkenessen. Das
+Auswendige nascht man und auf den Kern läßt man sich nicht ein. Dann
+bleibt man halt abseits stehen und schaut zu. Und brennt Geist.</p>
+
+<p>Während solcher Reden hatte der alte Schnapsbrenner mir einen
+angeschnittenen Laib Weißbrot vorgelegt und mich eingeladen, die
+Stiefel auszuziehen, damit sich die Füße besser ausrasten könnten. Ja,
+er stellte sich ausgespreitet hin und wollte sie mir von den Beinen
+reißen.</p>
+
+<p>Ich lachte und sagte ihm offen, was mich wunderte. Daß er bei seiner
+Weltverachtung noch so gut sein könne. Ich sei in seinen Augen ja auch
+nichts anderes als ein Körnchen des Menschenstaubes auf der Straße. Da
+fuhr er munter in die Höhe: »Ja, glaubt Ihr denn, Ihr bekommt das alles
+geschenkt? O, das Hotel Napoleon ist ein gar teures Hotel!«</p>
+
+<p>»Ich hoffe, daß Ihr Euch die Sachen bezahlen lassen werdet.«</p>
+
+<p>»Bezahlen! Geht mir weg mit dem Wort Bezahlen! Allerlei Geist habe ich
+Euch vorgesetzt. Guten Geist!« fügte er mit ernsthafter Miene hinzu.
+»Und seit wann tut man den Geist mit Ziffern und Zahlen ab, seit wann?
+Ich denk', Ihr werdet Euch selber dalassen müssen. Ich denk' wohl.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span></p>
+
+<p>Der Gewitterregen war vorüber, die Straße hatte kalkgraue Tümpel
+und die Sonne schien wieder drein. Als ich zu Dank und Abschied dem
+Alten die Hand reichen wollte, nahm er sie nicht an. »Bleiben wir nit
+beisammen?« sagte er. »Wir bleiben ja beisammen!«</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Damals dachte ich, er spreche doch Unsinn, manchmal. Heute denke ich
+das nicht. Über zwei Jahre sind seitdem dahingegangen, in jene Gegend
+kam ich nicht mehr, den Alten habe ich nicht mehr gesehen: und doch
+muß ich oft, sehr oft an ihn denken. Ja, so oft ich selbst mich als
+Weltbeschauer empfinde, muß ich an jenen Schauenden denken. »Wir
+bleiben beisammen!« hatte er gesagt. Es dürfte stimmen. Ich war an
+seiner Weisheit hängen geblieben.</p>
+
+<p>Aber, mein lieber alter Geistbrenner, es wird uns nicht viel helfen.
+Wenn wir zwei uns auch außerhalb des sausenden Webstuhles stellen,
+einer links und der andere rechts, und dem Weber mit Fadenknüpfen
+Handlangerdienste zu leisten vermeinen: wir sind doch mitten im Gewebe;
+nur sind wir als Fäden vielleicht widerhaariger als andere und bilden
+häßliche Knoten. Alle miteinander machen wir das liederliche Tuch aus.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_ordentliche_Augustin">Der ordentliche Augustin.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Als der Vater Augustin Kernschimmlers sein vierzigjähriges
+Geschäftsjubiläum beging, sagte der Festredner unter anderem auch
+die großartigen Worte: »Unser teurer Jubilar nährte andere und wurde
+selbst fett, machte andere wohlhabend und wurde reich dabei. Sein
+Glück gründet auf seinen Tugenden!« Und Sekt darauf. — Denn der Vater
+Augustin Kernschimmlers war Bäcker und Fleischermeister gewesen —
+der einzige in dem Städtlein. Als einziger Fleischer hatte er die
+einzige Bäckerin geheiratet, und Augustin war von diesem einzigen
+Paar das einzige Kind. Jemand behauptete, der Vater habe das aus
+Geschäftsrücksichten so eingerichtet, denn er konnte keine Konkurrenten
+leiden und wollte dem lieben Söhnlein auch die Konkurrenz von
+Geschwistern ersparen.</p>
+
+<p>Als nun bei dem oben erwähnten Jubiläum das Wochenblatt einen
+Festartikel über die Doppelfirma brachte und sogar die Bildnisse des
+verehrten Ehepaares Kernschimmler, da war es plötzlich ausgemacht, daß
+der kleine Augustin weder Fleischer noch Bäcker werden dürfe, sondern
+ein Doktor oder Professor, womöglich ein sehr berühmter. Zwar sagte
+der Vater zu seiner Frau, berühmt werde man ja auch als Fleischer, was
+eben der große Festartikel und das mit einem Lorbeerkranz umgebene
+Doppelbild des Jubelpaares im Wochenblatte bezeuge. Sie wußte das
+freilich besser, sagte es aber nicht, daß ihr die Veranlassung zu
+diesem illustrierten Festartikel runde hundert Gulden von ihrem
+Nadelgelde gekostet hatte.</p>
+
+<p>Der Augustin kam in die Stadt, ins Gymnasium, und ward ein sehr
+ordentlicher Student. Seine Schulbücher hatten nicht ein einziges
+Eselsohr, doch bei den Examinationen<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> ging es manchmal nicht ab ohne
+jegliche Erinnerung an das populäre Tier, auch wenn es nicht just
+Zoologie gab. Die Mutter schickte dem Söhnlein häufig Geräuchertes,
+Milchbrot, Krapfen und Zwieback, vor allem Powidlkuchen, die er so
+gerne aß. Einen Teil dieser guten Dinge verzehrte der Junge, der andere
+verschimmelte ihm im Nachtkästchen, der seine Vorratskammer war.
+Und als der Rest verschimmelt war, verzehrte er ihn auch, schon aus
+Ordnungsliebe und weil es ihm leid tat, die mütterlichen Liebesgaben
+wegzuwerfen. Seine Schulhefte waren stets wie neu und die Schriften
+und Ziffern wie gestochen, nur recht oft unrichtig. Über Fleiß und
+Sittlichkeit sangen seine Zeugnisse wahre Lobeshymnen, im übrigen
+jedoch gaben sie ihm Anlaß zur Unzufriedenheit mit den Professoren.
+So kam der Tag der Reifeprüfung. Die schwarzen Kleider mit dem
+Seidenzylinder hatte der junge Kernschimmler sich schon am Vorabend
+auf das musterhafteste zurechtgerichtet, also auch im Notizbuche die
+Gegenstände, in denen er bereits geprüft war und noch geprüft werden
+sollte, mitsamt den erhaltenen und zu erhoffenden Noten sorgfältigst
+aufgeschrieben. Als er nun auf der Gasse schon nahe dem Schulgebäude
+dahinging, bemerkte er mit Entsetzen, daß seine Stiefel nicht frisch
+gewichst waren. Er kehrte in seine Wohnung zurück, fand aber weder die
+Quartierfrau vor, sie war auf den Markt gegangen, noch den Schlüssel
+zum Schrank, wo das Stiefelputzzeug aufbewahrt lag. Er mußte also zum
+Krämer und zum Bürstenbinder, um Wichse und Bürsten zu kaufen und
+dann die Beschuhung selbst in einen des Tages würdigen Zustand zu
+versetzen. Als er hernach die Stiefel wieder an die Beine zog, riß sich
+an einem derselben eine Strupfe los. Man sah zwar den Schaden hinter
+der Hose nicht, aber der junge Mann konnte keine Schlamperei leiden,
+er ging zu<span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span> seinem Schuster, der die kleine Angelegenheit auch zur
+besten Zufriedenheit schlichtete. Als er hernach an den Lehrsaal kam,
+schritten die Kollegen und Professoren gerade zum Tore heraus, die
+Abgangsprüfung war vorüber. Augustin hatte nun ein ganzes Jahr Zeit, um
+vor seiner Prüfung vielleicht auch noch andere Mängel, als die an den
+Kleidern, zu beseitigen.</p>
+
+<p>Mittlerweile starben rasch hintereinander seine Eltern. Der Schlag
+würde für den guten Jungen vernichtend gewesen sein, wenn nicht durch
+denselben in Haus und Geschäft eine Welt von Unordnung aufgetaucht
+wäre, die in Ordnung gebracht werden mußte. Das zerstreute ihn ein
+wenig. Das Ordnungmachen dauerte aber Jahr und Tag, und mich wundert es
+nicht, daß darob die Reifeprüfung ganz und gar vergessen worden war.</p>
+
+<p>Augustin Kernschimmler fand sich plötzlich allein auf der Welt,
+aber als Erbe eines großen Fleischergeschäftes und einer Bäckerei,
+die sich auch auf Mühle und Kornhandel verzweigte. Die Mühle und
+die gewerblichen Rechte verkaufte er, ebenso auch die Grundstücke;
+die beiden alten Häuser aber, das Fleischerhaus des Vaters und
+das Bäckerhaus der Mutter, behielt er aus Gründen der Pietät, und
+seine Lebensaufgabe bestand von nun an darin, diese Häuser und ihre
+Einrichtung in Ordnung zu halten. Jahraus, jahrein beschäftigte er
+eine Anzahl Dienstboten, um die Möbel abzustauben, die Spinnweben von
+den Ecken zu fegen, den Schwamm im Fußboden zu vernichten und alles
+Geschirr und Gezier blank und rein zu erhalten. Er konnte sich nicht
+entschließen, irgendein Kleidungsstück seiner Eltern wegzugeben, die
+Dienstboten rangen für und für einen wahren Verzweiflungskampf mit
+den Motten und anderem Insekt, aber mit Kampfer und anderen Mitteln
+gelang es immer noch, die Sachen zu erhalten, so daß sie in ihren
+Schränken und Kästen<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> genau so liegen und hängen konnten, wie sie zu
+Lebzeiten oder beim Tode seiner Eltern gelegen oder gehangen waren.
+Die Wohnungen der beiden Häuser waren denn auch stets in dem Zustande,
+die ehrenwertesten Besuche zu empfangen, die nicht kamen. Auf der
+Fleischbank konnte zu jeder Stunde geschlachtet, im Ofen jeden Tag
+gebacken werden, es war alles dazu in bester Bereitschaft. Geschlachtet
+und gebacken wurde aber nicht. Doch, so fleißig auch gelüftet wurde, es
+war ein Modergeruch vorhanden, und die Schritte des Wandelnden hallten
+lauter in den Wänden als anderswo.</p>
+
+<p>Kernschimmler war ein stattlicher Mann geworden, dem außer Hause seine
+wunderliche Art nicht einmal angesehen werden mochte. Er pflegte sich
+gut und kleidete sich stets mit peinlicher Genauigkeit, freilich
+nicht gerade nach der Mode, aber doch mit gutem Geschmacke und mit
+größter Akkuratesse. Wenn an einem Kleidungsstücke ein Knopf verloren
+ging, so mußte seine alte Dienerin von Schneider zu Schneider, von
+Krämer zu Krämer laufen, um genau den gleichen aufzutreiben, und wenn
+das nicht glückte, so wurde das ganze Kleidungsstück dem Trödler
+übergeben. Sein Aus- und Eingang war pünktlich, wie eine Uhr, sein
+Verkehr mit Bekannten verbindlich, aber gemessen, im Gespräche stets
+der gleichen Worte und Redewendungen sich bedienend. Alle Samstage ging
+er des Abends in heitere Gesellschaft, lachte aber nur, wenn bei ihm
+Lachenszeit war, nämlich der Ordnung halber bloß bei bestimmten, stets
+wiederkehrenden Späßen. Neue Witze mochten besser sein, er machte keine
+Ausnahme von der Regel.</p>
+
+<p>Er hätte sich zurzeit — denn die Weiber garnten um und um —
+sicherlich verliebt, allein das lag nicht in seiner Tagesordnung, und
+wie er schon so sehr dem Gesetze der Trägheit unterworfen, so wäre nach
+dem einmaligen Verlieben<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> zu befürchten gewesen, er könnte sich der
+lieben Ordnung halber jeden Tag wieder verlieben.</p>
+
+<p>Augustin Kernschimmler war unverheiratet geboren und blieb also
+unverheiratet. Er lebte so nach seiner Art behaglich und zufrieden
+dahin und eine Entgleisung von dieser Lebensbahn schien ausgeschlossen.
+Da — in seinem sechsundvierzigsten Lebensjahre — erkrankte er.
+Es geschah so allmählich, so sachte, daß er die Ordnungswidrigkeit
+nicht einmal inneward. Er wurde ein wenig magenleidend, dann ein
+wenig leberleidend, hernach ein wenig halsleidend, endlich ein wenig
+brustleidend. Seine große Sorge war, die Erscheinungen, die er an sich
+wahrnahm, ordentlich zu verbuchen und vom Arzte die lateinischen oder
+griechischen Namen dafür zu erfahren. Damit konnte der Doktor recht
+sehr aufwarten. Wenn es aber einmal nicht stimmte, wenn der Doktor
+und die medizinischen Werke, die Kernschimmler genau studierte, sich
+widersprachen, dann war er gebrochen. Als es sich aber sachte, doch
+haarscharf auf eine Lungensucht wies und alle Anzeichen dazu auf das
+glänzendste auftraten, da rieb sich der gute Kernschimmler fröstelnd
+die Hände, vergnügt darüber, daß doch noch wenigstens bei schweren
+Krankheiten eine gute Ordnung obwalte. Sicherheitshalber hatte er
+mehrere Ärzte rufen lassen, und alle stimmten darin überein, daß der
+rechte Lungenflügel ganz kaput, der linke noch fast zur Hälfte intakt
+sei. Eine Frage der Zeit. In der Bestimmung dieser aber widersprachen
+sich die Herren, die gutmütigeren gaben ihm Monate, sogar Jahre, die
+berühmten gestanden fast derb, daß es sich nur noch um Tage handeln
+könne. — In Gottes Namen! Es liegt ja in der ewigen Ordnung der Natur,
+daß der Mensch sterben muß. Wenn's jedoch wirklich schon ernst ist,
+dann frägt es sich um die testamentarischen Angelegenheiten. Ein<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span>
+paar Verwandte, etliche gute Freunde werden ja wohl so gut sein, die
+Hinterlassenschaft in Empfang zu nehmen und ordentlich zu verwalten.
+Die hohe Erbsteuer ist nicht in Ordnung und ist das überhaupt ein sehr
+umständlicher Weg durch Behörden und Advokaten, dessen Ausgang mancher
+Erbe gar nicht erlebt. Da wird's vernünftiger sein, die Sachen unter
+der Hand zu verschenken.</p>
+
+<p>Also hat Augustin Kernschimmler am nächsten Tage seine entfernten
+Vettern und Muhmen und einige gute Bekannte der Samstagsgesellschaft
+zu sich beschieden. Wäre schier zu spät gewesen, er hatte kaum noch
+eine vernehmliche Stimme, es versagte ihm schon der Atem. Zur Not
+wenigstens das wichtigste: Die Häuser gehören den Verwandten, die
+Einrichtungsstücke den Freunden, das vorhandene Papier der Gemeinde
+für wohltätige Zwecke. Das alte Gewand in den Schränken soll verbrannt
+werden.</p>
+
+<p>Die Beschenkten weinten vor Rührung, vor freudiger. Wer seine Sachen
+mitnehmen konnte, der nahm sie gleich mit. Der Sterbende konnte sich
+nun auf die andere Seite legen — es war in Ordnung.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen erwachte er später als sonst. Ah, das war ein
+erkleckliches Schläfchen gewesen, diesmal. Er fühlte sich nachgerade
+erfrischt. — Nun muß aber der Erzähler sich sputen mit der
+Entwicklung, sonst errät es der Leser vorwegs, wo es hinaus will. Also
+gut, der Augustin Kernschimmler wurde wieder gesund, stocksteingesund,
+so gesund, als er vorher nie gewesen. Und war arm wie eine Kirchenmaus,
+wenn der Küster die Wachskrusten von den Leuchtern geschabt hat. Er
+hatte ja alles verschenkt und es war in Ordnung.</p>
+
+<p>So ein Testament ist doch ein gutes, kluges Ding. Man gibt sein
+Vermögen so selbstlos, so großmütig hin — aber erst, wenn man es
+selber nicht mehr braucht. Das, was einer<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> im Testament voll Edelsinn
+und Barmherzigkeit jemand vermacht, kann er unbedenklich aufbrauchen,
+da ist keine Pflicht vorhanden, es über den Tod hinaus zu bewahren,
+damit jenem, dem es vermeint gewesen, das auch richtig zukomme.
+Testamentarisch vermachte Sachen bleiben Eigentum des ursprünglichen
+Besitzers, solange er lebt; nach dem Papier kann man ganze Häuser
+vererben, die der Erblasser mittlerweile vertrinkt oder verspielt.</p>
+
+<p>Wie brutal hingegen ist das Schenken! Was du heute verschenkest, das
+ist morgen nicht mehr dein, und selbst wenn dein Leben darauf stünde.
+Wolltest du es zurücknehmen, so könnte der Beschenkte dich gerichtlich
+belangen, als strecktest du deine Hand nach fremdem Eigentum aus. —
+In diesem Falle war unser armer, stocksteingesunder Kernschimmler.
+Aber er fand es in Ordnung. Es fiel ihm durchaus nicht ein, auch nur
+auf einen Groschen seines großen verschenkten Vermögens Anspruch zu
+machen, oder scheinen zu lassen, daß er etwas bedürfe. Er griff seine
+gewohnte Lebensordnung wieder auf und führte sie so lange, bis der
+für sein Begräbnis bestimmt gewesene Betrag verbraucht war. Dann ging
+er ins Gemeindeamt und ersuchte um eine Versorgung. Er hatte früher
+das Wort »reich« nie ausgesprochen, jetzt sprach er das Wort »arm«
+nicht aus. Er war jetzt so wenig arm, als er früher reich gewesen. Er
+hatte früher den Lebensunterhalt gehabt, und den mußte er jetzt auch
+haben. Die Gemeinde hatte über seine Widmung zu wohltätigen Zwecken
+bereits verfügt, sie tat nichts desgleichen, als ob der Mann bei ihr
+etwas besonders gut haben könne; sie fand nur, daß er für das Spital
+zu gesund, für das Armenhaus zu fröhlich und für die Altersversorgung
+zu jung war. Sie ließ in sehr vorsichtiger Form bei ihm anfragen,
+ob er die zur Zeit offene, sorgenfreie und achtunggebietende Stelle
+eines Gemeindedieners<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> würde übernehmen wollen. Wenn ja, so wäre er
+der Bevorzugte. Diese einflußreiche Stelle sei weitaus gesicherter,
+als die des Bürgermeisters, der von drei zu drei Jahren abgelehnt
+werden konnte, während der Gemeindediener ohne ganz besonderen
+Anlaß nicht bedankt werde, sondern bestimmt sei, die Tradition des
+Bürgermeisteramtes von Geschlecht zu Geschlecht zu übertragen und zu
+überwachen.</p>
+
+<p>Augustin Kernschimmler ward Gemeindediener und als solcher ein wahrhaft
+bedeutender Mensch. Er hatte zwar nichts zu tun, als den Willen anderer
+auszuführen, aber die Ausführung ist ja schließlich Hauptsache. Er
+war ganz glücklich, der Selbstbestimmung enthoben zu sein, denn
+er hatte nie etwas mit sich anzufangen gewußt, er fühlte sich als
+Werkzeug anderer geborgen und gekräftigt und arbeitete mit wunderbarer
+Genauigkeit. Sein Wirkungskreis erstreckte sich nicht etwa über die
+Kanzlei, sondern über die ganze Gemeinde bis zum Bezirksgerichte
+und zu der Landeshauptmannschaft hinauf. Man soll gerade einmal
+nachdenken, was ein Gemeindediener zu tun hat. Kernschimmler besorgte
+sein Amt mit so unerhörter Ordnung, daß die Leute sich fragten, wer
+denn das Räderwerk eingefettet haben könne, daß es nun so glatt
+ginge? Sie wurden sich der Ursache kaum bewußt, merkten nur, daß der
+Gemeindediener ein ordentlicher Mensch sei.</p>
+
+<p>Als er fünfundzwanzig Jahre lang der musterhafte Gemeindediener
+gewesen, machte er etwas Dummes. Er ließ sich pensionieren. Als
+siebzigjähriger Mann, meinte er, sei es in Ordnung, sich zur Ruhe
+zu setzen. Bald sah er aber, daß bei ihm die Ruhe als solche nicht
+in Ordnung war. Denn er hatte zu lange in regelmäßiger Tätigkeit
+gelebt; jetzt auf einmal nichts zu tun, als spazieren zu gehen,
+das war doch die größte Schlamperei. Jeden und jeden Tag dieselbe<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span>
+Schlamperei. Das war freilich auch Regelmäßigkeit — aber in diese
+neue Ordnung konnte er sich nicht mehr finden. Er erbot sich dem neuen
+Gemeindediener freiwillig zu Diensten und wurde des Dieners Diener.
+Die schwersten Kränkungen seines Alters bestanden darin, wenn in
+der Kanzlei ein Foliant statt im dritten Fach, etwa im vierten lag;
+wenn die Empfangsbestätigung für Zustellungen von dem Empfänger mit
+Bleistift geschrieben war, anstatt mit Tinte; wenn der Bürgermeister
+ihn »<em class="gesperrt">Herr</em> Kernschimmler« nannte, da er doch fünfundzwanzig Jahre
+lang in treuen Diensten bloß der Kernschimmler gewesen war.</p>
+
+<p>Seine persönliche Tagesordnung war das Uhrwerk geblieben, das seit
+einem halben Jahrhundert kaum ein einziges Mal stillstand — täglich
+dieselbe Sekunde zum Aufstehen, dieselben dreiundzwanzig Minuten zum
+Anziehen des immer gleich geformten Gewandes, dieselben neun Minuten
+zum Rasieren, und die Haare kämmte er sich mit der gleichen gewohnten
+Sorgfalt auch noch zur Zeit, als er längst keine mehr am Kopfe hatte.</p>
+
+<p>Eines Tages aber ließ Augustin sich eine große Unregelmäßigkeit
+zuschulden kommen. Er kämmte sich nicht und rasierte sich nicht, er
+kleidete sich nicht einmal an. Lange über die gewohnte Zeit hinaus
+blieb er in seinem Bette liegen und war tot.</p>
+
+<p>Als der Schreiner ihm den Sarg zurechtmachte, sagte er zu einem
+Nebenstehenden: »Ich wüßte schon, was zu machen wäre, daß der
+Kernschimmler wieder aufstände. — Man brauchte bloß einige Hobelspäne
+auf den Boden zu verstreuen, alsogleich wäre er mit dem Besen da, um
+Ordnung zu schaffen.«</p>
+
+<p>Tue es nicht. Laß ihn rasten mit neunundsiebzig Jahren — es ist in
+Ordnung.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Meister_Sani">Meister Sani.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Er war Maler, aber ich rede nicht von seinen Bildern. Er war Geizhals
+und ich rede von seinem Gelde. Er verdiente sich sehr viel Geld,
+buchstäblich mit Gold aufgewogen wurden seine bemalten Leinwandblachen.
+Aber ich interessiere mich nicht für Kunstwerke, ich interessiere mich
+für Dukaten. Dem Meister mußten ja auch diese lieber gewesen sein als
+jene, sonst hätte er seine Gemälde nicht verkauft. Denn er benötigte
+es nicht, das viele Geld. Er war aus ganz einfachen Verhältnissen
+emporgekommen und bedurfte für sich sehr wenig. Er war Junggeselle, was
+schon an sich eine Ursache des Geizes ist; wer für die Familie immer
+Geld ausgeben muß, der kann sich keinen Geiz angewöhnen.</p>
+
+<p>Meister Sani lebte so weit anständig und stets adrett; wie er auf
+der Gasse einherging, merkte man ihm das Laster nicht viel an. Auch
+hat ihn damals niemand unter seinen Geldsäcken sitzen gesehen oder
+wie er etwa mit dürren Fingern im Münzhaufen gewühlt hätte. Er hatte
+weder dürre Finger noch Geldsäcke. Seine Ersparnisse waren in mehreren
+Sparkassebücheln verbucht, die er in einem eisernen Kästchen unter
+seinem Wäschevorrate verwahrte. Jetzt kann man ja alles sagen. Nebst
+seiner künstlerischen Tätigkeit hatte der Meister die größte Freude am
+Sparen und in der Vorstellung, was er um sein gutes Geld alles haben
+könnte. In der ersteren Zeit dachte er, jetzt — wenn ich wollte —
+könnte ich schon zehn Jahre faulenzen und naturbummeln, zu leben hätte
+ich. Bald war so viel da, daß er ans Reisen denken konnte, und er
+reiste in Gedanken ein zweitesmal nach Italien, denn ein erstesmal war
+er wirklich schon dort gewesen. Diesmal<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> konnte er bis Sizilien gehen
+und über Spanien nach Frankreich zurück. Später wäre er schon in der
+Lage, sich eine Villa zu bauen, unweit der Stadt, die täglich nach den
+Atelierstunden leicht zu erreichen. Wenige Jahre später war er so weit,
+daß er sich ein größeres Landgut kaufen könnte mit Garten-, Feld-,
+Vieh- und Waldwirtschaft und er ginge umher und sähe, wie die Arbeit
+des Gesindes schleunt und die Früchte gedeihen und die Schweine und
+Hühner heranwachsen für die Festtafel. Alles das und mancherlei anderes
+könnte er haben, wenn er wollte. Er konnte sich gleichsam als den
+heimlichen Herrn betrachten über so vieles. Aber es konnte noch besser
+kommen und deshalb ließ er das Geld ruhig in der Sparkasse liegen; es
+kam immer noch reichlicher Zuzug und üppigeres Wachstum, und eines
+Tages war er Schloßherr. Ein großes Schloß mit Lustgärten, Meierhöfen,
+Waldungen, Jagden und sonstigen vornehmen Ergötzlichkeiten — könnte
+er haben, wenn er wollte. Und da er es haben könnte, so war es just so
+viel, als er hätte es. Diese Gedanken an seine Güter hatten sich in
+seinem Kopf festgeflochten wie ein Spinngewebe, in dem Spinnen gaukeln
+und Mücken hängen. Er malte noch fleißig, aber er malte nicht mehr so
+gut als früher, sein Herz war bei den Gütern. In der Nacht schlief er
+unruhig, die Sorge um das Vermögen und daß es sich ja nicht vermindere,
+verwüsteten seine Träume, die einst so schön gewesen waren. Immer hatte
+er die Wirtschaften, Schlösser und Fabriken zu verwalten, die doch nur
+erst festgeplättet — in den Sparkassebücheln existierten.</p>
+
+<p>Da sagte Meister Sani zu sich: Das ist nichts, Meister Sani, das ist
+nichts. So in die Gefangenschaft zu geraten! Das muß wieder anders
+werden. Und befreite sich mit Jugendkraft. Er ging hin, nahm die Gelder
+aus der Sparkasse<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> und — verschenkte sie. Wo er Mangel und Not sah,
+da gab er hin, aber ungenannt. Er wollte nicht, daß die Leute wußten,
+wie dumm reich er geworden war. Auf einem Spaziergange kam er zu einer
+rauchenden Brandstätte. Er wühlte in der Asche, zog eine Blechkapsel
+hervor und sagte zu den jammernden Abbrandlern: »Das wird euch gehören,
+es war wohl im Hause und ist nicht mitverbrannt.« In der Blechkapsel
+war so viel Geld, daß sie ihr Haus wieder aufbauen konnten. — Ein
+anderesmal mischte er sich unter einen Trupp Zigeuner und verlangte von
+einem braunen Mädchen, daß es ihm wahrsage.</p>
+
+<p>Sie las in seiner hohlen Hand und sprach: »Dem edlen Herrn steht viel
+Geld bevor.«</p>
+
+<p>»Da ist es auch schon,« lachte er und ließ aus dem Rockärmel die darin
+versteckte Rolle von Silberlingen hervorgleiten. »Da nimm! Du hast es
+wahrgesagt, so gehört's auch dir.«</p>
+
+<p>Einer Schullehrers Familie steckte er nächtig als Nikolo Geld zum
+Fenster hinein und lief nachher davon, als ob er etwas gestohlen hätte.</p>
+
+<p>Von einem Knaben verlangte er einen Krug Wasser; als der Junge es
+vom Brunnen geholt und Meister Sani es getrunken, sagte er: »Ein
+anderesmal, Junge, mußt du den Krug besser auswaschen; siehe, was er
+für einen Bodensatz hat!« Da lag ein Dukaten drinnen.</p>
+
+<p>In der Zeitung stand, daß eine arme Frau auf dem Wege zum Markte ihr
+ganzes Geld verloren hätte. Meister Sani »fand« es und ließ ihr den
+gleichen Betrag schicken. Die Frau hatte mittlerweile aber selbst ihr
+Geld wieder gefunden und wußte nicht, an wen jener irrtümliche Fund
+zurückzuschicken sei. Noch heute brennt ihr das unrechtmäßige Geld auf
+der Hand und ich soll nichts verraten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span></p>
+
+<p>So wurde er sein Geld auf die bequemste Weise los. Endlich hatte er
+noch hundert Gulden.</p>
+
+<p>Die gab er nicht weg, die behielt er. Und an diesen hatte er eine
+Freude. Dann begann er neuerdings zu sparen und sammelte Gulden. Jetzt
+im kleinen machte ihm das Sammeln wieder Vergnügen; in der geringen
+Anzahl waren die Dinge so leicht zu übersehen, war so leicht Ordnung
+mit ihnen zu halten. Das war alles wieder so einfach, wie zur Zeit, als
+er seine Laufbahn begann und ungefähr so viel einnahm, als was er für
+sich nötig hatte. Er freute sich wieder an jedem Guldenstücke, an jeder
+kleinen Ziffer. Die Träume waren weg und die eingebildeten Sorgen, die
+schier so wirklich sind als die wirklichen. Er hatte ein leichtes Herz
+bekommen, ganz jugendlich war ihm zumute. Er gab sich mit frischer
+Liebe wieder seiner Kunst hin. Sein Lebensbedarf war höchst einfach und
+manchmal, wenn es ihm nach etwas gelüstete, dachte er: Nein, 's ist
+nicht vonnöten, da mache ich mir lieber einen größeren Genuß und lege
+das Geld zu dem anderen. Und in stiller Abendfeierstunde, da holte er
+sein Sparkassenbüchel und freute sich des kleinen glatten Besitzes.</p>
+
+<p>Aber die Idylle sollte nicht immer so dauern. Seine Bilder trugen Geld;
+selbst die, so er nicht verkaufte, brachten in den Ausstellungen, in
+den Vervielfältigungen Geld ein. Er besaß schon wieder große Summen
+und die Berechnungen wurden kompliziert. Die Villen und Schlösser, die
+er sich wieder kaufen konnte, machten ihm zwar keine Sorgen, denn er
+dachte sie nicht mehr, seine Phantasie hatte den Schwung verloren, er
+war älter geworden. Träume wie einst hatte er auch nicht mehr, weil
+er wenig schlief. Wachend dachte er an sein Vermögen, ob es wohl auch
+gut angelegt sei, ob es nicht mehr Zinsen tragen könnte, als es bisher
+getragen?<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> Ob es bei einer großen Krisis nicht verloren gehen könnte?
+— Auch von seiten des Steueramtes war eine Gefahr nicht unmöglich.
+Er hatte nämlich in letzterer Zeit gefunden, daß die Steuer horrend
+ist, und hatte etwelches verschwiegen. Wenn man draufkäme! Die Angeber
+bekommen von der unterschlagenen Steuer ein gutes Teil, da kann sich
+leicht einer finden. Und die Strafe ist furchtbar. Das Fünfzigfache! —
+Oder soll er sein Geld verstecken, daß kein Mensch was davon weiß? Dann
+finden sie es am Ende auch nach seinem Tode nicht. Wie schade das wäre!
+Aber wer soll denn erben? Nur auslachen wird man einen, der so ärmlich
+gelebt und so viel Geld gehabt hat. Da könnte man am Ende gar noch
+einen Nachruf als Geizhals bekommen. — Solcherlei Gedanken quälten ihn
+die halben Nächte lang. Und einmal, als es schon gegen Morgen ging und
+die Geldsorgen ihn immer noch nicht hatten schlafen lassen, sprang er
+zornig auf, stürzte zum Schrank, riß die Sparkassebücheln hervor und
+wollte sie in die noch glosende Ofenglut schleudern. Aber die Bücheln
+wollten nicht aus seiner Hand. Als ob die Finger einen Krampf hätten,
+so hielten sie fest und in diesem Augenblicke fiel es ihm ein: So viel
+man in den Blättern liest, wird jetzt gesammelt zur Errichtung einer
+Heilstätte für brustkranke Frauen. Dorthin mit diesem Ludersgeld.</p>
+
+<p>Doch am nächsten Morgen bettete er die Urkunden seines Vermögens wieder
+sorglich in den Wäschekasten. Waren sie ihm doch liebe Hausfreunde
+geworden — die einzigen, die er hatte. Geselligkeit und Freude
+an seinem Künstlerruhm waren ihm völlig abhanden gekommen, seit
+er sein Geld gar so lieb gewonnen hatte. Aber — war es denn sein
+<em class="gesperrt">Geld</em>, das da im Kasten lag? Das waren nichtige Scheine. Nach der
+<em class="gesperrt">Persönlichkeit</em> des Geldes begann er sich zu sehnen.<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> Er wollte
+es bei sich in seiner Wohnung haben, selbst um den Preis der Zinsen.
+Nur dem baren Gelde in der Nähe sein! Der Schrank nah' dem Bette, dann
+wollte er Ruh' haben. Monatelang mußte er warten, bis die Sparkassen
+ihm seine großen Guthaben zurückgeben konnten. Dann aber schloß er sich
+oft stundenlang in sein Schlafzimmer ein, betrachtete die Goldmünzen,
+die Reichsnoten, die Banknoten und zählte und ordnete sie und legte sie
+zärtlich wie liebe kleine Kindlein in die Wiegen der Kistchen. Und war
+der Schrank wohlverschlossen, so setzte er sich zu seinem Kassenbuche
+und rechnete und rechnete, bis er wieder den Schrank aufschloß, das
+Geld herausnahm und prüfte, ob wohl noch alles stimme. Die Tür zur
+Wohnung im vierten Stocke hatte er mit Eisenblech beschlagen und mit
+Wertheimschlössern versehen lassen. Aber trotzdem wagte er die Wohnung
+kaum zu verlassen und in den Nächten fürchtete er sich vor den Räubern
+und Mördern. Er magerte ab, er fühlte sich krank und in seinem Atelier,
+das zwei Häuser weit von der Wohnung entfernt war, saß er selten und
+überhaupt nicht mehr, um schöne Bilder zu malen, sondern um Geld zu
+verdienen. Er verzichtete auch auf neue Kleider, weil die alten noch
+gut waren; er begnügte sich mit der einfachsten Kost, weil sie am
+gesündesten sei. Sein Gemeinsinn war pädagogisch geworden, er gab
+kein Almosen mehr, weil das die Bettelei züchte, er verleugnete dem
+Steueramt sein Einkommen, weil jeder ein dummer Kerl sei, der das nicht
+tut. Er sperrte sich gegen fällige Posten, die von ihm zu zahlen waren,
+weil es nobel ist, warten zu lassen. Und überhaupt, was nützt das liebe
+Geld, wenn man es wieder ausgeben soll!</p>
+
+<p>Manchmal aber brach in ihm die Wut los gegen das Ungeheuer, das ihn zum
+elendesten Sklaven gemacht hatte. In solcher Verzweiflung nahm er sich
+vor, alles wieder zu<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> verschenken; aber das Beest hatte sich so fest an
+seine Natur geklammert, mit widerhakigen Zähnen in sein Herz gebissen,
+daß er nicht einen Gulden losbrachte. Er konnte sich von dieser Qual
+nicht mehr befreien. Er ahnte, daß er daran zugrunde gehen würde, und
+doch saß er wieder bei seinen Kistchen und zählte und ordnete.</p>
+
+<p>Eines Tages ging er auf den Gemüsemarkt, um einzukaufen. Denn er
+hatte sich entschlossen, die häuslichen Angelegenheiten persönlich
+zu besorgen. Man kann sich auf fremde Leute ja nie verlassen.
+Erstens kaufen sie viel zu teuer ein, zweitens betrügen sie noch
+obendrein, drittens fordern sie alles mögliche und viertens hat man
+überhaupt nicht gern unverläßliche Leute im Hause. Er hatte seinen
+Handkorb schon ziemlich gefüllt, denn er pflegte gleich für die ganze
+Woche einzukaufen, und feilschte eben noch um zwei Kilo Erdäpfel,
+als mit ihren schmetternden Signalen einige Wägen der Feuerwehr
+vorbeirasselten. Erst fragte Meister Sani erschrocken, wo es denn wohl
+brennen könne? niemand wußte es. Die Stadt ist groß. So ging er ruhig
+nach Hause. Je näher er kam, je erregter war heute das Straßenleben,
+und als er um die letzte Ecke bog, sah er, wie aus den Fenstern seiner
+Wohnung Qualm und Flammen wirbelten und darüber gerade der Dachstuhl
+zusammenstürzte.</p>
+
+<p>»Ist die Einrichtung gerettet?« schrie er dem Feuerwehrhauptmanne zu.</p>
+
+<p>»I was! Wie soll denn da gerettet sein, wenn alles steinfest versperrt
+ist. Aber die Nachbarswohnungen intakt.«</p>
+
+<p>»Danke schön!« antwortete Meister Sani. Ganz ruhig, fast mit Behagen
+sagte er es.</p>
+
+<p>Nun war er wieder frei.</p>
+
+<p>Er schaute den Flammen zu, die über seiner dachlos gewordenen Wohnung
+aufstiegen. Glühende Sterne und<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> Vöglein flogen empor — Funken und
+losgelöste Fetzchen. Flog da nicht sein Geld gegen Himmel? ... Es war
+ordentlich fein zum Ansehen, er hatte seine Freude daran, wie dieses
+höllische Geld so schön und fromm geworden war.</p>
+
+<p>Als endlich das Feuer gedämpft war und Meister Sani gesehen hatte, daß
+alles reinlich vertilgt worden, ging er in sein Atelier. Im Korbe hatte
+er Schwarzbrot und einige Äpfel, davon aß er. Dann legte er sich auf
+die hölzerne Bank und schlief — wie von einer schweren Last befreit —
+ununterbrochen neun Stunden lang und gut, wie ein leichtsinniger König.</p>
+
+<p>Nachdem das Geld so mit Gotteshilfe überwunden war, erwachte in dem
+Künstler wieder der göttliche Leichtsinn, der von Anfang an in seiner
+Natur gelegen. Gerade die herrlich auflodernden Flammen hatten seinen
+Schönheitssinn wieder erweckt und das Farbenleuchten übertrug er
+auf seine Bilder. Diese stiegen noch einmal im Werte und begannen
+neuerdings Geld ins Haus zu bringen. Aber er ging nicht mehr darauf
+ein. Zweimal war's ihm gelungen — ein drittesmal könnte es schief
+gehen. Meister Sani gibt alles aus, was er einnimmt, und erst in seinen
+alten Tagen, wenn sie überhaupt kommen, will er, seiner alten Passion
+fröhnend, wieder anfangen zu sammeln — auf öffentlichem Platze mit
+gezogenem Hute — kleine Münzen.</p>
+
+<p>Ob es seine Verehrer zu einer <em class="gesperrt">solchen</em> Münzensammlerei kommen
+lassen werden, weiß man noch nicht. Wahrscheinlich.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_falsche_Himmeltraeger">Der falsche Himmelträger.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Zehn Sekunden lang hatte ich — um im Volke Ärgernis zu vermeiden
+— mich mit vorgeneigtem Körper auf ein Knie gestützt. Als das
+Sanktissimum vorüber war, richtete ich mich rasch auf und sagte zum
+Professor, der hinter mir stand: »Na, kurios, wie man das Knien
+verlernen kann! Noch zehn Sekunden lang und ich wäre ohnmächtig
+geworden auf diesem Sandkorn, das sich so bereitwillig unters Knie
+geschoben hat, um mir die Sünden abbüßen zu helfen. Und einst hielt
+ich so was stundenlang aus, mit Leichtigkeit. Du weißt ja, die untere
+Volksschichte steht sich besser beim Knien als beim Stehen. Merkwürdig
+genug, daß gerade kleine Leute sich so sehr bücken müssen, um
+durchzukommen.«</p>
+
+<p>»Ja, lieber Freund,« antwortete der Professor, »davon wüßte ich auch
+ein erbauliches Kapitel zu erzählen. Vom Bücken und Knien. Wenn
+dem Künstler nicht ohnehin alles erlaubt wäre und er beliebig alle
+möglichen Sünden haben könnte, damals hätte ich sie alle bezahlt. Ja,
+der liebe Herrgott hätte mir noch was herausgeben müssen.«</p>
+
+<p>Wir gingen am Fußsteige dem Bache entlang spazieren und er erzählte das
+Erlebnis.</p>
+
+<p>Du weißt, daß ich für das Frauenkloster die Altarstatue geschaffen
+habe. Vor Jahren schon. Seither war mein Künstlerherz oft in jener
+Klosterkirche bei den reichen Kunstschätzen, bei dem glanzvollen
+Kultus und bei den anmutigen Gestalten der Schwestern und Novizinnen.
+Die bekam man aber selten zu sehen, da dem profanen Erdenpilger die
+heiligen Mysterien eines Frauenklosters möglichst verborgen bleiben
+müssen. Nun kam aber der hohe Gedächtnistag der<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> Gründung dieses
+Klosters und der sollte durch ein großes Kirchenfest begangen werden.
+Aller Glanz sollte aufgeboten werden, alle Schwestern, Jungfrauen in
+ihrer Zier sollten im weißen Festgewande unverschleiert den Einzug
+halten und in vielen Reihen sich um den Hochaltar gruppieren. Du kannst
+dir denken, daß ich diesen Aufzug sehen wollte. So habe ich mich bei
+der Oberin angemeldet und ersucht, dem Feste mit beiwohnen zu dürfen.</p>
+
+<p>»Ja, mein geschätzter Herr,« sagte die Matrone, »das wird wohl nicht
+gehen, da nach unseren Regeln kein fremdes männliches Wesen an unseren
+Gottesdiensten teilnehmen darf.«</p>
+
+<p>»Aber ehrwürdige Mutter,« sagte ich, »ich bin ja kein fremdes
+männliches Wesen. Ich bin der Künstler, der von Ihrer Gottseligkeit
+gewürdigt worden war, die Altarstatue zu verfertigen. Und sollte nicht
+die Gnade haben können, bei der hohen Feier, die diesen erhabenen
+Gegenstand betrifft, dabei sein zu dürfen?«</p>
+
+<p>»Aber mein Gott, Herr Professor, wenn Sie so reden! Was machen wir denn
+da? Sie sehen doch ein, daß ich eine unserer wichtigsten Ordensregeln
+unmöglich übertreten kann.«</p>
+
+<p>»Haben Euer Ehrwürden in Ihrer sonst so vollkommenen Anstalt kein
+Hintertürchen, das zufällig offen bleibt und durch das ein frommes
+Christenherz sich ungesehen hineinschleichen könnte?« So sagte ich halb
+scherzend, denn die Oberin — das war mir schon von früher her bekannt
+— versteht auch Spaß. Sie lächelte denn auch zu meinem Vorschlage,
+drohte aber mit dem Finger; vor einem, der so redet, müsse man sich
+erst recht in acht nehmen. Indes falle ihr ein Ausweg ein, der ihr
+ermögliche, den Eintritt zum Festgottesdienst zu gestatten.</p>
+
+<p>»Und der ist?«</p>
+
+<p>»Sie müssen dafür etwas leisten.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span></p>
+
+<p>»Herzlich gern. Wie viel denn?«</p>
+
+<p>»Nein, in Geld nicht,« rief sie fast fröhlich. »Aber an der Feier
+mitwirken, wenn Sie das wollten. Können Sie an der Orgel den Blasebalg
+treten?«</p>
+
+<p>»Das Blasebalgtreten, ehrwürdige Mutter, wäre keine Kunst, wenn der
+Blasebalg nicht gerade im Winkel hinter der Orgel wäre, wo man nichts
+sieht.«</p>
+
+<p>»Ach ja,« sagte die Äbtissin, »das ist wahr, da sehen Sie nichts.«</p>
+
+<p>»Natürlich,« glaubte ich sogleich beisetzen zu müssen, »geht es mir
+nicht bloß ums Sehen. Wohl auch der Erbauung wegen —.«</p>
+
+<p>»Na na,« unterbrach sie mich, »das wissen wir uns schon zu reimen.
+Die Künstler sind ja alle mehr oder weniger Heiden. Nun — fällt mir
+was ein. Wollen Sie Himmel tragen? Da wären Sie mitten im Einzug und
+könnten alles gut sehen.«</p>
+
+<p>»Himmel tragen? Das wäre schön, Euer Ehrwürden,« stotterte ich,
+»allein, da werden gewiß andere sein, Bestimmte, Würdigere.«</p>
+
+<p>»Es sind ihrer vier. Aber einer ist krank. Eine Stange ist
+augenblicklich vakant. Dann hätte es weiter kein Bedenken.«</p>
+
+<p>»Meinen ehrerbietigen Dank, aber ich muß mir's doch erst überlegen, ob
+— ob ich zu diesem ehrenden Amte nicht etwas zu ungeschickt bin.«</p>
+
+<p>»So überlegen Sie sich's. Und lassen mir's bis morgen sagen. Der Herr
+mit Ihnen.«</p>
+
+<p>So die Unterredung mit der Oberin. Dann überlegte ich. Eine Stange
+des viereckigen Baldachins tragen, unter dem ein wohlgenährter Prälat
+einherschreitet. Ob sich das mit dem akademischen Künstler und dem
+kaiser-königlichen Professor wohl verträgt? Aber das glänzende
+Gepränge.<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> Meiner Hände Bildwerk in einem Meere von Lichtern und Rosen.
+Und dann die weißen Jungfrauen. Besonders die eine mit dem länglichen
+Angesichte, die großen blauen Augen drin und die Wangengrübchen ...</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen, als ich auf dem Bette saß, während meine Frau mir
+einen entsprungenen Knopf an die Weste heftete, begann ich über die
+Sache mit ihr zu sprechen. Sie blickte mich befremdet an und sagte
+endlich: »Mann, das soll wohl nur ein Witz sein? Mit drei Banausen
+Himmel tragen — du!«</p>
+
+<p>»Das einzige Mittel, um diesen interessanten Aufzug mit ansehen zu
+können.«</p>
+
+<p>Sie lachte laut, sehr laut und grell — fast widerwärtig.</p>
+
+<p>»So ein Künstler hat seine Sachen,« sagte ich. »Man bedarf Anregung.«</p>
+
+<p>»Die du zu Hause natürlich entbehren mußt!«</p>
+
+<p>»Und gerade will ich diesen Aufzug sehen.«</p>
+
+<p>»So tu's eben.«</p>
+
+<p>»Ist verboten, wie gesagt. Ist nur erlaubt, wenn ich etwas zu der
+Begehung leiste. Wir haben beraten, die Oberin und ich; es gibt kein
+anderes Mittel, als daß ich eine Stange des Baldachins übernehme.«</p>
+
+<p>»Im roten Radmantel natürlich!« lachte sie.</p>
+
+<p>»Was es da nur so dreist zu lachen gibt. Von einem roten Mantel ist
+ja keine Rede. Ob man nur so an einem Einzuge teilnimmt oder ob man
+<em class="antiqua">pro forma</em> eine rote Stange in der Hand hat. Sind stets nur die
+würdigsten Männer dazu ausersehen.«</p>
+
+<p>»Und das Gerede der Leute, daß Professor Hertner bei den
+Marienschwestern Himmelträger geworden ist?«</p>
+
+<p>»Aber es erfährt's ja kein Mensch. In so einem Kloster, das ist ja eine
+geschlossene Gesellschaft.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span></p>
+
+<p>»Ich sage dir, in allen Witzblättern bist du nächstens mit deiner
+Himmelstange. Nein, so was könnte einem doch im Traum nicht einfallen!
+Herr Jesses, wenn der Zaruzel draufkäme!«</p>
+
+<p>Sie legte die Weste hin und ging etwas lebhaft ins Nebenzimmer. Ich
+mußte sehr den Kopf schütteln. Wie die Frauen gleich alles auf die
+Spitze treiben! Wo sie doch sonst so viel Verständnis für meine
+künstlerischen Interessen hat! — Der Zaruzel, meinte sie, dieser
+Karikaturenschmierer! In die Witzblätter! Na, das wäre so was!
+— Aber all diese Vorstellungen und Bedenken verblaßten vor den
+weißen Jungfrauen, die ich just einmal sehen wollte. Der Oberin wurde
+angezeigt, daß ich mich zum Feste rechtzeitig einfinden würde.</p>
+
+<p>Meiner Frau sagte ich nichts mehr davon und auf ihre Frage, weshalb
+ich mich so feierlich schwarz ankleide, schützte ich dreist eine
+Aufwartung beim Statthalter vor. Du kannst dir denken, daß ich an
+diesem Tage nicht auf geraden Wegen dem Kloster zuging, sondern durch
+die Gassen und Gäßchen hinterwärts, wo man durch ein Pförtlein in den
+Klostergarten gelangen kann. Das Pförtlein war natürlich versperrt. Auf
+mein Läuten erschien der alte Gärtner, der mich auf meine Versicherung,
+ein Himmelträger zu sein, mit einiger Säumnis passieren ließ. Im
+großen Klosterhof wurde der Festzug zusammengestellt. Meine drei
+Berufsgenossen waren alte Männer mit Glatzen und grauen Bärten, die
+sich über den fremden vierten, der statt des erkrankten Schusters da
+war, ein wenig zu wundern schienen. Wir bekamen scharlachrote Mäntel;
+eiskalt ging es mir durchs Gebein, als ich den meinen über die Achsel
+legte. Doch für alle Fälle war das eine willkommene Vermummung. Wir
+holten aus der Kirche den rotseidenen, goldbefransten Baldachin<span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span> mit
+den vier Tragstangen. Der Hof füllte sich mit ornadierten Priestern,
+dunkelgekleideten Nonnen und den weißen Jungfrauen. Nachdem der
+Patriarch in golddurchwirktem Meßkleide unter dem Himmel stand, bewegte
+sich der Zug um die Kirche und zum Hauptportal hinein. Ich sage dir,
+es war eine Pracht! Dieses Lichtgespiel, diese bunte Gestaltenreihe.
+Die weißen Jungfrauen, eine lange Reihe, waren geschmückt mit roten und
+blauen Schleifen; ihre Locken schwarz und gold und bis zum lichtesten
+flachs, wallten über den Nacken; ihre Augen, ganz entweltlicht,
+möchte ich sagen, schauten groß und unschuldig gleichsam in die
+himmlischen Räume auf; andere senkten die Lider oder schlossen sie
+ganz. In den Händen trugen sie brennende Kerzen. Und dieses Singen,
+Freund! Man hört manchmal das Wort Engelsgesang und denkt sich nichts
+dabei. Ganz himmlische Stimmen sind es gewesen, auf Erden gibt es
+keine solchen. Die rote Stange in meiner Hand und der rote Mantel
+über mir waren rein vergessen über dieses wunderschöne Bild, über
+diesen bezaubernden Gesang. Nun in der Kirche angelangt, stellten die
+Jungfrauen sich am Altare auf in Reihen, die rückwärtigen höher als
+die vorderen, so daß es ein wunderbares Mosaik aus Engelsgesichtern
+ward — ein unbeschreiblicher Liebreiz. Der Himmel, umdrängt von
+andächtigen Frauen, hatte mitten in der Kirche angehalten, der
+Prälat stieg zwischen den Jungfrauen zum Altar hinauf. Es begann das
+Hochamt. Die Priester knieten nieder, die Nonnen knieten nieder, die
+Jungfrauen knieten nieder. Alles kniete in großer Demut nieder auf
+beide Knie. Auch meine drei Himmelträgergenossen. Und auch ich. Aber
+die Minute, die der erste Segen dauerte, war schmerzlich lang, denn
+die feinen Sandkörnchen des Steinbodens bissen durch das Beinkleid
+in das verweichlichte Knie, das seit meiner Knabenzeit<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> nicht mehr
+geübt worden war. O Freund! Ich ahnte nicht, daß es erst der Anfang
+einer qualvollen Stunde sein sollte. Unmittelbar nach dem Segen wollte
+ich mich aufrichten, aber — alles blieb knien. Auch meine Banausen
+knieten so fest, als ob sie in den Steinboden hineingewachsen wären.
+Ich allein aufstehen und stehen bleiben neben der Stange? Unmöglich.
+Abgesehen von dem unsühnbaren Ärgernisse, das damit gegeben worden
+wäre, hätte ich mich unberufenen Blicken ausgesetzt — der akademische
+Bildhauer Professor Hertner als Himmelträger hätte alles überragt.
+Ich blieb knien, aber frage nicht wie und in welchem Jammer. Es war
+eine wahre Folter. Ein weniges geschah mir wohler, daß ich mich fest
+an die Stange klammern konnte, erst mit der einen Hand, dann mit
+beiden Händen. Aber diese Stütze wurde bald belanglos und die Last des
+Körpers lag auf den armen Knien, die auf dem unbarmherzigen Stein laut
+geächzt hätten, wenn Knie ächzen könnten. Ich konnte es, durfte es
+aber nicht. Mußte in schweigender Frommheit bewegungslos daknien. Die
+anderen, so weit ich sie beobachten konnte, knieten ganz behaglich,
+dem regen Mundgebete, den weidenden Augen sah man an, daß sie alles
+eher als an ihre Knie dachten. Keiner ahnte den Büßer in ihrer Mitte,
+der seinen Vorwitz so blutig sühnen mußte. Ich hatte es ja versucht,
+mich in die Schönheit des Bildes zu versenken, das gerade vor mir so
+lieblich und licht entfaltet war, dem Gesang zu lauschen, dessen Klang
+in die Hallen aufstieg, aber ich empfand nichts, als den Schmerz an den
+Knien. Das Ovalgesicht suchte ich, das mit den runden Blauaugen und den
+Wangengrübchen; dort hinten, zwischen zwei brünetten Lärvchen guckte es
+hervor, schier himmlisch verzückt und ein bißchen schalkisch. Allerlei
+liebliche Gedanken und Vorstellungen wollte ich anspinnen an dieses<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span>
+Engelsbild, aber es gelang nichts — mein Knie, mein Knie! Da gedachte
+ich der Warnung meiner Frau, doch es war zu spät. Ich fühlte mich als
+Verdammter unter den Seligen. In meinem Leben nie hatte ich mich so
+heiß dem Evangelium entgegengesehnt als in dieser Stunde. Du weißt es,
+beim Evangelium steht man auf. Es kam endlich, alles erhob sich, ich
+mich fast zu früh, und atmete auf. Eine kleine Hoffnung leuchtete, als
+würde man von nun ab stehen dürfen, doch als das Evangelium vorüber
+war, kniete alles wieder nieder. In Gottesnamen, fest an die Stange
+geklammert, kauerte ich da und war entschlossen, knien zu bleiben, bis
+sie mich ohnmächtig hinaustragen würden. Aber so weit kam es nicht. Als
+die Not wieder sehr groß geworden war, entdeckte ich eine Kunst, die,
+auf den Waden zu sitzen. Was die anderen darüber dächten, das kümmerte
+mich nicht mehr, in dieser Selbsterniedrigung sahen mich ja auch nur
+die nächsten der dichtgedrängten Nachbarn und sie waren mitleidig. Die
+Knie waren sanft entlastet, ich saß auf meinen Beinen. Jetzt dachte
+ich wieder an das Gesicht mit den Wangengrübchen, aber ich konnte über
+die Köpfe nicht mehr hinwegsehen, der breite Buckel meines Vormannes
+begrenzte meinen Horizont. Doch nun war leicht standzuhalten und als
+es endlich vorüber, kräbelte ich mich mit Hilfe der Himmelstange
+krampfhaft und schier ungern empor.</p>
+
+<p>Gesehen hatte ich's also. Dann den Mantel los, das Beinkleid an den
+Knien mit dem Taschentuch entstaubt, durch das Gartenpförtchen wieder
+hinaus und mit der unschuldigsten Miene die Gasse entlang. Rief mich
+eine bekannte Stimme an: »Professorlein, he! Ich dachte, wer einmal im
+Himmel gewesen, der käme nicht wieder zurück.«</p>
+
+<p>Und war's der kleine Zaruzel, der berüchtigte Karikaturenzeichner für
+Witzblätter.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span></p>
+
+<p>»Woher des Weges?« fragte ich mit kühn gespielter Harmlosigkeit.</p>
+
+<p>»Von der Kirche der Marienschwestern, wo es heute so schön gewesen
+ist!« antwortete er mit widerlicher Süßlichkeit. »Du kennst ja den
+gelbhaarigen Teufelszwerg.«</p>
+
+<p>»Von der Klosterkirche?« tat ich überrascht, »aber da darf ja kein
+Mannsbild hinein.«</p>
+
+<p>»Doch, doch,« antwortete er. »Entweder es geht hinten durch das
+Gartenpförtchen oder es geht durch ein Dachfenster der Sakristei.
+Ersteren Weg pflegen die Bildhauer zu wählen; der letztere,
+beschwerlichere, bleibt für arme Witzblattzeichner übrig. Ich sage
+dir, Freund, köstlich warst du im roten Mantel an der Himmelsstange,
+unbezahlbar. An fünf Witzblätter verschicke ich.«</p>
+
+<p>Hub ich an stark zu leugnen. Da sagte er ganz gütig: »Mühe dich nicht,
+es hilft dir nichts,« und zog seinen photographischen Momentapparat aus
+der Tasche.</p>
+
+<p>Der schneidigste Mut kommt allemal, wenn nichts mehr zu verlieren ist.
+Ich blieb stehen und sagte leise: »Also Zahn um Zahn. Gut. An dem Tag,
+als das Bild im Blatt steht, wirst du umgearbeitet. Ich bin Bildhauer
+in Stein und Bein!« — — Das hat er verstanden. — Seitdem sind Jahre
+vorüber, es hat niemand etwas erfahren. —</p>
+
+<p>So erzählte mir der Professor am Fußsteig entlang. Da wunderte ich mich
+laut, daß er es selbst ausplaudere, was ein so tiefes Geheimnis hätte
+bleiben sollen.</p>
+
+<p>»Jetzt ist alles verjährt,« entgegnete er. »Wenn's die Leute nun auch
+erfahren, sie glauben es nicht. Und wenn sie es glauben, so macht's mir
+nichts mehr. Übrigens geschah es doch nur aus Liebe zur Kunst und das
+vorzeitige Eindringen unter den Himmel habe ich an Ort und Stelle ja
+gründlich gebüßt.«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_unglueckliche_Kammerdiener">Der unglückliche Kammerdiener.</h2>
+</div>
+
+
+<p>»Glauben Sie ja nicht,« sagte die Königin zur Gesellschaft, die nach
+dem Diner im Zerkle sich um sie versammelt hatte, »glauben Sie ja
+nicht, meine Herrschaften, daß unsereins so mächtig sei und alles nach
+Herzenswunsch schlichten könne. In vielen Fällen können wir das weit
+weniger als andere Leute; oft nicht einmal das Selbstverständlichste.
+Ach allzuoft war ich schon in heller Verzweiflung darüber, wie uns die
+Hände gefesselt sind, und das Herz, und ich sage sogar, auch der Kopf.
+Soll ich Ihnen eine Geschichte erzählen? Die Geschichte hat sich vor
+etwa einem halben Jahre im Schloß zugetragen und ist sehr tragisch.
+— Wollen die Damen und Herren nicht rauchen? Schön, ich will, wie es
+Pflicht der Fürsten ist, mit gutem Beispiele vorangehen.«</p>
+
+<p>Bei dieser launigen Bemerkung nahm sie aus der Kupferschale eine
+Zigarette und der Lakai hielt ihr das Flämmchen vor. Die Königin sog es
+mit einem Atemzug in die »Ägypter spezial« und winkte dem Diener mit
+einem gütigen Blick, daß er sich entfernen könne.</p>
+
+<p>Der General strich seinen langen weißen Schnurrbart und horchte
+schmunzelnd der tragischen Geschichte entgegen, die im phantastischen
+Lockenhaupt Ihrer Majestät sich wieder zugetragen haben mochte.</p>
+
+<p>»Die Herrschaften erwarten jetzt den Vortrag einer Romanze oder
+dergleichen,« lächelte die Königin, weil sie zum schwarzen Kaffee
+manchmal eine ihrer neuerstandenen Poesien zum besten zu geben pflegte.
+»Diesmal werden Sie irren. Die unerhörtesten Geschichten macht nicht
+der Dichter, macht<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> das Leben. Und Sie, mein General, dürften der
+Tragödie wohl etwas weniger skeptisch entgegensehen, als es offenbar
+der Fall ist. Vielleicht werden die kommenden Dinge sogar Ihr Herz
+engagieren!«</p>
+
+<p>»Mein Herz wird nicht mehr engagiert,« lachte der alte Weißbart, »außer
+Majestät geruhen zu gestatten, daß ich mir Kognak einschenke.«</p>
+
+<p>»Der König,« so begann die Königin zu erzählen, »hatte einen
+Kammerdiener aufgenommen. Ein junger Magyar wars, ein hübscher
+sympathischer Bursche mit braunen Augen und perlweißen Zähnen. Die
+blaue Livree mit den weißen Seidenschnüren stand ganz prächtig zu
+seinem frischen, glattrasierten Rundgesicht. Sehr bald wußte er sich
+in seine Stellung zu finden, bei seiner ruhigen und flinken Art. Dabei
+hatte er einen heimlichen Humor, der sich allerdings nur in den Mienen
+ausdrückte, trotzdem aber nicht weniger sprechend war. Anfangs war er
+zum Laufburschen aufgenommen worden, allein, nachdem unser alter Onkel
+Tom gestorben, machte ihn der König zu seinem Kammerdiener. Obschon der
+Bursche einige Jahre Soldat gewesen, hatte er von seiner Einfalt, die
+er aus der Pußta mitgebracht, noch den Löwenanteil bei sich behalten.
+Es war ein guter braver Junge, der sich selbst die Stiefel putzte,
+weil er es für unbegreiflich hielt, daß der Kammerdiener wieder einen
+Kammerdiener hätte. Wenn er dann im Vorzimmer nach dem Takte eines
+Tschardas drauf losbürstete, oder wenn er schwermütige Pußtalieder
+sang, da habe ich manchmal ein wenig an der Türe gehorcht. Das Liebchen
+und die Mutter, diese zwei Frauen rangen in den Liedern um sein Herz
+— es war ganz rührend. Der kleine Prinz stand oft bei ihm und hatte
+seinen Spaß, wenn Lajosch sang und die Melodie manchmal lustig mit
+ein paar hüpfenden Sprüngen mittanzte,<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> in der einen Hand die Bürste,
+über die andere den Stiefel gestreift — es war furchtbar komisch.
+Einmal machte er dem Prinzen den Vorschlag, ob sie nicht miteinander
+Sprachstudien treiben wollten. Er möchte von dem Prinzen französisch
+lernen und würde hingegen diesem das Ungarische beibringen. Der Prinz
+ging darauf ein und ich glaube, er hat bei dieser philologischen
+Gegenseitigkeit mehr profitiert als der andere. Doch glaubte der
+Prinz eine Klage verstanden zu haben, die Lajosch in seiner Sprache
+ausdrückte: Nichts sei ihm furchtbarer als die drei Tage in der
+Woche! — Was sind das nur für drei Tage in der Woche? Wir verstanden
+es nicht. Wenn durch den Schloßhof die bärtigen Husaren in ihrer
+schmucken Uniform ritten, und hinaus ins Weite, da konnte Lajosch
+ganz melancholisch werden. Da vergaß er sein Singen und Tanzen, ging
+schwermütig umher und versah mürrisch seinen Dienst. Oft, wenn der
+König vorüberging, blickte er ihm verstohlen nach und einmal will die
+Kammerfrau ihn murmeln gehört haben: Wie beneide ich ihn! Werde ich's
+auch einmal erreichen? Da soll ihr schrecklich unheimlich geworden
+sein. Mit der übrigen Dienerschaft hat er gar nicht verkehren wollen.
+Diese nackten Rundscheiben! Diese Vollmondgesichter! So soll er bei
+sich geknirscht haben, und es hätte ihn der Ekel geschüttelt. Dann
+hat er die braune Gesichtsfarbe verloren und das Feuer in den Augen
+und ist abgemagert und ist immer trauriger geworden. Da fragte ich
+ihn eines Tages: Lajosch, hast du noch eine Mutter? Er antwortete auf
+ungarisch. Hast du Heimweh? Was ist dir, Lajosch? Er brummte etwas und
+wendete sich ab. Gerne hätte ich ihm noch wegen einer unglücklichen
+Liebe auf den Zahn gefühlt, denn nach meiner Überzeugung konnte es
+nur die Liebe sein. Mein Gott, vielleicht wäre dem Braven zu helfen.
+Warum sollte<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> er sein Magyarenmädchen nicht an den Hof bringen? Es ist
+gewiß sehr hübsch. Ich liebe Naturkinder und brauche ein Kammermädchen.
+Aber es war nichts herauszukriegen vom armen Lajosch. Wieder einmal
+hörte man eine Klage über die drei Tage in der Woche. Dann versank
+er ganz in eine stumme Schwermut. Der König sagte, er würde den
+Lajosch weggeben müssen, der Arme müsse krank sein. Dem Arzt, der ihn
+konsultieren wollte, rief er ein ungarisches Fluchwort zu. Dann ging
+er auf sein Zimmer und zertrümmerte den Toilettespiegel. Nun dachten
+wir allen Ernstes an eine Geisteskrankheit. Der arme junge Mensch! Es
+war furchtbar traurig. Dabei war eine so weiche, ich möchte sagen, um
+Hilfe flehende Melancholie in ihm, daß uns allen betrübt zu Mute ward
+und wir uns entschlossen, doch noch eine Weile mit dem Burschen Geduld
+zu haben und recht gütig mit ihm zu sein. Wäre es irgend ein Anliegen
+gewesen, gewiß — hatten wir gedacht — ließe es sich erfüllen. Aber
+eine solche Krankheit — das ist schrecklich. Auch weinen soll man ihn
+einmal gesehen haben, und bei sich jammern, daß es ein Unglück sei,
+wenn er einen solchen Posten verlassen müsse. Aber es sei gräßlich,
+es sei zu gräßlich, das zu ertragen! Die Kammerfrau glaubte nicht an
+Krankheit. Sie meinte, da sei ein Geheimnis dahinter. Mein Himmel, ein
+dunkles, wenn nicht gar blutiges Geheimnis! Ich habe ihn gar nicht mehr
+sehen können, ohne daß mich Grauen anwandelte. Die Entlassung wird
+notwendig werden. Doch habe ich mir vorgenommen, ihn erst noch einmal
+ernstlich zur Rede zu stellen. Da findet sich eines Tages unter den
+eingelaufenen Bittschriften auch ein Gesuch von unserem Kammerdiener
+Lajosch. — Ich merke, die Herrschaften werden aufmerksam,« unterbrach
+sich die Königin. »Sehen Sie, das war ganz mein Fall. Neugierde<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> kann
+man es nicht mehr nennen. Ein Taumel höchster Spannung, unter dem ich
+die unbehilfliche Schrift entzifferte, die schlechte Behandlung der
+Landessprache nicht achtete, um das Geheimnis endlich zu enthüllen. —
+Ich könnte die Herren nun raten lassen. Doch abgesehen davon, daß Sie
+es kaum erraten würden, ist es nicht danach. Ich habe ja gesagt, daß es
+eine tragische Geschichte ist, vielleicht eine tragisch komische — ich
+finde es geradezu packend und das Herz seiner Exzellenz wird am Ende
+doch noch engagiert —«</p>
+
+<p>Denn der General lehnte nachlässig und ziemlich teilnahmslos in seinem
+Fauteuil und drehte seine Schnurrbartspitze.</p>
+
+<p>»Wir brennen, Majestät!« sagte der Graf.</p>
+
+<p>»Meine Herren, nur Geduld! Es wird episch erzählt,« entgegnete die
+Königin. »Man sollte das Schriftstück ja eigentlich vorlesen. Aber
+es ist besser, ich ziehe bloß den Inhalt heraus. Es ist zu rührend.
+Lajosch dankt für die Auszeichnung, ins Schloß aufgenommen worden zu
+sein. Er sagt, so gut wie jetzt ihm, sei es in seinem Heimatskomitat
+noch keinem Menschen ergangen, seit die Welt steht. Nur ein Anliegen
+trage er, es sei vielleicht dumm, aber er könne sonst nicht leben. Beim
+Militär sei er es so arg gewohnt worden und bei ihm zu Hause sei ein
+Mannsbild gar nicht anders denkbar. Gut und Blut wolle er mit Freuden
+opfern für den König, nur um die eine Gnade bitte er; wenn er schon
+bei Hof bleiben dürfe, so bitte er um einen Schnurrbart. Daß er nicht
+wöchentlich dreimal unter das schreckliche Messer kommen müsse, daß er
+einen Schnurrbart tragen dürfe, das sei sein untertäniges Bitten.«</p>
+
+<p>»Einen Schnurrbart?!« Die Gesellschaft brach in ein unbändiges
+Gelächter aus.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span></p>
+
+<p>Die Königin machte eine Gebärde des Mißmutes: »Ich wußte ja, daß Sie
+lachen würden. Mir war nun aber gar nicht ums Lachen. Der arme Bursche
+bittet ja um gar nichts anderes, als um seine Persönlichkeit, um das
+Selbstbestimmungsrecht über sich selbst. Kann man in unserer Zeit
+der Freiheit und der Menschenrechte um weniger bitten? Kann man um
+etwas Selbstverständlicheres bitten, als um sich selber? Um seinen
+Schnurrbart bittet er, der aus seiner eigenen Haut hervorwächst — und
+siehe, <em class="gesperrt">ich kann ihm den Schnurrbart nicht bewilligen</em>. Ich bin
+Königin und habe nicht einmal die Macht, zu sagen: Ja, mein Junge,
+deinen Schnurrbart sollst du haben. Ist das nicht tragisch? Ist es
+nicht lächerlich tragisch? Wir regieren die Völker, und den Sitten
+unseres Hauses gegenüber sind wir ohnmächtig. Hofetikette! Die Diener
+haben stets in vorgeschriebener Livree und glatt rasiert zu erscheinen
+— punktum. Welche Palastrevolution, wenn der König entschieden hätte:
+Lajosch, dir ist gestattet, den Schnurrbart zu tragen! Nach einem
+Monat prangten alle Diener in Schnurr-, Backen-, Spitz- und weiß der
+Himmel was für Bärten. Was bliebe dem König übrig, als sich den Bart —
+rasieren zu lassen! Es ist ja ein Unding und man kann's nicht ändern,
+man kann nicht. Wahrlich, diese Bartgeschichte des armen Lajosch hat
+mich sehr demütig gemacht. Wir, die sogenannten Mächtigen, in welchen
+Fesseln wir liegen! Spinnengewebe und doch unzerreißbar, so lange wir
+der Vorurteile nicht Herr werden können.«</p>
+
+<p>»Wenn ich mir eine Bemerkung gestatten dürfte,« sagte mit einer
+Verneigung der Professor.</p>
+
+<p>»Die kann ich nicht zulassen!« rief halb ernsthaft, halb humoristisch
+erregt die Königin. »Um höfische Torheiten zu schützen, muß ich die
+Zensur verhängen. Denn ich weiß,<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> was sie sagen wollen, Professor. Sie
+wollen sagen, der König habe gottlob doch noch andere Eigenschaften, um
+sich von den Lakaien zu unterscheiden, so daß er für sich wie für jeden
+andern die Bartfreiheit unbedenklich gestatten könnte. Dem Könige eines
+freien Staates gezieme es, von freien Männern umgeben zu sein, selbst
+in seinem eigenen Hause, so daß das Volk sehe: im persönlichen Dienste
+des Königs zu stehen sei Rittersart, aber nicht Lakaienart. Das wollten
+Sie sagen!«</p>
+
+<p>»Ei doch nein, Majestät, so weit hätte ich mich nicht erdreistet —«</p>
+
+<p>»Ich bitte Sie, Professor, Sie sind zufällig glücklicher Besitzer Ihres
+Schnurrbartes — behalten Sie ihn oben und gestehen Sie offen Ihre
+Meinung.«</p>
+
+<p>»Nun allerdings, wenn auch nicht ganz so geradeweg, ungefähr allerdings
+hatte ich mir so gedacht. Mir fällt nur noch ein, daß man — anstatt
+den Schnurrbart bis auf das »Es ist erreicht« aufzustrammen — auch
+sagen könnte: Wenn einer, so sollte der König bartlos gehen, weil er
+der erste — Diener des Staates ist.«</p>
+
+<p>»Das nenne ich Schnurrbart!« lachte die Königin.</p>
+
+<p>Die Königin-Mutter hatte diesem Gespräche anfangs mit freundlichem
+Kopfnicken, nun aber mit einiger Unbehaglichkeit zugehört. Sie war auf
+Besuch im Schlosse und der freie Ton, der hier herrschte, war ihr neu
+und befremdlich. Sie warf nun die ablenkende Frage ein, ob der arme
+Lajosch sich getröstet habe.</p>
+
+<p>»Nein, teuere Mama,« antwortete die Königin, »der hat sich nicht
+getröstet. Wir haben uns trösten müssen. Als er merkte, daß sein
+Bittgesuch unberücksichtigt bleibe, hat er kurz und höflich den Dienst
+gekündigt. Noch nie habe ich<span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span> einen Diener so ungern ziehen sehen als
+diesen, der seine Existenz dem Schnurrbart opferte.«</p>
+
+<p>»Dem Manne kann geholfen werden,« sagte nun der General. »Ich
+rekrutiere ihn neuerdings zum Heere. Dort muß der Mann — sozusagen
+— zwar auch manchmal Haare lassen, doch der Schnurrbart bleibt ihm
+stehen.«</p>
+
+<p>»Ich wußte es ja, General, daß Ihr Herz engagiert wird. Und Sie werden
+ihn doch gleich wenigstens beim Hauptmann anfangen lassen?«</p>
+
+<p>»Das allerdings, Majestät, dürfte sich schwer machen lassen. Es rückt
+alles nach der Rangordnung.«</p>
+
+<p>»Auch im Fall, daß einmal Verdienst und Tüchtigkeit —?«</p>
+
+<p>»Alles stets nach der Rangordnung, Majestät.« —</p>
+
+<p>Als der Zerkle aufgehoben war, die Gäste vor der Königin ihre
+gebührende Reverenz gemacht hatten und davongegangen waren, trällerte
+der Professor, auf der Straße dahinschlendernd: »Trallala, trallala!
+Rangordnung! Stehen die Haare vorne, so heißen sie Schnurrbart, stehen
+sie hinten, so heißen sie Zopf — trallala, trallala!«</p>
+
+<p>Daß nun der General die Allerhöchste Protektion unberücksichtigt ließ,
+das hielt er für Schnurrbart, war in diesem Falle aber — Zopf.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Einsiedler">Die Einsiedler.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Vom alten Hofe des Plattenbauer auf der Hohe steigt ein junges
+Frauenzimmer talwärts gegen die Grazerstadt. 's ist ihr schon seit
+etlichen Jahren vorgegangen, sie müßt' ins Kloster gehen. 's ist
+nichts, weltlicher Weise, 's freut sie nichts mehr, so lustig sie
+früher einmal ist gewesen. Bauernweis' ist allerweil arbeiten, aber
+der Mensch kann nicht genug beten. Immer ist ihr auch nicht so zu Mut
+gewesen. Aber — die lieben Leut' laufen davon oder sterben ab.</p>
+
+<p>Abgestorben ist ihr Vater vor zwölf Wochen und jetzt hat sich's
+herausgestellt, daß sie ihrem Wunsch kann nachgehen. Zweihundert
+Gulden und noch was dazu hat sie Erbschaft. Jetzt hindert sie nichts
+mehr daran, sie kann in's Kloster gehen. Aber wie fängt man das lauter
+nur an? In der Grazerstadt gibt's ja Klöster genug, um den ganzen
+Schloßberg herum. Doch sie sagen, der Kaiser wollt' sie abstiften. 's
+wird nicht wahr sein, so grob wird er doch nicht sein. Wer schon einmal
+drin ist, wird ja sitzen bleiben dürfen. Aber wie hineinkommen? Halt
+aufnehmen werden sie niemand mehr wollen. Frauenkloster natürlich!
+Einen Bekannten wüßt' sie wohl, der sie könnt' weisen und der's gewiß
+auch gerne tät, weil er selber auch ist in die Buß' gegangen. Aber mein
+Eid, wo wird dieser Mensch zu finden sein. In einer Schloßberghöhle,
+hört man, soll er Einsiedler sein. Aber Schloßberghöhlen gibt's viele
+und in etlichen, sagen sie, täten Räuber hausen. Da kann ein schwach
+Weibsbild doch nicht gehen suchen. Daheim die Knechte haben eh schon
+g'lacht. Daß man's nit tät wissen, ob der<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> Markel ein Einsiedler sei
+worden oder ein Räuberhauptmann. 's ist nur G'spött, weiß doch jeder,
+daß es dem Markel um den Himmel geht und nit um die Höll. Wenn er die
+Höll' hätt' wollen, hätt' er auch in Rinneg verbleiben können und ich
+hätt' leicht Ursach' sein können; nein, vor dem hätt' ih mich nit lang
+mögen derwehren. Aber jetzo, wenn er in der haarenen Kutten steckt —
+und die Raben werden ihm mit dem täglichen Brot auch nit gar zu ratlich
+(reichlich) sein — da wird er schon frumm Lampel worden sein. Der
+kunnt mir freilich raten, der Markel. Wills halt doch probieren, ob ich
+ihn find.</p>
+
+<p>Das waren der Maid trautsame Gedanken, als sie herabstieg von der
+Plattenhöhe. Ein gesund Bröckel Weibsbild war's: wie alt, wie schön,
+das weiß man nicht genau. Sie hatte einen Stecken bei sich und um die
+Faust, in der sie ihn hielt, einen Rosenkranz gewunden, da war sie
+doch wehrhaft genug. Im Mariagrünerwald sah sie einen Hasen; er war
+vor ihr über den Weg gelaufen — von links nach rechts. Das hat was zu
+bedeuten. Bei den Elisabetherinnen wird sie aufgenommen — sicherlich.
+Lauf' nur, lauf' Has', daß dich der Jäger nit derwischt! Um dich
+wär's schad. Oder gar bei den Ursulinerinnen! Wenn sie fromm ist und
+zweihundert Gulden mitbringt! Aber sie kennt sich nit aus in der großen
+Herrenleutstadt. Ein einzigesmal ist sie drinnen gewest mit Milch. Hat
+ihr einer's Geld herausgelogen. Seitdem nimmermehr. Ganz schlechte Leut
+und ganz gute Leut sind bei einand in so einer Stadt. Achtgeben muß man.</p>
+
+<p>Ein Obersteirer begegnet ihr, oder wer er ist. Just so gewandet mit der
+ledernen Kniehose und dem grünen Hut. Der lange schwarze Backenbart
+dazu, der steht nit gut. Da tät ehenter ein Schnurrbartel gehören.
+— Wie er vorbei<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> ist, wendet die Maid sich um und schaut ihm nach.
+Der, wenn er nit so ein Bauerngewand tät anhaben. Den möcht' eins für
+den Mariagrüner Waldbruder halten — so ähnlich ist er ihm. Den kunnt
+sie eigentlich auch aufsuchen, den Waldbruder. Nein, da geht sie doch
+lieber zum Markel, mit dem ist sie besser bekannt. Lachen wird er
+schon, der, daß sie jetzt auch so was Heiliges will werden.</p>
+
+<p>Wie sie über den Rücken des Rosenberges hinausgeht, sieht sie schon den
+Schloßberg. Der steht mitten auf aus der Eben' — wie ein Heuschober,
+vergleichsweise. Und um und um die Laster von Häusern. Hoch auf dem
+Berg steht ein großes Schloß, viel Spitztürme und graue Mauern. Der
+steile Berg ist nackend über und über und lauter Steinwänd' und Löcher
+hinein. Dort, in einer solchen Höhl' wird er hocken, der Markel, und
+bußwirken. Aber nirgends ein Weg hinauf, man sieht keinen. Die Straßen
+zum Schloß ist auf der anderen Seiten. Jetzt läutet die Liesel<a id="FNAnker_1" href="#Fussnote_1" class="fnanchor">[1]</a> — 's
+ist Mittag, die Maid steht still und betet den Englischen Gruß.</p>
+
+
+Fußnoten: <div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_1" href="#FNAnker_1" class="label">[1]</a> Name der großen Glocke auf dem Grazer
+Schloßberg.</p>
+
+</div>
+
+
+<p>Nachher steigt sie den Steig hin bis zu den Häusern. In einer Krämerei
+fragt sie an, ob man nichts wisse von einem Einsiedler Markel; am
+Schloßberg soll er seine Höhl' haben!</p>
+
+<p>»Wird's halt derselbig sein, der Markarius heißt und den Leuten die
+Schwindsucht kann abbeten. Schau hinauf einmal, dort zwischen den zwei
+Steinwandeln, siehst das schwarze Loch? Dort is er drinnen.«</p>
+
+<p>Denkt sie sich: Ist eh merkwürdig genug, daß ein Landmensch in die
+Stadt geht, um Einsiedler zu werden. Aber da oben, das glaub' ich,
+da bleibt er freilich hübsch allein. Möcht' schon wissen, wie ich da
+hinaufkomm'!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span></p>
+
+<p>Zur selbigen Stund' ist es gewesen, daß der fromme Einsiedler Markarius
+seine Lodenkutte sich vom Leibe reißt und heftig in den Winkel
+schleudert: »Jetzt soll dich schon der Teufel holen — hätt' ich bald
+gesagt!«</p>
+
+<p>Lodenhosen hat er noch an, die gehen ihm bis unter die Achseln hinauf.
+Hemed keins, mit nackten Armen steht er da, schier glatt und weiß.
+Oft scheint die Sonne nicht drauf. Ist's doch das allererstemal, daß
+er tagsüber seine Kutte wegschmeißt. Aber das Gesicht voller Haar.
+Der Kopf geschoren wie ein Schaf zu Micheli. Die Kapuze hängt an der
+weggeschmissenen Kutte.</p>
+
+<p>Was ist denn das? Über dem Steinwall schaut ein Weiberkopf her. Auf
+allen Vieren ist sie emporgeklettert und ist rot im Gesichte und
+schnauft:</p>
+
+<p>»Markel!«</p>
+
+<p>»Katzl!«</p>
+
+<p>»G'funden hab' ich dich!« lacht sie auf. »Aber jetzt mußt dein' Rock
+anlegen.«</p>
+
+<p>»Die Kutten meinst. Die leg' ich nimmer an, mein liebes Katzel!«</p>
+
+<p>»Wir dürfen ja kein Fleisch mehr anschau'n. Denk dir Markel, ich auch.
+Ich will ins Kloster!«</p>
+
+<p>»Du?« sagt er. Dann patscht er mit den flachen Händen auf seine
+Schenkel: »Du ins Kloster?!« Und lacht hell heraus.</p>
+
+<p>»Wenn du ein frommer Einsiedler bist worden!« erinnerte sie vorsichtig.</p>
+
+<p>»Bins ja nimmer!« rief er und hob ein Papier auf, das im Schutte lag.
+»Da les'!«</p>
+
+<p>»Mein Gott, wie kann denn ich lesen!«</p>
+
+<p>»Der Kaiser hat mir schreiben lassen. Uns allen, uns Klosterleuten
+und Eremiten. Sollten schauen, daß wir<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> weiterkommen, Faulenzer
+kunnt er nit brauchen. Alles aufgehoben. Nur die schulhaltenden und
+krankenwartenden Klöster hat er ausgenommen. Den Mariagrüner-Bruder
+sollen's auch schon abgesetzt haben. Ist aller Einsiedler um Graz
+Oberhaupt gewest.«</p>
+
+<p>»Jesses, ich hab's Haupt ja laufen sehen.«</p>
+
+<p>»Was für ein Haupt?«</p>
+
+<p>»Nau, euer Oberhaupt. Ist schon im Steirerg'wand g'west.«</p>
+
+<p>»Wird mir auch nix anderes übrig bleiben. Wenn ich in drei Tagen nit
+weg bin von da, so kommt der Wachter. Les' nur, da steht's.«</p>
+
+<p>»Was sagst denn, Markel!« schrie sie auf. »Ja, nachher wär's bei mir
+auch nix. Schulhalten kann ich nit, krankenwarten mag ich nit.«</p>
+
+<p>»Und mir gehts auch nit anders. Heut' steig' ih noch auffi, da ins
+Gschloß und red mit dem Guferneer!«</p>
+
+<p>»Red' für mich auch. Wenn ich nu wieder müßt' heimgehen zum
+Plattenbauer! Hab'ns dich nit brauchen können! möchtens sagen, und das
+G'lachter! — Na, heim geh' ich nimmer. Ein bissel ein Kloster wird
+doch noch wo übrig bleiben für unsereins. Ich zahl' ja mein' Sach' und
+mein Beten und Fasten und Frommsein wird doch niemand irren. Geh',
+Markel, tu' anfragen. Im Kapuzinergraben wart' ich, bei der Kirchen.«</p>
+
+<p>So tat der Eremit Markarius seine alte Bauernjoppen wieder an und den
+schwarzen Strohhut mit dem breiten Dach und ging hinauf ins Schloß, um
+sich zu beschweren. Bis zum »Guferneer« kam er zwar nicht vor, aber der
+Schreiber in der Kanzlei hat ihn ins Gebet genommen. »Ja, mein Lieber,«
+sagte der, »jetzt ist eine andere Zeit, jetzt heißt's arbeiten. Unser
+Kaiser Josef ist der erste Arbeiter<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> im Reich, der kann die Müßiggänger
+schon einmal gar nicht leiden, und sollten sie noch so fromm sein.«</p>
+
+<p>»Herr Amtmann,« antwortete der Bruder Markarius, »wenn unsereiner
+einmal nit mehr fromm sein darf, dann wird einer ein schlechter Mensch
+und tut Leut' ausrauben!«</p>
+
+<p>»Und wenn einer Leut' ausrauben tut,« antwortete der Schreiber in
+gleichem Ton, »dann lassen wir ihn henken.«</p>
+
+<p>»Beileib' nit,« sagte der Einsiedler und zog sein bärtiges Gesicht ins
+Lachen, »kein schlechter Mensch, das mag ich dennoch wohl nit werden.
+'s ist nur so ein G'spaß gewest. Halt anfangen, wenn ich wüßt, was ich
+jetzt sollt!«</p>
+
+<p>Hat der Schreiber mit den Achseln gezuckt:</p>
+
+<p>»Sollt' ich etwan dem Kaiser nach Wien nachlaufen und fragen, was alle
+die Leut', die er aus den Klöstern und Höhlen verjagt hat, jetzt machen
+sollen? Arbeiten soll'ns. Gestern hättet Ihr auf der Triesterstraße
+ganze Scharen von Klostergeistlichen wandern sehen können, etliche noch
+in der Kutte, die andern schon in ihrem weltlichen Gewand und auf dem
+Buckel Zegger und Binkel. Die einen taten laut Rosenkranz beten, die
+anderen greinen und lachen, und gejuchzet haben ihrer auch ein paar,
+daß sie wieder in der lustigen Welt taten sein. So sind sie fort.
+Loschament und Arbeit suchen, wo sie sie halt finden. Euch kann ich
+auch nichts anders raten. Fleißig arbeiten, vor der Arbeit eins beten,
+nach der Arbeit eins juchzen, so wirds dem Kaiser am liebsten sein und
+dem Herrgott auch.«</p>
+
+<p>Mit diesem Bescheid hat der Bruder Markarius wieder gehen können.
+Unterwegs in den Kapuzinergraben wollte er bei dem Eck-Kramerstandel
+für das Katzerl einen Wecken kaufen. Etliche Pfennige hatte er noch in
+der Wilflingjacke gefunden. Aber das Standel war heute geschlossen und
+die<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> Kramerin war gestorben am Tag zuvor. Bleibt er stehen, denkt nach
+und geht weiter.</p>
+
+<p>Vor der Kirche steht sie.</p>
+
+<p>»Bist da, Katzerl?« ruft er ihr zu. »Ist's dir recht, daß ich alleweil
+noch Katzerl zu dir sag'?«</p>
+
+<p>»Wennst schon Katherl ganz und gar nit kannst sagen, muß es mir wohl
+recht sein. Magst's Katzerl derleiden, mußt auch 's Kratzerl derleiden.«</p>
+
+<p>»Will dich Katherl nennen. Ist eh ein schöner Nam'! Weil wir zwei itzo
+allein dastehen und zusamm'halten müssen.«</p>
+
+<p>»Was hat er denn gesagt, der Guferneer?« fragte die Maid.</p>
+
+<p>»Nix. Bin nur bei seinem Schreiberknecht gwest.«</p>
+
+<p>»Und was hat der gesagt?«</p>
+
+<p>»So viel wie nix. Das hätt' ich selber auch gewußt, daß 's jetzt
+arbeiten heißt. Wenn ich ein bissel Geld hätt'! Da enten beim
+Wildkästenbaum ist eine Kramerin g'west. Die ist gestorben. Das Standel
+möcht' ich gleich, da wollt' ich drauskommen. Kein schlecht's Platzl
+beim Kästenbaum, gehen drei Straßen z'samm!«</p>
+
+<p>Da sagte sie ihm nahe ans Ohr: »Ein bissel Geld hätt' ich.«</p>
+
+<p>Und ist's also geworden. Sie haben sich das Kramerstandel erworben,
+haben gehandelt mit Wecken, Bockshörndln und Feigen, mit heilsamen
+Wurzeln und Kräutern und anderlei guten und nützlichen Dingen. Drüben
+in Geidorf haben sie sich zwei Wohnungen genommen; denn das stand
+fest, hatten sie auch das Geschäft gemeinsam, persönlich wollten sie
+Einsiedler sein und verbleiben. Und die zwei Wohnungen sind gleim
+nebeneinandergestanden. Die Tür dazwischen war fest zugesperrt. Hat
+sich also jedes in seiner<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> Stuben ein Altarl aufgerichtet an dieser
+Tür und hielt jedes für sich seine Vesper ab jeden Abend, so daß es
+war, als stünden zwei Klöster nebeneinander, ein Mannskloster und ein
+Frauenkloster. Und just an der Verbindungstür, damit sie nicht konnte
+aufgemacht werden, hatten sie ihr Altarl errichtet, sie herüben, er
+drüben. Und wenn sie davor knieten bei der Vesper, so knieten sie
+eigentlich voreinander, und ob die Andacht just immer am Altar haften
+blieb und nicht bisweilen durchs Türholz ging, das getraue ich mir
+nicht zu entscheiden.</p>
+
+<p>Beträchtlich klostermäßig ging es auch im Kramerstandel her. Das
+einemal saß der Markel drin, das anderemal die Kathel; beisammen nie,
+hätten auch schwer Platz gehabt. Die Preise waren christlich, maßen sie
+sich mit wenigen Pfennigen Gewinn begnügten im Erdentag. Ging ein armes
+Weibel vorbei, so erhielt es wohl gar den Wecken umsonst; schnaufte
+ein alter Mann daher, so schenkte ihm der Markel eine Gamswurzel, so
+für schweren Atem heilsam ist. Das alles sah sich gar erbaulich an
+für die Nachbarschaft, und dennoch ist der Spott laut geworden über
+das Einsiedlerpaar. Ein Schustergeselle erdreistete sich, das alte
+Volksliedel für den Markel umzubiegen:</p>
+
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">»Der Mann auf dem G'wänd</div>
+ <div class="verse indent0">Hat die Kutten verbrennt,</div>
+ <div class="verse indent0">Hat die Beten verschmissen,</div>
+ <div class="verse indent0">Ist dem Dirndl nachgrennt.«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+
+<p>Ob solcher Kränkung wollte der Markel sich doch einmal gründlich
+verteidigen bei der Kathel, und eines Abends begann er das Altarl
+wegzuräumen, das an der Verbindungstür stand. Sie aber räumte das
+ihre derweil noch nicht weg, versuchte vielmehr den Schlüssel, ob er
+wohl sicher umgedreht war. Er war nicht umgedreht, die Tür war nicht
+verschlossen,<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> was die Kathel für ein Mirakel hielt, weil sie sich
+alle Abend von dem Gegenteil überzeugt hatte. Fest glaubte sie das
+erstemal noch nicht dran; aber wenn das Mirakel ein zweites- und gar
+ein drittesmal geschehen sollte, dann müßte sie dem Altarl schon einen
+andern Platz anweisen. Aber wo ist der »Geistler« dazu?</p>
+
+<p>Zur Zeit war der Markel viel auswärts und stieg mit Krampen und
+Kräunzen auf dem Plawutsch oder auf dem Geierkogel herum, oder gar auf
+dem hohen Schöckelberg, um heilsame Wurzeln und Kräuter zu sammeln,
+weil er sich bei derlei wohl auskannte. Solche Waren wurden von den
+Käufern auch belobt. Aber der Pfarrer vom Kapuzinergraben blieb eines
+Tages stehen vor dem Standel und fragte deutsam an, ob da nicht auch
+ein Kräutel für den Tod zu haben sei?</p>
+
+<p>Bisher, antwortete der einfältige Markel, hab' er so eins noch nit
+gefunden.</p>
+
+<p>»Nun also, wenn du weißt, daß du sterben mußt, was lebst denn nachher
+mit dem Kebsweib? Kommst ja in die Höll' mit ihr!«</p>
+
+<p>Der Kramer verstund' die Lehr' nur zu halb und am Abend räumte er das
+zweitemal sein Altarl weg, um die Kathel fragen zu gehen, wie die
+Ansprach' wohl gemeint sein könne? Aber der Schlüssel war umgedreht. —
+Ihr alter Brauch; ganz nach dem Sprüchel: »Schmecken laßt sie, anbeißen
+nit.«</p>
+
+<p>Und ereignete es sich dann, daß der Markel von seinen Bergwanderungen
+einmal mehrere Tage lang nicht zurückkehrte. Zwei Tage war er öfter
+schon ausgewesen, aber drei Tage noch nie und jetzt fiel es der Maid
+aufs Herz, wie die wahrhaftige Einsiedelei ganz und gar nicht zu
+ertragen sei. Am vierten Tage kam er. Die Kräunzen voller Krautwerk<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span>
+und den Mund voller wundersamer Berichte. — Er sei weiter hinteri
+gegangen, ganz hinteri ins Gebirg. Was es da für Wildnis gibt überall!
+Wald soweit das Aug' tragt. Und mitten auf steht er. <em class="gesperrt">Das</em>
+ist ein Steinberg! Da ist der Schloßberg wie ein Schotterhäuferl
+dagegen. Wundershalber steigt er hinauf, schier einen ganzen Tag. Und
+oben Arnika, ganze Wiesen voll zwischen den Steinen. Und Speik und
+Gamswurzeln und sonst Wurzelwerch allerhand. Und ist er über einem
+schaudervollen Gewänd gewest, wohl wie zwanzig Kirchtürm so hoch,
+und kirchturmsteil nieder ins tiefe Tal. Ist aber so ein Gamssteig
+zwischen den Wänden niedergangen und denkt er sich: Vielleicht sogar
+Edelweiß! und knorzt hinab ins Gewänd soweit er kann, und wo erst der
+schauderhaft Abgrund anhebt. Und findet unter der Wand ein eben Platzl
+und ein Wasserbründel, und darüber ein Bildnis: Unser' liebe Frau! —
+Fallts ihm ein: Hier ist das recht Ort für einen Einsiedler! In der
+Grazerstadt tun's eh alleweil spötteln. Was gilts, er packt z'samm,
+nimm sein Katzl und geht hinauf in die Felsenwildnis! Ein Hüttel sei
+leicht gebaut, habe sich das Fallholz und die dicken Baumrinden schon
+ausgeschaut. Kein Mensch hätt' ein' festere Burg.</p>
+
+<p>So lang und so viel erzählt er und macht alles so gut, daß die Kathel
+zuletzt sagt: Ihr sei's schon bald recht auch. Hätt' man sich das fromm
+Leben schon einmal vorgenommen — dort oben gibts keine spöttelnden
+Leut', und dem Kaiser seine Hand wird wohl auch nit so lang sein. —
+Ob sie nit vorher der Geistler sollt' zusammentun allzwei, fällt ihr
+ein; und lacht sich auch schon darüber aus: Verheiratete Einsiedler!
+Ein bissel ein' Anfechtung macht ja nix. Wo wär' denn das Verdienst,
+wenn's kein' Anfechtung nit hätt! — Geht in ihre Kammer und versucht
+den Schlüssel, der ist in Richtigkeit.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span></p>
+
+<p>Und eine Woche nachher: Die Waren haben sie teils verkauft, teils
+verschenkt und wie das Standel leer ist, rucken sie sich ihre Kräunzen
+mit Gewand und Werkzeug auf den Buckel und wandern ab. Einen Tag lang
+auf der Straßen der Mur entlang ins Gebirg. Dann rechterhand in eine
+Schlucht, und dräuen die Wänd schon himmelhoch herab, daß der Maid ein
+Schauder durch den Leib geht. Begegnet ihnen ein Halter, hat statt der
+Gert eine Flinten und sagt, sollten sich in acht nehmen vor Wölfen und
+Bären.</p>
+
+<p>»Hat mich keiner g'fressen, frißt mich keiner!« ruft der Markel — und
+nachher halt anwärts, steil, durch Strupp, über Gefäll und Gestein. Mit
+ehrfürchtiger Freud sieht es die Kathel, wie in der Wildnis überall
+der Tisch ist gedeckt. Erdbeeren, Heidelbeeren, Himbeeren, Pilze und
+Tierwerch zu fangen überall, wer geschickt ist. Und überall frisches
+Wasser, und ein Brunnen ist, der fällt so dick wie ein Startinfaß viele
+Klafter hoch herab und ist's kein Rauschen mehr, ist's ein Krachen, daß
+man sein eigen Wort nicht versteht.</p>
+
+<p>Mit harter Plag sind sie endlich oben auf der wüsten Höh'. Die
+Kathel muß sich die Augen verhalten, so packt sie der Schwindel, wie
+sie in die Tiefen will schauen. Da ins G'wänd soll sie hinab? Das
+Gamssteigel, wo sie nachher nit weiter kunnt und nit mehr zurück! —
+Just einmal probieren! sagt der Markel und führt sie niederwärts in
+die schauderlich Felswand, bis zum Platzel, wo das Bildnis ist und das
+Brünnel in eine Steinschale tut rinnen.</p>
+
+<p>Gott wird's mit Willen gemacht haben, daß es zurzeit wochenlang ist
+schön geblieben und warm Tag und Nacht. Jedes in einer andern Felskluft
+hat geschlafen auf Moos und des Tags haben sie gesammelt und gebaut
+an der Klause bei dem Brünnlein. Also, da lehnt die Hütte an der
+überhängenden<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> Wand. Eine Rindentür hat sie und zwei Fensterlein und
+einen Steinblock zum Tisch und zwei Holzblöcke zum Sitzen und eine
+Steingrube für das Herdfeuer und zwei Lager aus Bergheu und Moos. Und
+an der Wand zwei Baumäste gequert zu einem Kreuz. Die Vorratskammer
+ist draußen in einer Felsspalte, und hätten sie denn alles beisammen,
+was der Mensch braucht, um so lang zu leben, bis er selig ist. —
+Seligwerden, das ist beider ernsthaftes Fürnehmen.</p>
+
+<p>»Sie taten beten und arbeiten,« heißt es von den beiden Menschen in
+einer Chronik zu Breitenau. Und ist derselben zu entnehmen, daß sie
+allerlei wilde Früchte sammelten, daß sie aus Kraut und Wurzeln und
+manchen Beeren einen »Geist« haben gebrannt, mit dem der Markarius
+zeitweilig in den umliegenden Tälern hausieren ist gegangen. Auch
+sollen sie Wallfahrern, die weit her zum Bildnisse »Unserer lieben
+Frau« auf den Berg gekommen, mancherlei Dienste geleistet und
+Stärkung gespendet haben. Etliche Zeit der Einsiedler soll bitter
+hart gewesen sein. Es ist nicht gemeint die kalte Winterszeit, da sie
+monatelang eingemauert waren mit Schnee und den unbändigen Alpenstürmen
+preisgegeben. Es ist nicht gemeint der Mangel mancher Lebensmittel
+und es ist auch nicht gemeint die Bedrängnis, wenn eins krank war
+oder Steinlawinen sie bedrohten. Ein anderes Bedrängnis war's, das
+ihnen bisweilen bitterhart hat zugesetzt. Da ist der Markarius wohl
+aufgestanden in der Nacht und hinausgegangen zur Quelle, um kaltes
+Wasser zu trinken. Und wenn er, von Frost geschüttelt, in die Hütte
+zurückgekehrt und auf seinem Lager zur Ruhe gekommen war, stand die
+Kathel auf und ging auch hinaus, um zu trinken. Einsiedler sein, meint
+besagte Chronik, sei nicht das härtest', aber sotane Zweisiedler sein
+und gleichwohl Einsiedler verbleiben<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> wollen, das sei vergleichbar
+einem Fegefeuer, wo ein Mensch all' Sündhaftigkeit könnt' löschen.
+Und hätten es nicht erzwungen, wenn der heilige Brunn' nicht wär
+gewest, also, daß der Gnadenquell sich geoffenbaret. So haben sie das
+Klosterleben, als davon sie vertrieben worden, auf hohem Birg streng
+geführet, als Zeugnis, was möglich ist an starkem Willen. Sind aber
+sonder Rast gewest und ist solchen Anachoreten das Fleisch abgefallen
+von den Knochen, und doch ein Augenlicht, brennend und begehrend,
+so daß sie angefangen, sich voreinander zu fürchten. Und ist dem
+Einsiedler die heilige Jungfrau erschienen und der Einsiedlerin der
+heilige Jüngling Aloisius. Und haben die Anachoreten vor Verzückung
+einander mit Wacholdergerten gegeißelt bis aufs Blut.</p>
+
+<p>Einer der Ortskundigen will aber dieser Schrift nicht Glauben
+schenken; sie sei aus einer alten Sagung gezogen und zum Spott auf
+die Leutlein oben am Schüsserlbrunn angewandt worden. Wahrheit sei
+vielmehr solches: Eines Tages seien die zwei herabgekommen zum Kuraten
+von Sankt Erhard und hätten lachend erklärt, die Sach' tät ihnen auf
+die Läng zu dumm werden. Gar jung seien sie freilich nicht mehr, aber
+auszahlen tät sich's vielleicht noch alleweil. Sie hätten einmal
+ernsthaftig Einsiedler werden wollen, jedes für sich, seien nachher der
+Umstände wegen Zweisiedler worden. Und jetzo möchten sie halt wiederum
+Einsiedler werden, ein einziger, aus zweien einer. Aus ihrer zwei eins
+machen, wenn er so gut wär'.</p>
+
+<p>Der Kurat war schon einer von solchen, die man später Josefiner genannt
+hat. Er sagte also: »Leutlein, das ist gescheit. Eins in der Gesinnung
+und in der Lieb', das ist eine gar heilsame Einsiedelei.«</p>
+
+<p>Und lacht die Kathel auf: Was sie doch einfältig wär'!<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> Solang' hätt'
+sie sich vor dem Geistler gefürchtet und jetzo tät sich das so leicht!
+— Der Wochen zwei und sie sind eins gewesen.</p>
+
+<p>Aus einem solchen Eins kommt gerne noch Eins. An drei Jahr' später
+ist's, an einem Hochsommermorgen, hält der Markari ein blondhaarig
+Bübel auf dem Arm. Das Bübel juchzet und schlagt die Ärmelein
+auseinand, als wollt' es den Sonnenball auffangen, der dort hinter den
+Bergspitzen aufsteigt. Und sagt der Vater: »Kerl, kleiner! Schau sie
+nur an. Wo sie aufgeht, dort weit hinterwärts ist die Wienerstadt. Und
+dort ist der Kaiser daheim. Und wenn der nit wär g'west, tätest du
+jetzt freilich kaum juchezen auf derer Höh'!«</p>
+
+<p>Zur Zeit ist anstatt der schlechten Klausen schon ein besseres Häuslein
+fertig gewesen und daneben ein Ziegenstall und daneben eine Kapelle mit
+Turm und Glöckel. Und die Wallfahrer, wenn sie von Schüsserlbrunn heim
+sind gekommen, haben erzählt von den guten Leutln, die mit gar Geringem
+so glückselig leben da oben auf wildem Birg. Also daß wir ohn' Sorg und
+Kümmernis können von ihnen scheiden.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Ein_Wildling_Christi">Ein Wildling Christi.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Gregor, der Hirtenhauser auf der Niederalm, hatte nun glücklich
+abgewirtschaftet. Das zerlemperte Gütel hatte er seiner Tochter
+übergeben, diese ihrem Mann, und der Alte hatte sein Ziel erreicht —
+er war der irdischen Sorgen und Güter frei geworden und konnte sich den
+himmlischen Freuden hingeben, mit denen er längst umgegangen, die ihm
+das kindliche Gemüt bewahrt, aber ihn um Haus und Vieh gebracht hatten.
+Er war ihnen dafür dankbar. Wozu braucht der Christenmensch solche
+Sachen! Hat der Apostel Jacobus ein Haus gehabt? Oder der heilige
+Joseph ein Vieh? Man liest nichts davon. Dach findet der Mensch,
+dessen Hut der Himmel ist, überall. Und wo er um einen Löffel Suppe
+zugesprochen, da hatte er stets auch die Brocken dazubekommen. Der
+Gregor war ein kluger Mann, doch benutzte er seine Klugheit nicht, um
+zu gewinnen, was Sorgen macht, vielmehr um die Sorgen und ihre Ursachen
+zu verlieren. Sein Lebtag war's ihm nicht so gut ergangen, denn jetzt
+als Bettelmann. Bettelmann? Ein Mann Gottes wollen wir werden, wenn
+uns nicht etwa die Demut abhanden kommt. Des Frommen größte Gefahr, er
+fürchtete sie, ist heimliche Hoffart.</p>
+
+<p>Der Halter-Gregl, wie er genannt war, hatte für sein gottseliges Leben
+einen besonderen Hinterhalt, an den er sich aber bisher nicht gelehnt.
+Sein einziger Bruder war Ordenspriester im Stift Hubertusbrunn. Seit
+der Gregl damals brieflich angesucht hatte, als Laienbruder in das
+Kloster eintreten zu dürfen und ihm vom Abte die Antwort zurückgekommen
+war, er möge nur hübsch bei seinem angestammten<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> Beruf bleiben und
+die Arbeit auf Wiese und Feld zur Ehre Gottes verrichten, das wäre
+für ihn gescheiter als das Kloster — seit dieser wunderlichen, ganz
+unpriesterlichen Antwort wollte er mit Hubertusbrunn nichts zu tun
+haben. Nun war's aber in diesem Stifte anders geworden. Und schon wie
+anders! Der alte Abt war gestorben, und Gregors Bruder, der Pater
+Dominikus, war zum Prälaten gewählt worden.</p>
+
+<p>Ob man in der Gegend der Niederalm umherbettelt, wo es doch immer nur
+in der Runde geht, oder einen mehr geraden Weg nimmt, den Häusern der
+Straße entlang — für die alten Beine bleibt das gleich. Weiter kommt
+man aber auf gerade Art. Und kommt wohl gar bis Hubertusbrunn. Ob die
+Herren dort die Klostersuppe einem wildfremden Menschen vorsetzen, oder
+dem alten Bruder des Prälaten, das wird für Kloster und Suppe auch
+gleich sein. Ihm, dem Gregl, wäre doch damit gedient, daß er endlich in
+den Mauern des Gebets, der Betrachtungen und der guten Werke für seine
+letzten Lebenstage könnte Unterschlupf finden.</p>
+
+<p>Also hat der Halter-Gregl seinen Sack genommen und seinen Stecken, und
+ist barhäuptig, wie er stets gewesen, straßab und talaus gegangen,
+bis er am dritten Tage im weiten fruchtprangenden Talkessel auf einer
+Anhöhe stolz und herrlich das Gebäude ragen sah. Es war nicht wie ein
+Schloß, es war wie sieben Schlösser neben- und übereinander, mitten
+aufragend zwei Türme, eine Kuppel und die Schindeldächer schimmerten
+wie Silber. Um die Anhöhe schlang sich in Halbrund ein breiter,
+glitzernder Fluß, kleine Ortschaften und große Gärten bestreichend,
+die sich hinten in Laubwäldern verloren. Der Gregl saß am Wegrand und
+wollte von der einen langen Front die Fenster zählen. Bis achtzig oder
+neunzig kam er hinauf, dann vergingen ihm die Augen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span></p>
+
+<p>Und das war Stift Hubertsbrunn.</p>
+
+<p>Der Erzähler ist in Klostersitten nicht recht bewandert, er muß
+sich auf die Berichte verlassen, die ihm zugekommen von den
+Berichterstattern zu dieser Geschichte.</p>
+
+<p>Am nächsten Tage wußte der Hirtenbauer Gregor schon, wie es da zuging.
+Aber es gefiel ihm nicht. Über die Aufnahme war so weit keine Klage
+gewesen. Der hochwürdige Bruder, Seine Gnaden ward er genannt, hatte
+ihn an beiden Händen gehalten, ihn besorgt angeblickt und gesagt:
+»Bruder Gregor, du gefällst mir gar nicht. Hast du denn kein besseres
+Gewand?«</p>
+
+<p>Und der Gregor: »Bruder Benedikt, oder wie du heißt, du gefällst mir
+auch nit. Was ich zu wenig am Leib han, das hast du zu viel.«</p>
+
+<p>Denn der Prälat trug einen Talar aus Seiden und Schuhe mit
+Silberschnallen und über der Brust eine Kette und ein Kreuz aus
+schwerem Golde. Der hochwürdige Herr lachte zum Ausspruch seines
+Bruders, tätschelte ihm mit zwei Fingern die rauhbraune Wange und
+sprach:</p>
+
+<p>»Na na, du bist immer noch der Alte. Glaubst du mir's, daß ich so
+arm bin, wie du? Dieses Kleid siehe, das deinen Augen Ärgernis gibt,
+es gehört nicht meiner Person, es gehört meiner Würde. Und das Stift
+gehört dem Orden. So viel erlaubt mir aber meine Armut, daß ich dich
+einlade, etliche Tage im Stifte zu bleiben und daß du dir gut sein
+lassest.«</p>
+
+<p>»Du sagst etliche Tage! Und ich wollte als Laienbruder eintreten, die
+Kirche ausfegen jeden Tag oder die Glocken läuten, oder wozu ihr mich
+verwenden möget, daß ich dem Herrgott ein wohlgefälliger Knecht sein
+darf.«</p>
+
+<p>»Tue dieser paar Tage gerade einmal, was dich freut,<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> Bruder Gregor.
+Wie du doch unserem Vater ähnlich siehst, Gott habe ihn selig!«</p>
+
+<p>Und der Alte antwortete: »Wenn du mägerer wärest, kunnt ich dasselbe
+auch von dir sagen. Unser armer Vater, gelt! Wie sich der hat plagen
+müssen und sich die Bissen absparen, daß er dich hat können in die
+Studie geben.«</p>
+
+<p>»Laß es gut sein, Gregor, nach den ersten paar Jahren hat mich ja schon
+das Stift versorgt, so daß ich den Orden für meinen wahren Nährvater
+halten muß.«</p>
+
+<p>»Immer einmal wirst wohl doch noch eine heilige Messe lesen für unseren
+Vater?«</p>
+
+<p>»Wir beten für alle,« antwortete der Prälat.</p>
+
+<p>Da deuchte es dem Gregor schier, daß im Stifte auf Blutsverwandtschaft
+wenig gegeben würde. Trotzdem genoß er die Gastfreundschaft so gut es
+anging. Zufrieden fand er sich nicht, es war ihm alles zu viel, zu gut,
+zu weltlich, was es da gab. Des Prälaten abgelegte Hosen und Stiefel,
+die er geschenkt bekommen, waren — von der vornehmen Art abgesehen —
+immer noch weit kostbarer als das schönste Ostersonntagsgewand, das er
+je auf der Niederalm getragen hatte. Desgleichen auch die Wäsche, in
+der so gar nichts von den härenen Hemden und stacheligen Gürteln zu
+spüren war, die nach seiner Heiligenlegende die Mönche gerne am Leibe
+gehabt.</p>
+
+<p>Eine einzige Weltsorge hatte der alte Mann noch an sich, die ihn
+manchmal sehr beunruhigte. Als vor Jahren sein Weib gestorben, hatte
+sie auf dem Totenbette ihm ein Lederbeutelchen um den Hals gehangen
+mit der Bitte, daß er es am bloßen Leib trage und nur in höchster Not
+davon Gebrauch machen solle. Der Gregor versprach das, weil er der
+Meinung war, es sei ein Amulett darin. Erst später kam er darauf, daß
+im Lederbeutelchen fünf Dukaten enthalten<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> waren, die das gute Weib
+dem unpraktischen Mann als Notpfennig hinterlassen hatte. Dieses Geld
+nun brannte ihn, erstens aus Besorgnis, daß es sündhaft sein könne,
+nebst dem beinernen Kreuzlein, das er an der Brust trug, auch Geld
+dort verborgen zu halten, und zweitens aus Angst, er könne die Dukaten
+— verlieren. Oft war er daran, diesen Mammon, der ihm so manche
+Unruhe machte, von sich zu werfen, aber es war ihm leid drum. Und das
+beunruhigte ihn noch mehr, weil es das Zeichen eines geldgierigen
+Herzens wäre.</p>
+
+<p>Nicht ungern ging Gregor mit dem Pater Isidor, dem die Landwirtschaft
+anlag, über die Felder. Da standen an Wegen und Rainen Kreuzsäulen und
+Heiligenstatuen, vor denen der Gregor zwar nicht den Hut zog, weil er
+eben keinen auf seinem weißhaarigen Kopf hatte, wohl aber niederkniete,
+um ein paar Vaterunser zu beten. Pater Isidor achtete nicht darauf,
+sondern besah sich die herbstlichen Ackerfurchen, ob sie tief genug
+wären und Erdschmalz hätten, und wenn der Gregor ein Gespräch über die
+Himmelskönigin Maria anheben wollte, wies der Pater ihm froh gestimmt
+die weiten Kohlgärten und Rübenfelder. Der Gregor ärgerte sich darüber,
+hielt sich aber vor: Du hast kein Recht, es ihm zu verübeln, so lange
+du selbst noch am Gelde hängest.</p>
+
+<p>Ein anderes Mal zog er mit dem Pater Hubert aus, der die Flinte auf
+der Achsel trug, auf dem Kopf den Federhut, und der die Forst- und
+Jagdangelegenheiten zu besorgen hatte. Als sie ins finstere Gebirge
+kamen, wo im tiefen Grund ein schwarzer See lag und zackige Schroffen
+in den hellen Himmel emporstanden, legte der Gregor seine Hände
+zusammen und sagte die Worte: »Wenn man's betrachtet! Die Allmacht
+Gottes!«</p>
+
+<p>»Pst!« machte der Pater. »Sie müssen still sein. Dort<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> im Lärchschachen
+— sehen Sie? Zwei Rehe! Ein altes und ein junges! Und ein — Gott
+verdamm' mich, hätte ich bald gesagt, wenn das kein Bock ist, dort
+hinter dem Fichtenbusch. Ah, sapperment!« Er riß die Flinte von der
+Schulter, durfte aber nicht schießen.</p>
+
+<p>»Sie müssen dableiben bis zur Jagd!« sagte er zum Alten, »da sollen Sie
+einmal sehen, wie es purzelt! Da geht's lustig her!«</p>
+
+<p>»Tun Ihnen die armen Tiere denn nit derbarmen?«</p>
+
+<p>»Gott hat alle Kreatur erschaffen zur Freude und zum Nutzen des
+Menschen.«</p>
+
+<p>Dachte sich der Gregor: An Gott denkt er halt doch. —</p>
+
+<p>Dann suchte er weiter unter den Mönchen des Stiftes. Einen würde
+er doch finden, mit dem sich auch was Erbauliches reden ließe.
+Freundlich waren ja alle mit ihm, doch wenn er des Rosenkranzbetens
+erwähnte, sprachen sie vom Kugelschieben; wenn er der Wallfahrten
+gedachte, kamen sie auf Scheibenschießen und Fischfang, und wenn er
+über die Notwendigkeit des Bußwirkens sprach, meinten sie, das wäre
+brav von ihm, nur solle der Mensch die lieben Gottesgaben auch nicht
+verschmähen, und machten sich mit Behagen an den Krug. Freilich sah
+er, daß sie zu gewissen Tageszeiten auch beteten und Psalmen sangen,
+daß sie die Fasttage strenge einhielten, daß sie Almosen gaben. Ja,
+es war sogar ein Pater bestellt, der tat gar nichts anderes, als für
+die Armen zu sorgen, wie sie da dreimal in der Woche am Vormittag in
+der rückwärtigen Halle zusammenkamen. Da wollte auch der Gregor einmal
+sein Lederbeutelchen loslösen und dessen Inhalt den Armen auf die Hand
+schütten. Doch fiel ihm ein, so viel würde sie verderben, sie sind nur
+Kupferstücke gewohnt. Behielt seine Goldenen am Busen, war bekümmert
+sie zu besitzen und war bekümmert sie zu verlieren.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span></p>
+
+<p>Eines Tages gegen die Vesperzeit geschah es, daß der Gregor einen
+Mönch wandeln sah entlang den Kreuzgang und hinabsteigen eine dunkle
+Treppe in unterirdische Räume. Da war am Ende so etwas wie Katakomben,
+in denen die ersten Christen ihre Zusammenkünfte und Gottesdienste
+gehalten, nachdem sie überirdisch ein scheinbar ganz weltliches
+Leben geführt hatten. Gregor schlich dem Mönche nach und kam in die
+Weinkeller. Der Mönch lud ihn ein, sich mit einem Krüglein das Herz
+zu stärken, was denn auch geschehen ist, so gründlich, daß der alte
+Hirte in den feuchten Dämmerungen herzhaft anhub zu jodeln, wie er
+es in früheren Zeiten auf der Niederalm getan hatte. Am nächsten
+Tage hatte er wieder Durst, und zwar nach Wasser. Er stellte sich im
+Garten zu dem rieselnden Brunnen und schaute ihm zu. Er lechzte nach
+Wasser, sah es immer an, trank aber nicht, und das war seine Buße für
+gestern. Dann geschah es, daß er glaubte, endlich auf dem Wege nach
+dem Rechten zu sein. Er hörte von dem großen Büchersaale und wollte
+nun auch einmal all die frommen Gebet- und Erbauungsbücher sehen, in
+denen die ehrwürdigen Brüder den gottseligen Geist aufbewahrt hätten.
+Er hatte nicht gedacht, daß es auf der Welt so viele Bücher gebe; der
+große Saal war über und über mit Büchern bestanden, man sah nicht
+ein handbreit Stück Wand. Ein paar fremde Herren waren da, denen der
+Mönch immer wieder Bücher und Schriften hervorholte und auf den Tisch
+legte. Gebetbuch war keins dabei, fast lauter alte weltliche Schriften
+und — wie es dem Gregor vorkam — sogar heidnische darunter. Einige
+vorhandene Bildwerke, die so herumlagen, zeigten geradezu entsetzliche
+Sachen in den offenen Tag hinein. Weil dem Alten unheimlich ward,
+so ging er hinaus. In einer Wegkapelle, wo das Volk vorüberzog, war
+die heilige Jungfrau,<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> darunter die Darstellung der armen Seelen
+im Fegefeuer. Hier kniete der Gregor nieder und murmelte seine
+altgewohnten Gebete. Er betete um Bekehrung der Heiden; plötzlich kam
+ihm das an sich selber ganz abscheulich pharisäerhaft vor und er betete
+demütig um Demut. Das erleichterte seine Bange.</p>
+
+<p>Am unbegreiflichsten war es schon im Speisesaal. Der Bruder des
+Prälaten sollte auch an der Tafel sitzen, wenn zwar weiter unten;
+allein die silbernen Schüsseln und die kristallenen Becher kamen auch
+zu ihm. Es wird halt heut ein Festtag sein, dachte er und ließ sich's
+nicht schlecht schmecken. Sein Beisitzer hatte ihm gesagt, daß auch
+Christus der Herr gerne Lammbraten gegessen und Wein getrunken habe. —
+Es ging mäßig ruhig und gemütlich dabei her.</p>
+
+<p>Gerne saß er im kühlen und stillen Münster. Die Kirche war sehr groß
+und herrlich anzuschauen — aber zumeist ganz leer. Er saß in einem der
+schöngeschnitzten Chorstühle und betete stundenlang den Rosenkranz ab
+und konnte es nicht verstehen, daß die Mönche lieber weltlichen Freuden
+nachgingen, als hier im lieben Frieden zu sitzen und sich mit Gott zu
+unterhalten. Hatte er sich endlich müde gebetet, so nahm er den Besen
+oder den Fächel und fegte die schönen Steinbodentafeln, und staubte die
+Stühle ab, die Heiligenstatuen aus weißem Marmelstein, und scharrte das
+von den Kerzen abgetropfte Wachs zusammen und bat seinen Gott, er möge
+sich den armseligen Dienst gnädig gefallen lassen. In solchen Stunden
+war er am glücklichsten.</p>
+
+<p>Da kam der Sonntag. Alles Volk strömte bei dem Geläute der
+Klosterglocken zusammen und füllte die weiten Kirchenräume. Die Mönche,
+ihrer dreizehn waren, kamen in kirchlichen Gewändern, der Prälat, eine
+wahre Würdegestalt,<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> im Ornat von lauter Seide und Gold. An allen
+Kronleuchtern brannten die Kerzen, aus silbernen Rauchfässern qualmten
+die Schleier des Weihrauchs am Hochaltare empor bis zu den dunklen
+Spitzbogengewölben. Wie ein jubelnder Sturm, so brauste die Orgel, und
+der Gesang der Chorknaben klang wie das lieblichste Glockengeläute. Und
+als im Hochamte das Sanctus kam, da erhob der Prälat seine Stimme und
+sang hell und feierlich das hehre Lied zum Allmächtigen. — Der Gregor
+war außer sich vor Entzücken. Jetzt erst ging's ihm auf, was das heißt:
+Klosterleben, Priesterleben!</p>
+
+<p>Darauf im Refektorium, als Seine Gnaden schon bei Tische saß, kniete
+der Gregor nieder und wollte dem hochwürdigen Bruder die Schuhe
+küssen. Der Prälat lachte ihn stark aus und sagte: »Vorhin haben
+wir Gott gelobt im Gebete und jetzt wollen wir ihn loben in seinen
+Gaben. Tue das deine, Gregor!« Was nun alles erschien, das mußte der
+beisitzende Mönch dem alten Hirten erklären: Einmal das Gläschen
+»Sherry«, das schließt Magen und Herz auf. Die Krebssuppe drauf, die
+weckt den Appetit auf. Dann der Hummer, der frißt Sorg' und Kummer.
+Dann beim Fleisch vom Rind das Essen eigentlich beginnt. Dann auf
+Schweinskopf und gebrat'ne Enten muß man auch noch Andacht verwenden.
+Von den Eier- und Mandelkuchen lassen wir uns auch gerne versuchen.
+Käse, Obst und Kaffee tut keinem Christenmenschen weh. Und Bier und
+Wein laß dir gesegnet sein. Endlich und schließlich ist ein feiner
+Rauchstengel alleweil der beste Friedensengel. — So lebhaft der Mönch
+seine Tafelsprüche belachte, so wenig zeigte der alte Hirte dafür
+Verständnis. Der hielt sich mehr an das Gemüse, obschon das gar nicht
+besungen wurde. Vom Glase hielt er — Erfahrungen beherzigend — sich
+fern. Nur als der Prälat<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> ein feierliches Prosit ausbrachte auf das
+Kirchweihfest, das heute begangen wurde, trank auch der Gregor in
+Ehrerbietung seinen Becher aus. Die Festheiterkeit war in sangliche
+Tafellustigkeit übergegangen. Dann stand Bruder Isidor auf, klopfte
+ans Glas, erhob es, hielt eine frohe Rede von seinen Krautköpfen und
+Kartoffeln. Der Bruder Hubertus feierte mit vielem Humor die Rehböcke
+und Hirsche, die sich demnächst das Vergnügen machen würden, bei
+Seiner Gnaden Tafel die Aufwartung zu machen. Der Bruder Kellermeister
+erinnerte bei seiner Ansprache sogar an Luthers Wein, Weib und
+Wonnesang, bedauernd, daß die Klosterbuße nicht vollständig sei, weil
+von den drei W leider eins fehle.</p>
+
+<p>Das helle Gelächter, das diese Rede entfesselte, wurde unterbrochen. Am
+anderen Ende der Tafel war der alte Hirtenbauer aufgestanden und hatte,
+wie es die Redner vor ihm getan, mit dem Messer an sein Glas geschlagen.</p>
+
+<p>»Hört, hört! der Gregor!«</p>
+
+<p>»Ja freilich,« sagte dieser in gemütlicher Art, »der alte Gregor will
+auch was sagen.« Erst lugte er ein Weilchen vor sich hin und dann
+begann er halb grollend und halb schmunzelnd mit einigem Stottern
+anfangs, dann immer geläufiger also zu sprechen: »Der alte Halter von
+der Alm hat zwar das Predigen nit gelernt, will euch aber doch eine
+Predigt halten. Nehmt Ihr's für Spaß, ist's mir recht, nehmt Ihr's für
+Ernst, ist's mir noch lieber. Ich will nur sagen: Was die hochwürdige
+Geistlichkeit auf dem Stift Hubertusbrunn für ein Leben führt, das
+ist ein recht lustiges Leben, ist aber wenig Christentum dabei. Mit
+Verlaub, ihr seid viel zu weltliche Herren! Wie wollt ihr denn in
+den Himmel kommen, wenn ihr schon drinnen seid? 's Hineinkommen ist
+nit mehr möglich, aber 's Hinauskommen ist möglich. Alltag leset ihr
+Zeitung, wie viel Jammer<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> und Pein es gibt auf der Welt, und ihr lebt
+in Freud, als ob euch allmiteinand nix tät angehen. Und nachher —
+auweh, mich deucht, ihr seid mir schon bös'. Alsdann will ich gleich
+aufhören. Amen.«</p>
+
+<p>Die Wirkung dieses Sermons war fürs Erste überlautes Gelächter. Doch
+soll es im Augenblicke einem der Festgenossen eingefallen sein:
+Bei diesen zwei Brüdern müsse es eine Verwechslung gegeben haben.
+Pater geworden sei der Unrechte! — Der Prälat, ob der rechte oder
+unrechte, hatte ein schier röteres Gesicht bekommen, als es sonst bei
+Tafelfreuden der Fall war. Er trommelte mit den Fingern, an deren einem
+der große Ring funkelte, auf den Tisch, die andere Hand spielte mit dem
+goldenen Kreuz, das ihm über der Brust hing. Dann schüttelte er ein
+paarmal den Kopf. In dieser Beklemmnis erhob sich der Pater Franziskus,
+der Bibliotheksverwalter war, gab das Zeichen, daß er sprechen wolle
+und begann in wohlgesetzten Worten — er war ja zugleich auch der
+Stiftsprediger — zu sprechen, wie folgt:</p>
+
+<p>»Teure, ehrwürdige Patres und Fratres! Wir haben eben ein Beispiel
+erlebt, wie über einen der Geist kam, bei dem wir es nicht vermeint
+hätten. Vielleicht hat sich Gott der Stimme dieses einfachen Mannes
+deshalb bedient, um uns Ordenspriestern wieder einmal zu Gehör zu
+führen, wie die Welt über uns denkt. Wenn da draußen Leute wären, so
+möchte ich ein wenig zum Fenster hinaussprechen. Die draußen haben
+nämlich jetzt das Christentum entdeckt. Sie sagen, es sei eine Religion
+für die Welt, Christus selbst habe die Lebensfreuden geliebt, nur müsse
+man in Vertrauen und Liebe das Reich Gottes im Herzen haben. So sagen
+sie, ob sie das letzte tun, weiß ich nicht. Wenn ja, so bin ich damit
+einverstanden. Nun höret: Wenn wir <em class="gesperrt">Priester</em> so leben, wie sie
+sagen, daß man solle, nämlich in der weltsinnlichen<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> Gottfreudigkeit,
+dann heißt es gleich, es wäre unchristlich und <em class="gesperrt">wir</em> sollten in
+Armut und Entsagung leben. <em class="gesperrt">Wenn</em> wir's aber wirklich tun, wie ja
+gar viele Welt- und Ordenspriester in Armut und Entsagung leben müssen,
+hei, da nennen sie uns Mucker, Heuchler und Aszeten. Kurz, wir können
+machen was wir wollen, so ist es denen nicht recht. Anders ist es mit
+unserem lieben Gregor. Das ist die ehrliche Haut, die bloß zurückruft,
+was wir hingerufen haben. Wir, das heißt, viele von uns. Diese haben
+Aszese gepredigt, so verlangt der Mann, daß die Priester selbst das
+halten, was sie anderen predigen. Das ist ganz in Ordnung. Wir aber —
+und nun wende ich mich an unsern Freund Gregor — wir Ordenspriester
+im Stifte Hubertsbrunn predigen nicht Aszese, sondern Freude in Gott.
+Wem sie gegeben wird, der soll sie nehmen. Sie haben selbst gesagt,
+lieber Gregor, daß es in der Welt draußen viel Jammer und Pein gibt.
+Ist es ein Wunder, wenn mancher ins Kloster flüchtet, wo man im Vereine
+mit Gleichgesinnten seiner Seele lebt? Wir persönlich besitzen keine
+weltlichen Güter, aber wir verwalten mit Fleiß und Gewissenhaftigkeit
+die Güter des Ordens, die gestiftet worden sind, damit die Brüder
+im sorglosen Frieden des Herrn leben können, wie heute, so auch in
+Zukunft. Ebenso verwalten wir viele Wissenschaften, die durch Klöster
+aus alten Zeiten der Zukunft übermittelt werden. Wir pflegen die
+Künste und schmücken damit unser Gotteshaus, unsern Gottesdienst,
+erhöhen damit unsere Freude am Göttlichen, unsere Liebe zu Gott. So
+sind wir fern dem Unfrieden der Welt, sind eingefriedet ins Bereich,
+wo Lebensfreude und Gottseligkeit eins geworden sind. Das findet
+man nur im Kloster so, und nirgends anders. Und ich sehe die Zeit,
+da viele, des Streites und der Ungerechtigkeit da draußen übersatt
+geworden,<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> die Klostermauern suchen werden. Vielleicht wird man ihrem
+Klosterleben einen anderen Namen geben, in der Tat wird es dasselbe
+sein, denn das Bedürfnis vieler Menschen nach Weltabgeschiedenheit
+und Frieden, nach harmlosem Lebensgenuß und nach Gottesfroheit wird
+nicht aussterben. Wenn sie, die weltlichen Leute da draußen, die
+Freiheit, die persönliche Freiheit so hoch halten, so wird man doch,
+wenn man will und kann, auch in das Kloster gehen und ein ruhiges
+beschauliches Leben führen dürfen? Unser Herrgott will nicht, daß
+der Mensch sich um Geld und Gut, um Lust und Ehre zu Tode hetze, er
+will auch nicht, daß einer Not leide, hungere, von anderen zertreten
+werde und zugrunde gehe, wie ein Wanderer bei den wilden Tieren in der
+Wüste. Denket doch an die übelriechenden Städte mit ihrem törichten
+Jagen; denket an die großen Fabriken, überfüllt mit Unzufriedenen und
+Mißgünstigen; denket an das kümmerliche, halbvertierte Leben in den
+Bauerndörfern — und betrachtet euch diese friedensvolle Stätte des
+heiligen Hubertus, von lachenden Tälern und grünen Bergen umgeben, und
+wie wir hier leben in trauter Gemeinschaft mit allen großen Geistern
+der Erde und der Himmel. <em class="gesperrt">So</em> zu leben ist Gotteswille, und daß
+wir den Himmel schon auf Erden anfangen sollen. Eigentlich gerade das,
+was die draußen auch angeblich wollen. Also warum gönnen sie uns nicht
+den Klosterfrieden? Und auch unser Freund Gregor hat unrecht, wenn er
+meint, der Christenmensch sei auf der Welt zur Selbstqual, anstatt zum
+Glücklichsein. Er soll das eine sein lassen und das andere bei uns
+versuchen. Fröhlich leben und selig sterben, das muß dem Teufel die
+Freud' verderben. Amen.«</p>
+
+<p>In fröhlichem Tone hatte der Pater also gesprochen, dann war er zum
+alten Hirtenbauer hingetreten, hatte ihm<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span> die Hand gekneipt, und er
+möchte die redlichen Worte nicht übelnehmen.</p>
+
+<p>»Hau,« sagte der Gregor, »so schön kann ich freilich nit. Da muß ich
+schon still sein. 's wird eh wahr sein, was ihr gesagt habt. Für's
+Gutleben laßt sich der Mensch gerne überzeugen, ich bin ganz bekehrt.
+Jetzt bleib' ich im Kloster, bitt' schön, kleidet mich ein. Und weil
+ich schon der Ältere bin, komm' ich vielleicht bei der nächsten
+Prälatenwahl dran. Will gleich anheben und Lateinisch lernen, hi, hi.«</p>
+
+<p>So war alles wieder ins Gemütliche übergegangen und als sie dann zur
+Vesper in die Kirche zogen, fand sich der Alte schon drein und während
+der Litanei dachte er, es wäre gescheiter gewesen, das Hirtenhaus auf
+der Niederalm dem Stifte Hubertsbrunn zu vermachen als dem groben
+Schwiegersohn, der sich mit seiner unfreiwilligen Elendigkeit doch
+nicht den Himmel, nur die Hölle kauft.</p>
+
+<p>Von diesem Tage an gefiel es ihm im Stifte besser und er fand, daß
+eine solche Vereinigung irdischer Freuden und himmlischer Beseligung
+eigentlich recht annehmbar wäre. Beten und Bußwirken könne ja auch
+jeder noch ein übriges. Der Klostergehorsam, nächtlicherweile doch
+manchmal aus dem warmen Bette aufzustehen zur Gebetstunde, hatte für
+ihn einen besonderen Reiz. Leider wurde er nicht geweckt, weil er ja
+nicht zum Orden gehörte, sondern nur Gast war. Dafür kniete er, wieder
+bange geworden, sonst lange Stunden auf dem kalten Kirchenpflaster und
+bat Gott in flehenden Gebeten um den rechten Weg in den Himmel. Sei der
+Weg dornig oder blumig, nur gottgefällig sein, das war sein einziges
+Verlangen.</p>
+
+<p>Da kam jene Nacht mit dem glühenden Atem Gottes. In einer Scheune
+war Feuer ausgebrochen und ein rasender<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> Novembersturm hatte
+die brennenden Latten auf die Schindeldächer des Stiftsgebäudes
+gepeitscht. Die Flammen lohten nicht aufwärts, sondern gruben sich,
+vom Sturm geschärft, mit tausend Zungen pfeifend ins Gebäude ein,
+so daß nach kaum einer halben Stunde alle Fenster des weitläufigen
+Stiftes in weißem Lichte standen. Die Mönche huschten, nicht in ihrem
+priesterlichen Gewande, nur mit gekrümmten, schlecht verhüllten
+Körpern stumm oder angstvoll stöhnend durch die rauchigen, qualmenden
+Gänge, durch die Höfe, ins Freie; sie dachten nicht an die Güter, die
+verbrannten, sie dachten nicht an Gott — ihr Einziges und Alles war
+die Rettung des nackten Lebens. Am nächsten Morgen war die Stätte
+ausgebrannt und aus hundert kahlen, dachlosen Mauern und geschwärzten
+Löchern stieg träger Rauch auf. Die Kirche allein war verschont
+geblieben und in der waren die Mönche versammelt, klagend, weinend,
+fröstelnd und schaudernd. Etliche brüteten stumpf vor sich hin. Andere
+verbanden mit feuchten Lappen ihre Brandwunden, wobei ihnen der alte
+Gregor beistand. Einer war da, der Pater Hubertus, der schüttelte
+fortwährend den Kopf und war sehr nachdenklich. Er hatte sonst manchmal
+an die Stunde des Unglücks, an Todesnot gedacht, aber so hatte er
+sich's nicht gedacht, daß man dabei ganz an alle Gottheit vergessen
+könne! Man rief wohl im Schreck die heiligen Namen, ohne auch nur
+flüchtig an die Himmlischen zu denken. Nicht einmal die Todesangst
+war eine christliche. Der stumpfe Instinkt des Tieres allein waltet,
+jagt dich, rettet dich. Und da fiel es ihm ein: Mensch, in solchen
+Stunden bist du just so gottlos und hilflos wie das arme Tier des
+Waldes, das du so oft verfolgt hast! — Die Steinplatten der Kirche
+waren kalt und die Mönche hatten keine Decken, keine Kleider. Es kam
+der Hunger und sie hatten<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> nichts zu essen. Ein Einziger war gefaßt.
+Auch dem Gregor war sein Bündel verbrannt, doch er fror nicht so sehr
+in seinem schlechten Nachtgewand, als die anderen, ihm tat der Hunger
+nicht so weh, ihn schüttelte die Verzweiflung nicht so arg, denn er
+hatte ja eigentlich nicht viel verloren. Er hatte nicht verloren die
+großen Vorratskammern, nicht verloren das heimliche Stübchen mit
+dem vergoldeten Marienbildnisse, nicht die fürstlichen Säle mit den
+Kunstwerken, nicht die Schriften der Weisen und der Dichter aller
+Zeiten. Da wollte er sagen zu den händeringenden Vätern und Brüdern:
+»Ihr habt ja doch wohl auch nix verloren, denn ihr habt ja nix
+besessen!« Aber er sagte es nicht, der Spott schien ihm zu herzlos.
+Umso eifriger wusch er die Brandwunden, deckte er die Fiebernden mit
+Stroh, machte Botengänge in die nächsten Ortschaften und tat, was er
+konnte. Sein Bruder, der Prälat, der auch nichts anderes hatte, als ein
+blaues Unterkleid, um sich zu schützen, der klopfte ihm einmal halb
+weinend auf die Achsel: »Bruder, jetzt bist du reicher und stärker
+als wir. Du bist das gewohnt, wir sind es nicht gewohnt. Und da wir's
+verloren und da wir jetzt nichts haben, deucht mich doch, es wäre unser
+Eigentum gewesen.«</p>
+
+<p>»Deucht dich, Bruder?« antwortete der alte Gregor. »Mich deucht auch.
+Aber wenn euer Christentum das richtige ist, so müßt ihr auch in
+schlechten Zeiten feststehen.«</p>
+
+<p>»Das werden wir auch, mein guter Gregor. Nur weh tut's, wenn's so
+plötzlich trifft. Das große Kreuz wird uns heilsam sein, wir wollen
+beten und uns kasteien.«</p>
+
+<p>Bald merkte es der alte Hirtenbauer, wie das gemeint war mit dem Beten
+und Kasteien. Wie Ameisen am zerstörten Haufen, so begannen die Mönche
+zu arbeiten, jeder in seiner Art. Was der Brand übrig gelassen, sie
+rafften<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> es zusammen und bargen es; mehr war's, als man erwartet.
+Bauleute wurden herbeigezogen, anfangs für den Notbau, später für
+die Wiederaufrichtung des Stiftes, das allmählich aus seiner Asche
+herrlicher erstand. Wie Wunderbrunnen, so flossen die Hilfsquellen
+von allen Seiten, besonders von dem in der Welt weit verzweigten
+Orden. Die Mönche waren ohne Rast. Sie nahmen fürlieb mit spärlichster
+Kost; mancher brachte seinen heimlichen Pfennig herbei und gab ihn
+dem entstehenden Vaterhause. Der unermüdlichste und froheste aller
+Arbeiter war der alte Gregor. Jetzt konnte er nach Herzenswunsch
+»bußwirken«, nämlich Hand anlegen zum Wiederaufbau des Reiches Gottes.
+Nicht wie einst handelte es sich um eine melkende Kuh oder um einen
+fetten Ochsen, es handelte sich um eine Friedensstatt auf Erden.
+Brauchen ließ er sich überall, beim Steinegraben, beim Ziegeltragen,
+beim Karrnen und Zimmern und bei viel schlechteren Verrichtungen.
+Als sich niemand finden wollte, der auf den Dachgiebel das dreifache
+Kreuz trüge, gab er sich dazu her. Er sei in der Jugend auf allen
+hohen Bäumen der Niederalm umhergeklettert; fehle ihm jetzt gleichwohl
+die Eichhörnchengelenkigkeit, so werde doch der Schutzengel seine
+Schuldigkeit tun. An Nahrung und Verpflegung war er ganz anspruchslos.
+Lohn nahm er überhaupt keinen, sondern sagte, bei den Bauern sei der
+Brauch, daß die Kinder des Hauses umsonst arbeiteten.</p>
+
+<p>Der Prälat war schon lange wieder wohlgemut geworden, und so sagte er
+nun lachend einmal zu seinem Bruder: »Aber Gregor, wenn du immer so
+fleißig gewesen wärest, so müßtest du ein reicher Mann sein!«</p>
+
+<p>»Reich! Reich!« antwortete der Alte. »So ein schlecht Wort sollten
+Gnaden Herr Bruder nit im Mund haben!«</p>
+
+<p>Freilich hatte der Gregor ein heimliches Glück im<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> Herzen, von dem er
+niemandem was sagte. Er war seines nagenden Kummers losgeworden. Das
+Ledersäckchen war ihm beim Brande abhanden gekommen, die fünf Dukaten
+verbrannt. Jetzt brauchte er sich nicht mehr zu fürchten, sie könnten
+seiner Seele schaden, sich nicht zu ängstigen, er könnte sie verlieren.
+Sie hatten seiner Seele geschadet, nun erst merkte er es recht. Nun
+war er frei. Alle Existenzsorgen hatte ihm ja der hochwürdigste Bruder
+abgenommen: »Du gehörst unserem Orden, Bruder Gregor, und daß du nicht
+Latein kannst, je nun! Du bist halt ein Wildling. Ein Wildling Christi.
+Ich meine, man könnte dich trotzdem weihen.«</p>
+
+<p>»Ich dank' dafür,« antwortete der Alte. »Bin einer Last glücklich los,
+will keine andere mehr haben. Wenn mir Gott zur Armut noch die Demut
+schenkt, dann bin ich aus dem Gröbsten heraußen.« —</p>
+
+<p>Nach fünf Jahren stand das neue Stiftsgebäude fertig und in hohem
+Glanze da. Jeder der dreizehn Mönche hatte es erlebt, nicht einmal der
+dreizehnte war gestorben. Einer von ihnen gestand, seit dem Unglücke
+fühle er sich ein wenig besser und stärker, er habe gelernt, etwas
+zu ertragen. Man stimmte ihm bei. Nur den Prälaten hatten die Sorgen
+der Wiedererrichtung alt und kränklich gemacht. Er erklärte, seine
+Würde und Bürde ablegen zu wollen. Alles war unschlüssig, ratlos
+darüber und mancher der Brüder verwahrte sich schon vorwegs gegen
+die Möglichkeit, Abt zu werden. Jeder wollte der Unwürdigste sein,
+vielleicht heimlich erwägend, daß gerade <em class="gesperrt">der</em> erhöht werde, der
+sich selbst erniedrige. Bei der Wahleinleitung für seinen Nachfolger
+erzählte der Prälat die Geschichte von der Taube. Einmal bei einer
+Papstwahl zu Rom — bei welcher, das wußte er nicht genau — hätten die
+Kardinäle sich nicht einigen können.<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> Da sei zum Fenster eine weiße
+Taube hereingeflogen, sei dreimal über den Köpfen der Versammelten
+herumgeflogen und habe sich dann auf das Haupt des Geringsten gesetzt,
+des Türhüters an der Pforte. Der sei auf diesen Wink Gottes zum Papste
+gewählt worden. »Und meine hochwürdigen Brüder,« so schloß der Prälat,
+»wenn heute auf dem Stifte Hubertusbrunn der heilige Geist in Gestalt
+einer Taube käme, um uns die Wahl des Oberen anzudeuten, auf wessen
+Haupt würde er sich setzen?«</p>
+
+<p>Die Brüder neigten sich und einer flüsterte dem andern zu: »Vielleicht
+gar auf das Haupt Gregors?«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_mi_ratene_Evangelist">Der mißratene Evangelist.</h2>
+</div>
+
+
+<p>In einer Tischgesellschaft von ernsten Männern kam eines Abends
+das Gespräch auf die Welttauglichkeit des Evangeliums. Mehrere der
+Anwesenden behaupteten, die christliche Lehre trage nicht allein die
+Bürgschaft der ewigen Seligkeit an sich, sondern auch das Glück der
+Erde, den Frieden in der Gesellschaft, das Gedeihen jedes einzelnen.</p>
+
+<p>Einer war da, der solches bestritt. »Wenn <em class="gesperrt">jedermann</em> nach der
+christlichen Lehre lebt,« sagte dieser, »dann vielleicht. Dann gebe
+ichs zu, daß sie auch auf Erden zum Glücke führen kann. Anders ist
+es, wenn nur einzelne darnach leben. Für diese ist sie dann durchaus
+nicht förderlich, der einzelne geht vielmehr zeitlich daran zugrunde.
+Vorausgesetzt, daß es möglich ist, die Lehre in ihrer ganzen Strenge zu
+befolgen, macht sie den Menschen für die Aufgaben und Bestrebungen der
+modernen Gesellschaft ganz und gar unfähig, ja kann — mißverstanden —
+auf Irrungen und Abwege führen, wovon ich ein Beispiel aus dem Leben zu
+erzählen wüßte.«</p>
+
+<p>Hierauf sagte ein anderer: »Wenn Sie <em class="gesperrt">ein</em> Beispiel wissen, daß
+die Befolgung der christlichen Lehre auf Abwege leitet, so weiß ich
+hunderte und tausende von Beispielen, daß die <em class="gesperrt">Nicht</em>befolgung zum
+Verderben führt.«</p>
+
+<p>Nun, das sei selbstverständlich, meinten mehrere und sei längst
+bewiesen. Merkwürdig jedoch dürfte der Ausnahmsfall sein, wenn ihn
+jener erzählen wolle.</p>
+
+<p>Der Aufgeforderte sprach: »Da wohl nicht zu befürchten ist, daß das
+Schicksal des Helden meiner Geschichte einen von uns der christlichen
+Lehre noch mehr entfremden könnte,<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> als es, wie wir uns kennen,
+wahrscheinlich ohnehin schon der Fall ist, und da sich ferner von uns
+wohl überhaupt keiner so wörtlich in die Bergpredigt einlassen wird,
+als es mein Herr Eberhard getan, so werde ich die Geschichte ohne
+jeden Widerspruch erzählen dürfen. Die Lehre, wenn man schon eine
+daraus ziehen wollte, könnte ja immerhin die sein: der eine ging an der
+Befolgung des Christentums nur deshalb zugrunde, weil es nicht auch die
+übrigen befolgten.«</p>
+
+<p>Und hierauf begann er zu erzählen.</p>
+
+<p>Im Landstädtchen K. lebte ein junger Buchhandlungsgehilfe namens
+Eberhard Roland. Er war aus einem Nachbarsorte eingewandert, nachdem er
+dort seine Mutter und seine Schwester begraben hatte. Das waren seine
+einzigen Verwandten gewesen, er hatte ihnen wacker leiden geholfen. Die
+Rolande waren einst eine geachtete Bürgersfamilie gewesen und dann von
+einem unermeßlichen Unglück heimgesucht worden. Ein Roland war nämlich
+einer schweren Gewalttat wegen zum Tode verurteilt und dann durch
+den Strang hingerichtet worden. Das war der Großvater des Eberhard
+gewesen. Von jener Zeit an war es mit der Familie abwärts gegangen,
+sie war entehrt, gemieden, verachtet. Das Geschäft stockte, ging zu
+Grunde, die Familie verarmte, brachte sich viele Jahre lang zwar
+redlich, aber kümmerlich durch. Man hatte nichts einzuwenden gegen die
+fleißigen Leute, daß aber jener Roland gehenkt worden war, blieb ihnen
+unvergessen und blitzte bei jeder Gelegenheit hervor. Eberhards Vater
+war als Leineweber in jungen Jahren gestorben, er selbst hatte die
+Buchbinderei gelernt und mit diesem Handwerk Mutter und Schwester recht
+und schlecht ernährt, bis beide bei einer Seuche in einer und derselben
+Woche verschieden.</p>
+
+<p>Seither wohnte Eberhard in der Stadt K., wo er vom<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span> Buchbinder zum
+Buchhändler aufstrebte, nachdem er es vorher mit mehreren anderen
+Erwerbsarten vergebens versucht hatte. Er war ein unruhiger Geist und
+sprang in Gegensätzen hin und her. Von einigermaßen beschaulicher und
+sogar schwärmerischer Naturanlage, trug er sich eine Zeitlang mit dem
+Gedanken, in ein Mönchskloster zu gehen, bis er in ein Bankgeschäft
+als Briefschreiber eintrat. In kurzer Zeit war er Buchhalter und hatte
+sich etliche hundert Taler Vermögen erspart. Da mietete er sich vor
+der Stadt einen Heuschoppen und begann mit Holz und Kohlen zu handeln.
+Als höchst anständiger Geschäftsmann bald bekannt, begann der Handel
+zu blühen, aus dem Schoppen ward ein stattliches Magazin, dem sich
+größere Lager anschlossen, aus dem schlichten Buchbinderjungen war
+ein geachteter Kaufmann geworden. Bei dem allein blieb es aber nicht.
+Von hübscher Gestalt und freundlichem Wesen, gewann er die einzige
+Tochter des Bankinhabers, bei dem er in Diensten gestanden und wurde
+ein wohlgesetzter Ehemann und Hausvater. Ein Jahr später kam ein
+kleines Kind und ein großer Treffer, er hatte in der Staatslotterie das
+Hauptlos gezogen. Jetzt war er auf einmal halber Millionär und wußte
+eigentlich selbst nicht, wie das zugegangen.</p>
+
+<p>Nun hatte in ihm aber sachte eine Änderung stattgefunden, die er wohl
+selber erst etwas spät bemerkte. Einst in armen Kreisen lebend, war er
+sehr mitleidig gewesen und hatte er schon in der Tat nur wenig Gutes
+tun können für die Notleidenden, so hatte er für sie doch stets ein
+warmes Herz, und das Wort der Teilnahme tröstete manchen Leidenden
+mehr, als eine Gabe auf die Hand. In dem Maße aber, als Herr Eberhard
+wohlhabend wurde, kühlte sich sein Gemüt ab für die Armen. Er war zwar
+wohltätig, gab Almosen, doch weniger aus innerem Drange, denn weil er
+sich<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> als reicher Mann dazu verpflichtet fühlte. Die Armut vor sich zu
+sehen, war ihm unangenehm, und manchmal erschien sie ihm wie ein Makel,
+das etwa dem Leichtsinnigen oder Fahrlässigen anhaftet. Einst hätte er
+den hungernden Bettler sättigen mögen, ohne ihn erst seines Hungers
+wegen zur Rechenschaft zu ziehen, jetzt fragte Herr Eberhard schon:
+»Warum arbeitet Er nicht? Was hat Er getrieben, daß Er so verkommen
+ist?«</p>
+
+<p>Früher hatte er sich zu den wenigen Feierstunden in seinem Stübchen mit
+den paar Holzmöbeln und den kleinen Bildern seiner Mutter und Schwester
+an der Wand sehr heimlich und behaglich gefühlt. Jetzt in seinen reich
+ausgestatteten Gemächern war ihm einmal dieses, einmal jenes nicht
+recht und seine Wünsche und Bedürfnisse waren den Tatsachen immer um
+eine Spanne voraus. Manchmal empfand er die Last des Reichtums, die
+Last der damit verbundenen Pflichten, dann wieder kam es ihm vor, als
+nütze er seine Kraft, seinen Kredit, die Verhältnisse zu wenig aus und
+als sei es seine Aufgabe, noch reicher zu werden — so reich als nur
+menschenmöglich. Er gönnte sich daher nur wenig Ruhe, rechnete, plante
+neue Unternehmungen, und wenn er dann zum Jahresschluß die Bilanz zog,
+soweit sie bei den ausgedehnten Besitzungen und Geschäften zu ziehen
+war, sah er immer mit freudigem Schreck, wie rasch die Millionen
+wachsen. Aber schon allemal in den nächsten Stunden fragte er sich,
+warum sie denn eigentlich nicht noch schneller wüchsen und was daran
+wohl die Ursache sein könne?</p>
+
+<p>In einer solchen Stunde, als er über den Teppich seiner Treppe
+herabstieg zum bereitstehenden Wagen, um auszufahren zur Sitzung in
+einem wohltätigen Verein, kauerte an der Pforte eine verwahrloste
+Bettlergestalt, schlotternd, mit eingefallenem, grünem Gesicht und
+verglastem Auge. Fast<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> verstellte er dem Herrn den Ausgang, zudringlich
+hielt er seine mumienhafte Hand hin und verlangte ein Almosen.</p>
+
+<p>»Wie?« fragte Herr Eberhard aufgebracht über den vordringlichen
+Gesellen, »bin ich dem Kerl was schuldig? Arm? Aus Ihm riecht der
+Branntwein, dünkt mich. Warum arbeitet Er nicht? Schämt Er sich nicht,
+von anderer Leute Arbeit zu leben? Und frech?! Fort, Er ist mir
+zuwider, ich teile nichts!« Damit stieg er rasch in den Wagen, aber
+noch bevor der Diener den Schlag zuwarf, stürzte der Bettler zusammen
+und ein Blutquell sprang aus seinem Halse. Mit einem spitzen Messerchen
+hatte er sich den tödlichen Stich versetzt.</p>
+
+<p>Von diesem Tage an stieg der Reichtum des Herrn Eberhard nicht mehr.
+Nicht etwa, als ob auf dem Hause von nun an ein Fluch lastete, vielmehr
+ein Segen. Herr Eberhard hatte sich vorgenommen, mehr den Armen zu
+leben. Er verzichtete auf den bisher bezogenen großen Gewinn seiner
+Geschäfte und begnügte sich mit geringerem, den er nicht allein an
+wohltätige Anstalten, sondern auch an einzelne Arme verteilte. Dadurch
+aber wurde sein Geschäftshaus nur noch gesuchter und er konnte kaum
+so viel Wohltaten üben, daß der Reichtum nicht doch immer wieder
+stieg. Von seinem Katecheten hatte er als Knabe »Die Nachfolge
+Christi« zum Geschenk erhalten. Das war sein Lieblingsbuch gewesen in
+der leidensreichen Zeit seiner Jugend. Jetzt holte es Herr Eberhard
+wieder hervor und anstatt im Kurszettel las er im Erbauungsbuche. —
+Es war ihm ernst. — Den schweren Prunk hatte er aus seiner Wohnung
+entfernt. Mit seiner Familie gab's Kämpfe, als es daranging, einen
+Überfluß um den anderen abzuschaffen, er aber sagte: »Meine Lieben,
+wir haben uns verirrt in die Wüste des Geldes, wir müssen umkehren und
+Menschen werden.« Die jungen Herrschaften<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> mußten sich's wohl oder
+übel gefallen lassen, Menschen zu werden — sie wurden es. Die Söhne
+entsagten dem Sporte, die Töchter dem Putze. Das taten sie aber erst,
+als Herr Eberhard ihnen eines Tages mitgeteilt hatte, bei einer großen
+fehlgeschlagenen Spekulation hätte er beinahe sein ganzes Vermögen
+verloren. In Wahrheit war dem nicht genau so, nur daß er selbst täglich
+tausende von Talern hinweggab an Armenhäuser, Krankenhäuser, Schulen,
+Kirchen und Bettler. Er arbeitete noch einige Stunden des Tages, die
+übrige Zeit verbrachte er, um Statistiken zu studieren, Armut und
+Elend zu erforschen und da sah er denn freilich, daß Armut und Elend
+über alle Maßen unergründlich sei, mit keinem Reichtum der Welt wett
+zu machen. Das ließ ihn nicht verzagt werden. Er wollte das Seine tun
+und sich ganz den Nebenmenschen opfern. Er las fleißig im Evangelium
+Christi: — Selig sind die Armen im Geiste, ihrer ist das Himmelreich.
+Selig sind die Barmherzigen, sie werden Barmherzigkeit erlangen. Gib
+dem, der dich bittet, und wende dich von dem nicht ab, der von dir
+borgen will. Deine Linke wisse nicht, was deine Rechte tut und achte,
+daß dein Almosen verborgen bleibe. Sammle nicht Schätze auf der Erde,
+wo Rost und Motten fressen; sammle Schätze für den Himmel. — Und wenn
+Herr Eberhard sich so versenkte in diese Lehren und sie befolgte, da
+atmete er oft wie erleichtert auf. Jener Sterbende an seiner Tür, er
+starrte ihn nicht mehr an mit seinem unendlichen Vorwurf, er blickte
+fast freundlich auf ihn ...</p>
+
+<p>An der Pforte des reichen Mannes drängten sich die Armen aller Art.
+Herr Eberhard unterschied nicht mehr strenge zwischen verdienter und
+unverdienter Armut, er half wo und wie er konnte. Dem einen zahlte
+er die Zinsen, dem anderen die Steuern, dem dritten schrieb er sich
+als Bürgen<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> auf den Schuldschein. Einem Geldunterschlager, dem die
+Entdeckung drohte, gab er Geld zur Ersetzung des Abganges. Und wenn er
+von seiner Gemahlin, von seinen Kindern gefragt wurde, was denn die
+vielen Leute immer wollten, wenn sein Geschäft so ganz und gar ruiniert
+sei, so antwortete er: »Das sind eben die Gläubiger, die ihre Güter
+holen kommen, die ich ihnen bisher verwaltet habe.«</p>
+
+<p>Die Frau schwieg und blickte ahnungsvoll einer schlimmen Zukunft
+entgegen. Dabei war ihr aber süß, daß ihre Familie von der Bevölkerung
+geradezu vergöttert wurde, daß sie als die Gemahlin des reichen
+Wohltäters bei jeder Gelegenheit Ehren genoß, als wäre sie die Fürstin
+der Stadt und des Tales. Allerdings wurden im Hintergrunde auch Stimmen
+laut: Die Eberhardischen würden wohl wissen, warum sie so viel Gutes
+tun; sie könnten wohl noch mehr geben. Wenn so einer, wie der Eberhard
+hundert Taler gibt, die er nur aus der Kasse zu nehmen braucht, da
+ist's gerade so viel, als wenn der arme Mann einen Kreuzer schenkt. So
+einer kann eine Million verschenken und er tut sich nicht so weh, als
+wenn ein Armer ein Paar Stiefel versetzen muß.</p>
+
+<p>Herr Eberhard hörte von solchen Stimmen wenige, denn im Vordergrunde
+stand das laute Lob. Er kam sich selbst manchmal vor wie ein Heiliger,
+der aus Nächstenliebe die Güter der Erde hingibt. Seinen Kindern sprach
+er von der Unsittlichkeit ererbten oder nicht persönlich erworbenen
+Reichtums und wies sie an, ihren Lebensunterhalt sich selbst zu
+verdienen. Es ward ihm bitter hart, er kämpfte übermenschlich, ehe er
+sie verstieß, doch endlich siegte er durch den Ausspruch: Du sollst
+deine Familie verlassen und mir nachfolgen! — Und er fuhr fort, die
+Reste seines Vermögens hinzugeben. Seine Gemahlin hätte ihn wohl
+rechtzeitig unter gerichtliche Aufsicht stellen lassen, wenn sie von
+seiner<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> Darstellung, als wäre längst durch unglückliche Spekulation
+alles verloren worden und die seitherigen Weggaben seien nichts als das
+Zurückstellen aufbewahrten Geldes, sich nicht hätte irreführen lassen.
+Nun fiel sie ihm freilich um den Hals und sprach: »Lieber Mann, wir
+werden noch selber betteln gehen müssen.«</p>
+
+<p>»O kurzsichtiges Menschenkind,« sagte zu ihr Herr Eberhard, »denke
+an das Wort des Heilands: Wer zwei Röcke hat, der gebe den einen
+davon dem, der keinen hat. Siehe die Blümlein auf dem Felde, sie säen
+nicht, sie ernten nicht, und der himmlische Vater ernährt und kleidet
+sie doch. Wenn mir ein kleines Dachstübchen bleibt, wie ich es einst
+besessen, dann bin ich schon zufrieden.«</p>
+
+<p>Darauf vergingen noch wenige Jahre, dann war sein Ziel erreicht. Herr
+Eberhard wohnte in einem schiefwändigen frostigen Dachstübchen. Und
+wenn seine Frau, die auf dem Siechenbette lag, seinen Rock flicken
+wollte, so konnte er nicht ausgehen, um Lebensmittel zu sammeln,
+denn er hatte nur einen Rock. Seine in der Jugend verweichlichten
+Söhne hatten dem harten Existenzkampfe nicht standzuhalten vermocht
+und waren verkommen, die Töchter hatten sich einem Gewerbe ergeben,
+das ihnen unmöglich machte, noch einmal unter die Augen der Eltern
+zu treten. So waren die zwei alternden Leute nun ganz allein. Herr
+Eberhard hatte in seinem Dachstübchen aber doch die Beschaulichkeit
+und den Herzensfrieden nicht wieder gefunden, den er sich erhofft.
+Sein christliches Wohltun — wie Schuld pochte es nun manchmal an sein
+bangendes Herz, besonders wenn er an die verlorenen Kinder dachte.
+Dazu ward er täglich beleidigt von der Roheit derer, zu denen er
+bittend kam; sie nannten ihn einen Verschwender, dem jetzt ganz recht
+geschehe. Von den nachgerade zahllosen Leuten, denen er einst Gutes
+getan im<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> großen wie im kleinen, waren nur wenige vorhanden; von diesen
+entschuldigte sich der eine mit eigenen Sorgen, der andere reichte
+ihm widerwillig eine kleine Gabe und den guten Rat, sich doch selbst
+wieder etwas zu verdienen, auch der Hände Arbeit schände nicht. Von
+der Verehrung, die er einst genossen in der Gegend, war nichts mehr
+übrig geblieben, ja man erinnerte sich nun wieder, daß der Taugenichts
+doch im Blute liegen müsse, da ja sein Großvater stranguliert worden
+sei. — Für solche Herzensbitterkeit fand Herr Eberhard in seinem
+Evangeliumbuche keinen rechten Spruch. Und bei den schönen Worten von
+der Seligkeit der Sanftmütigen, Traurigen und Verachteten war ihm, als
+paßten sie nicht auf seine Verhältnisse, als habe der Heiland eine so
+ungeheuerliche Undankbarkeit der Welt nicht voraussetzen können.</p>
+
+<p>Eines Tages kam ein gerichtlicher Auftrag, Herr Eberhard Roland habe
+tausendfünfhundert Taler zu zahlen für eine Bürgschaft, die er einst
+geleistet. Darauf antwortete er: »Machet, was ihr wollt, ich habe
+nichts.« Da erschien nach einem Weilchen ein Gerichtsbeamter mit zwei
+Dienern, und mit ihnen der Gläubiger, ein reicher Bäckermeister von
+K. Dieser riß seine große, mit Banknoten wohlgefüllte Brieftasche
+aus dem Sacke, zog aus derselben aber keine Banknoten, sondern den
+Schuldschein, unter dem Herr Eberhard als Bürge stand. Der Bäcker
+schimpfte und fluchte eine Weile über den voreinstigen Prasser und
+Windbeutel, der jetzt von anderer, von ehrlicher Leute Arbeit leben
+wolle und dann wurden die wenigen Möbel und Einrichtungsstücke in
+Beschlag genommen und dem Herrn Eberhard die Wohnung gekündigt.</p>
+
+<p>Am rechten Arm ein Bündel, am linken sein krankes Weib, so wankte
+Herr Eberhard hinaus. Bei wohlhabenden Leuten klopfte er an, die
+einst seine Nachbarn gewesen, sie<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> hatten Ausflüchte. Eine alte arme
+Tabaksverkäuferin, die selber fror in ihrer Bude, lud die armen Leute
+ein, bei ihr zu rasten. Dem Herrn Eberhard aber war jetzt nicht
+ums Rasten; als er sein Weib in die Obhut der Ständlerin gegeben
+hatte, ging er hinaus in die Auen. In ihm war ein unerhörter Sturm.
+Er verfluchte nicht die undankbaren Menschen, nein, er wütete in
+grenzenloser Bitterkeit gegen das Evangelium, dem er so gläubig und
+opferwillig gefolgt war, und das ihn dahin geführt hatte, wo er sich
+jetzt befand.</p>
+
+<p>Dem Mühlbache ging er entlang. Da fiel ihm etwas ein. Er schlug
+es rasch von sich, sein Weib konnte er nicht verlassen. Aber was
+sonst? Was nun sonst? — Nach langem Irren kehrte er um gegen die
+Stadt, es begann schon das Dunkeln des Abends. Vor sich sah er einen
+großen dicken Mann dahinwackeln, sein Stöcklein bei jedem Schritt
+gar selbstbewußt auf den steinigen Boden stoßend. Das war der
+Bäckermeister, der ihn vorher entheimt hatte. Er war wohl bei seiner
+Mühle draußen gewesen. Dem Herrn Eberhard wurde das Blut rasend, als
+er in diesem Manne gleichsam verkernt seinen ungeheueren Irrtum, sein
+Unglück sah. Der Bäcker war durchaus nicht christlich; er war hart
+und rücksichtslos, er zertrat unbedenklich Existenz um Existenz, wenn
+er daraus Nutzen ziehen konnte. Und wie ging's ihm gut und wie lief
+er sogar nicht Gefahr, einmal zu verarmen, einmal die Achtung der
+Mitmenschen zu verlieren. Hatte er diesen Bäcker nicht einst selbst aus
+einer großen Geschäftsverlegenheit gerissen? War das Geld seiner heute
+gefüllten Brieftasche nicht vielleicht Eberhards Geld? Konnte er es
+nicht wieder zurücknehmen jetzt ...?</p>
+
+<p>Plötzlich bückte sich Herr Eberhard, hob einen scharfkantigen Stein auf
+und schleuderte ihn nach dem Kopfe des Bäckers. Dieser stürzte fast
+zusammen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span></p>
+
+<p>Herr Eberhard vergaß, weshalb er den Stein geworfen, ließ den
+Sterbenden liegen und ging der Stadt zu, um sich dem Gerichte zu
+stellen. Da lief ihm jemand nach und flüsterte: »Herr Eberhard! Herr
+Eberhard! Sie wollen Ihrem Großvater nach! Das dürfen Sie nicht.«</p>
+
+<p>Herr Eberhard blieb stehen und fragte den etwas unheimlich aussehenden
+Mann, was er wolle.</p>
+
+<p>»Nein,« wiederholte dieser, »das dürfen Sie nicht. Den Bäcker nehme
+ich auf mich. Wissen Sie noch? Der Geldunterschlager auf der Post! Der
+Fundler!«</p>
+
+<p>»Der Johann Fundler sind Sie? Jener Johann Fundler.«</p>
+
+<p>»Der bin ich. Und wissen Sie, was Sie damals gesagt haben, wie Sie
+mir die veruntreute Summe vorgestreckt? Der Herr im Himmel freue
+sich über ein verlorenes Schaf, das gerettet werde. Ich bin wieder
+ein ordentlicher Mensch geworden damals, ohne daß jemand eine Ahnung
+hatte, daß ich ein Lump gewesen. Und habe noch manch glückliches Jahr
+genossen.«</p>
+
+<p>»Wollen Sie mir jetzt etwa das Geld zurückzahlen?« fragte Herr Eberhard.</p>
+
+<p>»Das kann ich nicht.«</p>
+
+<p>»Ich brauch's auch nicht.«</p>
+
+<p>»Ich habe weniger als nichts,« sagte der Postbeamte, »ich habe wieder
+gestohlen und die Polizei ist mir schon auf den Fersen, jetzt hilft mir
+nichts mehr, und deswegen nehme ich auch gleich den Bäcker auf mich und
+Sie sind so gut und streichen mir die Schuld.«</p>
+
+<p>So hatte der Mensch in hastigen Stößen gesprochen und dann eilte er
+dahin.</p>
+
+<p>Herr Eberhard lehnte sich an den Stamm einer Wildkastanie. — Also doch
+noch Dankbarkeit!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span></p>
+
+<p>Spät abends kam er zu seinem Weibe zurück, das in der Kammer jener
+Tabakverkäuferin auf einem alten Tuchmantel lag, und zu ihr sagte
+er: »Wärest du nur bei mir gewesen auf diesem Spaziergang, so hätten
+wir in Zukunft beide ein Quartier, nicht bloß ich allein. Weißt du
+etwas Neues? Just haben sie den toten Bäcker vorbeigetragen, der uns
+gepfändet hat. In der Au mit einem Stein erschlagen. Der Postbeamte
+Fundler will's getan haben. Der Fundler ist ein Lügner. Ich werde es
+den Herren schon beweisen, daß der Fundler ein Lump ist. Aber dieser
+schlechte Lump ist der bravste Mensch in der ganzen Stadt. — Er ist
+dankbar.«</p>
+
+<p>Am nächsten Tag wurde das Weib ins Armenhaus gebracht und Herr Eberhard
+ins Gefängnis. Er hatte tüchtig zu tun gehabt, seinem dankbaren
+Postbeamten den erschlagenen Bäcker zu entwinden; es schien auch so
+unglaublich, daß Herr Eberhard einen Mord sollte begangen haben. Er
+legte einen freiwilligen Eid drauf ab. Ob's ein Rachemord oder ein
+Raubmord hätte sein sollen, das wüßte er selber nicht. — Und nun
+hatte er wieder seine Beschaulichkeit. Nun konnte er nachdenken, warum
+er eigentlich dem Heiland bis zum Dachstübchen nachfolgen wollte,
+und nicht weiter — nicht bis zur Kreuzigung? Warum er denn seine
+gesellschaftliche Stellung, sein Vermögen, ja selbst seine Familie
+hingeopfert hatte, um dem Evangelium gerecht zu werden, wenn er dann
+doch auf einmal der menschlichen Natur nachgab? Jetzt sah er, wohin
+die Nachfolge Christi führt: Wenn man dem Heiland auf dem ganzen Wege
+nachfolgt, so kommt man freilich in den Himmel, wenn man auf halbem
+Wege ablenkt, so kommt man in den Kerker. Und das passiert manchem.</p>
+
+<p>So der Erzähler. Die Gesellschaft schwieg.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_alte_Adam">Der alte Adam.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Mit vernünftigen Gründen vermag die Weiserin Natur bei uns vernünftigen
+Leuten selten was auszurichten, und so steckt sie sich zuweilen hinter
+Sonderlinge und Narren; denn nur den Unverständigen belehrt der
+Vernünftige, des Weisen Lehrmeister aber ist und bleibt in Ewigkeit der
+Narr.</p>
+
+<p>Allerdings scheint es, als hätten die Strubacher-Leut' vom Lehm-Lamel
+nicht viel gelernt; der Lamel war gerade noch um ein halb Köpflein zu
+vernünftig für sie.</p>
+
+<p>In vergangenen Jahren war er eigentlich gar sehr vernünftig und
+tüchtig gewesen, der Lamel. Er besaß eine Lehmgrube, die ihm guten
+Gewinn und den Namen Lehm-Lamel eintrug; zu Recht aber war er Wegwart
+an der Reichsstraße, die damals in weißen staubigen Bändern mit
+Wagengeknarre, Rossegewieher, Fuhrmannsgeschrei, Peitschengeknatter
+und Handwerksburschengetriller durch die Länder schlängelte. Damals
+war noch die Zeit, in der die Dörfer und Flecken groß, die Postmeister
+reich, die Wirte dick wurden, die Städte aber, durch steinerne Gürtel
+zusammengeschnürt, an Engbrüstigkeit litten.</p>
+
+<p>Damals sind Wegwarte bedeutende Leute gewesen, ohne sie hätte das
+Räderwerk der Straße, des Landes, des Reichsverkehres gestockt, wäre
+versunken in Schlamm. Der Lamel hatte seine Pflicht wohl erfüllt, seine
+Strecke war stets die bestgeschotterte, auch hatte er an derselben
+eine Allee von Obstbäumen gepflanzt, wofür er anfangs gerügt, später
+aber, als sie zwar nur wenig Schatten, aber um so mehr Obst<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> gaben,
+belobt wurde. Und er freute sich baß, wenn ihm Handwerksburschen Äpfel
+und Zwetschken stahlen, weil er wohl wußte, daß verbotene Früchte süß
+schmecken. So war er stolz auf sein süßes Obst, das geschenkt oder
+selbst gegessen schier ein wenig stark säuerlich schmecken wollte.</p>
+
+<p>Auch um sein Haus hatte der Lamel einen Garten von Obstbäumen; der war
+seine Erquickung, denn die Bäume trugen Äpfel, die ließ er pressen, den
+Most wahren und gären, und wenn das Getränke klar und herbe geworden,
+so trank er es als echten Wein. Und der Apfelwein — dem Vater Noah zu
+Trutz sei's gesagt — gab dem Traubenwein nichts nach, hingegen gab
+der Lamel dem Apfelwein nach, und zwar nicht selten auf Kosten seiner
+Selbständigkeit.</p>
+
+<p>Auf die kleine Schwäche müssen wir einen großen Vorzug erwähnen. Der
+Lamel war schriftgelehrt und ging in den Feierstunden daran, die sieben
+Siegel der Bibel zu lösen, wobei ihm der Apfelwein stets behilflich
+war, so daß er schließlich die Offenbarungen des heiligen Johannes
+leibhaftig um sich herumtanzen sah, mitsamt den vier Ältesten und dem
+Lamel.</p>
+
+<p>Eines Abends sprach ein alter hinkender und schielender
+Handwerksbursche im Hause des Wegwarts zu, nahm am Brunnen einen Trunk
+und wusch sich hierauf den Staub von den Füßen. Weil der Wegwart nicht
+weit davon stand und dem Alten lächelnd zusah, so wurde dieser dreist
+und bat um Nachtherberge. Bei Wegwächtern kehrt man sonst nicht zu,
+aber der Lamel wollte auch einmal ein Hausvater sein und sagte: »Hat Er
+ein Wanderbuch?«</p>
+
+<p>»Ein Wanderbuch?« fragte der Geselle schielend entgegen, »— ein Wander
+— — das heißt — ja freilich, freilich hab' ich ein Wanderbuch.«</p>
+
+<p>Der Lamel nahm das blau eingebundene Ding in Empfang,<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> legte es in
+seinen Schrank und ließ dem Fremden Nachtmahl und Nachtlager geben.</p>
+
+<p>Am anderen Morgen, noch ehe die Sonne und der Lamel aufgingen, war
+der alte Wanderbursche davon und mit ihm das neue Paar Juchtenstiefel
+des Wegwart. — Fand es eigentlich soweit in Ordnung, der Lamel, denn
+gute Stiefel müssen wandern und ein echter Haderlump muß stehlen. Aber
+wie ein Mensch so leichtfertig sein kann, sein Wanderbuch im Stiche
+zu lassen! — Das blaue Buch lag noch im Schranke, der Lamel öffnete,
+durchblätterte es — ja, was ist denn das für ein wunderlich Wesen?
+Ein Wanderbuch allerdings, aber ein gedrucktes. »Das Buch über die
+Seelenwanderung« war es benamset und bei näherer Untersuchung enthielt
+es große Abhandlungen in langen Kapiteln mit geheimnisvollem Dunkel und
+tiefer Weihe geschrieben. Der Verfasser war nicht genannt — so konnte
+es auch der heilige Geist selber diktiert haben.</p>
+
+<p>Und als wieder die Feierstunden kamen, da schaffte sich der Lamel einen
+Krug Weines ins Stübchen und begann das Buch von der Seelenwanderung
+zu lesen. Das erzählte fürs erste die Geschichte des Glaubens an die
+Seelenwanderung, wobei natürlich viel von den alten Ägyptern die Rede
+war, kam auch später auf das Feld der Spiritisten. Und schließlich
+verharrte das Buch gläubig bei folgender Lehre:</p>
+
+<p>»Jene Engel, die im Himmel sich versündigt hatten, verstieß Gott in
+eine Ödnis, so die Erde heißet. Auf der Erde lebten die Verstorbenen
+in Leibern aus Lehm und waren anheimgestellt der Drangsal und sollten
+ihren Fehltritt sühnen, bevor ihr Leib wieder zu Lehm sich lösete.
+Wenigen gelang es, in ihrer irdischen Natur, sozusagen in einer Hülle
+von Kot, sich zu reinigen; denen es gelang, die wurden wieder in die
+Himmel aufgenommen; denen es nicht<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> gelang, die mußten von neuem in
+irdische Leiber zurückkehren, und dies immer wieder und so lange, bis
+sie durch Not und Trübsal genugsam rein geworden, etwas Großes hier
+gewirkt hätten und endlich dereinst in die Himmel aufgenommen werden.
+So ist das Menschengeschlecht entstanden und so muß es fortbestehen,
+bis der letzte Engel seinen letzten Fehl, er rühre noch vom himmlischen
+Reiche oder von seinem vorhergegangenen Erdenleben her, gesühnt
+hat. Zum Beispiel Abraham, Moses, Paulus, Mohammed, Karl der Große,
+Kolumbus, Schiller usw. gehören nun zu den Erlöseten, die, wie oft
+sie auch früherhin in Erdenleibern gewesen sein mögen, ihre Büßerbahn
+erst mit dem Dasein, in dem sie das Große gewirkt, beschlossen haben.
+Hingegen, um nur weltberühmte Übeltäter zu nennen, zum Beispiel Pharao,
+Herodes, Nero, Alexander V., Napoleon und andere haben mit diesen ihren
+Existenzen nicht abgeschlossen, müssen so oft und so lange wieder in
+menschliche Leiber zurückkehren, bis nicht allein ihre Verbrechen in
+den Himmeln, sondern auch ihre bösen Taten auf Erden gebüßt sind. Wie
+oft, Leser — so schaltete das Buch packend ein —, magst du schon auf
+Erden gewesen sein? Wer weiß es denn, ob du nicht der Kain warst, oder
+Alexander der Große geheißen, oder Pontius Pilatus, der unsern Herrn
+ans Kreuz schlagen ließ, oder Robespierre, der Wüterich von Paris? Der
+Urvater Adam selbst kann heute noch auf Erden wandern, etwa in deinem
+Gebietiger (so zu lesen), der dich schützt und schlägt, etwa in dem
+Bettelmann, der dich um Almosen anfleht, etwa in dir, in deinem Sohne!«
+—</p>
+
+<p>Fast hätte der Lehm-Lamel über das merkwürdige Buch des Apfelweines
+vergessen. <em class="gesperrt">Das</em> war ein Buch. Das leuchtet ein. Ja, jetzt
+ist das Rätsel gelöst. Darum die Welt, darum die vielen armseligen
+Menschen, darum die wenigen<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> großen Taten und darum das Sprichwort
+von einem großen Wohltäter: »So einer kommt nicht wieder!« Und das
+Böse wird bestraft und das Gute belohnt und die Erde ist eigentlich
+das Fegefeuer. Wie das stimmt! — Und ein solches Licht für ein paar
+Juchtenstiefel! Wer weiß! Der alte Handwerksbursche kann ein guter
+Engel gewesen sein; man kann's nicht wissen — gar nichts kann man
+wissen auf der Welt, als was in diesem Buche steht.</p>
+
+<p>Und wieder und immer wieder las der alte Wegwart in der wunderlichen
+Schrift. Oft sann er lange und ernstlich über sich selbst. — »Jetzt
+steht die Welt schon sechstausend Jahr', und du bist noch nicht
+fertig, Lehm-Lamel, gefallener Engel, bist noch immer da? An die
+neunzig Menschenalter sind seit der Erschaffung der Welt, hast sie
+alle durchgemacht und bist erst noch nichts als der dumme Wegwächter,
+dem alle Rösser der Welt auf die Arbeit pissen. Was hast denn immer
+getrieben, du Haderlump? Viel mag ich nicht wetten, du bist bei den
+Zigeunern gewesen ...«</p>
+
+<p>Er las sich streng die Leviten und trank Apfelwein dabei, und
+tatsächlich, es war ihm zumute, als hätte er auch vor mehreren tausend
+Jahren schon aus dem Kruge getrunken — zu Noahs Zeiten — nur bedünkte
+ihm, der Wein wäre damals nicht ganz so sauer gewesen als heute. —
+Der Wein hat auch seinen Geist; seine Seele demnach. Wie wenn auch
+diese wanderte? Der Saure, der Gewässerte, der künstlich Gezuckerte und
+Durchgeistigte — nimmer erfüllte er seinen Beruf, er muß noch einmal
+in die Kelter. Aber der Apfelwein ist ohne Falsch und vermag — wenn
+man betrachtet, wie der kräftige Lamel zuweilen auf dem Boden liegt —
+Großes zu vollbringen. — So wird der Apfelwein über kurz den reinen
+Geistern beigesellet sein ...</p>
+
+<p>Der Lamel war bisher Junggeselle geblieben, so war<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> fürs erste niemand
+da, der zu seiner seelischen Reinigung beitrug, und der ihn fürs zweite
+in seinen Grübeleien zerstreut hätte. Also verbiß er sich immer mehr
+in das Buch von der Seelenwanderung, und also wurde er allmählich ein
+Narr. Die Idee, ob er nicht etwa doch einer aus dem Alten Testamente
+sei — er las nebenbei auch immer die Bibel — und ob nicht gar die
+Seele des unerlösten Adam in ihm stecke, trug er lange mit sich herum.
+Und in seiner Vermutung wurde er bestärkt, als er sich jählings in ein
+junges Weib verliebte. Er war noch nicht zweimal zwanzig Jahre alt und
+durchaus, vom Fuß bis zum Kopf, ein Wegwart, der sich sehen lassen
+durfte. Sie war eine Kalkbrennerin in der Gegend; die schöne Strinerl
+geheißen; ihre Haare waren so gelb wie das Korngehalme auf dem Felde
+zur Zeit, wenn der Schnitter kommt. Ging der Lamel zur Schnittzeit über
+die Felder, so las er nicht ungerne die bauchigen Körnlein aus den
+Ähren und zermalmte sie mit seinen urtüchtigen Zähnen. Und dachte dabei
+an den Schatz.</p>
+
+<p>Aber — Lehm-Lamel-Adam, kannst du dich denn nicht mehr erinnern, das
+voreinstmalen die goldhaarige Eva schuld war an deinem Falle, an deiner
+Austreibung aus dem Paradiese und an deiner ruhelosen Seelenwanderung
+durch die Geschlechter der Menschen? — Der Apfelbiß in der Bibel!
+nichts als Blumensprache, du weißt es recht gut. Lehm-Lamel-Adam! Was
+zieht doch täglich für ein Volk die Straße entlang, an dir vorbei?
+Ein unselig Volk von Bettlern, Vagabunden, Tagedieben! Dort wankt
+ein Blinder, geführt von seinem halbnackten Kinde; dort schleppt ein
+kraftloses Maultier einen lahmen Mann; dort geleiten Schergen einen
+Übeltäter heran und drüberhin flattern und krächzen die Raben. Hier
+sprengt mit Roß und Wagen ein anderer Übeltäter vorüber; dort liegt ein
+Waisenknabe im<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> Straßengraben und ächzt. Sechs schwarze Hengste führen
+die Leiche eines reichen Selbstmörders ihrer prunkenden Gruft zu. Dort
+am Steinhaufen kauern Mann und Weib und Kinder in Lumpen; die Kinder
+schreien nach Brot, der Mann verflucht sein Geschick. Und hier wankt
+ein Enttäuschter, Vernichteter des Weges zurück, den er vor kurzer Zeit
+erst mit fliegenden Plänen und Hoffnungen gezogen. Und so zieht's Tag
+für Tag und Jahr für Jahr die breite Straße entlang; ganze Kriegsheere
+dazwischen, ausfahrend, um zu morden und zu rauben. Und das — all das
+ist das Menschengeschlecht. Adam, das ist deine Sippe! — Und wiederum
+gehst du auf Freiersfüßen, anstatt anzupacken, daß die ganze mißratene
+Brut vertilgt werde!</p>
+
+<p>So schrie das Gewissen dem Wegwart in die Ohren.</p>
+
+<p>Es war nur ein alter Eseltreiber, der eines Tages beim Wegwart zusprach.</p>
+
+<p>»Lehm-Lamel!« rief er durchs Fenster hinein, »weißt du schon, daß
+die Strubacher-Leut' nicht mehr sprechen können? Sie heißen dich den
+Lahm-Limmel.«</p>
+
+<p>»Treib' deine Esel in meinen Obstgarten,« sagte der Lamel, »und setz'
+dich zu mir, ich muß dir doch etwas aus diesem Buche vorlesen.« Dann
+hub er an und teilte dem Treiber die Lehre von der Seelenwanderung mit.
+— »Und für ein Paar Stiefel hat mir ein Landstreicher dieses Werk im
+Haus gelassen!«</p>
+
+<p>»Der hat gewußt, was er getan hat,« rief der Eseltreiber und schlug mit
+der flachen Hand aufs Buch, »aber Leder ist hier <em class="gesperrt">mehr</em> drin.«</p>
+
+<p>Als sie tiefer in das Gespräch kamen und der Lamel mitgeteilt hatte,
+daß mutmaßlich die Seele des Adam aus dem Paradiese in ihm stecke,
+neigte der Treiber zustimmend den Kopf. Und als sich jener Rates holte,
+was er denn eigentlich<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> werde tun müssen, um sich zu erlösen, sagte
+dieser: »Luderleben sollst keins führen, das ist die verbotene Frucht.
+Selbst meine Esel möchten Heu haben und müssen Stroh fressen. Aber das
+Müssen gilt nicht. Wer's freiwillig tut, dem ist's ein Verdienst.«</p>
+
+<p>»Ich hüte mich wohl,« sagte der Lamel, »da schau meine Obstbäume an,
+die schönsten Äpfel, die prächtigsten Äpfel! Du, ich sag' dir, nicht
+einen einzigen ess' ich im Jahr. Gott hat schon im Paradiese den Apfel
+verboten.«</p>
+
+<p>»Geh,« lachte der Eseltreiber, »du bist schlau, die Äpfel ißt du nicht,
+aber ihren Saft pressest du heraus und damit trinkest du dir die
+Räusche!«</p>
+
+<p>Schier zu Tode erschrak der Lamel über diesen Vorwurf; er sah es
+plötzlich ein, der Eselmann hatte recht, im Apfelwein genoß er die
+verbotene Frucht.</p>
+
+<p>Und von dieser Zeit an hatte sich der Wegwart fest vorgenommen, nicht
+einen Tropfen des falschen Getränkes mehr zu trinken, als bis er im
+Reiche Gottes zur »Rechten« säße. Es gelang ihm eine erkleckliche
+Weile, seine argen Gelüste zu zähmen und seinen sündigen Menschen
+zu verleugnen, und er hatte schon gegründete Hoffnung, daß Adams
+langwierige und langweilige Seelenwanderung in dem schlichten Wegwart
+endlich ihren guten Abschluß finden würde.</p>
+
+<p>Da war einmal ein heißer Sommertag und da kam die schöne Strinerl
+die staubige Straße gegangen. Sie sah den Schatten in des Wegwarts
+Obstgarten, sie hörte den Brunnen rieseln; so trat sie in den kleinen
+Hof, um zu trinken.</p>
+
+<p>Schon hielt sie die braune, hohle Hand unter den klaren Strahl, als sie
+der Lamel vom Fenster aus bemerkte.</p>
+
+<p>»Närrchen, Närrchen!« rief er, »was wirst Wasser trinken! Ich habe
+einen guten Apfelwein im Keller, ich selber brauch' ihn nicht; für wen
+hätt' ich ihn, Dirndl, als für dich?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span></p>
+
+<p>Er eilte in den Keller, entspundete ein Fäßchen und steckte einen
+Schlauch hinein, um die Gottesgabe in den bereiten Krug herauszuheben.
+Doch, als er mit dem Atem hob und als es kühl und feucht wurde unter
+seinem lechzenden Gaumen, da kam er ins Saugen und der Wein ging durch
+den Schlauch geradewegs in seine Gurgel. Er trank herzhaft drauflos,
+vergaß die gelblockige Strinerl, vergaß den Adam, trank und trank die
+langentbehrte Labe — trank und sank endlich auf den kühlen Lehm des
+Kellers hin.</p>
+
+<p>»Lamel!« lallte er schläferig, »war <em class="gesperrt">das</em> ein Durst! Und er ist
+noch — nicht gelöscht. Will ihn gründlich löschen — den Durst, weil
+ich schon dabei bin. — Strinerl, komm' her! — 's hilft nichts dafür,
+der Mensch ist wie er ist. Er mag sich drehen und spreizen wie er will,
+er mag ein Röckel tragen, blau oder rot. Oder gar keins. Er mag sich
+die Haut umwenden. Mag auf dem Fuß stehen oder auf dem Kopf. 's ist
+alles eins. 's ist und 's bleibt der alte Adam ...«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Saeemann">Der Säemann.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Seit Jahrhunderten gab es im Tale keinen merkwürdigeren Mann als den
+Samstag-Christof. Er hätte dreimal Anrecht gehabt auf das Spital, denn
+er war übel geboren. Eine Krankheit hatte ihn zugerichtet, er war
+stocktaub und einäugig und hatte eine verstümmelte rechte Hand. Aber
+seine Linke war gesund und ernährte drei Gemeinden. Der Christof war
+arm und wohnte unter dem Strohdach einer Scheune. Als Knabe entsprang
+er dem Krankenhause, in das ihn der Vormund nach dem Tode der Eltern
+gesteckt hatte; die erste Nacht nach seiner Flucht verschlief er in der
+Scheune, und seitdem war diese sein Daheim gewesen, und er hatte in ihr
+seinen ersten Bart und seine weißen Haare erwartet. Aus Stroh hatte er
+sich ein Stübchen geflochten, das sah aus wie ein mächtiger Korb, und
+hielt die Kälte und Hitze ab. Das Stroh beschützte den Mann ja gern,
+denn jeder Halm verdankte ihm das Leben und die Ähren ließen gerne ihre
+rundesten Körner dem guten Christof zum Brot. Der Mann war eine Gestalt
+zum Erbarmen; aber es gab keinen Amtmann weit und breit, der so geehrt
+und in sich so glückselig war, als der Samstag-Christof.</p>
+
+<p>Der Samstag-Christof war wie die Kraft Gottes, des Schöpfers, könnte
+man sagen; worüber er seine Hand ausstreckte — und es war doch nur
+die linke — das wurde gesegnet. Man wußte nicht, woher es kam, es war
+eine angeborene Eigenschaft; Christof war der berühmteste Säemann im
+ganzen Bergland. Es gab sehr geschickte und erfahrene Bauern im Tal,
+sie hatten — darüber war nicht zu klagen — fleißige Hände und volle
+Speicher, sie verstanden das<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> Ernten — aber das Säen verstanden sie
+lange nicht immer. Einmal ging das Korn zu dicht auf und erstickte
+sich, das andere Mal standen die Halme schuhweit auseinander und jede
+Ähre hatte ein ganzes Ländchen für sich — dafür trugen sie auch den
+Kopf hoch und waren leer und spießig, statt voll und glatt. Oft waren
+mitten in den Äckern leere Gassen, durch die Roß und Wagen hätten
+ziehen können, ohne ein Hälmlein zu beschädigen. Ein Sträfling kann
+die Gassen, durch die er Spießruten laufen muß, kaum stärker hassen,
+als der Bauer solch eine leere Gasse durch sein Kornfeld haßt. Die
+Samenkörner mit vollen Händen hinzuwerfen, ist freilich leicht, aber
+das Erdreich ist braun und die Körner sind braun, und es ist schwer,
+die Gleichmäßigkeit einzuhalten, daß kein Fleckchen leer bleibt oder
+keine Handvoll auf die andere fällt. Gute Augen, ein gleicher Schritt
+und eine sichere Hand gehören dazu.</p>
+
+<p>Der Samstag-Christof hatte nur ein einziges Auge, das gewiß nicht über
+die Ecke der Nase sah, und er hatte sichelkrumme Füße, und er hatte nur
+die »dengge« Hand, und dennoch blieb, wenn er säete, auf dem ganzen
+weiten Felde keine Handbreit leer und kein Korn fiel auf das andere.
+Wenn auf Christofs Acker der Same aufging, so war das so gleichmäßig
+wie eine grünende Wiese, und wenn er reifte, legte ein Halm seine
+schwere Ähre auf die Achsel des andern.</p>
+
+<p>Darum suchten alle den Christof auf in seinem Strohkorbe, darum tat der
+Christof im Frühjahre und Herbste zwei Monate nichts als säen, und er
+säete auf allen Feldern des ganzen weiten Tales. Da trug er ein großes,
+weißes Tuch um die Lenden, und darin hatte er das Samenkorn, ein
+strotziges Bündel. So legte er fast mit Grazie seine Linke hinein und
+schwang sie dann gefüllt — nicht auf das gelockerte Feld. — Die erste
+Handvoll warf er auf<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> sandigen Boden oder auf einen Felsen, oder hin
+über das Heidekraut des Raines. Warum er's tat, das sagte er nicht und
+keiner stellte ihn darob zur Rede. Dann aber ging's über das Feld, von
+einem Rain bis zum andern. Wie er die Hand so schwang im Halbkreise,
+da zogen von ihr die braungelblichen Strahlen der Körner aus, und sie
+verdünnten sich in der weiten Runde und wurden unsichtbar, bis sie zur
+Erde fielen. Gleich kamen auch die Vöglein herbeigeflogen von den nahen
+Bäumen und von den Büschen. Sonst hüpfen sie gerne auf den Erdschollen
+herum und picken die frischgesäeten Körner auf, aber dem alten Christof
+flogen sie auf die Achsel oder die Lederhaube, und einmal ließen sie
+sich gar wundersam nieder zum Kornsack und schnappten nach Lust die
+Dingelchen heraus. Als ob es ihnen gesagt worden wäre, daß das Körnlein
+im Sacke geradeso sättigt wie das Körnlein im Erdreiche, obwohl das
+erstere nur ein einzig Körnlein bedeutet, das letztere aber eine ganze
+schwere Ähre.</p>
+
+<p>Keine Handlung im formreichen Kultus des Landmanns ist so würdevoll und
+heilig wie das Hinlegen des Samenkornes in die Erde. Das ist Glaube
+und Hoffnung, das ist ein Begräbnis mit der kindlichsten Zuversicht
+an die Auferstehung. Ich habe noch keinen lachenden, singenden oder
+plaudernden Säemann gesehen; der tollste, ausgelassenste Bursche
+schreitet bei dieser Arbeit still und ernst einher, als sei er zur
+selbigen Stunde ein Wundermann, der mit wenigen Broten viele speist. Es
+ist, als ob den Säemann bei dieser Handlung eine Ahnung überkäme von
+seinem eigenen Hinsinken in das Erdreich und Wiederhervorgehen zu neuem
+Leben.</p>
+
+<p>Freilich wohl liegt über diesem tiefen Meere der Poesie, sowie immer im
+Volke, der Schaum des Aberglaubens. Der Säemann soll ein Sonntagskind
+sein und die Arbeit nur bei<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> aufnehmendem Monde verrichten. Gesagt ist,
+daß der Same besser gedeiht, wenn er früher mit Weihwasser übergossen
+wird; das Wasser müßte aber nicht gerade geweiht sein, die Hauptsache
+ist nur, daß es befeuchtet. Sonst wird beim Säen die erste und die
+letzte Handvoll kreuzweise hingeworfen, damit nicht etwa der böse Feind
+Unkraut unter den Weizen menge. Aber der Christof tat das nicht, die
+erste legte er auf unfruchtbaren Grund und die letzte — es war recht
+und billig — behielt er sich zum Eigentum. Hatte er an einem Tage
+zehn Äcker besäet, so hatte er sich zehn Hände voll Korn erworben;
+so ließ sich in der Säezeit der Lebensunterhalt für das ganze Jahr
+zusammenbringen.</p>
+
+<p>Im Tale lebte ein häßliches Weib, die Brennessel-Gret. Es war eine arme
+Witwe, mit drei kleinen Kindern; es war auch ein Säeweib und hatte sich
+und anderen durch seine böse Zunge schon viel Unkraut ausgestreut. Die
+Gret liebte keinen Unglücklichen, umsomehr haßte sie den Glücklichen.
+Der Samstag-Christof, arm und häßlich wie sie, aber geachtet von
+allmänniglich und geliebt von jedem Kinde, selbst von den Vöglein der
+Lüfte, war ihr ein Dorn im Auge. Im allgemeinen achtete man nicht auf
+die Brennessel-Gret, was sie auch sagen und tun mochte. Auf einmal aber
+ging ein Gerücht durch aller Leute Mund: Nun, endlich wisse man's,
+warum der Samstag-Christof so trefflich säe, er benütze den Bösen
+dazu, der müsse ihm jedes Korn auf den genau abgemessenen Platz in die
+Erde legen und bekäme dafür die erste Handvoll, die der Christof auf
+unfruchtbaren Boden wirft. Der Samstag-Christof sei ein Hexenmeister.</p>
+
+<p>Man weiß, wie Bauern sind — im nächsten Jahre säete jeder sein
+Kornfeld eigenhändig, und dem alten Christof wich man aus und grüßte
+ihn kaum mehr. Dieser lebte verborgen in seiner Scheune, während
+draußen der Frühling<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> war. Aber als die Saat aufging, gab es über die
+Felder hin viele aschgraue, kahle Streifen und zur Blütezeit wucherte
+Nesselkraut und Hederich zwischen den Halmen und in den Erntetagen
+lagen die Garben dünn zerstreut auf den Stoppeln.</p>
+
+<p>Im nächsten Herbste wurde in der Hütte der Brennessel-Gret viel gebetet
+und geflucht. Das Weib hatte sein Kornackerl bestellt, aber nun bekam
+es, wie sonst alljährlich, keinen Samen von der Nachbarschaft; erstens,
+weil solcher in diesem Jahre rarer war als sonst, zweitens, weil sich
+das Weib immer mehr verhaßt gemacht hatte. Alles bestellte seine
+Wintersaat, aber der Acker der Witwe blieb brach liegen. Christof hatte
+in seinem Vorrat einen Kübel Korn; da dachte er bei sich: Streue ich
+diese Körner auf ihr Feld, so bin ich wieder der Hexenmeister, und
+bleibt ihr Acker leer, so verhungert sie mit ihren Kindern. — Da war
+der alte Mann einmal über eine Nacht nicht in seiner Scheune.</p>
+
+<p>Der Winter kam und ging vorüber; in der Hütte des Nesselweibes war
+Trostlosigkeit; die Grete betete für ihre Kinder und verfluchte alle
+übrigen Menschen. Aber im Frühjahre, als alle Felder grünten im weiten
+Tale, grünte auch das der Witwe; es ging aus demselben das Korn auf in
+saftiger Fülle und schöner Gleichmäßigkeit, erquickender zu sehen, wie
+alle Äcker der Großbauern. Der Samstag-Christof hatte hier gesäet, es
+ließ sich nicht leugnen. Nächtlicherweile mußte er es getan haben, und
+dennoch stand jedes Hälmlein von den anderen wie abgemessen. Das hätte
+den Argwohn von dem »Hexenmeister« wohl bestärkt, aber der Pfarrer
+sagte: »Er hat Almosen gegeben mit der Linken, ohne daß es die Rechte
+wußte; er ist, umgekehrt wie im Evangelium, gegangen auf den Acker des
+Feindes um Mitternacht und hat das Unkraut zertreten und guten Samen
+gestreut.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span></p>
+
+<p>Ich habe den alten Samstag-Christof noch gekannt. Über seinen Körper
+schienen alle Übel kommen zu wollen; in seinen letzten Jahren war
+er so buckelig, daß er wie ein Ballen herangewandelt kam. Sein
+niedergebeugter Kopf war kaum einen Fuß von der Erde entfernt, seine
+hageren Hände, wovon die Rechte fingerlos war, hingen nieder bis zum
+Boden; es war, als ob er alle Körner wieder auflesen wollte, die er
+in seinem Leben ausgestreut hatte. An einem Samstagabend fand man ihn
+mitten auf einem reichen Kornfeld leblos, tief zusammengekauert wie ein
+Samenkorn, das, in Verwesung übergehend, keimen will. Man konnte den
+Greis nicht mehr gerade legen, der Sarg mußte kurz und breit sein.</p>
+
+<p>Das Grab des alten Christof wurde bald weit und breit bekannt; es
+wuchsen Halme auf ihm und Kornähren daran. Die alte Brennessel-Gret
+führte ihre drei Kinder zum Hügel, pflückte jedem eine Ähre und sagte:
+»Nehmt und bauet sie an.«</p>
+
+<p>Zwei dieser Kinder besitzen heute weite Kornfelder, herausgewachsen aus
+den zwei Ähren; das dritte aber hat seine Ähre verworfen und zieht hab-
+und heimatlos durch die Länder.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_scheltend_Schuster">Der scheltend' Schuster.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Da stand in den Zeitungen der Bericht von einem Manne in Boston, der
+jedesmal, wenn er fluche, ein Geschenk zu kirchlichen Zwecken gebe, auf
+diese Art bereits ein Bethaus erbaut habe und nun dabei wäre, einen
+Turm auf die Presbyterianerkirche zu fluchen.</p>
+
+<p>Dieser Bericht erinnerte mich an den Flucher Martin Leitner in
+Fischböckgraben, welcher Leitner unter dem Namen: »Der scheltend'
+Schuster« weit und breit bekannt war. Um ein guter Flucher zu sein,
+braucht man rhetorisches Talent; mit etlichen groben Redensarten allein
+ist's da nicht abgetan, die bringt jeder ungehobelte Bauer zuweg,
+ja selbst der Stadtherr und die Stadtfrau, was mir eine ganze Welt
+von dienstbaren Geistern beweisen helfen kann. Der geborene Flucher
+flucht mit Grazie, mit Humor, mit Wärme und Empfindung, mit schönem
+Pathos, kurz, mit dichterischem Schwung. Ihm steht eine unerschöpfliche
+Mannigfaltigkeit der Form zu Gebote, ein Bilderreichtum gewaltiger
+Phantasie, sein Fluch ist als Ausdruck der Empfindung ein poetisches
+Werk lyrischer Art. Fluchen und Beten sind scheinbar sich ganz
+entgegengesetzte Dinge, in Wahrheit aber gleichartiger Natur: Beides
+ist eine Wunschäußerung des Gemütes gegenüber einem übernatürlichen
+Geiste. Zum Glücke wird so selten andächtig geflucht als andächtig
+gebetet.</p>
+
+<p>Der Schuhmachermeister Martin und sein Geselle, der fromme Barthel,
+leisteten in beiden Fächern ganz Erkleckliches. So oft der Martin
+den Mund auftat, zitterten alle tausend Mordelemente im Himmel und
+auf Erden; und wenn der alte Barthel während des Drahtziehens seine
+frommen<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> Stoßgebetlein ins Pech oder ins Leder murmelte, hatte es
+eine Art, daß, wie der Meister sagte, nur gerade das kreuzweis
+verschweifelte Donnerwetter dreinpfeifen müßte! Sie eiferten sich
+gegenseitig an zu ihren Tugenden; je mehr der eine fluchte, je mehr
+betete der andere, und je mehr dieser betete, je mehr fluchte jener.
+So gab es denn in der Schusterwerkstatt oftmals einen Geruch wie von
+Weihrauch und Schwefel durcheinander.</p>
+
+<p>Den Meister ärgerte des weiteren das Beten nicht, insofern war er
+duldsamer als sein Geselle, dem das Fluchen seines Herrn ein Greuel war.</p>
+
+<p>Nicht ungern erzählte der Schustergeselle die Geschichte von dem
+fluchenden Weber, der so lange in das bei einem ungeduldigen Weber
+stets verknüpfte und verworrene Garn hineinfluchte, bis er umgarnt war
+und ihn mit Haut und Haar der Böse holte, den er so oft angerufen hatte.</p>
+
+<p>»Das muß schon ein sternhageldick verzweifelter Narr gewesen sein,«
+meinte der Meister, »wer wird denn so fluchen?«</p>
+
+<p>Der Barthel glotzte ihn ganz dumm an, und eines Tages rückte er den
+Dreifuß und sagte: »Der Meister ist sonst kein zuwiderer Mensch nicht,
+aber halt das gottlose Schelten und Eitelnennen Gottes! So oft der
+Meister tut fluchen, gibt's mir einen Stich ins Herz, als wie wenn eins
+mit dem Ahl-Ertel ohne Schmer hinein tät' rennen. Das bin ich gar nicht
+gewohnt, und jetzt sag' ich meinen Dienst auf.«</p>
+
+<p>Wickelte der Meister den Pechdraht um die Hand, rückte auch seinerseits
+den Dreifuß und antwortete: »Was heißt das, Barthel? Wer nennt den
+Gottesnamen eitel, ich oder du? Schelten! Fluchen! Du tust ja, als
+wie wenn ich ein siebendoppelter Heid' tät' sein! So ein blitzblau
+vernagelter Unsinn! Ob mich schon wer fluchen gehört hat, möcht' ich<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span>
+wissen, du gottverdammter Ehrabschneider, du vermaledeiter, daß dich
+der Teufel hol—lertee trink' ich gern.«</p>
+
+<p>Aber fluchen tat er nicht.</p>
+
+<p>So klagte der Barthel seine Not einmal den Kirchenpröbsten, unter
+welchen die Sakristeidiener und Vorbeter verstanden sind, und zu denen
+er selber gehörte. Und sie einigten sich darin, daß der Meister Mirtl
+(Martin) wirklich der greulichste Flucher sei, der je Menschenfüße in
+Ochsenhaut steckte, daß man ihn allerwärts den scheltenden Schuster
+heiße, was dem Sprengel, in dem er lebe, keine Ehr' sei, und daß
+der Mann stumm gemacht werden müsse. — Was half's, daß der Geselle
+nach jedem Fluch des Meisters ausrief: »Gott verzeih'!« wenn der
+andere sofort wieder mit einem: »Gott verdamm'!« dreinfuhr, und es
+drauflosging, daß sich ordentlich das bockigste Stierleder unter dem
+Knieriemen wand vor Entsetzen.</p>
+
+<p>Wenn der Meister bei guter Laune war, so hörte man von ihm
+fortwährend Gefühlsausbrüche harmloserer Art, als: »Bassama
+hint' auf d' Höh'!« oder: »Kruzi-Adaxel-Türkensabel, Ludervieh
+und Heugabel!« oder: »Kreuz-divi-domini, daß dich!« oder auch:
+»Fixzaunmarter-dürre-Krautstingelbutten!« Wenn er aber in Zorn und Wut
+kam, da ging ein ganz anderes, ein schweres Wetter nieder.</p>
+
+<p>»Geldstrafe!« sagte einer der Kirchenpröbste, »sonst weiß ich
+kein Mittel. So oft der Mirtel einen Flucher laßt, zahlt er einen
+Kupfersechser. Barthel, du passest auf und verwahrst das Geld, das
+nachher der Kirchen gehört.«</p>
+
+<p>»O, ihr lieben Eselein!« rief der Barthel, »da möcht' ich wohl wissen,
+wer ihm das Zahlen wollt' schaffen. Den schilt er maustot.«</p>
+
+<p>»Das laß gut sein, Schuster,« sagte der andere, »ich werd' mit dem
+Kaplan reden.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span></p>
+
+<p>Und nach einiger Zeit, als der Meister Mirtel eines Tages von der
+Kirche heimkehrte, war er verzagt und fluchte nicht, so daß der Barthel
+glaubte, sein Meister müsse krank sein, und ihn darob befragte.</p>
+
+<p>»Ja, mein lieber Barthel,« antwortete der Meister traurig, »'s ist
+nicht richtig mit mir; bei der Beicht' bin ich gewesen. 's mag wohl
+sein, daß meine arme Seel' zum Teufel geht. Weil ich so viel schelten
+tät', sagt der geistliche Herr. Glaub's aber nicht, 's müßt mich nur
+zeitweilig der Höllsaggra so viel reiten. Sollt' mir's abgewöhnen, sagt
+der geistliche Herr. Der hat leicht reden, der hat alleweil die sieben
+Sakrament' im Mund und ist fromm dabei; und unsereinem darf nur eins
+auf die Zungen kommen, so heißt's, man schilt! Muß aber doch derlogen
+sein, daß ich mir das mordsschwerenots Fluchen nicht sollt' können
+abgewöhnen. — Nu, so hat halt der geistliche Herr gesagt, sagt er: so
+oftmals ich einen feisten Flucher tät' loslassen, sollt' ich allemal
+einen Dreier für den Opferstock geben.«</p>
+
+<p>»Einen Sechser, Meister, einen Sechser!« rief der Barthel drein.</p>
+
+<p>»Einen Sechser? Wie kannst denn du das wissen, du neunmal verzweifelte
+Judashaut; hast leicht gelost?!«</p>
+
+<p>»Gar nicht, Meister, gar nicht; hab' nur gemeint, so ein Flucher vom
+Meister ist seinen Sechser schon wert.«</p>
+
+<p>»Hat's auch gesagt, der geistliche Herr, daß ich mich allemal um einen
+Sechser sollt' strafen. Meint er 'leicht, ich hätt' nicht Herr über
+mich! Justament will ich ihm's zeigen, dem Sakermenter, daß ich das
+Schelten kann lassen.«</p>
+
+<p>»Meister, ich bitt' um den Sechser.«</p>
+
+<p>»Was hast denn? Es gilt auch: so oft ich was fluch', kriegst du für die
+Kirche den Sechser. Daß ich euch weis', was ich kann, und das verdammte
+Gered' einmal aufhört:<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> nicht <em class="gesperrt">einen</em> setzt's, oder es soll mich
+das Kruzifix-Millionen-Donnerwetter in den Erdboden schlagen!«</p>
+
+<p>»Meister, ich bitt' um den Sechser.«</p>
+
+<p>Das Donnerwetter schlug nicht, aber er gab den Sechser: den ersten und
+bald noch etliche dran in derselbigen Woche. Jeder »Satan« und jedes
+»Mordselement«, jede »Pestilenz«, jeder »pechrabenschwarze Gallteufel«,
+sogar jede »Galgenstrick-Latern'« und jedes »Saggramosthosen« wurde mit
+einem Sechser belegt. Allerlei Drohungen und Träume, die dem braven
+Schuhmachermeister nächtlicher Weil' vorkamen, bewirkten es, daß er die
+Strafgelder nicht verweigerte, sondern mehr und mehr seinen Mund in
+acht nahm.</p>
+
+<p>Als die Kirchenpröpste wieder zusammenkamen, brachte der Barthel zwar
+ein nettes Häufchen Sechser mit, tat aber gleichzeitig kund, daß die
+Kupferquelle allbereits versiegt sei.</p>
+
+<p>»Das kömmt mir recht verdrießlich,« meinte der Lichtanzünder, »wie ihr
+sehen könnt, ist der Weihbrunnkessel an der Kirchentür kaputt geworden,
+worauf wir beim heurigen Geldanschlag nicht gezählt haben. So ist mir
+der Einfall gekommen, ob uns nicht der Schustermeister einen neuen
+Kessel zusammenfluchen wollt'.«</p>
+
+<p>»Flucht nimmer,« berichtete der Barthel. »Es müßte denn sein, daß man
+ihn reizen tät'. Wenn's zum Besten des Kessels ist ...«</p>
+
+<p>Und was geschah?</p>
+
+<p>Der Barthel ging heim in die Werkstatt, verknüpfte in Abwesenheit
+des Meisters den Draht, tauchte das Pech in kaltes Wasser, verklebte
+auch ein wenig den Leisten in den halbfertigen Schuh, brach ein paar
+Ahl-Erteln die Spitze ab, versteckte den Knieriemen unter das alte
+Lederwerk und bereitete in schöner Dienstfertigkeit noch dies und das
+für ein ausgiebig Flucherstündchen. Dann rückte er sich in seine<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> Ecke
+und stach und schmierte und nähte mit der harmlosesten Miene von der
+Welt an seinem Stiefel.</p>
+
+<p>Bald darauf trat der Meister lustig pfeifend in die Stube und setzte
+sich an die Arbeit. Fürs erste wackelte der Dreifuß; den rückte er
+gelassen zurecht. Dann langte er nach dem Garnknäuel, um die Drahtfäden
+auf seine Finger und den Ellbogen zu haspeln. Dabei murmelte er etwas
+Unverständliches, denn das Garn war ein wenig verworren. Der Geselle
+lauerte, aber es kam weiter nichts. Das Pech zeigte sich heute, obwohl
+in der Stube geheizt war, ausnehmend spröde, das Schmer hinwiederum
+floß schier auseinander. Als der Meister den Leisten aus dem Schuh
+ziehen wollte, brach der Zughaken und er schleuderte die Trümmer
+zu Boden und starrte stillen Grimmes auf den Gesellen hin, der in
+musterhafter Ordnung weiter arbeitete. Der Meister nahm die Ahle zur
+Hand, da war die Spitze weg — wieder ein Blick auf den Barthel. Bebend
+vor Wut, aber stumm wie ein Fisch, suchte der Meister den Knieriemen,
+schleuderte alle Leisten und Lederfetzen durcheinander, fand ihn
+endlich unter der zerfahrenen Beschuhung, stürzte damit auf den
+Gesellen und salbte ihm kräftigen Armes mit dem Riemen den Rücken.</p>
+
+<p>Und fluchte nicht.</p>
+
+<p>Aber der Weihbrunnkessel ist neu. Man sagt, der Barthel selbst hätte
+ihn zusammengescholten an demselbigen Tag.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Herr_Trotzkopf_der_Heiratsbeflissene">Herr Trotzkopf, der Heiratsbeflissene.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Bertram Siebener ging auf dieser Erde fünf Jahre lang mit
+Heiratsgelüsten um. Es tat ihm die Wahl weh unter den schönen Töchtern
+des Landes, und aus lauter Bedenken und Zuwarten passierte es mehrmals,
+daß ein anderer ihm die Braut vor der Nase weg heiratete. Denn gern
+haben die Frauen des Mannes Herz, aber dessen Hand haben sie noch
+lieber. Zudem hatte Bertram Siebener — ein so prächtiger Mann er sonst
+war — keinen sehr starken Willen, hingegen besaß er einen kräftigen
+Widerspruchsgeist. Ein Trotzkopf war er. Bei allem, was er vorhatte,
+befragte er seine Freunde um Rat, um hernach gerade das Gegenteil zu
+tun von dem, was sie ihm rieten.</p>
+
+<p>So saß er eines Tages im Extrastübel des Eschenwirtshauses und sagte
+zum Wirt: »Julius, was sagst du dazu? Jetzt hab' ich eine aufgestöbert.
+Blutjung ist sie und bildsauber. Hast noch keine gesehen, die so schön
+wäre. Ganz dumm bin ich dir vor Liebe. Die werde ich nehmen — was
+meinst?«</p>
+
+<p>Der Wirt zuckte die Achseln: »Wenn du verliebt bist, dann ist dir nicht
+mehr zu raten.«</p>
+
+<p>»Daß man sich's halt etwa noch überlegt.«</p>
+
+<p>»Das tät' ich auch an deiner Stell', und diesmal schon gar.«</p>
+
+<p>»Meinst also, daß ich's bleiben lassen soll?«</p>
+
+<p>»Weißt, Bertram, ein anderer kann da nichts sagen, das kommt auf dich
+selber an. Ich red' nur das: geheiratet ist's bald, aber das Hausen
+währt lang'. Und just auf die Schönheit allein ginge ich auch nicht.
+So lang' das Weibel<span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span> schön ist, gehört es oftmals nicht dem Ehemann
+allein; und ist es nicht mehr schön, nachher magst es leicht auch
+selber nicht. So ist die Sach'.«</p>
+
+<p>Der neidet mir die schöne Braut, dachte Bertram, als ob just ich kein
+sauberes Weib haben sollte! —</p>
+
+<p>Er ging zu seinem Freunde, dem jungen Tischlermeister, einem sehr
+einsichtsvollen Mann, der selber noch ledig war und bei seiner dicken
+Stiefmutter lebte.</p>
+
+<p>»Du, Franzel,« rief Bertram Siebener, »eilends laß dir Tanzschuhe
+machen. Ich bin Bräutigam. In die Allerschönste bin ich vernarrt, in
+die schöne Traut. Ich denk', ich mach' Ernst! Rate mir, Freund, aber
+rate mir nicht ab.«</p>
+
+<p>»Dazu läge nach meiner Meinung keine Ursache vor,« sagte der Tischler,
+»daß sie deinem Auge gefällt, und daß du sie lieb hast, ist die
+Hauptsache. Alles andere findet sich.«</p>
+
+<p>»Nur Vermögen, wenn sie zu ihrer Schönheit hätte, würde ich nicht
+verachten,« meinte Bertram.</p>
+
+<p>»Vermögen, Vermögen,« sagte der Tischler, »dann bist du der Herr im
+Hause nimmer. Du bist der Anwalt ihres Geldes und mußt durch das
+Kapital deiner Arbeitskraft den täglichen Bedarf schaffen, und dennoch
+würde sie dir's bei jeder Gelegenheit zu verstehen geben, daß sie dir
+Geld mitgebracht hätte.«</p>
+
+<p>»Wenn sie nur auch ein gutes Herz hat?« wendete Bertram ein.</p>
+
+<p>»Pah, ein gutes Herz haben alle, wenn es der Mann verlangt; nur
+häßliche Weiber sind auch böse Weiber. Greif' zu, Bertram, greif' zu
+mit allen Vieren!«</p>
+
+<p>Was der nur hat? dachte der Freier bei sich. Gerade auf der Stelle will
+er mich verheiraten. Er hat leicht reden; leben müßte ich mit ihr. Spät
+gefreit hat niemand gereut. Ich warte noch. —</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span></p>
+
+<p>Ein halbes Jahr später saß Bertram Siebener wieder im Eschenwirtshause
+und zupfte den Wirt am Ärmel: Er hätte etwas zu reden.</p>
+
+<p>»Wenn's nur auch was Gescheites ist!« sagte Julius.</p>
+
+<p>»Das will ich schon meinen. Ich habe wieder eine Braut — eine mit
+Geld!«</p>
+
+<p>»Das läßt sich hören!«</p>
+
+<p>»Aber gerade nicht mehr ganz jung — so in den besten Jahren, eine
+Vierzigerin.«</p>
+
+<p>Der Wirt tat einen lauten Pfiff. — »Nachher könnte sie ja deine Mutter
+sein.«</p>
+
+<p>»Ist's aber nicht. Ist eine recht angesehene Hausbesitzerin, auch
+gesund und heiter. Ich setz' mich in die Wirtschaft und bin ein
+gemachter Mann.«</p>
+
+<p>»Mensch!« rief der Wirt, »ich sage dir, nimm eine ältere! Eine
+Achtzigjährige, die wenigstens bald stirbt. Die Vierzigerin überdauert
+deine schönsten Jahre; du bist an sie gebunden wie der Kettenhund ans
+alte Hoftor. Bertram, ich bitte dich: renn' nicht in dein Unglück!«</p>
+
+<p>»Du hast ja selber eine Alte.«</p>
+
+<p>»Eben darum rede ich aus Erfahrung. Junge, nimm eine Häßliche, eine
+Dienstmagd, eine Dirne — nur keine Alte!«</p>
+
+<p>Bertram ging mißmutig davon. — Just weil sie glauben Nein, so sage ich
+Ja. Möchte doch sehen, wer mit mir schaffen kann! —</p>
+
+<p>Er ging zum Tischler.</p>
+
+<p>»Freund, du wirst Augen machen. Wie du mich da stehen siehst: ich bin
+so viel als Großbauer! Ich heirate die Hochschlagerin.«</p>
+
+<p>»Was?« lachte der Tischler, »o du Schelm du! So bist du's, der den
+fetten Vogel abschießt! Ich gratuliere!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span></p>
+
+<p>»Sie ist just nicht alt.«</p>
+
+<p>»Na freilich nicht,« sagte der Tischler. »Vierzig ist ja noch kein
+Alter. Und so gut erhalten!«</p>
+
+<p>»Just, daß halt <em class="gesperrt">ich</em> ein bissel jung für sie bin.«</p>
+
+<p>»Ist nicht deine Schuld. Brauchst du nicht eifersüchtig zu sein.
+Eifersucht ist ein Elend. Auf die Hochschlagerin kannst dich verlassen
+— bist geborgen. Und sind die zufriedensten Ehen, dergleichen.
+Dann keine Brotsorgen, mein Lieber, keine Brotsorgen, das ist die
+Hauptsache.«</p>
+
+<p>»Es ist wahr,« bemerkte Bertram sinnend, »daß man auch — der
+Nachkommenschaft wegen — Kinder —«</p>
+
+<p>»Eins kriegst, mehr brauchst du nicht. Denke dir das Kinderkreuz! Den
+Kummer! Ich selbst, wenn ich heiraten würde, nähme so eine, wie die
+brave Hochschlagerin.«</p>
+
+<p>»So nimm sie!«</p>
+
+<p>»Ei, du siehst ja, daß ich mit meiner Stiefmutter ganz zufrieden lebe.
+Sie ist eine gutherzige, praktische Frau, besorgt mir die Wirtschaft.
+Und so lebt man fröhlich dahin.«</p>
+
+<p>»Und warum man just mich in den Ehestand jagen will?«</p>
+
+<p>»Jagen? Das nicht, aber mit gutem Gewissen dazu raten kann man dir. Du
+zögerst, aber du wirst heiraten, es ist eine Naturnotwendigkeit für
+dich. Du bist vielleicht gar nicht für den Ehestand geboren. Aber du
+bildest dir einmal ein, zu heiraten, du wirst keine Ruh' und keine Rast
+haben, so lange du nicht verheiratet bist.«</p>
+
+<p>»Und dann?«</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Dann</em> gibt es keine Wahl mehr.«</p>
+
+<p>»Also gezwungen und gebunden leben!«</p>
+
+<p>»Bertram, du bist eine unentschlossene Natur, jede Wahl peinigt dich.
+Immer hin und her. Das Muß tut dir besser, das ist der Stock, an den
+gebunden du erstarken wirst.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span></p>
+
+<p>»Franz, du redest in den Tag hinein. Du verstehst mich nicht. Weißt du,
+was ich tun werde? Ich bleibe ledig!« —</p>
+
+<p>Darauf verging ein Jahr. Die schöne Traut hatte einen schönen Förster,
+die reiche Hochschlagerin einen reichen Holzhändler geheiratet. Bertram
+Siebener war noch frei.</p>
+
+<p>Da saß er eines Tages wieder beim Eschenwirt und trank sich ein Herz
+an. Es war bei ihm, als ob er den Apfelwein nicht in den Magen, sondern
+in das Herz hinabschlürfte; denn mit jedem Humpen schwoll dieses und
+wurde voll, und wurde schwer. Und endlich begann er zu schluchzen ob
+seiner großen Verlassenheit.</p>
+
+<p>»Ich glaube gar, du hast Zahnreißen?« sagte der Wirt.</p>
+
+<p>»Laß mich gehen. Ihr alle miteinander versteht mich nicht — ich fühle
+mich so einsam auf der Welt. — Ich werde doch noch einmal mit der
+Meisterin reden.«</p>
+
+<p>»Am Ende hast du schon wieder eine Braut?«</p>
+
+<p>»Ich <em class="gesperrt">habe</em> auch eine, ich verhehle dir's gar nicht, gleichwohl
+ich weiß, daß du mir sie wieder abreden wirst wollen.«</p>
+
+<p>»Abreden? Ich abreden? Was dir nicht einfällt. Im Gegenteile, ich habe
+dir immer gesagt, daß du heiraten mußt. Aber eine, die für dich paßt.
+Zweimal fragtest du mich schon, und ich will nicht fürchten, daß du es
+bereuest, mir gefolgt zu haben.«</p>
+
+<p>»Ich dir gefolgt, Julius! Nicht im Traume. Wenn ich zwei Weiber bisher
+laufen ließ, so waren es andere Gründe.«</p>
+
+<p>»Die dritte wirst du doch nicht mehr laufen lassen? Sie ist
+wahrscheinlich sehr hübsch?«</p>
+
+<p>»Sie ist nicht hübsch.«</p>
+
+<p>»Oder wenigstens jung?«</p>
+
+<p>»Sie ist nicht jung.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p>
+
+<p>»So doch reich?«</p>
+
+<p>»Ist auch nicht reich.«</p>
+
+<p>»Also häßlich, alt und arm. Bertram, sei versichert, die rede ich dir
+nicht ab. Es ist nicht nötig.«</p>
+
+<p>»Und gerade die werde ich heiraten.«</p>
+
+<p>»Ich gratuliere!«</p>
+
+<p>»Du höhnst mich. Ich aber sage dir: Die werde ich heiraten.« —</p>
+
+<p>Aufgebracht ging er davon — ging zu seinem andern Freunde, dem
+Tischler.</p>
+
+<p>»Hast du wieder eine?« rief ihm der entgegen.</p>
+
+<p>»Eine gutmütige, bescheidene, ältliche Person, arm, aber häuslich und
+brav.«</p>
+
+<p>»Siehst du, <em class="gesperrt">das</em> ist die Rechte.«</p>
+
+<p>»Eine Witwe ohne Kinder. Nur ein Stiefsohn ist da.«</p>
+
+<p>»Für einen gescheiten, anspruchslosen Mann gewiß eine passende Partie.
+Mache nur diesmal Ernst.«</p>
+
+<p>»Aber —«</p>
+
+<p>»Ist sie eine Hiesige!«</p>
+
+<p>»Freilich, du kennst sie recht gut. Und daß der Sohn um ein paar Jahre
+älter sein wird als der Vater, hörst, das macht nichts.«</p>
+
+<p>»Was sprichst du denn?«</p>
+
+<p>»Geh', geh', ich laß dich nicht raten. Wir sind auch schon auf gleich.
+Hat sie dir wirklich noch nichts gesagt?«</p>
+
+<p>»Wer?«</p>
+
+<p>»Deine Frau Stiefmutter.«</p>
+
+<p>Der Tischler schrak zurück. — Meine Stiefmutter will er heiraten?
+Meine Mutter, von der ich hoffe, daß sie mir in nächster Zeit die
+Wirtschaft übergibt, und mich zum Erben ihres Ersparten machen wird?</p>
+
+<p>»Freund!« sagte er mit dumpfer Stimme und legte seine<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> Hand dem
+Heiratsbeflissenen auf die Achsel: »Das wäre ein unglücklicher
+Gedanke. Glaube mir, ich würde sehr erfreut sein, dich in unserer
+Familie zu wissen. Aber als Freund muß ich dir im Vertrauen mitteilen:
+Meine Stiefmutter ist kein Weib für dich. Erstens hat sie das Alter
+wirklich etwas sehr häßlich gemacht; die Leute würden ordentlich
+zurückschrecken, wenn du sie ihnen als deine Braut aufführtest.«</p>
+
+<p>»Was geht das die Leute an!«</p>
+
+<p>»Dich, dich geht's an. Und das eben ist das Schlimme. Ferner glaube ja
+nicht, daß diese Frau so überaus gutmütig ist. Ich kenne sie besser!«</p>
+
+<p>»Du kennst sie als Stiefmutter, da glaub' ich's schon.«</p>
+
+<p>»Wenn es je eine eitle, geschwätzige, geizige, schmutzige, launenhafte
+und mürrische Alte gibt, so ist es meine Stiefmutter.«</p>
+
+<p>»Du übertreibst, wie hätte denn dein seliger Vater —«</p>
+
+<p>»Der nahm sie vor einem Vierteljahrhundert. Und wenn es je ein Mann bei
+diesem Weibe aushalten könnte, so würde mein Vater noch leben.«</p>
+
+<p>»Diesmal ist alles dagegen,« murmelte Bertram, »nur mir keine Frau.
+Jetzt möchte ich aber doch sehen, wer mir das Heiraten wehren kann.
+Justament!«</p>
+
+<p>O, Tischler Franz, das hast du schlecht gemacht. Warum fielest du ihm
+nicht in die Arme und riefst: »Bertram Siebener! ja und tausendmal ja,
+werde mein Vater! Meine Stiefmutter ist das schönste, liebenswürdigste
+Weib unter der Sonne. In üppigster Reife prangt sie dir entgegen!
+Und wie sinnig weiß sie sich zu schmücken, wie anmutig versteht sie
+zu plaudern, wie sparsam ist sie im Haushalte, wie anregend ist die
+Mannigfaltigkeit ihrer Stimmungen und neckischen Launen, wie reizend
+ist ihr erkünsteltes Zürnen<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> und Schmollen. Wie selig war mein
+seliger Vater in ihrem Besitze, der, ach, so kurz war. Tritt in seine
+Fußstapfen, mein Freund, ich beglückwünsche dich aus voller Brust!«</p>
+
+<p>So mißrät man einem Bertram Siebener die Partie. Ei geh', Tischler, du
+verstehst dich nicht aufs Leimen. Was du zusammenfügen willst, das geht
+auseinander, was du trennen möchtest, das kittet sich zusammen.</p>
+
+<p>Jetzt lauf' zum Schneider, er soll dir flugs ein Hochzeitsjöppel
+machen, deine Mutter heiratet dir einen Vater ins Haus, und aufs Jahr
+vielleicht — kommt der Storch! —</p>
+
+<p>Die Hochzeit ist lange über ein Jahr schon vorbei. Das Ehepaar lebt
+im Frieden. Der erheiratete Sohn wird ganz anständig gehalten, denn
+er leitet das Geschäft. Der Storch kam, setzte sich aber auf den
+Giebel der Mägdekammer, und wenn man den Bertram Siebener fragt, wie
+er ihm denn anschlage, der heilige Eh'stand, so antwortete er: »Dank'
+der Nachfrag'!« Und wenn man sagt: Es wäre ja zu erwarten gewesen,
+daß er mitten in sein Glück hineinsäße, so entgegnet er: »Na, na!«
+Und wenn ihm einer zuflüstert: »Armer Bertram, du bist bei dieser
+Tischlermeisterin wohl recht jämmerlich auf den Leim gegangen!« so
+ruft er aus: »Auf den Leim? Zum Lachen, so was! Ich bin über und über
+zufrieden, ich verlange nichts Besseres.«</p>
+
+<p>Auch solche Käuze gibt es.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Samer-Sim">Der Samer-Sim.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Es ist doch recht schmeichelhaft für diese Welt, daß keiner aus ihr
+hinaussterben will. »Das Sterben, das spar' ich mir bis zuletzt,« sagt
+ein Volkswort, aber wenn dieses »zuletzt« kommt — es kommt zu früh.
+Die Jungen möchten alt werden, die Alten möchten sich am Sonnenlichte
+ein Jährchen oder zweie noch erfreuen; der Gesunde möchte leben, der
+Kranke gesund werden; der Arme möchte sich erst Schätze erwerben, der
+Reiche sie genießen; der Totengräber hängt mit denselben Stricken
+am Leben, als die in Weltlust badende Tänzerin auf der Bühne. Der
+Familienvater will leben, um der Seinen Glück zu gründen und sich
+daran zu laben. Dem Junggesellen ist es schon gar bitter, von der Erde
+zu scheiden, denn er weiß, er läßt keine Spur zurück, ist mit seinem
+letzten Atemzuge verweht und vertilgt — wahrhaftig gestorben.</p>
+
+<p>Denen aber der Tod nicht zu früh kommt, denen kommt er — zu spät; sie
+wollten ja sterben, wenn's nur schon — geschehen wäre. Es liegt ihnen
+am Leben nichts, aber ihnen graut vor dem Todeskampf.</p>
+
+<p>Zu diesen letzteren gehört auch der Samer-Sim. Dem kann am Leben
+freilich nichts liegen, er ist im Dorf der Einleger. Vor Zeiten hat er
+mit einem Maulesel Kornsäcke übers Gebirg' gesäumt; den Namen hat der
+Sim noch davon, aber sonst nichts. Er weiß, wie der Hunger schmeckt
+und wie der Frost bohrt; weiß, wie die Gicht tut und wie böser Leute
+Spottreden und geiziger Leute Nachreden klingen. Er weiß auch, daß
+nichts Besseres für ihn mehr kommen<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> wird, daß er nichts mehr wünschen
+darf, daß er zeitlebens der Schuhhadern des Dorfes sein wird — aber
+nur leben, lange leben, immer leben — nur nicht sterben.</p>
+
+<p>Der Samer-Sim meidet den Friedhof, der außer dem Orte liegt, aber auch
+den Weg dahin; er tut oft einen halbstundenlangen Umgang, nur um den
+Friedhofsweg nicht zu kreuzen. Vor Leichen fürchtet er sich wie vor
+der Pest, und es geht ihm wie allen, die selten Leichen sehen und also
+glauben, was ihnen die Einbildung vormacht, daß nämlich die Toten so
+grauenhaft zu schauen wären.</p>
+
+<p>Am Ende des Dorfes steht eine Wirtskeusche; diese ist dem Sim der
+liebste Ort; nicht als ob er den schlechten Krätzer, den man in
+der Keusche haben kann, gerne tränke, sondern weil der Wirt ein
+Geschichtenbuch besitzt. In diesem Buche steht die anmutigste
+Geschichte, die der Sim je gehört hat, die Geschichte von dem ewigen
+Juden — das ist der Mensch, der nicht stirbt.</p>
+
+<p>Beim Wirt sitzt zuweilen auch der Bader des Ortes, ein Spaßvogel. »Ja,
+mein Lieber,« sagte der eines Tages zum Sim, »letzthin hätt's den Mann
+doch bald getroffen — nu, wie lange mag's sein, Hirschenwirt, daß der
+ewige Jude bei dir da vorbeigegangen ist?«</p>
+
+<p>»Je,« antwortete der Wirt, auf den Scherz eingehend, »das wird sein
+höchstens sechs Wochen — nit länger. Hat bei mir eingekehrt; just da
+auf der Ofenbank, wo der Sim sitzt, ist er gesessen.«</p>
+
+<p>»Ja, schau,« fuhr der Bader zum alten Sim gewendet fort, »und da
+hat der Mann unvorsichtigerweis', wie er schon von seinem ewigen
+Herumvagabundieren erhitzt ist, ein Glas von Hirschenwirts Vierziger
+getrunken. Augenblicklich hat er auch das schauderlichste Bauchgrimmen
+gehabt und Krämpfe dabei, wie mir erzählt ist worden — hat<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> schon
+alles gemeint, 's wär' das letzt' End' mit dem ewigen Juden.«</p>
+
+<p>Der Hirschenwirt stutzte, als er die Spitze des Scherzes nicht gegen
+den Sim, sondern gegen sich selber gekehrt sah. — »Na wart', Bader —
+dachte er — du kriegst mir auch eins.«</p>
+
+<p>»Ja, ja,« bekräftigte der Wirt dem Sim gegenüber, »'s ist, wie der Herr
+Doktor gesagt hat. — Leut'! schreit er jählings, der ewige Jud', mir
+ist auf einmal nit gut — lauft's geschwind um einen Doktor! — Ich
+schick' den Halterbuben eilends ins Dorf, aber der Herr Doktor da ist
+nit zu Haus gewesen; der arme kranke Mann hat keine Hilf' können haben
+und so ist er richtig wieder gesund worden.«</p>
+
+<p>Der Bader hat einen klanglosen Lacher gemacht und nichts mehr
+gesagt. Der Sim aber, die zwei scharfen Nadeln des Gespräches nicht
+ahnend, schüttelte verwundert sein Haupt. »Welch' Seite ist er denn
+zugegangen?« fragte er angelegentlich. Es fiel ihm ein, dem ewigen
+Juden nachzugehen, ihn aufzusuchen und nicht mehr von seiner Seite zu
+weichen, auf daß auch er dem Tod entrinne.</p>
+
+<p>Es sind der kleinen Geschichten und Wunderlichkeiten mehr, die man von
+dem Alten erzählt. Vor kurzem wollte er, der Siebzigjährige, mit einem
+zwanzigjährigen Mädchen eine Liebschaft anfangen, weil man ihm gesagt
+hatte, er müsse, um den Tod zu hintergehen, sich wieder jung stellen.
+In vollem Ernste machte er seinen Liebesantrag, und das ganze Dorf
+hatte was zu lachen.</p>
+
+<p>Das Lachen war dumm. Der Samer-Sim ist ein armer schwachsinniger Greis,
+der mit Angst die letzten Körner seiner Sanduhr verrinnen sieht. Das
+falsche Leben, das ihm vorenthalten, was es anderen in reichem Maße
+hingeschüttet, das ihm keinen seiner Wünsche erfüllt hat, das ihn um
+seine berechtigtesten Hoffnungen betrog — dieses<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> falsche Leben will
+der alte Mann noch zurückhalten am Mantelsaum, wie man einen fliehenden
+Dieb zu halten sucht. Das Gebaren des alten Samer-Sim, die vieljährige
+Todesangst des im Sonnenlicht Wandelnden ist seltsam genug — aber
+etwas zum Lachen ist es nicht.</p>
+
+<p>Als ich dem Manne begegnete und er mir wie so vielen anderen Leuten
+seine Todesfurcht bekundete, suchte ich ihn zu trösten. — »Wenn's
+dereinst dazu kommt, guter Sim, so ist es nicht halb so schrecklich,
+als es von weitem aussieht. Bei betagten Leuten gar ist es wie ein
+ruhiges Einschlummern nach der Lebensmüh' und sie wissen gar nicht, daß
+es der Tod ist.«</p>
+
+<p>»Aber Herr,« rief der Alte, »der Todesstoß, der Todesstoß im Herzen!
+Und nachher, wenn sie einen hineinlegen in den Sarg, hinabsenken in die
+Erden und es kriechen die Würmer heran!«</p>
+
+<p>»Mußt denken, Simon, du liegst nicht <em class="gesperrt">lebendig</em> drin, und es ist
+ja ein Glück, daß du früher <em class="gesperrt">gestorben</em> bist.«</p>
+
+<p>»Und erst die arme Seele!« sagte darauf der Alte, »die muß in den
+glühenden Ofen des Fegefeuers!«</p>
+
+<p>»Wer hat dir denn das gesagt, Sim?«</p>
+
+<p>»Das? — Ach, ich hab' doch so viele Sünden und keinen Kreuzer Geld für
+ein paar heilige Messen!«</p>
+
+<p>»Lieber Sim,« sagte ich und faßte seine kalte Hand. »Glaubst du nicht,
+daß Gott besser ist als die Menschen?«</p>
+
+<p>»Das glaub' ich wohl.«</p>
+
+<p>»So siehe, gute Menschen verzeihen ihren Beleidigern, anstatt sich an
+ihnen mit Feuer oder anderswie zu rächen.«</p>
+
+<p>»Ja freilich,« unterbrach mich der Sim, »so hat's Gott gelehrt!«</p>
+
+<p>»Und wird er's nicht auch selber halten?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p>
+
+<p>Alte Menschen lassen sich aber nicht umwenden wie alte Röcke.</p>
+
+<p>Der Samer-Sim murmelte was und holperte seines Weges. Einige Wochen
+später erhielt ich vom Schullehrer jenes Dorfes folgenden Brief:</p>
+
+<div class="blockquot">
+<p>
+»Geschätzter Freund!<br>
+</p>
+
+<p>Sie haben sich immer für den alten Samer-Sim interessiert. Den haben
+wir heute begraben. Der Mann ist <em class="gesperrt">lachend</em> gestorben. Seit
+längerer Zeit schon lag er beim Moosbrunner auf dem Oberboden krank.
+Ich habe ihn selber einmal daselbst besucht; er war stets der Alte mit
+seiner Todesfurcht und meinte, er wollte gern alles Böse ertragen auf
+dieser Welt, wenn er nur wisse, daß er nicht auf dem Todbette liege.
+— Nun, es ist eigentlich komisch, hat ihn eine Maus umgebracht.
+Eine solche war unter seine Decke gekommen; vor Zappeln und Lachen
+über den Gast fiel der Alte in einen Krampf und nach wenigen Minuten
+war's vorbei. Der plötzliche Überreiz der Nerven, sagt der Arzt, habe
+ihn getötet. — Vielleicht vermag Ihre Feder etwas aus der Sache zu
+machen« usw.</p>
+</div>
+
+<p>So das Schreiben. Ich habe aus der Sache nichts anderes zu machen
+versucht, als was sie in Wirklichkeit ist. — Der Samer-Sim hat seit
+vielen Jahren nicht mehr gelacht aus Angst und Furcht vor dem Tode.
+Derselbe Samer-Sim ist lachend gestorben.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Zillacher-Anderl">Der Zillacher-Anderl.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Samstag war's. Der Anderl saß in der Flachsdörrkammer, wo er auch sein
+Bett hatte, und tat sich den Bart rasieren.</p>
+
+<p>Die jungen Stadtherrchen kratzen mit dem Schermesser zumeist just dort
+herum, wo sie gerne einen Bart haben möchten. Der Bauernbursch rasiert
+sich, wo ein Bart steht. Freilich war der Anderl schon fünfunddreißig
+Jahre alt und sein Bart so steif, daß man nach der Bauern Sprichwort
+den Dreschflegel daran hätte hängen können. Trotzdem ließ der Anderl
+vor dem Scheren die Seife ordentlich in die Borsten trocknen und kramte
+mittlerweile seine grauen Backen vollblasend in den Hosentaschen herum.
+Da drin hatte er einen alten Taschenveitel, ein Stück Zunder und
+einige Kreuzer, die sich aber bei näherer Untersuchung in der Mehrzahl
+als Messingknöpfe herausstellten. Der Anderl blies die Backen noch
+bauchiger. Messingknöpfe? Für den morgigen Sonntag Messingknöpfe! Mit
+derlei hat der Hirschenwirt seine Hosen und Wämser sicherlich versehen.
+Heute schon hätte der Anderl Durst.</p>
+
+<p>Jetzt trat eine alte Magd in die Flachsdörrkammer: Der Anderl möge
+eilends in die Stube zum kranken Vater kommen. Und als der Bursche
+bei dessen Bette stand, sagte der alte Zillacher: »Anderl, nimm deine
+Zipfelmütze ab. Anderl, paß auf, dein Vater macht's Testament. — Aha!
+gelt, jetzt kannst losen! Hast gleichwohl nicht immer so auf mich
+hören wollen; soll dir aber geschenkt sein, will dich nicht verkürzen.
+Deine Brüder und Schwestern, die haben<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> das Ihrige. Wenn ich die
+Augen zugemacht hab', Anderl, so weißt es, die braune Kuh ist deine
+Erbschaft.«</p>
+
+<p>»Vergelt's Gott!« rief der Anderl.</p>
+
+<p>»Aber sei brav und tu' dir das Trinken ab, und der himmlisch' Vater
+soll dich beschützen und bewahren.«</p>
+
+<p>Der Alte schwieg. »Kann ich jetzt die Zipfelmütze wieder aufsetzen?«
+fragte der Anderl.</p>
+
+<p>»Jetzt kannst du machen, was du willst,« sagte der Zillacher.</p>
+
+<p>Als nach einigen Tagen der Alte tot und begraben war, führte der Anderl
+die braune Kuh aus dem Stall. Er trieb sie die Straße entlang, und
+da er so hinter dem Tiere dahertrottete, führte er mit ihm folgendes
+Gespräch: »Du alte Kuh, du bist ein zaunmarterdürres Vieh. Ich möcht'
+meine Joppe an deinen Hüftknochen hängen.« Und als sie zu einem
+Wassertrog kamen und das Rind stehen blieb und trank, sagte der Anderl:
+»Ja, meine liebe Kuh, ich hätte auch Durst!« Er trank aber doch nicht.</p>
+
+<p>Da kam ein Bauer des Weges, der fragte: »Wo treibst du deine Haut
+hin?« Der Bursche knirschte die Zähne und schritt fürbaß. Mittlerweile
+war das Euter voll geworden, und als sie zu einer Schenke kamen,
+unterhandelte der Anderl mit der Wirtin, ob sie nicht seine braune
+Kuh melken und ihm dafür ein Krügl Wein geben wolle. Das Geschäft war
+abgemacht. Und so trieb der Zillacher-Anderl seine Erbschaft viele
+Stunden weit fort, weidete sie an guten Rasenplätzen, tränkte sie
+an den Brunnen, und wenn das Euter voll war, so vertauschte er die
+Milch gegen Wein. Für die Länge aber blieb das Euter der braunen Kuh
+immer kleiner, während der Durst des Burschen größer wurde. Da dachte
+der Anderl, das muß anders gemacht werden, und verkaufte das Rind an
+einen Wegmacher. Der Wegmacher<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> vermied die Frage, ob die Kuh nicht
+etwa gestohlen sei, bot hingegen nur fünfunddreißig Gulden Kaufpreis.
+»Meinetwegen!« sagte der Bursche, und als er das Geld in die Tasche
+schob: »Hab' ich noch weit zu einem Wirtshaus?«</p>
+
+<p>Fünfunddreißig Gulden, das ist meine Erbschaft, dachte er dann, mit
+dieser will ich recht wirtschaftlich umgehen. Mit dreißig Gulden läßt
+sich schon was anfangen; die weiteren fünf Gulden — damit will ich
+jetzt gründlich meinen Durst löschen. Einmal im Leben muß der Mensch
+seinen guten Tag haben; — dann heißt's arbeiten und fleißig sein.</p>
+
+<p>Als er zum nächsten Wirtshaus kam, suchte er sich den bequemsten
+Tischwinkel aus und hub an zu trinken. Die Wirtin setzte sich zu ihm
+und schwätzte und sagte, sie hätte frische Butterkrapfen in der Küche,
+die seien ihr diesmal vortrefflich geraten; ob er — der Anderl — denn
+nicht ein paar verkosten wolle. Ihm war's recht, und die umsichtige
+Frau Wirtin wußte wohl, daß nach den Butterkrapfen wieder neuer Durst
+kommen müsse. Der Wirt jedoch hatte sich seinem Gaste gegenüber so
+verhalten: In das erste und das zweite Glas schenkte er reinen Wein; in
+das dritte und vierte tat er ein wenig Obstmost dazu; dann tat er zur
+Hälfte Wein und zur Hälfte Most in den Becher; später goß er die Hälfte
+Obstmost, ein Viertel Wein und ein Viertel Wasser zusammen. Als endlich
+dem Anderl auf seiner Bank einmal ordentlich warm geworden, sein Durst
+doch immer noch nicht gelöscht war, da schüttete ihm der Wirt im Keller
+bloß Obstmost mit ein wenig Zwetschkenbranntwein vermischt in das
+Weinglas, hernach nur mehr Most allein, und endlich, wer am dritten
+Tage den Wein des Anderl vorurteilslos untersucht hätte, der würde
+gefunden haben, daß der Bursche gut gegorenen Apfelmost mit frischem
+Wasser trinke.</p>
+
+<p>Natürlich tat dieses der Rechnung keinen Eintrag, und<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> am dritten Tage
+waren fünf Gulden vertrunken. Zu dieser Zeit hatte die Wirtin jedoch
+bereits für frischen Durst gesorgt. Da sagte sich der Anderl: im Grunde
+ist es eine Narrheit, wenn ich mir jetzt einen Abbruch tue, der leicht
+der Gesundheit schaden könnte. Der Fieberdurst muß gelöscht, durch und
+durch gelöscht werden. — Dasselbe sagt auch der Bader daheim. Zwei
+Gulden spendier' ich noch.</p>
+
+<p>Er bleibt wieder ein paar Tage sitzen; dann aber brach er auf, um mit
+seinen achtundzwanzig Gulden ein nutzbares Geschäft zu beginnen. Als
+jedoch der gute Zillacher-Anderl im heißen Tage auf der staubigen
+Straße so wanderte, da kam er mit sich überein, daß er seine Erbschaft
+auf ein viertelhundert Gulden abrunden wolle! Blieben ihm drei Gulden
+gut, die er in der nächsten Schenke vertrank.</p>
+
+<p>Da war aber in demselben Jahre ein sehr heißer Sommer; entweder es
+war die Hitze oder es waren die heftigen Gewitterregen unerträglich,
+in beiden Fällen muß der Mensch ein Dach haben, und dazu hat Gott
+die Wirtshäuser erschaffen. Als die Barschaft des jungen Zillacher
+auf beiläufig zwanzig Gulden herabgesunken war, da sagte er: »Jetzt,
+Anderl, ist's g'nug!« Da er nun die Zeche gezahlt hatte, blieben
+ihm bloß neunzehn Gulden und fünfundneunzig Kreuzer in der Tasche.
+Ei, dachte er sich, der Gulden ist angezwickt, weg damit! — Und in
+ähnlicher Weise ging's auf fünfzehn, auf zwölf, auf zehn herab. Und
+nun sagte der Zillacher-Anderl das denkwürdige Wort: »Mit zehn Gulden
+richtet einer heutzutage nicht viel aus. Der Mensch, der auf eine
+Erbschaft ansteht, ist eh nix nutz; mit eigener Kraft muß der Mann das
+Seine erwerben.«</p>
+
+<p>Er ging von einem Wirtshaus ins andere, und trank und trank. Und
+endlich war nichts mehr in seiner Tasche,<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> als die Messingknöpfe. Da
+haben aber die Wirte neben der Wanduhr oder neben der Stubentür so
+schwarze Tafeln hängen, auf die mit der Kreide allerhand Buchstaben
+geschrieben werden können. Sagte eines Tages der Anderl: »Herr Wirt!
+Meines Vaters Sohn trägt einen ehrlichen Namen; tät Euch keine Schand'
+machen auf der Tafel.«</p>
+
+<p>»Das nicht,« antwortete der Wirt, »aber die Tafel könnte leicht dem
+ehrlichen Namen was herabzwicken. Traue dieser schwarzen Tafel nicht,
+Freund!«</p>
+
+<p>Der Anderl stutzte und war trübsinnig. Endlich sagte er zu sich: Was
+braucht man auch so einen dicken Brustfleck in der heißen Zeit? — Er
+verkaufte seine Tuchweste und vertrank das Geld. Dann vertauschte er
+seine Ochsenlederstiefel gegen ein paar leichte Schuhe, sein Lodenwams
+gegen ein kühles Leinwandröcklein; das dadurch gewonnene Geld vertrank
+er.</p>
+
+<p>Wohl hatte er sich mittlerweile auch ein paar Groschen Taglohn
+erworben; aber das liebe Wirtshaus hatte ihm's angetan, und ehe noch
+zwei Monde nach seines Vaters Tod verflossen waren, saß der Anderl
+da, arm wie eine Kirchenmaus, bärtig wie ein Waldteufel; auch sein
+Schermesser hatte er vertrunken.</p>
+
+<p>Jetzt war er tief verzagt. — Wenn einer nichts mehr hinabzugießen
+hat, so muß man die Gurgel zubinden, hat einmal einer gesagt —
+das leuchtete dem Zillacher-Anderl ein. Wenn der Fisch nicht mehr
+trinken kann, was hat er sonst auf dieser Welt? — 's ist gar grausam
+bitterlich! — Aber was kannst machen?</p>
+
+<p>Der Anderl wußte draußen in der Dorfau einen alten Birnbaum. Zu dem
+ging er hinaus, an dem kletterte er empor mit harter Mühe bis zum Aste,
+von dem aus er das Dorf sehen konnte mit seiner Kirche und mit seinem
+Wirtshaus.<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> Hierauf machte er Reue und Leid, nestelte sein Hosenband
+los und schlang es um den Hals.</p>
+
+<p>Zur selben Stunde ging der Pfarrer am Birnbaum vorüber, er erschrak,
+als er das Beginnen des Mannes da oben bemerkte. — Zachäus, steig'
+eilends vom Baum herab! heißt's in der Bibel. Jener hörte es nicht.
+»Anderl,« rief der Pfarrer, »tu' dir <em class="gesperrt">das</em> nicht an! Aufknüpfen,
+na, das wär' doch eine Dummheit, die dich dein Lebtag reuen würde!«
+Vergebens, der Anderl wand bereits das Hosenband um den Ast. Der
+Pfarrer versuchte auf den Baum zu klettern, um die Tat zu verhindern,
+und der Selbstmörder kam mit seinen Vorbereitungen schon zu Rande.
+Da fiel dem Priester was ein. »Anderl!« rief er auf den Baum, »du
+<em class="gesperrt">mußt</em> herabsteigen, ich such' dich schon seit einer Stunde, ich
+habe just ein frisches Faß angezapft.«</p>
+
+<p>»So!« sagte der Anderl, »ja das ist schon wieder ganz was anders,«
+und sogleich kletterte er dem Erdboden zu. Sie gingen mitsammen in
+den Pfarrhof. Der Pfarrer schoß eine Weile im Hause herum, dann kam
+er zurück. »Das ist schon eine verzwickte Sach', Anderl, jetzt haben
+wir den Kellerschlüssel vertan. Die Köchin war beim Teich unten, hat
+Karpfen ausgeweidet, da ist ihr der Schlüsselbund ins Wasser gefallen.
+Was wir nur anfangen?«</p>
+
+<p>Der Anderl riet den Schlosser an, allein der Pfarrer versicherte, das
+Kellerschloß sei so gar heiklich bestellt und ein hiesiger Schlosser
+könne es justament nicht aufsperren. — Die Tür erbrechen, schlug der
+Durstige vor; nicht möglich, meinte der Pfarrer, sie sei mit eitel
+Eisen beschlagen über und über. Das einzige Mittel: der Schlüssel müsse
+aus dem Wasser hervorgeholt werden — ob der Anderl dazu behilflich
+sein wolle? — Das versteht sich. — Wurde denn fürs erste der Teich
+abgelassen, der da war, um des Pfarrers<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> Kornmühle zu treiben; und als
+das Wasser verflossen war, machte sich der Anderl an den Schlamm, hub
+ihn schaufelvoll um schaufelvoll an das Ufer, arbeitete bis spät in den
+Abend und suchte den Schlüsselbund.</p>
+
+<p>Und als es finster geworden, rief ihn der Pfarrer ins Haus und sagte:
+»So, mein lieber Zillacher-Anderl, jetzt hast du mir ein gut Teil
+Schlamm aus dem Teich gefaßt, dafür sollst heut' fünf Groschen haben
+und das Nachtmahl und ein Krügel Wein — der Kellerschlüssel hat sich
+vorgefunden.«</p>
+
+<p>Glotzte der Anderl verwunderlich drein.</p>
+
+<p>»Und wenn du mir den ganzen Teich ausschaufelst,« fuhr der Pfarrer
+fort, »so sollst du für das Tagwerk zwölf Groschen haben und die
+Köstigung und dein Krügel Wein.«</p>
+
+<p>So wurde es abgemacht. Und als der Teich in Ordnung und wieder mit
+Wasser gefüllt war, da bekam der Anderl Geschäfte in der Mühle. Nur
+immer hübsch beim Wasser, daß der Durst nicht zu stark wird. — Es ist
+gar nicht zu glauben, wie ein Mensch sich ändern kann, wenn er danach
+geleitet wird. Der Pfarrer wußte den Zillacher wohl zu behandeln, und
+der Anderl wurde der beste Arbeiter, den er je noch gehabt hatte.</p>
+
+<p>Wenn sie dann abends beim Krügel Wein saßen, das dem braven
+Hausgenossen bislang vorenthalten wurde, und es anmutig zu sehen war,
+wie glatt und lind die lieben Tropfen ihrer Wege gingen, sagte einmal
+der Herr Pfarrer, dem Anderl auf die Achsel klopfend: »Wär' doch
+jammerschade um deine Gurgel, wenn du sie dazumal zugeschnürt hättest!«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="s_Guderl">'s Guderl.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Wenn ich bei dir, mein lieber, himmlischer Vater eine Bitte frei
+habe: dem »Guderl« bereite ein recht feines, warmes Plätzchen dort
+oben in Deinem Himmel, vielleicht ganz nah' bei der Lieben Frau, sie
+wird sich mit dieser Nachbarin aus dem Steirerland nicht zu schämen
+brauchen. Aber eilen brauchst nicht, wir mögen die alte Ludmilla recht
+gern noch eine Zeitlang bei uns herunten haben und sie — so arm und
+mühselig sie gleichwohl ist — hat auch noch kein Verlangen, dieses
+Jammertal mit der himmlischen Freud' zu vertauschen. Sie fürchtet,
+dort oben wird sich niemand von ihr was Gutes tun lassen wollen, weil
+es ja ohnehin jedem so göttlich gut gehen soll — und nachher freut
+sie der ganze Himmel nicht. Vielleicht, wenn sie einmal kommt, ist
+der heilige Laurentius so gut, seine Brandmale von ihr mit frischem
+Leinöl bestreichen zu lassen; oder der heilige Sebastian, sich von ihr
+die Pfeile aus den Wunden ziehen zu lassen; oder die blinde heilige
+Ottilia, sich von der Ludmilla herumführen zu lassen im Paradies, sich
+von ihr die himmlische Pracht erzählen und manchmal eine Butterbirne
+reichen zu lassen vom Baume. Ja dann, wenn sie wem einen Gefallen
+tun kann, wird es ihr auch selber gefallen im hohen Himmel oben,
+einstweilen paßt sie aber für die Erde besser.</p>
+
+<p>Alt und mühselig ist sie, und das kann ihr niemand nehmen. Seit sie
+im Vorbeigehen einmal jene Erklärung vom Schulmeister gehört hat, daß
+nach den Aufmerkungen im Lande eine gewisse, sich fast gleichbleibende
+Anzahl von<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> Krüppeln vorkomme, seither trägt sie ihre verkümmerten
+Beine noch lieber, weil sie denkt: Gut ist's, ich trag' sie für einen
+anderen. Sie trägt die Beine, anstatt, wie sonst gebräuchlich, von
+ihnen getragen zu werden. Einmal ist auch die Ludmilla jung und gesund
+gewesen. Da ist vor Jahren drüben auf der Reisinger-Seiten ein Pferd
+scheu geworden, an das Pferd war ein Streuwagen gespannt, und auf dem
+Streuwagen hockten zwei Knaben, die sich krampfhaft an die Sprosseln
+klammerten und jämmerlich schrien. Der Reisinger reckte seine Arme
+zum Himmel und rief Gott und die Heiligen um Beistand an für seine
+Söhnlein. Gott und die Heiligen schoben rasch die Ludmilla voran, die
+am Feldraine Strauchwerk schnitt: Der alte Narr steht da und kann
+nichts als schreien, lauf du, Ludmilla, und pack' das Roß, ehe es zur
+Schlucht hinabkommt! — Die Magd lief hinzu, erfaßte das Pferd am
+Kopfriemen. Eine Strecke weit wurde sie mitgeschleppt hinab über den
+steinigen Hang, endlich stand das Fuhrwerk still, die Knaben sprangen
+unversehrt davon, aber der Leib der Magd war arg zerschunden und
+zerrissen, ein Bein gequetscht, das andere gebrochen.</p>
+
+<p>Der Reisinger sagte hierauf zu seinen Söhnen: »Wenn die Ludl nicht
+wär', so wäret ihr jetzt auch nimmer. Wäret auch nimmer, daß ihr es
+wißt. Und sie ist jetzt ein elendiger Krüppel, und wenn ich nicht
+mehr bin und ihr seid auf dem Hof und sie ist noch am Leben, weil
+solche Leut' leider Gottes oft eine zähe Natur haben, so müßt ihr sie
+behalten, das ist eure verfluchte Schuldigkeit, daß ihr es wißt!«</p>
+
+<p>Als die Ludmilla das gehört hatte, packte sie still ihre Sachen
+zusammen. Da hatte sie warten wollen im Reisingerhof, bis ihr Sebast
+zurückkäme aus dem Strafhaus; in einem Jahr muß er ja endlich kommen
+und dann sind zwei arme Leut' mehr in der Gegend. — Kaum noch zur
+Not geheilt,<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> stolperte sie zu vier Füßen, wovon die zwei hölzernen
+verläßlicher waren als die zwei beinernen, vom Berg herab nach Bärndorf
+und bat um einen Platz im Armenhaus. Das ward ihr natürlich versagt,
+denn sie gehörte in die Gemeinde zum »Steinernen Elend« hinauf. Das
+Steinerne Elend aber hatte kein Armenhaus und auch kaum ein anderes
+mehr. Schier die ganze Gemeinde war abgestiftet worden und Abstifter
+war der Staat mit seinen Lasten, und jetzt wußte das Restlein der im
+Steinernen Elend Geborenen nicht einmal, wo es daheim war, und die arme
+Ludmilla hatte keine Heimgemeinde. Aber das unfreiwillige Gnadenbrot
+beim Reisinger wollte sie einmal nicht essen; es wäre ihr zu stark
+gesalzen, sagte sie. Dann kam sie doch noch in das Bärndorfer Armenhaus
+hinein.</p>
+
+<p>Als Aushilfswärterin kam sie zuerst nur auf ein paar Tage. Als diese
+paar Tage vorbei waren, ersuchte man sie um Verlängerung ihrer
+Aushilfstätigkeit und bald war ihr stillgeschäftiges, ratsames, sanftes
+und stets munteres Wesen den Kranken und Bresthaften so unentbehrlich
+geworden, daß sie im Armenhaus verblieb. »Und da g'freut's mich!« sagte
+sie nun oft. Dem Einen bettete sie das Lager bequemer, dem Anderen
+teilte sie etwelches von ihrem Brot, dem Dritten stellte sie was Grünes
+und Blühendes ans Fenster, dem Vierten besserte sie ein Kleid aus,
+sie konnte ja gar schneidern; und wo sie ein Zwirnfädlein liegen sah,
+und war es auch nur fingerlang, da tat sie es in ihren Nähkorb, der
+jedem, so ein Bändlein oder eine Nadel oder Schere oder ein Knöpfel
+brauchte, zur Nutzung stand. Für lange Abendstunden, wann sonst Tratsch
+und Mißlaune und Streit sich einzustellen pflegten unter den müßigen,
+mürrischen Bewohnern des Armenhauses, erzählte sie Geschichten, sang
+Lieder, wobei freilich ihre Lebhaftigkeit im Vortrag, sie half auch mit
+den Händen<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> mit, die Stimmittel ersetzen mußte. Die dankbaren Gemüter
+behaupteten rundweg, die Ludmilla sei ein Engel, worauf sie allemal
+entgegnete: »Ja, wär' schon recht, wenn ich Flügeln hätt', auf den
+Füßen will's eh nit gehen.«</p>
+
+<p>Das Elend der Armut liegt zumeist nicht im Nichtshaben und Nichtssein
+allein, es liegt vielmehr noch in der Giftigkeit des Herzens, in der
+Scheelsucht des Armen gegen die Mitmenschen, selbst im Mißtrauen
+gegen die Wohltäter. So war ein Mann im Armenhause, sie hießen ihn
+den Einhandel, weil er nur eine Hand hatte. Der hatte sich in der
+Jugend aus Furcht vor dem Soldatenleben mit einer Zimmermannshacke
+den Zeigefinger der rechten Hand abgehauen; zur Wunde kam der »Brand«
+und mußte ihm die ganze Hand abgenommen werden. Viele Monate war er
+im Spitale gelegen und als er endlich geheilt war, kam er seiner
+Selbstverstümmelung wegen auf Jahre in das Zuchthaus und dann von
+diesem schnurgerade in das Armenhaus. Am meisten beklagte er hier
+den Verlust seiner Hand, weil er beim Beten den Rosenkranz nicht
+so handhaben konnte wie andere Leute, denn zwei Dinge waren seine
+Hauptbeschäftigung: das Beten und das Ehrabschneiden. An jedem und
+jeder wußte er was auszusetzen, gegen jedes Gute hatte er sein
+Bedenken, und es ging kein braver Mann um im Dorf, der nicht doch ein
+»schlechter Kerl« war. Gegen die Ludmilla wußte der Einhandel aber
+spottwenig aufzubringen und so ließ er gelegentlich nur durchblicken,
+sie würde es schon wissen, warum sie so fromm tue, und trotz ihrer
+Demütigkeit würde sie am Ende doch lieber mit neun Teufeln in die Hölle
+fahren, als mit einem Engel in den Himmel.</p>
+
+<p>»Geh, geh, Einhandel,« sagte ihm die Ludmilla einmal, »mach' dich nicht
+gar so bös' mit deinem losen Maul, bist ja doch ein guter Lapp.« Und
+schnitt ihm das Suppenfleisch<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> klein, denn — so scharf sein Mund sonst
+war — mit dem Gebiß stand's schlecht.</p>
+
+<p>Am Armenhaus führte ein Feldweg vorbei, der gewöhnlich durch eine
+Torschranke abgesperrt war. Wenn nun die Ludmilla durchs Fenster ein
+Fuhrwerk daherkommen sah, torkelte sie allsogleich hinaus, um die
+Torschranke zu öffnen, damit der Fuhrmann sitzen bleiben konnte auf
+seinem Karren.</p>
+
+<p>Vor dem Armenhaus war auch ein Brunnen, der aus dem Ständerrohr
+armdick und rauschend in den Trog schoß. An diesem Brunnen hatte ich
+die Ludmilla das erstemal gesehen. An einem heißen Sommertag war's,
+ich kam als unbedachtsamer Student halbverschmachtet vom Gebirge über
+die sonnigen Felder her und nun eilends dem Brunnen zu, daß ich mich
+erquicke. In demselben Augenblicke, wie ich mein glühendes Gesicht
+zum Wasserquell senkte, kam das kleine, runde, wackelnde Weiblein aus
+dem Hause und erhob ein Zetergeschrei, daß ich emporfuhr und glaubte,
+es schlügen zum Dach die Flammen heraus. »Kruziwetter Paraplie, du
+leichtsinnig Volk du!« rief sie, dann nahm sie mich an der Hand und
+sagte ganz ruhig und warmherzig wie eine Mutter: »Mußt nicht trinken,
+Bübel, der Brunnen ist giftig. Nur ein Vaterunser lang wart', ich bin
+geschwind wieder da.« Damit verschwand sie im Hause, kam im nächsten
+Augenblick mit einer Schnitte Brot hervor: »So, da im Schatten setzest
+dich jetzt nieder und das issest schön langsam und wenn du es gegessen
+hast, netzest die Hände mit Wasser und den Nacken mit Wasser, und
+nachher kannst ein wenig trinken.«</p>
+
+<p>Aus dem Hause heraus hörte ich später noch sagen: »In der Hitz' so
+hineintrinken! — Ich weiß zwar nicht, wem er gehört, hat aber gewiß
+Vater und Mutter, und so ein Bürschel darf man heut' noch nicht auf die
+Bahr legen.«</p>
+
+<p>Als ich mich hernach im Dorf erkundigte nach der Person,<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> antwortete
+man mir: Das »Guderl« wäre es gewesen. Das Guderl, so wäre sie ihres
+guten, dienstfertigen und einfältigen Herzens wegen von den Insassen
+des Armenhauses getauft worden. Und sie wäre ein ganz merkwürdiges
+Geschöpf, hieß es, in der Jugend sei sie gar fein gewesen und man höre
+Geschichten, die sich ihretwegen einstmals zugetragen, aber man wisse
+nichts Sicheres; in <em class="gesperrt">der</em> Gegend sei sie damals nicht gewesen und
+erzählen wollte sie auch nichts davon.</p>
+
+<p>Das hat mich denn gleich gepackt, und ein nächstesmal — ich fand sie
+auf dem Dorfweg damit beschäftigt, eine Wasserkehre auszukrauen, damit
+die Gieß ablaufen konnte — suchte ich mit ihr anzuknüpfen. Sie wäre
+wohl keine hiesige? fragte ich.</p>
+
+<p>Wie ich ihr das ansehe? fragte sie entgegen und stützte sich ein wenig
+auf den Haustiel, weil sie doch recht unsicher stand auf ihren Füßen.</p>
+
+<p>»Ansehen nicht, aber anhören am Sprechen.«</p>
+
+<p>»So, haben die Leut' im Steinernen Elend eine andere Sprache, wie die
+Bärndorfer dahier?«</p>
+
+<p>»Also vom Steinernen Elend seid Ihr? Das muß aber eine traurige Gegend
+sein.«</p>
+
+<p>»Das kommt auf die Leut' an, junger Herr,« gab sie zur Antwort, »die
+Steine sind überall hart.«</p>
+
+<p>»So ist es. Und die Leut' sollen auch im Steinernen Elend recht brav
+sein. Ich habe gehört, Ihr wisset so schöne Geschichten vom Steinernen
+Elend herab.«</p>
+
+<p>»Das hast du gehört!« rief sie aus, sie nannte mich »Du Herr«. »Aber,«
+fuhr sie lachend fort, »was doch die Leut' alles reden. Schöne
+Geschichten weiß ich! und etwan rechtschaffen lustige, nit?«</p>
+
+<p>»Rastet ein wenig, mit dem Weg eilt's nicht; ist ja der<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> Himmel über
+und über blau, da ist die Gieß noch weit. Unter den Kirschbaum setzen
+wir uns hin und Ihr erzählt mir was.«</p>
+
+<p>»So närrische Sachen da!« rief sie, »ich weiß nix, ich weiß nix!« Damit
+schob sie sich um, daß das Röcklein flog, und kraute mit Hast an der
+Wasserkehre.</p>
+
+<p>Ein zweitesmal erging es mir nicht besser. Halb schmollend und halb
+bittend sagte sie, ich solle nicht kindisch sein, ich solle mich an
+junge Dirndeln machen, wenn ich was wissen wolle, und nicht an alte.
+Die alten hätten lauter Sauerampfergeschichten und möchte sich so ein
+flotter Herr leicht daran langweilen und darüber lustig machen.</p>
+
+<p>»Die Leute sagen, es hätte sich mit Euch etwas Besonderes zugetragen.«</p>
+
+<p>»Mein lieber Herrgott in der Krüppelkapellen!« lachte sie auf,
+»zutragen tut sich mit jedem Menschen was, wenn er sich's aufmerken
+will. Und das mag für ihn selber was sein, aber für andere nit. Ich
+erzähle nix.«</p>
+
+<p>Zwei Jahre später kam ich wieder nach Bärndorf, aber
+unfreiwilligerweise. Ich hatte mir bei einem kleinen Sturz im Gebirge
+die Kniescheibe verletzt, mußte zwei Tage lang in einer Köhlerei liegen
+und wurde dann nach Bärndorf hinabgebracht, wo ich beim »Weißen Lamm«
+eine Woche lang im Bette lag. Wer war's, der mich pflegte? Das alte,
+runde Guderl. Aber es war kaum mehr zu erkennen, über die ganze linke
+Seite des Gesichts, von der Stirne bis zum Halse hinab, hatte sie einen
+schier zinnoberroten Flecken und das linke Auge war geschwollen und
+hatte die Brauen und Wimpern verloren.</p>
+
+<p>»Gelt, jetzt gefall' ich dir, junger Herr?« sagte sie, als sie mein
+Befremden merkte, »jetzt, weil ich so schön rotwangig worden bin!«</p>
+
+<p>Des Einhandel wegen war sie rotwangig worden, und<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> das ging so zu:
+Der Einhandel rauchte starken Tabak und rauchte den ganzen lieben
+Tag lang, und wenn er keinen Tabak hatte, dann rauchte er gedörrte
+Sauerampferblätter. Saß er zusammengekauert, einen Fuß über dem anderen
+und den Ellbogen auf dem Knie, auf der Ofenbank; die beiden Mundwinkel
+zog er tief hinab, in einem derselben stak das Pfeifenrohr, aus dem
+andern stieß er den Rauch herfür. Wenn die Pfeife nicht brannte, so
+machte er Gestank mit dem Ausputzen derselben, beim Anzünden wieder
+mit den Schwefelhölzern, die nicht brennen wollten. Und so ging es den
+ganzen Tag. Da hatte ihn die Ludmilla einmal in Güte gebeten: »Geh,
+Einhandel, sei so gut und tu nit gar so stark nebeln, oder rauch' beim
+Fenster hinaus, wenn du's schon eineinmal nit lassen kannst. Mußt halt
+betrachten, daß du nit allein im Haus bist. Schau, in der Stuben ist
+die alte Sanna, die muß so viel husten, und der Stindl hat Augenweh,
+weißt es eh, da tut der kratzend' Rauch halt wohl gar nit gut. Ist
+<em class="gesperrt">dir</em> was übel, so wird man's auch ändern, wenn's sein kann. Sei
+gescheit.«</p>
+
+<p>Auf so was wurde der Einhandel giftig wie ein welker Schierling. Er
+sagte es zwar nicht laut, aber zu seinem Kameraden, dem Marter-Hies,
+knurrte er: »Da hast es. Hab' ich nit alleweil gesagt, dieses Weibsbild
+ist ein Teufel! Und schon gewiß auch. Mir hat ihre Frommheit und
+Gutherzigkeit niemals gefallen, mir nit, mir! Hab's doch gewußt, es
+steckt ein höllischer Drach' dahinter. Desweg hinkt sie auch; der
+Teufel hinkt allemal. Guderl! ein sauberes Guderl, das! Luderl, ja, das
+ist das Richtige. Schau da her! Einem armen Menschen, der eh nix hat
+auf der Welt, als das bissel Rauchen, das auch noch nit gunnen mögen!
+Aber wart', jetzt erst zu Fleiß rauch' ich ihr recht unter der Nasen
+herum und das stinkendste Kraut, das ich auftreib'!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span></p>
+
+<p>Er tat's, und wo die Ludmilla ging und stand und saß im Haus, immer
+war der Einhandel da und dampfte, daß man vor lauter Giftnebel die
+Stubenwände kaum sah. Sie hüstelte wohl und fuhr sich mit der Schürze
+über die brennenden Augen, sagte aber nichts, als einmal: »Wenn's schon
+sein muß, ich dertrag's, nur die Kranken tu ein wenig verschonen.«</p>
+
+<p>Von jetzt an dampfte der Einhandel den Augenleidenden und den
+Lungensüchtigen ins Gesicht. Nun beschwerten sie sich beim
+Armenhausverweser, dem Fleischhacker Marner, der zumeist auf Viehhandel
+aus war und sich daher um das Armenhaus nicht viel kümmern konnte. Es
+war auch schon wirtschaftlich so geboten: Das Vieh bringt Geld, die
+Armen kosten Geld. Nun, auf die Beschwerde konnte er doch nicht leicht
+ausweichen, der Verweser. »Da muß Ordnung gemacht werden!« sagte er
+großsprecherisch. Wurde der und die und auch das Guderl befragt, ob
+es denn wirklich so arg sei mit dem Rauchen des Einhandel? »Wenn er's
+nit just in der Stuben tät,« antwortete die Ludmilla, »draußen auf der
+Gartenbank kunnt' er rauchen so viel er wollt'; man sieht's ja ein, daß
+er auch was haben muß.«</p>
+
+<p>Auf das bekam der Einhandel einen Verweis, der noch um einiges stärker
+war als sein »Tubak« und der ihm so lange in der Nase rauchte, bis er
+eines Tages ein Fläschchen Scheidewasser von der Stelle nahm, wo er es
+»zum Putzen des messing'nen Pfeifenbeschlachtes« aufbewahrt hatte, und
+es der Ludmilla ins Gesicht goß.</p>
+
+<p>Es sei aus Zufall geschehen, behauptete nachher der Einhandel, er
+habe das Fläschchen zum Putzen hernehmen und den Stoppel herausziehen
+wollen, aber mein Gott, mit einer einzigen Hand! es sei halt ein Elend
+auf der Welt. Die Ludmilla sah wohl ein, daß sie und der Einhandel nun
+nicht mehr unter <em class="gesperrt">einem</em> Dach hausen konnten, und um ihn nicht<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span>
+unterstandslos zu machen, ging sie selbst davon. Sie ging in den
+Häusern um, und gerade in solchen, wo das Elend war, sie brachte sich
+mit Krankenwarten durch. Es war ein rechtes Geriß um sie, überall in
+der Gegend, wo ein Kranker lag, wollte man das Guderl haben, und als
+ich nun mit meinem verletzten Knie beim »Weißen Lamm« darniederlag,
+hatte die Wirtin eben auch das alte Dirndl, die hinkende Ludmilla rufen
+lassen. Wie sie da geschäftig um mich herumtat! einmal den Eisumschlag,
+dann das Auswaschen der Wunde mit Arnikatee, dann jede halbe Stunde ein
+frisches Glas Wasser auf den Bettisch, falls ich trinken wolle; hernach
+den Fenstervorhang zugezogen, daß mir die Sonne nicht ins Gesicht
+scheine, oder das Kissen aufgeschichtet, daß ich hübsch lehnen konnte
+im Bett, auch unter den Arm einen Polster zur Stütze gelegt, damit mir
+beim Lesen das Halten des Buches die Hand nicht ermüde. In allem wußte
+sie mir es besser zu machen als ich es selbst konnte, ja besser, als
+ich es ahnte, wie man unermüdlich in liebevollem Sorgen und Erfinden
+allerlei kleiner Vorteile und Annehmlichkeiten gar das Kranksein zu
+einem Genuß machen könne. Dabei war sie doch so unaufdringlich und war
+so still heiter, wußte auch ein fröhliches Sprüchlein, ein anregendes
+Geschichtchen zu rechter Zeit.</p>
+
+<p>Und der rote Brandflecken auf ihrem Gesicht, der mir anfangs so häßlich
+erschienen — ich sah ihn nicht mehr; ihre freundlichen Züge, der
+sanfte, gütige Glanz ihres Auges verbreitete eine andere Schönheit über
+die kleine verkümmerte Gestalt.</p>
+
+<p>Als ich endlich wieder laufen konnte, nahm ich die Ludmilla so an den
+beiden Händen, wie man seinen Schatz nimmt, wenn man ihm in die Augen
+sehen will, und sagte: »Mir tut nur eines leid. Daß ich schon laufen
+kann.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span></p>
+
+<p>»Da sollst du froh sein, junger Herr, und unserem Herrgott Dank sagen,«
+so war ihre Meinung. Sie riß ihre Hand aus der meinigen, erfaßte den
+alten Strumpf, den sie zur Ausbesserung vorgenommen hatte und strickte
+emsig.</p>
+
+<p>Jetzt kam mir der Schalk und da rede ich allemal anders, als es einem
+Christenmenschen ansteht. »Heut' die ganze Nacht,« sagte ich, »hab'
+ich unserem Herrgott Dank gesagt. Auf das schaut er endlich herfür
+aus seinen Wolken und sagt: Geh' zu der Ludmilla. Die laß ich heilig
+sprechen, wenn der Papst einverstanden ist. Du hättest sie aber in der
+Jugend kennen sollen — sie ist jetzt noch nicht alt — aber in ihrer
+besten Jungheit, da ist sie ein lustig Dirndl gewesen!«</p>
+
+<p>»Wer sagt das?« fragte die Ludmilla scharf.</p>
+
+<p>»Unser Herrgott sagt's. Und wird auch nicht anders sein, brave Leut'
+sind immer lustig. Aber Esel müssen sie gewesen sein, die Burschen zu
+deiner Zeit!«</p>
+
+<p>»Warum?«</p>
+
+<p>»Daß dich keiner geheiratet hat.«</p>
+
+<p>Der Grund, warum ich so niederträchtig war, ihr ein solches Wort zu
+sagen? Weil ich endlich einmal ihre Jugendgeschichte hören wollte, und
+richtig, sie ging augenblicklich ins Garn.</p>
+
+<p>»Das just nit, Herr, daß mich keiner geheiratet hat,« sagte sie mit
+leiser Stimme und einem eigentümlichen Nachdruck. »Ich bin neunzehn
+Jahre lang verheiratet gewesen.«</p>
+
+<p>Ich erschrak ordentlich. Die Ludmilla, die man seit Gedenken als
+lediges Dirndl und Dienstbot kennt in und um Bärndorf herum, soll eine
+alte Witwe sein?</p>
+
+<p>»Jetzt gleich kannst du ohnehin nit fortlaufen, junger Herr,« sagte sie
+nun, »es ist ja der Socken noch nit fertig.« Ich gewahrte, daß es mein
+Socken war, an dem sie die durchgetretene<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> Ferse anstrickte. »Haben
+noch ein Randl Zeit, wenn so einem Herrn mein Plaudern nit zuwider ist.
+Unterhaltsames ist halt nit dabei, da kann ich aber nix dafür. Ja, wenn
+sich der Mensch seine Lebensgeschichte kunnt anfrimmen (bestellen), ich
+hätt' mir die meinige schon besser eingerichtet. — Willst den Fuß nit
+dieweil noch auf den Polster legen? er wird noch harten Weg genug unter
+sich kriegen, bis er heimkommt.«</p>
+
+<p>Sie wollte das gesunde Bein betreuen, als ob es noch immer das kranke
+wäre, und erst als sie sah, daß mein Körper in durchaus behaglicher
+Stellung war, setzte sie sich in den dunklen Winkel am Ofen, strickte
+und begann die Geschichte ihrer Jugend zu erzählen.</p>
+
+<p>»Gar gut,« so hub sie an, »ist es mir mein Lebtag nit ergangen, aber
+die liebste Zeit ist mir doch im Steinernen Elend gewesen. Mein Vater
+ist Bretterschneider gewesen im Steinernen Elend, hat jung sterben
+müssen. Wie ich ihm einmal — just am Mittwoch ist's vor Fronleichnam
+— das Essen in die Brettersäge trag', wundert's mich, daß das Werk
+steht, darauf sehe ich auf dem Sägespänhaufen, der unterhalb drin
+ist, eine blutige Hand liegen. Der Vater ist oben gelegen neben dem
+Bretterblock. Ist mit seiner Hand in die Säge hineingekommen, ist
+die Hand abgeschnitten worden, ist der Vater ohne Hilf' verblutet.
+Ich bin dazumal ein Dirndl gewesen, mit zehn Jahren; die Leut' haben
+mir und der Mutter gesagt: sterben müßten wir alle; das ist halt der
+Trost gewesen. Meine Mutter hat mir nachher das Gewandmachen gelehrt
+und sind wir zu den Häusern umgegangen und haben genäht. Etliche Jahr
+d'rauf ist meine Mutter auch gestorben. Hat sie mir auf einmal die
+Hand hergehalten über den Tisch, als wollt sie mir Behütgott geben,
+ist an die Wand zurückgesunken und eingeschlafen. —<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> »Du sollst,« so
+unterbrach sie sich, »den Fuß besser ausstrecken, sonst schlaft er dir
+ein.«</p>
+
+<p>»Erzähle nur weiter,« sagte ich.</p>
+
+<p>»Ja,« fuhr sie fort, »jetzt kommt bald das, was die Leut' so gern
+hören. Hast du vom Preishubinger noch nix gehört? Gewiß wohl, das Haus
+steht heut' noch und wird schier das letzte sein im Steinernen Elend.
+Dazumal, wie die Gemeinde noch größer, ist er ehrengeachtet gewesen,
+der Preishubingerhof. Von seinem Wald hat mein Vater die meisten
+Bretterblöck' bekommen. Der junge Preishubinger und ich haben uns gern
+gesehen. Und wie jetzt sein Vater stirbt und er den Hof muß übernehmen,
+will er mich heiraten. Ja gewiß auch noch, vom Fleck weg heiraten!
+Aber seine Mutter hat nit wollen. Die ist ein gestrenges Weib gewesen
+und hat gesagt: Keine Arme wird nit Preishubingerin, so lang' ich die
+Augen offen hab'. Aber sonst war sie gut, die alte Preishubingerin.
+Der Donat ist sonst woltern weich gewesen und hat gern bei allem
+nachgegeben; aber jetzt hat er sich auf seine zwei Füß' gestellt, und
+wenn er vier hätt' gehabt, hätt' er sich auf vier gestellt, und hat
+gesagt: ich heirate für mich und nit für die Mutter und ich laß mir
+keine aufmessen. Fest hat er sich gehalten. Ist bald alles richtig
+gewesen und hat uns der Pfarrer schon von der Kanzel geworfen. Denk'
+ich mir, das wird nit gut sein und wird der Donat sein Lebtag d'ran
+zu tragen haben, daß er ihren Segen nit hat. Und schon gar, wenn sie
+einmal gestorben ist. — Nein, Donat, sage ich zu ihm noch zwei Tage,
+ehvor die Hochzeit hätt' sein sollen; ich sehe ihn noch, er ist an der
+Kirchhofplanken gelehnt und ich bin neben ihm gestanden und hab' die
+Händ' zusammengehalten. Nein, Donat, ohne ihren Willen tun wir's nit.
+Sie ist deine Mutter und meint dir's gut. Sie soll im Bett sein vor
+lauter Kränkung. Schieben wir's auf. Ich gehe<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> hin zu ihr und sie soll
+mich kennen lernen, wie ich bin, und sie muß sehen, daß ich nicht so
+bin, wie sie denkt. Nachher ist's gut, wir haben uns keinen Vorwurf
+zu machen und deine Mutter — schau, sie hat auch niemand mehr auf
+der Welt als dich — soll sich auf ihre alten Tage nit kränken. —
+Der Donat sagt darauf: Wenn wir's jetzt nit fortmachen, was wir haben
+angefangen, so bleibt's aus. — Nein, sage ich, es bleibt deswegen nit
+aus, man soll nur nix übereilen. — Du kennst meine Mutter nit, sagt
+er, hat sie uns nur erst all zwei bei sich, so zerstört sie alles. Wir
+lassen uns nix zerstören, sage ich, und wenn wir unseren Fleiß haben
+angewendet und alles getan haben, wie es Brauch und Pflicht ist, dann
+mach' ich mir nix mehr d'raus, dann heiraten wir zusammen, ist's ihr
+recht oder nit. Und jetzt komm', hab' ich gesagt, wir gehen zu deiner
+Mutter. — Da hat er nachgegeben. Wie wir in die Stuben eintreten,
+wo die alte Preishubingerin im Bett liegt und sie mich sieht, tut
+sie einen Schrei, als hätt' ihr einer mit der Hack' auf den Kopf
+geschlagen; die Decken zieht sie über ihr Gesicht hinauf und schreit:
+Das Unglück ist da! und setzt sich im Bett auf und ruft die Hausleute,
+man sollt' mich aus dem Haus jagen, und gibt mir einen Namen, daß ich
+gerade genug hab' gehabt. Ich bin fortgegangen, und dem Donat hab' ich
+gesagt, er soll' bei seiner Mutter bleiben und sie beruhigen und wenn's
+so wär', da wollt' ich auf alles verzichten. — Nein! sagt der Donat,
+du wirst mein Weib, und fallt mir um den Hals.«</p>
+
+<p>Das Guderl war still und ganz ruhig; ich merkte warum: wenn sie sich
+jetzt bewegt und noch ein Wort sagt, so überkommt sie's. Ich wartete,
+und da sie nicht mehr anhaben wollte, so sagte ich: »Erzähle doch
+weiter, Ludmilla.«</p>
+
+<p>»Das ist nix zum Erzählen, ich sehe es wohl,« versetzte<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> sie gedämpft.
+»Nun, wenn du schon willst, Herr, du kannst dir ja wohl denken, wie
+es kommt. — Die Preishubingerin ist in eine Krankheit gefallen, der
+Donat ist bei ihr geblieben. Sie hat viel geweint, hat ihn gehalst und
+geherzt und er wäre ihr Einziges auf der Welt, und er sollt' ihr nit
+untreu sein. Die Steffen-Tochter wäre ein gutes, braves Dirndl, die
+sollt' er nehmen. Mit der Bretterschneider-Dirn' würde er nie glücklich
+werden, die schnitte ihm die Bretter zum Sarg.«</p>
+
+<p>»Du mußt dieses Weib doch einmal beleidigt haben, daß es so gegen dich
+sein konnte,« wendete ich jetzt der Erzählerin ein.</p>
+
+<p>»Ja, ich weiß es wohl,« antwortete sie, »ich bin unbedacht gewesen und
+hab's versäumt, ihr den Besuch zu machen wie es schon Zeit gewesen
+wäre. Aber weil ich immer gehört, sie wäre eine hitzige Frau, im guten
+wie im harten gäh und wild, so habe ich Angst vor ihr gehabt. Hätte ich
+mich schicken können zu ihr! Im Grund' soll sie doch eine gute Frau
+gewesen sein, sagen die Leute. Nun, Gott tröste ihre Seel'. Das ist
+lang vorbei.«</p>
+
+<p>»Der Donat wird doch fest geblieben sein?« war meine Frage.</p>
+
+<p>»Wie es ans Sterben ist gegangen bei der Preishubingerin,« sagte die
+Ludmilla, »da hat ihr der Donat das Versprechen geben müssen« ....</p>
+
+<p>»Und hat er's wirklich gegeben?«</p>
+
+<p>»Er hat nit anders können, er ist ein guter Sohn gewesen,« antwortete
+die Ludmilla. »Ich bin ihm nachher ausgewichen. Gottlob, habe ich
+gedacht, wir sind einander nix schuldig worden, und es ist das
+beste, wenn wir uns nimmer sehen. Er hat nachher die Steffen-Tochter
+geheiratet; das ist auch ein braves Weib gewesen, arbeitsam und<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> zu
+der Wirtschaft tüchtig und gut auf den Donat. Aber das hat man wohl
+gemerkt: Glücklich ist er nit viel mit ihr. Ist mir heiß und kalt
+worden, wenn mich auf dem Kirchweg sein Blick hat getroffen. Und
+einmal, wie ich — just am Mariahimmelfahrtstag ist's gewesen, ich weiß
+es noch wie von gestern — auf dem Friedhof bei meinem Elterngrab knie
+und der Donat von dem seinigen über die Hügel hergeht! Wie er neben
+mir vorbeigeht, da stolpert er, stützt sich noch an einem Holzkreuz,
+daß es kracht, und ohne daß er mich anschaut, höre ich, wie er sagt:
+Hinfallen? Soll sein, heut' lieber als morgen. — Ich rühr' mich nit
+und tu' als wär' ich im Gebet, und mir ist zum Umsinken so schlecht. —
+Er ist davongewest: Da habe ich mir gedacht: Jetzt muß was geschehen.
+Was, das weiß ich selber nit. Er denkt noch auf mich, und das darf
+nit sein. — Und wie sich schon oft was schickt auf der Welt — ich
+will nit sagen, unser Herrgott hat's so haben wollen; ich denk', es
+kommt auch auf die Leut' selber an — auf dem Heimweg gesellt sich der
+Vorholzer Sebast zu mir. Der hat mir schon lang' alleweil schön getan.
+Und wie wir jetzt zum Lindenhäusel kommen, wo zu derselbigen Zeit Most
+und Branntwein ausgeschenkt worden ist, will er mich mit ins Wirtshaus
+haben. Das tue ich nit. Gut, sagt der Sebast, wenn du nit magst, mag
+ich auch nit — und geht mit mir weiter. Da denke ich bei mir: Kannst
+dir was einbilden d'rauf, wenn der deinetweg das Wirtshaus fahren läßt!
+Wie wir durch den Waldschachen gehen, es ist dem Preishubinger sein
+Wald, da hat er mich gefragt, der Sebast, ob ich ja sagen wollt', er
+hätt' ein Häusel und zwei Gaißen und braucht' ein Weibsbild dazu. —
+Das Häusel ist im Steinwald drinnen; vom Preishubinger-Haus braucht man
+länger als zwei Stunden hinein. Das wird doch weit genug sein, denke
+ich mir und habe ja gesagt.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span></p>
+
+<p>Nun schwieg sie und zählte die Maschen am Strickstrumpf.</p>
+
+<p>»So bist dem Vorholzer-Sebast sein Weib geworden?«</p>
+
+<p>»Ich hätt's nit schlecht getroffen,« fuhr die Ludmilla fort, »der
+Sebast ist ein braver, fleißiger Mensch gewesen, aber das Wirtshaus hat
+er sich halt nit mögen abgewöhnen, und wenn ihm dann der Branntwein
+in den Kopf gestiegen ist! So viel jäh ist er gewesen. — Mein Gott,
+es hat halt jeder Mensch seinen Fehler. Ich werd' wohl auch nit gar
+zu fein gewesen sein, wenn er so heimgekommen ist. 's geht eins aufs
+andere. — Aufkommt auch alles auf der Welt und alles wird viel stärker
+gemacht, und soll jetzt der Preishubinger gehört haben, mein Mann tät
+mich schlagen. Und da hat ihm halt einmal, wie er meinen Mann betrunken
+hat heimgehen sehen, der böse Feind den Einfall gegeben: geh ihm nach
+und schau', was Wahres ist am Gered'. — Wie der Sebast heimkommt, laß
+ich ihn an: Es wäre doch Sünd' und Schad' ums Geld; sich im Wirtshaus
+Kopfweh trinken und daheim treibt der Holzknecht Thomas die Gaiß weg —
+weil wir ihm Geld schuldig gewesen sind. Da kommt meinem Mann der Zorn
+und er fahrt über mich her. Jetzt ist auf einmal der Preishubinger da
+und schleudert meinen Mann an die Wand. Und darauf —« Die Erzählerin
+wendet sich ab und murmelt gegen die Ofenmauer hin: »Darauf ist das
+Unglück geschehen.«</p>
+
+<p>»Was ist geschehen?« fragte ich und stand auf.</p>
+
+<p>»Mein Mann hat die Holzhacke von der Wand gerissen und den Donat
+niedergeschlagen.«</p>
+
+<p>Weich und leise hatte sie das gesagt, dann legte sie das Strickzeug auf
+die Ofenbank und ging still zur Tür hinaus.</p>
+
+<p>— Niedergeschlagen! Erst später erfuhr ich den Rest. Der Donat hatte
+sich nach dem Schlage auf den Sebast gestürzt,<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> war dann zu Boden
+gesunken und hatte den Geist aufgegeben. Der Vorholzer Sebast schrie
+noch der Ludmilla zu: »Du bist <em class="gesperrt">sein</em> Unglück und bist <em class="gesperrt">mein</em>
+Unglück!« Dann ergriff er die Flucht. In der Niederau drüben, unter
+einem Heuschober hatten ihn die Gendarmen gefunden und gefangen.
+Zwanzig Jahre Kerker!</p>
+
+<p>Die Ludmilla hatte hernach wieder ihr Gewerbe, die Nähterei ergriffen,
+arbeitete und darbte und wartete auf den Sebast. »Wenn ich's nur
+erlebe,« sagte sie oft, »krank und mit weißen Haaren wird er mir
+zurückkommen, aber ich will ihm die alten Tage so gut machen, als es
+sein kann. Wenn ich's nur erlebe.«</p>
+
+<p>Von dem Donat sagte sie kein Wort mehr. Aber auf seinem Grabe —
+trotzdem die Witwe der großen Wirtschaft und vielem Sorgen wegen nicht
+Zeit hatte, es zu zieren — fand sich immer ein grünender Strauch, ein
+helles Blümel. — Als die Leute im Steinernen Elend durch Holzhändler
+verarmt, durch die Steuern abgestiftet waren und auswandern mußten,
+fand auch die Ludmilla keinen Erwerb mehr in ihrer Heimat. So kam sie
+herüber in die Bärndorfer Gegend und suchte ihr Brot als Dienstmagd, wo
+nachher das mit dem Pferde geschehen ist. Immer zählte sie die Jahre,
+bis ihr Mann zurückkehren sollte vom Strafhaus. Schon im voraus suchte
+sie die Leute für ihn zu gewinnen, erzählte von seinen Vorzügen, von
+seiner Bravheit. Man wartete schon mit einer gewissen Neugierde auf den
+Sebast und mehrere Bauern in Bärndorf stellten ihm der Ludmilla wegen,
+die sie überall gerne hatten, Dienstplätze in Aussicht. So hielt sie
+ihr Haupt aufrecht und ebnete — wo sie konnte — die Wege für ihren
+Mann. Da starb der Sebast ein Jahr vor Ablauf seiner Strafzeit!</p>
+
+<p>Nun wußte ich alles. Als ich dann den frisch beguteten<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> Socken am Fuß
+hatte und den Wanderstab in der linken Hand, und ihre Hand in der
+rechten — es war unter dem Tore des Wirtshauses — da sagte ich zu
+ihr: »Ja, die Leute haben recht, du bist das Guderl. Aber wie es schon
+schlecht eingerichtet ist auf der Welt, dir ist das Gute schier noch
+allemal zum Schlimmen ausgefallen.«</p>
+
+<p>»Wie sie ihn festhält bei der Hand!« rief jetzt im Hofraum eine der
+Stallmägde der anderen zu. »Wie sie ihn festhält! Hat sie ihm ein
+Pflaster auf die Füß' bunden, daß er nit fort kann! Jetzt ist er doch
+auf der Höh'.« Und dann zur Ludmilla: »Nur nit auslassen, Luderl! So
+ein feiner Stadtherr kommt dir nimmer.«</p>
+
+<p>Erschrocken ließ ich ihre Hand los.</p>
+
+<p>»Hast du's gehört, Herr?« lachte die Ludmilla. »Es wird mir auch
+<em class="gesperrt">das</em> schlimm ausfallen. Aber das macht nix. Wenn sie ihre Mäuler
+schon alle Tage füttern müssen, so wollen sie sie halt auch brauchen.
+Das schadet mir nimmer, gleichwohl ich manchmal über und über möcht'
+rot werden im Gesicht, wenn mich nicht schon der Einhandel so schön
+gefärbt hätt'. — Daß ich aber nicht vergess', ein Töpfel hätt' ich da,
+es ist ganz klein, du bringst es leicht ins Rocktaschel und macht nicht
+einmal einen Kropf.« Damit schob sie mir was Rundes in den Rocksack:
+»Arnikasalben ist drinnen, und ein Leinwandfleckel dabei. 's ist nur
+für den Fall, wenn der Fuß wieder sollt' anheben weh zu tun, oder sonst
+— ei geh nein! Mußt halt sauber achtgeben, junger Herr, daß nit wieder
+was passiert. Behüt' Gott schön!«</p>
+
+<p>Sie rieselte davon, ich sah sie nimmer.</p>
+
+<p>Seither sind fünfzehn Jahre vergangen. Das Guderl lebt noch immer
+als Krankenwärterin in Bärndorf. Vor einigen Jahren habe ich ihr,
+eingedenk der Wohltaten, die sie mir erwiesen, einen kleinen Geldbetrag
+geschickt. Den soll<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> sie zur Hälfte verschenkt haben, zur anderen
+Hälfte ist er ihr von einem ihrer Pfleglinge gestohlen worden. Später
+sandte ich ihr ein silbernes Kreuzlein; das ist ihr — auch abhanden
+gekommen. Nun habe ich ihr vor einigen Monaten, als ich sie in Bärndorf
+wieder aufsuchte, zum Andenken ein aus Holz geschnitztes Kreuz
+gebracht. Das hat sie heute noch und das wird ihr bleiben.</p>
+
+<p>Jetzt, da ich fertig bin mit meiner Geschichte, höre ich meinen Leser
+entrüstet ausrufen: Elende, gottverlassene Welt, in der die Güte und
+die Treue so undankbar vergolten wird!</p>
+
+<p>Darauf antworte ich: Glückselige, gottbegnadete Welt, in der trotz
+alles Undankes die Güte und Treue nicht ausstirbt.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Figurlmacher">Der Figurlmacher.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Es mag nun an die dreißig Jahre her sein seit jener Fahrt durchs
+Pustertal. Aber ich vergesse sie bis an mein Lebensende nicht. Nie vor-
+und nie seither hatte ich einem weltfremden Menschen so rasch und so
+tief in seinen Mittelpunkt geschaut, als diesem schlanken Knaben.</p>
+
+<p>Es war ein Sonntagsnachmittag. Über den Dolomiten war ein Gewitter
+gestanden, das nach einigen scharfen Tropfen, die es an mein
+Waggonfenster geschleudert, sich sachte verzogen hatte. Abendlicher
+Sonnenschein brach hervor und beleuchtete die Berge und die Kirchtürme
+und die frohen Menschen, die auf dem Bahnhofe versammelt waren, in
+den der Zug eben einfuhr. Aus der Gruppe von Männern und Burschen
+sprang jetzt ein junger, schmucker Mann mit Stock und Handbündel,
+verabschiedete sich rasch, schwang seinen Spitzhut, stieß einen
+grellen Juchschrei aus und stieg in mein Abteil, wo ich bisher allein
+gesessen war. Voll überlauter Lust rief er jedem einzelnen noch
+neckende Grußworte zu, und die Zurückbleibenden schrien: »Figurlmacher,
+behüt dich Gott, laß dir's schmecken, das Herrenleben!« Er sang einen
+schalkhaften Vierzeiler, jauchzte wieder, und der Zug fuhr ab. Ohne
+mich zu beachten, warf mein Reisegefährte den kurzen Kranabetstock und
+das rote Handbündel neben sich auf die Bank, setzte sich hin, trommelte
+mit der Fußspitze und pfiff ein heiteres Liedel. Vielleicht, so dachte
+ich, ist er darum so lustig, weil er seine ganze Sach' in einem
+Sacktuche mit sich tragen kann. Nicht jeder ist so glücklich, ich zum
+Beispiel war schon der Sklave meines Reisekoffers.</p>
+
+<p>Der Bursche war so, daß er den Weibern hätte gefallen<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> müssen: schlank,
+stramm, und trug ein keckes falbes Schnurrbärtel; nur das Auge war
+zu zahm; das war mattblau und hatte einen feuchten Glanz wie bei
+einem Weibe, in dem die sittsam bezähmte und doch begehrende Liebe
+ist. — Endlich war er ruhig geworden, stemmte seine Ellbogen auf die
+ausgespreizten Knie, und den Kopf auf die Hände gestützt, starrte er
+in den Boden hinein. Manchmal schaute er zum Fenster hinaus in die
+abendlich dämmernde Landschaft, dann hob sich seine Brust, als sollte
+wieder ein Jauchzen herauskommen, aber es kam keines, und mit einem
+leisen Seufzer sank sie wieder ein.</p>
+
+<p>Der Zug rollte fort und fort, an der Decke brannte zuckend die
+Lampe; schon lange mochte sie keine so stillverschlossenen Insassen
+gesehen haben, als an diesem Abende. An drei Stunden mochten wir so
+gefahren sein, als der Bursche ganz plötzlich an meine Brust sank
+und schluchzte. Ich war fast zu Tode erschrocken und tat mehrmals
+nacheinander die Frage, was das bedeute, was ihm geschehen wäre?</p>
+
+<p>»Ich kann's nit tragen!« stieß er hervor, »ich kann's allein nit
+tragen. Es ist zu hart.«</p>
+
+<p>Ich sprach ihm freundliche Worte zu. Wenn er ein Anliegen habe, so möge
+er es mir vertrauen, der Mensch dem Menschen. Bei Kummer und Leid,
+da gebe es kein Fremdsein. — Denn ich kann niemanden weinen sehen;
+Frauentränen wird man zur Not gewohnt, aber ein solches Schluchzen aus
+der Mannesbrust ist erschütternd wie der Ausbruch eines Vulkans. Ich
+legte die Hand auf sein Haupt, das an meinem Busen lag, und sagte noch
+einmal: »Freund, Freund, was ist dir?«</p>
+
+<p>»Es ist so hart,« sagte er und sein Körper bebte.</p>
+
+<p>»Du bist ja erst so lustig gewesen?«</p>
+
+<p>Da lachte er krampfhaft auf: »Lustig! — Mein Elend habe ich
+totschreien wollen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span></p>
+
+<p>»Ist dir ein lieber Mensch gestorben?«</p>
+
+<p>»Wie sie meinen Vater ins Grab gelegt haben,« entgegnete er, »und ich
+allein dasteh auf der weiten Welt — es ist auch ein Schmerz gewesen.
+Aber so! So wie jetzt! — Ich kann's nicht aushalten, ich muß es wem
+erzählen. Meine Kameraden daheim wissen nichts und wollten mich nur
+auslachen. Mit Spott will ich nit fort.«</p>
+
+<p>»Wenn ich recht verstehe, es ist gewiß ein Weibsbild im Spiele!« sagte
+ich.</p>
+
+<p>»Ja freilich,« antwortete er.</p>
+
+<p>»Ich habe mir's gedacht. Ein rechter Mann weint nur dreimal in seinem
+Leben: Wenn ihm Vater und Mutter gestorben sind, wenn ihm seine Ehre
+vernichtet wird und wenn er unglücklich in der Liebe ist. Zweimal
+habe ich auch schon geweint, mein Lieber, du kannst mir schon etwas
+vertrauen.«</p>
+
+<p>Es dauerte eine Weile, bis er so weit mit sich zurechtkam, daß er
+ruhiger sprechen konnte. Dann begann er zu erzählen:</p>
+
+<p>»Meine Eltern, die sind kleine Häusler gewesen, kümmerliche Leut'. Ich
+hab' mir mit Heiligenschnitzen die Groschen verdient und es werden nit
+viel Kirchen und Kapellen sein in der Gegend, wo nit von mir ein Figurl
+steht. Ich hätt' eine Freud' zum Schnitzen, aber mir fehlt's halt noch.
+Die Leut' loben mich überall und zahlen oft mehr, als ich verlang'.
+Nur eine —.« Da brach er ein wenig ab, fuhr sich mit der flachen Hand
+über die Stirn, machte dann eine Bewegung mit ihr, als wollte er etwas
+von sich scheuchen. »Es ist eine Torheit,« fuhr er nachher fort, »daß
+sich der Mensch so was zu Herzen nimmt. Aber halt gefreut hätt's mich,
+wenn sie mir ein einzigmal 'kommen wär' mit einem guten Wort über meine
+Figurln. Ja, den krummen Fuß<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> oder die schiefe Nasen, oder wie schon
+was fehlschlagen kann, das hat sie gleich gesehen und hat mit ihrer Red
+den Fuß noch verkrüppelter und die Nasen noch birniger gemacht. Und
+ist mir was geraten, daß die Leut' gesagt haben: Schau' das kann er!
+— da ist sie still gewesen und nit ein gutes Wörtel! Hab ich ihr's
+hingehalten: Was sagst zu diesem Herrgottel? Nit übel, gelt? Hernach
+ihre Antwort: Ist gut, wenn es dir gefällt, Figurlmacher. — Jetzt, sie
+heißt Kathrin, und da hab ich ihr eine heilige Katharina geschnitzt,
+auch mit dem Rad, und sauber gemalt, daß solches Figurl ganz nett
+ausgesehen hat. Sie tut nit viel um und nimmt's und ich denk, gefreuen
+wird sie's, wenn sie es auch nit so scheinen laßt. Bei ihr ist alles
+inwendig, und in Ehren halten wird sie das Bild wohl dennoch, ich wette
+drauf, sie stellt's über ihr Bett aufs Wandkastel. — Hernach nächstens
+wie ich wieder einmal zu ihr komm, ist mein erster Blick an ihr Bett
+hin auf die Wand. Was ich nit seh, das ist mein Figurl. Herentgegen
+hängt am Nagel ein mit Silber beschlagenes Gamsfüßel, wie solche Sachen
+der Knopfdrachsler, der Marx Zeindler, so hübsch herrichten kann. Mir
+fallt aber nichts ein und wie wir miteinand ein bissel heimgarten, frag
+ich so nebenhin, wo sie das Figürl hätt? — Ja richtig, sagt sie, das
+muß ich wo vergessen haben, jetzt fallt's mir ein, das steht gewiß bei
+der Ahndl oder wo. — Laß es stehen, sag ich, und bald nachher richt
+ich mich zum Fortgehen, weil mich die Sach ein klein bissel verdrossen
+hat. Jetzt, wie ich aber nit bei ihr gewesen bin, hab ich doch alleweil
+an sie denken müssen. Kein Mensch glaubt's. Ich kenne Schönere, als wie
+sie, und solche, die mich lieber hätten, aber es ist just, als ob mir
+die ins Herz gebrannt wär'.«</p>
+
+<p>Da der Bursche einhielt, so sprach ich: »Mein Lieber, das geht nicht
+dir allein so. Die Leute haben das Wort Liebe<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> dafür erfunden, ist aber
+nicht das rechte. Verhext, wahnwitzig, das würde besser stimmen. Ein
+schwarzes Weiberauge und eine Tollkirsche haben auf uns Männer manchmal
+die gleiche Wirkung. Gegen Tollkirschengift ist frische Kuhmilch das
+beste Mittel, gegen das schwarze Auge hat es mancher mit dem Wein
+versucht.«</p>
+
+<p>»Trinken!« rief der Bursche, »hab mir's auch schon gedacht, aber wenn
+ich ein Anliegen hab, da schmeckt mir kein Wein, und es schmeckt mir
+keiner. Ich brauch wen, den ich <em class="gesperrt">gern</em> hab und der mich wieder
+gern hat, und der meine Figurln mag — wenn das ist, nachher bin ich zu
+allem aufgelegt. Aber so —«</p>
+
+<p>Er ließ den Kopf hängen.</p>
+
+<p>»Du bist auch so einer, der auf der Welt schon den Himmel haben
+möchte,« sagte ich. »Schau um, ob es <em class="gesperrt">einer</em> so gut hat! Denke,
+du bist auf der Welt und halt dich an die Arbeit. Das Figurnschnitzeln
+wird dir dein Lebtag mehr Freude machen, als alle Weiber zusammen.«</p>
+
+<p>Jetzt begann er ganz unvermittelt vom Blitz zu erzählen: »In der
+Siebenbrunnkirche hat der Blitz eingeschlagen. Beim Turm ist er herab,
+hat die Orgel zerrissen, nachher zur Kanzel, zum Altar, zertrümmert die
+Mutter Gottes, und beim Taufstein wieder hinaus. Jetzt sind sie kommen
+und ich hab müssen ein Muttergottesbild schnitzen. Ist auch alles
+zufrieden gewest damit, nur der Marx Zeindler hat gesagt: Zu dieser
+Sternguckerin ging er nit beten, da ginge er schon lieber zu einer, die
+ihm keck ins Gesicht schaut und die Händ zum Halsen auseinander tät. —
+Weil ich meiner Mutter Gottes die Augen gegen Himmel hab richten lassen
+und die Händ' zusammenhalten, auf ein Gleichnis, als wollt' sie für
+die Siebenbrunner Pfarr fürbitten. Nun, so hat er gespottet, der Marx,
+und ich hab mir weiter nichts draus gemacht; er ist auch sonst<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> so
+viel roh, wie soll er just bei mir fein sein. Es gibt ja allerhand so
+Leut auf der Welt. Sollt bei seiner Arbeit bleiben, Knöpfe drachseln,
+Hirschzähne einfassen, wie man sie so an den Sackuhren baumeln hat,
+Gamsbart und Schildhahnstöße binden für die Jäger, und so Sachen,
+das kann er, aber vom Figurlschnitzeln versteht er nichts. Hab ihm's
+gesagt. — Jetzt hab ich mich aber doch gefreut auf die Kathrin. Das
+Muttergottesfigurl wird ihr wohl recht sein, und wenn sie sieht, wie
+die Leut zusammenlaufen und davor beten und ihm die Füß küssen — und
+hat's der ihrige gemacht. Und einmal nach der Kirche, da frag ich sie:
+Du, was sagst denn eigentlich zu meinem Bildnis? — Geh laß mich aus,
+dalkerter Figurlmacher, ist ihre Antwort, eine solche Sternguckerin
+da! — Hab ich einmal gestutzt. Wie ist das? Jetzt haben die zwei, die
+Kathrin und der Marx, gleiche Gedanken! — Und von dieser Stund ist
+meine Pein angegangen. Die zwei halten zusammen, hab ich gedacht, wo
+ich geh und steh. Sonst alles überhört, vergessen, ganz dumm im Kopf,
+nur alleweil denken: die zwei halten zusammen! Sie lachen die Figurln
+aus und den Schnitzler, und was sich der immer sittsam hat aufgespart
+für den Ehestand, an dem prassen sie allbeid, und ich bin der Gefoppte.
+— Nit essen und nit schlafen hab ich können, zugrund gehen, hab ich
+gemeint, muß ich vor lauter Kränken; hab mir aber nichts merken lassen.
+Bin ich mit ihr zusammenkommen, so tut sie nit süß und nit sauer,
+spricht aber ein paarmal vom Heiraten, denn es ist schon ausgemacht
+gewesen zwischen uns, und einmal hat sie noch im Spaß gesagt: den
+Figurlmacher mag sonst keine, so will ich ihn aus Barmherzigkeit
+nehmen. — Tut mannigmal weh, so was, aber laß mir's gefallen. Jetzt
+aber wird's mir ungleich und hab ich's versuchen wollen, ob's denn
+nicht möglich wär, sie zu meiden und mit einer anderen was anzuheben,<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span>
+weil ihrer genug sind gewest, die mir nachgeschaut haben. Aber je
+weniger ich an die Kathrin denken hab wollen, je fester ist sie mir
+im Sinn gelegen, und je höllischer ich sie hassen hab wollen, je
+höllischer hat's mich zu ihr gezogen, und wenn ich mir gar vorstell,
+daß sie mit ihm beisammen ist — deutlich hab ich alles gesehen im
+Geist — da hätt ich rasend werden mögen vor lauter Wut und Lieb. —
+Herr, wenn sie einen Mörder henken, ich werf keinen Stein auf ihn! Gott
+hüt uns, kein Mensch weiß es, wie nah er am Abgrund steht.«</p>
+
+<p>»Also weißt es, was noch schlimmer ist, denn so eine dumme Liebe!«
+bemerkte ich.</p>
+
+<p>»Am vorigen Samstag ist's gewesen,« fuhr der junge Mann fort. »Ich geh
+ins Breit-Viertel hinüber, Lindenholz kaufen. Wie ich im Wald bin,
+seh ich einen Knaben, der sich einen Peitschenstecken brechen will,
+das Lärchbäumerl ist aber zäh, läßt sich winden und drehen und will
+nit los. Halt, denk ich, nimm mein Messer, schneid's ab, äst's auch
+aus und richt's gerad, — hat das Bübel eine Freud gehabt. Wie ich in
+den Graben hinab komm, wird's schon dunkel. Auf der Wiese ist Heu und
+mitten drin sitzt der Marx-Zeindler. Mit seinem braunen Schnurrbart und
+Funkelaugen und wie die Haarfetzen über die Stirn herabfahren — ein
+schöner Mensch. Jetzt, wie ich noch ein paar Schritt weiter geh, sehe
+ich neben seiner die Kathrin. Reden tun sie nichts miteinand, schauen
+sich aber fest in die Augen, also daß man meinen kunnt, ihr Blick wäre
+ein eiserner Nagel, der die zwei Köpf zusammenheftet. Ich hab's meiner
+Hand nit befohlen, sie greift von selber um's Messer. Sucht im Sack
+und in allen Säcken und findet es nit; hab das Zeug unversehens liegen
+lassen oben im Lärchenwald. So schön! denke ich, einen Schutzengel
+haben die auch noch! Jetzt, was soll ich machen? Ich geh langsam rund
+herum; bin ich herüben,<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> so hab ich sein Gesicht, bin ich drüben, so
+hab ich ihres. Eine so verdammte Unterhaltung hab ich mein Lebtag nit
+gehabt! — Wenn die Liebe nit blind machen tät, sie hätten mich sehen
+müssen. Auf einmal, wie ich wieder hinschau, kommen sie mir allzwei
+häßlich vor, so häßlich, daß mir übel wird. — Jetzt weißt es, sage
+ich zu mir, jetzt, was willst anfangen? Willst Lärm schlagen zu deiner
+Schand? Willst ihn erwürgen und sie heiraten? Nein. Da gibt's nichts,
+als still davongehen. — Schon lang mein Wunsch nach Innsbruck in die
+Schnitzerschul. Eine ganze Nacht hat's gearbeitet in meinem Kopf:
+Sollst gehen? Sollst bleiben? Und je länger ich sinnier, je enger wird
+mir die Siebenbrunner Gegend und je breiter die Straßen nach Innsbruck.
+Wie die Sonn aufgeht, steht's fest. Und heut — heut geh ich halt.«</p>
+
+<p>»Ich gratulier!« Mit diesem Wort wollte ich seine Hand fassen, er zog
+sie rasch zurück.</p>
+
+<p>»Denke dir, lieber Mensch,« sagte ich, »sie hätte sich dir angesüßelt
+und du kommst erst nach der Hochzeit zum Heu auf der Wiese!«</p>
+
+<p>»Mich däucht,« knirschte er und holte die Faust wie zum Stoß aus.</p>
+
+<p>»Das ist nichts,« unterbrach ich ihn, »du mußt dich weit furchtbarer
+rächen. Laß sie zusammen heiraten, er mit der Roheit, sie mit
+der Untreue, das geht weit über's Schnitzmesser! Und das bedenk:
+ein gleichgültiges oder absprechendes Wesen paßt nicht für einen
+Figurlschnitzler. Das würde dich mutloser machen, als alle
+absprechenden Urteile neidischer Kollegen, und deine Kraft lähmen. Die
+Mitfreude des geliebten Weibes an seinem Werke bedarf der Künstler, wie
+die Blume den Sonnenschein. Kein Mensch glaubt's, welch ein Segen für
+den Künstler das rechte Weib ist. Bedenk's und danke Gott.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p>
+
+<p>»Aber —« entgegnete er, und die Stimme brach sich im Halse, »ich —
+hab sie lieb.«</p>
+
+<p>Es ist ewig dieselbe Geschichte. Da hatte er aus Trotz gejauchzt, aus
+Wut sich zum Auswandern entschlossen, aus Rache nach dem Messer gelangt
+und muß sie lieben, als wäre sie ihm ins Herz gebrannt.</p>
+
+<p>Wir waren in Franzensfeste, wo unsere Straßen sich trennten, die meine
+ging nach dem Süden, die seine über den Brenner nach der Hauptstadt.
+Vor dem Scheiden hatten wir gegenseitig unsere Namen genannt. Er hatte
+mich noch um Verzeihung gebeten, daß er mir sein Anliegen so vor die
+Füße geworfen, und gedankt, daß ich gut mit ihm gewesen. Jetzt sei ihm
+schon leichter. Dann gab ich ihm noch den Rat, er solle aufhören, sie
+zu hassen, dann würde er auch aufhören, sie zu lieben, und falls uns
+der Lebensweg noch einmal zusammenführe, würde er wirklich so lustig
+sein, als er es heut <em class="gesperrt">scheinen</em> wollte. —</p>
+
+<p>Acht Jahre später brachte ich folgendes in Erfahrung. Die Katharina
+Zeindlerin machte eine Wallfahrt nach Maria im Anger. Die Kirche ragte
+in einer Waldgegend, in der manch freundliches Dörfchen und manch
+schmuckes Landhaus stand. Aber die Katharina schleppte eine Last von
+Kummer daher. Ihre Kinder waren teils blöde, teils ungeraten; ihr
+Mann war ein Wüterich, der sie mit seiner Eifersucht zu Tode quälte,
+während er selbst unlauteren Schlichen frönte, und so frech, daß die
+betrogene Gattin von seinen Zuhälterinnen noch verhöhnt wurde. — Nun
+trat das arme, vor Schmerz gebeugte Weib in die Kirche. Auf den Knien
+rutschte sie bis zum Hochaltar, auf dem die Mutter des Heilandes stand.
+Das Angesicht von himmlischem Frieden verklärt, die Hände über der
+Brust gekreuzt, die Augen zur Höhe gehoben voll heiliger Inbrunst, so
+stand die hehre Gestalt da; und Katharina,<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> als sie emporblickte zu
+ihr, mußte weinen. Vielleicht gedachte sie einer vergangenen Zeit,
+in der sie ein Bildnis mit gen Himmel gehobenem Blick spottweise die
+Sternguckerin genannt; heute war sie selber eine solche Sternguckerin,
+und es tat ihr wohl, daß das Auge der Gottesmutter ihrem trostlosen
+Herzen ein Wegweiser war empor zu himmlischer Erhebung.</p>
+
+<p>Und als das so hohen Fluges ungewohnte trübe Auge des Weibes wieder
+erdwärts sank, blieb es haften an dem Sockel der Bildsäule, in dem der
+Name des Schöpfers derselben eingegraben war. Ihr Herz hub zu pochen
+an, sie kannte den Namen.</p>
+
+<p>Aus der Kirche tretend, fragte sie den Beschließer, ob denn vielleicht
+der Künstler noch lebe, der das schöne Gnadenbildnis gemeißelt habe?</p>
+
+<p>Der Beschließer streckte seine Hand aus, nach einem stattlichen
+Landhause weisend, das auf einer sachten Höhung stand und von schönen
+Bäumen umgeben war: »Das dort ist sein Haus, und da wohnt er drinnen.«</p>
+
+<p>Also schlich nun in der Abenddämmerung das Weib zu dem bezeichneten
+Hause hin, und zwischen den Planken lugte sie hinein in den Garten.
+Da hörte und sah sie eine Schar hübscher, munterer Kinder, da sah sie
+eine schöne, freundlichschauende Frau, und mitten unter diesen Menschen
+sah sie ihn. In seinem Wesen lag eine Ruhe, aus seinen Augen strahlte
+lauteres Glück.</p>
+
+<p>Der Figurlmacher! — Das Weib taumelte wegshin. Sie sah jetzt den
+Unterschied, der da ist, wenn man den Blick zur Höhe richtet, wo
+freudige, himmeldurchfliegende Gläubigkeit herrscht, oder der
+schmutzigen Erde zu, wo solche krauchen, die nichts können, als Knöpfe
+drachseln, Gamsfüßeln beschlagen und auf dem Heu liegen.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span></p>
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+<h2 class="nobreak" id="Der_junge_Geigenspieler">Der junge Geigenspieler.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Eines Tages sah der junge Ministrant Giedel bei seinem Pfarrer in
+Schwandau ein Holzkistchen. Er betrachtete es über und über; es war
+von länglicher Form, inwendig leer, und hatte sehr dünne Wände. Als
+der Herr Pfarrer dem Knaben den Ministrantenanteil von der Messe —
+zwei Kreuzer — ausbezahlte, sagte der Giedel bescheidentlich: Auf
+Bargeld gehe er schon weniger, aber wenn der hochwürdige Herr ihm das
+Holzkistel schenken wollte, so würde er dafür gerne den Winter über
+umsonst ministrieren.</p>
+
+<p>»Kind!« rief der Pfarrer, »wozu willst denn das Ding? Es ist ja ganz
+leer!«</p>
+
+<p>»Just deswegen,« antwortete der Kleine, »ich kann bloß die leeren
+Sachen brauchen.«</p>
+
+<p>»Du bist nicht klug, Giedel. Das Zigarrenkistel kannst mitnehmen, und
+für die Meß kriegst täglich deine Kreuzer, wie sonst. Bist ja ein
+braver Bub du! Gott behüte dich!«</p>
+
+<p>Voller Freude lief der Knabe mit seinem hohlen Schatze heim in des
+Vaters Hütte. Dort hub er an zu schaffen. Er bohrte durch das Kistchen
+Löcher, zog einen Balken durch, so daß dieser an beiden Seiten
+hervorstand. Dann erbettelte er von der Mutter mit List einige Fäden
+Hanfgarn, glättete sie mit Harz und spannte sie über das Kistchen,
+ähnlich wie man auf eine Geige die Saiten spannt. Und als er mit den
+Fingern die Fäden zupfte, wohl, wohl, da gab's einen Ton, der im
+Kistchen eine Weile nachklang. Der Giedel hatte auf dem Kirchenchor
+Pfeifen- und Saitenspiel gehört, er war dabei bis in den dritten Himmel
+verzückt gewesen, aber jetzt war er's bis in den siebenten, denn der
+Klang war von ihm selbst<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> erfunden und erzeugt, und je nachdem er mit
+dem Finger den Faden strammer oder loser spannte, gab es einen höheren
+oder tieferen Ton. Als das so weit war, wagte der kleine Giedel einen
+schweren Gang. Der Pferdeknecht des Nachbars war sein Feind, denn er
+war ein roher Geselle, und die Töne, die der rote Rupert durch Fluchen,
+Peitschenknallen und andere Mittel hervorbrachte, waren dem Giedel
+verabscheuenswert. Und gerade dieser Mensch konnte ihm jetzt helfen.</p>
+
+<p>»Guter Roßknecht Rupert!« redete ihn der Kleine an. »Hast du keinen
+Roßschweif?«</p>
+
+<p>»Ich nicht, Narr, aber mein Pferd.«</p>
+
+<p>»Verkauf mir davon ein Strähnl?«</p>
+
+<p>»Was zahlst?«</p>
+
+<p>»Das Ministrantengeld bis Weihnachten.«</p>
+
+<p>Der rote Knecht glotzte mit seinen unterlaufenen Augen den hübschen,
+treuherzig blickenden Knaben ein Weilchen an, dann sagte er:
+»Pferdeschweifhaare willst. Sollst ihrer haben. Dein Ministrantengeld?
+den Bettel behalt' selber, aber zu mir herüber in den Stall kannst
+du manchmal kommen, wenn du Zeit hast. Weißt, wenn ich am Feierabend
+meinen Tabak rauch', da hab' ich's gern, wenn mir wer das Haar kraut.
+Bin's von Kindes her so gewohnt. 's tut mir halt wohl. Wenn du manchmal
+herüberkommst krauen, so kannst Pferdeschweif haben, so viel du willst.«</p>
+
+<p>Dem Knaben ging es ganz kalt über den Rücken. Diesem Menschen das Haar
+krauen! »Die Mutter laßt mich halt nicht,« sagte er dann verzagt, »aber
+das Ministrantengeld bis Heiligdreikönig!«</p>
+
+<p>»So wart' ein wenig,« sprach der Pferdeknecht, und der Giedel bekam
+einen silbergrauen Strähn vom alten Schimmel. Jetzt war's gewonnen.</p>
+
+<p>Er schnitt einen Weidenzweig, spannte daran die Haare,<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> und der
+Fiedelbogen war fertig. Dann hub er an auf seiner Geige zu fiedeln. Es
+war außerordentlich! Es war darum außerordentlich, weil das ganz anders
+stimmte, als andere Geigen, wenn auch nicht schöner, aber durchaus
+anders. Tagelang spielte der kleine Musikant auf seinem Instrumente,
+anfangs mit großer Selbstbefriedigung und Hoffnung, daß sich das Zeug
+vervollkommnen lassen werde, allmählich aber mit weniger Zuversicht,
+und als gar sein Vater, der Weber Franz, ein Donnerwetter losließ über
+das schauderhafte Gekrächze, das da sein Bub hervorbringe, war es
+geschehen. Der Giedel legte seine Geige auf den Holzblock, ging hinaus
+unter den Apfelbaum und war betrübt. Musizieren, geigen! Er schnitt
+sonst Pfeifen und blies hinein, er machte Pauken und trommelte darauf.
+Alles ging leidlich, nur die Geige nicht. Wenn er dann am Sonntage den
+Schulmeister das Meßlied geigen hörte, da vergaß er seine lateinischen
+Sprüche und horchte versunken dem Spiel. Minutenlang konnte der Pfarrer
+seinen Kelch hinhalten, der Knabe hielt die Wein- und Wassergefäßchen
+in den Händen und goß nichts hinein. Er horchte auf das Geigen. Der
+Pfarrer schalt ihn nicht, es wurden ihm die Augen feucht. In diesem
+Kinde der glühende Drang nach dem Schönen, und es kann sich nicht
+helfen? Wie reich ist die Welt an Herrlichkeit und Kunst! Wie üppig
+blüht in den Städten und Höfen der Großen die göttliche Musik auf! Die
+Harfe, die in einem Dorfe zu Gottes Lob ertönt, ist nur ein Stammeln
+dagegen! Und selbst dieses Stammeln ist dem Knaben unerreichbar ...</p>
+
+<p>Ging der Pfarrer zum Weber Franz und bettelte ihm mit vieler Mühe den
+Giedel ab für eine tägliche Musikstunde.</p>
+
+<p>»Du lieber Gott!« sagte der Weber: »Eine Stunde des Tages haben ihn
+Hochwürden ohnehin bei der Messe; jetzt soll ich ihn noch eine zweite
+Stunde herlassen? Muß ihn ja<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> doch für mich abrichten, und er soll
+arbeiten lernen. Wir sind halt arme Leute. Aber wenn er um eine Stunde
+früher aufsteht, — der Junge liegt mir jetzt alle Tage bis sechse in
+der Früh'! — so kann er meinetwegen seine Musikstunde haben.«</p>
+
+<p>Nun, da hätten wir ihn ledig. Jetzt ging der Pfarrer zum Schulmeister
+und sagte: »Unser Giedel. Mir tut er ins Herz hinein weh. Probieren Sie
+es alle Tage ein Stündel mit ihm. Zahlen kann sein Vater nichts, aber
+ich meine, es ist so viel als Kirchenmusik zum Lobe Gottes, wenn Sie
+diesem musikbegeisterten Kinde das Saitenspiel lehren?«</p>
+
+<p>Der Schulmeister reichte dem Pfarrer schweigend die Hand, da war es
+abgemacht.</p>
+
+<p>Also geschah es nun, daß der Giedel täglich in das Schulhaus kam und
+auf einer alten Geige, die der Schulmeister ihm lieh, nach mühesam
+eingelernten Noten die Saiten strich. Es war ein Glück, und es war ein
+Fleiß, und es war eine Plage. Nach etwa einem halben Jahre waren sie
+soweit, daß der Schulmeister zum Pfarrer sagte: »Mit dem Knaben ist es
+ein Elend. Ich bringe ihm keine Noten und keine Regeln in den Kopf. Wo
+er nach der Vorschrift sich üben soll, ist es gar nichts; er vergreift
+sich, und man kann ihm auf die Finger klopfen wie man will. Wenn er
+aber für sich phantasieren kann, da ist es manchmal erstaunlich,
+geradezu erstaunlich! Das hilft alles nichts, wenn er das Theoretische
+nicht inne kriegt, so ist alle Mühe verloren.«</p>
+
+<p>Doch taten sie eine Weile so fort. Allmählich aber änderten sich die
+Zeiten. Der gute alte Pfarrer zu Schwandau ging zum Altenruhsitz in
+ein Kloster. Der Schulmeister wurde versetzt, der Weber Franz starb,
+und der Giedel mußte als Majoratsherr in der armen Hütte die Ernährung
+der Familie über sich nehmen. Die Geige, schon mit<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> Abgang des
+Schulmeisters ihm aus der Hand gesunken, mußte er sich nun auch aus dem
+Kopfe schlagen. Es kamen die Jahre, in welchen dem Menschen der Himmel
+voller Geigen zu hängen pflegt; an Giedels Himmel hing nichts als eine
+große Flöte, auf der er Trübsal blasen konnte, wenn er das Blasen
+überhaupt gelernt hätte.</p>
+
+<p>Eine halbe Wegstunde von Schwandau in einem Seitengraben stand damals
+ein kleiner Eisenhammer. Heute ist er ganz verfallen, nur der blockige
+Schornstein steht noch da, und rings um ihn wuchert Holundergesträuche
+und Nesselwerk. Der voreinstige Besitzer ist hinausgezogen in das weite
+Tal, hat dort ein großes Sensenwerk gegründet, hat Ländereien und Wald
+dazugekauft, und als der Besitz recht groß und die Werkschaft recht
+angesehen war, hat er alles an eine Aktiengesellschaft abgetreten und
+sich selber in die Stadt gezogen, wo er sein Geld in vornehmer Weise
+und sorgenlos genießen konnte. Zu jener Zeit, von der hier die Rede
+ist, pochte das emsige Eisenhämmerlein in der Waldschlucht Tag für
+Tag, und dem Weber Giedel pochte fast noch heftiger das Herz, wenn er
+es hörte. Denn im Hammerhause war Eine! Jung und gut und lieb! Das war
+ihm schon recht, wenn sie nur nicht so schön gewesen wäre! Wie kann
+ein armer Weberbursche sich an eine Hammerschmiedstochter wagen, wenn
+sie so gottlos schön ist! Er kriegt sie nicht. Hundert andere sind,
+reiche, vornehme, kecke! So gern kann sie freilich keiner haben, als
+der Giedel, aber sie weiß es nicht, und er kann es ihr nicht sagen, und
+so wird der Jüngste Tag kommen und die Paula Radhuberin wird es immer
+noch nicht wissen, daß sie auf Erden einer so über alle Beschreibung
+gern gehabt hat. Denn wie kann er es sagen und schreiben, wenn es
+unsagbar und unbeschreiblich ist! — Einmal an einem Sonntage hatte er
+sie von der Kirche aus begleitet<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> bis zur Brücke, über die der Weg zum
+Eisenhammer hinanführt. Garnkaufen müsse er gehen, hatte der Giedel
+gelogen, um eine Weile neben ihr herschreiten zu dürfen. Sie plauderten
+und es war von sehr wichtigen Sachen die Rede: Daß doch die Straße
+einmal geschottert werden sollte! Daß es wieder gar so viel regne in
+diesem Sommer! Daß Korn und Obst verderbe! Nur das Heu würde geraten!
+Und beim Heu hielten sie sich so lange auf, bis die Brücke kam. Dann
+wünschte sie ihm einen guten Garnhandel, und er sagte: »Dank' schön!«
+und also stand er wieder allein. Hinter einer Fichte stand er und
+guckte ihr nach, solange der rote Punkt, denn sie hatte ein kirschrotes
+Kittlein an, im Hohlweg zu sehen war.</p>
+
+<p>Nach diesem Spaziergange verschloß sich der junge Weber in seine Stube
+und verfaßte ein Schreiben an die ehr- und liebsame Jungfrau Paula
+Radhuberin. Als er das Schreiben durchlas, war es trocken wie ein
+dürrer Ast. Kein grünes Blatt und keine rote Blüte war daran und doch
+wucherte in seinem Herzen ein so üppiger Rosengarten, daß der arme
+Junge fast erstickte. Den Brief zerknitterte er und warf ihn in die
+Asche des Ofens.</p>
+
+<p>Leute, die vielleicht noch Hemden am Leibe tragen aus jener Zeit und
+von jener Leinwand, die der verliebte Weberbursche Giedel gewoben,
+müßten es eigentlich heute noch spüren, das trostlose Herzweh, das
+er in die Fäden hineingewebert. Damals hat's kein Mensch geahnt, wo
+es fehlte; weil er so blaß und traurig war, der Giedel, so meinten
+etliche, er hätte es auf der Brust. Sie hatten recht, aber anders, als
+sie meinten. Seine alte Mutter riet ihm oft, er solle nicht immer am
+Webstuhl sitzen, er solle sich besser zerstreuen. — Wieso denn? Lieben
+darf ich nicht, und geigen kann ich nicht. — Denn er hatte gar keine
+Geige, und es<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> war noch nie möglich gewesen, sich eine anzuschaffen. Da
+kam eines Tages eine große Aufregung.</p>
+
+<p>In Schwandau lebte seit kurzer Zeit ein ausgedienter Major, der eine
+große Geigensammlung besaß. Wie es schon allerhand Sammler gibt auf
+der Welt: Käfersammler, Tabakspfeifensammler, Hosenknöpfesammler,
+Spielkartensammler, Spazierstöckesammler, Uhrschlüsselsammler und
+immer so fort, so kam es dem Major, als er in seinem Ruhestande
+nichts zu tun hatte auf der Welt, plötzlich in den Sinn, er müsse
+eine Geigensammlung haben. Da er, wie gesagt, selbst nicht geigte und
+sein Museum auch selten einem neugierigen Auge aufschloß, so hatten
+die guten Leute zu Schwandau kaum eine Ahnung von all den Walzern,
+Ländlern und anderen Weisen, die ungeweckt in ihren Mauern schliefen.
+Da kam jener Sonntagnachmittag, an dem der Weber am Waldhange die
+zwei Ziegen weidete. Sein Schwesterl, das sonst den Hirtendienst zu
+besorgen hatte, war in den nächsten Kirchort zur Firmung gegangen.
+Wie er im Moose so dalag und ganz gedankenlos in das offene Fenster
+eines gegenüberstehenden Hauses blickte, ging es sachte und traumhaft
+in ihm auf wie eine übernatürliche Erscheinung. Dort drin an der Wand
+hing eine Geige, ihr zur Rechten hing auch eine solche, ihr zur Linken
+hingen deren zwei kleine, ihr zu Füßen war eine Riesengeige — aus dem
+Stubenschatten immer deutlicher hervortretend Geigen und Geigen.</p>
+
+<p>Dem Burschen begann fast zu schwindeln, die Wangen, die Stirne waren
+ihm heiß, das Herz wurde ungeberdig, die leidenschaftliche Gier zur
+Geige war wieder da. Als er am Abend nach Hause kam, und die Mutter
+nach den Ziegen fragte, war er verwundert, weshalb just er von den
+Ziegen etwas wissen sollte. Zum Glück kamen sie selbst heim und
+meckerten ihre Ankunft. In der darauffolgenden Nacht schritt<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> der
+Giedel den Weg hin und wieder von Schwandau bis zum Eisenhammer. Als
+er das erste Mal vor ihr Fenster kam, war noch Licht darin, das zweite
+Mal war schon alles finster. Unterwegs begegneten ihm Nachbarsburschen,
+die zu den Fenstern ihrer Liebsten gingen, dort allerlei Ständchen
+brachten und getröstet heimkehren konnten. Der eine spielte unterwegs
+eine Mundharmonika, der andere eine Maultrommel, der dritte jodelte und
+der vierte pfiff vergnüglich vor sich hin. Und jener, der ganz still
+war, atmete die Harmonie inneren Glückes. Also ist die Liebe stets
+musikalisch. Nur der arme Giedel empfand keinen Wohlklang in seinem
+Wesen. Er kam sich dumm und häßlich vor, ihm mangelte jener Wohlklang
+des Herzens, der zu rechter Zeit mutig macht, ein Glück zu erringen. Im
+Dorfe stand der Giedel vor dem Hause, in dem der Major mit den Geigen
+wohnte. — Daß es so herzzerdrückend still sein kann auf dieser Welt!
+Da haben die Leute einen Mund und eine Sprache, und Geigen, und sind
+doch stumm.</p>
+
+<p>Lange nach Mitternacht ging er zu Bette, erst gegen Morgen schlief er
+ein und geigte und geigte.</p>
+
+<p>Noch ganz verschlafen war er, als übertags zwei Frauenzimmer ins Haus
+kamen mit Körben Garn; das eine war die Magd vom Eisenhammer, das
+andere war die Paula. Diese blickte den schlanken, blondhaarigen,
+sanftdreinschauenden Burschen frisch an und sagte: »In vier Wochen
+müssen wir Leinwand haben. Sie ist zur Ausstattung!«</p>
+
+<p>»Will wohl trachten,« antwortete der Giedel, hatte aber nicht den Mut
+zu fragen, wer denn heirate? Man atmet ja gern noch ein wenig in der
+süßen Ungewißheit. <em class="gesperrt">Dann</em> ist ohnehin alles aus.</p>
+
+<p>Auf dem Heimweg sagte die Magd zur Hammerschmiedstochter: »Etwas
+antappert ist der Weber.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span></p>
+
+<p>»Ich denk', der ist ein bissel gescheiter wie du!« entgegnete strafend
+die Paula. Weiteres wurde nicht gesprochen.</p>
+
+<p>Der Giedel wußte wohl, daß er als einzige Stütze seiner Familie
+wehrfrei war. Dennoch ging er eines Tages zum Major, um Rat zu bitten,
+wie er dem Soldatenleben entkommen könne.</p>
+
+<p>Der Major, eine schlanke, hagere Gestalt, deren einzige Lebensaufgabe
+es noch war, den dummen, krummen, plumpen Dorfleuten militärische
+Haltung zu zeigen, strich heftig seinen Bart und ließ den Burschen die
+Oberkleider ausziehen.</p>
+
+<p>»Bravo!« schnarrte der alte Offizier, »das ist wieder einmal ein
+Brustkorb!« Mit der Faust hieb er darauf, daß es dröhnte. »Hören Sie!
+Das ist Grundton. Nein, nein, lieber Junge, Sie brauchen sich gar nicht
+zu grämen, Sie sind tauglich. Gerad' halten!«</p>
+
+<p>Giedels Blicke waren mittlerweile wirr im Zimmer umhergeflogen, aber
+nicht so sehr aus Angst vor dem Militär, als vielmehr aus Hoffnung,
+durch irgendeine halbgeöffnete Tür ins Geigenzimmer lugen zu können.
+Da er aber nichts dergleichen entdeckte, da er wieder vollkommen
+angekleidet zum Fortgehen bereit war und seine ganze Falschheit umsonst
+zu sein schien, hob er mit einem tiefen Atemzug sein Herz aus der Brust
+und fragte: »Haben der Herr nicht eine Geigensammlung?«</p>
+
+<p>»Wissen Sie mir ein interessantes Instrument?« fragte der Major rasch
+entgegen.</p>
+
+<p>»Das nicht, aber,« stotterte der Giedel, »ein wenig anschauen, wenn ich
+sie dürfte!«</p>
+
+<p>Allsogleich war die Tür offen in das Nebenzimmer. Ehrfurchtsvoll wie in
+ein Heiligtum trat der Bursche ein, so daß er vor lauter Andacht über
+die Schwelle stolperte und »oha!« rief. Er war ganz rot im Gesicht,
+teils wegen<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> seiner Ungeschicklichkeit, teils vor innerer Erregung. Die
+Wände des Zimmers waren mit grauem Tuche überzogen, und daran hingen
+sie nun in allen Größen, Arten und Formen. Wie schön geflammt war das
+Ahornholz dieser Instrumente, wie fein geschwungen und gewölbt war der
+Bau, wie reizend waren die langen Hälse mit ihren köstlich gewundenen
+Schnecken! Und die Fiedelbögen: schlanke und kurze, breite und schmale,
+gerade und gebogene in allen Farben! Der Major, sich darüber freuend,
+daß einmal eine menschliche Seele Anteil nahm an seinen Schätzen,
+begann zu erklären, von wem diese und jene stamme, welche Seltenheit an
+dieser und jener wäre, er hatte da Geigen von Amati, von Montana, von
+Guarneri, von Bergonzi, von Jakob Stainer usw. »Und hier!« flüsterte
+er, eine sehr flachgebaute Violine mit fast hellrotem Anstrich
+feierlich von der Wand nehmend, »hier, die ist von Stradivarius! —
+Eine Cremoneser! — Geradhalten, saperment!«</p>
+
+<p>Unserem Giedel waren nun zwar die fremden Namen ziemlich gleichgültig,
+doch hörte er sie mit Ehrerbietung nennen. Als der Major an der
+Cremoneser mit dem Finger die Saiten berührte, um den herrlichen Ton zu
+zeigen, sagte der Bursche: »Bitte, geigen Sie eins!«</p>
+
+<p>»Ich spiele nie,« antwortete der Major, hing das Instrument mit größter
+Sorgfalt wieder an seinen Platz und schob den Burschen sachte zur Tür
+hinaus.</p>
+
+<p>Seit diesem Tag war's schier vorbei mit dem Giedel. Er dachte Geigen,
+er weberte Geigen, er träumte Geigen, und wenn er Zeit hatte, ging
+er hinaus und schaute auf das Haus hin, in dem der Major die Geigen
+hatte. Eines Tages hörte er vom Schulmeister sagen, der Major sei ein
+Fex. Hoffentlich habe er einst den Säbel besser zu handhaben gewußt,
+als jetzt den Fiedelbogen, denn er könne gar nicht<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> Violin spielen
+und habe die Sammlung nur so aus Rappelköpfigkeit zusammengekauft und
+erbettelt. Es sei an dem ganzen Quark nichts, eine einzige ausgenommen.
+— Schulmeister! dachte sich der Giedel, wie du nur so sprechen kannst!
+Ich wollte, ich hätte die geringste dieser geringen! Aber, daß er nicht
+soll geigen können? So viele Geigen haben und nicht geigen können! —
+Nur auf ein paar Stunden möchte ich eine haben!</p>
+
+<p>Nicht lange hernach, und es ergab sich eine zufällige Gelegenheit, daß
+der Weber den Major fragen konnte, ob er ihm nicht eine Geige borgen
+wollte für einen Tag, nur für einen einzigen! Und nur jene, an der ihm,
+dem Herrn Major, etwa am wenigsten gelegen wäre! Er, der Giedel, setze
+eine Ziege dafür zum Pfand.</p>
+
+<p>Ein plumpes Lachen stieß er aus, der Herr Major, ein schreckbar
+hochmütiges Lachen, dann wandte er sich ab. Und das war der Bescheid
+gewesen. —</p>
+
+<p>Ein stiller, warmer Herbstsonntag. Die Dorfleute ergingen sich draußen
+auf Feldrainen oder saßen im Wirtshause. Der Major war mit einem
+Steirerwägel in den nächsten Ort gefahren zu einem alten Kameraden, der
+ihm — so viel verlautete — geschrieben, daß er irgendwo eine uralte
+Violine entdeckt habe. Sie stamme noch aus den Zeiten der Minnesänger
+und ein Zigeuner gehe damit um, der darauf ohrenzerreißend spiele und
+von dem Werte des Instrumentes gewiß keine Ahnung habe. Hau, das mußte
+unser Major näher erfahren, und er fuhr hinüber. — In der Wohnung des
+Majors waren ein paar Fenster offen geblieben. Der Giedel kauerte am
+Berghang und schaute hinein zu den Geigen. Die Haushälterin des Majors
+war auch fortgegangen, nachdem sie das Haustor mit großem Gerassel
+verschlossen hatte. Der Giedel blickte hinein zum offenen<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> Fenster.
+»Der hat so viele, und ich hab' gar keine!« murmelte er. Plötzlich
+schlug er mit dem Daumen ein Kreuz über sein Gesicht und lief davon.
+Er ging den Weg hinein bis zur Brücke, er schritt hinan bis zum
+Hammerhaus. Auf dem Fenster, hinter dem sie wohnte, standen schöne
+Blumen, sonst sah er nichts. Das Wasser rauschte und der Berg legte
+schon seinen dunkelblauen Schatten über das Haus. Ein paar junge Männer
+gingen im Garten umher mit spitzen Schnurrbärten und unternehmenden
+Mienen. Dann traten sie ins Haus. Ob das Verwandte sind von ihr, oder
+Eisenhändler?</p>
+
+<p>Der arme Giedel ging wieder gegen das Dorf zurück. — Am Werktage,
+dachte er bei sich, da ist die Arbeit, da geht's zur Not; aber am
+Sonntag, wenn einer in der Müßigkeit so umherstreicht, da ist's schier
+nicht auszuhalten. <em class="gesperrt">Der</em> Druck in der Brust, der grausame Druck!
+Mit dem Taschenmesser ein Loch aufmachen hinein, daß dieses wilde Blut
+heraus könnt' springen ....</p>
+
+<p>Als er zum Hause des Majors kam, dunkelte es schon ein wenig, und im
+Tale dem Bache entlang war ein bläulicher Dunsthauch. Kein Vogel, kein
+Heimchen, kein Mühlrad — nichts. Daß es doch so still sein kann auf
+der Welt! ...</p>
+
+<p>Um das Haus war es öde, und nichts rührte sich. Die Fenster standen
+offen. Der Giedel kletterte an einem Mauervorsprung empor und stieg zum
+Fenster hinein. An der Wand huschte er hin, nahm die Cremoneser Geige
+mit dem Fiedelbogen von der Wand, barg sie unter seinen Rock, sprang
+rasch zum Fenster hinaus und eilte davon gegen den Wald hin.</p>
+
+<p>In der darauffolgenden Nacht war's. Über den Wipfeln des Bergwaldes
+stand der Mond. Der Eisenhammer stand still, das Wasser rieselte leise
+über das hinterseitige Floß. Wer das Rauschen und Pochen gewohnt
+ist, dem wird's unheimlich. Paula lag in ihrem Bette, konnte aber
+vor lauter<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> Ruhe, die sie umgab, nicht schlafen. — Sie dachte an
+ihre Mutter, die seit langem schon auf dem Kirchhof lag. Sie dachte
+seufzend, wie das jetzt werden würde, wenn der Vater wieder heiratet.
+Die reiche Sensenschmied-Witwe von Tiefwasser. Dann will er den kleinen
+Eisenhammer hier verkaufen und hinüberziehen und in Tiefwasser eine
+Gewerkschaft bauen. Was das noch werden wird? ...</p>
+
+<p>Als das Mädchen im einsamen Stübchen so sann und dabei recht traurig
+ward, hörte es draußen einen klingenden Ton. Es war anfangs wie eine
+leise vor sich hin singende menschliche Stimme. Sie wurde lebhafter,
+es klang wie ein süßes Locken und dann wieder wie ein betrübtes
+Klagen. Es war wie ein allmähliches Aufschwingen, wie ein Anklopfen
+und treues Bekennen und endlich wie das Freiwerden und Übersprudeln
+eines warmen, leidvollen Menschenherzens. — Nie in ihrem Leben noch
+hatte Paula so singen, so weinen gehört. Sie war selbst einmal in einer
+Singschule gewesen, aber dieser unendlich rührende Tonhauch, den sie
+jetzt vernahm, er hatte keine Ähnlichkeit mit anderen Kehlenklängen,
+und doch war er das unmittelbare Aufquellen eines Geheimnisses. — Sie
+konnte sich das nicht so denken, aber ein Gefühl war in ihr wach, als
+ob sie in diesem Augenblicke sterben müßte, und als ob sie im nächsten
+Augenblicke eingehen würde zur himmlischen Seligkeit. —</p>
+
+<p>Nach einer Weile richtete sie sich auf und blickte hinaus zum Fenster.
+Da unten auf weißem Kieswege stand eine dunkle Gestalt. Sie erkannte
+den Weber Giedel und sah jetzt, wie er eine Geige spielte. Sie verhielt
+sich ganz ruhig, sah hinab und horchte. Sie horchte so lange, bis ihr
+die Tropfen von den Augen rannen. So über alle Maßen lieb hatte sie
+diesen Menschen. So viel Mitleid hatte sie empfunden, seit sie ihn
+kannte, weil er so sanft, so freundlich und still, so<span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span> brav und so
+verlassen war. Als sie einst, ein kleines Mädchen, das erste Mal in die
+Kirche mitgenommen wurde, war am Altar neben dem Priester ein schöner
+blonder Knabe gestanden, und so oft sie an Engel dachte, von Engeln
+hörte, kam ihr dieser Knabe zu Sinn. Allmählich, ganz allmählich wuchs
+dieser Engel heran zu einem Menschen ...</p>
+
+<p>Paula öffnete das Fenster, da hörte der Bursche unten auf, zu geigen.</p>
+
+<p>»Giedel,« sagte sie mit vor Innigkeit zitternder Stimme, »Giedel, geh'
+jetzt heim. Die Nacht ist kühl.«</p>
+
+<p>Da trat er ein paar Schritte gegen das Fenster und flüsterte herauf:
+»Paula, ich hab' dich lieb!«</p>
+
+<p>»Nimm ihn hopp!« rief plötzlich eine Männerstimme. Da sprangen aus dem
+Schatten zwei Gesellen mit Waffen und glänzendem Riemzeug herbei und
+rissen den Burschen nach rückwärts zu Boden. Noch hielt der Giedel
+trotz des Schrecks die Geige hoch in die Luft, daß ihr nichts geschehe,
+weiter wehrte er sich nicht, biß die Zähne zusammen und ließ sich
+fesseln.</p>
+
+<p>Mittlerweile war es im Hammerhause lebendig geworden, die Leute eilten
+auf die Gasse: was da geschehen wäre, was das bedeute?</p>
+
+<p>»Den Dieb haben wir,« berichtete einer der Gendarmen. »Dem Herrn Major
+Stramper ist er in die Wohnung gestiegen. Eine Violine gestohlen.«</p>
+
+<p>»Der Weber Giedel!« schrien nun die Schmiede und das Gesinde. »Das ist
+nicht übel!«</p>
+
+<p>Auch der Schmiedmeister war, flüchtig in seine Bettdecke gehüllt,
+hervorgekrochen. »Ein Dieb? Ein Eisendieb?«</p>
+
+<p>»Ein Bettelgeiger.«</p>
+
+<p>»Der Strolch!« knurrte der Schmiedmeister, »was hat er denn vor meinem
+Hause gesucht, bei der Nacht?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span></p>
+
+<p>»Das Töchterl hat er angegeigt!« lachten sie.</p>
+
+<p>»Ein anderes Mal stiehl Butterbrot! Das frißt man ungehört,« höhnte ein
+Knecht. »Geigen krächzen zu viel, kommst allemal auf.«</p>
+
+<p>»Was kostet der Bettel?« rief jetzt Paula, die sich schneidig in den
+Handel mischte.</p>
+
+<p>»Jungfer!« antwortete der Gendarm, »es handelt sich nicht um die Geige,
+es handelt sich um den Diebstahl.«</p>
+
+<p>»Sag' etwas!« forderte das Mädchen den Giedel auf. »Verteidige dich!«</p>
+
+<p>»Das hilft nichts,« antwortete der Bursche ganz ruhig. »Sie glauben es
+mir nicht. Morgen hätt' ich sie dem Herrn ja wieder zurückgebracht. Sie
+glauben es mir nicht. Aber macht nichts, jetzt ist mir ganz leicht.
+Sei nur so gut, Paula, und stell' sie ihm zurück. Und daß ihr nichts
+geschieht. So leicht ist mir schon lang' nicht mehr gewesen, wie jetzt.
+Vergiß nur nicht ganz auf mich, Paula, wenn ich gestorben bin.«</p>
+
+<p>Das Mädchen wollte darauf etwas sagen, konnte aber vor Bewegung nicht
+mehr sprechen, und also führten sie den armen Jungen davon in der
+stillen Mondnacht, führten ihn hinaus in das Dorf und taten ihn in den
+Gemeindekotter.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen war ganz Schwandau außer Rand und Band. Das
+Unglaubliche! Manche meinten, der Giedel sei irrsinnig geworden.
+Etliche fluchten über die Hexe, die ihm's angetan. Nur wenige gaben
+sich stiller Schadenfreude hin. Im Gemeindehause kamen um die
+Mittagsstunde mehrere Männer zusammen, der Dorfrichter, der Pfarrer,
+der Hammerschmiedmeister und auch der Major Stramper.</p>
+
+<p>»Ist es Ihr Ernst, daß Sie klagbar werden wollen?« fragte der Richter
+den Major.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span></p>
+
+<p>»Bare achtzig Gulden hat sie mich gekostet, die Cremoneser!« antwortete
+der Major.</p>
+
+<p>»Aber sie ist ja doch wieder in Ihrem Besitze,« sprach nun der Pfarrer,
+»und gänzlich unversehrt. Den Burschen haben wir alle gern, er ist
+fleißig, gutmütig, keiner weiß sonst etwas Ungutes von ihm. Auch wir
+haben Torenstreiche gemacht in der Jugend. Lassen Sie es gut sein, Herr
+Major!«</p>
+
+<p>»Von mir soll niemand sagen, daß ich sein Unglück gewesen bin,«
+antwortete der alte Soldat. »So vernarrt zu sein! Na ja, auch wir
+einmal! — Gerad'halten soll er sich! Es ist gut.«</p>
+
+<p>»Wenn's gut ist,« sprach jetzt der Hammerschmiedmeister, »so möchte ich
+auch noch ein paar Worte sagen. Mein Mädel ist wie verrückt. Ich habe
+keine Ahnung gehabt. Wenn es so steht mit den zwei jungen Leuten, und
+daß sie toll werden, wenn sie einander nicht kriegen — ich sag': in
+Gottesnamen.«</p>
+
+<p>Denn er hatte sich's überlegt, daß es besser ist, wenn er die
+erwachsene Tochter an den Mann bringt, ehe er selbst noch einmal
+zugreift drüben in Tiefwasser. Es bleiben auf solche Weise allerhand
+Unannehmlichkeiten aus. Das Mädel hat seine mütterliche Sach', damit
+kann es dem Weber aufhelfen und die Wirtschaft herrichten. Also ist's
+recht, und der Vater und die Tochter sollen an einem Tage Hochzeit
+halten.</p>
+
+<p>Als der Giedel aus dem Kotter trat, wartete schon die Paula, fiel ihm
+lachend und schluchzend um den Hals: »Wir haben uns!«</p>
+
+<p>Am Tage der Hochzeit kam der Major mit der Geige. Die Cremoneser war's.</p>
+
+<p>»Mir steht ein Duplikat in Aussicht,« sagte er einleitend.<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> »Auch
+dem Zigeuner mit der alten Fiedel bin ich auf der Spur. Diese da
+— ein sehr seltenes Stück! — sie gehört dem Bräutigam. Er hat
+damit der Seinigen das Ständchen gebracht, er wird sie noch öfter
+brauchen können. Ist die Geige verstimmt, so soll er küssen, und ist
+das Weibchen verstimmt, so soll er geigen. Und jetzt einen kecken
+Steirischen aufgefiedelt! Gerad'halten, Junge!«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_singende_Schabelwirt">Der singende Schabelwirt.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Der dicke Schabelwirt in Rusterholz hatte zwei Stimmen, eine im
+Gemeinderat und die andere auf dem Kirchenchor. Die erstere war so
+gewichtig, daß sie mit Leichtigkeit ein halb Dutzend Häuslerstimmen in
+die Luft schnellte; die zweite war so mächtig, daß in der Kirche die
+Leute sich umwendeten, um diese Stimme nicht bloß zu hören, sondern
+auch zu sehen. Sie mußte wie ein Strick von Bärenhaar aus dem viereckig
+aufgespreizten Munde des Schabelwirtes hervorgewirbelt kommen. Die
+Stimme dieses Chorsängers weckte Skalen in der Menschenbrust; wer sie
+das erstemal hörte, dem war zum Lachen, wer sie oft hörte, dem war zum
+Weinen.</p>
+
+<p>Selbst dem Chormeister war zum Weinen. Allein ohne Schabelwirtsgesang
+in der Kirche gab's keinen Kaffee zum Frühstück. Mehrmals hatte er
+es versucht und nur solche Messen auf die Pulte gelegt, die ohne
+Männerstimme gegeben werden konnten. Allsogleich jammerte der Wirt
+seinen Gästen vor über den Niedergang der Musik und daß der Chormeister
+Sägespäne im Kopf haben müsse! Ob die menschliche Stimme nicht
+der Höhepunkt aller Musik wäre — besonders eine schöne kräftige
+Männerstimme! Wenn dieser Herr töricht werde, so müsse man ihm die
+Zitzen höher halten! — Und dem Chormeister blieb die Milch aus. Des
+Wirtes Kuhmädel kam des Morgens nicht mehr mit der Zinnkanne, wie
+sonst, und da fand der Chormeister endlich doch allemal wieder, daß
+zur würdigen Kirchenmusik auch eine kräftige Männerstimme gehöre. Der
+Schabelwirt<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> »mußte« wieder singen, und das Mädel erschien mit der
+Zinnkanne.</p>
+
+<p>Kamen Fremde nach Rusterholz, so eiferte sie der Wirt an, doch auch
+die Kirche zu besuchen, womöglich beim Gottesdienst, es wäre sehr
+feierlich, besonders mit der Musik wären sie gut bestellt. Der
+Chormeister hingegen, der sonst auch nicht unchristlich dachte, riet
+den Fremden lieber einen Ausflug auf den Schirmberg, oder auf den
+Rotkofel an, als den Gottesdienst in Rusterholz. Die einheimischen
+Kirchenbesucher opferten ihre Ohrenpein für die armen Seelen im
+Fegefeuer auf und so oblag der Schabelwirt ungestört seinem Gesang.
+Ein halbberauschter Zecher wagte eines Tages den Zweifel laut werden
+zu lassen, ob der Wirt wohl auch alle Noten kenne! Der kam an! Prügel
+bekam er nach Noten! Da hatte er's blau auf weiß! Aber ungarische
+Schweinetreiber, die eines Tages während der Messe ihre Herde
+vorbeiführten, machten doch halt vor der Kirche und der eine lugte zum
+Tore hinein, ob nicht Hilfe nottäte. Er schien sich nicht sicher, ob es
+Gesang oder Notschrei wäre. — Sollten sich nur beruhigen, die Herren
+Sauhändler — es ist Gesang!</p>
+
+<p>Auch in dem Jungen steckte es, in Schabelwirts Sohn, dem Damian.
+Stimme hatte der keine zum Singen, sie gixte. Eine Weile meinte der
+Chormeister, sie mutiere; wenn das vorüber, würde die Stimme des
+Burschen alle anderen Sänger der Erde gründlich ausstechen. Nun war
+der Junge mannbar geworden, allein die Stimme gixte noch immer, der
+Chormeister hatte Todesangst. Wenn ihm der auch noch auf den Chor kommt!</p>
+
+<p>»Dem Damian seine Stimme muß geschont werden,« sagte er vorbeugend,
+»wenn sie jetzt einige Jahre lang auf das Sorgfältigste geschont wird,
+dann können wir einmal etwas Phänomenales erleben!« Einstweilen schlug
+er dem<span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span> Burschen vor, geigen zu lernen. Das Geigen aber gefiel dem
+Alten nicht. »Die Geige ist ein Konkurrent der menschlichen Stimme,
+aber ein ganz unfähiger! Trompetenblasen, <em class="gesperrt">das</em> ist das richtige.
+Blech, <em class="gesperrt">das</em> gibt Musik!«</p>
+
+<p>Indessen — ein großes Dorfwirtshaus hat noch andere Aufgaben, als
+Singen und Trompetenblasen. Man weiß ja doch nicht, <em class="gesperrt">wann</em> er
+einmal dazukommt, der Blitzstrahl, und das neuerrichtete Thörlwirtshaus
+da drüben in den Boden zündet! »Der Thörlwirt ist ein hautfalsches
+Luder! Sein Süßtun mit den Gästen — alles nur ums Geld! das kennt man.
+An Süßtun bist ihm nicht gewachsen, Damian!« So der Schabelwirt, und
+dann kamen Lehren und Ratschläge.</p>
+
+<p>»Es ist möglich, mein Sohn, daß ich mich einmal vom Geschäfte
+zurückziehe, um ganz der Musik zu leben. Da mußt du wissen, wie man
+es mit den Gästen macht, daß sie sitzen bleiben. Unser Herrgott, mußt
+bedenken, schickt einem Gastwirt allerhand Kostgänger ins Haus. Wie
+viel Geld sie dalassen, das ist deine Sache. Daß du die Tanzpfeifen
+hernimmst, wenn junge Leut' kommen, so gescheit wirst wohl selber
+sein. Daß du sie wegschmeißt, wenn Viehhändler und Hausierer vom
+Geschäfte reden wollen, na, das wirst auch noch einsehen. Selber
+mußt dich ausspielen, mein Lieber! Tut einer bei seinem Glas Trübsal
+blasen, so mußt dich zu ihm hinsetzen und ihm allerhand vorreden, bis
+du draufkommst, was ihm ist. Nachher, wenn er mit seinem Anliegen
+ausrückt, hör' ihm aufmerksam zu, nicke bisweilen mit dem Kopf und
+schlag' mit der Hand immer einmal vor Überraschung oder Entrüstung,
+woran es halt ist, auf den Tisch, damit er sieht, daß du Anteil nimmst
+und er sein Glas nachfüllen läßt. Überhaupt, bei Gästen, die gern
+schwatzen, die mußt schwatzen lassen und dich aufs Zuhören verlegen —
+denken kannst dabei, was der will. Merk'<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> dir nur das: hast ein gutes
+Benehmen, so brauchst keinen guten Wein. Unterhalten sie sich mit dir,
+ist auch das wohlfeile Gesüff gut. Wird manchmal ein besoffener Patron
+ungut, so mußt du ihn der andern wegen hinauswerfen, aber ja nicht
+so, daß er's merkt. Ich hab' zu so einem halt allemal gesagt: Geh,
+sei gescheit, Michel, laß die dummen Leut' dort sitzen, die verstehen
+keinen Spaß. Geh' einmal bissel in die frische Luft hinaus. Halt,
+ich führ' dich, daß du nicht stolperst! — und derweil hab' ich ihn
+hinausgeschoben. So einer hält dich für seinen besten Freund und kommt
+dir allemal wieder, wenn er Geld hat. Gibt dir aber auch Bockige. Der
+Riffel-Toni, das ist noch der harbste! Wenn der anhebt zu schimpfen, so
+muß man alle Stalltüren zusperren, sonst laufen die Vieher davon. Am
+besten ist's, man schimpft mit. Wenn man ihm hilft, da wird er ehzeit
+fertig, wenn man ihn löschen will, da zündet er sich erst rechtschaffen
+an und schlagt drein. Und so wie du beim Riffel-Toni mitschimpfen
+mußt, so mußt beim Krautruben-Barthel mitröhren! Weißt eh, daß der
+Alte allemal zum flennen anhebt, wenn er einen Rausch hat. Lachst ihn
+aus, so vertreibst ihn. Wär' ein Unsinn! Der Krautruben-Barthel zahlt
+allemal fleißig die Zech'! So Leut' muß man estimieren! Ist eh ein
+Kreuz. Wer heut' im Dusel nicht zahlt, zahlt morgen beim Kopfweh noch
+weniger. Daß man die Tafel mit den Angekreideten an die Wand hängt,
+wo sie jeder vor der Nase hat, brauch' ich dir wohl nicht zu sagen.
+Überhaupt wirst du mit der Zeit selber drauf kommen, wie die Leut'
+behandelt, gefoppt, gerupft sein wollen. — Ich hab' in den ersten
+Jahren mit dem Singen die Leut' vertrieben. Und das hab' ich dumm
+gemacht. Wer ein so Mordsochs war und über den Gesang geschimpft hat,
+den hab' ich hinausgeschmissen, aber anders, als ich es grad' vorher
+auseinandergesetzt hab'. Den hab'<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> ich das letztemal gesehen gehabt.
+Den anderen, den mehr Gebildeten, die eine Musikfreud' gehabt und mir
+zugehört haben, ist immer einmal eine Maß vom Bessern aufgetischt
+worden, geschenkterweis'. Wie ich aber seh', daß trotzdem einer um den
+andern bei der Tür hinausschlupft, hab' ich mir gedacht: Die Pölli
+verstehen nix. Was sollst deine Perlen den Säuen vorschmeißen! und hab'
+im Wirtshaus das Singen sein lassen. Jawohl, mein Sohn, ein Wirt muß
+sich aufopfern können für seine Gäst' — wenn er ein Geschäft machen
+will.« —</p>
+
+<p>Man wird nun wohl überzeugt sein von dem großen Takt des Schabelwirts.
+In der Kirche, allerdings, wollte er seine Perlen nicht zurückbehalten;
+er sei sein Talent dem Herrgott schuldig! war sein Bescheid, wenn er
+manchmal teilnehmend befragt wurde, warum er sich auf dem Chor so
+abmühe für nichts und wieder nichts, und hätte doch nur Undank dafür.
+»Undank ist Künstlerlos!« Diesen Spruch hatte er sich aus einem alten
+Volkskalender herausgeschrieben, zitierte ihn aber nicht oft, weil er
+überzeugt war, daß seine Stimme wohl von allen Verständigen gewürdigt
+werde. Nun, und die Unverständigen? Auf die pfeift die Katz, damit sie
+auch was Musikalisches haben.</p>
+
+<p>Beim Schabelwirt hielt sich zeitweise ein hinkender Mann auf, der hatte
+ebenfalls was Musikalisches. Nämlich einen redenden und singenden
+Kasten. Hielt man sich daran zwei Schläuche an die Ohren, so hörten
+sich die Stimmen berühmter Redner und Sängerinnen und ganze Musikchöre
+heraus, wie sie einst in großen Städten und anderswo hineingesprochen,
+gesungen und gepfiffen worden waren. Diesen Kasten verehrte der Wirt
+als den größten Künstler der Neuzeit, der — wie er liebenswürdig
+scherzend sagte — deshalb auch in den Grafenstand erhoben worden sei.
+Denn es<span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span> war der Phonograf. Für das Horchen zog der Hinkende Geld ein,
+nur der Wirt zahlte nichts, leistete dafür jedoch dem Eigentümer freie
+Kost und Verpflegung; bloß das Getränk mußte bezahlt werden. Als der
+Mann den Schabelwirt einlud, einmal mit seiner phänomenalen Stimme
+etwas in den Kasten hineinzusingen, gab der Wirt das Lied »In diesen
+heiligen Hallen« ab. Der Hinkende jedoch tat geheimnisvoll und ließ ihn
+das gesungene Produkt nicht zurückhören, denn er fürchtete für seinen
+Kasten ...</p>
+
+<p>Eines Tages kehrten zwei Herren aus Murstadt beim Schabelwirt ein. Er
+war sehr artig, ließ vom »Besseren« auftragen, in der Absicht, ihnen
+nachher etwas vorzusingen. Denn das waren offenbar gebildete Leute. Die
+Fremden hinwiederum luden ihn ein, mitzutrinken, in der Absicht, ihm
+dann eine Angelegenheit vorzutragen. Und als sie beiderseits lustig
+waren, meinte einer der Fremden, so ein wackerer Gastgeber, wie der
+Schabelwirt in Rusterholz, verdiene, daß er ein Geschäft mache. Sie
+wollten an einem der nächsten Sonntage seinen großen Tanzboden mit
+Gästen anfüllen. Sie möchten bei ihm nämlich eine Volksversammlung
+veranstalten und Reden über den Fortschritt und über die Freiheit
+halten.</p>
+
+<p>»Ah, meine Herren, seid ihr die Aufklärung?« fragte der Wirt, »hab'
+schon gehört davon. Tut einer eine Red' reden? Schön, brav! Tu' meinen
+Tanzboden schon hergeben dazu. Nachher zum Schluß können wir auch was
+singen — daß es recht lustig wird.«</p>
+
+<p>So wurde ein Freidenkertag beschlossen. Waren die Rusterholzer auch
+nicht gerade fortschrittlich gesinnt, so waren sie doch neugierig.
+Und waren durstig. Je mehr ihrer zusammenkamen in die warme Stube, je
+durstiger waren sie allemal. Das sollte sich wieder einmal machen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span></p>
+
+<p>Nun sandte der Schabelwirt seinen Laufburschen aus: »Geh' im ganzen
+Gai um, von Haus zu Haus, und die Leute sollen nächst' Sonntag zum
+Schabelwirt und Gemeinderat kommen, nachmittags nach dem Segen wäre
+dort Freidenkerversammlung!«</p>
+
+<p>Der Knabe lief mit dieser Freudenbotschaft, so schnell er konnte und
+überall schrie er es gleich zur Tür hinein: »Nächst' Sonntag nach dem
+Segen ist beim Schabelwirt Freitrinkerversammlung. Alle sollt's kommen!«</p>
+
+<p>»Donnerwetter noch einmal, der dicke Wirt! Will er bei der nächsten
+Wahl wieder in die Gemeinde?« Die Klügeren rieten: Ansingen wird er uns
+wieder einmal wollen, und da gibt er halt einen Labetrunk. — Nun, sie
+wollten dabei sein bei dieser Freitrinkergesellschaft. »Müssen ihn in
+der Kirche umsonst anhören; dasmal kriegen wir dafür was zu trinken.
+Nett von ihm, daß er was lohnt.«</p>
+
+<p>Der Pfarrer von Rusterholz jedoch hatte ein feineres Ohr, oder eine
+bessere Nase. Kam er kurz nachher ganz langsam ins Wirtshaus getreten,
+ging aber nicht in das Extrastübel, wo der Tisch mit einem rot und
+weiß quadrierten Tuch bedeckt war, sondern stand in der großen Stube
+ein wenig so herum, lehnte endlich seinen Stock an den Uhrkasten, den
+Hut behielt er heute auf und so setzte er sich zum Leutetisch. Als
+auch diesen der geschäftige Schabelwirt rasch mit einem roten Tuch
+überziehen wollte, tat der Pfarrer mit der Hand einen Deuter: »Lassen
+Sie's, lassen Sie's. Es ist auch so gut.«</p>
+
+<p>Aber feierlich war heute der alte Herr und es wollte keine Ansprache
+recht verfangen. Von dem Achtel Wein, das er sich bestellt, hatte er
+kaum erst genippt.</p>
+
+<p>»Es wird ein anderes Wetter kommen,« meinte der Wirt.</p>
+
+<p>»Ich muß Sie doch fragen,« sagte nun der Pfarrer,<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> »sollte es wahr
+sein, daß Sie in Ihrem Hause eine Freidenkerversammlung abhalten
+wollen?«</p>
+
+<p>»Ah na, ich nicht,« antwortete der Wirt. »Ein paar Herren aus Murstadt
+sind dagewesen und haben sich angefragt. Wenn sie wollen, hab' ich
+gesagt. Muß eh froh sein, wenn man wieder einmal was hört. Über das
+elektrische Licht, oder so was, werden sie sprechen.«</p>
+
+<p>»Das sehe ich wohl nicht gern, lieber Nachbar. Schauen Sie, unsere
+Leut' sind alle gut christlich. Die verstehen solche Sachen ja gar
+nicht und wozu sie beunruhigen?«</p>
+
+<p>»Bei unserer Wasserkraft, sagen sie, könnten wir soviel Elektrizität
+haben, daß die Mühlen und Dreschmaschinen davon gehen könnten und extra
+noch für Licht genug übrig bliebe.«</p>
+
+<p>Unterbrach der Pfarrer den Wirt: »Gehn's, gehn's! Für die Elektrizität
+wird man Freidenkerversammlungen machen! Da ist was anderes dahinter.
+Sie lesen doch von der Übertrittsbewegung. Die Lutheraner kommen, und
+weil Sie ein alter Liberaler sind, so will man Sie mit der Freidenkerei
+fangen. Ist übrigens eins wies andere. Tun Sie mir den Gefallen,
+Nachbar, und sagen Sie ab.«</p>
+
+<p>Der Wirt hatte eine dicke Zigarre angeraucht, es war eine mit der
+Bauchbinde.</p>
+
+<p>»Will mir's noch überlegen,« sagte er dann.</p>
+
+<p>Das überlegen fiel aber zu ungunsten des Pfarrers aus. — Wesweg soll
+just in Rusterholz keine Versammlung abgehalten werden? Von überall
+hört man. Wenn der Wirt einmal ein volles Haus haben will, wen geht's
+was an? Und eine Unterhaltung. Ist ohnehin so selten Gelegenheit zum
+Singen. Weil sie von Musik nichts verstehen, diese Bauerngogel. Und
+wenn sich einmal ein Schüberl gebildete Leut' ansagen — gleich das
+Geschrei: die Lutherischen!<span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span> Freidenker, was schadet's denn? Wird eh
+jeder denken, was er will. Und wer anders denkt als er spricht, ist eh
+ein Lump! Abhalten tun wir die Freidenkerversammlung!</p>
+
+<p>Und am Vortage derselben schrieb der Pfarrer an den Schabelwirt solchen
+Brief:</p><br>
+
+<div class="blockquot">
+<p>
+»Euer Wohlgeboren!<br>
+</p>
+
+<p>Indem Sie sich trotz wohlmeinender Abratung doch für eine
+Freidenkerversammlung bestimmt gefunden haben und hiemit offenbar
+gegen die Absichten der Kirche verstoßen, so muß ich zu meinem
+Bedauern für die Zukunft Ihre musikalische Mitwirkung auf unserem
+Kirchenchore ablehnen, denn Gott kann unmöglich Gefallen finden an
+dem Gesange eines Freidenkers, der die christliche Gemeinde in Gefahr
+bringt.</p>
+</div>
+
+<p class="center">Mit gebührender Achtung</p>
+
+<p class="mright5">N. N., Pfarrer.«</p><br>
+
+<p>So! — — So! — —</p>
+
+<p>Der Schabelwirt war empört. Hat der Mann das Recht, mir den Kirchenchor
+zu verbieten? — Aber an demselben Tage bedeutete ihm auch der
+Chormeister, daß er mitsamt allen Musikern leider unter Botmäßigkeit
+des Pfarramtes stehe. Es tue ihm aufrichtig leid! — Um was es ihm leid
+tat, hat er weiter nicht dargetan. Aber bitter ist es schon, anstatt
+des gewohnten Frühstückkaffees sich mit Einbrennsuppe abfinden zu
+müssen.</p>
+
+<p>Gut. — Auch Kaiser Heinrich ist nach Kanossa gegangen, was liegt
+dran. Das will der brave Schabelwirt dem Herrgott nicht antun, daß
+er an Sonntagen seines Gesanges entbehren müsse. Auch die Mehrzahl
+der Andächtigen wird sich eine ungesungene Messe nicht gefallen
+lassen wollen. Und dann trägt auch der Gesang zur Herzensbildung bei.
+Vielleicht mehr, als ein Freidenkertag. Den Freidenkern<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> aus Murstadt
+wird schleunig und heimlich abgewinkt. Den Leuten braucht man nichts
+kundzutun, sie sollen nur zusammenkommen. Statt so einer gespreizten
+Freidenkerrede wird gesungen, da unterhalten sie sich weit besser und
+ist nach keiner Seite hin Verdruß.</p>
+
+<p>Also am folgenden Sonntag nach dem Segen kamen sie zusammen, die Bauern
+und Häusler und Handwerker von Rusterholz beim Schabelwirt zum —
+Freitrinken. Der Tanzboden wurde viel zu eng, die Gaststube und das
+Extrazimmer waren so gesteckt voll, wie bei einem Viehmarkt. Mehr als
+vier Bierkrügeln in jeder Hand kann die Kellnerin auf einmal nicht
+befördern. Der Sohn Damian schoß auch herum, goß aber den größten Teil
+seiner Bierkrüge über die Achseln der Gäste aus, weil das nicht geht,
+Getränk auftragen und dabei mit jungen Weibsleuten schäkern. Der Wirt
+selber machte es sich mit dem Wein leichter, er schleppte Tonplutzer
+aus dem Keller und ließ daraus ununterbrochen in die Gläser rinnen. So
+nagelt man sie fest auf ihren Bänken und dann wird gesungen.</p>
+
+<p>Als sie nun aber merkten, daß der Wirt mit dem blauen Sacktuch seine
+Augengläser putzte — denn ohne Augengläser konnte er nicht singen —
+da schlichen sich etliche sachte ins Vorhaus und von dort ins Freie.
+Auch der Steinbrecher Einsel wollte es so machen, den hielt jedoch
+der Wirt an und fragte, ob er in der Stube nichts vergessen habe? Der
+Einsel tastete nach dem Haupte — der Kopf war da, der Hut saß auch
+drauf; den roten Regenschirm hatte er in der Hand. Nein, vergessen
+hätte er nichts. — Ob er doch wohl das Geldtaschel in den Sack
+gesteckt habe, als er die Zeche beglich?</p>
+
+<p>Bei dieser Erinnerung machte der Einsel große Augen.</p>
+
+<p>»Zech? Zech' sagst, Wirt? Wer wird denn heut' Zech'<span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span> zahlen, wenn
+Freitrinkertag ist!« — Dem Schabelwirt gab's einen Stoß in der Brust.
+Wenn es ein Mißverständnis wäre? Er hatte sich ohnehin gewundert, daß
+die Rusterholzer so plötzlich bildungsdurstig geworden und so zahlreich
+erschienen waren! Wenn's ein verhängnisvoller Irrtum wäre? — Sogleich
+stieg er auf eine Bank und machte laut, daß heute bei ihm nicht eine
+<em class="gesperrt">Freitrinker</em>-, sondern eine <em class="gesperrt">Freidenker</em>versammlung hätte
+stattfinden sollen, daß aber die Herren aus Murstadt nicht gekommen
+seien.</p>
+
+<p>Himmel Hagelstern, wurden jetzt die Gesichter unschön! Die einen
+krebsrot, die anderen käseblaß — in die Länge zogen sich alle.</p>
+
+<p>»Du Wirt!« begehrte ein alter Pechbrenner auf, »wenn du wieder einmal
+einen Boten schickst, so schau erst, ob er auch reden kann. Alle
+ehrenwerten Manner, die da sind, werden meine Zeugen sein, daß dein
+Schickbub <em class="gesperrt">Freitrinker</em>versammlung hat gesagt!«</p>
+
+<p>Des stimmten ihm alle bei. Der Wirt zuckte die Achseln. Das sei ihm
+wohl höchst unlieb. Darum, das undeutliche Reden hätt' er eh auf dem
+Zug! Da käme gewiß allemal ein Balawatsch heraus. Übrigens werde es
+ja kein Unglück sein, am Sonntag nach dem Segen einmal ins Wirtshaus
+zu gehen, besonders, wenn gesungen würde. Er wolle sie für die
+ausgebliebenen Freidenker entschädigen und ihnen jetzt eins vorsingen.</p>
+
+<p>»Für die Freidenker brauchen wir keine Entschädigung,« sagte der
+Pechbrennen, »aber zahlen tun wir heut' nix!«</p>
+
+<p>Sie stimmten alle bei, schrecklich stimmten sie bei. Ein Gelächter
+war entstanden. Allein der Bauer kann »Krowaten zerreißen und lachen
+dabei«, ein Sprichwort, das dem Wirt nicht unbekannt war.</p>
+
+<p>»Alles, was recht ist,« sagte der Wirt und stellte sich<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> mit
+Geistesgegenwart auf einen Dreifuß. In der Hand hielt er ein
+Notenblatt, aber — wie ein Nebenstehender wissen wollte — verkehrt.
+Wie sein Singen zu hören war, das soll ein anderer sagen, ich kann
+bloß beschreiben, wie es zu sehen gewesen ist. Mit ausgespreizten
+Beinen, über deren eines noch die weiße Schürze niederhing, stand
+er da, den Bauch weit hervorgewölbt, den Oberkörper nach rückwärts
+gebogen. Das Doppelkinn quoll vorne und der wulstige Nacken hinten über
+den Rockkragen hinaus. Das rote Gesicht breit gepolstert, den Mund
+aufgesperrt und ausgeböscht, daß er schier viereckig wurde — so kam es
+nun hervor aus dem mächtigen Brustkorb und das Blatt wurde von einem
+zarten Sprühregen befeuchtet.</p>
+
+<p>Nach dem ersten Liede »Im tiefen Keller« — erschollen einige Rufe. Das
+»Bravo« ist in Rusterholz nicht der Brauch, aber nach Vergeltung riefen
+sie und frisch Bier und Wein wollten sie haben. Auf der Ofenbank, in
+den Wolken des Tabakqualms verschleiert, stand ein Mensch und der rief,
+sie sollten einmal auf ihn hören, er wisse auch was. Das war der Riffel
+Toni.</p>
+
+<p>»So red', Toni!« sagte der Wirt. Es war zwar der harbe Kampel, doch man
+kann vorbauen. »Willst noch ein Glas Wein haben?« Denn er dachte, der
+Mensch wolle ihm vielleicht doch eine Gesundheit ausbringen.</p>
+
+<p>»Wein ist mir allemal recht,« hub der Riffel Toni knurrig an. »Erst
+will ich dich aber einmal fragen, Schabelwirt, was wir heut' sind, da
+in der Stuben — Freitrinker oder Freidenker?«</p>
+
+<p>»Freidenker, schon gewiß!« beschied der Wirt.</p>
+
+<p>»Das glaub' ich auch,« rief der Toni. »Und dazu brauchen wir nicht
+einmal die feinen Herren aus Murstadt. Und derohalben wollen wir reden,
+was wir uns denken.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span></p>
+
+<p>Dann riß er mit den Fingerspitzen der beiden Hände den wüsten Bart
+auseinander, daß die freie Rede auch freien Ausweg habe durch den Mund,
+aus dem ein paar scharfe Oberzähne hervorstanden, wie bei einem Eber.</p>
+
+<p>»Schabelwirt!« begann er, »willst du wissen, wie du singst? Sollst es
+hören. — Wenn ein kropfeter Hahn in einen alten Kochhäfen hineinkräht,
+wenn der Altweibersommer-Wind ein rostiges Stadltor auf und zu wirft
+und dem Elmbauern sein Moidel mit dem Nussensack reixelt, so meinen die
+Rusterholzer allmiteinand, es singt unser Schabelwirt!«</p>
+
+<p>»Hau!« lachten die Bauern, »hau saxen, das lei schon ah!«</p>
+
+<p>»Du bist ein Lästermaul!« rief der Wirt, doch sein Gelächter, das er
+dazu ausstieß, ging ihm nicht vom Herzen. Allein, wenn er nicht gute
+Miene macht, so gehen sie mit der Zeche durch und zum Thörlwirt hinüber.</p>
+
+<p>Der Riffel Toni hielt einen alten Hut hin, als wolle er Geld sammeln.
+»Zusammenschießen, Leut', daß uns der Maurer und der Schmied-Franzl
+in der Kirchen die Heiligen festmacht, die wackelig sind worden
+an der Wand vom Schabelwirt seinem Singen! Und wegen was soll der
+Krämer-Bastel just mit der Baumwoll ein so gutes Geschäft machen?
+Stecken wir uns Lärchenzapfen in die Ohrwaschel, die tun's auch und
+halten besser. Den Engeln über dem Altarl binden wir mit den blauen
+Fastentüchern die Köpfe ein — nachher soll er halt wieder singen, der
+Schabelwirt.«</p>
+
+<p>Stürmisches Gelächter und etliche warfen Kreuzer in den Hut, um gegen
+den bedrohlichen Gesang Vorkehrungen treffen zu können.</p>
+
+<p>»Wie du das nur anstellst, Schabelwirt,« setzte der<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> schreckliche
+Mensch auf der Ofenbank seine Auslassungen fort, »daß du selber nichts
+hörst von deinem Singen. Sonst wär' es weiger nicht möglich, daß du so
+gesund und wohlgenährt könntest ausschaun. Oder nimmst Gegengift ein?«</p>
+
+<p>Der Wirt rief heiser nach dem Hausknecht. Die Versammelten jedoch
+erinnerten ihn an den Freidenkertag, wo man wohl frei denken und reden
+werde können. Und riefen weiter durcheinander: »Laß das Singen sein,
+wir lassen das Frozeln sein und tun dich nächstmal wieder in den Rat,
+daß du deine Stimm' besser kannst brauchen. — Erkennst es denn nicht
+selber, daß du ganz schandmäßig singst? Narr, daß du's nicht besser
+kannst, ist kein Gespött, aber daß du's nicht sein laßt, ist dumm. Wir
+lachen dich ja all aus, ha, ha, ha, ha, ha!«</p>
+
+<p>Der Wirt hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und schoß von
+einem Winkel zum andern. — Wenn ich sie jetzt hinausschmeißen lasse,
+dachte er, so ist die Zeche verloren und sie laufen zum Luderskerl
+hinüber. Ach, Künstlertum! Künstlertum! In der Stadt sind es die
+Zeitungsschreiber, hier sind es die Bauernmäuler. — Aber ich werde
+singen, justament, und sie werden ihr Trinken bezahlen. Das möcht' ich
+schon sehen, ob man kein Recht mehr hat, in seinem eigenen Haus!</p>
+
+<p>Dieweilen war jener hinkende Mann zur Tür hereingetorkelt, der Besitzer
+des in den Grafenstand erhobenen »großen Künstlers der Neuzeit«. Heute
+fand er sich gedeckt und so lud er den wütenden Schabelwirt wohlwollend
+ein, die Schimpfer schimpfen zu lassen und in das hehre Bereich der
+Kunst zu flüchten. Er habe im Kasten einen großartigen Sänger.</p>
+
+<p>Der Wirt beruhigte sich gutmütig, ging in die Vorlauben, wo das Zeug
+stand, steckte die Gummischläuche in<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> die Ohren und horchte, während
+der Hinkende das Werk spielen ließ.</p>
+
+<p>»Abscheulich!« schrie der Wirt zurückfahrend, »das kräht ja wie ein
+altes Kamel!«</p>
+
+<p>Drinnen schnarrte und pfauchte und röchelte und gixte das Lied: »In
+diesen heiligen Hallen, da herrscht die Rache nicht!«</p>
+
+<p>Der Wirt rannte umher nach einer Axt, um den Kasten zu zertrümmern. Der
+Hinkende jedoch sagte besänftigend: »Herr Vater, der Phonograf kann
+nichts dafür. Der singt halt heraus, wie hinein gesungen worden ist —«</p>
+
+<p>»Ja Teuxel, welches Ungeheuer hat denn hineingeplärrt?«</p>
+
+<p>Der Hinkende grinste niederträchtig und verneigte sich vor dem Wirt. —
+—</p>
+
+<p>Dieser befahl seinem Sohn, seiner Kellnerin und seinem Hausknecht,
+strenge achtzugeben, daß niemand ungebüßt entkomme. Er selber zog sich
+zurück in seinen tiefsten Keller.</p>
+
+<p>Von solcher Zeit an hatte der Schabelwirt zu Rusterholz keinen
+Freidenkertag mehr veranstaltet und keinen Sang mehr getan. Seine
+Wirtschaft gedieh, seine Person gewann an Vertrauen — denn man fühlte
+sich endlich in seiner Nähe sicher. Und im Gemeinderat wurde seine
+Stimme geachtet.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Das_reiche_Waldschulmeisterlein">Das reiche Waldschulmeisterlein.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Über den schwarzen Waldbergen lag schon der Goldgrundhimmel des Abends,
+als im Wiesentale ein Dörfchen dalag vor dem müden Gebirgswanderer.
+Eine verwitterte Wegtafel hatte gerade noch so viele leserliche
+Buchstaben, um dem hinkenden Fremden zu sagen, das Dorf heiße »In der
+Krumpa«.</p>
+
+<p>Auf meine Frage an einen heimwärts treibenden Ziegenhirten, welches
+in der Krumpa wohl das beste Wirtshaus sei, blickte mich der Junge
+verblüfft an — Wirtshaus? Ist keins.</p>
+
+<p>»Aber mein Gott! Mindestens ein halbes Dutzend Häuser, und kein
+Wirtshaus darunter! Und das will ein deutsches Dorf sein?«</p>
+
+<p>Zu essen bekäme man manchmal im Forsthause etwas — das große steinerne
+Haus, dort bei der Linde.</p>
+
+<p>Ein Forsthaus, um so besser. Das läßt sich romantisch, besonders wenn,
+so Gott will, auch noch eine Försterstochter dazukommt. Also ins
+Forsthaus.</p>
+
+<p>In der großen Stube gab es wohl Hirschgeweihe und Tabakrauch, aber
+keine Försterstochter. Ein kleiner, hagerer, spießiger Alter, die
+Knie nackt, hingegen das Gesicht verdeckt mit einem wildwuchernden
+Schnauzbart. — Das war der Förster und Jagdheger. Er brachte in einem
+Kruge Wein, sagte mir Nachtquartier zu, setzte sich dann mit seinem
+Dampftiegel zu mir an den Tisch und fragte gleich, ob ich unterwegs
+nichts gesehen hätte. Ich zählte Berge auf, Felswände, Wasserfälle,
+hohe Brücken, Wegkreuze und Martertafeln, wie sie im Laufe des Tages
+dem Wanderer<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> vorgekommen waren. Darüber tat der Alte verwundert
+und murmelte etwas. Endlich merkte ich doch, was er wissen wollte,
+nämlich, ob mir Wildspuren, Rehe, Hirsche, Waldhühner und dergleichen
+aufgestoßen wären.</p>
+
+<p>Meine Antwort: darauf hätte ich gar nicht geachtet, derlei läge
+mir ferne, und ich verstünde nichts davon. Es mochte wohl etwas
+geringschätzig gesagt sein. Der Alte blies ein paar starke Rauchwolken
+von sich, stand auf und ging hinaus. Er verachtete mich.</p>
+
+<p>Nach einer Weile, als es schon finster und in der Stube kein Licht
+angezündet worden war, fragte ich nach meinem Abendbrot. Da kreischte
+der Alte aus der Küche her: »Wenn man das Wild nicht will, wird 'leicht
+auch der Hirschbraten nicht genehm sein!«</p>
+
+<p>Jetzt schlich ich im Dunkeln zu ihm hin und sagte schon ein wenig
+gereizt: »Mir scheint, da ist jemand beleidigt, weil ich von der
+Jägerei nichts verstehe. Allerdings, ich halte nicht viel darauf. Ein
+guter Bekannter von mir sitzt im Kotter, weil er einen Hirschen schoß,
+der ihm den Kohl gefressen hat.«</p>
+
+<p>Der Forstjäger reckte sein Köpflein vor, der Schnauzer borstete sich
+auf: »Han mir's denkt. Von der Gattung ist er einer! Oder gar — oder
+gar —!« Mit einem Streichholz fuhr er sich über den Hinterteil der
+Lederhose, leuchtete mir ins Gesicht: — »Groß werd' ich mich nicht
+irren. Der Teufel hol's, er ist es. Der Jagerfresser, ah, da schaut's
+her, der Jagerfresser! Na, Korrschamerdiener! Und will im Jagerhaus
+essen und trinken und schlafen. Aus ist's!«</p>
+
+<p>Ein argloser Mensch würde diese Rufe für das gewohnheitsmäßige Poltern
+alter Leute genommen haben, mein böses Gewissen erkannte es sofort als
+das, was es war — als einen wohlgezimmerten Abschied. Der Mann hatte
+den<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> Verfasser »Jakob des Letzten« erkannt. Eines Buches, das jeder
+Jäger naturgemäß tödlich hassen muß.</p>
+
+<p>Nun stand ich in dunkler Nacht auf der Gasse und sann, was zu machen
+war. »Ins Schulhaus gehe!« flüsterte mir der Schutzengel zu. Denn die
+zwei beleuchteten Fenster dort waren just wie zwei Augen, die mir
+winkten. Der Lehrer, ein noch jugendlicher Mann mit schwarzem Vollbart,
+war nicht abgeneigt, einen obdachlosen Wanderer aufzunehmen. Er hieß
+mich ins Zimmer und zum Tische treten, wo von einem munteren Frauchen
+just Rauchfleisch mit Sauerkraut aufgetragen wurde. Er wollte mich dazu
+einladen, da blieb ihm das Wort im Munde stecken.</p>
+
+<p>»Ich glaube, den Herrn sogar zu kennen,« sagte er, mir starr ins
+Gesicht blickend. »Es möchte mich aber doch wundernehmen, daß der Herr
+Dichter bei einem linkischen Dorfschulmeister zuspricht, oder wohl gar
+bei einem athletischen Lehrer, der seine ganze geistige Kraft in den
+Armen hat!«</p>
+
+<p>Jessas! denke ich, der spielt an auf Bemerkungen in meinen Büchern. Im
+»Ewigen Licht« ist der athletische Lehrer mit den geistreichen Fäusten,
+im »Erdsegen« geht ein linkischer Dorfschulmeister umher. Ich wußte
+schon, daß einige Lehrer an den besagten Bemerkungen mehr herausfanden,
+als ich hineingelegt hatte, nämlich eine Beleidigung ihres Standes;
+es war mir daher klar, was ich hier zu tun hatte, nämlich Hut und
+Stock wieder in die Hand zu nehmen und allseitig eine ruhsame Nacht zu
+wünschen. Mit tragischem Ernste begleitete der Schwarzbart mich zur
+Tür, die er sofort auch dienstbereit öffnete.</p>
+
+<p>Wieder im Freien, hatte ich Muße, die Sternbilder des Himmels zu
+betrachten; es mangelte mir für diese Erhabenheit aber einigermaßen
+die Stimmung. Eine Magd, die<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> vom Brunnen Wasser geholt hatte, trat
+ich höflich an, wo man doch in diesem Orte ein Obdach haben könne über
+die Nacht? Sie blieb stehen und beratschlagte mit mir. Das Försterhaus
+war auch ihr eingefallen, ich bekannte, dem Forstjäger zu wenig wildes
+Tier gewesen zu sein. So verfiel sie auf ihren Dienstgeber, das sei ein
+herzensguter Herr und hätte in der Apotheke ein feines Fremdenbett.</p>
+
+<p>Nun klopfte ich beim Arzt an. Eine alte runzelige Frau kam hervor, mit
+langem, schmalem Schleppkleid. Die erklärte barsch, jetzt wäre keine
+Ordinationsstunde.</p>
+
+<p>»Ich bin auch kein Kranker!« meine Versicherung.</p>
+
+<p>»Ah so, dann ist's was anderes. — Jonathan! Ein Herr will bei dir die
+Aufwartung machen.«</p>
+
+<p>Der Herr Doktor Jonathan kam nun selbst an die Tür, forschend, ob
+endlich vielleicht einmal ein richtiger Tarockspieler da wäre für die
+langen Herbstabende. Seine Augengläser rückte er von der Stirn herab
+und besichtigte mich. Und murmelte was und besichtigte mich eingehender
+und kraute seinen Weißkopf.</p>
+
+<p>»Nun, Herr Doktor!« rief ich lustig, »wo fehlt's bei mir?«</p>
+
+<p>Er ging drauf ein, tippte mit dem Finger an meine Stirn und sagte
+bedächtig: »Bei Ihnen fehlt's <em class="gesperrt">da</em>!«</p>
+
+<p>»Was tausend! Mir fehlt's ja nur an einem Nachtquartier!«</p>
+
+<p>Er blieb mit dem Kerzenlicht in der Hand an der Tür stehen und fuhr
+fort, mit behaglicher Langsamkeit zu sprechen: »Ich habe von Wien aus
+das Vergnügen, den Herrn Volksdichter zu kennen. Von einer steirischen
+Vorlesung her; und aus den Büchern, wo er sich so infam über uns Ärzte
+lustig macht. Als würden wir nur gerufen, um den Leuten leichter
+sterben zu helfen, oder so was. Und hätten für<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> alle Krankheiten nur
+ein Mittel, das Hasenöl, das aber nichts anderes, als ein verdorbenes
+Schweinefett wäre. So ein alter Dorfbader hat ein gutes Gedächtnis,
+nicht wahr?«</p>
+
+<p>Mittlerweile hatte er sich in den Zorn geredet und nun kam's: »Jawohl,
+solche Torheiten oder Bosheiten merkt man sich. Wo im Volke ohnehin
+schon bald alles Vertrauen beim Teufel ist! Ja, mein lieber Herr, wenn
+man sich so in Dinge mischt, die man nicht versteht, da kann dies nur
+mit Dummheit entschuldigt werden. Beim Esel im Stall, wenn Sie schlafen
+wollen!«</p>
+
+<p>Und klapps, schlug die Tür ins Schloß.</p>
+
+<p>Noch kam die alte Frau, entschuldigte ihren Mann, der halt über seinen
+Beruf keinen Spott kommen lasse und schon oft gesagt habe: Wenn er
+ihn einmal derwischen täte, denselbigen — gut ginge es ihm nicht!
+Übrigens, er sei so arg nervös, aber fressen täte er keinen, und sie
+wolle mich heimlich auf den Oberboden führen, auf einen Strohschaub aus
+Barmherzigkeit. Verderben dürfe der Mensch ja doch auch seinen Feind
+nicht lassen.</p>
+
+<p>Offen gesagt, diese Alte mit ihrem barmherzigen Strohschaub war mir
+noch zuwiderer wie der wütende Doktor, dessen Beruf halt schon so ernst
+ist, daß er keinen Spaß verträgt. Ich ging wieder einmal hinaus unter
+Gottes freien Himmel und hatte Zeit, mich über die große Popularität
+zu freuen. Nur hatte ich sie mir teilweise anders gedacht, diese
+Popularität.</p>
+
+<p>Da stand er, der Missetäter, der ausgestoßene. Da hatte er immer
+gemeint, die guten armen Menschen erheitern und erheben zu wollen,
+während er sie der Reihe nach tödlich beleidigte. Mitten im »treuen
+Alpenvolke« stand er nun einsam in eitler Nacht, fremd und fröstelnd,
+erschöpft von weiter Wanderschaft. Hinter mir bellte ein<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> Hund, dem
+gesellten sich mehrere, groß und klein — die Hundeschaft des ganzen
+Dorfes — und brachten mir ein vielstimmiges Ständchen.</p>
+
+<p>Es schnitt die Bergluft. Der Tau des Grases gedachte kalter Reif zu
+werden über Nacht.</p>
+
+<p>Dort auf dem Hügel stand ein fahles Gemäuer. Es war die Kirche,
+deren Turmuhr die neunte Stunde schlug. Wie lang ist eine solche
+Septembernacht! — Aber neben der Kirche pflegt ein Pfarrhof zu stehen,
+und im Pfarrhofe ein christlicher Mann zu wohnen. Man hatte mir so oft
+geschmeichelt, in meinen Schriften stecke doch ein bißchen Religion.
+Nun, dann dürfte vielleicht ein Versuch im Pfarrhof nicht fehlgehen.</p>
+
+<p>Dort an der Tür mußte ich aber lange ziehen am Glockendraht.</p>
+
+<p>Endlich klirrte hoch an der Wand ein Fenster auf, und eine kräftige
+Männerstimme fragte herab, was es gebe?</p>
+
+<p>»Ein obdachloser Reisender! er bäte um Unterstand über Nacht, sei es im
+Stalle, sei es in der Scheune, wo immer!«</p>
+
+<p>»Es gibt wohl doch noch andere Häuser in der Krumpa.«</p>
+
+<p>»Ich habe keine Geneigtheit gefunden!«</p>
+
+<p>»Dann wird man schon der Richtige sein. Wer sind Sie denn?«</p>
+
+<p>»Feuergefährliches, oder so was, habe ich nicht bei mir!«</p>
+
+<p>»Wer Sie sind, will ich wissen?«</p>
+
+<p>Auf diese unentwegte Frage nannte ich meinen Namen.</p>
+
+<p>Da beugte sich der Pfarrer aus dem Fenster weiter hervor, fragte noch
+einmal und sagte dann: »Ich verstehe immer: Rosegger!«</p>
+
+<p>»Es ist richtig, Herr Pfarrer!«</p>
+
+<p>»Wohl doch nicht der Poet?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span></p>
+
+<p>»Er ist es, Herr Pfarrer. Aber zur Zeit ohne Poesie, nur stark
+schläfrig!«</p>
+
+<p>Der Herr oben begann zu lachen.</p>
+
+<p>»Sie verzeihen schon, Herr Rosegger,« entschuldigte er sich, »ich
+lachte über den Zahltag. Daß Sie heute um Unterkunft bitten müssen
+an der Pforte jenes Standes, den Sie so oft dem Hohne der Menge
+preisgegeben haben. Erinnern Sie sich an den Stiefelknecht? An des
+Pfarrers Fiederl? Schaun's wie es geht. Wenn man die Kirche einreißt,
+dann sitzt man schutzlos auf der Welt. Übrigens sind wir Priester
+besser, als der Ruf, den Sie mit verbreiten halfen. Die Haushälterin
+wird bald aufschließen.«</p>
+
+<p>Die Haushälterin hatte mich nicht mehr an der Tür gefunden. Doch vor
+dem Erfrieren war keine Gefahr mehr, erstens, weil mir dieser Leute
+Gastfreundschaft heiß gemacht hatte in der Brust, zweitens, weil ich
+einen Heustadl fand. Der stand auf der Wiese neben dem rauschenden
+Bach. Ich vergrub mich ins duftende Heu. Nur schade, dachte ich mir zu,
+daß nicht eine Fabrik, oder ein Grafenschloß dasteht, man würde dich
+auch an solchen Toren abweisen. Hernach die Gelehrten, die Studenten
+und derlei Kasten mehr. Oder die Parteien: die Antisemiten, die Juden!
+Allen hast du gelegentlich eine Schelle angehängt. Und wenn du bei dir
+selber anklopfest, keinen bayrischen Pfennig wette ich, du schreist dir
+zu: Kerl, auch über mich hast du dich schon lustig gemacht, marsch! —
+In Gottesnamen, bist halt ein Bösewicht. — Damit legte ich mich aufs
+andere Ohr.</p>
+
+<p>Aber gerade, als es zum Einschlafen kommen wollte, war draußen eine
+rufende Stimme zu vernehmen. Sie kam näher, sie entfernte sich, sie kam
+wieder näher, und endlich war es deutlich, man rief meinen Namen.</p>
+
+<p>Ich hob den Kopf: »Was Teuxel ist denn los?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span></p>
+
+<p>»Hau!« rief es draußen, »im Heuschupfen ist er!« Dann kam der Rufer
+auch schon an die Wand und sagte: »Wenn er drinnen ist, so muß er
+heraus. Das wollen wir Schullehrer uns nicht ankreiden lassen, daß
+unser Waldschulmeister-Dichter in dem Heuschupfen schlafen soll! Ich
+bin ja auch so ein Waldschulmeister, aber nicht der in der Krumpa. Wir
+gehen zusammen jetzt nach Sankt Marten hinauf, ein Stündel. Dort gibt's
+ein gutes Bett!«</p>
+
+<p>Als er das gesagt hatte, war meine wohlgesetzte Antwort: »Ich danke
+Euch, Waldschulmeister von Sankt Marten. Aber aufstehen tu' ich jetzt
+nicht. Wie ich just lieg', so gut liegt der Kaiser von China nicht
+auf seinen chinesischen Seidenkissen. Sollte ich aber morgen an Sankt
+Marten vorüberkommen, dann melde ich mich bei Euch, und itzo seid so
+gut und laßt mich in Frieden.« —</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen stieg ein göttlicher Sonntag auf. Ich ging aus
+meinem Heugrabe wie neugeboren hervor, und das Dörfchen Krumpa lag
+im feuchten Walddufte so lieblich da, als wären alle Rächer meiner
+literarischen Missetaten ausgezogen über Nacht. Die Wiese hatte
+einen silberweißen Reif, die Ahorne waren schon rot, und die Lärchen
+gelb, und hoch auf den Berggipfeln lag goldgrünlicher Sonnenschein,
+so daß es im blumigen Mai nicht farbenleuchtender sein kann, als
+an diesem stillen Herbstmorgen. Und vor meinem Heustadl stand ein
+ältliches Herrchen. Es stand durchaus nicht ruhig, es zappelte mit
+den Füßen, es schlenkerte die Arme hin und her, einmal über die
+Brust, einmal über den Rücken, der einen weidlichen Höcker hatte.
+Nach dem Gewandschnitte hätte es wohl ein notiges Bäuerlein sein
+mögen, allein der Hut, der rabenschwarze hochgebaute Filzhut mit der
+funkelnden Bandschnalle zeigte einen vornehmen Herrn an. Solche Hüte<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span>
+trugen die Gerichtsverweser und Doktoris vor achtzig Jahren. Und
+diesen letzten, nur wenig entarteten seines Geschlechtes, trägt mein
+Waldschulmeisterlein von Sankt Marten.</p>
+
+<p>Das war in aller Herrgottsfrühe herabgekommen, hatte vor der Heuscheune
+auf meine Urständ gewartet und sich dabei fast Zehen und Finger
+verfroren. An der weichen, breiten Stimme erkannte ich den nächtlichen
+Schreier.</p>
+
+<p>Und er im ersten Schreck: »Jesses, der ist es ja nicht!«</p>
+
+<p>»Wer soll es denn sein?« fragte ich und streifte mir die Halme von den
+Kleidern.</p>
+
+<p>Er zog ein Bildchen aus der kleinen Ledertasche, betrachtete es,
+verglich es: »Der da — auf dem Bildel — hat den Bart unter dem Kinn,
+und der vor mir steht, hat ihn unter der Nase!«</p>
+
+<p>»Wenn der Mensch alt wird, so muß er sich jung machen,« meinte ich.
+»Ihr habt Euch ja noch jünger gemacht und den Bart ganz weggeschabt,
+daß Ihr wohl kaum mehr davon habet, als Eure ABC-Schützen!«</p>
+
+<p>»Wahr ist's!« rief er lustig aus. »Und wenn Ihr's seid, so grüß Euch
+Gott!«</p>
+
+<p>Dann gingen wir miteinander. Ich wollte an demselben Tage ja über das
+Martenjoch, da hatten wir durch den Sulzergraben den gleichen Weg. Und
+er erzählte mir den Schick. War nämlich dieser Lehrer von Sankt Marten
+gestern spät abends bei seinem jüngern Amtsbruder in der Krumpa gewesen
+und hatte von ihm gehört, daß eben vorhin der »Lehrerspöttler« von
+ihm abgeschafft worden wäre. Zuerst hatte der von Sankt Marten nicht
+gewußt, wer da gemeint sei, dann näher unterrichtet, habe er gesagt:
+»Kollege, hast du die Schriften des Waldschulmeisters gelesen?«</p>
+
+<p>Nein, für derlei habe er keine Zeit.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span></p>
+
+<p>»Du bist halt erst aus der Stadt gekommen und noch zu wenig lang im
+Walde, um für derlei Sinn zu haben. Ich gehe ihn jetzt suchen, falls er
+noch keine Herberge hätte.«</p>
+
+<p>So war der Alte an die Heuscheune gekommen, um das »Versehen seines
+Amtsbruders« gutzumachen. Und auf solche Weise habe ich dieses rührende
+Schulmeisterlein kennen gelernt.</p>
+
+<p>Durch den langen Graben holte uns ein laufendes Weib ein, eine
+Holzknechtin. Sie war schon in der Krumpa gewesen beim Arzt.</p>
+
+<p>»Ist das Kindel noch nicht besser?« fragte sie mein Waldschulmeister.</p>
+
+<p>»Weiger nein, es wird alleweil schlechter!« gab sie weinerlich zur
+Antwort, »der Bader sagt gar, die Dipfterie!«</p>
+
+<p>»Die Dipfterie sagt er! so schlimm wird's wohl nicht sein. Eine starke
+Halsentzündung, wie sie vor kurzem die Kohlnatzel-Kinder gehabt haben.
+Für arme Leute ist die auch gut genug, braucht's keine herrische
+Diphtheritis zu sein. Mein Weib wird dir Rotholleröl schicken. Den Hals
+recht schmieren damit und ein paar Tropfen eingeben!«</p>
+
+<p>»Kommt mir eh ganz herab, das Bübel,« klagte das Weib, »nichts als Haut
+und Knochen.«</p>
+
+<p>»Wenn du Geld brauchst, so komm halt noch einmal zu mir.«</p>
+
+<p>»Bitt' hundertmal!« sagte sie und eilte voran, der Waldwildnis und
+ihrem kranken Kinde zu.</p>
+
+<p>»Es geht Euch wohl gut auf Eurem Posten?« fragte ich nun den Alten,
+der, so klein er war, mit weiten Schritten gar würdig neben meiner
+einherstapfte.</p>
+
+<p>»Besser schon, wie dem in der Krumpa,« antwortete er. »Aber Gehalt
+hat mein Kollege da draußen einen höheren,<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> und Naturalien hat er
+auch mehr. Die Sache ist die, er ist ganz und gar nicht zufrieden in
+der Krumpa, er schaut alleweil aufwärts, anstatt abwärts, und das ist
+gefehlt!«</p>
+
+<p>»Hohe Ideale muß sich freilich auch ein Schullehrer stellen.«</p>
+
+<p>»So meine ich's nicht. Der Lehrer in der Krumpa schaut alleweil
+hinauf zum Oberlehrer in Schwarzbach, einen so großen Gehalt möchte
+er haben. Der zu Schwarzbach denkt sich wieder: Ei, was hat's der
+Schuldirektor in Elmstadt gut! Und der Schuldirektor in Elmstadt kann
+nicht begreifen, weshalb er nicht schon Landesschulinspektor ist. Na,
+na, wenn der Mensch alleweil ins Licht blickt, wird er blind. Da muß
+man die Holzlieserl anschauen, die uns vorhin wegfür gegangen ist, eine
+Stube voll kränklicher Kinder und einen schnapssaufenden Mann dazu.
+Oder unsere Kohlenbrennerleute, die sich zeitweise rein von der guten
+Luft und dem bißchen Wildobst nähren müssen. Oder immer ein Bäuerlein,
+das mehr Schulden als Schuhnägel hat, weil ihm das Weib heimlich Mehl
+und Butter austrägt und an ihre Lotter vertut. Freilich wohl, mein
+lieber Herr, mit solchen Leuten verglichen, ist unsereiner ein reicher
+Mann. So war das vom Auf- und Abwärtsschauen gemeint.«</p>
+
+<p>Am Ende der Schlucht war eine Holzbrücke, diesseits derselben standen
+ein paar Hütten, und jenseits an der Felswand war die Kapelle mit einem
+hölzernen Dachreitertürmchen.</p>
+
+<p>»So,« sagte mein Begleiter, »das wäre der Dom zu Sankt Marten. Und hier
+beim Bach die Universität.«</p>
+
+<p>Ein hölzernes Schulhaus mit geräumigem Unterrichtszimmer und der
+niedlichen Lehrerswohnung.</p>
+
+<p>»Ich habe ihn schon!« lachte mein Lehrer einer kleinen, weißlockigen
+Frau zu, die im Sonntagsstaat, aber mit einer<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> breiten Küchenschürze um
+die Mitte, vor mir den Knicks machte:</p>
+
+<p>»Wenn man ein einfaches Nachtmahl gehabt hat und in der frischen
+Gottesfrühe schon eine Stunde marschiert ist, da wird ein Tröpfel
+Kaffee wohl schmecken. Ich bitt' schön!«</p>
+
+<p>Im sonnigen Stübchen, auf weißgedecktem Tische gab es dampfenden
+Kaffee, Weißbrot, Butter, Honig und einen Strauß frischer Blumen,
+wie sie im Herbst auf den Feldern wachsen. Alles in feinen
+Porzellantassen und daneben in einer Stahlschale zwei Zigarren. An der
+blankgescheuerten Wand Hausgeräte, Heiligenbilder und eine auffallend
+große Photographie in kunstvoll durchbrochener Metallrahme. Das Bild
+stimmte so eigentlich gar nicht zur Umgebung, und es war das Porträt
+des berühmten Chirurgen Professor Doktor Rottacher in Wien.</p>
+
+<p>»Seid Ihr mit diesem Herrn bekannt?«</p>
+
+<p>»Na, ich glaub's, daß wir mit ihm bekannt sind!« sagte das weißlockige
+Frauchen und legte die Hände über der Brust zusammen.</p>
+
+<p>Dann kamen schon die Sonntagsleute, die so eine Weile vor den Hütten
+umherstanden.</p>
+
+<p>Es war heimlich im Schulhause, und ich blieb den ganzen Tag dort.
+Vormittags versammelten sich im Kirchlein an dreißig Menschen,
+der Lehrer setzte sich in eine Bank und las laut und langsam das
+Sonntagsevangelium und ein Kapitel aus Thomas von Kempis' »Nachfolge
+Christi«. Seit einigen Jahren haben die zu Sankt Marten keinen Pfarrer,
+und so tut's halt der Schulmeister. Dann setzte er sich ans Harmonium
+und spielte ein Kirchenlied, bei dem einige Weiber mitsangen. Hernach
+sagten sie gemeinsam »Vergelt's Gott«, und der Gottesdienst war aus.</p>
+
+<p>Jetzt ging's aber beim Schulhause an. Ein Häuslersweib<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> kam und bat die
+Frau Lehrerin, daß sie im Obstgarten das Gras abmähen dürfe für die
+Ziege, der Jäger wolle das Tier auf freier Weide nicht mehr dulden. Die
+Lehrerin gestattete es. Das Gras wird auch so zertreten, sagte sie dann
+zu ihrem Mann. Ein anderes armes Weib fragte demütig an, ob sie die von
+den Bäumen gefallenen Äpfel zusammenklauben dürfe, um sie zu dörren für
+die Kinder. Die Lehrerin gestattete es und begründete ihrem Manne: die
+Äpfel wären ohnehin wurmstichig. An der Hausecke lehnte ein besonders
+ärmlich gekleideter Mann und hielt sich den Hut vors Gesicht, als
+schäme er sich. Der Lehrer ging zu ihm: »Deine Kinder haben wohl schon
+wieder einmal Magenweh, Sebastian!«</p>
+
+<p>»Freilich, freilich, Herr Lehrer, schon seit gestern mittags!«</p>
+
+<p>»Hast du die Flasche bei dir?«</p>
+
+<p>»Wohl, wohl, Herr Lehrer!«</p>
+
+<p>»Geh' nur in die Kammer zur Frau!«</p>
+
+<p>Und die Frau Lehrerin füllte ihm die Flasche mit Milch und gab noch ein
+Stück Brot dazu.</p>
+
+<p>Später kam ein hinkendes Weiblein dahergehumpelt und fragte an, ob die
+Frau Schulmeisterin denn gar nichts für sie zu stricken hätte.</p>
+
+<p>Die Frau bestellte zwei Paar Socken, die Alte blieb aber noch stehen
+und sie hätte halt frei keinen Kreuzer Geld.</p>
+
+<p>So ging das fort, dem Lehrerpaare schien alles ganz in Ordnung zu sein.
+Sie gaben und gestatteten, und wo das nicht ging, vertrösteten sie
+leutselig auf später.</p>
+
+<p>»Zu wem sollen diese armen Leute sonst gehen!« meinte der Lehrer: »sie
+haben halt auch ihre Anliegen, und den Weg zum Schulhaus finden sie
+seit kindesher.«</p>
+
+<p>Beim Mittagsmahl saßen wir unser drei beisammen,<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span> ich zwischen den
+alten Leuten, wie eine Art von Sohn. Da gab es gekochte Milchsahne,
+blaugesottene Forellen, Eiersalat und Zwetschkenklöße. Die Fürsten
+können solches nicht besser haben und es koste, wie die Frau
+versichert, fast gar nichts. »Die Sahne ist von unserer Kuh, die Eier
+sind von unseren Hühnern, die Zwetschken wachsen auf unseren Bäumen,
+und die Forellen angelt mein Mann von seinem Fenster aus dem Bache.«</p>
+
+<p>Der Förster, der auch das Fischwasser hütet, habe deswegen zwar einmal
+Umstände gemacht, doch der Bezirksrichter habe entschieden, das wäre
+schon seit altersher so, daß mit der Hand gefangene und aus der eigenen
+Wohnung geangelte Fische Freigut sind.</p>
+
+<p>Sie hätten es seit jeher so gehalten, wären ja schon zweiundvierzig
+Jahre in diesem Bergwinkel. Die ersten Jahre hätte es wohl geplagt.
+Acht Tage nach dem Herzug habe die junge Frau bei den Waldhäuslerinnen
+um Brot und Kartoffeln betteln müssen. Dazu eine verfallene Hütte als
+Schulhaus, das wäre dann aber vom Waldherrn neu gebaut worden. Später
+sei das Gehalt erhöht worden und die Frau hätte eine Erbschaft gemacht,
+so daß sie jährlich schier über sechshundert Gulden aufzubrauchen
+hätten. »Wir sind aber auch schier die einzigen Steuerzahler in Sankt
+Marten!« —</p>
+
+<p>Das wurde mir mit Stolz erzählt, obschon der Alte gleich beisetzte:
+»Man soll sich freilich nicht prahlen, sondern Gott danken. Und das
+tut man alleweil am besten zu armen Leuten. Fünfhundert Gulden Gehalt,
+hundertzehn Gulden Renten! Zu Tod müßt' sich einer schämen mit so einem
+Vermögen, wenn man damit nicht ein bissel Vorsehung spielen wollte.«</p>
+
+<p>»Und erst, seit uns der Julius so viel Sachen schickt!«<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> rief die Frau
+drein, »aber der meinige will ja nichts nehmen!«</p>
+
+<p>»Der Julius, wer ist denn das?«</p>
+
+<p>»Das ist der da!« sagte der Lehrer und tippte mit dem Finger auf die
+Photographie an der Wand.</p>
+
+<p>»Professor Rottacher! Ein guter Freund von Euch?«</p>
+
+<p>»Aber ich bitt' Euch, das ist ja unser Julius!« rief die Lehrersfrau,
+»unser Herr Sohn!«</p>
+
+<p>»Unser Bub'!« verbesserte der Alte.</p>
+
+<p>Da habe ich erst einmal aufgehorcht.</p>
+
+<p>»Ist halt ein bisserl auf Abwege geraten, unser Sohn,« fuhr der Lehrer
+gesprächig fort — wir saßen ja bei einem Kruge Apfelwein — »hätt'
+auch Lehrer werden sollen nach meinem Wunsch, weil wir derer ohnehin
+nicht allzuviel taugliche haben. Aber der gute Julius war halt auch
+kein tauglicher, und so hat er ein Handwerk lernen müssen.«</p>
+
+<p>»Ihr meint doch den Chirurgen Julius Rottacher!«</p>
+
+<p>»Chirurgie ist mehr Handwerk als Wissenschaft, lieber Herr
+Volksdichter. Hat auch einen goldenen Boden. Aber tauschen täten wir
+nicht mit ihm, gelt Mutter! Sind einmal bei ihm in Wien gewesen —«</p>
+
+<p>»Das prächtig schöne Haus, das er hat!« rief die Frau dazwischen, »wie
+ein Graf. Und Diener mit Silberknöpfen!«</p>
+
+<p>»Ein Holzarbeiter da drinn im hinteren Martenwald, hat's besser,«
+darauf wieder der Alte, »der hat wenigstens bei der Nacht eine Ruh'.
+Beim Doktor, wenn's nicht klingelt, so beißt die Sorge, wie es mit den
+Kranken steht, ob die Operation geglückt ist. Heut' ist er noch im
+Ungewissen, morgen nicht mehr. Der Operierte? — Nein, da danke ich
+für den silberknöpfigen Lakaien und alles miteinander. Nie, Julius,
+hab' ich ihm gesagt, nie wieder komme ich zu dir, müßte krank werden
+vor lauter Angst<span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span> um deine Patienten. Dem Schullehrer schlägt bei
+seinen Kindern ja auch nicht alles zum Guten an, aber da gibt's nicht
+leicht den Vorwurf, daß man die Krankheit mißkannt, daß man sich im
+Mittel vergriffen hat, man behandelt die Kinder mit Güte und heilsamer
+Strenge, alles andere muß man Gott überlassen.«</p>
+
+<p>»Und so wird's der Julius auch mit seinen Kranken machen,« sagte die
+Frau, »Fritz, du willst mir halt immer die Freud' verderben an ihm.«</p>
+
+<p>»Ärgern tu' ich mich!« rief der Alte hitzig, »weil er mir erbarmt,
+der arme Mensch, mitten in seinen Ehren und Reichtümern. Keine Ruhe
+und keine Sammlung und kein Besinnen auf sich selber. Nein, das ist
+kein Leben. Und was hat er aufzuweisen? Recht selten eine Arbeit,
+wo nichts zurückbleibt, so gut er's auch meint. So ein Metzgern da!
+Seit zehn Jahren, denkt Euch, war er einmal bei uns in Sankt Marten,
+ein einzigesmal auf drei Tage. Glaubt Ihr, er hätt' was Lustiges
+mitgemacht oder wäre im Wald umhergegangen? Nichts, als immer studiert,
+spintisiert, an Hasen und Hühnern herumprobiert, daß es oft schon gar
+nicht mehr schön war, hernach Briefe geschrieben und Zeitung gelesen,
+bis er — hast es nicht gesehen — wieder fort ist.«</p>
+
+<p>»Dafür verdient er sich zehnmal leichter den Himmel, als unsereins im
+sorglosen Leben!« das sagte die Frau, schüttelte den weißbelockten Kopf
+und forschte nach dem Eindruck, den ihr Ausspruch bei uns gemacht.</p>
+
+<p>Dieser Eindruck war nicht bedeutend.</p>
+
+<p>»Nicht einmal zum Heiraten hat er Zeit!« rief der alte Lehrer. »Und da
+möchte ich wissen, wie man ohne Hauskreuz soll in den Himmel kommen
+können!«</p>
+
+<p>Sofort hatte er für die heitere Bosheit seinen kleinen<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span> Klaps auf der
+Wange, der Ernst des Gespräches war abgebrochen.</p>
+
+<p>Auf Einladung der Leutchen bin ich über die nächste Nacht im Schulhause
+geblieben. In dem wohlverschalten Dachgelaß wurde mir ein Bett
+angewiesen; grobe, weißgebleichte Bauernleinwand und mitten über das
+mit Haferrispenspreu gefüllte Kopfkissen ein gestickter hellroter
+Streifen. Der Lehrer war noch eine Weile an meinem Bette gesessen, um
+zu plaudern. Endlich war's ihm darum zu sagen, ich möchte in diesem
+Bette besser schlafen als sein Julius geschlafen habe, der die ganze
+Nacht Patienten klingeln hörte. »Und ich,« schloß mein Gastgeber
+schalkhaft, »muß jetzt noch ins Schulzimmer, um <em class="gesperrt">meine</em> Schriften
+des Waldschulmeisters zu schreiben!«</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen vor dem Antritte meiner Wanderung habe ich Einsicht
+genommen in diese Schriften des Waldschulmeisters: Auf der schwarzen
+Schultafel mit Kreide geschrieben standen Buchstaben des ABC für die
+Anfänger. — Und damit leistete er sicherlich mehr, als unsereiner mit
+den Fabeleien.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Orgler_zu_Sankt_Thomas">Der Orgler zu Sankt Thomas.</h2>
+</div>
+
+
+<p>An einem taufrischen Sommer-Sonntagsmorgen kamen drei Touristen aus
+Wien in das Alpendorf, genannt Sankt Thomas in der Klausen. Auf dem
+Hügel stand das Häuschen Gottes, dessen zwei Glocken durch das enge
+Tal klangen, um die auf allen Höckern und in allen Falten des Gebirges
+zerstreute Gemeinde zusammenzurufen. Die Touristen stiegen zum Kirchl
+hinan. Aus Frömmigkeit geschah es nicht. Sie wollten nur einmal sehen,
+wie es in so einer Dorfkirche zugeht. Da gab es nun was Besonderes zu
+hören auf dem Chore. Dort saß ein Knabe und spielte die Orgel in einer
+verwunderlichen Weise. Er spielte ein Kirchenlied so rührend, schlicht
+und fromm — man meinte gar, die Orgelpfeifen wären lebendig und
+lobten aus eigenem Herzen den Herrn. Unsere Städter hatten wohl schon
+die größte Kunstfertigkeit auf ähnlichen Instrumenten zu bewundern
+Gelegenheit gehabt, aber eine solche Innigkeit, ja Heiligkeit im
+Orgelspiel war ihnen was Neues. Zudem war der spielende Bauernknabe
+schön wie ein Engel. Sein Haupt mit den lichten Locken war etwas
+vorgebeugt, auf den Wangen blühte die Freude über die Klänge, seine
+schattigen Augenlider waren geschlossen. Seine Lippen bewegten sich
+leicht, als begleite er die Orgel mit leisem Gesang. Als sich das Spiel
+in höhere Töne hob, hob auch der Spielende sein Haupt, schlug die
+Augenlider auf und — in diesen Augen leuchteten keine Sterne.</p>
+
+<p>Der Knabe war blind.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span></p>
+
+<p>Hier will ich die kleine Geschichte des blinden Musikanten erzählen,
+wie sie den Touristen erzählt worden ist.</p>
+
+<p>Mit dem Rocken-Hans hebt sie an. Der war vor fünfzehn Jahren noch
+Wildschütze gewesen — teils aus Hunger — weil Notwehr erlaubt ist
+— und teils aus Neigung — weil das Wildern verboten ist. — Arme
+Wildschützen sollte man nicht zu Verbrechern machen — sondern zu
+Jägern. Das sind die findigsten, wachsamsten Kerle, die verläßlichsten
+Hüter und, gilt es, die schärfsten Schützen. Auch den Rocken-Hans hatte
+man zum Jäger gemacht, aber aus der Klausen in eine andere Gegend
+versetzt, wo er an die zehn Jahre verblieb, sich ein Weib beilegte
+und fast zufrieden war. Vollauf zufrieden darf selbst ein Jäger im
+grünen Walde nicht sein. So scharfe Augen der Vater hatte, das Kind
+war blind. So schön das Mutterantlitz ist, wenn es zum Kinde lächelt,
+der Knabe sah es nicht. Nur ihre Wiegenlieder hörte er. Dann, als die
+Mutter stumm geworden war, und fortgetragen, saß der Knabe auf dem
+Bankl vor dem Jägerhause und hörte den Finken und den Drosseln zu und
+allem Gevögel, das da sang und zirpte im Waldland. Am Abende waren die
+Grillen und Frösche zu hören und das Rieseln des Baches und das Säuseln
+der Wipfel im Abendhauch. Im Winter aber — wenn alles still war —
+schlafend die Vöglein, hartgefroren der Bach, verhüllt die Bäume — saß
+der Jäger neben dem kleinen Sohne und machte ihm vor, wie die Gemse
+pfeift, das Reh bellt, der Auerhahn balzt und der Rabe kräht. Das war
+alle Musik in weitem Bergrund', und der blinde Knabe dürstete nach dem
+Lichte der Töne.</p>
+
+<p>Sagte der Jäger eines Tages zu seinem Sohne: »Jetzt bist du schon
+stark, Heinrich, und morgen ist Lichtmeß; du gehst mit mir nach Thomas
+in die Klausen — bin selber schon eine gute Weil' nicht mehr dort
+gewesen — und da<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> wirst du auf dem Kirchenchor was hören, was du
+deiner Tage noch nicht hast gehört. Mußt dich jetzt schlafen legen, wir
+stehen um eins in der Nacht auf.«</p>
+
+<p>Der Weg vom Jägerhause bis in die Klausen ist im Sommer fünf Stunden
+lang, im Winter zieht er sich auf sechs und unter kurzen Beinen ist er
+noch länger. Der Knabe ging zu Bette, aber schlafen konnte er nicht.
+In Trauer schläft sich's leicht ein, in Freude schwer. Heinrich dachte
+an des Vaters Worte vom Kirchenchor — was das sein sollte, wußte er
+freilich nicht, was Besonderes gewiß. Endlich, als er einschlummern
+wollte, kam der Jäger, ihn zu wecken. Und sorgfältig kleidete der Mann
+den Knaben an, gab ihm heiße Ziegenmilch zu trinken und schnallte ihn
+auf die hölzerne Rückentrage, wie solche im Gebirge gebräuchlich sind.
+Und nahm die Trage auf den Rücken, verschloß das Haus und ging in
+sternheller Winternacht davon.</p>
+
+<p>Nach einer halben Stunde fragte der Knabe: »Kommen wir schon in die
+Klausen, wo die Kirche steht?«</p>
+
+<p>»Jetzt noch nicht, Heinrich. Bist du müde, so schlafe.«</p>
+
+<p>In zwei Fuchshäute gewickelt, schlief der Knabe ein und der Vater
+ging und ging und freute sich insgeheim auf die Kirchenmusik in Sankt
+Thomas, die immer so prächtig war gewesen, freute sich auf die Freude
+seines Kindes.</p>
+
+<p>Und dann, als hoch an den starren Felsen die Morgensonne leuchtete,
+ging er durch die Schlucht der Klausen. Und als die Glocken vom Sankt
+Thomas-Kirchlein läuteten, wachte der kleine Heinrich auf und sagte:
+»Vater, hörst du's auch, wie der Vogel schön singt?«</p>
+
+<p>Der Jäger tat den Kleinen von der Rückentrage und nun gingen beide den
+Hügel hinan und ins Kirchl hinein.</p>
+
+<p>Am Altare stand der Priester, die Gemeinde lallte Vaterunser auf
+Vaterunser — und nichts als das.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span></p>
+
+<p>Heinrich horchte andächtig und meinte, das wäre jenes Seltsame am Chor,
+wovon der Vater gesprochen. Der Jäger aber wendete sich flüsternd an
+einen alten Bauer: »Was ist's denn, haben 'leicht die Thomasler keine
+Musik?«</p>
+
+<p>»Freilich nicht, freilich haben wir keine,« gab jener zur Antwort,
+»die Orgel und die Pfeifen und Geigen sind wohl noch oben, aber kein
+Musikant ist dabei. Die alten sind weggestorben und junge werden keine
+mehr abgerichtet. 's schaut kein Geld dabei heraus und umsonst wollen
+die Leut' heutzutag' nicht einmal für den Herrgott was tun. Der Herr
+Pfarrer kann wohl orgeln — aber wer liest hernach die Mess'? Unser
+Lehrer bläst nur eine Pfeife, seine meerschaumene. — Gottsredlich
+wahr, jetzt hat eins in der Kirche auch keine Freud' mehr.«</p>
+
+<p>Der Mann hätte sicherlich noch eine Zeitlang fortgeflüstert, da stieß
+ihn ein Beisitzer mit dem Ellbogen: »Willst schwatzen, Michel, so geh'
+hinaus.«</p>
+
+<p>Der Alte war still, der Rocken-Hans führte sein Söhnlein wieder aus der
+Kirche, daß der Kleine doch zum wenigsten die Spatzen und die Gimpel
+höre, die auf den Dächern zwitscherten.</p>
+
+<p>Gingen hierauf zum Bäckerwirt und der Vater rückte dem Knaben das
+Suppenschallerl unter das Kinn und das Weinglas in die Hand.</p>
+
+<p>»Vater, wann ist das auf dem Kirchenchor, was ich mein Lebtag noch
+nicht habe gehört?«</p>
+
+<p>Am Nebentische saß, eben vom Gottesdienste zurückgekommen, der Pfarrer.
+Er nahm das Frühstück ein, hörte die Worte und rief zum Jäger herüber:
+»Der Rocken-Hans? Auch wieder mal bei uns herüben? Brav, brav! — Sohn
+das? Recht brav. Ein sauberes Bübel! Nicht Handküssen.<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> Wie heißest
+denn, Kleiner, he? Heinrich? Brav. Mein Gott, das Kind hat ja —
+schlechte Augen?«</p>
+
+<p>»Halt ja, halt ja, Hochwürden,« sagte der Jäger, »und desweg', weil er
+nicht sehen tut, so wollt' ich ihn was hören lassen.« Und erzählte nun,
+daß sie gekommen wären, um die Orgel zu hören in der Kirche zu Sankt
+Thomas. Allsogleich rannen dem Pfarrer die Tränen über die Wangen; das
+blaue Sacktuch kam schon zu spät.</p>
+
+<p>»Ah na,« sagte er hernach, »umsonst sollt ihr den Weg nicht gemacht
+haben. Ist dir warm, Bübel? Dann wollen wir miteinander in die Kirche
+gehen.«</p>
+
+<p>Sie gingen in die Kirche, es war kein Mensch mehr drin. Die Leute
+hatten sich satt gebetet und dabei Appetit für ein Mittagessen
+bekommen. Die drei stiegen auf das Chor. Der Pfarrer setzte den Knaben
+in die Orgelbank, legte dessen Fingerchen auf die Tasten. »So, Kleiner,
+jetzt halte still, gerade so, wie die Finger liegen. Brav. Und wenn ich
+sag': Druck' nieder, verstehst, so druck' nieder und halte aus — halte
+aus, so lang's dich freut.«</p>
+
+<p>Zog hierauf die Riemen des Blasebalges und rief sein: »Druck' nieder!«
+Der Knabe tat's und erschrak vor dem, was jetzt war: ein klingendes
+Band, ein tönender Stab — und doch unvergleichbar mit allem, ganz
+einzig zu hören, wie ein Gedanke, der schallt, wie eine Freude, die
+klingt.</p>
+
+<p>Unbeweglich saß der Knabe da — sein Antlitz blaß wie ein Steinbild,
+so horchte er der Musik. Die Hände preßte er auf die Tasten, bis die
+Finger vor Wonne zu zittern begannen. Und siehe, da zitterte auch der
+tönende Stab und nun wurde er es inne, der Knabe aus dem Wald, daß man
+seine Seele kann ausrufen in solcher Weise.</p>
+
+<p>Dann spielte der Pfarrer und der Knabe hat gemeint, er sei im Himmel.
+— Er sah mit den Ohren.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span></p>
+
+<p>So war der Anfang gewesen.</p>
+
+<p>Und von diesem Tage an verblieb Heinrich, der kleine Junge, in Sankt
+Thomas und lernte von dem Pfarrer das Orgelspielen. Traurig und
+glücklich im Vaterherzen kehrte der Rocken-Hans allein zurück in sein
+Revier. Zu jedem Sonntag aber kam er in die Klausen und nach einem und
+einem halben Jahre — am hohen Frauentage im August — als er wieder
+in die kleine Kirche trat, summte nicht mehr der eintönige Psalter an
+sein Ohr, da der Pfarrer am Altare stand. Die Orgel klang, und der alte
+Waldmensch fühlte in jenen Tönen das liebe, junge, weiche Herz seines
+Kindes.</p>
+
+<p>So ist die Gemeinde von Sankt Thomas wieder zur Kirchenmusik gekommen.
+—</p>
+
+<p>Einer von unseren Touristen war nach solcher Kunde zum Pfarrer des
+Alpendörfchens gegangen, um ihm die Hand zu drücken.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Naturfreund">Der Naturfreund.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Das war auch wieder einmal eine Kindesseele, die sich in einen
+Stadtmenschen verirrt hatte, und solches ist so häufig ein Unglück.</p>
+
+<p>Ich sehe ihn sehr lebhaft vor mir, obzwar er sich vor einiger Zeit
+wieder aus dem Staube gemacht hat. Seine Gestalt war komisch, und sein
+Herz war rührend. Man hätte ihn geliebt, wenn man ihn nicht immer hätte
+auslachen müssen. Er war ein kleiner untersetzter Mann, dessen Frohmut
+es erlaubte, daß das Bäuchlein wuchs. Die Beine schienen der Last, auf
+die sie ursprünglich nicht berechnet gewesen, auch nicht ganz gewachsen
+zu sein, sie ließen sich etwas weich und unsicher, so daß bei jedem
+Schritte der Körper stark hin und her neigte. Auch mit den stets etwas
+krummgebogenen Armen tat er mit, gleichsam, als wollte er den schwachen
+Füßen durch Schwimmen in der Luft nachhelfen. (Für das Schwimmen in
+der Luft hatte er überhaupt Vorliebe, wie sich's später zeigen wird.)
+Zumeist trug er lichtgraue, wenn nicht gar weiße Blusen und Beinkleider
+und auf dem Haupt einen Zylinder mit stark geschweifter Krempe und von
+lichtgrauer Farbe. Der Hemdkragen war selbstverständlich fast immer
+blank, und an der Brust wehte ein flottgeschwungenes buntes Halstuch.
+Das wirkliche Merkmal aber war das Haupt, das Gesicht. Zu Salzburg, wo
+er sich seinerzeit in den Tagen der Kaiserzusammenkunft aufhielt, wurde
+er von den Tor- und Stadtwachen mit den höchsten Ehren begrüßt, die
+einem Potentaten zustehen, denn man hielt ihn für Napoleon III. Auch
+als er einst eine Weile in Paris bei seinem Freunde, dem Luftschiffer
+Godard, lebte,<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span> stürzten die Leute, wenn er harmlos lustwandelte, auf
+die Gasse und hielten ihn für den Kaiser. Einmal trieb ein Gendarm den
+Pöbel zurück und rief, wenn es Seiner Majestät beliebe, im Inkognito
+spazieren zu gehen, so habe Paris ruhig zu bleiben und den Kaiser nicht
+zu sehen.</p>
+
+<p>Die Ähnlichkeit unseres Mannes mit dem letzten Franzosenkaiser war
+in der Tat merkwürdig! Dieselben scharfen, grauen, lebhaften Augen,
+dieselbe derb gewachsene und »feinausgearbeitete« Napoleonnase,
+derselbe aufgehörndelte Schnurrbart, derselbe graudurchwirkte kühne
+Knebelbart, dasselbe meist kurzgeschnittene Haar, das die Glatze bloß
+zur hohen Stirne machte, dieselben feinen Runzeln des fahlen Gesichtes,
+und vollends die französisch lebhaften, nervösen Gebärden in allen
+Bewegungen, in der Sprache, die, weiß Gott woher, welschen Akzent hatte
+und sich gerne sprudelnd und munter in krausen Hyperbeln erging.</p>
+
+<p>Ja, das war der gute, harmlose Peter Berner, geborener Steiermärker und
+Handelsreisender mehrerer solider Firmen in Wien, Brünn und Triest.</p>
+
+<p>In unserer Stadt kannte ihn jedes Kind, es war ja keiner unter
+den hunderttausend Einwohnern so wie er. Er hatte es gerade nicht
+ungern, wenn man ihn mit Napoleon verglich und er wußte den Mann zu
+repräsentieren, von außen. Die Natur mußte in einer köstlichen Laune
+gewesen sein, als sie es unternahm, diesem gutherzigen, harmlosen,
+poetisch angelegten Gemüte die Maske des Erzschelmes an der Seine zu
+geben.</p>
+
+<p>»Die Natur!« Da habe ich ein Wort ausgesprochen, welches mit seinem
+unermessenen Inhalte das Leben Peter Berners mit Schmerzen und
+Wonne ausfüllte, ja demselben geradezu verhängnisvoll wurde. Er
+verstand unter der »Natur« die Landschaft mit ihren Wiesen, Feldern
+und<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> Wäldern, die Bergwelt mit ihren Felsen, Gletschern und Seen,
+und das einfache Leben des Landvolkes mitten drinnen. Es ist ein
+wunderliches Merkmal unserer Zeit, daß sich der Kulturmensch so sehr
+sehnt nach der stillen Größe des ländlichen Lebens. In Peter Berner,
+dem Handelsagenten, hatte diese Sehnsucht die dreisteste Verkörperung
+gefunden. Streckte und reckte denn auf seinen Handelsreisen »Napoleon
+der Dritte« ununterbrochen den Kopf zum Wagenfenster hinaus und tat
+fortwährend Ausrufe der Freude, der Überraschung, der Begeisterung, so
+oft ein hübsches Landschaftsbild — und er mochte es schon hundertmal
+gesehen haben — vorbeiglitt. Mußte er in der Stadt weilen, so
+besuchte er Gasthäuser, wo sich irgendeine Tischgesellschaft fand,
+die ihm zuhörte, beistimmte, wenn er von der »herrlichen Natur« und
+einzelnen Gegenständen derselben in unbeschreiblicher Lebhaftigkeit und
+Begeisterung schwärmte. Fand er nicht das gewünschte Verständnis an
+seinen Tischgenossen, so verfiel er bald in schweigsame Schwermut und
+war über kurz aus der Gesellschaft verschwunden.</p>
+
+<p>Es gab Zeiten, wo er besonders Ursache hatte, den Hang der Städter
+nach Prunk, Flitter und falschem Schein und die tölpelhafte Stumpfheit
+gegen Sonnenauf- und Untergang, gegen Waldeszauber, Vogeljubel und
+Bergesherrlichkeit zu beklagen. Wissenschaftliche Dinge liebte er
+nicht, weil derlei — wie er sagte — die Schönheit von den Wesen
+reißt; Musik, bildende Kunst und Theater waren ihm leidig, weil er das
+Echte daran nicht sehen konnte, und wenn der Karneval kam, da verlor er
+kein Wort, sondern floh aus der Stadt. Verehelicht war er nicht, und so
+vergaß er leicht alle Bande, die ihn mit der »in Unsinn rasenden Welt«
+zusammenhielt, vergaß seine Freunde, seine Geschäfte, verlor sich auf
+Wochen lang und niemand wußte, wohin er geraten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span></p>
+
+<p>Kehrte er endlich wieder zurück, so war es stets etwas zerfahren
+bestellt mit seiner Gewandung, mit seinen geschäftlichen Verbindungen,
+mit seinem Haushalte überhaupt, aber sein Auge war hell und sein Mund
+sprudelte unerschöpflichen Preis »den paradiesischen Gefilden der
+Bergwelt«.</p>
+
+<p>Weil Peter Berner ein geschickter Agent war, so kam er rasch in gute
+Verhältnisse; und weil Peter Berner ein so unbändiger Naturschwärmer
+war, so kam er auch allemal rasch wieder in die kümmerlichen Umstände
+zurück.</p>
+
+<p>Einst sollte seine Sehnsucht nach den Höhen, nach dem Ausblick ins
+weite, liebliche Land, sein Drang, aus dem Bereiche des städtischen
+Staubes, »des anmaßenden und hohlen Pöbels aller Stände« zu kommen,
+eine seltsame Erfüllung finden.</p>
+
+<p>Der französische Luftschiffer Godard kam in unsere Stadt. Sofort bot
+Peter Berner dem Manne alle seine Dienste an, wenn ihm dagegen die
+freie Mitfahrt in die Lüfte gestattet werde. Seine Tätigkeit für
+diese Sache war erstaunlich; er schlichtete alles Nötige bei den
+Behörden, besorgte den Platz der Auffahrt, die Ausbesserung des durch
+frühere mißlungene Fahrt und die Reise geschädigten riesigen Ballons,
+besorgte die Füllungsarbeiten, hatte den ganzen tausendgestaltigen
+Reklameapparat der Stadt in die klapperndste Bewegung gesetzt — und
+daß die weite Wiese die herbeiströmende Menschenmenge kaum zu fassen
+vermochte, es war sein Werk.</p>
+
+<p>Man hatte den guten Peter noch niemals so in seinem Elemente gesehen.
+Er schleppte Holz zur Feuerstelle, wo die Luft erwärmt wurde, er
+spannte die Stricke an, er machte den Korb zurecht, und zwar mit einer
+Fertigkeit, die den Luftschiffer selbst zur Bewunderung hinriß, so
+daß er in seinem gebrochenen Deutsch ihn sogleich für seine Reisen<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span>
+als Helfer warb. — Nun gab es aber unter den Zuschauern Leute, die
+ihr Geld nicht dafür gezahlt haben wollten, daß sie den Peter Berner
+glückselig gen Himmel fahren sehen könnten, sondern dafür, daß sie das
+Napoleongesicht mit einer noch längeren Nase erblicken sollten. Wie es
+zuwege kam, konnte nicht erhärtet werden, aber auf einmal wehte von
+einer Seite des schier völlig gefüllten Ballons ein lustiger gelber
+Rauch auf, und im selben Augenblick sank das bauchige Ungeheuer in sich
+zusammen.</p>
+
+<p>Zuerst schlug Peter Berner die Hände zusammen und rief alle Heiligen
+an. Dann, als es sich herausstellte, daß der Ballon an seinen
+Brandwunden verloren sei, begann er zu rasen. Mit geballten Fäusten
+rannte er umher, warf Holzstücke, warf Steine in das Feuer, hastete
+suchend nach dem Missetäter, fiel dann wieder Monsieur Godard um den
+Hals und weinte laut. Die Zuschauer unterhielten sich köstlich.</p>
+
+<p>Als Peter wieder zur Besinnung kam, rief er in die Menge hinein, die
+Vorstellung sei noch nicht aus; wenn sie ihn steigen lassen wollten,
+so sollten sie es nur tun! Hierauf nahm er seinen weißen Zylinder
+in die Hand, und mit feuchten Augen ging er Geld sammeln für das
+verunglückte Luftschiff. Da flogen die Papierfetzen nur so in den Hut,
+denn im Grunde tut die Welt einer guten Seele doch mehr zulieb', als
+sie sich selber gestehen mag. Die Sammlung wurde in den nächsten Tagen
+fortgesetzt durch einen öffentlichen Aufruf, in dem Berner an die
+»<em class="gesperrt">edlen</em> Menschenherzen« klopfte, seinen <em class="gesperrt">teuren</em> Freund, den
+so schwer geschädigten Luftfahrer, der »zur Ehre Gottes und zum Heile
+der Menschen die <em class="gesperrt">unbeschreiblichen</em> Wunder der <em class="gesperrt">großartigen</em>
+Natur erforschen wollte«, nicht zu verlassen.</p>
+
+<p>In wenigen Wochen nachher war Godard instand gesetzt,<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> einen neuen
+Ballon zu bauen, mit welchem er endlich an der Seite seines Gönners und
+Freundes Peter Berner eine glückliche Fahrt tat.</p>
+
+<p>Berners Beschreibung dieser Fahrt ist in Druck gelegt worden, sie
+spricht in stets gesperrten fetten Lettern von der »<em class="gesperrt">unbeschreiblich
+herrlichen</em> Pracht, der über <em class="gesperrt">alle Maßen großartigen</em>
+Aussicht und dem <em class="gesperrt">furchtbaren</em> Schwindel, der einen auf dieser
+<em class="gesperrt">unendlichen</em> Höhe erfaßt.«</p>
+
+<p>An Kaufmann Steinbacher in unserer Stadt hatte Peter einen Freund,
+der nicht, wie andere, mit ihm sein Spiel trieb, der das goldene Herz
+mit Kennerblicken wog und schätzte. Dieser Mann wußte den Naturfreund
+von seinen aeronautischen Plänen abzubringen und vermittelte ihm eine
+Agentschaft für steierischen Bauernloden, die ihm den Verkehr mit den
+Landleuten und der Natur von neuem erschloß.</p>
+
+<p>Der Luftschiffer zog nach stürmischen Umarmungen und heißen Küssen
+seitens Berners von dannen, und Berner zog ins Gebirge.</p>
+
+<p>Von Zeit zu Zeit las man im Inseratenteile unserer Blätter Aufrufe, wie
+folgenden:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+»<p class="center"><em class="gesperrt">Aufruf!</em></p><br>
+
+<p>Anläßlich der bevorstehenden <em class="gesperrt">Feiertage</em> sehe ich es als
+meine <em class="gesperrt">heiligste Pflicht</em> an, alle <em class="gesperrt">Naturfreunde</em>,
+<em class="gesperrt">Bergbesteiger</em>, wie nicht minder alle <em class="gesperrt">Ausflügler</em> auf die
+<em class="gesperrt">herrliche</em> prächtige <em class="gesperrt">Perle</em> unseres Heimatlandes, auf das
+<em class="gesperrt">Paradies Steiermarks</em>, (z. B.) auf <em class="gesperrt">Deutsch-Landsberg</em>, als
+das <em class="gesperrt">würdigste Ziel</em> eines Touristen, aufmerksam zu machen und
+sie aufzufordern, diesem <em class="gesperrt">wahrhaft gelobten Lande</em> zuzuwallen.
+Dort, umgeben von den <em class="gesperrt">herrlichsten Bergen</em>, fühlt man sich frei
+und dankt dem</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+<p>Schöpfer, der all das <em class="gesperrt">Herrliche</em> geschaffen. Drum auf, nach
+Deutsch-Landsberg, wo nicht nur für die <em class="gesperrt">Seele</em>, sondern auch für
+den <em class="gesperrt">Leib</em> gesorgt ist durch die vortreffliche <em class="gesperrt">Küche</em> und
+den ausgezeichneten <em class="gesperrt">Keller</em> im Brauhause.</p>
+
+<p class="mright5"><em class="gesperrt">Peter Berner</em>, Tourist.«</p><br>
+</div>
+
+<p>Selten und seltener wurde der Mann, der nun — wie er in der
+Beschreibung seiner Luftreise dartat — schon mehr als »<em class="gesperrt">fünfzig</em>
+Lebensjahre sein eigen nannte«, in der Stadt gesehen, immer
+unregelmäßiger besorgte er die Handelsinteressen seiner Firmen, und
+endlich blieb er ganz aus. Sonst war Peter seiner absonderlichen
+Wesenheit wegen allemal unschwer auffindbar gewesen, diesmal aber
+vergingen Monate, ohne daß eine Spur von ihm zu entdecken war. In den
+Blättern blieben die Aufrufe aus; der Hausherr, bei dem Peter sich
+die Kammer gemietet hatte, warf die bescheidenen Armseligkeiten ins
+Versatzamt, oder sonstwohin, und man mußte annehmen, daß der »Tourist«
+auf einer seiner Hochtouren verunglückt sei. Da ging im Spätsommer
+desselben Jahres in der Stadt das Gerede um, draußen hoch in den
+Bergen, im Dorfe des heiligen Oswald, sei ein Bauernknecht gesehen
+worden, der zwar nicht an Gewandung, wohl aber im Angesichte und allem
+Gebaren dem verschollenen Peter Berner aufs Haar ähnlich sehe.</p>
+
+<p>Kaufmann Steinbacher machte sich auf den Weg in das entlegene
+Bauerndorf, dort fand er nach vielem Suchen seinen Mann hoch oben an
+einer Feldlehne, wo dieser hinter einem Ochsenfuhrwerk vermittelst
+einer Eisenkrampe mit nervöser Hast vom Karren Stalldung auf die Erde
+kraute. Sein Anzug bestand aus arg zerfahrenen Bauernkleidern, wovon
+die Hose zu schlotternd, die Joppe zu knapp war. An den Füßen trug er
+nichts als »Schuh von Menschenhaut«,<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> wie er die Barfüße nannte, auf
+seinem Haupte aber saß — von braunen Stallfliegen umsummt — der weiße
+Zylinder.</p>
+
+<p>»Peter!« rief der Kaufmann, »Peter, aber was treibst du da?«</p>
+
+<p>»Grüß' dich!« knurrte Peter, ohne von seiner Arbeit abzulassen, befahl
+dann den Ochsen, daß sie ein paar Schritte weitergehen sollten und er
+ein neues Häuflein vom Karren krauen könne.</p>
+
+<p>»Bist du endlich toll geworden, mein lieber Freund!« rief der Kaufmann.
+Da warf Peter die Krampe weg, schlug die Arme aus. »Toll geworden! Toll
+geworden!« sprudelte er in seiner schnarrenden Weise, »weil ich aus dem
+übelriechenden Steinhaufen geflohen bin, den ihr Stadt nennt, ihr armen
+Teufel! Weil ich eure Windbeuteleien verlache, die ihr Kulturleben
+heißt, ihr armen Teufel! Weil ich in der schönen Natur leben will,
+in der frischen Luft, unter dem freien Himmel Gottes, den ihr nicht
+ertragen könnt, ihr armen Teufel! Da er die blendende Sonne hat, die
+gewaltigen Stürme hat, darum, sagt ihr, toll geworden?! O, du armer,
+armer Knabe, komm an meine Brust, laß dich küssen!«</p>
+
+<p>Damit stürzte er dem Freunde ans Herz. Der Kaufmann schämte sich
+unbändig, aber es war nicht anders, denn Peter weinte wie ein Kind.</p>
+
+<p>So hatte dieser wunderliche Mann, dessen Existenz nach allgemeiner
+Schätzung eine sorglose, behagliche gewesen, solche von sich geworfen;
+so hatte er sich als Bauernknecht verdingt aus Liebe zur Natur. Willig
+hatte er die schwersten Arbeiten, denen sein Körper nicht gewachsen
+war, verrichtet, die ungewohnte Nahrung, das schlechte Nachtlager
+ertragen und die Roheiten der Dorfleute, die ihn freilich nicht so
+anwiderten, weil sie ja »Natur« waren gegenüber<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> den giftigen Bosheiten
+und süßelnden Falschheiten der Städter.</p>
+
+<p>»Stadtdodel!« schrie ein Junge vom Hof herüber und meinte Peter. »Ja,«
+sagte dieser, zum Kaufmann gewendet, »das muß ich mir gefallen lassen,
+weil ich's einmal gewesen bin, weil ich heute noch städtische Unarten
+an mir habe. Stadtdodel! Hast schon recht, Franz! Mordsbub!«</p>
+
+<p>Es bedurfte viel, den Mann, den sie auf dem Dorfe geradezu verhöhnten
+dafür, daß er ihnen seine Kraft weihte, sein Herz gebracht hatte! — es
+bedurfte viel, um ihn von den Fluren des heiligen Oswald loszubringen
+und wieder zu einem halbwegs zivilisierten Menschen zu machen. Es
+bedurfte vielen Zuredens, vieler List und besonders vieler Seife.</p>
+
+<p>Aber endlich sah man den Napoleon doch wieder durch die Stadt haspeln,
+hörte im Gasthause wieder seinen scharfen Laut, wie er in rasch
+herausgestoßenen Worten unermüdlich das ländliche Leben beschrieb, bis
+ihm vor Begeisterung und Rührung die Stimme brach.</p>
+
+<p>Und nun zu dieser Zeit, da seine Schwärmerei für Idylle und Einfachheit
+den höchsten Grad erreicht hatte, tat er etwas, was er tun mußte, weil
+es im Schicksalsbuche solcher Menschen steht, mit heiligem Schwunge
+stets das Ungereimteste zu vollbringen. Peter Berner ging nach Paris.
+Freilich nicht die Weltstadt lockte ihn, aber der Freund rief ihn,
+Godard der Luftschiffer telegraphierte aus Paris, er möge so bald als
+möglich zu ihm kommen.</p>
+
+<p>»Der Mann ist in Not!« rief Peter aus, »ich muß ihm zu Hilfe kommen!«
+Mit einem Ruck waren alle kommerziellen Fäden, die ihn bereits wieder
+umgarnt hatten, zerrissen, er reiste nach Paris.</p>
+
+<p>Dort fand er seinen Freund in einem Zustand, von<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> dem er bis ins
+Innerste erschrak. Godard war reich geworden. Mit den Luftballon, den
+ihm Peter einst erbettelt, hatte er sich ein Vermögen erworben, den
+Ballon dann in die Rumpelkammer geworfen und sich in das Weltleben
+gestürzt, an dem er nun mit allen Fasern eines lustigen Franzosen hing
+und sog.</p>
+
+<p>»Was willst du mich? Was soll ich da?« schrie ihn der empörte Berner
+an, als ihn jener in die prunkenden Gemächer seines Hotels führte.</p>
+
+<p>»O, Freund! Freund!« rief der Franzose, »ik dich aben lassen holl,
+<em class="antiqua">pour remercier</em>, ik dir danken, <em class="antiqua">ma fortune</em>, <em class="antiqua">ma
+prospérité</em>, mein Sukunft! Ik dir wollen erweisen <em class="antiqua">la joie</em>,
+<em class="antiqua">l'honneur</em>, <em class="antiqua">l'amitié</em>! Oh, Freund, <em class="antiqua">pardon</em>, daß ik
+sprecke <em class="antiqua">en ma</em> Muttersprak, es jauchzen mein 'erz zu können dich
+umarm! Ik grüßen, ik grüßen dich!«</p>
+
+<p>Godard gab hierauf zu Ehren der Anwesenheit seines Freundes ein
+glänzendes Fest, überhäufte ihn mit Ehren. Der Mann, der ein paar
+Monate früher in einem steierischen Gebirgsdorfe Stalldung vom
+Karren gekraut hatte, war jetzt Mittelpunkt einer der feinsten,
+geistsprühendsten Gesellschaften der Seinestadt. Die französische
+Liebenswürdigkeit, mit der ihm das Fest in großem Stile geboten
+wurde, berückte sein leicht erregbares Gemüt; das Weltleben, das er
+bisher verachtet hatte, umgarnte ihn plötzlich mit allen Zaubern
+und Reizen einer schönen, koketten Frau, die ihn »zu einer nie
+dagewesenen Begeisterung« hinrissen. Nach seiner Rückkehr aus Paris
+erzählte er uns strahlenden Angesichtes, daß er bei jenem Feste »mit
+<em class="gesperrt">tiefbewegter</em> Stimme eine <em class="gesperrt">brillante</em>, von <em class="gesperrt">tosendem</em>
+Beifall oft unterbrochene Rede« gehalten habe, in der er für die
+»<em class="gesperrt">höchst ehrende</em>, eines Königs würdige Auszeichnung« dankte.</p>
+
+<p>Der Aufenthalt in Paris schien für einige Zeit der<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span> Mittelpunkt seines
+Lebens geworden zu sein. Wohl pries er die Natur wie vor und eh, aber
+er stand nicht mehr mit jener weltüberlegenen Lust auf dem hohen Berge,
+sah nicht mehr durch die glückselige Kindesträne den Aufgang der Sonne.
+Es beunruhigte ihn — Paris. Es war ein Zwiespalt in ihn gekommen,
+dessen er sich selbst kaum bewußt ward, der aber tückisch an seinem
+Gemüte nagte. — Das Gedächtnis seines Freundes hielt er fort und fort
+über alles hoch in Ehren und das großmütige Geschenk, eine goldene,
+auf seinen Namen geprägte Erinnerungsmedaille, mit dem der dankbare
+Franzose sein Fest gekrönt hatte, war und blieb sein Stolz und seine
+Freude bis an sein Ende.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_lange_Rauk">Der lange Rauk.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Von meinem Fenster aus gegen Osten hin sehe ich eine Hochebene, auf
+der lauter Wald steht. Junger, gemischter, stundenlanger Nadelwald.
+An klaren Tagen werden im fernsten Hintergrunde blasse Berge
+sichtbar, sonst aber scheint sich mein Wald ins Blaue und Unendliche
+zu verlaufen. Hie und da stehen über das jüngere Baumgeschlecht
+breitkronige oder spitzige Stämme aus den vorigen Jahrhunderten empor
+wie Kuppeln oder Kirchtürme in einer Stadt.</p>
+
+<p>Besonders ist es ein Baum, der weit draußen im blauenden Meere des
+Waldes steht, von unten hinauf buschig ist, sich aber allmählich in
+eine schlanke, scharfe Nadel aufspitzt — nicht anders zu sehen als der
+Stefansturm, wenn man von einer Anhöhe der Umgebung hineinblickt auf
+Wien. Wenn ich dann noch ein Übriges tue, nämlich den Kopf niederbeuge
+und zwischen die Beine durchblicke hin auf den Wald, da hat mein
+solcher Stellung ungewohntes Auge das schönste Schattenbild von Wien,
+wie es mit seinen Zinnen und Türmen daliegt. Nur daß die Einzelheiten
+dort der Stadtdunst verhüllt und hier der Höhenrauch. Aus Wien ist es
+mir noch nie gelungen, einen Wald zu schaffen, aber aus diesem Walde
+baue ich Euch dergestalt ein Wien, so oft ihr wollt. Und wenn ich meine
+beschauliche Stunde habe, so setze ich mich in einen Winkel meiner
+Stube, so daß mir das Waldmeer mit dem Stefansturme im Fenster liegt,
+und denke: das ist das ausgestorbene Wien; man hört keinen Laut, sieht
+kein Rauchwölklein aufsteigen aus seinen Giebeln. Und was war das einst
+für Lust und Leben in diesem Wien! Aber die Lust ist erstickt in der
+Begier, das<span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span> Leben ist versunken in seinen Sünden. Nur die Formen der
+Stadt ragen noch starr und düster.</p>
+
+<p>Ein frevelhaftes Träumen! Wie kann man den reinen, friedensvollen,
+tausendfältig lebenden, in hundert klaren Quellen sprudelnden, in allen
+Wipfeln säuselnden und von Vogelsang erklingenden Wald — wie kann und
+darf man ihn vergleichen mit einer großen Stadt! — Aber wenn ihr nur
+erst kommt und seht, besonders diesen Baum: es ist der leibhafte Turm
+von Sankt Stefan.</p>
+
+<p>Des ward ich mir endlich klar, eine uralte Fichte muß es sein, an der
+Sturm und Blitz Wipfel und Astwerk zerrissen, den Stamm von oben herab
+kahl gehauen, und der in seinem Schaft und in seinen tieferen Kronen
+doch zu gewaltig ist, als daß ihn Sturm und Blitz vernichten konnten.
+So steht er da, ein vielhundertjähriger Geierhorst, und die ältesten
+Leute der Gegend sagen mir, ihres Erinnerns habe der Baum nie anders
+ausgesehen als heute.</p>
+
+<p>In früheren Jahren, da ich den Wald durchstreifte, habe ich mich
+bemüht, den Baum aufzufinden und an seinen Fuß zu gelangen. Es war
+mir aber nie gelungen. Entweder ich verlor die Richtung oder kam in
+Dickicht, Gefällholz, Struppwerk, auf grundlosen Moorboden, so daß ich
+umkehren mußte. Es gibt Gründe darin, auf die jahraus jahrein kein
+Sonnenstrahl fällt, aber ich weiß es wohl, daß der Eigentümer schon
+sehnsüchtig die Jahre zählt, bis er »stocken« wird. Manchem prächtigen
+Tier begegnet man im Wald, aber auch manchem stattlichen Jäger. Mit
+dem Zauber des Urwaldes wäre es also nicht sehr weit her, und doch
+war es wie verhext, daß — so sehr mir außerhalb des Waldes stehend
+die Richtung klar war — ich in ihm wandelnd meinen Stefansturm nicht
+finden konnte. Es ist aber auch in der wirklichen steinernen Stadt
+Wien Etlichen nicht<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> anders ergangen. Ich fand manchen mächtigen Baum,
+der hoch über die andern hinausstand, der wild und zerrissen war und
+von dem ich mir einbildete, er sei's. Bei näherer Prüfung war er's
+allemal nicht. Ich hatte mich auch schon mehrmals im Walde verirrt,
+so daß mir einfiel, was die Leute sagen, es wären Irrwurzeln drin,
+und wer auf eine solche trete, der finde gar nicht mehr aus dem Walde
+hervor, sondern müsse immer im Kreise herumgehen, so lange bis ihm
+ein Sonntagskind begegne. Die Erfahrung lehrt aber, daß man sich mit
+Sonntagskindern auch verirren kann, besonders wenn sie hübsch sind.
+— Dabei hatte mir das Suchen einen solchen Reiz, daß ich mich nie
+entschließen konnte, einen Führer zu nehmen. Und so sind elf Sommer
+vergangen, an denen ich oftmals nach Sankt Stefan im Walde pilgerte,
+ohne ans Ziel zu gelangen.</p>
+
+<p>Im heurigen Frühsommer, als auf den freien Matten die Hitze zu groß
+ward, als auf den Wiesen die klaren Bächlein im Sande versickerten und
+das kurze Federgras zu gelbem Heu welkte noch auf den Wurzeln, als
+fortwährend die trockenwarmen Winde hinfegten über das fahle Erdreich
+und die Wolken des Himmels aufsogen, als in meiner Nachbarschaft sogar
+ein Brunnenständer samt Trog niederbrannte — da war keine Freude mehr
+auf freien Weiten, da hielt ich mich die längste Zeit im Walde auf. Man
+konnte viele Stunden im Moose liegen und bekam keinen Schnupfen; die
+Mückenschwärme mit dem prickelnden Gifte existierten fast nicht, dafür
+drückte die heiße Sonne, die über dem Walde lag, allen Wohlduft der
+Harze zu Boden und das fliegende und kletternde Getier kam auch herab
+gegen den kühleren Erdengrund und trieb sein munteres Wesen vor meinen
+Augen. So war es ein wonniges Sein.</p>
+
+<p>Manchmal begegnete ich einem Waldbruder, nicht viel<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> seltener einer
+Waldschwester — Früchtesammler, auch arme Leute, denen draußen, »weil
+des Gesindels schon allzuviel ist«, die Tür vor der Nase zugeworfen
+wurde, und die gekommen waren, um in unseres Herrgotts schattigem
+Speisesaal zu essen. Am merkwürdigsten von all diesen wunderlichen
+Leuten war mir der lange Rauk. Ich kenne ihn schon seit ein paar
+Jahren, er bringt bisweilen Beeren ins Dorf. Ein hochschlanker,
+blatternarbiger Geselle ist's, mit einem schwarzen Bart und einem
+langen braunen Lodenmantel, den er um den Leib zu werfen weiß, daß er
+darin schier nicht anders aussieht, wie der heilige Apostel Jakobus.
+Den hat nicht der heiße Sommer dürr gemacht, sondern die Faulheit, er
+will nicht arbeiten. Die Leute sagen, er wäre so häßlich, der lange
+Rauk; ich sage, er wäre das Entzücken der Maler.</p>
+
+<p>Als ich denn auf meinen diesjährigen Waldgängen öfter mit dem Rauk
+zusammentraf, gab ich ihm den Rat, er möchte sein Geschäft aufgeben.</p>
+
+<p>»Welches Geschäft?« fragte er.</p>
+
+<p>»Das Hungerleiden.« Möchte es aufgeben, möchte in Malerschulen gehen
+und sich abmalen lassen.</p>
+
+<p>»So!« antwortete er und ich merkte, wie er innerlich empört war. »So!«
+sagte er.</p>
+
+<p>»Dort braucht Ihr nichts, als dazusitzen,« belehrte ich, »oder auch an
+der Wand zu lehnen, wie eben die Herren wollen; es sind unterhaltsame
+Burschen, diese Maler; mancher auch sagt gar nichts und ist ganz
+Pinsel. Ein Pfeifel Tabak spendieren sie mitunter und zahlen auch noch
+das Tagwerk, achtzig Kreuzer, die Verschwender gar einen Gulden und
+mehr.«</p>
+
+<p>»So!« antwortete er tief gedämpft, »so!« sagte er. Und fuhr dann fort:
+»Ein Kerl, dem's schon übel genug ist, daß er auf seinem heustanglangen
+Geripp' ein anschieches G'friß<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> (häßliches Gesicht) herumtragen muß
+auf der Welt! Wenn ich mich noch ducken kunnt! verstecken kunnt und in
+der Kirchen nit so höllisch lang hinausstehen tät' über die anderen
+Köpf, just wie die Rauberfeichten im Ziselwald! Zum Hasenschrecker
+möchten sie mich gern brauchen auf ihren Krautäckern, wenn sie mich in
+die Erden stecken kunnten, wie einen Krautscheuchstecken und nit Angst
+hätten, daß ich ihnen selber die Gebel tät' fressen. Und so ein Kerl
+soll sich noch abmalen lassen? Sollen ein paar Jahrl warten, bis von
+meinen Knochen Haut und Haar weg ist, nachher bin ich so schön wie die
+anderen im Beinhaus!«</p>
+
+<p>Es stellte sich heraus, daß der lange Rauk sich nur darum von den
+Leuten und ihren Arbeiten zurückgezogen hatte, weil sie ihn seiner
+Häßlichkeit wegen verhöhnten.</p>
+
+<p>»Ich ertrag's nit!« sagte er, »ich hab' Weiberhoffart in mir, die
+hab' ich von meiner Mutter geerbt. Faulheit! sagt vor etlichen Tagen
+der Herr Meigel aus dem Flecken zu mir. Bei sich selber nennt er's
+Ruhestand. Ich weiß recht gut, daß man Gott den Herrn kniend verehrt
+und den Teufel liegend. Oh, ich fürcht' mich allzusehr vorm Stinken,
+als daß ich nichts tun möcht'. Mach's freilich nit so wie die andern
+Leut', die nur desweg arbeiten, damit sie Mittel kriegen zum Faulenzen.«</p>
+
+<p>»Aber ein Krügel Wein bisweilen will doch verdient sein!«</p>
+
+<p>»Was hilft mir der Wein, wenn ich ihn im Wirtshaus nit mit Frieden
+trinken kann! Allerweil: Der lange Rauk! Der schieche Rauk! Der dürre
+Rauk! Und — der dumme Rauk! Das sag' ich mir selber, der dumme
+Rauk, der sich unter die Leut' setzt und seines Vaters einzigen Sohn
+ausspotten laßt!«</p>
+
+<p>Was die Wirtshausgesellen sagen, meinte ich hierauf,<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> das könne ihm
+ziemlich gleichgültig sein; wichtiger sei es, was die Weibsleute von
+ihm dächten.</p>
+
+<p>»O Jeß, die Weibsleute!« rief er aus. »Ihrer zehn oder zwölf Jahr' lang
+hab' ich mich foppen lassen, alsdann hab' ich genug gehabt.«</p>
+
+<p>Das sei nichts, meinte ich, die schönsten und tüchtigsten Männer würden
+ihr Lebtag lang gefoppt.</p>
+
+<p>»Das schon,« sagte der Rauk, »und die schönsten und tüchtigsten Männer
+foppen wieder. Von einem Kerl wie unsereiner <em class="gesperrt">laßt</em> sich aber
+keine foppen, und das verdrießt mich.«</p>
+
+<p>Ob er ein Hiesiger wäre?</p>
+
+<p>»Vaters halber ist's schon möglich,« antwortete er, »der Pfarrer sagt,
+er weiß nichts davon — heißt das, im Kirchenbuch. Mit den Musikanten
+bin ich umgegangen, aber wie mir die Zähne ausgefallen sind, hat das
+Blasen ein End' gehabt. Hab' ich mich halt im Ziselwald eingenistet,
+und muß alle Tag' ein bissel achtgeben, daß ich nit verhunger'.«</p>
+
+<p>Wo er seine Wohnung habe?</p>
+
+<p>»Gleich können Sie ihn sehen, den Turm von meinem Gschloß!« rief er,
+und in der Tat, als wir noch einige hundert Schritte zwischen jungem
+Fichtenwald hingestrichen waren, stand uns über dem Gewipfel her das
+Bild entgegen. Fast schon in der Nähe ragte aus dem Schober eines
+wildmassigen finsteren Astwerks die knorzige Nadel empor. Es war mein
+Stefansturm.</p>
+
+<p>»Das freut mich,« sagte ich, »daß wir auf einmal bei diesem Baume sind.«</p>
+
+<p>»Wir sind noch nit bei ihm,« entgegnete der Rauk. Und wahrlich,
+wir hatten noch eine halbe Stunde oder länger zu tun, bis wir ihn
+erreichten. Die Bäume standen sehr dünn, waren verkrüppelt und hatten
+Flechtenbärte, der Boden<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> hatte eine blaßgrüne Moosdecke, auf der
+gruppenweise Binsen mit ihren weißwolligen Federbüschen standen, und
+Sauerklee, Seidelbast und Wildfarnkraut. Der Waldsteig, den mein
+Begleiter früher einzuhalten wußte, obwohl er streckenweise kaum zu
+erkennen war, hatte sich ganz verloren, und mit jedem Schritte sanken
+wir bis über die Knöchel in den schwarzen, moorigen Ungrund. Der Rauk
+schleppte einen Zipfel seines Mantels hinter sich nach wie ein König,
+doch sank er nicht so tief ein als ich, weil er breiteres Schuhwerk
+hatte und das Gehen auf solchem Boden besser verstand.</p>
+
+<p>»Sich fein gering machen!« rief er mir immer zu. Wenn ich nur auch
+gewußt hätte, wie man das anstellt. Leicht und vorsichtig auftreten,
+das kann man, doch der Rauk behauptete, man könne mehr. Man könne sich
+mit gutem Willen um etliche Pfunde leichter machen; der feste Willen
+hebe einen hoch, wie der Suppendampf den Hafendeckel. Er habe schon
+Wetten gewonnen, indem er sich in derselben Minute mehrmals wiegen
+gelassen auf der Fleischhauerwage, und ganz verschiedenes Gewicht
+gegeben. »Gebt acht, jetzt mach' ich mich schwer!« sagte er, und sank
+auf der Stelle tiefer ein.</p>
+
+<p>Ich hätte ihm seine Kunst aufgelöst, wenn Zeit und Stimmung dazu
+gewesen wäre. Einstweilen mußte ich trachten, einen so starken Willen
+zu entwickeln, daß er mich zur Höhe hob, »wie der Suppendampf den
+Hafendeckel«, und wir weiter kamen.</p>
+
+<p>Endlich blieben wir aber doch stecken. Bis zu den Knien im Morast, so
+rasteten wir uns aus, und der lange Rauk lachte.</p>
+
+<p>Er hatte leichter lachen als ich, denn bis er von unten bis oben
+versank, das brauchte länger, als bei mir Durchschnittsmenschen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span></p>
+
+<p>Ich war etliche Schritte hinter ihm steckengeblieben, wir konnten uns
+nicht mit den Stecken, geschweige mit den Armen erreichen.</p>
+
+<p>»Der größte Spaß wäre,« rief er, »wenn jetzt die Geier kämen!«</p>
+
+<p>»Welche Geier?«</p>
+
+<p>»Die auf der Rauberfeichten ihre Nester haben und erst im vorigen Jahr
+einem Hirschen, der hier steckengeblieben ist, das Fleisch aus dem Leib
+gehackt haben.«</p>
+
+<p>»Vergelt's Gott für Euren schönen Zuspruch!« sagte ich.</p>
+
+<p>»Oder die Hornussen, die gar nit weit von da ihre Bruten haben und von
+den Mardern gern wild gemacht werden. Nachher stechen sie, die Vieher;
+ihrer sieben erstechen ein Roß. Grausam stechen sie!«</p>
+
+<p>Da ich wirklich das Schwirren eines solchen Tierchens bemerkt zu haben
+glaubte, so hatte ich Gelegenheit zu erfahren, was ein fester Wille
+vermag. Ich arbeitete mich mit Macht heraus, um dann wie ein Krokodil
+auf dem Bauche zu kriechen.</p>
+
+<p>»Aha, Sie haben es!« lachte der Rauk schnaufend und knetete an
+sich herum; »ja, für den Notfall macht man's so. Passiert mir aber
+wunderselten, daß ich just an die Stelle komm'. Die hoffärtigen Engel
+aus dem Himmel sind durch das große Loch, das hier gewesen, in die
+Höll' gefahren. Später hat's der Teufel mit Morast zugestopft.«</p>
+
+<p>Mittlerweile war auch er herausgekommen. Wir gelangten allmählich auf
+festeres Erdreich — und nach wenigen Minuten standen wir am gewaltigen
+Baum.</p>
+
+<p>Ringsum ist eine Art von Anger mit Sumpf, in welchen die Arme der
+Wurzeln ausgreifen, teils unter der Moosdecke verborgen, teils über
+derselben in hundert Knien und Verzweigungen ausklammernd, teils morsch
+und rindig, teils hart<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> und weiß wie Elfenbein. — Die anderen Bäume
+halten sich in respektvoller Ferne, die stattlichsten von ihnen reichen
+dem Koloß bis zum untersten Astwerk empor. Der Stamm ist zerklüftet,
+teilweise entrindet und fast wie ein Strick gedreht. Ich glaube, daß
+ihn vier Männer nicht zu umspannen vermögen. Viele Arme des Geästes
+sind für sich schon Baumstämme; einzelnes Geknorre ist kahl und fahl
+wie Knochen, anderes ist so dicht in ein dunkelgrünes Reisiggefilze
+eingewoben, daß es der Blick nicht durchdringt und man über sich nur
+eine dunkle Masse sieht, in der die korbartigen Horste der Raubvögel
+sind und aus der mancher Strunk seine abenteuerlich geformten Glieder
+in die Weite reckt.</p>
+
+<p>Ich wunderte mich, daß dieser Baum, der ein ganzes Dorf über den Winter
+mit Brennholz versehen könnte, noch nicht gefällt worden sei. »Sie
+getrauen sich nicht über ihn,« sagte der Rauk, »der fällt nicht wie
+andere!«</p>
+
+<p>Zur Stunde fächelte und rauschte der Wald in einem lebhaften Winde.</p>
+
+<p>An der Riesenfichte regte sich nichts, alles starr, nur ein dumpfes
+Sausen war zu hören hoch im Astwerk. Über demselben ragt der kahle
+Schaft, vielfach zerrissen und dennoch urkräftig in die Einsamkeit der
+Lüfte auf. Die Gestalt ist wuchtig und viel gegliedert, aber der spitze
+Schaft über dem Kronenwerk schien mir hier kaum hoch genug, um für die
+Ferne die schlanke Nadel des Stefansturmes vorzustellen.</p>
+
+<p>Fast schade, daß der Name: »Rauberfichte« so harmlosen Ursprungs ist.
+Zusammenkünfte von Räubern an diesem Platze, Räubergelage im Schatten
+des Baumes, wilde Mordgesellen ihre Beute teilend und wie der Rauch vom
+Feuer des üppigen Mahles langsam ins Astwerk aufsteigt und der Gegend
+weitum die Schrecken verkündet, oder ein paar Erzräuber baumelnd an den
+Ästen — und wäre es auch<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> nur in Sage und Märchen — würde mir den
+Baum recht aufputzen. Dergleichen ist nicht.</p>
+
+<p>Draußen im Tale stehen zwei Bauernhäuser mit dem Vulgärnamen: Die
+Rauber. Die Gründe des »oberen Raubers« erstreckten sich einst weit in
+den Wald bis zur Stelle, wo die alte Fichte als Grenzbaum steht, die
+daher die Benennung: »Rauberfichte« erhalten hatte.</p>
+
+<p>Der Rauk war langsam um den Baum gegangen und jetzt auf einmal
+verschwunden. Durch eine Höhlung zwischen dem Gewurzel war er ins
+Innere geschlüpft. Ich guckte ihm nach.</p>
+
+<p>Im hohlen Raum war ein Lager von Binsenstroh, eine Holzaxt und ein
+Sack, halbgefüllt mit Harzrinden. Die Wände der Höhlung waren teils
+verkohlt, als würde auf diesem häuslichen Herd auch bisweilen Feuer
+unterhalten.</p>
+
+<p>Die Höhlung ging hoch in den Baum empor, und wenn man mit dem Stock
+hinauffuhr, so erreichte man keine Decke, und an den Wänden rieselte
+Moder nieder und Käfergezücht.</p>
+
+<p>So sieht es mit dem Innern dieses Baumes aus. Aber die Haut und Hülse
+ist noch dicker, als mancher fünfzigjährige Stamm, und vermittelt Mark
+und Saft der Fichtenkrone, die hoch auf solchem Holze wuchert.</p>
+
+<p>»Das ist das Haus des langen Rauk,« sagte der lange Rauk. »Wir haben
+auch beide Platz herinnen, wenn Sie Ihre Füße rein machen wollen. Wir
+machen Feuer, daß die Strümpfe trocknen mögen.«</p>
+
+<p>»Ist Euer Haus gegen Feuer assekuriert?« fragte ich.</p>
+
+<p>»Lebendige Häuser brennen nicht nieder,« war die Antwort.</p>
+
+<p>»Von außen gesehen wäre es das stolzeste Wohnhaus im ganzen Land.«</p>
+
+<p>»Ist aber nur meine Werktagsresidenz,« berichtete er,<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span> »und nur wenn
+ich am Abend diesem Baume näher bin, als einer Köhlerhütte, übernachte
+ich in ihm. Weiter ist's nichts.«</p>
+
+<p>So hat sich die ganze Sache mit dem Stefansturm, mit der Rauberfichte,
+mit dem Rauk und seiner Abenteuerlichkeit als etwas hohl erwiesen. Der
+Schlupfwinkel eines Pechschabers.</p>
+
+<p>Ich kehrte an jenem Tage spät und müde vom Walde heim.</p>
+
+<p>Und wenn ich nun wieder sitze in der kühlen Stubenecke, und im Fenster
+liegt das sonnenblaue Meer des Waldes mit seiner spitzen Nadel im
+Horizont, da will meiner Phantasie die alte Herrlichkeit nicht mehr
+so ganz gelingen. Aber leid täte es mir doch, wenn eines Tages ein
+Rauchqualm aufstiege oder eine Feuersäule emporlohte in stiller Nacht
+— und mein schlanker Turm in sich zusammenbräche.</p>
+
+<p>»Das nit!« sagt der lange Rauk, »der Baum steht noch länger als wir
+zwei zusammen.«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Hans_Johanns_Hauptsache">Hans Johanns Hauptsache.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Wenn ich sage es war ein einzig guter rührender Mensch, so legt
+jeder das Buch hin und läuft davon. So sage ich lieber, er war ein
+Taugenichts.</p>
+
+<p>Und das war er auch.</p>
+
+<p>In den Schulen, wo er stets vorgeschriebene Marschroute hatte, da ging
+es noch an. Aber als er selbst der leitende Teil ward, als Lehrer
+in der Dorfschule, da ging es nicht mehr an. Die unterschiedlichen
+Kinder machten ihm viel zu große Sorgen, als daß er sich ihrem
+Unterrichte widmen konnte. Ob sie in der Fibel lesen konnten oder
+auf der Schiefertafel die Ziffern zusammenzählen und in einer sehr
+verläßlichen Ordnung hinschreiben, das war Nebensache. Hauptsache
+war die Gesundheit. Und so kümmerte er sich, ob das kleine Volk
+auch warme Joppen hätte und Schuhe an den Füßen, ob die Kinder wohl
+gewaschen und gekämmt wären — und wo es mangelte, da griff er flink
+zu und trachtete, beim Bäcker, beim Müller, beim Fleischer, als den
+Großen des Dorfes, für die armen Wald- und Gebirgskinder altes Gewand
+zu bekommen; er nahm auch Eßwaren und ließ durchblicken, daß solche
+Wohltaten an ihren eigenen Kindern würden vergolten werden. Die
+großmütigen Spender verstanden das so, daß — wie die Kinder der Armen
+Not an Hemden und Strümpfen hätten — die Kinder der Reichen zumeist
+Not an guten Schulnoten haben, und daß der Herr Lehrer dann wohl den
+richtigen Ausgleich treffen würde. Hans Johann sah auch wirklich
+nicht ein, weshalb er die Spenden für mittellose Kinder nicht mit
+hübschen Fleißzetteln und ausgiebigen Fortgangsklassen der<span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span> reichen
+Bürgerskinder schlichten sollte. Hauptsache war die Gesundheit. Und
+so setzte er sich auch gerne zu den Kindern auf eine Bank und gab
+ihnen Verhaltungsmaßregeln, wie sie gesund bleiben, ihren Körper
+stärken und zur Arbeit tüchtig werden könnten. Solches Bestreben war
+nicht fruchtlos und nach einem Jahre schon waren alle Kinder reinlich
+gehalten, soweit ordentlich gekleidet und von frischerem Aussehen. Der
+Bezirksschulinspektor aber konnte bei der Schulschlußprüfung nichts
+als den Kopf schütteln und die Hände ringen, und als die Kinder nach
+überstandener Plage lustig davontrollten, stellte er sich vor den
+Lehrer hin, rang wieder die Hände und rief: »Aber um Gottes willen!
+Herr Johann!«</p>
+
+<p>Sonst sagte er nichts. War auch nicht nötig.</p>
+
+<p>»Seh's eh ein,« sprach der Lehrer ganz gemütsruhig, »daß ich nicht
+recht tauge zu einem Lehrer.«</p>
+
+<p>»Wenn Sie irgendwo eine Stelle als Kindsmagd bekommen können,
+greifen Sie sofort zu.« Mit diesem wohlwollenden Rate ging der
+Bezirksschulinspektor seines Weges.</p>
+
+<p>Und der Johann des seinen. Denn er war erledigt. Aber nicht auf lange.
+In demselben Orte hatte er unschwer die Briefträgerstelle bekommen. Er
+hatte täglich über Berg und Tal zu gehen und den zerstreuten Vierteln
+die Post zu vermitteln. Das tat er auf das gewissenhafteste, und wenn
+ihm ein Bauer eine Post auftrug, für ihn im Dorf Einkäufe zu besorgen,
+oder eine Bäuerin irgend was Wichtiges zur Nachbarin zu befördern
+hatte, so tat er's bereitwillig, vergaß aber dabei manchmal, den
+Brief abzugeben. Es war zuwider, aber Besonderes daran konnte Johann
+nun nicht finden. Was pflegen sich die Leute denn zu schreiben? Daß
+sie, Gott sei Dank, soweit gesund sind, daß der oder die geheiratet
+hat oder gestorben ist, daß es sonst nichts Neues gibt und daß sie
+schön grüßen lassen. Ob die Bauern das wissen<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> oder nicht, Hauptsache
+ist, daß man ihnen mitunter eine Gefälligkeit erweisen kann. Das ging
+ein Jährchen so herum. Dann kam die Geschichte mit dem Geldbrief.
+An den Obergamshofer in Spittelberg hatte Johann einen Geldbrief zu
+bestellen. Aber der Weg dahin ist ziemlich weit, unterwegs hatte er ein
+mühseliges Bettelweib getroffen. Dem war die Fußkrücke entzweigegangen
+und so konnte es nicht recht vorwärts. Johann ging ins Wegmacherhaus
+um Werkzeug und zimmerte der Alten eine neue Krücke. Denn es war just
+des Obergamshofers Weidknecht des Weges gekommen, dem konnte er den
+Geldbrief mitgeben. »Ja richtig, Mathes,« sagte er noch, »das Blattel
+da mußt unterschreiben. Nicht können tust schreiben? Nachher mach halt
+drei Kreuzeln. Bin froh, daß du mir den Weg ersparst. Hauptsach' ist,
+daß das Mutterl da wieder auf die Füße kommt. Bleib' schön gesund,
+Mathes.«</p>
+
+<p>Einige Wochen später kam's zutage, daß der Obergamshofer keinen
+Geldbrief erhalten hatte, daß ihm aber sein Weidknecht durchgebrannt
+war. Dieses Ereignis kostete dem Briefträger allerhand und auch den
+Dienst.</p>
+
+<p>Jetzt hatte er Zeit, sich den Hauptsachen zu widmen, und merkwürdig
+— jetzt verlangte niemand danach. Ja, es kam allmählich ungefähr so
+heraus, als ob für den Hans Johann nun die Hauptsache wäre, einstweilen
+nicht zu verhungern. Er bewarb sich also wieder um einen Dienst. Das
+Steueramt im nächsten Bezirksorte suchte einen Amtsboten. Aber den
+Johann nahm man nicht an, aus Besorgnis, er würde aus Erbarmen mit den
+Parteien die Steueraufträge unterschlagen. Das Landesgericht hatte für
+einen Gerichtsarrest die Profosenstelle ausgeschrieben; der Bewerber
+Hans Johann wurde rundweg abgelehnt; der hätte keinem Arrestanten die
+Türe verschlossen gehalten nach dem Grundsatz,<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> Hauptsache bei den
+Menschen sei die Freiheit. Soweit war unser Johann schon in Verruf
+gekommen. Dann verscholl er auf einige Zeit, um später in einem
+Haushaltungsbureau aufzutauchen.</p>
+
+<p>Hier war er fleißig und gewissenhaft und füllte seine Stelle völlig
+aus. Aber es war das Haushaltungsbureau eines Siechenhauses. Seine
+Erholungsstunden brachte er bei den Siechenden und Krüppeln zu, um
+ihnen die Zeit zu vertreiben und sie aufzumuntern. Er ließ sich von
+ihnen ihre Anliegen erzählen; sie, auf die sonst niemand mehr hören
+wollte, an denen jeder gleichgültig vorüberging, waren seiner Teilnahme
+so froh. Er besorgte den Ofen, wenn sie fröstelten, holte ihnen ein
+frisches Glas Wasser, wenn sie dürsteten, schrieb ihnen Briefe an
+Angehörige. Dann blieb er noch länger und las ihnen erbauliche oder
+lustige Geschichten vor oder trieb Schwänke und Späße in eigner Person.
+So daß die Armen getröstet und munter wurden. Wenn er darob bisweilen
+seinen Bureaudienst versäumte, so dachte er, ob die Reisballen, die
+Strohsäcke und Bettdecken und Medizinen aufgeschrieben werden oder
+nicht, wenn sie nur da sind. Hauptsache sind die armen Leutle und daß
+sie immer einmal ein bissel Zerstreuung haben.</p>
+
+<p>Da war in der Anstalt ein alter Holzhändler, so vergichtet und
+mühselig, daß er in der dunkeln Stube bleiben mußte, wenn draußen die
+warme Sonne schien, weil niemand war, der ihn ins Freie führte. Als
+nun der Schreiber Johann erschien, der tat es gerne. Er blieb auch
+sitzen unter dem Kastanienbaum neben dem alten Manne und hörte geduldig
+seinen Klagen zu. Und eines Abends, als die übrigen Spazierhumpler und
+Sitzer sich verzogen hatten, weil es kühl geworden, und auch Johann
+seinen Schützling ins Haus führen wollte, blieb der Alte sitzen, langte
+mit<span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span> der dürren, fiebernden Hand hinter seine Brustjacke und zog ein
+verknülltes, vergriffenes Paket heraus.</p>
+
+<p>»Herr Johann!« sagte er leise und hastig, »das gehört Ihnen. Es ist
+mein Geld, sie wissen nichts davon. Ich mag nit, daß es in den großen
+Sack kommt, da spürt kein Mensch was davon. Sie sind der Mensch, der's
+recht anwendet. Es gehört Ihnen. Da, da — nur geschwind einstecken!«</p>
+
+<p>Johann nahm das Paket in die Hand. »Sie meinen, daß ich's Ihnen
+aufheben soll.«</p>
+
+<p>»Ich brauch's nimmer. Will nur, daß wer was hat davon. Erspart ist's
+redlich. Aber dumm dürfen Sie nit sein und es ausplauschen. Tun's es
+gut einschieben.«</p>
+
+<p>Es schien ihm nicht weh zu tun, dem Alten, wie er nun seinen
+Sparpfennig hingab, an dem er wohl viele Jahre lang gesammelt hatte und
+an dem sein Herz gehangen war. Aber angelegentlich verfolgte sein Auge
+den Vorgang, wie Johann das Paket in seine Brusttasche steckte. »Schön
+fleißig zuknöpfeln!« murmelte der Alte und knöpfte mit krampfigen
+Fingern über Johanns Tasche den Knopf ein. Bald hernach wankte er am
+Arm des Schreibers ins Haus.</p>
+
+<p>An demselben Abend war's, daß der Direktor der Anstalt dem Hans Johann
+eröffnete, daß er entlassen sei. Grund gab er keinen an, war auch
+überflüssig. Johann wußte recht gut, daß er nicht aufgenommen worden,
+um die Pfleglinge zu unterhalten, sondern um die Rechnungen und
+Wirtschaftskorrespondenzen zu besorgen. Da er letztere vernachlässigt
+hatte, so fand er seine Abdankung völlig in Ordnung.</p>
+
+<p>Stärker überrascht war er nachher auf seinem Zimmerchen, und zwar von
+der Menge Geldes, die er im Paket fand. Dafür kann man ja ein Schloß
+kaufen und den alten Holzhändler in der Kalesche hineinführen! Und dann
+kann<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> der Hans Johann sein Kammerdiener werden — so ist allen geholfen.</p>
+
+<p>An einem der nächsten Tage, als er mit solch neuem Lebenslaufe beginnen
+will, ist der alte Gichtkrüppel richtig schon seit frühmorgens tot.
+Der Johann steht wie zerschlagen da. »Was tu' ich jetzt!« Auf die
+Leiche verwendete er nicht viel, denn davon hat niemand was und der
+Hans Johann ist ein praktischer Mann. Auch Almosen teilte er nur
+spärlich aus; Almosen, sagte er, mache Bettler; den Leuten müsse man
+viel gründlicher helfen. Von seinen großen Mitteln ließ er noch nichts
+verlauten, nur daß er ein Weilchen später im vorderen Labachtal,
+dort wo es windgeschützt und sonnig ist, ein Grundstück kaufte und
+große Erdarbeiten beginnen ließ. Eine Anstalt für Gichtleidende und
+Unheilbare soll errichtet werden, wo die armen Kranken besonders gut
+gehalten werden müssen und wo er mitten unter ihnen leben will, um zu
+helfen, zu trösten, wie es nötig sein wird.</p>
+
+<p>Während die weitläufigen Grundfesten zu diesem Gebäude gegraben und
+gebaut wurden und stellenweise schon ein Mauerwerk emporzustreben
+begann, half der Johann einem notigen Kleinhäusler das Heu und das
+reife Korn unter Dach bringen, denn das — meinte er — sei für den
+Bauern die Hauptsache. Inzwischen, zu den kleinen Ruhepausen, trachtete
+er im Heu oder auf den Garben dem Söhnlein des Kleinhäuslers das
+Abc beizubringen; derlei Buchstaben, sagte er, seien zwar nicht die
+Hauptsache, auch die Lesekunst nicht und auch die Gelehrtheit nicht,
+aber daß man mit solchen Wissenschaften in der lieben Welt weiterkomme
+und ein tüchtiger Mann werde, das sei die Hauptsache.</p>
+
+<p>»Wann d' schon alleweil von der Hauptsach' redest, da hast eine!«
+Mit diesen Worten versetzte ihm der Kleinhäusler<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> eine klatschende
+Ohrfeige. »Garbentragen heißt's jetzt und nit schulfuchsen!«</p>
+
+<p>Der Johann griff sich an sein also bedachtes Haupt und schwieg. Nichtig
+ist's eh, dachte er, wenn sie im Winter was zu essen haben wollen,
+muß man jetzt ernten. Daß er für sich nur Undank erntete, das war
+er schon gewohnt und fand es auch für selbstverständlich. So viel
+Tiefblick hatte er wohl, um zu wissen, daß es am besten sei, einem,
+dem man was Gutes getan hat, nachher in weitem Bogen auszuweichen;
+denn die Begegnung mit dem Wohltäter, den sie nicht mehr brauchen,
+ist den Leuten zuwider und der ganze Mensch wird ihnen zuwider,
+sie wollen am liebsten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Außer sie
+brauchen ihn wieder plötzlich einmal, dann halten sie es auch für
+selbstverständlich, daß er ihnen neuerdings hilft, und wenn er das
+zufällig einmal nicht kann, so werden sie ihm weit feindseliger als
+einem anderen, der ihnen nie was Gutes getan hat. Das alles hatte
+Johann erfahren und er dachte weiter nicht darüber nach. Er war jedem
+dankbar, der sich von ihm etwas Gutes tun ließ und blieb ihm dankbar
+und betrachtete ihn als einen Gönner, dieser mochte oft noch so roh
+und erkennungslos sein. Nun, so hat den Johann auch die Ohrfeige nicht
+im mindesten beirrt, er half emsig Garben tragen, und abends, als
+der Häusler ihm fast freundlich eine gute Nacht zurief, schlich der
+Johann gerührt in seine Behausung und dankte Gott für die vielen guten
+Menschen, die er erschaffen hat.</p>
+
+<p>Wenn Johann dann wieder hinausging, um die Fortschritte seines Baues zu
+beschauen und wie emsig hier brave Leute arbeiteten, um armen Kranken
+ein Heim zu schaffen, da freute ihn die ganze Welt. Jedoch aber! Als
+die dritte Auszahlung war und der Baumeister darauf drang, endlich<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span>
+doch auch einen Kostenüberschlag zu bestimmen, da kam für unsern
+Idealisten einmal eine wirkliche Überraschung. Er hatte gemeint, mit
+seinen zweieinhalbtausend Gulden, dem Nachlasse des alten Holzhändlers,
+ein stattliches Krankenhaus mit den hierzu erforderlichen Stiftungen
+bestreiten zu können, und nun zeigte es sich, daß das Geld schon
+verbraucht war, während das Mauerwerk kaum noch mannshoch aus der Erde
+hervorstand. Da haben wir's jetzt. Der Johann griff sich an den Kopf
+und rief: »Deuxl, Deuxl noch einmal, daß so was so saumäßig teuer mag
+sein!« Nun mußte der Bau eingestellt werden und mit dem Gelde, das
+zu so hohen Dingen bestimmt gewesen, war nichts geschaffen als ein
+durchwühlter Boden mit Schutt und Steinen. Hans Johann wollte sich
+jetzt den Kopf wegreißen. Nicht ob der Leute Gelächter und Spott, denn
+hierin hatten sie ja recht, und er lachte und spottete mit ihnen —
+ach wie bitter bitterlich ist es, sich selbst auslachen zu müssen.
+Daß er aber ein so grundschlechter Verwalter des Nachlasses gewesen
+und kein einziger Notleidender davon auch nur um eines Hellers Wert
+Erleichterung hatte, das wollte ihm nicht gestatten, einen solchen Kopf
+noch länger auf dem Rumpfe stehen zu lassen. Jetzt wußte er endlich
+auch, was bei ihm die Hauptsache war. Eine grenzenlose Dummheit.</p>
+
+<p>Fast schien es, als hätte er nun auch allen Kredit verloren. Wenn
+er jemand auf der Straße das Bündel wollte tragen helfen, oder wenn
+er am geländerlosen Labachsteg schwindelige Leute hinüberführen
+wollte, da sagten sie dreist: »Schau du auf dich selber!« Und das war
+tatsächlich ein guter Rat, denn er begann leiblich zu verkommen und
+zu verderben. Auf der Baustelle, zwischen den Mauern und Sandhaufen,
+baute er Erdäpfel an, aber diese wußten, daß der stolze Grund nicht
+ihnen vermeint gewesen, fühlten darob<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> ihre Ehre verletzt und wollten
+nicht recht wachsen. Als sie im Spätherbste endlich doch so weit waren,
+daß sie den Spaten lohnten, dachten die Nachbarsleute: der Johann
+verschenkt sie ja doch! und stahlen ihm die Erdäpfel in der Mondnacht.</p>
+
+<p>So ist die praktische Seite von Johanns Tätigkeit stets unpraktisch
+ausgefallen, während über die ideale Rechnung im Himmel gewacht
+wird, wir einstweilen also keinen Einblick haben. Zu jener Zeit
+aber behauptete ein tiefsinniger Mann, der Hans Johann würde seinen
+Mitmenschen noch einmal tüchtig imponieren und er hätte das Zeug zu
+einer großen Heldentat. Man hörte aber nichts weiter, als daß Johann in
+einem Eisenwerke ein Weilchen Schichtenschreiber war. Später soll er in
+einem Meierhofe des Unterlandes als Taglöhner gesehen worden sein. Und
+dann hörte man gar nichts mehr von ihm. Er war verschollen und auf der
+verlassenen Baustelle, wo das große Krankenhaus hätte stehen sollen,
+wucherten Nesseln und Disteln.</p>
+
+<p>Um so merkwürdiger ist es, daß viele Jahre später von Leuten, die darum
+wußten, bei Mostar in der Herzegowina auf einem Friedhof ein halb
+verwitterter Grabstein gefunden wurde, der die Inschrift trug: Hans
+Johann, Soldat aus dem steierischen Infanterieregiment 27. Und darunter
+einige Worte in türkischer Sprache. Die darauf angestellten Forschungen
+ergaben folgendes: Hans Johann soll unter außergewöhnlichen Umständen
+für einen jungen Rekruten, der sehr an Heimweh litt, eingestanden sein,
+sei aber ein spottschlechter Soldat gewesen. Bei dem Einmarsche der
+Österreicher in die Herzegowina habe sich auf einem Bergpasse zwischen
+den Österreichern und den Türken ein Gefecht entsponnen. Johann sollte
+schießen, da sah er in demselben Augenblick, von einer anderen Kugel
+getroffen, einen türkischen Soldaten fallen. Das Gewehr warf er weg und
+eilte<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span> hin, um dem Schwerverwundeten beizustehen. Während er ihm aus
+seiner Feldflasche Labung einzuflößen suchte und ihn aus dem Bereich
+des Kampfes schleppen wollte, sank er selbst nieder, von einer Kugel
+getroffen. Der türkische Soldat, der mit dem Leben davongekommen,
+habe den barmherzigen Österreicher mit Ehren begraben lassen und
+den Denkstein mit der Inschrift gestiftet. Die türkischen Worte auf
+demselben heißen zu deutsch: Aller Hauptsachen Hauptsache ist die
+Liebe.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Himmelherrgottswirt">Der Himmelherrgottswirt.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Eins sagt man den Tirolern nach. Sie hätten nämlich — sagt man —
+ihre Straßen darum so krummlinig angelegt, damit die Fremden um so
+länger durchs Land zu reisen und dabei um so mehr Geld im Lande zu
+lassen hätten. Indeß vermute ich, daß die krummen Linien weniger vom
+geradsinnigen Tiroler, als vielmehr von seinen höckerigen Bergen
+herrühren. Wohl wahr, die Straßen, die dort und auch anderswo im
+Zickzack die Täler durchziehen, wie eine mit schwerfälliger Hand
+gezogene Schrift, könnten streckenweise nachdenklich machen, wenn
+nicht schon die Eisenbahn da wäre, die, keinen Berg und keine Schlucht
+respektierend, die alte Schrift mit geraderen Linien durchstreicht.</p>
+
+<p>Ich bin kein Ehrabschneider, aber dem Himmelherrgottswirt zu St. Peter
+beweise ich's, daß er viele Jahre lang jene Absicht hatte, die man den
+Tirolern ungerechtfertigterweise zuschreibt.</p>
+
+<p>Man sieht's ihm sonst nicht an, er ist ein Bauer wie jeder andere,
+und trägt auch gerade kein Gesicht um, dem man so viel Bösartigkeit
+zutrauen könnte! Aber er hat ein Wirtshaus und treibt Handel, und so
+Leute, die ihren Vorteil bei anderen Leuten suchen müssen, werden es
+allmählich gewohnt, andere zu übervorteilen. »Geschäft« heißen sie es.
+Ja, wenn jedes unschöne Ding einen so schönen Namen hätte, es gäbe
+keine Betrüger und Gauner und Galgenstricke auf der Welt.</p>
+
+<p>Weiter sagt man dem Himmelherrgottswirt nichts Unrechtes nach. Daß ich
+nur erzähle.</p>
+
+<p>Das Dörflein St. Peter mit der Kirche und dem Wirtshaus<span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span> steht auf
+einem Hügel. Die belebte Straße, die durch das Tal geht, steigt diesen
+Hügel hinan und drüben wieder hinunter in dasselbe Tal. Auf der
+Höhe, just vor dem Kirchhofstore, auf einer weißen Tafel steht mit
+schwarzen Lettern der schöne Spruch: »Radschuh bei Strafe von zwei
+Gulden!« Was sind an diesen beiden Steigungen nicht für höllische
+Wetter zusammengeflucht worden von blaukitteligen Fuhrleuten! Ruckweise
+gehetzt und geflucht, dann wieder geschoben und geflucht, dann wieder
+stecken geblieben und geflucht, und nachher die wilde Jagd von einer
+Wasserkehre zur andern und geflucht.</p>
+
+<p>So ging's Tag und Nacht und selbst am Festtage war keine Stunde frei
+von solchem Lärm. Was sind die Rösser seit Urzeiten nicht geprügelt
+worden auf diesem Wege zum heiligen Peter hinan! Aber oben — fast
+schon oben nah' der Kirche — stand das Wirtshaus, da gossen die
+Fuhrleute Wein auf ihre Galle. Und hinunter ging's lustiger, da gab's
+nur zu fluchen, wenn bei Nichtanwendung des Radschuhes der Wagen einmal
+ein paar Pferde niederstieß und darauf der Zöllner die zwei Gulden
+Strafe einhob.</p>
+
+<p>Ähnlich ging's Jahrzehnte lang zu. Da kam den Leuten vor wenigen Jahren
+eine merkwürdige Idee, die weiß Gott wie lange schon in der Luft
+gehangen sein mochte oder unten auf dem Erdboden gelegen neben dem
+Bach, ohne daß sie ein Mensch gefunden hätte.</p>
+
+<p>»Warum,« sagten die Leute auf einmal, »muß die Straße den vertrakten
+Berg hinansteigen? Warum soll sie nicht unten im ebenen Tal neben dem
+Bach hinlaufen wie die vielen Meilen her?«</p>
+
+<p>Warum? Ja, es wußte keiner warum. Nur der Kirchenwirt zu St. Peter gab
+Antwort.</p>
+
+<p>»Warum?« sagte er und machte die Augen zu, wie er<span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span> immer tat, wenn er
+etwas Gescheites sagte, »das ist desweg', weil im Tal beim Bach meine
+Wiese ist, über die ich nicht fahren lasse.«</p>
+
+<p>»Du laßt nicht fahren!«</p>
+
+<p>»Laß nicht fahren.«</p>
+
+<p>»Kirchenwirt,« sprach ein anderer, »du weißt recht wohl, daß dir deine
+Wiese gut bezahlt werden wird.«</p>
+
+<p>»Weiß es wohl.«</p>
+
+<p>»Aber du weißt es auch, daß dein Wirtshaus auf dem Berg von der Straße
+leben muß. <em class="gesperrt">So</em> steht die Sach'!«</p>
+
+<p>»Und so wird sie auch stehen bleiben!« Damit schnitt der Wirt das
+Gespräch ab.</p>
+
+<p>Seitdem war's wieder beim Alten. Aber doch nicht ganz. Früher fluchten
+die Fuhrleute, aber sie wußten nicht, auf wen; die steile Straße
+war unschuldig, sie wäre am liebsten gar keine Straße und möchte
+grünes Gras auf sich wachsen lassen; die schweren Eisenflossen waren
+unschuldig, sie wären am liebsten für alle Ewigkeit im Erzberg ruhen
+geblieben. Und die Weinfässer, Salzladungen und Kornsäcke konnten
+nichts dafür, daß sie so schwer wogen — und den Pferden konnte im
+Grunde nichts Überpferdliches zugemutet werden. Und wenn manchmal
+eine Kutsche mit Leuten bepackt heranächzte, so waren es gerade diese
+Lasten, die am wenigsten ein Scheltwort annehmen wollten. Die schönsten
+Flüche verpufften in der Luft. So früher. Aber jetzt! Jetzt wußten
+sie, wer Ursache war des blutigen Marterweges zu diesem Dorfe hinan,
+wo schließlich keiner was zu tun hatte, was nicht auch im Tale getan
+werden konnte. Die Flüche nannten von nun an den Kirchenwirt, schossen
+dem Kirchenwirt zu, diesem »kreuzvermarideiten Himmelherrgottswirt!«
+Wer wüßte es nicht, wie einzig so ein blaukitteliger Fuhrknecht<span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span> in
+seiner Wut schelten kann. Und so bekam der Kirchenwirt den an und für
+sich sehr schönen, aber seiner Ursache wegen nicht schmeichelhaften
+Titel: »Himmelherrgottswirt«. Man muß es nur hören, wie das klingt,
+wenn es zwischen knirschenden Zähnen herausgeknurrt wird.</p>
+
+<p>Aber der Himmelherrgottswirt machte sich nichts draus. Eher, als
+er die Straße unten im Tale über seine Wiese gehen ließe — an St.
+Peter vorüber, ohne nach St. Peter zu kommen, und die Fuhrleute und
+die Reisenden etwa gar unten beim Mosthansel einkehrten — eher läßt
+er sich kohlschwarz anfluchen über und über; dem Geldbeutel tut das
+ja nicht weh. — Dem Geldbeutel, meint ihr, das Fluchen nicht weh?
+Ja, seht, das Heranfluchen freilich nicht, aber das Vorbeifluchen
+doch! Die schwersten Fuhrwerke ächzten an dem Wirtshause vorüber und
+kehrten im Tale beim Mosthansel ein. Das war sonst eine recht kleine,
+schlichte Wirtschaft gewesen, beim Hansel, denn der Kirchenwirt hatte
+sie nie emporkommen lassen. Aber jetzt schaffte sich der Hansel mehrere
+Gattungen Weine an — alte und junge, weiße und rote, süße und saure
+— fast so verschiedenerlei, als der Gäste waren; legte sich auch Heu,
+Hafer und Mais zu, den Zugtieren zu Nutz; und Tierfleisch für solche,
+die Heu und Hafer verschmähten und sich doch sättigen und stärken
+wollten zum Fluchen über den Hügel, oder sich davon zu erholen hatten.
+Der Hansel selbst war ein junger, umsichtiger und unterhaltsamer
+Mann, der mit einer alten Muhme, die recht schwätzen konnte, die nun
+aufblühende Wirtschaft betrieb. Und wenn der Sonntag kam, so kamen
+sogar die Bauern der Umgegend zum Hansel zusammen, weil dort jetzt
+immer Gesellschaft war, und auch weil es freier herging, als wie beim
+Kirchenwirt, wo der Pfarrhof und der Friedhof so nahe waren. Da fanden
+sich auch Musikanten ein, und es tat sich<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> zur Sommerszeit oft ein
+ganzes Volksfest zusammen vor dem Mosthanselhaus.</p>
+
+<p>Zu solcher Zeit schien es fast, als käme die Reihe zum Fluchen an den
+Himmelherrgottswirt. Tat's aber nur im Gedanken; auswendig schnitt er
+ein lustiges Gesicht.</p>
+
+<p>»Das wär' schon zum Lachen, wenn unsereiner auf so ein paar läppische
+Roßknecht' anstünd'. Man hat eh' von diesen Leuten mehr Schaden gehabt
+als Nutzen. Den Hof voll Mist, ja, das machen sie einem, und schuldig
+bleiben, das können sie wie's Schmenten (Fluchen) und das Schmenten
+können sie weit besser wie Vaterunser beten. Fuhrleut' Geld haben! Ja,
+wer's glaubt, wird selig; auf meiner schwarzen Tafel steht ein ganz
+anderes Evangeli zu lesen. Und die Herren Kavaliere, die vorbeifahren
+— hört mir auf, denen ist das beste zu schlecht und das wohlfeilste
+zu teuer. Mag mich gar nimmer scheren mit so Leuten — mag nicht, sag'
+ich!«</p>
+
+<p>»Da hast einmal in Grund und Boden recht, Wirt,« entgegnete ihm darauf
+eines Tages der Tabakkrämer. »Desweg' ist's am gescheitesten, wir
+bringen die Straße zum Dorf herauf ganz ab. Lassen es gar nicht mehr
+herauffahren, das Bettelvolk — soll unten bleiben am Bach und Kroißen
+(Krebsen) fangen.«</p>
+
+<p>»So redest <em class="gesperrt">du</em>!« rief der Wirt, »du, der morgen schon Hunger
+leidet, wenn heut' kein Fuhrknecht mit der Blader vorspricht! Oder
+willst du ihn dir mit Essig und Öl machen lassen, deinen Tabak?«</p>
+
+<p>Der Andere schupfte die Achseln: »Was kann ich machen! Die Landstraß'
+haben sie nicht gebaut, daß ich meinen Tabak anbring'. Verlegen
+sie den Weg, so muß ich mir halt helfen, wie ich kann. Daß ich ein
+Narr wär' und gegen die Vielheit streiten wollt'! — Schnupf eins,
+Himmelherrgottswirt!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span></p>
+
+<p>Der Wirt schlug ihm die Dose aus der Hand.</p>
+
+<p>»Geschieht mir recht,« murmelte der Tabakkrämer, »wenn man den heiligen
+Namen auf <em class="gesperrt">den</em> hängt, das ist Gotteslästerung.«</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Aber der Bau der Straße im Tal verzögerte sich von Jahr zu Jahr, denn
+gutwillig gab der Wirt die Wiese nicht und Gewalt wollte man nicht
+brauchen.</p>
+
+<p>Da ging einmal ein alter Wurzelgräber durch das Dorf; der hörte das
+Schelten und Gotteslästern der Fuhrleute, die dem Kirchenwirt alle
+schwere Not und den Teufel ins Haus wünschten. An der hinteren Tür des
+Wirtshauses standen die Kinder des Wirtes, denen rief der alte Mann
+zu: »Euer Vater führt ein gutes Leben. Wenn aber die Flüche all' an
+<em class="gesperrt">euch</em> ausgehen sollen! Es heißt ja doch, der Eltern Sünden müssen
+die Kinder büßen. 's ist schauderlich! Behüt' euch Gott, Kinder, ich
+tu' euch nichts.«</p>
+
+<p>Und ging von Hundegekläff begleitet vorüber.</p>
+
+<p>Da stund es an noch etliche Jahre, und es kamen die Weihnachten 1876.
+Der Heilige Abend ist doch sonst gewiß kein Unglückstag, gleichwohl
+er der Jahrestag ist, an welchem Adam und Eva erschaffen worden sein
+sollen. Aber beim Kirchenwirt zu St. Peter trug sich an diesem Tage was
+Trauriges zu.</p>
+
+<p>Bisher, so lange von steifen Trotzköpfen und bösem Fluchen die Rede
+gewesen war, wollte ich das Dasein eines schönen Kirchenwirtstöchterls
+nicht verraten. »Sie war wie eine Blume,« man kann's besser nicht
+sagen. Sie war nun siebzehn Jahre alt und das Einzige, welches dem
+Wirte von seinen Kindern übrig geblieben. Ihretwegen war die letzte
+Zeit her mancher junge Fuhrknecht, der zu Trotz hier nicht<span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span> mehr
+einkehren wollte, weit schwerer auf dem ebenen Boden vor dem Wirtshause
+vorübergefahren, als den Berg heran. Dieses Wirtstöchterl war bei so
+manchem der triftigste Grund, daß die Straße an beiden Seiten den
+steilen Hügel zum Dorfe hinanstieg. Ob Julchen für oder gegen die
+Verlegung der Straße war, das getraue ich mir nicht zu entscheiden,
+denn junge Leute gehen ihre eigenen Wege.</p>
+
+<p>Und einen solchen, ganz absonderlichen, ging sie an jenem Heiligen
+Abend.</p>
+
+<p>Man kennt ja die Weiber — aus lauter Warmherzigkeit und
+Lebenssehnsucht und Ahnen und Bangen abergläubisch über alle Maßen!
+Schon die jungen! — Da ist der rote Holler. Am Christabende während
+des Ave-Läutens gepflückt und dann in einen Blumentopf gesteckt, kann
+er im nächsten Fasching grünen. Tut er's, so kommt in demselbigen
+Jahre der Bräutigam. Ein Dirndl von siebzehn Jahren — da kann der
+Hollerzweig doch wohl schon treiben ... Man probiert's, nützt es nicht,
+so schadet es auch nicht.</p>
+
+<p>An der rückwärtigen Kirchhofsmauer zu St. Peter wächst roter Holler.
+Mit einigem Zagen, aber vielem Mute läuft Julchen, während auf dem
+Turme die Ave-Glocke klingt, im Dunkel über den Kirchhof. Sie schaut
+sich nicht viel um, erhascht einen Zweig, eilt rasch wieder zurück und
+stürzt aus Hast in ein offenes Grab. Das war für einen alten, müden
+Pilger bereitet worden, der just am heiligen Christtag in die ewige
+Ruh' gehen wollte, oder — wie man's nimmt — in die Krippe aus Erden.
+— Wie der Küster das Tor schließt, hört er den Schrei — läuft hin und
+zerrt das vor Schreck ohnmächtige Mädchen aus dem Grabe hervor; es ist
+bewegungslos wie eine Leiche, und so wird sie nach Hause getragen.</p>
+
+<p>Der Wirt ist dem Zusammenbrechen nahe, er meint,<span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span> das Kind sei tot. Die
+Leute rennen auf der Gasse um und der böse Leumund, der immer nur auf
+einen Anlaß — am liebsten ein Unglück — wartet, bricht los wie ein
+zischend Heer in der Luft, das man nicht sieht und nicht fassen kann,
+und das in jedes Ohr bläst Spott und Hohn, und Schadenfreude weckt
+in dem Menschenherzen, auf welches reuig zu schlagen wohl jeder eine
+Ursache hätte.</p>
+
+<p>»Da seht, da seht,« riefen die Leute, »das hat er jetzt! Umsonst ist
+da nicht so oft geflucht worden. Jetzt geht die Frucht auf. Fällt ihm
+sein Kind lebendig ins Grab! Ist das nicht augenscheinlich eine Strafe
+Gottes?«</p>
+
+<p>Kann ein abgerissener Zweig wieder grünen, so kann auch ein junges, dem
+Grabe entrissenes Menschenkind wieder leben. Meint ihr nicht, Leute?
+Tretet ins Haus und seht, Julchen sitzt aufrecht, es fehlt ihr nichts.
+Ohnmachten bei jungen Leuten ziehen vorüber wie eine Frühlingswolke an
+der Sonne. Ihr Vater ist noch blaß vor Schreck, mit zitternder Hand
+streicht er ihr die Friedhofserde von ihrem braunlockigen Haar.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Und in der Nacht, als das Mädchen geruhsam im Bette schlief und auf
+dem Turme des Himmels Engel schon die Glocken läuteten, auf daß die
+zerstreute Gemeinde zusammenkomme zum strahlenden Altare — da schritt
+auch der Wirt in die Kirche. Er wankte wie ein Greis, der Schreck stak
+ihm noch in den Gliedern, noch bebte ihm das aufgerüttelte Herz. Daß
+sie an dem bedeutungsvollen Tage in das Grab fiel, das konnte kein
+gutes Zeichen sein ... Ihm war hart und bang.</p>
+
+<p>So wollte denn in dieser Nacht, in welcher der Christ mit seiner Gnade
+herabgestiegen ist zur Erde — der Kirchenwirt<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> vor der Krippe knien
+und Beruhigung erflehen. — Und als die zwölfte Stunde schlug, als das
+Christamt begann und das Lied: »Dies ist der Tag, von Gott gemacht!«
+erklang, da wurde dem Manne leichter ums Herz.</p>
+
+<p>Zur Wandlung verstummte die Orgel. Die Gemeinde lag auf den Knien
+und jeder betete in dieser feierlichen Stunde für das liebste seines
+Herzens. — Mit gefalteten Händen betete der Wirt vor der Krippe
+für sein Kind. — Still war's. — Da rasselten draußen auf dem
+hartgefrorenen Boden schwere Wagenräder, Pferde stampften und wieherten
+unter pfeifenden Peitschenhieben, und von den Lippen des Fuhrmannes
+gellte ein grober Fluch. Und das war auf des Kirchenwirts Gebet die
+Antwort gewesen. —</p>
+
+<p>Was bei diesem Zwischenfalle der Kirchenwirt empfunden hatte, das zeigt
+am besten sein Gang in die Sakristei, als kaum der Gottesdienst zu Ende
+war.</p>
+
+<p>»Ein Wort mit dem Herrn Pfarrer,« stotterte er, »vielleicht wäre auch
+der Gemeindevorstand zuwege. Ein Stück Papier und Schreibzeug!«</p>
+
+<p>Mit bebender Hand schrieb er's hin:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Die Wiese am Bach für ewige Zeiten zur Straße.</p>
+
+<p>
+Anton Egghofer,<br>
+Kirchenwirt zu St. Peter.«<br>
+</p>
+</div>
+
+<p>Heute ist die Straße fertig. Sie geht, wie die Leute sagen, »handeben«
+im Tale hin. Das Fluchen kann man den Fuhrleuten nicht nehmen, sie
+haben sonst auch nicht viel Unterhaltliches auf der Welt, aber auf
+ebener Straße hört sich das ganz anders, als auf bergigem Grund.</p>
+
+<p>Zu beschreiben wäre noch die Dankbarkeit der Pferde — doch, wir wollen
+die Wagen aller Art mit Gott und gutem Gespann ihrer Wege ziehen
+lassen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span></p>
+
+<p>Wer nach St. Peter hinauf <em class="gesperrt">will</em>, die alte Straße ist und bleibt
+noch fahrbar. Im Herbst des nächsten Jahres war's, als etliche sehr
+schwere Wagen vom Dorfe zu Tale ächzten. »Radschuh bei Strafe von zwei
+Gulden!«</p>
+
+<p>Ja, freilich, bei <em class="gesperrt">solchen</em> Brautfuhren, da heißt's einschleifen.
+—</p>
+
+<p>Gekommen war's so: Im Fasching hatte der Hollerzweig gegrünt, im Mai
+hatte er geblüht, im Juni war der Mosthansel zum Julchen gegangen. Und
+jetzt Hochzeit.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Herr_v_Florin">Herr v. Florin.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Er hätte Künstler werden können, er hätte Professor werden können,
+er hätte Bürgermeister werden können — Landtagsabgeordneter,
+Herrenhausmitglied — dann Baron oder Präsident, so oder so. Baron,
+wenn der Staat eine Monarchie verblieben, Präsident, wenn er eine
+Republik geworden. — Und ist nichts, als ein windiger Rasierer.</p>
+
+<p>Ein Bartscherer, ein Haarkräusler und Geckenaufputzer, ein
+Perückenflechter und Haarzopfsträhner. Man verlangt, daß er Späße
+mache, und da er sie nicht macht, so macht man sich welche mit
+ihm. Man nennt ihn Doktor, er protestiert nicht dagegen, der Titel
+gebührt ihm; er ist belesen, er nennt alle hohen Berge der Welt beim
+Namen und weiß, wie hoch sie sind, weiß es in Fuß und Metern, kennt
+die Tiefen des Meeres und berechnet nach einem alten Atlas, wo die
+größten Tiefen sind. Er gibt dem Landmann, während er ihm den Bart
+abschabt, Fingerzeige über die Witterung der nächsten Monate, belehrt
+ihn, wie er den Dung streuen, woher er den Samen beziehen müsse.
+Er hat Agentschaften, und zwar deren so viele, daß er vor lauter
+Schildertafeln die Tünche seines Häuschens erspart. Er versichert dem
+Bauer das Haus, das Vieh, die Feldfrüchte, das Leben. — Wenn mir
+dieser »Lebensversicherer«, denkt sich der Bauer, »nur jetzt die Gurgel
+nicht abschneidet! Anstellt er sich g'rad so. Kratzen tut der Saggra
+schon, daß man die Engel singen hört! Schneidet denn das Messer nit?«
+— Allerdings, das Messer rostet schon, denn Herr Florin hängt das
+Geschäft an den Nagel und rasiert den Mann nur aus Gefälligkeit. Er
+will ihm auch aus Gefälligkeit den Prozeß führen helfen,<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> den der Bauer
+mit einem Nachbar hat. Meister Florin weiß sich gut aus im Gesetzbuch
+und wird dem findigsten Doktor zu gescheit. Er führt verschiedenerlei
+Schreibergeschäfte, hat hier einen Strauß mit dem Steueramt, dort einen
+Handel mit dem Bezirksgericht, da ein Renkontre mit dem Notar oder mit
+einem Gläubiger, mit dem oder jenen — und gewinnt, gewinnt alles.</p>
+
+<p>Daher will er das Rasiergeschäft aufgeben, es sind schlechte
+Zeiten. Ja, früher, in seines seligen Vaters Jahren, wo jeder brave
+Staatsbürger fortweg sein glattes Gesicht haben mußte, da war's
+leicht, Rasierer zu sein. Aber jetzt, wo die Leute ihren Patriotismus
+und ihre Weisheit und ihr politisches Bekenntnis in den Barthaaren
+herauswachsen lassen, jetzt wird der Rasierer — und er mag der klügste
+und fleißigste Mann sein — ein fallider Fallot.</p>
+
+<p>Überhaupt — und das Wörtlein hat Meister Florin immer auf der Zunge
+— überhaupt, das fliegt so über alles hin, da steckt alles d'rin, was
+der Sprecher meint, aber nicht weiß, oder wenn er gar nichts meint
+und nichts weiß, als nur, daß hier ein Wort gut stehe, so sagt er:
+überhaupt, und hat damit sehr viel und sehr vernünftig gesprochen. Also
+— »überhaupt«, sagt der Meister Florin, »es ist nicht mehr so wie
+früher, die Welt ist ganz anders geworden, heute siegt nur das Geld und
+der Protze, der Brutale, der Aufdringliche, überhaupt der Windbeutel.
+Ich könnte heut' auch anders dastehen, aber ich bin immer zu ehrlich
+und bescheiden gewesen. Den ersten Prügel hat mir mein Vater unter
+die Füße geworfen, weil er mich nicht studieren ließ, sondern mich
+zu seinem Handwerk zwang, zu dem ich niemals Lust und Schick gehabt
+habe. Ich bitt' euch, ein strebsamer, intelligenter, für alles Schöne
+begeisterter junger Mann, Friseur! Aber ich habe mich herausgearbeitet.
+Wenn ich heute<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span> das Geld hätte, das mir die Kerzen gekostet haben,
+bei denen ich die ganzen Nächte hindurch studiert habe! In den
+einundzwanzig Jahrgängen der Theaterzeitung und in den Jahrbüchern
+des Gothaer Almanach und im Selbstadvokat gibt's kein Blatt, das ich
+nicht in mich aufgenommen hätte. Ich habe meine Freude dran gehabt,
+überhaupt, ich habe immer Sinn für was Besseres gehabt. Und ich hab's
+mitgemacht, wie wir die Eisenbahn bekommen haben und den Telegraph. Bei
+meinem Aufwachsen hat noch keiner in unserer Gegend eine Baumwolljoppe
+getragen, und das Einjährig-Freiwilligen-Institut jetzt, die
+Hinterlader, überhaupt das ganze Kriegswesen. Das ist ein Fortschritt!
+Ich bin fortweg bei den Fortschrittsmännern und Aufgeklärten gestanden
+und überhaupt, früher ist die Welt in zweihundert Jahren nicht um das
+weitergekommen, als wie zu meiner Zeit. Es ist besser geworden und
+es wäre ganz gut geworden, wenn nicht die Anmaßung das große Wort
+führte. Der ehrliche Mann verarmt. Es ist ja zum Rasendwerden, wenn man
+betrachtet, wer heute das Heft in der Hand hat.« So seine Betrachtungen.</p>
+
+<p>Er war im Stadtschulrat, aber sie haben ihn nicht zum Obmann
+gemacht, er ist in den Gemeinderat gewählt worden, aber bei der
+Bürgermeisterwahl, da —! Er hätte wenigstens zwei Drittel der Stimmen
+gehabt, aber die Kabale! Die Kabale, ihr Herren! — Sie haben es ganz
+gut gewußt, was sie tun; denn wenn er, der Meister Florin, obenauf
+gekommen wäre, da hätt's anders gehen müssen. Er wüßte schon, was zu
+machen wäre! Eine Mustergemeinde hätte er geschaffen, an der sich
+selbst der Staat ein Muster genommen haben würde. Man hätte »oben«
+gefragt: wer ist der treffliche Mann? Gehörte er nicht vielmehr
+hierher an's Ruder, als daß er seine Kraft in dem engen Wirkungskreise
+vergeude?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span></p>
+
+<p>Vor einer solchen Aussicht wird jeder Geschäftsmann — er braucht nicht
+erst Friseur zu sein — die Lust an seinem Berufe verlieren. Meister
+Florin macht bekannt: er rasiert nicht mehr. Jetzt kommen Fremde ins
+Städtchen, Touristen, sie suchen einen Friseur. Ist keiner da. Sie
+suchen auch einen Führer. Allsogleich tritt Meister Florin hervor und
+macht seine höfliche Aufwartung, er kennt die Gegend, wie sonst gar
+keiner mehr, er ist gerne bereit. — Schön, was er begehre? — Bitte,
+es macht ihm ein Vergnügen, er ist mit von der Partie. Sie suchten
+einen Führer und finden einen Kavalier. Um so besser. Den Träger für
+Mäntel und Mundvorrat bestellt der Herr Florin; sie laden ihn ein, aus
+ihrem Vorrate zu essen, mitzutrinken; er will nicht ablehnen, er tut
+den Schinken und Flaschen sehr viel Ehre an; er ist stets delikat, aber
+das ist zufällig seine Leibspeise, sein Tropfen — hoch sollen sie
+leben!</p>
+
+<p>Er weiß unterwegs stets zu erzählen und spricht ganz im Geiste der
+Zeit, heißt das, wenn er merkt, die Fremden hätten keinen. Er erzählt
+gern von sich und was ihm eben so am geläufigsten ist; die Fremden
+heucheln Interesse, so lange sie's vermögen, endlich aber danken sie
+für seine freundliche Begleitung und gehen ihrer Wege.</p>
+
+<p>Trotzdem, oder — überhaupt, die Fremdenführerschaft trägt mehr, als
+das Friseur- und Rasiergeschäft, sie trägt wenigstens die Kost und
+man ist in der frischen Luft und Naturfreund ist man auch. Ist's und
+wird's von Tour zu Tour mehr, denn überall erinnert man sich, was einen
+früheren Touristen entzückt hat und das entzückt einen nun auch und so
+bringt man im Laufe der Jahre eine Unzahl von »romantischen« Wegen,
+entzückenden Punkten und Aussichten zusammen.</p>
+
+<p>Endlich nimmt er wahr, daß er ein so gewaltiger Naturfreund<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span> und
+Tourist geworden ist, daß er davon leben kann. Er läßt sich als Führer
+immer noch nicht lohnen, aber die Präsente, die der Kavalier dem
+Kavalier verehrt, die darf er nicht abweisen. Er hat davon schon eine
+respektable Sammlung, er verkauft sie nicht, es sind werte Andenken
+von hohen Bekanntschaften und lieben Freunden — und versetzen, nur
+wenn's sein muß. Auch die Touristenvereine sind ihm erkenntlich, und
+wie die Assekuranzen — die er längst vernachlässigt und verloren
+hat — einst das Äußere seines Hauses mit Agenturtafeln dekoriert
+haben, so dekorieren die Touristenvereine es von innen mit Diplomen,
+Gebirgskarten und Edelweißorden. Er übt wieder Gegenerkenntlichkeiten
+und wirbt Mitglieder für die Vereine. So wird er bekannt und gesucht
+und jeder Fremde, der am Bahnhof dem Zug entsteigt, frägt als sein
+erstes nach dem Herrn Florin. Der steht schon da, stets nett beisammen,
+in Nationaltracht, stets höflich, lüftet seinen Touristenhut, ist dem
+Herrn zuvorkommend zur Hand beim Aussteigen, beim Gepäcktragen, bei der
+Suche nach einem Hotel, und dem Fremden bleibt nichts anderes übrig,
+als sich gefangen zu geben.</p>
+
+<p>Der Gasthofbesitzer weiß meinen Florin wohl zu würdigen, und wenn
+dieser für genossene Speis und Trank um die Rechnung ersucht, so
+vertröstet ihn der Wirt von Tag zu Tag, bis Herr Florin endlich nicht
+mehr ersucht und sich die Gasthauskost von Tag zu Tag so trefflich
+munden läßt, als ob's auf der weiten Welt kein Stücklein Kreide gäbe.
+Es geht. Sehr gut geht's, und Meister Florin sagt es selber: es ginge
+ihm sehr gut! und er muß es am besten wissen. Daß er einmal Rasierer
+gewesen, hört er nicht gern, es war auch nur ein Spaß von ihm gewesen,
+ein schlechter Spaß. Er wohnt auch gar nicht mehr im Friseurhäuschen,
+das ist der Habgier eines Gläubigers zum Opfer gefallen, gegen den<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span>
+der Meister den langjährig geführten Prozeß ganz unstreitig gewonnen
+hätte, wenn nicht Bestechung und Hinterlist von Seite des Gläubigers
+stattgefunden hätte. Überhaupt sind die Leute heutzutage von einem
+greulichen Eigennutz besessen, nur der Wirt nicht, nein, der ist ein
+braver Mann. Jetzt wohnt er auch bei ihm.</p>
+
+<p>So verkehrt Meister — was Meister! Herr von Florin nur mehr mit
+vornehmeren Leuten, und wenn man dem Gespräche zuhört, das er und ein
+zugereister Universitäts-Professor führen, so ist kein Zweifel, wer
+der Gescheitere ist — nämlich der Herr von Florin. Man kann aber
+ordentlich erschrecken, wenn Florin plötzlich behauptet, das deutsche
+Kaiserreich tauge nichts und er mit wenigen diktatorischen Aussprüchen
+mir nichts dir nichts die Republik einführt und der Fürst Bismarck
+wie ein armer Schlucker dasteht, noch um ein paar Stündlein Leben
+bittend. Der Professor ist gar nicht imstande, der Tragweite dieser
+unerhörten Reformen zu folgen, daher schweigt er, und das imponiert
+den umsitzenden Zuhörern. — »Ja, wie Florin gesprochen, da hat der
+gelehrte Herr nachher kein Wort mehr zu sagen gewußt.«</p>
+
+<p>Wie steht er jetzt da, der Herr von Florin! Von altersher — und zwar
+seit etlichen vierzig Jahren — heißt er Franz Viktor Florin; jetzt,
+der Name ist ihm zu lang, er ist selber nicht über fünf Schuh lang, er
+braucht keinen so langen Namen, er kürzt ihn, setzt anstatt des Wortes
+Viktor bescheiden nur ein kleines v. und jetzt lautet die Visitkarte:
+Franz v. Florin. Das steht! sehr gut steht's, und somit wäre er nun
+eigentlich oben.</p>
+
+<p>Aber da sehe man den Neid des Schicksals! Überhaupt, wer zum Unglück
+geboren ist usw. Auf einmal legt sich der Wirt hin und stirbt und macht
+den Herrn v. Florin brotlos und dachlos. Denn der junge Wirt ist ein
+Zopf und sagt,<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span> Florin solle arbeiten, er sei noch stark genug dazu.
+— So! Also das ist der Lohn, daß er die Fremden herbeigezogen und
+die Gegend bekannt gemacht hat! Das ist der Lohn für die Dienste, die
+er dem Hause und der Gemeinde und jedermann geleistet hat! Die Kinder
+werden einst als alte Leute erzählen von Herrn von Florin, wie schlicht
+er war und jovial und welche Reden er der Jugend oft gehalten hat und
+wie er für den Fortschritt gewesen und was ihm das Städtchen verdankt.
+Manche alte Schrift von seiner Hand wird verblaßt und vergilbt noch
+Zeugnis ablegen von dem strebsamen, vielseitigen Manne, der seiner Zeit
+voraus gewesen. Aber heute! Heute läßt man ihn darben. Zwar findet
+er immer noch gute Seelen, die seinen Nahrungsbedürfnissen Rechnung
+tragen, mein Gott, er ist ja leicht zufrieden! Aber der Rock will
+verblassen und die fremden Herren, wenn sie kommen, wollen mit dem
+fadenscheinigen Rock nicht gerne an einem Tische sitzen. Er ist immer
+noch geistesfrisch, ja lustiger als früher und weiß allerlei Schnurren,
+auch singt er und macht Musik dazu auf der Zither oder der Gitarre.
+Er weiß possierliche Lieder, Sprüche und schalkhafte Anekdoten. Man
+lacht darüber, man wartet ihm mit einer Zigarre auf oder läßt ihm ein
+Glas Wein vorsetzen und so ist es immer noch unterhaltsam. Es gibt
+Leute, die sagen ihm, er solle sich nicht so an die Fersen der Fremden
+heften und sich nicht zum Spaßmacher hergeben, er solle lieber wieder
+seinen Rasierladen aufmachen. Das sind die Kurzsichtigen. Sie wissen
+nicht, was er will und worauf er es abgesehen hat. Er wird noch eine
+einflußreiche Stellung gewinnen und dann seine weltbeglückenden Pläne
+durchführen.</p>
+
+<p>Einstweilen verkommt er immer mehr. Mancher Fremde, der im Städtchen
+absteigt, er mag Tourist sein oder Agent oder Vereinsmeier, nützt ihn
+aus, so viel noch auszunützen<span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span> ist. Er ist eine allbekannte Figur und
+viel armseliger und niedriger denkende Subjekte, als er ist, machen ihn
+zur Zielscheibe ihres Spottes.</p>
+
+<p>Endlich glaubt er's, daß er nichts erreichen wird; er klagt über ein
+verfehltes Leben, setzt die Hoffnung aber auf seine Kinder.</p>
+
+<p>Er hat einen Sohn; der ist geistig sehr begabt, hat ganz den Kopf von
+seinem Vater. Der soll studieren. Es ist kein Geld da, es ist keine
+Protektion da, oder hat ein oder der andere seiner guten Bekannten doch
+etwas zugesagt? Gewerbsmeister des Städtchens wollen den aufgeweckten
+Jungen ins Geschäft nehmen, ihm ein Handwerk lehren. Ha, das wäre
+wieder die alte Leier; dieses florinische Blut ist für was besseres rot
+geworden; der Bursche muß in die Hauptstadt. Er soll sich dort selber
+fortbringen, Freunde suchen und sich aus eigener Kraft aufschwingen.
+Das macht den Mann. Der Vater hält ihm noch eine schwunghafte
+Standrede, wie sie wortprächtiger in keinem Buche zu finden ist, und
+der Junge geht in die Stadt. Er schreibt verzagte Episteln heim, der
+Vater schickt ihm Briefe voll begeisternder Phrasen, aber sonst ohne
+Inhalt. Da schreibt der Sohn in immer längeren Zwischenräumen immer
+kürzere Briefe, endlich bleiben die Briefe ganz aus und das ist dem
+Herrn Florin ein Zeichen, daß die Taube ein Gestade gefunden hat.</p>
+
+<p>Nun hat Florin — sein Weib ist ganz Nebensache, das ist da oder es
+ist nicht da, einerlei; ist es da, so wird es wohl irgendwo eine
+Dachkammer haben, wo es sich mit Nähen oder Stricken fortbringt —
+trotzdem hat Herr Florin auch eine Tochter. Mit der läßt er sich nicht
+ungern auf der Gasse blicken, denn sie ist schon bald kein Kind mehr
+und wächst sich recht sauber aus. Sie als Küchenmädchen zum Wirt geben,
+oder gar zu einem Bauer in die Arbeit? Nein. Das<span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span> Mädchen hat bessere
+Aussichten. Ein Baron war da, ein Tourist, der sagte, das Kind müsse
+in die Stadt, da könne es sein Glück machen. Da erinnert sich der
+umsichtige Vater sofort an gelesene oder gehörte Fälle, wo arme aber
+hübsche Mädchen auch in der Stadt ihr Glück — bisweilen sogar ein
+unglaublich großes Glück gemacht haben. Der Herr Baron erklärt sich
+bereit, für das Kind eine Stellung ausfindig zu machen, einstweilen
+könne es in seinem eigenen Hause wohnen. — Also doch gute Leute, und
+Herr v. Florin sagt, Glück habe er niemalen viel gehabt, aber gute
+Menschen habe er immer gefunden, überhaupt habe es den Anschein, daß
+sich sein Glück erst bei seinen Kindern einstellen werde.</p>
+
+<p>Er läßt das Mädchen fort und nun — sind die Kinder versorgt. Sie
+sind's zwar nicht, aber Florin ist gewohnt, alles so auszulegen, wie es
+am schönsten klingt. Sein Stolz ist, wenn er erzählen kann: Der Sohn
+studiert auf einen Doktor, die Tochter ist beim Herrn Baron.</p>
+
+<p>Florin beginnt zu altern, aber er hat noch einen Plan, das ist der
+einzige, den er in seinem Leben durchgeführt hätte, <em class="gesperrt">wenn</em> er ihn
+durchgeführt hätte. Er kann singen, versteht sich auf Saitenspiel, hat
+die Gabe, zu unterhalten; er will fahrender Musiker werden. Das ist
+gar nicht dumm, das ist der erste Schritt zum Mitgliede eines größeren
+Kunstinstitutes.</p>
+
+<p>Das Mißgeschick ließ es aber nicht dazu kommen. Überhaupt, das
+Mißgeschick! Nun sitzt er viel in den Schänken herum und setzt sich zu
+dem, der just da ist und hebt einen flotten Diskurs an und läßt Possen
+los und will fortgehen. Die Leute sind warm, da darf der Herr von
+Florin nicht fortgehen, sie lassen ihm Wein bringen. Das Wasser, das er
+zum Wein gießt, hält ihn noch aufrecht. Aber beim Branntwein, da ....</p>
+
+<p>Der Branntwein tut das seine und es gibt einflußreiche<span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span> Leute in der
+Gemeinde, die behaupten, für den alten Florin wäre es am besten, wenn
+man ihn ins Armenhaus täte.</p>
+
+<p>Der <em class="gesperrt">alte</em> Florin?</p>
+
+<p>Ja, es ist wahr, er ist grau, er sieht verfallen aus. Wenn er sich nur
+öfters ein Stück Fleisch gönnen könnte! Warum sollen denn seine Kinder,
+denen es in der Stadt gut geht, nichts für den Vater tun? Keines läßt
+was von sich hören.</p>
+
+<p>Nun wird in die Stadt geschrieben. Es kommt eine Antwort; sie ist
+von fremder Hand und berichtet, daß der Sohn vor längerer Zeit wegen
+Bauernfängerei eingezogen, später wieder freigelassen und seitdem
+verschollen sei.</p>
+
+<p>Herr v. Florin erschrickt zuerst, dann aber lächelt er, denn er glaubt
+es nicht.</p>
+
+<p>Aufgefordert, schreibt auch die Tochter, sie sei nicht beim Herrn
+Baron, aber sie wolle ihren Eltern nicht mehr unter die Augen treten.</p>
+
+<p>Herr Florin schüttelt den Kopf — er kann es nicht verstehen.</p>
+
+<p>Und so rinnt die Zeit hin, von Tag zu Tag mit steigender
+Geschwindigkeit — wie es im Alter schon geht. Der Florin sitzt auf
+der Gartenbank des Armenhauses und schaut den Bienen zu. Einer, der
+vorbeigeht, denkt sich: Ja, alter Florin, du hättest den Bienen früher
+zuschauen und dir an ihnen ein Beispiel nehmen sollen. Du hast dich
+deines ehrlichen Gewerbes geschämt, hast es verlassen und verleugnet.
+Hast hingeflunkert, hast hergeflunkert, dein spitzfindiges Spintisieren
+und deine hohle Schlauheit hat dich auf die Holzbank vor dem Armenhaus
+gebracht. Und wenn jetzt von den fremden Herren, denen du gefällig
+warst, von den hochgestellten Freunden, die dir geschmeichelt haben,
+einer hier vorbeigeht, so wird er dich nicht kennen, und kennt er
+dich,<span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span> vielleicht sein Haupt wegwenden und in sich hineinmurmeln: Ei,
+das ist ja dieser Schwätzer, dieser Fex, dieser — er hat allerlei
+Namen zur Auswahl. Er ist bald vorüber. Ich aber bin der, welcher dir
+einst vielleicht den Rat gegeben hat: bleibe deinem Gewerbe treu und
+arbeite! Ich gehe nicht an dir vorbei, ich frage dich: »Wie geht es
+dir, alter Florin?«</p>
+
+<p>Er schrickt auf. »Danke, danke,« sagt er, »so weit gut, recht gut. Dank
+der Nachfrage!«</p>
+
+<p>Eine solche Zufriedenheit auf dieser Bank verdient doch einen Zehner.
+»Da, Alter, kannst damit nichts mehr verderben — gönne dir ein Glas
+auf mein Wohl!«</p>
+
+<p>O, im Glase, das er nun trinkt, ist mehr d'rin, als der Spender
+ahnt, der Florin — der Herr Franz von Florin ist Bürgermeister,
+Touristenvater, Abgeordneter, Regierungsrat, Schöpfer und Ordner aller
+politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse des
+Landes.</p>
+
+<p>Um einen Silberzehner! In der Tat, billiger kann man das Glück nicht
+haben. — Und überhaupt das Glück ....</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Steinschaedel">Der Steinschädel.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Es war ein so prächtiges Bauerngut gewesen. Voreh'! Voreh'!</p>
+
+<p>Dann wurde es anders. Der Hinterberger zahlte keine Steuern. Und
+doch war er der Besitzer und Nutznießer aller Grundstücke, die den
+Hinterberg einhüllten und die sich fast herab ins Tal der Lansa
+erstreckten.</p>
+
+<p>Der Hinterberger war nichts weniger als glaubselig. Was in den Büchern
+stand, von dem meinte er, das Papier wäre geduldig und man könne
+d'rauf drucken, was man wolle. Was auf der Kanzel gepredigt wurde,
+von dem hatte er eine nicht viel bessere Meinung: reden ließe sich
+alles, was man reden wolle, und man wolle gerade das reden, was zu
+eigenem Vorteile wäre. Gegen die Meinungen der Nachbarn und den Rat der
+Verwandten war er nicht minder verstockt — der Steinschädel wurde er
+geheißen.</p>
+
+<p>Da kam im Jahre 1848 einer jener Wanderprediger, wovon manche
+vernünftig, viele aber Narren gewesen sind. Und dieser Mann predigte,
+daß der Bauer von nun an freier Herr seines Grund und Bodens wäre und
+also keine Steuern und Abgaben mehr zu entrichten brauche.</p>
+
+<p>Keine Steuern und Abgaben mehr! Das glaubte der Hinterberger aufs Wort.
+Das leuchtete ihm ein; denn was mein ist, davon bin ich keinem Menschen
+was schuldig. Zudem stand's ja auch in den »Herrschaftsbriefen«, er
+bekam ein- für allemal die Papiere über die Grundablösung — und nun
+war er ein freier Mann im freien Staate.</p>
+
+<p>Er zahlte keine Steuern mehr, blieb aber trotz aller Behörden Besitzer
+und Nutznießer des ganzen Hinterberges.<span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span> Die Behörden zwangen ihn auch
+nicht — sie ließen ihm bloß das Vieh aus dem Stalle und das Getreide
+von der Scheune führen und deckten damit die Steuern und die Unkosten,
+die aus solchem Gebaren erwuchsen.</p>
+
+<p>Da schrie der Hinterberger freilich auf, man täte ihm kreuzunrecht, und
+der Staat, der verpflichtet sei, Hab' und Gut seiner Bürger gegen Raub
+zu schützen, sei selber der Schelm ...</p>
+
+<p>Zu den Advokaten ging er und suchte Gerechtigkeit, wie er sie dachte.</p>
+
+<p>»Ja, Bauer, das ist nicht so!« sagten die Advokaten.</p>
+
+<p>»Warum ist das nicht so?«</p>
+
+<p>»Ihr sagt ja selbst, daß Ihr den Schutz des Staates erwartet — wollt
+Ihr den umsonst haben?«</p>
+
+<p>»Ich? Den Schutz des Staates? Wozu? Können mir meine Felder gestohlen
+werden? Kann mir mein Wald von Räubern umgehauen werden über Nacht? He?«</p>
+
+<p>»Aber in Eure Wohnung kann man einbrechen, mißhandeln kann man Euch und
+das Haus über dem Kopf anzünden.«</p>
+
+<p>»Freilich,« rief der Hinterberger, »wer's will und stark genug ist, der
+tut's, bricht in meine Wohnung, schlagt mich tot, zündet mir das Haus
+an. Bis Eure Polizei hinaufkommt auf den Hinterberg, ist alles vorbei.
+Wenn ich selber kein Gewehr im Haus hab', so bin ich hin. Jetzt möcht'
+ich wissen, wofür ich Steuern zahlen soll!«</p>
+
+<p>»So wollt Ihr dem Staate entsagen, Hinterberger? Glaubt Ihr, daß Ihr
+allein bestehen könnt? Habt Ihr alles auf Eurem Grund, was Ihr zum
+Lebensunterhalte braucht? Seid Ihr nicht angewiesen, die überschüssigen
+Früchte Eurer Felder zu vertauschen, zu verkaufen, um anderen Bedarf,
+der bei Euch auf dem Hinterberge nicht wächst, einzulösen?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span></p>
+
+<p>»Ich?« fragte der Bauer, »nein. Wir Hinterberger Bauern sind auf
+ein solches Austauschen nicht angewiesen, aber Ihr Herrenleut' seid
+es. Ihr sollt froh sein, wenn wir Euch das Korn und das Rindfleisch
+<em class="gesperrt">verkaufen</em>. Freilich kommt Ihr billiger dazu, wenn Ihr mir's mit
+Gewalt wegnehmt.«</p>
+
+<p>Das war die Logik des Hinterbergers. Und die Advokaten, die sonst jeden
+Prozeß der Klienten mit Zuversicht auf sich zu nehmen pflegen, ließen
+ihn im Stich — alle. Der Bauer fand's ja erklärlich — sie halten all'
+zusammen.</p>
+
+<p>Die Nachbarn sagten ihm: »Sei gescheit, Hinterberger!«</p>
+
+<p>Er antwortete: »Oh, ich bin gescheit genug, aber ihr seid dumm. Tätet
+ihr mit mir halten, durchsetzen wollten wir's! Aber einer allein? ...
+Und doch geb' ich nicht auf, was mein ist, davon zahl' ich nichts weg!«</p>
+
+<p>So ging es fort. Alljährlich war dasselbe. Zuerst kam der Bote mit
+der Aufforderung zum Steuerzahlen, dann kam die Drohung, dann kam die
+Pfändung.</p>
+
+<p>Und hierauf saß der Mann traurig vor seiner Haustür und murmelte:
+»Jetzt sind wieder die Schelme dagewesen.«</p>
+
+<p>Er hatte Weib und Kinder. Die Kinder verwahrlosten, das Weib verkam.
+Dem weinenden Weibe drückte der Gerichtsmann gutmütig die Hand und
+bat um Verzeihung, daß er seine Pflicht tun müsse. — Als die Knaben
+heranwuchsen, kannten sie nur eine Ungerechtigkeit auf der Welt: das
+Gesetz, und nur einen Feind: den Steuerbeamten.</p>
+
+<p>Der Gerichtsbote weigerte sich, in den Hinterbergerhof hinaufzugehen;
+die Knaben empfingen ihn mit Steinwürfen, der Bauer tat sein altes
+Schußgewehr zurecht. »Jeden Schelm, der in mein Haus kommt, schieß' ich
+nieder.«</p>
+
+<p>Da mußte er's erfahren, daß das Gesetz noch ungerechter sein konnte,
+als bloß Hab' und Gut wegzunehmen, daß es<span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span> auch die persönliche
+Freiheit vernichten konnte. Zwei Standarn (Gendarmen) kamen und
+reckten zur Tür die Gewehrläufe mit den Bajonetten hinein. Das Weib
+des Hinterbergers kreischte auf — <em class="gesperrt">solche</em> Räuber waren noch nie
+dagewesen. Der Mann sagte gleichgültig: »Ein dummer Kerl müßt' ich
+sein, wenn ich mich jetzt wehren wollt'. Da habt's mich, schleppt's
+mich mit, bringt's mich um!«</p>
+
+<p>Er saß wochenlang im Arrest. Er machte dort Bekanntschaft mit anderen,
+die mit dem Gesetze ebenfalls im Kriege lebten. Der »Steinschädel« war
+sonst ein Feind des Lernens, weil er ja ohnehin alles wußte und weil
+Fremdes seiner Überzeugung stets entgegen war. Aber im Arrest — das
+gestand er sich — war manches zu profitieren. Die Genossen waren reich
+an Erfahrungen und hatten neue Ideen. — Entweder der Mensch hat sein
+Eigentum für seine Person, dann muß der Mensch dieses Eigentum fest
+zusammenhalten, und keiner hat das Recht, davon zu nehmen. Oder der
+Mensch hat kein Eigentum, alles ist gemeinschaftlich, gut, nachher muß
+aber der Reichtum so verteilt sein, daß jeder gleich viel hat. Nachher
+hat jeder Sachen genug, nachher gibt es keinen Armen mehr.</p>
+
+<p>Der Hinterberger hatte sein Lebtag noch keinen Menschen so gescheit
+sprechen gehört als den arretierten Tischlergehilfen, der obiges
+erörterte. Entweder so oder so! — Aber Steuerzahlen, das ist nicht so
+und nicht so und hat keinen Sinn.</p>
+
+<p>Als der Hinterberger endlich vom Gefängnisse entlassen nach Hause
+kam, fand er das Elend noch größer. Die letzte Kuh war aus dem Stall
+gepfändet; das Weib lag krank auf dem Stroh und die Kinder balgten sich
+um die letzte Brotkrume. Zu den Nachbarn war sein Weg, daß sie ihm
+hülfen. Sie lachten ihn aus: »Du Narr, du bist selber schuld. Hättest<span class="pagenum" id="Seite_304">[S. 304]</span>
+nur etliche Bäume aus deinem Wald verkauft und die Steuerschulden wären
+gedeckt gewesen.«</p>
+
+<p>»Die Steuer-<em class="gesperrt">Schulden</em>? Wieso Schulden?«</p>
+
+<p>»Ja glaubst denn, Nachbar, du kommst auf, gegen die Weltordnung?«</p>
+
+<p>»Ich weiß es, daß ich zugrunde gehe, aber ich weiß es auch, daß ich
+recht habe, und das ist ein ganz anderes Recht als jenes, so in euern
+Gesetzbüchern steht. Und es wird kommen, daß kein Mensch mehr Steuern
+zahlt, als etwa der Pächter. Ja, da möcht' ich leben.«</p>
+
+<p>Es kam die Zeit heran, da der älteste Sohn des Hinterbergers
+militärpflichtig wurde. Das wird wieder einen Sturm geben mit dem
+Alten, meinten die Leute. Aber siehe, der Bauer hatte kein Wort dagegen
+und ermahnte noch den Burschen, seinen Vorgesetzten zu gehorchen und
+ein tapferer Beschützer des Vaterlandes zu sein.</p>
+
+<p>Die Behörde hatte mit ihm so viel Nachsicht als möglich. Der Pfarrer
+besuchte ihn einmal und suchte ihn mit Vernunftgründen zu bekehren.
+»Hochwürden« sprach der Bauer rundweg, »wenn Er vom Himmel und Hölle
+predigt, da hört man Ihm gern zu; wenn er anstatt Saufen und Raufen
+das Beten und Almosengeben aufbringen will, so hat's auch noch seinen
+Schick, aber vom Steuerzahlen — mit Verlaub — versteht Er gar nichts.«</p>
+
+<p>Da stieg der Oberamtmann selber einmal hinauf gegen den Hinterberg mit
+der Absicht und der festen Überzeugung, den närrischen Kauz mit Güte
+zu bekehren. Er kam eher zurück, als er sich gedacht hatte, kam sehr
+aufgeregt zurück und gab Befehl, gegen diesen wilden Menschen auf dem
+Berge nicht die geringste Rücksicht mehr walten zu lassen. Was ihm
+passiert war, ist nicht offenbar worden.</p>
+
+<p>Nun pfändeten sie dem Hinterberger den schwanken<span class="pagenum" id="Seite_305">[S. 305]</span> Tisch und den
+wurmstichigen Kasten, so daß die wenigen Habseligkeiten hingeworfen
+lagen auf dem morschen Fußboden. Elend sah es aus im Hause, und die
+erwachsenen Jungen lungerten arbeits- und zuchtlos draußen in den
+Weiten herum und aßen ihr Brot, wo und wie sie es fanden. Eines Tages
+wurden zwei davon als Wildschützen eingefangen.</p>
+
+<p>»Ist nicht in Ordnung das!« meinte der Alte, »nur abstrafen, ist schon
+recht, nur abstrafen!«</p>
+
+<p>»Dann muß man auch dich mitabstrafen,« rief ein Nachbar, »wie du
+deine Kinder hast gebogen, so sind sie erzogen. Darf man ein Gesetz
+überschreiten, warum nicht auch zwei, warum nicht auch das dritte,
+wenn's gelegen ist, warum nicht alle?«</p>
+
+<p>Mit der armen Hinterbergerin hatte es endlich ein Ende. Ihr letztes
+Wort im Sterben war gewesen: »Gott Lob und Dank!«</p>
+
+<p>Die Leichenkosten bezahlte er willig und bar. Aber als die
+Verlassenschaftsgebühren zu erlegen waren, fluchte er: »Der Tod auch
+besteuert? Auch mit <em class="gesperrt">dem</em> machen sie noch ein Geschäft? Verdammt!«</p>
+
+<p>Eines Montagmorgens war die ganze Gegend in Aufregung. In der Lansa
+war ein junger Bursche erschlagen gefunden worden. Ein Raufhandel war
+in der Nacht gewesen. Am nächsten Tage kehrte der jüngste Sohn des
+Hinterbergers nicht ins Haus zurück. Dafür kam die Botschaft, der
+Hinterberger möge mit dem Mittagessen nicht auf sein Bürschl warten,
+dasselbe käme heute nicht heim, käme vielleicht auch morgen nicht,
+käme vielleicht viele Jahre lang nicht — die Standarm hätten ihn mit
+sich genommen, weil er einen blutigen Rockärmling gehabt habe. Und
+einen blutigen Ärmling habe er gehabt, weil er den Sager-Urb umgebracht
+hätte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_306">[S. 306]</span></p>
+
+<p>»Was hätte er?« fragte der Hinterberger.</p>
+
+<p>»Den Sager-Urb hat er umgebracht.«</p>
+
+<p>»Wer?«</p>
+
+<p>»Dein Bürschl — dein Hans.«</p>
+
+<p>Da legte der Alte die Hand ans Ohr, daß sie die Schallwellen
+hineinleite und sagte leise: »Jetzt muß ich noch einmal fragen, wie
+du's meinst!«</p>
+
+<p>Und der Bote antwortete eben noch einmal.</p>
+
+<p>Jetzt nannte der Alte den Boten eine Bestie.</p>
+
+<p>Aber solcher Bestien waren mehr. Keiner hat es zwar gesehen, daß
+der Hinterberger-Hans den Sager-Urb erschlagen und in die Lansa
+geworfen hatte, doch jeder war davon überzeugt. Beim Lindenwirt
+waren sie des Abends zusammen gewesen, es wurde getrunken, gesungen,
+gezankt und gerauft. Der Metzger Pankraz hetzte, der Urb gab dem
+Hans einen Schlag auf die Wange und nannte ihn einen Strolchen von
+der Hinterberger-Höhlen, von der seit Jahren schon kein braver
+Mensch mehr herausgegangen sei, weil keiner hineingehe. Auch eine
+Wilderergeschichte war dabei und einer Liebschaft wegen ging es her.
+Der Hans war so wütend, daß er das Ofengeländer zerriß, um mit der
+Holzlatte den Urban niederzuschlagen, hätten ihn nicht mehrere Männer
+davon abgehalten. Nun ging er in die Nacht hinaus und kam nicht mehr
+zurück. Um Mitternacht steckte der Urb seine große Brieftasche ein und
+verließ das Wirtshaus; eine halbe Stunde später war an der Lansa ein
+Schrei.</p>
+
+<p>Und am nächsten Morgen begegneten zwei in die Arbeit gehende Männer dem
+Hinterberger-Hans, der just am Hollerbrunnen Blut von seinem Ärmling
+wusch. Ein paar Stunden später fand man unten an der Hammerwehr den
+toten Sager-Urb, der mehrere Stiche am Halse und an der Brust hatte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_307">[S. 307]</span></p>
+
+<p>Der Hans wurde als Verbrecher zu Gericht geführt. Er leugnete die Tat,
+die Leute lachten ihm ins Gesicht: Was das Leugnen helfe, wenn alles
+sonnenklar liegt!</p>
+
+<p>»Daß ich beim Nachhausegehen in der Nacht Nasenbluten gehabt, das wird
+mich doch nicht unglücklich machen!«</p>
+
+<p>Man befahl ihm, daß er schweige. —</p>
+
+<p>Der Hinterberger lief zum Gericht: »Den Buben laßt mir aus! Ich
+verpfänd' Haus und Hof für meinen Hans! Er hat nichts getan.«</p>
+
+<p>»Geht, Alter, Haus und Hof habt Ihr nicht mehr zu verpfänden!«</p>
+
+<p>Der Hinterberger schwankte heim zu, da fand er die Türe seines Hauses
+versperrt und versiegelt. — Seit so vielen Jahren die Steuern
+verweigert, da hat man ihm endlich den Prozeß gemacht.</p>
+
+<p>So lag nun unter dem Schatten der Esche ein Bettelmann. Nein. Er wollte
+nicht betteln, er wollte da liegen bleiben und sterben als ein vom
+Staate Zugrundegerichteter. Aber zwei mitleidige Bauern schleppten ihn
+mit sich. Er blieb dabei, der Hans wäre an dem Morde unschuldig; und
+die Leute blieben dabei: kein anderer hätte den Sager-Urb erschlagen
+als der Hinterberger-Bursch'. Die einen gaben ihm lebenslänglichen
+Kerker, die anderen ließen ihn hängen.</p>
+
+<p>Im Gerichtssaale ging es heiß zu. Und das Urteil wurde gesprochen. —
+Der Hans kehrte aus dem Kriminal zurück und war frei.</p>
+
+<p>Der Alte hatte es nicht glauben können, daß er schuldig sei und konnte
+es jetzt nicht glauben, daß er frei war.</p>
+
+<p>»So hat dich doch der heilige Johannes von Nepomuk gerettet?« Der von
+Nepomuk ist nämlich ein Patron, den man anruft, um eine verlorene Ehre
+wieder zu finden.</p>
+
+<p>»Glaub' nicht, daß er's gewesen ist,« berichtete der Hans,<span class="pagenum" id="Seite_308">[S. 308]</span> »er hat
+einen schwarzen Frack angehabt. Ein Doktor ist's gewesen, und der hat
+alles genau untersuchen lassen und hat alle Zeugen überwiesen und hat
+nicht eher Ruh' gegeben, bis es ist herausgekommen, daß ich unschuldig
+bin, nachdem sie derweil den richtigen Mörder erwischt haben. Der
+Pankrazl, der Schelm! Wegen Geld. — So haben sie mich freilassen
+müssen.«</p>
+
+<p>»Und hast nichts Gewisses erfahren, wer der brave Mensch ist gewesen?«</p>
+
+<p>»Nichts Gewisses nicht; den Verteidiger haben sie ihn geheißen und
+haben gesagt, das Gesetz tät' vorschreiben, daß jeder Angeklagte einen
+Verteidiger müßt' haben.«</p>
+
+<p>»Das Gesetz tät's vorschreiben?« fragte der Alte.</p>
+
+<p>War schon der Gemeindevorsteher da und sagte: »Wenn du auch ein Feind
+bist gewesen gegen den Staat und das Gesetz, so hat dich der Staat und
+das Gesetz doch nit verlassen.«</p>
+
+<p>Von dieser Stunde ging der Hinterberger in der Einsamkeit um. Dann ging
+er zur Behörde und fiel nieder auf die Knie: »Meine Herren, tun's mir
+verzeihen!«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_309">[S. 309]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Feuermann_Balthasar">Der Feuermann Balthasar.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Das Jahr ist alt geworden. Und der Knabe ist noch so jung. Er steht
+unter dem Birnbaum und schaut zu zu den Zweigen, an welchen die
+Eiszähnchen des Rauhreifes wuchern. Er schaut hinaus über die Heide und
+sieht eine kleine Strecke hin die braunen Birnbaumblätter liegen, und
+hie und da einen Stein oder einen gebrochenen Rispenhalm; dann geht
+alles in den grauen Nebel hinein. Und der Knabe schaut vor sich auf den
+Boden hin und vergräbt seine Füßchen in das froststarre Laub, das vor
+kurzen Monden noch hier oben grünte.</p>
+
+<p>Und dann zieht er mit seinen kleinen hageren Händen das Linnenwämschen
+zurecht, daß es überall langen und wärmen solle, und dann steht er
+unbeweglich und blickt in den Nebel hinaus.</p>
+
+<p>Und sieh, dort im Nebel ist ein kleiner dunkler Punkt, und der wird
+schärfer und größer und löset sich endlich ganz ab von dem Grauen, und
+es ist ein Mensch, der hastig des Weges kommt; ein sorgsam eingemummtes
+Mädchen, wohl ein wenig erwachsener als der Knabe, aber doch lang'
+nicht tausend Wochen alt.</p>
+
+<p>Das Mädchen hält an und sieht auf den Knaben hin:</p>
+
+<p>»Was stehst denn du da?«</p>
+
+<p>»Ich weiß es nicht,« war die zaghafte Antwort.</p>
+
+<p>»Wer bist du denn?«</p>
+
+<p>»Ich bin der Bübi.«</p>
+
+<p>»Wartest du auf wen?«</p>
+
+<p>»Auf den Tati.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_310">[S. 310]</span></p>
+
+<p>»Du armer Narr, du frierst ja in den Nebel hinein. Mußt du noch lange
+warten?«</p>
+
+<p>Der Kleine sah mit seinen braunen Augen auf. Diese Augen taten dieselbe
+Frage: »Muß ich noch lange warten?«</p>
+
+<p>»So will ich dir ein Feuer machen, daß du dich wärmen kannst, bis der
+Tati kommt.«</p>
+
+<p>Sie zog ihre Hände aus der Schürze und hub an, Reisig zusammenzutragen
+auf einen Haufen, dann tat sie ein Streichhölzchengefäß hervor und dann
+brannte das Holz.</p>
+
+<p>»So, und jetzt stelle dich daran und wärme dich und versenge dein
+Gewand nicht und warte.«</p>
+
+<p>Das Mädchen ging weiter, ging wieder in den Nebel hinein, bis es in
+ihm verschwand. Der Knabe hatte dem Mädchen unverwandt zugeschaut,
+und als es nun nicht mehr zu sehen war, wendete er sein Auge auf den
+Reisighaufen. Da drin knisterte es und die Flämmchen mehrten sich und
+hüpften von einem Ästchen zum andern und strebten empor. Hastig stieg
+der dünne, blaue Rauch auf und verschwamm in dem Nebel. Der Knabe
+blickte in die Flammen. Ganz nahe stand er am Feuer, rührte kein Glied,
+bewegte keine Miene, starrte gleichweg in die Flammen.</p>
+
+<p>Das Feuer prasselte, schlug hoch empor; das Reisig brach ein, die
+Flammen schrumpften zusammen, die Kohlen knisterten milder, glühten
+still, bröckelten und sanken zur Asche in den Boden.</p>
+
+<p>Stunden waren vergangen, und der Knabe blickte mit geröteten Wangen in
+das versterbende Feuer. Er hatte kein abseits gefallenes Ästlein in die
+Glut geschoben, er hatte keine Kohle geschürt; wie das Feuer strebte
+und verging, so ließ er es streben und vergehen. Die letzten Kohlen
+glühten heller und tiefer, denn es hub an zu dunkeln, und der Nebel lag
+dichter und finsterer auf der Heide.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_311">[S. 311]</span></p>
+
+<p>Seit dem Mädchen war kein Mensch mehr gekommen und gegangen; der Knabe
+hatte nach keinem ausgeblickt. Es war, als wollte er so stehen bleiben
+durch den Abend, durch die lange Nacht und immer.</p>
+
+<p>Als es schon sehr dunkelte, kam von jener Seite, in die das Mädchen
+hingegangen, ein Knarren und Ächzen heran. Es war ein Fuhrwerk; zwei
+Rinder zogen einen Wagen, auf dem ein Mann saß, der Tabak rauchte. Als
+er den Knaben sah, rief er: »Ho, oha!« Da blieben die Ochsen stehen und
+nun fragte der Fuhrmann, wie vor Stunden das Mädchen gefragt hatte:
+»Was stehst denn du da? Wer bist? Auf wen wartest du so spät in der
+Weite?«</p>
+
+<p>»Auf den Tati.«</p>
+
+<p>»Auf deinen Vater? Wo ist er denn hingegangen?«</p>
+
+<p>»Der ist auf die Kirmes gegangen.«</p>
+
+<p>»Sprich die Wahrheit, Kleiner! Heute gibt es weit und breit herum keine
+Kirmes.«</p>
+
+<p>»Auf der Kirmes hat er Musik gemacht bis in die späte Nacht, und
+jetzunder ist er noch nicht zurückgekommen.«</p>
+
+<p>»Alle Heiligen!« ruft der Mann, »das war ja der Musikant, den es vor
+drei Tagen in Ottenkirch auf der Kirchweih getroffen hat! Kleiner, das
+Warten ist nichts. Komm' zu mir auf den Wagen.«</p>
+
+<p>Jetzt wurde der Knabe verwirrt, aber er kletterte mit Hilfe des Mannes
+auf den Karren und setzte sich auf das Stroh. Hierauf taten sie eine
+härene Decke über ihre Glieder und der Mann rief »Hie jetzt!« und der
+Wagen hub an zu knarren. Sie fuhren durch Nacht und Nebel über die
+Heide. Der Knabe antwortete kaum auf die Fragen seines Schirmers,
+sondern starrte fast unverwandt in das Glimmen der Pfeife, aus der
+jener den Rauch sog. — —</p>
+
+<p>Seit diesem Tage waren ungezählte Tage vergangen.<span class="pagenum" id="Seite_312">[S. 312]</span> Der Knabe von
+der Heide war erwachsen und ein wohlgebildeter Jüngling geworden.
+Jener Fuhrmann war ein Schmiedmeister gewesen und hatte den kleinen
+Balthasar in seinem Handwerke erziehen wollen. Aber das ging nicht, der
+sonst so fleißige Bursche starrte fortweg in die sprühende Esse oder
+blickte träumerisch das glühende Eisen an, statt auf dasselbe frisch
+loszuhämmern. »Junger Mann, das Eisen muß man schmieden, solange es
+warm ist!« sagte hierauf der Meister eines Tages und riet dann dem
+Burschen, er möge es einmal anderswo versuchen.</p>
+
+<p>Balthasar kam in einen Pachthof. Das war ein flinkes Arbeiten auf
+dem Felde und im Obstgarten; aber des Abends, wenn andere im Freien
+herumstreiften, scherzten und mit den Weibsleuten schäkerten, saß der
+Balthasar am Herd und sah den Flammen zu.</p>
+
+<p>»Balthasar,« sagte nun der Pächter einmal, »was schaust du so drein und
+bist nicht lustig wie die andern?«</p>
+
+<p>Da blickte der Bursche auf: »Ich? Warum sollt' ich denn nicht lustig
+sein? mir geht es gut.« Sein Auge sank wieder der Glut des Herdes zu
+und das Antlitz des Jünglings sah nicht betrübt.</p>
+
+<p>»Wenn ich nur wüßte,« rief der Pächter, »was um des Himmelswillen da in
+der Aschengrube drin zu sehen ist.«</p>
+
+<p>Jetzt hob der Balthasar wieder sein Haupt und sagte die Worte: »Ich
+weiß auf der Welt nichts Schöneres.«</p>
+
+<p>Der Pächter schwieg eine Weile und starrte auch in die Flamme, aber
+nur im Sinnen, was er auf die Worte entgegnen sollte. Und endlich
+entgegnete er: »Wärst du sonst nicht so bündig und findig, man müßte
+hell meinen, du bist ein Narr!«</p>
+
+<p>Und der Pächter ging davon. Der Balthasar aber blieb sitzen am Herde
+und murmelte in die Glut hinein: »Allmiteinander<span class="pagenum" id="Seite_313">[S. 313]</span> wissen sie es nicht,
+wer das Feuer hat angezündet. Mädchen, dich will ich nicht verraten,
+aber du bist so schön und so gut wie das Licht.«</p>
+
+<p>Balthasar konnte gar flink und heiter sein; viel öfter aber verlor
+er sich in stilles Sinnen und Träumen. — Ich weiß nicht woher, aber
+sie ist gekommen und hat mir das Feuer gemacht auf der Heide, daß ich
+Waisenkind nicht bin erfroren. Und sie ist wieder gegangen, ich weiß
+nicht wohin. Mir schwant, ich soll sie nimmermehr sehen. Aber in den
+Flammen, da ist sie bei mir.</p>
+
+<p>Sie haben es nicht geahnt, welche Art von Frömmigkeit es war, wenn
+Balthasar am Sonntag in der Kirche sein Auge vom Altar nicht abwendete,
+bis die letzte Kerze verloschen.</p>
+
+<p>Eines Tages brannte das Armenhaus; ein Kind war in Lebensgefahr.
+Balthasar brach lustig durch die Flammen und befreite das Kind.</p>
+
+<p>»Der ist der Prophet Daniel oder der Teufel,« sagten die Leute.</p>
+
+<p>»Ei, das ist ja der Narr, der die schönsten Weiber übersieht und mit
+der Herdglut liebäugelt; dem tut kein Funke was, das ist der Feuermann!«</p>
+
+<p>Der Feuermann! Dieser Name ist dem Burschen geblieben, und in diesem
+Namen war es ihm, als sei er mit dem Feuer, dem Sinnbilde seines
+Glückes, getraut und vermählt.</p>
+
+<p>Stiller und verschlossener wurde der Balthasar; teils schwermütige,
+teils heitere Schwärmerei webte in ihm; er lebte in vergangenen Zeiten.
+Seine Vergangenheit, sonst so arm und dunkel und frostigkalt, hatte
+einen leuchtenden Stern. Die Mitmenschen spotteten seiner, da wendete
+er sich noch mehr von ihnen ab und noch mehr der Flamme zu. Fast<span class="pagenum" id="Seite_314">[S. 314]</span>
+unheimlich war es, wie er an Feuerstätten des Herdes oder des Waldes
+saß, und dem wunderbaren ewigen Rätsel des Flammenlebens zusah und
+darüber alles andere vergaß. Zuletzt wurde Balthasars Auge so geübt,
+daß er selbst in die Sonne hineinblicken konnte, wenn er auf dem Felde
+lag. Hingegen zogen sich nach und nach alle anderen Gegenstände von
+seinem Auge ab und verschwammen zitternd und unsicher in Dämmerung.
+Endlich hatte die Flamme wahrhaftig gesiegt. Eines Tages war Balthasar
+erblindet.</p>
+
+<p>Jetzt waren genug Leute da, die behaupteten, so hätten sie es
+vorausgesehen, und so hätte es kommen müssen. Und früher war kein
+einziger gewesen, der dem seelenkranken Burschen das zehrende Feuer zu
+mildern gesucht hätte durch die Wärme eines verstehenden Herzens.</p>
+
+<p>Balthasar aber saß nun stets auf der Bank vor dem neugebauten
+Armenhause und wendete das Antlitz ruhig hinaus gegen das Weite. Er
+war's zufrieden. Von allen lichtlosen Dingen der Erde verlangte ihm
+nichts zu sehen, und die Flamme hatte er, schaute er noch immer mit
+seinem Auge. »Wie schön hell sie leuchtet!« lispelte er zuweilen vor
+sich hin; und ein anderesmal wieder war er betrübt und murmelte: »Weh',
+heut' ist sie matt. Wenn sie verlischt! Balthasar, wenn du erblindest!«
+Er wußte es kaum, daß er längst erblindet war, daß er keine Blume und
+keines Menschen Angesicht und in Wahrheit keinen einzigen Lichtfunken
+mehr sah. Sein Sehnerv träumte nur noch von dem Flammenreiche, in dem
+er seit Kindestagen gewandelt war.</p>
+
+<p>Manches lange, einsame Jahr hatte die Sonne seitdem erweckt und
+versenkt. Da kam wieder einmal die Kirchweih in Ottenkirch.</p>
+
+<p>»Balthasar,« sagte der Ortsrichter zu dem Blinden, der auf der Bank
+des Armenhauses saß, »dein Vater hat auf der<span class="pagenum" id="Seite_315">[S. 315]</span> Ottenkircher Kirmes
+musiziert, so magst du wohl auch auf diese Kirmes gehen, auf daß du
+kleine Gaben für dich sammelst.«</p>
+
+<p>»Wohl, wohl,« sagte Balthasar.</p>
+
+<p>Und am Morgen der Kirchweih lächelte Balthasar vergnügt bei sich. —
+Er wird Glück haben bei seinem Gabensammeln, die Flamme, die er stetig
+sieht, brennt heute hell. — Ein Knabe führte ihn nach Ottenkirch und
+dort, wo am Beginne des Dorfes das Kreuz steht, ließ er den Blinden
+hinsitzen auf den reiftauigen Rasen und ging davon. Balthasar fühlte
+den Frost und den Nebel wie einst auf der Heide, aber er hörte die
+Kirchenglocken und die Schritte und das Plaudern und das Lachen der
+Leute, die vorübergingen. Die Leute sahen den Blinden nicht, oder
+gedachten auf dem Rückweg ihm das Almosen zu reichen. — Auch Musik
+hörte Balthasar von den Häusern her; ihm war, als ob sein Vater geigte.
+Die Flamme flackerte vor seinem Auge, als ob ein Sturmwind ginge.</p>
+
+<p>Zwei übermütige junge Herren in feinen Tuchröcken und Seidenhüten kamen
+des Weges.</p>
+
+<p>»Ei, schau,« sagte der eine, »da sitzt ein armer Blinder, dem müssen
+wir ein Almosen reichen!« und warf ein schweres Stück in den Hut.</p>
+
+<p>»Vergelt's euch Gott!« rief Balthasar, und tastete nach der Gabe;
+»Herr,« sagte er dann, »das ist ein Kieselstein. Und man kann daraus
+Funken schlagen. Vergelt's Euch Gott!«</p>
+
+<p>Die jungen Herren gingen lachend weiter, gingen in das Dorf. Sie riefen
+jedem Krämer einen scharfen Spott zu. Vor der bekränzten Kirchentür saß
+ein Weib und bot Obst feil. Das Weib war nicht alt, aber auffallend
+häßlich geartet im Antlitze, bis auf die großen schönen Augen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_316">[S. 316]</span></p>
+
+<p>»Ei,« rief einer der beiden jungen Herren und hob einen Apfel aus dem
+Korb; »sind diese Äpfel aus jenem Urwalde, in welchem deine Eltern auf
+den Bäumen herumgeklettert?«</p>
+
+<p>Die Obstverkäuferin erschrak. Wohl mochte sie gewohnt sein, ihrer
+Häßlichkeit wegen manchen Spott zu verwinden, aber diesmal ging's ihre
+Eltern an — das grub wild.</p>
+
+<p>Die Obstverkäuferin war im Herzen verletzt, sie nahm den Korb und ging
+davon, ehe das Fest noch recht anhub.</p>
+
+<p>Als sie vor das Dorf hinauskam, sah sie den Bettler. Sie blieb stehen
+und blickte eine Weile auf die Züge des Mannes, der noch fast jung
+war und ein solches Schicksal hatte. Der ist zu gut, um vor der rohen
+Menge zu betteln, dachte sie, und dann, indem sie ein Geldstück aus der
+Tasche zog, sagte sie: »Armer Mann, was willst denn du da?«</p>
+
+<p>Kaum den Ton der Worte vernehmend, springt Balthasar auf, tastet mit
+den bebenden Händen und stöhnt: »Mädchen, Mädchen, du — du bist es,
+die mir das Feuer hat angezündet! — O, ich kenne dich, ich sehe dich,
+du schöner, du guter Engel! Bleib' nur ein wenig, bleib' bei mir!«</p>
+
+<p>Das Mädchen setzte den Korb ab und suchte den erregten Mann zu
+beruhigen. »Weißt du's nimmer!« rief Balthasar mit freudeglühenden
+Wangen, »es ist Herbst gewesen; der Waisenknabe ist gestanden auf der
+Heide, zum Erfrieren. Dann bist du gekommen und hast das Feuer gemacht.
+Du mußt es wissen, das Feuer brennt ja noch.«</p>
+
+<p>Die Obstverkäuferin hat dem blinden Manne das bereitete Geldstück nicht
+gegeben; sie hat den armen Balthasar mitgenommen, am Arm geführt und
+zuletzt auf einem Wagen heimgebracht in den Wohlstand und den Frieden
+ihres Hauses.</p>
+
+<p>Er wußte seine Blindheit nicht, er sah das Herrlichste, was man sehen
+kann, die Schönheit einer guten Seele.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_317">[S. 317]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Herr_Meyer_der_Belehrende">Herr Meyer, der Belehrende.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Michel war von väterlicher Seite ein geborener Meyer, von mütterlicher
+Seite ein geborener Sonderling. Sein Vater war Landwirt im oberen
+Ennstale; seine Mutter war die Landwirtin dazu. Sie waren vom Haus aus
+lutherische Leut', und die Frau trug — so ging die böse Mär — unter
+ihrem letzten innersten Brustfleck ein Amulett, ein kleines Bild des
+großen Tintenkleckses, welchen Luther erzeugte, als er sein Tintenfaß
+dem Teufel an den Schädel geschleudert hatte. Der Meyerin liebster
+Wandel war, daß sie umherging, um die Nachbarn zur reinen christlichen
+Lehre zu bekehren. Das gelang ihr nur bei einigen von denen, die
+ihr Geld oder Butter schuldig waren, die andern blieben verstockte
+Katholiken. Da wurde der Meyerin eines Tages gesagt: »Du scher' dich
+nicht um fremder Leut' Glauben und schau einmal, wie's dein Michel
+treibt, der glaubt nichts Katholisches und nichts Lutherisches; Heid
+ist er keiner, Jud ist er keiner. Dein Michel ist gar nichts.«</p>
+
+<p>Ihr Michel, der war seit seiner Kindheit in der Stadt und hätte die
+Gottesgelehrtheit studieren sollen. Aber weil er alles wissen wollte,
+so studierte er auch andere Gelehrtheiten. Und als ihrer solche immer
+mehr wurden und im Gehirne des Jünglings kräftig aufwuchsen, so fielen
+sie über die arme Gottesgelehrtheit her und fraßen sie auf. Und der
+Michel Meyer war auf einmal ein Weltgelehrter; er blickte in das Wesen
+der Dinge ein, aber von Muttern blieben die Gelder aus — denn die
+Gelder waren lutherisch.</p>
+
+<p>Hingegen hatte der Vater, der alte Meyer, etwas Konfessionsloses<span class="pagenum" id="Seite_318">[S. 318]</span> in
+seinem Kasten, und das half dem Studiosus recht christlich über Zeiten
+hinaus, die sonst schwer gewesen sein würden.</p>
+
+<p>Der Michel aber war kein regelmäßiger Studiosus, der nach regelmäßigen
+Rigorosen und Kommersen ein regelmäßiger Professor wird. Ihm war die
+Wissenschaft mehr als ein Handwerk, das sonst mit allen Vorurteilen
+einer alten Zunft ausgeübt wird. Und doch steckte in dem Michel dickes
+Schulmeisterblut. Die Wissenschaften, die er eingesogen, die in ihm
+großgewachsen waren, wollten ihn nun fast zersprengen, und schier, wo
+er stand und ging, explodierte sein Gehirn. Das heißt, wo er stand
+und ging, dozierte er; ja noch mehr, schon des Morgens, wenn er noch
+im Bette lag und die alte Haushälterin mit dem Frühstück in die Stube
+trat, tat er derselben dar, wieso es eigentlich komme, daß das Glas
+schwitzt, wenn es mit frischem Wasser vom Brunnen kommt, und wie das
+mit dem Wetter zusammenhänge, so daß an einem schwitzenden Glase die
+Beständigkeit der schönen Witterung vorausgesagt werden könne. Auch
+machte er die Alte oftmals darauf aufmerksam, daß der Kaffee in der
+Schale ein vorzüglicher Barometer sei. »Wenn sich in der Schale jetzt
+der Zucker, den ich hineingeworfen habe, aufgelöst, so werden Sie
+sehen, daß auf der Oberfläche ein Schaum entsteht; steht dieser Schaum
+in der Mitte, so hält das schöne Wetter an, legt er sich aber an den
+Rand, so haben wir bald Regen. Sehen Sie, er steht in der Mitte! —
+Das ist merkwürdig, nicht wahr? Nun hören Sie, jetzt will ich Ihnen
+erklären, wie das kommt.«</p>
+
+<p>Die Haushälterin machte sich stets beizeiten aus dem Staube, der noch
+nicht aufgewischt war; sie bewunderte die Weisheit ihres Zimmerherrn,
+aber sie verstand nichts von dem, was er erklärte. Sie glaube es schon
+auch ohne Erläuterung,<span class="pagenum" id="Seite_319">[S. 319]</span> meinte sie, und sie sei halt so viel eine
+einfache Person.</p>
+
+<p>Der Herr Meyer aber benützte fleißig das schöne Wetter, das ihm
+von seinem Kaffee vorausgesagt worden war, und ging hinaus in die
+freie Natur zu den schlichten Landleuten, um sie zu unterweisen und
+aufzuklären. Denn »in der Dorfschule lernen sie nichts und auf die
+Universität gehen sie nicht; aber eines jeden Gebildeten Pflicht ist
+es, sie aus der ägyptischen Finsternis herauszuführen«. — So der
+Grundsatz des braven Michel, der zudem auch Schick hatte, die Dinge
+einfach und gemeinverständlich darzutun. Er sprach daher mit dem Bauer
+von der rationellsten Bewirtschaftung der Felder, erklärte, was der
+Humus eigentlich ist, was der Dünger tut, und daß der Regen nicht
+unmittelbar als Wasser auf den Boden wirkt, sondern als Lösungsmittel,
+welches die Salze in der Erde auflöst und den Pflanzen also zugänglich
+macht.</p>
+
+<p>Kam er zu einem Hirten auf die Au, so setzte der Michel bei diesem das
+größte Interesse für die Blumen und Kräuter voraus und hielt ihm auf
+der Stelle einen botanischen Vortrag. Und wenn der Hirt davonlief,
+so schüttelte der Michel über einen solch krassen Indifferentismus
+schwermütig den Kopf.</p>
+
+<p>Hingegen war er glücklich, wenn er unterwegs irgendwo einen jener
+grübelnden Handwerksleute traf, die über alles sinnieren, nach allem
+fragen oder im Notfalle auch alles selbst zu erklären wissen. Weiß der
+eine: Ja, so ein winziges Sternl am Himmel ist viel größer, als es uns
+scheint; nur die Entfernung macht es uns so klein, in Wirklichkeit
+ist es gewiß so groß wie ein Eimerfassel. — Oder aber: Das Erdbeben!
+Da ist halt ein großer Drache in der Erden d'rin, und so oft sich der
+bewegt, schüttelt sich der Boden und das<span class="pagenum" id="Seite_320">[S. 320]</span> ist das Erdbeben. — Wieder
+ein anderer berichtet: Ja, jetzt kriegen wir Krieg. Unser Kaiser hat
+seinen Alleröbersten, der nach ihm halt der Höchste ist, zum Türken
+in die Türkei hineingeschickt, und daß er — der Türk' — halt sollt'
+Fried' geben und nicht Krieg führen. Und jetzt, da ist der Türk'
+hergegangen und hat dem Kaiser seinen Freund, halt, der nach ihm der
+Alleröberste ist, abschlachten und braten lassen, und hat ihn gebraten
+unserem Kaiser in einer Kisten zurückgeschickt. Deswegen wird jetzt ein
+schauderlicher Krieg anheben. — Oder: Unsere liebe Frau ist ja wieder
+einem Hirtenmädchen erschienen und hat ihr's vertraut: daß, wenn sich
+die Menschen nicht bekehren, eine solche Hungersnot kommen wird, daß
+die Leut' Brot von gemahlenem Haberstroh essen, und das nicht einmal
+genug haben werden.</p>
+
+<p>Da gab's denn für Herrn Michel Meyer in Hülle und Fülle zu tun. Derlei
+Ansichten und Reden machten ihm das Blut heiß, und mit Eifer suchte er
+sie zu widerlegen und die Wahrheit, wissenschaftlich bewiesen, dafür
+hinzustellen. Nur in einem hätte er selbst belehrt werden sollen,
+nämlich, daß die Seele des Volkes am liebsten von der Phantasie lebt.</p>
+
+<p>Aber der Michel predigte drauflos. Dem erklärte er das Wachstum
+der Bäume; einem anderen bewies er, daß die Erde rund ist wie ein
+Ball; einen Dritten belehrte er über die Natur der Staatsschuld,
+ihre Ursache und Rückwirkung und ihre Notwendigkeit; einem Vierten
+zeigte er mit Kerzenlicht und einem Apfel das Wesen der Sonnen- und
+Mondesfinsternisse; einem weiteren legte er die Eigenarten gewisser
+Steine dar, erläuterte die Anziehungskraft großer Körper oder eine
+andere der physischen Kräfte: den Magnetismus, die Elektrizität.</p>
+
+<p>Häufig fand der Wanderdozent ein geneigtes Ohr, bisweilen sogar ein
+gelehriges — und da kam eine tiefe Befriedigung<span class="pagenum" id="Seite_321">[S. 321]</span> in sein Wesen, und
+er sagte sich: Also, endlich geht es doch vorwärts — <em class="gesperrt">muß</em> es
+vorwärts gehen. Die nächste Generation wird vernünftig sein; vielleicht
+richte ich schon in dieser was aus.</p>
+
+<p>Eines Tages begegnete Herr Meyer einem kropfigen, schnaufenden,
+grinsenden Kretin. Den faßte er liebevoll an der Hand, zog ihn zu
+sich auf eine Bank und sprach vom Kretinismus. Er sagte, daß er —
+der Kretin — nicht selbst schuld sei an seinem Unglücke, daß die
+Ursache oftmals in den geologischen Verhältnissen, in der Feuchtigkeit
+der Gegend und der Luft, im Trinkwasser und leider auch oft in der
+Erziehung liege.</p>
+
+<p>Der Kretin starrte ihn an, streckte seine langen, dürren Finger nach
+einem Härchen aus, das dem Michel gerade auf der Nasenspitze wuchs und
+grinste. Allein, der Herr Meyer ließ sich nicht irre machen, gab seinem
+Bankgenossen Verhaltungsmaßregeln, was die Lebensweise anlangt: viel
+Bewegung machen, sich von Fleischspeisen nähren, stets auf gesunde
+Luft und Reinlichkeit sehen; dadurch entwickle sich der Körper und die
+Entwickelung des Körpers hätte jene des Geistes zur Folge.</p>
+
+<p>Der Kretin brach in ein röchelndes Lachen aus; denn es hatte sich das
+Härchen auf der Nase bewegt.</p>
+
+<p>Und ein andermal, da sah der Michel auf der Wiese vor einem Haus ein
+Mädchen. Das sang ein schelmisches Liebeslied und begoß einen langen
+Leinwandstreifen, der auf der Wiese zum Bleichen ausgebreitet lag. Der
+Herr Michel sah dem hübschen Wesen eine Weile zu, und aus der Gießkanne
+regnete es hin auf das von der Sonne beschienene Leinwandfach, welches
+ohnehin schon weiß genug schien, um von einer anmutigen Hausfrau
+geglättet und in den Schrank gelegt zu werden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_322">[S. 322]</span></p>
+
+<p>Eine anmutige Hausfrau! In Ermangelung eines anderen Hörers hatte es
+sich der Herr Michel selbst einmal auf Grundlage seines Charakters und
+Alters sehr folgerichtig bewiesen, daß er eine Hausfrau haben müsse.
+Und als er nun das Mädchen sah, welches das schelmische Liebeslied
+sang und ihn dabei so holdselig anblickte, drängte sich ihm sonder
+jeglichen Beweises die Überzeugung auf: das ist die zukünftige ehr- und
+tugendsame Hausfrau des Herrn Michel Meyer. Er trat daher ganz zu ihr
+hin und sagte: »Tust du Leinwand spritzen, Dirn?«</p>
+
+<p>»Ja, ich tu' Leinwand spritzen, Bub'.«</p>
+
+<p>Das trauliche Bub' machte dem Michel das Herz lebendig.</p>
+
+<p>»Und weißt du wohl, wie das ist, daß die Leinwand durch das Bespritzen
+weiß wird?« fragte er.</p>
+
+<p>»Freilich, weil sie gewaschen wird.«</p>
+
+<p>»Daß sie gewaschen wird,« sagte er, »würde nicht genügen, es muß noch
+die wohltätige Einwirkung der Sonne dazukommen.« Und hierauf erklärte
+er den Einfluß des Lichtes auf die Farbe; und wie die Leinwand noch auf
+anderem, dem chemischen Wege weiß gemacht werden könne.</p>
+
+<p>Das Mädchen hielt die leere Kanne in der Hand, hörte zu und wendete
+kein Auge von dem jungen Manne, der so schön sprach, daß sie nachgerade
+noch weniger davon verstand, als bei der Viehausstellung, wenn der Herr
+Doktor eine Rede hielt, die doch auch immer sehr schön ausfiel.</p>
+
+<p>Und als er seinen Vortrag geendet hatte, sagte sie: »Laß es wohl
+gelten.«</p>
+
+<p>Und er dachte jubelnd bei sich: Das ist ein intelligentes Mädchen!
+Meinem nicht ganz unschwierigen Gedankengang hat sie zu folgen
+vermocht. Sie liebt mich, und die Liebe<span class="pagenum" id="Seite_323">[S. 323]</span> hebt naturgemäß das Weib zum
+Manne empor — auch in geistiger Beziehung.</p>
+
+<p>Mit einem sehr höflichen Gruß verließ er die Leinwandbleichende und
+nahm sich vor, am nächsten Tage um dieselbe Zeit wieder an der Stelle
+zu erscheinen. Allein am nächsten Tage war ein anderer da, der das
+Geschäft der Sprenge besorgte — ein schöner, frischer Landregen. Doch
+wie schon echte Weisheit jedes Hindernis zur Fördernis zu machen weiß,
+so kehrte der Herr Michel heute im Hause ein — bittend um Obdach. Das
+Mädchen war allein daheim; Vater und Mutter waren auf die Hochzeit
+eines Verwandten gegangen.</p>
+
+<p>»Zum Glücke bist du nicht gegangen,« sagte der Michel, »du wärest doch
+gewiß viel hochzeitlicher wie Vater und Mutter.«</p>
+
+<p>»Ich mag nicht früher auf die Hochzeit gehen, als bis ich selber dabei
+die Braut sein kann,« war die Antwort.</p>
+
+<p>»Da hast du schon recht. Ich mag ebenfalls bei keiner dabei sein, außer
+ich wäre der Bräutigam.«</p>
+
+<p>»Da hat der Herr auch recht.«</p>
+
+<p>»Du Mädel,« versetzte der Michel fast zärtlicher, als es einem Manne
+der Wissenschaft ansteht, »gestern hast du mich <em class="gesperrt">Bub'</em> geheißen.
+Der möchte ich auch heute wieder sein.«</p>
+
+<p>»Man ist nicht alle Tag' zu so Dummheiten aufgelegt. Heut' ist
+Regenwetter, und ich hab' nicht gut ausgeschlafen.«</p>
+
+<p>»Hat dich etwa gar deine Hochzeit nicht mehr schlafen lassen?«</p>
+
+<p>»Die Trud hat mich gedrückt.«</p>
+
+<p>»Der Alp?«</p>
+
+<p>»Ist auf mir gelegen — ein schauderhaftes Getier, und gemeint hab'
+ich, ich müßt' ersticken.«</p>
+
+<p>»Das ist ja kein Getier gewesen,« lachte der Herr Michel, und dann
+fuhr er ernsthaft fort: »Der Alp oder die Trud,<span class="pagenum" id="Seite_324">[S. 324]</span> wie Ihr sagt — auch
+Nachtmahr wird die Erscheinung genannt — ist weder ein Körper noch
+ein Gespenst, sondern das Produkt einer Atemnot. Das Alpdrücken wird
+erzeugt, wenn auf Mund oder den Nasenöffnungen die Bettdecke, das
+Kissen oder dergleichen zu liegen kommt. Diesen Beschwerden gesellen
+sich sofort beängstigende Träume bei, welche so lange währen, bis
+es dem Schlafenden gelingt, durch eine unwillkürliche Bewegung die
+Respirationsöffnungen wieder zu befreien.«</p>
+
+<p>»Der Herr kann gewiß ein Trudenkreuz machen?« fragte das Mädchen, »aber
+sieben Ecken muß es haben. Mit fünf Ecken kann's der Peter auch, die
+helfen nichts.«</p>
+
+<p>Sie gab ihm ein Stück Kreide in die Hand und führte ihn in die Kammer
+zu ihrem Bette. Es war fein und hoch geschwellt, hatte eine lichtblaue
+Decke mit schneeweißem Linnenüberschlag und ein rosenrotes Kissen.</p>
+
+<p>»Da sollt's halt herkommen, da,« sagte sie und deutete mit der Hand auf
+das Kopfbrett.</p>
+
+<p>»Liebes Kind,« sagte er, »das kann ich nicht tun, weil es den
+Aberglauben befördert, oder wenn du mir lohnst, so zeichne ich dir
+etwas anderes auf die Bettstatt. Doch — ich muß einen Kuß dafür
+kriegen.«</p>
+
+<p>»Aber na!« lachte sie, »Er ist doch recht ein verliebter Ding!«</p>
+
+<p>»Ich gestehe es dir, Mädchen, ich liebe dich. Ich trete in kurzer Zeit
+eine Professur an und heirate dich, Mädchen, wie du mir schon gestern
+gefallen hast; ich will dich aus der Unwissenheit des Volkes reißen und
+eine rechte, gebildete Frau aus dir machen. — Wie heißest du?«</p>
+
+<p>»Gusta,« flüsterte das Mädchen errötend und schlug die Augen zu Boden.</p>
+
+<p>»Also, Augusta, willst du mein sein?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_325">[S. 325]</span></p>
+
+<p>Sie hielt ihr Köpfchen tief gesenkt und schwieg.</p>
+
+<p>»Ich begreife es wohl,« sagte er, »daß du mit deiner Antwort zögerst,
+so lange dir das Wesen der Liebe in seiner Definition noch unbekannt
+ist. — Die Liebe, Augusta, in welche beide wir nun einzugehen
+gedenken, haben in ihrer Totalität die größten Männer aller Zeiten
+bisher nicht vollständig zu erklären vermocht. Doch vom modern
+wissenschaftlichen Standpunkte aus ist sie eine elektromagnetische
+Kraft, welche zwei Personen beiderlei Geschlechts zusammenführt, aber
+stets nur in solcher Wahl, daß die physischen Eigenschaften, sowie auch
+die psychische Bildung der beiden Personen sich gegenseitig ersetzen
+und vervollständigen. Um hiervon den Beweis zu erbringen, wird es
+allerdings nötig sein, eine mathematische Formel aufzustellen, und zwar
+—«</p>
+
+<p>Er begann mit der Kreide auf die Bettstatt zu schreiben.</p>
+
+<p>»<em class="antiqua">Plus A</em> und <em class="antiqua">minus B</em> können, um mich populär auszudrücken,
+nicht mitsammen harmonieren; noch weniger werden sich <em class="antiqua">plus A</em>
+und <em class="antiqua">plus B</em> mitsammen vertragen, ein Verhältnis, das sich mit
+<em class="antiqua">minus A</em> und <em class="antiqua">minus B</em> wiederholt. Demnach ist im gegebenen
+Beispiele nur eine Komposition möglich, nämlich <em class="antiqua">plus A</em> und
+<em class="antiqua">minus A</em>, oder auch <em class="antiqua">plus B</em> und <em class="antiqua">minus B</em> — eben so
+viel, als zwei gleichgeartete, aber nicht gleichartige Wesen, die sich
+gegenseitig ersetzen und den Unterschied in ihrer Vereinigung aufheben
+— was zu beweisen war.«</p>
+
+<p>Gusta sagte, sie höre das Ferkel so arg grunzen und müsse nachsehen, ob
+es sich etwa nicht wieder, wie letzthin, den Fuß zwischen den Barren
+verklemmt habe. Sie ging hinaus und ließ den Herrn Michel stehen in der
+Kammer.</p>
+
+<p>An einem der nächsten Tage suchte er das Mädchen wieder auf und sagte,
+wenn es ihn von nun an definitiv liebe, so würde er sich vielleicht
+gelegentlich doch noch entschließen, das Opfer zu bringen, gegen seine
+Prinzipien zu<span class="pagenum" id="Seite_326">[S. 326]</span> verstoßen und ihr zu Liebe das Trudenkreuz an ihre
+Bettstatt zu malen.</p>
+
+<p>»Je!« rief Gusta, »da ist der Herr schon zu spat dran. Just gestern
+hat mir der Peter das Trudenkreuz gemacht — ein siebeneckig's ist's
+worden, und heut' in der Nacht hab' ich gut geschlafen.«</p>
+
+<p>Freilich hat sie ihm verschwiegen, daß sie gestern noch
+Atembeschwerden gehabt, weil ihr der Peter einige Augenblicke lang die
+Respirationsöffnung durch einen Kuß verschloß.</p>
+
+<p>Aber der Herr Michel ahnte etwas dergleichen und zog fürbaß. Und als er
+sich auf seinen Wanderungen vielfach überzeugt hatte, daß die besten
+seiner verkündeten Theorien im Volke schon längst praktisch geübt
+werden und es eben diese Theorien waren, die ihm selbst nicht Zeit
+ließen, praktisch zu sein, beschloß er, seine Fahrten aufzugeben.</p>
+
+<p>Wir finden ihn heute in Wien als Dozenten; jede Lehrstunde, die er
+gibt, läßt er sich vergüten.</p>
+
+<p>Und recht hat er. Das Gold des Wissens schleudert man nicht in
+Hellerchen unter die Leute, die es in den Staub treten. Selbst die
+feingebildete Hausfrau des Herrn Professors, die er in der Stadt
+gefunden, verzichtet gerne auf den mathematischen Beweis seiner Liebe.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_327">[S. 327]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Ein_Mann_ein_Wort">Ein Mann, ein Wort.</h2>
+</div>
+
+
+<p>In einer kleinen Männergesellschaft war davon die Rede, daß in dem
+Spruch: »Ein Mann, ein Wort« eigentlich der Hauptgrund des bürgerlichen
+Rechtes, sowie des Völkerrechtes, folglich die Basis aller Zivilisation
+liege.</p>
+
+<p>Obwohl diese Behauptung Stoff zu einer schönen Gegenrede gegeben hätte,
+widersprach ihr kein einziger — bis auf den Major Schläger.</p>
+
+<p>»Ein Mann, ein Wort!« sagte er ablehnend, »ich bin auch ein Mann, aber
+ich kann dieses Wort nicht hören.«</p>
+
+<p>Das machte Aufsehen, denn just den Major kannte man als einen höchst
+wahrhaftigen, pflichttreuen Charakter.</p>
+
+<p>»Ja,« sprach der Major mit einem Ernste, der für diesen Abend sonst die
+Gesellschaft nicht beherrschte, »der Spruch ist mein Schild geworden,
+ihm lebe ich, aber hören kann ich ihn nicht mehr, er ist hart, manchmal
+zu hart für den Menschen. Mit dem Prinzip von der Gerechtigkeit ist's
+nicht immer getan, wir alle bedürfen Rücksicht, Nachlaß, Liebe. Die
+Liebe ist schöpferisch, die Gerechtigkeit ist im besten Falle nur
+erhaltend. Man kann aus Gerechtigkeitsliebe manchmal ungerecht werden.
+Wenn ich von mir verlange, mein Versprechen zu halten, so ist das
+recht; wenn ich das unerbittlich von anderen begehre, so kann das unter
+Umständen sehr unrecht sein. Ein gegebenes Wort läßt sich nicht mehr
+biegen, aber ein Mensch kann sich biegen, wenn er daran denkt, daß
+höher als Gerechtigkeit die Liebe steht.«</p>
+
+<p>Da sich die Gesellschaft über eine solche Weichheit des sonst
+trotzigen, auch physisch soldatenhaft strammen Mannes<span class="pagenum" id="Seite_328">[S. 328]</span> verwunderte, so
+begann der Major ein Erlebnis zu erzählen, durch das seine Aussprüche
+tiefere Begründung erlangten.</p>
+
+<p>»In der Touristensaison des vorigen Jahres« — so erzählte der Major
+— »beschloß ich, die Schwabenkette in Steiermark zu durchwandern. Ich
+begab mich nach Aflenz, um von dort aus den Hochschwab zu besteigen
+und jenseits des Bergstockes den Abstieg nach Weichselboden oder
+Wildalpen zu machen. Ich hatte mich schon am Vortage in Aflenz eines
+Führers versichert, eines kräftigen Älplers, der — da in der Gegend
+die Holzarbeiten eingestellt waren — keinen Erwerb hatte, wohl aber
+ein zurzeit arbeitsunfähiges Weib und eine Hütte voll von Kindern. Der
+Schütter-Franz war mir als ein sehr verläßlicher und gutmütiger Führer
+geschildert worden, und so war ich für meine nicht unbeschwerliche Tour
+der Hauptsorge enthoben.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen — es war ein prächtiger Tag zum Wandern — sprach
+ich verabredetermaßen in der Hütte meines Führers, die am Wege in die
+Fölz lag, vor, um den Franz abzuholen. Durch die Hüttentür eilten
+mehrere Weiber aus und ein, und im Innern hörte ich ein gewisses zartes
+Geschrei, so daß ich zum Franz, der an der Schwelle stand und nicht
+recht wußte, was er hier zu tun habe, die Bemerkung machte:</p>
+
+<p>»Ich glaube, daß du heute nicht auf den Hochschwab steigen wirst.«</p>
+
+<p>»Warum denn nicht?« fragte der Mann befremdet.</p>
+
+<p>»Wenn das, was ich da drinnen in der Stube bemerke, deine Familie
+angeht.«</p>
+
+<p>Er zog mich ein wenig zur Seite und vertraute mir, sein Weib hätte eben
+einen kleinen Buben kriegt, weiter wäre es nichts.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_329">[S. 329]</span></p>
+
+<p>Ich beglückwünschte ihn und erkundigte mich, ob er mir einen anderen
+Führer anraten oder verschaffen könne.</p>
+
+<p>»Will der Herr denn mich nicht haben?« rief er erschrocken.</p>
+
+<p>»Wie sie, so bist auch du entbunden — von deiner Zusage, das ist
+selbstverständlich.«</p>
+
+<p>»Des kleinen Buben wegen soll ich daheimbleiben? O du blutiger Heiland,
+wenn ich allemal daheim bleiben hätt' wollen, so oft ich einen kleinen
+Buben kriegt hab', da hätte ich mein Lebtag viele Tagewerke versäumt!«</p>
+
+<p>»Nein, nein,« sagte ich, »das geht nicht.«.</p>
+
+<p>Hierauf zog er mich mit in die Stube, und insofern es ihm gelang, dort
+den Jüngsten zu überschreien, verklagte er mich bei seinem Weibe, daß
+nun doch wieder nichts aus dem Verdienst würde, weil ich, unserer
+Verabredung entgegen, ihn nicht mitnehmen wolle.</p>
+
+<p>Die Wöchnerin, die wohl ein recht blasses Gesicht mit den Dulderzügen
+der Armut hatte, bat mich mit leiser Stimme, unsere Vereinbarung
+doch gelten zu lassen; es sei alles in guter Ordnung, was auch die
+anwesenden Nachbarinnen bestätigen könnten. Sie wüßten ja gar nicht,
+was jetzt anfangen, wenn kein Kreuzer Geld im Hause.</p>
+
+<p>Der Führerlohn war auf vier Gulden festgesetzt, wovon ich allsogleich
+den vierten Teil dem jungen Weltbürger zum Angebinde auf das
+Fensterbrett legte und den Franz, der mir als gemütvoller Mensch
+geschildert worden, nochmals aufforderte, in dieser Zeit bei Weib und
+Kind zu verbleiben. Die Partie würde an drei Tage in Anspruch nehmen,
+ich könnte es nicht verantworten, ihn so lange von seinem Hause
+abzuziehen.</p>
+
+<p>Ob es nur das wäre oder ob ich etwa sonst einen Widerwillen gegen ihn
+gefaßt hätte, daß ich seiner auf einmal<span class="pagenum" id="Seite_330">[S. 330]</span> los sein wolle? So seine
+Frage. Ich versicherte ihn, daß es einzig nur aus Rücksicht auf das
+eingetretene Ereignis seines Hauses geschehe, wenn ich ihn ablehne.</p>
+
+<p>Er ließe sich aber nicht ablehnen, meinte der Franz.</p>
+
+<p>»Du gingest mit und würdest unterwegs unruhig sein, in steter Furcht
+und Angst: wie mag's daheim zugehen? Würdest mürrisch werden, die
+Partie abkürzen wollen und kein Ohr und Auge haben für das, was ich
+will. Einen solchen Führer und Gesellschafter kann ich nicht brauchen.
+Mein Begleiter ißt und trinkt und raucht mit mir, soll mich aufmerksam
+machen auf dies und das, soll mich unterhalten, ein munteres Gesicht
+haben und so sorglos sein, als ich es bin. Guter Franz, dazu bist du
+dieser Tage nun einmal nicht der Mann.«</p>
+
+<p>Ich sah es, wie er mit leichtem Kopfnicken beistimmte, aber als er
+sein bekümmertes Weib anschaute, das Kind, welches sie in arme Fetzen
+wickelten, die größeren, die sich um die Rinde des Morgenbrotes
+balgten, da war er doch wieder entschlossen, er ginge mit mir. Die
+Weiber versicherten einstimmig, es sei um und um gar kein Bedenken da
+und sollte sich etwas ändern, so könne der Mann am wenigsten dabei was
+ausrichten, so Leute stünden bei derlei Dingen eher zum Hindernis im
+Wege, als daß sie sich nützlich machen könnten. Der Franz versprach
+mir, unterwegs recht lustig zu sein und mein treuer Diener, so lange
+ich ihn brauche.</p>
+
+<p>»Bedenke es wohl!« stellte ich ihm noch einmal vor, »bis wir Mittag
+zur Fölzerhütte kommen, wird dir schon bange werden, durch die Dulwitz
+wirst du nichts mehr anderes reden, mindestens denken, als: wie wird
+dem Weib sein? dem Kind? Es ist leicht was geschehen. Am Abend, wenn
+wir in der Dulwitzhütte schlafen sollen, wirst du nach Hause wollen und
+vielleicht morgens wieder kommen, abgehetzt und<span class="pagenum" id="Seite_331">[S. 331]</span> schläfrig. Ich aber
+sage dir, Franz, ich werde keine Rücksicht haben, ich werde dich nicht
+von mir lassen. Du wirst mich übergeben wollen an einen andern Führer,
+wenn uns einer begegnet, daß du nach Hause eilen kannst. Ich aber werde
+dich halten fest, wie der Herr den Sklaven; ich bin nicht gewohnt, mich
+in fremder Gegend an fremde Leute hintauschen zu lassen, ich behalte
+den, dessen Dienste ich mir gekauft habe, so lange, bis der Vertrag
+abgelaufen ist. Ich werde unerbittlich sein, darum rate ich dir noch
+einmal: Bleibe zu Hause, ich werde einen andern finden, dich aber für
+ein andermal vormerken und bei Gelegenheit empfehlen. Wir scheiden als
+gute Freunde.«</p>
+
+<p>»Ich gehe mit!« rief er entschlossen, »ich werde meinen Mann stellen,
+wie es der Herr wünscht.«</p>
+
+<p>»Also denn!« sagte ich, »wenn du durchaus nicht anders willst. Du wirst
+drei Tage lang mit mir sein.«</p>
+
+<p>»Ich werde den Herrn nicht verlassen.«</p>
+
+<p>»Ein Mann, ein Wort!«</p>
+
+<p>Er schlug in meine Rechte.</p>
+
+<p>Der Wöchnerin schien ordentlich leichter zu sein, da sie das Geschäft
+abgemacht sah. Sie lächelte, als sie ihre kühle Hand in die meine legte
+und dann in die ihres Mannes: Wir sollten nur recht gutes Wetter haben,
+und der Franz sollte ihretwegen ganz und gar unbesorgt sein. Sie sagten
+sich: »Behüt' dich Gott!« und das Weib ermahnte ihn noch, wenn er schon
+was tun wolle, so solle er dem Bübl ein Kreuz über das Gesicht machen,
+es würde dann zur Taufe getragen.</p>
+
+<p>Er tat's, lud die bereiteten Sachen auf, und wir gingen davon. Der
+Weg durch die Fölz ist schön. In der stundenlangen Schlucht lagen
+noch die Schatten, die Alpenrosensträucher am Wege feucht vom Tau
+und dem Wasserstaube der rauschenden Fölz. Voll Harz- und Tannen-
+und Speikduft<span class="pagenum" id="Seite_332">[S. 332]</span> war die kühle reine Luft. Hoch an den Felsen lag der
+Sonnenschein. Frisch und flink, wie wir wanderten, war freilich das
+Herz heiter und die Seele klingend.</p>
+
+<p>»Franz,« sagte ich unterwegs, »nachdem wir beide uns unserer
+Pflichten und Rechte wohl bewußt sind, wollen wir als Kameraden
+miteinander wandern. Ich bin aus der großen Stadt gekommen, um mir als
+Unterbrechung meines Berufes einige frohe Tage zu machen. Ich wünsche,
+daß du sie mit mir teilst und, so wie ich, das herbe Leben vergessest.«</p>
+
+<p>Er ließ einen Juchschrei los als Antwort, wie sehr er mit meinem
+Vorschlage einverstanden sei, und er suchte mich durch Munterkeit und
+mancherlei Schwänke, die er vorbrachte, zu überzeugen, daß er den guten
+Humor nicht zu Hause gelassen hätte.</p>
+
+<p>Dann kamen die Anstiege, es kam die heiße Sonne, es kam der Durst. Wir
+rasteten im Schatten und labten uns aus unserem reichlichen Vorrat. Der
+Tag war lang, wir erfreuten uns an den Almen mit ihrer Flora und ihren
+Herden, an den wildschründigen Felsen des Fölzstein, der Mitteralpe,
+der Dulwitz, wir ergötzten uns an Steinfalken und Stoßgeiern, die
+den blauen Himmel belebten, an den Schroffen und Überhängen des
+»Ochsensteiges«, an dem eisigen Kristall des »goldenen Brünnleins«, an
+den Gemsen, die in ganzen Rudeln über Kare und Schuttriesen setzten
+oder von den Zinnen auf uns niederlauerten. Mein Franz tat manche
+treffende Bemerkung mit klarem Hausverstand, der stets anspruchslos
+auftrat, nicht so wie bei manchen Bergführern, deren Urwüchsigkeit
+ausgeklügelt und gemacht ist. Ich erinnere mich noch, daß ich ihn
+fragte, weshalb er bei seiner Mittellosigkeit geheiratet hätte, worauf
+er zur Antwort gab: als er nicht hätte heiraten wollen, habe ihm sein
+Vater gesagt: »Willst ein rechter Mann sein, so mußt auch Weib<span class="pagenum" id="Seite_333">[S. 333]</span> und
+Kind haben!« So hätte er freilich heiraten müssen. — Ich bin, wie ihr
+wißt, Junggeselle und habe dieses Gespräch nicht fortgesetzt. Indeß
+gab's mancherlei Stoff. Doch der Tag ist lang, das Wandern macht müde,
+auch wenn man noch so oft rastet; die Ergötzung spannt ab. Das würde
+ein Älpler leicht verwinden, wenn die Ermüdung und Abspannung nur die
+Schatten nicht aufkommen ließe, die im Herzen schlummern mögen! — Es
+kam, wie ich gesagt hatte, es kam genau so.</p>
+
+<p>Franz sagte kein Wort von daheim, aber er war kleinlaut geworden.</p>
+
+<p>Ich begann von seinem Weibe zu sprechen, daß er vielleicht sein
+Herz ausschütten wollte, er lenkte ab und schwieg. In der oberen
+Dulwitzhütte, die leer stand, machten wir Feuer, bereiteten uns ein
+Abendbrot und Nachtlager. Er ging zwar nicht davon, aber ich merkte,
+daß er auf seinem Reisig nicht schlief, ich hörte die Seufzer, die er
+zu unterdrücken suchte. Ich sagte nichts, freute mich fast, daß der
+Mann nun erfahren mußte, wie ich, der Fremde aus der Stadt, ihn besser
+kenne, als er sich selbst.</p>
+
+<p>Am andern Tage stiegen wir an bis zur höchsten Spitze des Gebirges.
+Mein Genosse sprach unterwegs sehr wenig und ich nicht viel mehr,
+denn dieser Aufstieg, die steilen Hänge und Wände beschäftigten die
+Lunge andererseits zur Genüge. Auf der Höhe, wo kein Strauch und
+kein Halm mehr wächst, peitschten kalte Winde, flogen Nebelfetzen,
+zwischen denen wir nur zeit- und stellenweise die Aussicht in die weite
+Alpenwelt genießen konnten. Mein Führer war stets hinter mir her, gab
+meinen Bemerkungen und Fragen kurze und verkehrte Antworten und schien
+gleichgültig sowohl gegen mich, als auch gegen die Schönheiten des
+Gebirges.</p>
+
+<p>Auf der Spitze des Berges begegneten wir einigen Touristen,<span class="pagenum" id="Seite_334">[S. 334]</span> die von
+Weichselboden heraufgestiegen waren und just ihren Führer entließen,
+da sie den Abstieg durch die Dulwitz nach der Fölz allein zu machen
+gedachten. Aus dem kleinen Gespräche, das ich mit ihnen führte,
+erinnere ich mich nur, daß sie zum Teil aus Graz, zum Teil aus Leoben
+waren.</p>
+
+<p>Wir hielten gemeinsamen Ausblick mit freiem Auge, wie mit Fernrohren,
+wir tranken uns gegenseitig Wein zu, steckten dann in die leeren
+Flaschen unsere Visitkarten und friedeten sie mit Steinen ein, damit
+die Nachkömmlinge von uns auf solcher Höhe ein Denkmal fänden, und
+taten, was Bergbesteiger an ihrem Ziele eben zu tun pflegen. Ich hätte
+es vorgezogen, mit meinem Franz allein auf der Spitze dieses Berges zu
+stehen, vorausgesetzt, daß wir beide bei Humor gewesen wären.</p>
+
+<p>Als ich mich wieder nach meinem Genossen umsah, stand der abseits
+hinter einem Felsblock und führte mit dem Führer aus Weichselboden ein
+Gespräch. Mir kam das gleich verdächtig vor.</p>
+
+<p>Nicht lange währte es, so kam — während sich Franz hinter dem Felsen
+mit seinen Bergschuhen zu schaffen machte — der fremde Führer zu mir
+heran und sagte: »'s ist schade, daß die Aussicht nicht ganz rein ist,
+gnädiger Herr, aber es wird heute noch heiter. Der Barometer steigt.
+Sehen Sie, dieser Kamelrücken dort, das ist die hohe Veitsch.«</p>
+
+<p>»Ich weiß es,« war kurz meine Antwort und wendete mich nach der anderen
+Seite.</p>
+
+<p>»Aha, der gnädige Herr schauen sich die Ennstaleralpen an,« schwatzte
+er weiter, »der Dachstein hat leider Gottes eine Haube auf. Der hohe
+Berg, der dort wie ein Heuschober steht, das ist der Grimming.«</p>
+
+<p>»Ich weiß es!« schnauzte ich ihn an, »Franz, wo steckst du denn?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_335">[S. 335]</span></p>
+
+<p>Der Führer aus Weichselboden ließ sich nicht verblüffen. »Der Herr
+sind von Aflenz heraufgekommen,« sagte er, »und wollen gewiß zur Salza
+hinabsteigen. Das ist auch mein Weg und könnten wir leicht miteinander
+gehen. Mit Verlaub!« Er suchte mir diensteifrig den Plaid umzuhüllen,
+den mir der Wind von der Achsel gerissen hatte. Ich ging gegen den
+Felsen und sah, wie dort Franz kauerte und in die Gegend von Aflenz
+hinabschaute. Der Weichselbodner Führer kam mir nach und sagte:</p>
+
+<p>»Ganz im Ernst auch noch, gnädiger Herr, wir haben den gleichen Weg
+hinab und ich will den gnädigen Herrn für ein kleines Trinkgeld recht
+gern weisen.«</p>
+
+<p>Nun merkte ich wohl schon, daß ich verraten und verkauft war, doch
+stieß ich derb heraus, man möge mich in Ruhe lassen, ich hätte ohnehin
+meinen Führer.</p>
+
+<p>»Das schon,« meinte der Weichselbodner, »aber der sagt mir, daß ihm
+schlecht geworden ist.«</p>
+
+<p>Da kam schon der Franz auf mich zu mit gefalteten Händen und bat:
+»Herr, ich kann's nicht mehr aushalten, ich muß heim. Ich bitte
+tausendmal, daß mich der Herr gehen läßt. Der Mathias dort, der ist aus
+Weichselboden, ich kenne ihn gut, er übernimmt meinen Dienst gerne und
+kennt den Weg besser als ich. Ich kann nicht mehr, — — wenn ich auf
+heim denk'.«</p>
+
+<p>So sprach er. Ich habe ihn an der Hand genommen und in aller Ruhe
+folgendes zu ihm gesagt: »Franz, du wirst nicht gehen, du wirst bei
+mir bleiben, so lange ich dich brauche. Ich habe dir früh genug alles
+vorgestellt, du hast es so haben wollen, du hast mir dein Wort gegeben.
+Ich bin ein alter Soldat und lasse mit einem Ehrenwort nicht spaßen.
+Ich lasse mich nicht nach Laune und Stimmung verschachern,<span class="pagenum" id="Seite_336">[S. 336]</span> ich habe
+dich gekauft, du bist mein und du bleibst bei mir, bis die drei Tage um
+sind.«</p>
+
+<p>»Wenn daheim ein Unglück geschieht!« stotterte er.</p>
+
+<p>»So geschieht's!« rief ich zornig, »und wenn dein Weib stirbt, deine
+Kinder umkommen, deine Hütte niederbrennt, du hast dein Wort gegeben,
+daß du bei mir bleibst und das fällt nicht. Du bleibst!«</p>
+
+<p>Darauf war der Franz still und sagte kein Wort mehr — und blieb bei
+mir.</p>
+
+<p>Wir begannen den Abstieg, passierten das Gschöderkar, und auf
+dem Edelboden, wo uns wieder die ganze Milde eines heiteren
+Sommernachmittags umfloß und die Würze der Alpenkräuter uns erquickte,
+hielten wir Rast. Franz war immer noch still, aber aufmerksam für alle
+meine Wünsche und gutmütig. Ich war sehr mit mir zufrieden, daß ich
+meine Sache so gut durchgesetzt hatte. Wohin käme auch die Welt, wenn
+das Verhältnis zwischen Herrn und Diener so lax würde und willkürlich!
+Die ganze gesellschaftliche Ordnung ginge aus den Fugen und der Teufel
+möchte da noch Herr sein. Es tat mir leid, aber mein Franz, der mußte
+nun parieren, und als wir spät abends im Wirtshause zu Weichselboden
+anlangten, wollte ich ihn und mich für die Mühen entschädigen mit
+allem, was das Haus bieten konnte. Doch mein Franz suchte bald das
+Bett. Wie er geschlafen, das weiß ich nicht.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen mochte er, so lange ich schlief, mäuschenstill
+gewesen sein, aber als ich die Augen auftat, machte er Lärm. »Es gibt
+nichts Schöneres auf dieser Welt, als den heutigen Tag!« so rief er
+aus. Ich fand den Tag nicht just besonders, der Himmel war mit Wolken
+bedeckt, die stellenweise an den Wänden niederhingen. Als wir später
+durch das großartig wilde Engtal gingen, das der Ring heißt,<span class="pagenum" id="Seite_337">[S. 337]</span> und dann
+in der Steinwüste, der »Höll«, dem Karstriegel zuwanderten, schnitt uns
+von den Höhen nieder eine frostige Luft entgegen; dort und da rieselte
+es in den Schuttmulden oben, dann krächzte irgendwo ein Rabe. In den
+schwarzen Wassertümpeln, an denen wir vorbeikamen, spiegelte sich das
+Gebirgsbild in seiner Düsternis. — Aber nichts Schöneres als dieser
+Tag! hatte mein Begleiter ausgerufen; es war eben der dritte unserer
+Partie, der letzte, an dessen Abend er frei sein und die Seinigen sehen
+sollte! — Den Ausläufer des Schwab, die Aflenzerstarritze, wußte
+er auf schlechten Steigen zu umgehen, so daß wir am Mittag schon in
+Seewiesen waren.</p>
+
+<p>Im Wirtshause zu Seewiesen lag ein schwerkranker Maria-Zeller
+Wallfahrer, der schon früh nach Aflenz um Arzt und Priester geschickt
+hatte und immer noch vergebens auf sie wartete. Franz machte ihm die
+Zusage: wenn sie uns auf dem Wege begegnen sollten, so würde er zur
+Eile ermahnen.</p>
+
+<p>Wir waren eine Stunde gegangen, da begegneten sie uns. Der Priester,
+vom Boten mit dem Versehglöcklein und dem heiligen Licht in der Laterne
+begleitet, war im Chorrock und trug das Allerheiligste. Wir beugten die
+Knie, er segnete uns und warf dabei einen Blick auf meinen Begleiter,
+den der aber nicht bemerkte, weil er das Haupt gesenkt hielt. — Ein
+paar hundert Schritte weiter hin begegnete uns der Arzt.</p>
+
+<p>»Ihr sollt nur eilen!« rief ihm der Franz zu, »sonst kommt ihr zu spät.«</p>
+
+<p>»Wer wird uns aufgehalten haben!« sagte der Arzt im eiligen
+Vorübergehen, »du kommst halt auch zu spät, mein lieber Franz!«</p>
+
+<p>Ich weiß kaum, wie wir nach Aflenz kamen, ich weiß nicht, wie mir
+zumute war, ich erinnere mich auch nicht,<span class="pagenum" id="Seite_338">[S. 338]</span> ob Franz ein einziges Wort
+des Vorwurfes, der Klage sprach, oder ganz stumm war.</p>
+
+<p>Sein Weib fand er auf der Bahre.</p>
+
+<p>Er trug den Schmerz, wie man den herbsten trägt — tränenlos.</p>
+
+<p>Ich bat ihn um Verzeihung, daß er meines Starrsinns wegen sein Weib
+nicht mehr lebendig sehen konnte, ich bot ihm alles an, was ich bei mir
+trug. Er lehnte es ab und sagte nur, ich sei im Recht gewesen.</p>
+
+<p>Im <em class="gesperrt">Recht</em>! Seitdem ist mir das Wort verdächtig. Der Franz
+hatte wie ein Mensch gehandelt. Ich wie der Dämon eines Prinzips.
+Daß er mit mir gegangen, aus Pflichtgefühl war es geschehen, er
+hatte seiner Familie Brot zu schaffen. Aus Sorge und Angst um seine
+Familie war's, als er mich auf dem Berge verlassen wollte. Ich dachte
+und fühlte nichts, als daß ich im Rechte sei, ich war ein blutloser
+Gesetzparagraph — und das ist ein Ungeheuer. Ein Mann, ein Wort!
+Vielleicht wäre diesmal die Erinnerung: Ein Mann, ein Weib! besser
+gewesen.«</p>
+
+<p>So hatte der Major erzählt, und die Gesellschaft blieb nachdenklich,
+bis sie auseinanderging.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_339">[S. 339]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Hauptmann_Alles">Hauptmann Alles.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Ja, diesen Weihnachtsmorgen vergesse ich nicht. Eben trete ich hinaus
+in die kalte Morgenröte und schaue hin über die feuchten Schneefelder
+und denke: Heute ist Christtag, da muß man Gutes tun, und so will ich
+mir einen guten Tag antun.</p>
+
+<p>Da kommt mein alter Knecht Martin von der Frühmesse daher — er hat
+heute seinen hochgespitzten Hut mit dem weißen Federbusch auf und sein
+vergnügtes Feiertagsgesicht an und eine große Zigarre d'rin stecken.
+Er raucht sonst Pfeifen, aber zu den hohen Festtagen, wenn der Meßner
+frische Kerzen in die Altarleuchter tut, da steckt sich der Martin zur
+größeren Ehre Gottes eine Zigarre in den Mund. Kann's aber nicht recht,
+zieht zu oft an, nebelt zu stark, nimmt sie dann nach jedem zweiten Zug
+aus dem Mund und spuckt die Tabakblättchen aus, die ihm an den Lippen
+kleben geblieben sind. »Guten Morgen,« sagt er jetzt zu mir, »aber in
+der Stadt geht's heut' zu!«</p>
+
+<p>»Aha, sind die Wirtshäuser schon voll?« war meine Frage.</p>
+
+<p>»Wäre schon recht,« antwortete mein Martin, »die Wirtsstuben sind
+leer und alle Türen haben sie offen gelassen. Die Leute umstehen
+das Kranzbäckenhaus. Im Kranzbäckenhaus hat sich in der Nacht was
+zugetragen.«</p>
+
+<p>Auf diese Worte tat der Schalk, als wollte er weitergehen. Ich hielt
+ihn nicht zurück, und da er das merkte, blieb er von selbst wieder
+stehen und sagte:</p>
+
+<p>»Der Herr soll mit ihm gestern spät in die Nacht hinein ja Karten
+gespielt haben?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_340">[S. 340]</span></p>
+
+<p>»Mit wem?« frage ich nun.</p>
+
+<p>»Mit dem Hauptmann.«</p>
+
+<p>»Was ist's mit dem Hauptmann?«</p>
+
+<p>»Das erfährt man nicht. Ich bin während der ganzen Frühmesse vor dem
+Haus gestanden und habe gesehen, wie die Weiber ein- und auslaufen und
+hinter sich allemal das Tor verriegeln. Eine hat gesagt, wir Leute
+sollten auseinandergehen und zusehen, daß uns selber die Gnad' Gottes
+nicht verlasse. Sonst erfährt man nichts.«</p>
+
+<p>»Was muß das sein, wenn's den Weibern die Stimme verschlagen hat!«</p>
+
+<p>»Im ganzen Kranzbäckenhaus,« fuhr mein Martin fort, »soll man noch die
+Schießbaumwolle riechen, sagen die Leute. Ich bin gegenüber auf das
+Wagenschuppendach gestiegen, aber man sieht nicht hinein; im Zimmer, wo
+der Hauptmann gewohnt hat, sind die Fenstervorhänge herabgelassen.«</p>
+
+<p>Das war mir just genug. Ich eilte sogleich ins Städtchen. — Sollte
+er's denn wirklich vollbracht haben? Wir hatten am Abend zuvor das Wort
+für einen derben Scherz gehalten; in der Nacht, da ich schlaflos auf
+meinem Bette lag und die Christglocken klingen hörte, fiel es mir aber
+plötzlich ein: Dieser Mensch ist alles imstande.</p>
+
+<p>Unter den Sonderlingen des Städtchens war mein Hauptmann das
+Prachtexemplar. Mit seiner Jugend soll es ganz regelmäßig zugegangen
+sein. Er war ein Soldatenkind, wurde selbst Soldat und war demnach
+auf jener festen Bahn, auf der man nie entgleisen kann, in seinem
+neunundzwanzigsten Jahre Hauptmann. In seinem dreißigsten hatte er
+das Mißgeschick, eine unvorhergesehene, sehr namhafte Erbschaft zu
+machen. <em class="gesperrt">Vor</em> dieser Erbschaft — das versteht sich — war das
+Soldatenleben ein Glück für jeden, den es traf; es kräftigte Körper
+und Charakter; Pünktlichkeit,<span class="pagenum" id="Seite_341">[S. 341]</span> Gehorsam, Mut, Ritterlichkeit, und
+was weiß ich, lernte man nur beim Militär. Nach der Erbschaft war es
+plötzlich ein Knechteleben, ein Hundeleben — jeder ein Narr, der
+weggehen kann und es nicht tut. Hauptmann Alles wurde ein freier
+Mann und wandte sich den schönsten Seiten der Welt zu. Manche freie
+Stunde hatte er sonst mit Zeichnen, Farbenstudien, Musik oder anderen
+Künsten verbracht, jetzt wurde er Maler. Er wurde es so plötzlich, als
+man Staffelei, Leinwand, Farben kaufen und bereiten kann. Die braune
+Sammetjoppe war auch da, nur das Wachsen des Knebelbartes konnte mit
+der Vollendung des Meisters nicht gleichen Schritt halten. Und als die
+Freunde kamen und schauten, war es eine blendende Farbenpracht, und
+in den Blättern war die Rede von der edlen Komposition, von der Wärme
+des Tones, von dem harmonischen Zusammenstimmen, als handle es sich um
+eine Symphonie, und es war Meisters Ahles' Gemälde gemeint. Da dachte
+Ahles, wenn das schon auf der Leinwand so fein komponiert, so warm im
+Tone, so harmonisch zusammenklingend ist, um wie viel besser noch läßt
+sich das in einem Musikstück machen. Und er komponierte eine Oper. Von
+dieser sagten seine Freunde, sie wäre bei der Unvollkommenheit unserer
+Opernbühne, bei dem Mangel an bedeutenden Sängern heutigestags absolut
+nicht aufführbar. Während nun der Meister auf einen fürstlichen Mäcen
+wartete, der ihm die Aufführung ermöglichen sollte, vertrieb er sich
+die Zeit mit Poesie. Er schrieb ein großes Werk um das sich allsogleich
+zahlreiche Verleger bewarben — der Autor bezahlte nämlich im voraus
+bar den Druck.</p>
+
+<p>Trotz alledem war dem Meister nicht wohl zumute. Anfangs hatte er
+keinen Tadel zu ertragen vermocht, allein das vorlaute, unbedingteste
+Lob, mit dem sie jetzt alles ohne Ausnahme, was von ihm kam,
+überschütteten, war ihm auf<span class="pagenum" id="Seite_342">[S. 342]</span> die Länge schier noch unangenehmer, ja
+nachgerade verdächtig. Eines Tages sagte ihm sein rücksichtslosester
+Freund: »Mir tut's weh, lieber Moritz, dich fortweg hänseln zu sehen.
+Laß das mit dem Malen, Komponieren und Dichten, du bist der Mann für
+etwas anderes.« Eine Weile nach diesem undankbaren Freundschaftsdienste
+führte der Hauptmann seine Liebhabereien noch fort, und zwar dem
+Freunde zum Trotz mit großtuerischem Wesen. Plötzlich jedoch
+verschleuderte und verschenkte er all seine Requisiten und Instrumente
+und kaufte sich in entlegener Gegend ein großes Landgut. Er verschrieb
+sich eine Anzahl landwirtschaftlicher Werke und fing an, genau nach
+solchen Lehren seine Wirtschaft zu betreiben. Er war glücklich über
+die Entdeckung, daß er ein genialer Landwirt sei. Die Kleinbauern um
+ihn her wagten es anfangs, seine neuen Methoden zu bezweifeln, indem
+sie sagten, daß eine Kappe nicht für alle Köpfe passe, und daß man die
+Gegend, das Klima und den Boden kennen und berücksichtigen, wenn man
+die Wirtschaft ertragsfähig machen wolle. Der Hauptmann ignorierte den
+verrosteten Sinn der fortschrittfeindlichen Nachbarn und arbeitete
+nach den allgemeinen Anleitungen der Fachgelehrten. Sonst aber gefiel
+der Mann den Bauern, er hielt mit ihnen, war stets nachbarschaftlich
+und uneigennützig, erleichterte ihnen den nötigen Verkehr mit der
+Außenwelt, indem er Roß und Wagen auf den Straßen hielt und Personen,
+auch oft kleine Warenladungen unentgeltlich beförderte. Auch nahm er
+sich in Steuerangelegenheiten ihrer an, bemühte sich, ihre Söhne dem
+Soldatenleben zu entziehen, und er sagte, wenn das Volk einmal die
+Soldaten verweigere, dann höre auch die Steuerplage auf. — Das war ihr
+Mann. Bei einer nächsten Wahl machten sie Herrn Ahles zum Abgeordneten.</p>
+
+<p>Bei der ersten Sitzung verhielt sich der Gutsbesitzer im<span class="pagenum" id="Seite_343">[S. 343]</span> Parlamente
+ganz ruhig; es handelte sich um einen Zollvertrag. Er hörte die
+Vorschläge, ohne dafür oder dagegen zu stimmen, zum Schlusse aber
+bat er ums Wort. Er stellte folgenden Antrag: Es sei ein Zirkular an
+alle Fürsten der Welt zu erlassen, in dem sie gebeten würden, sich
+gegenseitig zu vereinigen, sich friedlich miteinander zu vertragen und
+ihre stehenden Heere zu entlassen. Er, der Antragsteller, glaube, daß
+sich keiner der hohen Herren weigern werde, diesen zu Gunsten eines
+jeden aufgestellten Vertrag eigenhändig zu unterschreiben.</p>
+
+<p>Die Versammlung stutzte über diesen Spaß, den sich nach ihrer Meinung
+das neue Parlamentsmitglied an so ernster Stelle erlaubte. Als sie
+aber den ganzen Ernst des Redners sah, da gab's Gelächter. Während die
+Glocke des Präsidenten zur Ruhe klingelte, trat Herr Ahles zornig von
+seinem Sitze ab und wurde im Hause nicht mehr gesehen.</p>
+
+<p>Nach dieser Zeit verlegte er sich mit großer Passion auf die
+Zuckerrübenkultur und erbaute auch eine Tuchfabrik, zu deren Zweck er
+eine große Schäferei anlegte von friesischen und englischen Schafen,
+die eine recht lange Wolle hatten.</p>
+
+<p>Mittlerweile war seine Feldwirtschaft glücklich so tief herabgekommen,
+daß Ahles, dem man wegen seiner Allseitigkeit den Spitznamen »Alles«
+gab, daran die Freude verlor. Er suchte sich nun für seine Sorgen
+und Mühen zu zerstreuen, indem er in den Städten umherfuhr und das
+Leben genoß. Endlich kam er in unser kleines Landstädtchen, das nicht
+allzuweit von seinen Besitzungen entfernt lag, und in dem er sich beim
+Kranzbäcken ein Zimmer mietete. Er hatte das Bedürfnis, jemand zu sein.
+Er hatte allerlei Erfahrungen, hatte noch immer Geld, so wollte er
+noch einmal widerhallen. Das Städtchen war just klein und groß genug
+dazu, daß ein Mensch, wie der Hauptmann, darin seine überlegene<span class="pagenum" id="Seite_344">[S. 344]</span> Rolle
+spielen konnte. Er förderte Gesellschaften, die sich von ihm begasten
+und unterhalten ließen; er gründete Vereine, die ihn zum Präses
+machten, er veranlaßte öffentliche Wohltätigkeiten, und es erschien
+keine Nummer des Wochenblattes, die nicht preisend seinen Namen
+nannte. Daneben fand der noch immer als Garçon lebende Mann auch noch
+Zeit, den Frauen ein feiner Ritter zu sein. Er war der aufmerksamste
+Kavalier und versäumte keine Gelegenheit, den Damen gefällig zu sein,
+ihnen etwas Verbindliches zu sagen, sie zu verteidigen, wo es einen
+lustigen Strauß gab, ihnen Blumen zu pflücken, von denen er auch immer
+selbst im Knopfloche trug. Es fiel im Städtchen von schöner Hand kein
+Batisttüchlein zu Boden, das der Hauptmann nicht auf die galanteste
+Weise aufhob. Dazu war er ein schöner Mann, der sich den in seinen
+diplomatischen Tagen gegründeten Backenbart wieder wegschnitt, den
+Schnurrbart spitzte, sich wieder gerne Hauptmann nennen ließ, und der
+sich mit seiner Landwirtschaft nur insofern abgab, als er monatlich
+ein gut Stück Geld in sie hineinsteckte und täglich herzhaft auf sie
+losschimpfte.</p>
+
+<p>Aber auch in diesem harmlosen Städtchen gab es Leute, die eine so
+schöne segensreiche Existenz allmählich zu untergraben suchten.
+Es erwuchsen gesellschaftliche Zirkel, die ohne Hauptmannsspäße
+bestanden, Vereine, in denen der Hauptmann nicht Präses war,
+Wohltätigkeitsvorstellungen, die der Hauptmann nicht anordnete,
+Wochenblattnummern, die den Namen des Hauptmanns nicht oder leise
+spottend nannten, und es gab Frauen, die seinen Aufmerksamkeiten in
+sehr kühler Weise dankten und sie hinter seinem Rücken in sehr warmer
+Weise belächelten. Nur eines mußten ihm auch seine Feinde nachsagen,
+nämlich, daß er ein Mann sei in den besten Jahren. Aber sie setzten
+dazu, daß es traurig sei,<span class="pagenum" id="Seite_345">[S. 345]</span> wenn ein Mann in den besten Jahren soweit
+fertig ist, daß er die Zeit in Wirtsstuben mit Knasterrauchen und
+Kartenspiel zubringt.</p>
+
+<p>Und fürwahr, es war soweit gekommen; der Hauptmann Alles saß mit
+verlotterten Spießgesellen in den rußigen Schenken, und so verbrachten
+wir die Winterabende mit Trinken, Rauchen, Knurren und Karteln.
+Seine Laune war nicht die beste, und außer daß er bisweilen einen
+warmherzigen Fluch ausstieß, wenn ihm ein sehr schlechtes oder ein sehr
+gutes Blatt zufiel, war er wortkarg. Er trank dabei alten Wein, lud uns
+aber selten mehr zu seinem Trinken, wie er es früher gewohnt war. Gegen
+die Weiber war er etwas süßsauer geworden, und als uns am Christabende
+die stets heitere Wirtin einen Teller mit Früchtenbrot auftischte, das
+sie eigenhändig gebacken hatte, schob er den Teller unwirsch zurück
+und brummte, es möge jeder die Früchte seiner Taten selber genießen.
+Um so mehr sprach er dem Weine zu; wir anderen ließen uns auch den
+Lieblingstropfen holen, und so war der Abend recht leidlich vergangen.
+Auf einmal legte der schweigsame Hauptmann seine Karten auf den Tisch
+und sagte: »Es wird das Ersprießlichste sein, wenn ich jetzt nach Hause
+gehe und mich totschieße.«</p>
+
+<p>Wir taten einen freundschaftlichen Lacher, obwohl jeder von uns denken
+mochte, daß ein so schaler Spaß eines so prächtigen Lachers eigentlich
+nicht wert sei. Wir spielten nicht weiter, denn wir hörten die draußen
+im Schnee knarrenden Tritte der nächtigen Kirchengänger. Wir standen
+auf und gingen auseinander. —</p>
+
+<p>Während ich mir nun die ganze Geschichte so ins Gedächtnis gerufen
+hatte, kam ich ins Städtchen und vor das Haus des Kranzbäcken. Die
+Leute hatten sich verlaufen, ich ging den geradesten Weg in die Wohnung
+meines Zech-<span class="pagenum" id="Seite_346">[S. 346]</span> und Spielgenossen. An der halbangelehnten Tür derselben
+stand eine alte Frau. Dieses Anzeichen war schlecht; aber die alte
+Frau machte eine wichtige, nicht gerade trübselige Miene und dieses
+Anzeichen war gut. Sie deutete mit der Hand, welche ein Milchtöpfchen
+hielt, gegen die Türe und flüsterte, ich möge nur eintreten, aber nicht
+allzuviel kalte Luft mit durchlassen. Ich tat's; das Zimmer war dunkel
+und still — meine Augen suchten den Hauptmann. Endlich fanden sie ihn,
+er saß unweit des Ofens in einem geborgenen Winkel, rauchte die lange
+Hauspfeife und schaute auf ein Ding hin, das in seinem Bette lag, sehr
+sorgfältig verwahrt, und das bei näherer Besichtigung auf der weiten
+Welt nichts anderes war als ein neugeborenes Knäblein.</p>
+
+<p>»Hauptmann!« rief ich.</p>
+
+<p>»Halte dein Maul!« pfauchte er.</p>
+
+<p>Allerdings, das Christkind schlummerte. Und das Angesicht des alten
+Kerls mit dem Schnurrbart schmunzelte. Mein Seel', das war ein
+redliches Schmunzeln — der Mann kam mir noch niemals so schön und gut
+vor als jetzt mit diesem Angesichte, das der Rauch umwölkte und in dem
+die zwei Augen leuchteten wie Sterne der Christnacht.</p>
+
+<p>Jetzt trat die alte Frau zu ihm, fragte bescheidentlich, ob er bei
+Troste sei, und nahm ihm die Pfeife vom Munde weg. Nun hatte aber
+dieser Hauptmann die gottlose Gewohnheit, immer etwas vor den Lippen
+haben zu müssen; als ihm das Pfeifenrohr weggenommen wurde, neigte er
+sich hin und küßte das Kindl.</p>
+
+<p>»Der Bursch' ist mein!« rief er dann, und hat es mir begründet.</p>
+
+<p>Hat hernach auch das weitere erzählt. Er war in der Nacht nach Hause
+gegangen mit dem festen Vorsatze, einmal in seinem Leben eine wirkliche
+Tat zu üben, nämlich zu<span class="pagenum" id="Seite_347">[S. 347]</span> sterben, bevor er noch weiteren Unsinn begehe.
+Da fand er in seinem Zimmer die alte Frau, sie legte ihm etwas in die
+Arme und sagte: »Da bringe ich dem Herrn ein Christkindel.« Der Kleine
+wolle sich an den Vater halten, dem gehe es besser als der Mutter; die
+Mutter käme auf Wunsch auch nach.</p>
+
+<p>Was ließ sich dazu sagen, was ließ sich machen?</p>
+
+<p>Alsbald verbreitete sich das Gerücht, daß in der Stube des Hauptmannes
+etwas Absonderliches, Geheimnisvolles sei, und am Morgen versammelten
+sich vor dem Hause die Leute, zu denen die alte Frau dann sagte, sie
+sollen auseinandergehen und sich selber vorsehen. Nach wenigen Wochen
+kam auch die Mutter — ein armes, aber schönes blasses Weib, und nun
+war zum Totschießen keine Zeit und kein Verlangen mehr. Der Hauptmann
+zog mit Weib und Kind auf sein Landgut. Die Häuslichkeit mit ihrer
+Liebe und ihren Sorgen hat seinem zerfahrenen Leben endlich Inhalt und
+Wert verliehen.</p>
+
+<p>Seit jener Zeit ist das fünfte Weihnachten vorbei. Hauptmann Alles hat
+der Welt nicht mehr Anlaß gegeben, seiner zu spotten.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_348">[S. 348]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Die_Tafelrunde_der_Beruehmten">Die Tafelrunde der Berühmten.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Nach einem glanzvollen, aber kurzen Empfangsabend bei Hof saßen in
+einer Weinkneipe etliche berühmte Männer beisammen. Sie hatten sich
+heute ganz zufällig zusammengetan, aber große Seelen finden sich leicht
+und berühmte Menschen haben stets etwas Weltbürgerliches, vertrautsam
+Brüderliches an sich; in der Sphäre, in die sie emporragen, weht eine
+frischere, freiere Luft, in der sich die Elektrizität der Geister rasch
+sammeln und entladen kann.</p>
+
+<p>Die Unterhaltung war munter genug, und jetzt machte einer — man weiß
+nicht aus welchem Anlaß, wahrscheinlich infolge eines Gespräches über
+die Berühmtheiten des Empfangsabends — den Vorschlag, jeder in der
+kleinen Gesellschaft solle nun erzählen, wie er berühmt geworden sei.</p>
+
+<p>Wie er berühmt geworden? In der Tat, das war etwas. Ja! und <em class="antiqua">eh
+bien!</em> und wohlan! riefen sie durcheinander, und jeder war darauf
+gespannt, von jedem die persönliche Geschichte zu hören.</p>
+
+<p>»Ganz merkwürdig, meine Herren, ist das bei <em class="gesperrt">mir</em> zugegangen,«
+ergriff der Romanzier Paulo sofort das Wort.</p>
+
+<p>»Ich bitte!« rief der Schauspieler Werner, »es muß systematisch
+vorgegangen werden; etwa nach der Popularität des Faches, in dem sich
+jeder bewegt.«</p>
+
+<p>»Nach dem Alter die Reihe!« schlug der Chemiker Iseling vor, dessen
+Berühmtheit von der Erfindung des spanischen Brustmalzes im Jahre 1818
+nach Christus herrührte.</p>
+
+<p>»Nach dem Alphabet!« rief der Major Abacitz.</p>
+
+<p>»Jetzt ist nur noch der akademische Maler Rakutti, der sich nicht
+gemeldet hat,« sagte Doktor Sauermann.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_349">[S. 349]</span></p>
+
+<p>»Und Sauermann, Doktor der gesamten Heilkunde,« entgegnete der Maler.
+»Die Gesundheit ist die Hauptsache, der Doktor soll beginnen.«</p>
+
+<p>»Nun, wenn ihr durchaus wollt!« sagte Doktor Sauermann, denn er war der
+Bescheidene. Die Gesellschaft dämpfte ihre Stimmen. So begann er seine
+Geschichte.</p>
+
+<p>Sie ist einfach genug. Sie ist schlicht, wie der Doktor selbst war. Auf
+einer Gebirgspartie verunglückte der reiche Baron Schuß von Überschuß.
+Der Chirurg des Alpendorfes, in welchem der Verletzte liegen bleiben
+mußte, behandelte ihn und telegraphierte täglich das Bulletin in die
+Welt hinaus: »In dem Befinden des Herrn Barons Schuß von Überschuß
+keine bedenklichen Symptome. Dr. Eras Sauermann.« — »Der Zustand
+des Herrn Barons nimmt seinen normalen Verlauf. Dr. Eras Sauermann.«
+— »In dem Befinden des Herrn Barons ist eine kleine Verschlimmerung
+eingetreten. Dr. Eras Sauermann.« — »Das Wundfieber des Patienten hat
+sich in besorgniserregender Weise gesteigert. Die Kräfte schwinden.
+Dr. Eras Sauermann.« — »In dem Befinden des Herrn Barons Schuß ist
+eine leichte Besserung eingetreten. Dr. Eras Sauermann.« — »Der
+hochgeborne Herr Baron Schuß von Überschuß, k. Oberkämmerer, der Krone
+geheimer Rat, Ordensritter des goldenen Kreuzes, Besitzer vom Orden
+des heiligen Ludwig usw., ist heute morgens drei Uhr gestorben. Dr.
+Eras Sauermann.« — Bei dem Leichenbegängnisse folgt unweit hinter
+dem Galawagen in offener Kalesche ein interessanter blasser Mann in
+tiefer Trauer. — Wer ist das? — Der Arzt, der ihn behandelt hatte.
+— Also ein Leibarzt. — Doktor Eras Sauermann. — Bald hernach
+zieht er in die Stadt und ist der renommierteste Arzt der Geld- und
+Geburtsaristokratie. »Ich kann wohl sagen,« schloß der Herr Doktor,
+»ich bin auf ganz normalem Wege<span class="pagenum" id="Seite_350">[S. 350]</span> emporgekommen. Von Reklame war ich
+stets ein geschworener Feind, das einzige, was ich mir in dieser
+Beziehung gestatte, ist, daß ich meinen Patienten möglichst das letzte
+Geleite gebe.«</p>
+
+<p>»Nun, es ist ja gewiß keine Schande, heutzutage durch Reklame etwas
+zu erreichen,« sagte der akademische Maler Rakutti. »Neun Trommler
+und vierundzwanzig Trompeter müssen siebenmal sieben Wochen jeden Tag
+lärmend durch die Stadt ziehen, bis endlich jemand frägt, was der
+Teufel denn eigentlich los sei? — Meine Herrschaften, seht ihr dort
+den verkommenen Menschen?« — Jawohl, was soll der? — »Der soll viel,
+ihr schönen Frauen und ihr noblen Herren, denn er kann alles. Es ist
+das <em class="gesperrt">Genie</em>! — Ah!«</p>
+
+<p>»Sehr gut, sehr wahr!« rief die Tischgesellschaft.</p>
+
+<p>»Eine eigenartige Illustration für oder, wenn Sie wollen, gegen
+das Gesagte ist meine Geschichte,« fuhr der Maler fort. »Ich habe
+Kunstwerke geschaffen, ich bin kein Freund von vielen Worten, ich sage
+bloß: Kunstwerke. Dieselben hingen in den Ausstellungen oder sie wurden
+durch Mißgunst der Akademie-Direktoren, von welchen die meisten leider
+auch selbst malen, dem Publikum vorenthalten. Die Kritik verschwieg,
+oder was noch schlimmer, lobte mich mit jenen tückischen Phrasen, die
+dem Publikum nichts sagen als: Der Mann ist sehr arm, denn seht, wir
+geben ihm Almosen. — Kurz, als ich das dreiundzwanzigste Bild schuf,
+war das erste noch nicht verkauft. — Vierundzwanzig macht majorenn,
+dachte ich, und das vierundzwanzigste Bild soll etwas Besonderes
+werden. Es wurde auch! Das ewig Weibliche, Frauen in unverhüllter
+Schönheit sind immer willkommen! Als ich eine Reihe solcher Gestalten
+gemalt hatte, ohne eigentlich dabei an etwas anderes zu denken, als
+an die Wirkung der Farben (denn die Farben sind bei einem Gemälde
+doch die Hauptsache) nannte ich sie: die Genien der Freude. — Sie<span class="pagenum" id="Seite_351">[S. 351]</span>
+gelangten mühelos in die Kunstausstellung, denn das Echte siegt
+endlich doch. Aber am dritten Tage nach der Eröffnung verlangten die
+Journale die Entfernung des Bildes — aus Sittlichkeitsrücksichten.
+Noch an demselben Tage strömte das Publikum massenweise in die Galerie,
+um sich an den Genien der Freude weidlich zu entrüsten. Allein, wo
+das Bild gehangen, gähnte nur mehr die leere schmutzigrote Wand mit
+dem Zettel: Nr. 52 zurückgezogen. Aber die Genien blieben in ihrer
+Zurückgezogenheit nicht allein. Durch besondere Schliche war es
+immerhin möglich, das Bild in seinem Gewahrsam zu sehen, und weil
+jeder mit starkem Kopfschütteln aus der Kammer trat, so wollten immer
+noch mehr Besucher hinein. Es war ein Skandal, von dem die halbe Stadt
+sprach. Der Skandal lag jedoch nur im Skandal, nicht im Bilde. Und was
+geschah? Ich erhielt eine Zuschrift: Euer Wohlgeboren, da ich kaum
+voraussetzen darf, daß Sie als Verfertiger — Verfertiger schrieb der
+Gauch! — und Eigentümer Ihres geradezu skandalösen Bildes: Die Genien
+der Freude, dasselbe vernichten werden, so fühle ich mich im Namen
+des guten Anstandes veranlaßt, es ein- für allemal vor unberufenen
+Augen unsichtbar zu machen. Ich biete Ihnen dafür dreitausend Mark. —
+Unterschrift der Name eines bekannten Börsenjobbers.«</p>
+
+<p>»Selbstverständlich waren Sie entrüstet über das unwürdige Angebot und
+verlangten sechstausend Mark!« lachte der Major.</p>
+
+<p>»Nein,« sagte der Maler, »ich sandte dem Herrn ein höfliches <em class="antiqua">billet
+de correspondance</em>, in dem ich sehr bedauerte, das Bild unter
+zehntausend Talern nicht abtreten zu können. — Am nächsten Tage
+hatte ich die dafür lautende Kassa-Anweisung in der Hand. — Die
+Genien wurden allsogleich abgeholt, sollen aber bis heute noch nicht
+vernichtet sein.<span class="pagenum" id="Seite_352">[S. 352]</span> — Ich malte nun Bild für Bild ähnlichen Genres,
+keines kam in die Ausstellung, jedes wurde von den Reporters, die sich
+in den Ateliers herumtreiben, und auch von neugierigen Kunstmäcen mit
+Interesse beblinzelt, mit Würde verdammt und fast noch vor seiner
+Vollendung von Privaten angekauft. — Jetzt erst verstand ich das
+Wohlwollen der Presse und ich wollte den Rezensenten zu Ehren ein Fest
+geben. Sie lehnten es in Mehrzahl höflich ab. Ich aber bin seither der
+berühmte Mann und gedenke es auch noch ein Weilchen zu bleiben.«</p>
+
+<p>Nun war die Reihe — es ging um den Tisch wie ein Rundgesang — an dem
+Major Abacitz. Der war jedoch zur Tür hinausgegangen.</p>
+
+<p>»Er soll sich ja im letzten Kriege ausgezeichnet haben,« sagte der
+Chemiker Iseling.</p>
+
+<p>»Meines Wissens,« antwortete der Doktor, »hat er bloß das Gefecht von
+Otterlitz verloren.«</p>
+
+<p>»Darüber ließe sich zur Tagesordnung gehen, und so hätte wohl Herr
+Werner das Wort.«</p>
+
+<p>»Meine Geschichte ist groß!« versetzte der Schauspieler hohlen Tones,
+als begänne er den Franz Moor des Lewinsky zu deklamieren, »sie ist
+sehr groß. Ich will den Schauspieler nicht mit anderen Künstlern
+vergleichen. Was ist der Maler? Er hat als Material die Leinwand, die
+Farbe; der Bildhauer hat den Marmor, der Dichter das Wort, der Musiker
+den Ton. Der Schauspieler allein ist sein eigenes Material, seine
+eigene Leinwand und Farbe, sein eigener Marmor, sein eigenes Klavier.
+Der Schauspieler ist der einzige Künstler, der aus sich selbst schafft.«</p>
+
+<p>»Also aus nichts —« warf der Maler ein.</p>
+
+<p>»Was sagen Sie?«</p>
+
+<p>»Ich meine, aus nichts, wie Gott die Welt erschuf.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_353">[S. 353]</span></p>
+
+<p>»In der Tat, ja. Doch davon zu sprechen gebührt mir nicht,« sagte der
+Schauspieler, »ich komme zu meiner Geschichte. — In wenigen Monden
+gehen sieben Jahre um, seitdem ich nicht mehr am Leben wäre, wenn mich
+damals auf dem Theaterplatz in — doch, wozu Ortsnamen! — die Polizei
+nicht geschützt hätte. Was sagt ihr? — Ich frage euch: ist ein Applaus
+im Auditorium ein Applaus? Ist das Klatschen und Strampfen und Johlen
+und Namenrufen ein Applaus? Nein, meine Herren, das ist kein Applaus.
+Sind Lorbeerkränze mit roten Seidenschleifen und Goldbuchstaben: »Dem
+großen Mimen Fridolin Werner« ein Applaus? Sind hundert verhimmelnde
+Notizen in den Tagesblättern über unvergleichliche Darstellungskraft,
+über Wiedergabe der Rolle, wie wir sie nachgerade noch nie erlebt, über
+fingierte Engagements in großen Hoftheatern und dem unersetzlichen
+Verlust, der unserer Bühne droht; sind glorifizierende Feuilletons
+mit Biographie und schwungvoller Aufzählung aller Triumphe in
+glühenden Superlativen ein Beifall? Wenn dich Studenten von der
+Bühne zur Garderobe auf den Achseln tragen — nennt ihr das Erfolg?
+— Es tut mir leid, dann seid ihr schlecht berichtet. — Wenn du
+aber in »Kabale und Liebe« den Wurm spielst, und das Publikum gerät
+über den elenden Bösewicht derart außer sich, daß es dich nach der
+Vorstellung auf deinem Wege in den Klub abpaßt und aus wütend empörtem
+Gerechtigkeitsgefühl totschlagen will: <em class="gesperrt">Das</em> ist Applaus, Beifall,
+Erfolg!«</p>
+
+<p>Werner ließ sich auf die Lehne seines Sitzes zurücksinken und
+sagte weiter kein Wort. Es war auch keines mehr nötig. Das war die
+Geschichte, wie er berühmt wurde; der Vorfall stand damals in allen
+Blättern, und auch seither, so oft Herr Werner auf irgend einer Bühne
+Gastrollen gab, vollends wenn er den Wurm brachte, ließ er's »auf dem
+Platze« abdrucken,<span class="pagenum" id="Seite_354">[S. 354]</span> wieso ihm der Erfolg dieser Rolle schier einmal
+an's Leben gegangen sei.</p>
+
+<p>Jetzt war's am Chemiker Iseling.</p>
+
+<p>»Ihr sprecht da von Erfolgen,« sagte dieser, »die mir nicht imponieren
+können. Ich möchte sie Zufallserfolge nennen. Eine mit männlicher
+Entschlossenheit durch allerlei Hindernisse mit schweren Opfern
+zielbewußt selbstgeschaffene Existenz weise mir einer auf, wie die
+meine! Eine Berühmtheit, die über den Großen und Stillen Ozean ebenso
+mächtig hinklingt, wie über unsere Donaugelände, weise mir einer auf,
+die der meinen gleichkommt! Iseling's spanisches Brustmalz! Depots in
+Paris, London, Kalkutta, San Franzisko, Melbourne —«</p>
+
+<p>»Fischamend, Benslau —« spottete der Maler.</p>
+
+<p>»Nicht zu verachten, meine Herren! In kleinere Orte ist es schwerer zu
+dringen, als in die großen. Wen der Kleinbürger und der Bauer kennt,
+<em class="gesperrt">der</em> darf sich auf seine Berühmtheit eins gönnen!«</p>
+
+<p>Er trank scharf sein Glas Rheinwein aus. »Es hat mich ein gut Stück
+Geld gekostet,« fuhr er fort, mit der hohlen Hand seinen Bart
+trocknend. »In ein paar Jahren hoffe ich das Jubiläum der Million
+feiern zu können.«</p>
+
+<p>»Die Sie mit dem spanischen Brustmalz gewonnen haben?«</p>
+
+<p>»Ach Gott, dieses Jubiläum ist längst gefeiert. Die Million, die ich
+für Inserate und andere Reklame ausgegeben habe!«</p>
+
+<p>»Ich kann mich aber in der Tat kaum erinnern, je einmal ein Inserat
+über das spanische Brustmalz in den Zeitungen gelesen zu haben,«
+bemerkte der Maler.</p>
+
+<p>»Lieber Freund,« belehrte Iseling, »mit dem gewöhnlichen Annoncieren
+und Anpreisen, mit dem Abdruckenlassen<span class="pagenum" id="Seite_355">[S. 355]</span> der Dankschreiben durch das
+Brustmalz geretteter Personen und was dergleichen Schwindel mehr ist,
+befasse ich mich nicht. Da täte mir wahrhaftig meine Ware leid. Wir
+verfügen über andere Mittel.«</p>
+
+<p>»Zum Beispiel?«</p>
+
+<p>»Zum Beispiel wollen wir einmal den Kalender von der Wand nehmen.
+Da haben wir gleich — Zeitrechnung auf das Jahr 1883. Sie sehen!
+Seit der Erschaffung der Welt 5832 Jahre. — Seit der Einführung des
+Gregorianischen Kalenders 304 Jahre. Seit der Erfindung des spanischen
+Brustmalzes 35 Jahre ....«</p>
+
+<p>Lachend stießen sie mit ihm die Gläser an, nur Paulo, der Romanzier,
+starrte finster auf die Tischplatte, und als er wegen seiner schweren
+Schweigsamkeit zur Rede gestellt wurde, murmelte er: »Das ist mir zu
+frivol.«</p>
+
+<p>»Nun müssen ja Sie mit Ihrem Latein vorrücken.«</p>
+
+<p>»Ich schweige,« antwortete Paulo und schüttelte seine lange schwarze
+Mähne, die das blasse Gesicht wie bei einem Magier umrahmte. Dazu hatte
+er eine Art Schlangenbändigeraugen und um den Mund die Furchen des
+Weltschmerzes und die Klammern des Spottes. »Ich schweige,« antwortete
+er, »denn an einer Tafelrunde, wo Erfolg und Ruhm in <em class="gesperrt">solcher</em>
+Weise charakterisiert worden sind, könnte die Erzählung eines sich
+aus schwerer Not und mit sittlicher Kraft zur Anerkennung der Nation
+emporgerungenen Mannes wohl kaum jemals Verständnis finden.«</p>
+
+<p>»So könnten wir jetzt vielleicht ein Kartenspielchen arrangieren,«
+meinte sehr boshafterweise der Schauspieler Werner.</p>
+
+<p>»Ja und tausendmal ja!« rief Paulo, wirklich erbost darüber, daß just
+er nicht zum Erzählen kommen sollte. »Spielet, spielet! Das ist ja
+die Art der guten Deutschen,<span class="pagenum" id="Seite_356">[S. 356]</span> zechen und kartenspielen, anstatt sich
+an dem geistigen Schatze der Nation zu belehren und aufzurichten und
+ihre Schriftsteller vom Untergange zu retten. — Mich haben, das kann
+ich wohl sagen, lediglich die Gelegenheitsgedichte zu Hochzeitsfesten,
+Kindstaufen und Jubiläen vor dem Hungertode gerettet. Meine
+Jugendgedichte! — außer Schiller und Heine schriebe sie mir keiner
+nach! — Und wenn ich Ihnen sage, daß ich die Druckkosten derselben
+mit der kleinen Erbschaft meiner Tante als meinem einzigen Vermögen
+bestreiten mußte! In Deutschland, wo jährlich Tausende für Zeitungs-
+und Kolportagegeschmiere ausgegeben werden! Ich wollte hierauf eine
+große Dichtung schreiben als Seitenstück zum »Faust«. Doch nein, Paulo,
+sagte ich mir, die Deutschen sind derlei nicht wert; sie hätten auch
+den Geheimrat Goethe verhungern lassen, wenn Geheimräte zu solcher
+Todesart überhaupt inklinierten. Hingegen schrieb ich nach manch
+kleineren Arbeiten, die mir viel Lob eintrugen, aber kein Geld, einen
+großen Roman unter dem Titel: Die Auster von Tergestum. Daß diese
+Dichtung mein Glück machen werde — ich wußte es im voraus. Ich trug
+das Manuskript zu meinem Verleger. — Gucken Sie nicht so sauer drein,
+lieber Mann, sage ich, heute habe ich einmal etwas für Sie. Sie wollen
+doch Millionär sein? — Ich hätte nichts dagegen, meinte er. Gut,
+ich verkaufe Ihnen das ein- für allemal, für alle Auflagen, für die
+Übersetzungen in allen Sprachen. — Aber, mein Teurer, es tut mir leid!
+sagte der Verleger, und solche Leute, wenn sie höflich werden, sind
+unausstehlich. Teuerster! sagt er, heutzutage einen dreibändigen Roman,
+und von einem unbekannten Namen! Wo denken Sie hin! — Herr, der Roman
+ist gut! rufe ich. — Ach, das ist Nebensache, der Name muß gut sein!
+sagte der Verleger. Schreiben Sie ein schlechtes Buch, so schlecht Sie
+wollen,<span class="pagenum" id="Seite_357">[S. 357]</span> aber setzen Sie auf's Titelblatt einen berühmten Namen, zum
+Beispiel: Max Freihag, und ich drucke es und zahle dreißig Taler für
+den Druckbogen. — Tun Sie das? frage ich. — Jawohl. — Gut. — Ich
+nehme mein Manuskript unter den Arm und gehe geradewegs zu Freihag. —
+Der Romanschriftsteller Freihag wohnte nämlich in derselben Stadt in
+— doch wozu Ortsnamen! rufe ich mit Freund Werner. — Freihag, ich
+wußte aus mancherlei Anlässen, daß er mir wohlgestimmt war und ein
+gutes Herz hatte. — Ich traf ihn zu Hause. Oh, lieber Freund! rief er
+mir schon an der Türe entgegen, heute ist's nicht! — Was ist nichts?
+frage ich. — Sie wollen ja doch wieder Geld von mir! — Ach nein,
+Herr Doktor, sage ich. — Das ist gut, meinte er, denn heute habe ich
+selbst keines. — Das macht gar nichts, sage ich, denn heute müssen
+Sie mir mit etwas anderm helfen. Sie müssen mich glücklich machen für
+mein ganzes Leben! Ich will nämlich heiraten — und ich wollte in
+der Tat, ich war gerade in ein reizendes Ballettmädchen verliebt und
+in dem rechten Moment fiel es mir nun bei: wahrhaftig, das könntest
+du als Motiv anführen, und sie hernach wirklich heiraten. — Da soll
+ich Ihnen wohl gar den Brautwerber abgeben? lachte der Doktor. — Das
+nicht, sage ich, oder ja, wenn Sie's so nehmen wollen. Sie müssen mir
+nämlich meine materielle Existenz gründen. — Aber, lieber Freund, wie
+vermöchte ich das? — Doktor, Sie vermögen es, Sie können es und Sie
+werden es tun. Hier habe ich einen Roman geschrieben und Sie werden
+meinen Verleger vermögen, daß er mir dafür Honorar zahlt. — Wie soll
+ich das anfangen? fragt er; ach, 's ist ein liebenswürdiger Mann. —
+Das ist sehr leicht, berichte ich, es wird Ihnen im Leben selten etwas
+so wenig Mühe gemacht haben, als das, und Sie werden nicht leicht
+wieder einen finden, der sich mit so<span class="pagenum" id="Seite_358">[S. 358]</span> geringem Opfer namenlos glücklich
+machen läßt, als ich. Denken Sie: eine schöne, herrliche Braut, in
+die ich sterblich verliebt bin. Es wäre mir unmöglich, auch nur einen
+Tag noch zu leben, ohne die Gewißheit, sie heiraten zu können. — Ja,
+es scheint, daß Ihnen die Liebe wirklich schlimm mitspielt, sagt der
+Doktor nicht ohne Zweideutigkeit; wenn es jedoch in dem Bereiche der
+Möglichkeit liegen sollte, Ihnen zu dienen —! Gut, sage ich, so wäre
+das abgemacht. Ich danke Ihnen. — Nun, was wollen Sie denn eigentlich?
+ruft er aus. — Ach ja so. Sehen Sie, sage ich, das ist der neue Roman:
+Die Auster von Tergestum, von Emil Paulo und Max Freihag. Oder wollen
+Sie voranstehen? — Ich soll als Autor des Romanes? — Ja, Doktor,
+Sie werden als Mitverfasser Ihren Namen auf das Titelblatt drucken
+lassen. — Als Mitverfasser! ruft er, ich als Mitarbeiter an Ihrem
+Roman, ohne eine Zeile daran geschrieben zu haben?! — Das können Sie
+nachholen, wenn Ihnen daran gelegen ist. — So müßte ich das Werk doch
+zum mindesten durchlesen, denn Sie werden begreifen, daß —. Nein,
+unterbrach ich ihn, Doktor, das begreife ich nicht. Haben Sie Lust,
+den Roman heute zu lesen, so wird's mich freuen, aber was gewinnen Sie
+dabei? Entweder Sie finden, daß Sie ihn verantworten können, dann war's
+unnützer Zeitverlust; oder Sie werden durch die Lektüre veranlaßt, Ihr
+Versprechen zurückzunehmen, dann bin ich verloren. Und daran, Herr,
+daran zweifle ich keinen Augenblick, wenn Sie mit einem Namenszug
+einen Menschen retten, ja deren zwei glücklich machen können, so
+schreiben Sie Ihren Namen, wenn es sein muß, selbst auf ein ägyptisches
+Traumbuch. Die Revisionsbogen werden Ihnen ja Gelegenheit geben, den
+Roman kennen zu lernen, respektive zu bearbeiten. Die Hauptsache ist
+jetzt Ihr Name; mein Verleger schließt in einer halben<span class="pagenum" id="Seite_359">[S. 359]</span> Stunde das
+Kontor. — Das war mein Begehr, und nicht einmal die Pistole brauchte
+man dazu in der Hand zu haben. — — Er hat's getan. Ich wußte recht
+gut: nach einer Stunde tut er's nicht mehr; sobald ihm wieder der
+Herzschlag langsamer geht, sobald er nachzudenken beginnt, tut er's
+nicht mehr. Nun, es gelang und er hat's getan.</p>
+
+<p>Atemlos hatte die Gesellschaft dem Romanzier zugehört.</p>
+
+<p>»Und wie verlief die Sache?« fragte der Schauspieler, der früher der
+Gleichgültigste geschienen und jetzt der Aufmerksamste war.</p>
+
+<p>»Sie verlief gar nicht,« antwortete Paulo, »sie ist noch heute, und
+ganz vortrefflich. Ich kam mit dem Roman zum Verleger zurück, der sah
+auf demselben freudestrahlend den berühmten Namen, den er für seinen
+Verlag schon seit langem vergeblich zu gewinnen gesucht, und zahlte mir
+fünfzehnhundert Taler als die erste Hälfte des Honorars auf die Hand.
+— Außer einigen Streichungen fand der Doktor an dem Roman nicht viel
+zu modifizieren, das Buch ging reißend ab und hat bis heute sieben
+Auflagen erlebt. Selbstverständlich schrieb ich nun munter voran und
+für den Kompagnon Max Freihag's taten die Verleger allerorts ihre Arme
+und Börsen auf, obwohl die folgenden meiner Bücher nur mehr unter
+meiner Firma allein erschienen.«</p>
+
+<p>»Und hat der Streich dem Renommee Freihag's doch nicht etwa —?«
+Iseling sprach's, hatte aber nicht den Mut, den Satz zu Ende zu bringen.</p>
+
+<p>»Geschadet, meinen Sie!« fuhr Paulo empört auf. »Herr, seit der
+Erfindung des spanischen Brustmalzes mag es allerdings erst
+fünfunddreißig Jahre her sein, aber seit der Entdeckung des gesunden
+Menschenverstandes ist es doch etwas länger. Und der Menschenverstand
+sagt sonnenklar:<span class="pagenum" id="Seite_360">[S. 360]</span> Zwei ist mehr als eins. Freihag kann froh sein, ein
+höchst bedeutendes Werk unter seinem Schilde zu führen, zu dem er kaum
+die Feder angesetzt hat.«</p>
+
+<p>»Und Ihre Braut haben Sie geheiratet?« fragte der Maler.</p>
+
+<p>Ohne darauf zu antworten, nahm Paulo seinen Überrock und sagte: »Gute
+Nacht, meine Herren!«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_361">[S. 361]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Mann_mit_den_dreizehn_Talern">Der Mann mit den dreizehn Talern.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Der Mann, dessen Geschichte ich in schaulustigen Jugendtagen
+aufgeschrieben, war eine sehr wunderliche Erscheinung. Auswendig und
+noch mehr inwendig. Er war nicht groß, aber stark untersetzt und
+unter der rechten Achsel auffallend ausgewachsen, so daß an derselben
+Seite der kurze graue Wollspenser zwischen sich und der Hose das Hemd
+hervorlugen ließ. Das bleiche Gesicht sah recht offenherzig aus, war
+rund und hatte für das Dorf astronomische Bedeutsamkeit. Wenn dieses
+Gesicht neu und glatt rasiert war, so konnte man überzeugt sein, daß
+der Mond im ersten Viertel stand.</p>
+
+<p>Die Welt sah er nur halb, das heißt immer bloß mit dem einen, rechten
+Auge an, das linke hielt er stets zugedrückt. Und doch war er nicht
+einäugig, denn einmal hatte es sich ereignet, daß beide Augen hellicht
+offen standen. Die Leute meinten, der Alte verschließe das linke,
+weil er alles <em class="gesperrt">recht</em> sehen wollte; andere behaupteten, er tue
+es aus Sparsamkeit, damit, wenn sich im Greisenalter die gewöhnliche
+Sehkraft erschöpfe, er noch ein neues, frisches Auge habe, und wieder
+andere vermuteten, der Alte tue es aus Nachsicht, daß er immer ein Auge
+zudrücke.</p>
+
+<p>Einen Zweck mußte es wohl haben, denn alles, was der Alte tat oder
+ließ, hatte einen Zweck. Oder weshalb ließ er seine nun bereits weißen
+Haare so lang wachsen, daß er sie wie einen Turban um die Stirne
+drehen konnte, als daß er dadurch die Kopfbedeckung von fremden
+Haaren ersparte? Und weshalb kaute er immer und immer wieder an einem
+Strohhalm, als zum Ersatz für das Rauchen, das er sich in<span class="pagenum" id="Seite_362">[S. 362]</span> seiner
+Jugend einmal angewöhnt hatte? Und weshalb hatte er in seinem Stübchen
+eine beflügelte Windmühle, die mehr als den halben Raum einnahm? — Ja,
+die Geschichte von der Windmühle ist nicht einfach! Die Maschine stand
+aber auch nur im Winter in der Wohnung des Mannes, im Sommer ruhte
+sie in einer Rumpelkammer, die gleich daneben, und zu der die Stube
+des Mannes eigentlich das Vorzimmer war. Ob über diese Räume der alte
+Mann oder die Mäuse Hausherr waren, das ist nie recht klar geworden;
+bestimmt ist nur anzunehmen, daß beide Parteien in den Dachstuhlräumen
+des alten Pfarrhofes wohnten.</p>
+
+<p>So bedenklich die Holzleiter aussah, die zu diesen Räumen emporführte,
+so wohnlich waren sie eingerichtet. Eine Matratze, die am Boden lag,
+ein dreibeiniger Sessel, der daneben lehnte, ein wurmstichiger Schrank,
+der an der Wand stand und ein kleiner eiserner Ofen, der im Winkel
+kauerte — das war außer der Windmühle die Einrichtung der Wohnung
+des Malchus Zacharias Rosenkranz. Das Fenster, das in der schiefen,
+reichlich mit Lehm überworfenen Dachwand in einer Nische stand, war
+wie der alte Malchus einäugig, da der andere Flügel mit blauem Papier
+verklebt gewesen. Indeß war der Ausblick durch die eine Glasscheibe
+um so erfreulicher, sie ging in den Hof zu den lieben Haustieren. Dem
+Fenster des Malchus gegenüber stand das Wirtschaftsgebäude und auf
+dem First desselben saß zu allen Stunden des Tages ein Spatz oder die
+Katz'! Und über dieses Bild wölbte sich am Tag der blaue Himmel, zur
+Nacht das Sternenzelt und zu trüben Zeiten der Nebel.</p>
+
+<p>Gelänge es mir, nun euren Blick von diesem Bilde ab- und nochmals auf
+das Innere der Behausung des Malchus zu lenken, so möchte ich auf den
+schwärzlichen Hafentopf aufmerksam machen, der am eisernen Ofen steht.
+Dieser birgt<span class="pagenum" id="Seite_363">[S. 363]</span> das Mittags- und Abendmahl des Mannes, sowohl für alle
+gewöhnlichen Tage, als auch für alle Feste des Jahres berechnet — ein
+nahrhaftes Erbsengericht. Lohnend dürfte es sein, auch einen Blick in
+den Schrank zu tun. Da uns die zahlreichen Wurmstichlöcher aber doch
+immer keinen Einblick in das Innere zu gewähren vermögen, ist Malchus
+Zacharias Rosenkranz bereit, die Decke zu öffnen. Die hier verwahrten
+Holzschuhe und falbledernen Beinkleider, sowie der Sack Erbsenvorrat
+sind von minderem Belange; um so auffälliger aber ist uns die viele
+Schafwolle, die auf Spulen und Knäuel gewickelt ist, und das sorgsam
+gehaltene Strickzeug. Wir haben hier die Stätte der Arbeit vor uns;
+Malchus beschäftigt sich jahraus jahrein mit Stricken und versorgt alle
+Bauern, Hirten und Holzhauer der Umgebung mit Fäustlingen und Socken.</p>
+
+<p>Im untersten Winkel des Schrankes befindet sich aber ein Wollbeutel,
+der einen feinen, zarten Metallklang gibt, sobald ihn der Mann berührt;
+Malchus schichtet alle vorrätige Wolle über den Beutel und blinzelt
+dabei ganz merkwürdig mit dem rechten Auge. Dann blickt er unstet um
+sich, aber das linke Auge bleibt zu, nur der Strohhalm, an dem Malchus
+kaut, macht ein paar Schwingungen auf und nieder, was wohl gar eine
+Drohung bedeuten mag.</p>
+
+<p>Ein Geizhals, meint Ihr? — Recht gut, so hat es einen Zweck, daß ich
+euch die Geschichte des Mannes erzähle.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Malchus Zacharias Rosenkranz lebte schon seit einigen fünfzig Jahren in
+dem Dachstübchen des Pfarrhofes, und ihm sind auch die Tage bekannt,
+die er noch hier verleben wird. Er weiß den Tag seines Todes. Wie
+sie ihn über die hinfällige Leiter hinabbringen werden, das ist ihre
+Sache — gewiß nur ist, daß sie nach Verlauf der bestimmten Zeit<span class="pagenum" id="Seite_364">[S. 364]</span> den
+alten Malchus hinaustragen werden auf den Kirchhof. Der Alte verzehrt
+trotzdem heute sein Erbsengericht so ruhig als vor dreißig Jahren. Er
+betet und hofft nur, daß bishin kein Unglück mehr komme.</p>
+
+<p>Eine Tagereise von unserem Dorfe, in einer schönen Gebirgsgegend, liegt
+der rote See. Dieser ist an vielen Stellen grundlos tief, birgt sogar
+Forellen in sich und hat seinen Namen von den roten Felswänden, die an
+seinen Ufern aufragen und sich in dem klaren Wasser spiegeln.</p>
+
+<p>Am Ufer dieses Sees stand vor vielen Jahren eine Fischerhütte. Sie war
+aus rohen Waldstämmen gezimmert und mit Lehm und Moos gegen Wind und
+Wetter wohlverwahrt. In der Hütte wohnten ein Mann und ein Weib und
+ein Kind. Der Mann war kühn und trieb sich die meiste Zeit auf dem See
+herum, bis er zu Abend mit beladenem Kahne gegen die Hütte ruderte. Das
+Weib war arbeitsam und pflegte den Gemüsegarten und die Ziegen, und in
+der Winterszeit höhlte es Holzschuhe aus zum Verkaufen. Das Kind war
+ein freudvoller Knabe, in welchem Jugendlust sprudelte und ein reiches,
+kraftvolles Leben zu schlummern schien.</p>
+
+<p>Das Fischerpaar liebte sein Kind unsäglich, aber es lag eine Betrübnis
+in seiner Doppelseele, so oft es den heiteren Knaben ansah. An jenem
+Tage nämlich, als dem Fischer das Kind geboren wurde, fing er in seinem
+Netze eine große Seespinne, wie er noch nie eine gesehen hatte, weil
+sie im roten See nicht vorzukommen pflegten. Er schleuderte das Tier
+wohl wieder zurück in die Wellen, aber nach seinem Sinn sollte der Fang
+für die Zukunft seines Neugebornen von böser Bedeutung sein. Er teilte
+dies auch seinem Weibe mit, welches zwar den Wahn des Gatten überlaut
+zu widerlegen suchte, im Innern aber bangte, des unglücklichen Lebens
+gedenkend, das vielleicht ihrem Kinde bevorstehe.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_365">[S. 365]</span></p>
+
+<p>Trotzdem wuchs der Knabe auf zum schönen Jüngling, der da lachte, als
+ihm die Eltern die Geschichte von der Seespinne mitteilten.</p>
+
+<p>Der Jüngling kam selten zu fremden Menschen; er sah dann und wann nur
+einen Holzhauer, einen Jägersmann, und wenn er auch bisweilen hinauskam
+in die Gegend, wo das Dorf und die Kirche standen und wo die Leute auf
+dem Felde oder auf der Wiese arbeiteten, so fühlte er sich dort nicht
+behaglich. Die ganze Liebe seines Herzens wendete er den Eltern zu.</p>
+
+<p>Zur Liebe kam auch der Segen. Jener Wahn des alternden Paares begann in
+diesem ruhigen und heiteren Fortleben zu schwinden.</p>
+
+<p>In einem Winkel oben unter dem Dache wohlverwahrt stand ein Kästlein
+aus hartem Buchenholz voll blanker Silbermünzen. Durch die vielen Jahre
+der Arbeit und des Fleißes hatte sich die kleine Familie ein Vermögen
+erworben, welches in dem alten Fischer keinen geringeren Plan wachrief,
+als den, die baufällige Hütte niederzureißen und sich am Ufer des Sees
+ein größeres Wohnhaus zu bauen. In seiner Seele mochte vielleicht das
+Bild einer lieben Tochter zu dämmern beginnen, die der Junge früher
+oder später bei den vielen Menschen draußen finden und nach Hause
+bringen werde.</p>
+
+<p>So zog der Jüngling eines schönen Julimorgens aus, um einen Baumeister
+und Arbeiter zu dingen. Wenn er an großen, stolzen Bauernhöfen
+vorüberkam, so studierte er die Bauart und den Geschmack, und er freute
+sich auf das Leben im neuen Hause, das sich in der Einsamkeit zwischen
+dem See und den roten Wänden doppelt schön ausnehmen werde, und er
+freute sich auf das Lieben und Pflegen der alten Eltern.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_366">[S. 366]</span></p>
+
+<p>Als er hierauf nach gewissenhaft vollführter Sendung in das
+Felsengebirge zum roten See zurückkehrte, da war alles aus. Wo die
+Hütte gestanden hatte, knisterte ein Gluthaufen und von demselben
+rieselte über die breiten Steine ein schmales Silberbächlein gegen
+den See, gleichsam als fordere dieser die unzähligen Silbermünzen,
+die er durch seine Fische erwerben half, geschmolzen wieder zurück.
+Und in dem Aschenhaufen lagen die verkohlten Leichname. — — Schöner
+Fischerjunge! Dort am Ufer steht noch der Kahn, dein Erbe. Geh' hinab,
+mache ihn los, springe hinein und fahre hinaus bis in die Mitte des
+Sees. Dort stürze dich kopfüber hinab — zur Seespinne. —</p>
+
+<p>Er sprang nicht in die Glut, er sprang nicht in den See; er brach nicht
+zusammen; es trat ihm keine Träne ins Auge. Einen kurzen, gellenden
+Schrei stieß er aus — — dann drückte er sein linkes Auge zu und
+blinzelte mit dem rechten.</p>
+
+<p>Später wühlte er in den Kohlen und Bränden. Die Leichen seines Vaters
+und seiner Mutter ließ er liegen, wie sie lagen, bis nach vielen
+Stunden Leute kamen, die das Unglück sahen, das Fischerpaar begruben
+und den Jüngling mit hinaus nahmen ins Dorf.</p>
+
+<p>Aber seine Jugend war zu Ende. — Das plötzliche unfaßbare Unglück, das
+mit einem einzigen Schlage alles geraubt hatte, was er besaß, was er
+liebte und an dem er hing mit seinem ganzen Wesen, hatte sein Gehirn
+erschüttert, sein Lebensmark geschmolzen — ein blödsinniger Greis von
+siebzehn Jahren — drückte stets das linke Auge zu und kaute an einem
+Strohhalm.</p>
+
+<p>Die Brandstätte seiner Heimatshütte lag öde da; Fischlein im See
+reckten oft ihre Köpfe empor, ob denn der Alte nicht wieder einmal
+käme mit seinem hinterlistigen Garnsack,<span class="pagenum" id="Seite_367">[S. 367]</span> und da er nicht kam, so
+veranstalteten sie lustige Spiele und feierten das Fest durch Tänze
+und Wettrennen nach Mücken und Würmchen. Doch endlich kam wieder ein
+starker Mann, der mit riesigen Garnbeuteln den roten See neuerdings
+unsicher machte.</p>
+
+<p>Für das geschmolzene Silber, welches von der Hütte über die breiten
+Steine gegen den See geflossen und unterwegs gestockt war, bekam der
+arme Malchus dreizehn Taler.</p>
+
+<p>Bisher hatte er eine Wollmütze am Kopfe getragen, die nahm er nun ab
+und wickelte das Geld hinein und sagte zu sich: »Das ist gerade genug,
+daß sie die Glocken läuten und daß der Pfarrer mitlauft, wenn mich
+die sechs Träger hinaustragen. Sechs? Ei, ich dächte, für den Malchus
+tätens auch bloß zwei.«</p>
+
+<p>Ein alter Pechbrenner, in dessen Hütte Malchus seit dem Unglücke
+wohnte, ließ sich die dreizehn Taler zeigen, legte dann den Finger auf
+den Mund und flüsterte: »Malchus, das ist ein Kapital, geh' damit ein
+Geschäft an! Schau, ich habe vor fünfunddreißig Jahren, als ich in
+den Wald ging, nur zwei Sechser gehabt, kaum, daß ich mir davon den
+Pechhafen hab' kaufen können, und heute schau dir einmal meine Pecherei
+an! Probier's auch du. Kannst es so weit bringen wie ich!«</p>
+
+<p>Auf diese Worte legte der junge Mann einen Grashalm auf die Zunge;
+indem er an demselben zu kauen begann, sagte er langsam: »Meinst? Wart,
+Domini, wart, mit fünfunddreißig Jahren hab' ich's weiter gebracht als
+du. Bin ja ein Glückspilz, ich!«</p>
+
+<p>»Wie du ein Kerl bist, sollst du ja die Welt auf die Achseln nehmen wie
+einen alten Heukorb! Fikra sikra Haferstern! Wenn ich der Malchus wär',
+ein Schloß von Elfenbein<span class="pagenum" id="Seite_368">[S. 368]</span> müßt' ich haben und das schönst' Weible drin
+und ein goldenes Bettstattl mit Roßhaar! — tät's nicht billiger!«</p>
+
+<p>Malchus lächelte, aber sagte nichts drauf; er wickelte seine dreizehn
+Taler wieder langsam in die Wollmütze.</p>
+
+<p>»Und was willst du nachher mit deinen dreizehn Aposteln da? Geh, ist ja
+der Judas noch dabei! Du, Malchus, den mußt weg, er verrät dir sonst
+die andern all. Oder der dreizehnte stirbt und steckt dir die anderen
+an. Mußt ihn weg, Malchus!«</p>
+
+<p>»Mag wohl wahr sein,« meinte der Bursche, faltete seine Mütze wieder
+auseinander und hielt dem Pecher eine Münze hin.</p>
+
+<p>»Junge, da tust du gescheit,« sagte der andere schnell und steckte den
+Taler in die Tasche, »bei mir hat er's gut, wenn du ihn brauchst, so
+komm und hol ihn.«</p>
+
+<p>Ein andersmal, als Malchus tagelang zwecklos im Walde herumgelaufen
+war, sagte der Pechbrenner zu ihm: »Ja, was willst denn, Malchus, du
+bist ein ganzer Narr!«</p>
+
+<p>»Das hab' ich mir auch schon gedacht,« entgegnete der Bursche. Dann
+warf er sich schluchzend an die Brust des alten Mannes und sagte:
+»Domini, lieber Domini, ich weiß mir keinen Rat. Du, ich sag' dir's,
+wenn sie mich nicht gleich auf die Bahr' legen, so kommt noch früher
+ein großes Glück über mich!«</p>
+
+<p>»Ein großes Glück, meinst? Tät' dir schon recht geschehen und ich
+wollt' dir's wünschen.«</p>
+
+<p>»Weh!« rief Malchus aus und wollte dem Pechbrenner den Mund verhalten.
+Und nachher sagte er: »Ja, ja, Glück wär schon recht! Aber da kommt
+dir auf einmal eine Stunde, und das Glück, fleißig aufgebaut in vielen
+Jahren, wird in einer Nacht zum Unglück. Domini, ich sag' dir's, wenn
+unten beim roten See jetzt eine Fischerhütte stünde, und<span class="pagenum" id="Seite_369">[S. 369]</span> es lebte ein
+guter Mann drin, der mein Vater, und eine gute Frau, die meine Mutter
+wäre — ich ginge nicht hinab zu dieser Hütte; nein, alter Domini, und
+wenn ich nur mit den Tieren des Waldes leben müßte, ich ginge nicht
+hinab — 's möcht vielleicht schön sein unten — schau mich an, Domini
+— schön sein unten; es möchten Tage sein wie die himmlischen Freuden
+— da kommt das Unglück und alles ist hin. Nein, nein, ich ertrags
+nicht mehr, das Glück, das falsche, und du wirst wohl recht haben,
+Domini, ich bin ein ganzer Narr.«</p>
+
+<p>Dem alten, lustigen Domini war diesmal zur Entgegnung kein Scherz
+eingefallen. Er schwieg und dachte daran, wie das plötzliche Unheil auf
+den Burschen einen solchen Eindruck gemacht hatte, daß er das Glück nur
+als Ursache des Unglückes betrachtete und es fürchtete, wie das Unglück
+selbst.</p>
+
+<p>»'s wird alles wegen der Seespinne geschehen sein,« sagte Malchus, »und
+ich weiß nun schon, ich darf nichts anfangen in der Welt, 's tät' mit
+allem schlecht ausgehen. Ich will keine Freude mehr haben, die Trauer
+nachher ist zu bitterlich; mag auch kein Geld und Gut, tät's doch
+wieder verlieren. Mag gar nichts, bin einmal zum Unglück geboren. —
+Ich will das Elend schon ertragen, Domini, den Hunger fürcht ich nicht,
+die Kälte nicht. — Ich ertrag' die Not, nur jäh darf sie nicht kommen.
+Domini, ich kann stricken; ich find' schon wo ein Platzel für die paar
+Jahre, und da stricke ich und erwerbe mir für jeden Tag eine Brotsuppe,
+oder, wenn das Geschäft gut geht, von Erbsen was. Die Lederhose da,
+schau einmal, Domini, sie ist von Hirschleder, die hält mir's reichlich
+aus, und dann soll das Unglück nur kommen, wo wills denn aufsitzen?
+— Bleibt mir mein Geld nicht, ist recht, nur fort, liegt mir wenig
+daran;<span class="pagenum" id="Seite_370">[S. 370]</span> und bleibt es mir, so ist's gut. Die dreizehn Taler sind für
+mein Begräbnis.«</p>
+
+<p>»Hast nur zwölf mehr,« warf der Pechbrenner ein.</p>
+
+<p>»Zwölf?« sagte Malchus befremdet, »wo hätt' ich hernach den
+dreizehnten?«</p>
+
+<p>»Hast ihn ja mir gegeben, von wegen dem, weil er der Judas war,« lachte
+der Alte, »aber, wenn du ihn wieder haben willst ...«</p>
+
+<p>»Nein, behalt' ihn nur,« sagte Malchus, »du hast mir jetzt lange
+Zeit hier in deinem Hause Dach und zu essen gegeben. Ich dank' dir's
+tausendmal, Domini, aber jetzt werde ich dich verlassen, ich gehe ins
+Stricken aus; bet' dann und wann ein Vaterunser für mich; schau der
+Malchus ist eigentlich doch ein armer Teufel.«</p>
+
+<p>Das waren die Abschiedsworte. Seine Wollmütze im Sack, einen Stock
+in der Hand und einen langen Halm zwischen den Zähnen — so wandelte
+Malchus langsam durch den Wald und hinab zum See, wo am Ufer eine
+kleine rötliche Mauer stand. Der Herd ist noch geblieben, als ob das
+Schicksal höhnen möchte: Ei, sieh' da, Malchus Zacharias Rosenkranz hat
+doch auch einen eigenen Herd! —</p>
+
+<p>Der blödsinnige Bursche wühlte — weil er just vorüberging — ein wenig
+in dem Aschenboden, ob etwa nicht irgendwo noch ein Eisennagel läge.
+Einen rostigen Pfeifendeckel aus Stahl fand er — — den hatte der alte
+Fischer einst auf- und zugedrückt, als er behaglich schmauchend am
+Tischchen gesessen war und zu seinem Weib und zu seinem Sohne gesagt
+hatte: »Nu, was meint ihr, werden uns halt ein Häuslein bauen müssen,
+das ein wenig größer und bequemer ist. Junge, zuletzt wirst du auch
+noch zwei Stuben haben wollen!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_371">[S. 371]</span></p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Als sich der Bursche in einem entfernteren Tale nach Strickarbeiten
+umsah, lachten ihn die Leute aus. — So jung und ein Altweibergeschäft!</p>
+
+<p>Aber weil's gar zu sonderbar war, so gaben sie ihm doch eine Arbeit.</p>
+
+<p>Malchus half auch auf dem Felde, aber da war er sehr unbeholfen. Einmal
+zur Erntezeit sagte man ihm: »Nur fleißig Korn tragen, Malchus.« Und
+setzten das Sprichwort dazu: »Die Kornträger werden reich.« Auf diese
+Worte wollte der Bursche keine Garbe mehr anrühren.</p>
+
+<p>»Warum gehst du denn immer barhaupt?« fragte ihn einmal eine junge
+Magd, und wickelte sich seine wirren Locken um den Finger.</p>
+
+<p>»Das weiß ich nicht,« antwortete Malchus und blickte seitwärts.</p>
+
+<p>Wenn er mit andern zu Tische war, so aß er immer nur Brotsuppe und
+Gemüse, und wenn sie ihn zum Fleischgericht oder zu fetten Mehlspeisen
+einluden, sagte er: »Vergelt's euch Gott, nach so was ist's so viel
+schwer, sich was Einfacheres anzugewöhnen.«</p>
+
+<p>Einmal sagte der Bauer, bei dem er arbeitete: »Malchus, ich schenk' dir
+eine Pfeife, daß du nicht immer an einem Strohhalm zu saugen brauchst.«</p>
+
+<p>Darauf der Bursche: »Wenn du auch den Tabak dazu gibst?«</p>
+
+<p>»Wie hast dir denn dein linkes Aug' abgebrochen, Malchus?« fragte
+ihn die schalkhafte Bäuerin eines Mittags, als sie dem Burschen eine
+Erbsensuppe vorsetzte.</p>
+
+<p>Dieser aß die Erbsensuppe, antwortete jedoch nicht auf die Frage. —</p>
+
+<p>Endlich sah man ein, daß der Malchus ein Hascher sei, und man
+behelligte ihn nicht mehr mit Witzen und Zumutungen,<span class="pagenum" id="Seite_372">[S. 372]</span> denen er
+nicht entsprechen konnte; man gab ihm Wolle und ließ ihn bei seinen
+Stricknadeln, und Malchus strickte und schien zufrieden.</p>
+
+<p>Er war ruhig, gutmütig und anhänglich, man ließ dem armen, heimatlosen
+Burschen auf dem Dachboden des alten Pfarrhofes ein Stübchen.</p>
+
+<p>Malchus, der seit dem Unglücke bisher im Tale in verschiedenen
+Bauernhöfen gelebt und gearbeitet hatte, war anfangs kaum zu
+bewegen, seine neue Wohnung zu beziehen. »Auf einmal wird mein Haus
+niederbrennen.«</p>
+
+<p>Gegen die Stiege, die man ihm zu seiner Dachkammer bauen wollte,
+verwahrte er sich auch. »Gebt mir nur eine Leiter, die man allzeit
+wegziehen kann; dem Unglück darf man nicht auch noch die Wege machen.«</p>
+
+<p>So begann nun Malchus in seinem neuen Hause zu leben. Bei trübem Wetter
+saß er auf der Matratze und strickte oder sah sich dann und wann auch
+seine zwölf Taler an, die er im alten Holzschranke verwahrt hielt. Die
+sind halt für's Läuten und für's Hinaustragen und für den Segen in die
+Grube. Ja, wo war denn der dreizehnte? Den hatte er zuletzt gar dem
+alten Domini geschenkt? Ei, ei!</p>
+
+<p>An heiteren Tagen aber kletterte er über die Leiter herab, ging durch
+das Dorf, über Feldwege und redete einige Worte mit den Leuten, die ihm
+begegneten, und strickte.</p>
+
+<p>Mit seinem lockigen Barhaupte und dem zwinkernden Auge und den
+unvermeidlichen Halm zwischen den Lippen sah er aus wie ein
+stillheiteres Gemüt.</p>
+
+<p>Die Arbeit holte er sich von seinen Kunden selbst, wer hätte es auch
+wagen mögen, über die gebrechliche Leiter in sein Stübchen zu steigen!</p>
+
+<p>So saß er denn allein und strickte oder sah am kleinen Ofen nach,
+was die Erbsen machten; zu Zeiten, wenn eine<span class="pagenum" id="Seite_373">[S. 373]</span> lebhafte Flamme war,
+wurden sie gar lebendig und stiegen heraus, und Malchus mußte sie mit
+kaltem Wasser wieder zurück hineinjagen, die Flüchtlinge, die er doch
+verzehren wollte. —</p>
+
+<p>An einem Sonntag Vormittag. Die Leute waren alle in der Kirche,
+auch Malchus saß in einem Winkel hinter dem Taufstein und betete
+seinen Rosenkranz ab und murmelte zu der braunen Korallenkette: »Du
+bist ein Rosenkranz und ich bin auch einer; du hast ein Kreuz und
+einen »Glauben« und zweiundsiebzig Perlen; ich hab' auch ein Kreuz
+und einen Glauben, aber ob ich mein Lebtag zweiundsiebzig Tugenden
+zusammenbring', d'rauf wollt' ich nicht wetten. Bin doch oft recht
+untugendsam, wenn ich gar so übermäßig über mein Unglück trauere und
+das Leben und meine Jugend verachte, als ob just auf mich alles Elend
+kommen wollte. Zuletzt werde ich so glücklich sein wie alle anderen,
+und mein Klagen und Zittern ist ein Frevel. Deswegen, du tugendsamer
+Rosenkranz, tu' nur ein wenig beten für den untugendsamen!«</p>
+
+<p>Da kam plötzlich der Kirchendiener aus der Sakristei und sagte dem
+Pfarrer am Altare etwas ins Ohr. Der Pfarrer kehrte sich gegen die
+Gemeinde und rief laut: »Feuer ist im Dorf, geht löschen!« Am Turm
+schlugen schon die Glocken an.</p>
+
+<p>»Aha, ist schon da!« murmelte Malchus und erhob sich von seinem Stein.</p>
+
+<p>»Wo brennt's denn?« fragten sich die Leute und stürmten in das Freie.</p>
+
+<p>»Wo wird's brennen, ihr Kindischen,« sagte Malchus ruhig, »im Pfarrhof
+brennt's; oben in meiner Stube brennt's; 's wird wieder meinen Vater
+und meine Mutter haben wollen oder mich, und jetzt bin ich gar nicht zu
+Hause.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_374">[S. 374]</span></p>
+
+<p>Er steckte seinen Rosenkranz in die Tasche und ging hinaus.</p>
+
+<p>Am unteren Ende des Dorfes qualmte dichter, rötlich-brauner Rauch
+auf. »Das ist der große Heustadl!« hieß es, und die Leute eilten mit
+Eimern und Kübeln und Leitern und Haken gegen den Brand, und weil
+keine Feuerspritze im Orte war, so trugen sie aus dem Ziehbrunnen, der
+auf dem Platze stand und aus dem Bächlein, das weiter unten hinfloß,
+Wasser auf die Dächer. Der Stadl war nicht mehr zu retten, da pfiffen
+die Flammen schon aus allen Fugen und Löchern; jetzt brachen sie
+gewaltig aus; glühendes Stroh, brennende Schindeln flogen hoch. Auf
+den Nachbargebäuden kletterten Männer herum, warfen die Dachbretter
+herab, begossen die Firste und Dachstühle, vermauerten die Fenster. Sie
+riefen sich zu, aber im Knattern der Bretter und im Brüllen des Feuers
+hörten sie sich kaum. Die Weiber jammerten in den Gassen und schleppten
+Hausgeräte aus ihren Wohnungen; alte Kästen und Bettstätten zerrten
+sie hervor und vergaßen den Sparpfennig. Auf dem Turme schrillten
+stoßweise, in ungleichen Zwischenräumen die Glocken, daß von den
+Nachbargemeinden Hilfe kommen möge.</p>
+
+<p>Über all das lag der klare Sommertag und Sonnenschein, wenn auch die
+Schatten des Rauches über Dorf und Kirche hinflogen.</p>
+
+<p>Malchus half nicht im Löschen, nur daß er in der Nähe des Feuers beim
+Ausbringen von Hab und Gut tätig war.</p>
+
+<p>Zuletzt ging er gar davon, setzte sich auf einer Anhöhe nieder und sah
+dem Feuer zu. »Wie ihr auch löschen und wahren mögt,« sagte er, »das
+ganze Dorf brennt nieder. Das Feuer ist dort unten und mein Pfarrhof
+ist da oben am andern Ende. Du rothaariges Unglück, du hast es doch nur
+auf mich abgesehen, und jetzt hüpfest du über alle Hausdächer<span class="pagenum" id="Seite_375">[S. 375]</span> bis zu
+meiner Wohnung. Und ich bring' so viel Unheil über alles; es wär' doch
+das beste, ich tät der ganzen Welt aus dem Weg gehen — ganz, ganz aus
+dem Weg — die Seespinne wird keine Ruh' geben.«</p>
+
+<p>In einer Stunde später war der Heustadl eingestürzt und die Flammen
+leckten nur mehr an den Wandbäumen, die am Boden lagen. Die nächst
+angrenzenden Gebäude standen unversehrt da, nur daß bei einigen das
+rötlichgraue Dachstuhlgerippe nackt aufragte, weil es die Leute
+abgedeckt hatten.</p>
+
+<p>Die Kirchenglocken waren zur Ruhe gekommen, das Schreien war verstummt,
+die Weiber trugen ihre Geräte wieder in die Häuser und sie lachten,
+wenn sie gleich noch vor Aufregung zitterten.</p>
+
+<p>Malchus stieg vom Hügel, schüttelte wiederholt den Kopf: »Jetzt hat die
+rothaarige Bestie sicher gemeint, ich wohne im Heustadl!«</p>
+
+<p>Als er über seine Leiter steigen wollte, lag diese in Trümmern auf dem
+Boden, und neben ihr, ächzend und sich in Schmerzen windend, lag der
+Schuhflicker Fritz.</p>
+
+<p>Malchus kannte ihn gleich, der Mann flickte ihm ja seine
+Kuhlederschuhe. Er rief also: »Ja, Schuster, was ist denn dir
+geschehen?«</p>
+
+<p>Dieser wimmerte: »Wie das Feuer auskommen ist, hab' ich dem Malchus
+wollen sein Hab und Gut retten und bin über die Leiter gestürzt — Fuß
+und Hand hab' ich mir gebrochen.«</p>
+
+<p>Während er dies sagte, wälzte er sich um und suchte einen grauen
+Wollbeutel zu verdecken, der neben ihm lag. Aber Malchus hatte diesen
+bemerkt und sagte: »Fritz, es schaut so aus, als ob du mir mein Geld
+gestohlen hättest!«</p>
+
+<p>»Malchus, nur retten hab' ich dir's wollen — oh weh!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_376">[S. 376]</span></p>
+
+<p>»Das kann sein, und es kann auch nicht sein — gib nur her, Fritz.«</p>
+
+<p>»Zu tausendmal gern; aber sag niemandem was davon. Malchus, schau,
+bin ein armer Mann und hab' Weib und Kind. Hab' sonst noch keinem was
+gestohlen, mein Lebtag nicht. Sag nichts davon, Malchus; muß ja eh bald
+sterben!«</p>
+
+<p>So jammerte der Schuhflicker, und Malchus beruhigte ihn: »Ist dir
+vergessen; und zuletzt hätt' doch nur ich da herabstürzen sollen; das
+Unglück ist heut' schon das zweitemal zum Unrechten gekommen. Magst
+dich auf meine Achsel helfen, Fritz, ich trag' dich heim in dein
+Häusel.«</p>
+
+<p>Und er trug den Fritz heim in sein Häusel. »Frau Schusterin,« sagte
+er, »tut Euch nicht erschrecken; beim Löschen ist er auf den Erdboden
+gefallen«.</p>
+
+<p>Dann ging Malchus wieder seiner Wohnung zu, band die Leiter zusammen
+und stieg zu seiner Stube hinauf. Die Türe war offen, der Schrank
+ebenfalls. Malchus barg seine zwölf Taler wieder an ihrer Stelle.</p>
+
+<p>Leute, die den jungen Mann während des Brandes auf dem Hügel hatten
+sitzen sehen, sagten lieblose Worte. Andere, die ihn mit dem Schuster
+Fritz begegneten, erzählten Gutes von dem blödsinnigen Stricker.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Es war im Spätherbste desselben Jahres, als eines Abends durch das
+Dorf der lustig polternde, pudelnärrische Brechelzug ging. Die Leute
+kehrten eben von der »Haarstube« zurück, wo sie gemeinsam ihren Flachs
+gebrechelt hatten; gingen jetzt zu einem reichlichen Mahle, welchem
+Tanz und anderes Freudige folgen sollte. Die Pfeifen und Geigen waren
+schon da und die Bläser und Streicher auch dazu, und die Füße des
+jungen Völkleins waren bereits voll Räder und Federn, besonders die der
+Dirndeln.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_377">[S. 377]</span></p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 1em;">»Wia liab daß so a Diandl,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Wan's bleedan tuat, is!«</span><br>
+</p>
+
+<p>Dem Zug voran gingen zwei Burschen, die mit Besen die Gasse auskehrten,
+und hinter her zog eine Magd und streute Agen auf den Weg, damit der
+Lust und der Freude, die hier im Triumph einherzog, die Kümmernis nicht
+folgen konnte.</p>
+
+<p>Als sie über den Platz am tiefen Dorfbrunnen vorüberkamen, standen
+einige plötzlich still und legten die Finger an den Mund; »ein
+Gespenst!« Andere blieben ebenfalls stehen und horchten. — »Du
+Kreuzsappermost, was ist denn das da unten?«</p>
+
+<p>Aus der Tiefe des Brunnens hörte man Laute — wie ein Wimmern und
+Weinen, dann wieder wie ein Lachen. Das war ja wieder dieselbe
+Stimme, wie man sie vor dreißig Jahren gehört hatte, als darauf eine
+Überschwemmung kam; und das war auch dieselbe Stimme, die vor achtzehn
+Jahren im Brunnen rief, als dann die große »Sterb« in der Gemeinde
+ausgebrochen.</p>
+
+<p>Die Pfeifen waren in schrillen Tönen ausgelaufen und schwiegen; die
+Leute flohen.</p>
+
+<p>Nur Malchus floh nicht. Er stand am niederen Brunnengeländer, starrte
+in die Tiefe und rief hinab: »Na heut' geraten wir zusamm', verdammte
+Seespinne du!« Dann verlangte er einen Strick, sie sollten ihn
+hinablassen.</p>
+
+<p>Die Leute wußten nicht was, aber sie brachten einen Strick und ließen
+Malchus in den Brunnen.</p>
+
+<p>Der Arme — noch einen Blick gegen die Abendröte, gegen die Waldberge,
+gegen die weiße Dorfkirche, gegen die Menschen — dann hatte er den
+Eimerbaum seitwärts gestoßen und es ging hinab — von dem Lichte zur
+Dämmerung,<span class="pagenum" id="Seite_378">[S. 378]</span> zur Dunkelheit, zur Finsternis, den schauerlichen Tönen
+näher.</p>
+
+<p>Der Strick war lang und ging tief und tiefer hinab.</p>
+
+<p>Endlich schien die Last auf dem Wasser zu sein, der Strick war locker.</p>
+
+<p>Man horchte, man hörte kaum mehr die Laute von früher. Das halbe Dorf
+hatte sich um den Brunnen versammelt.</p>
+
+<p>Die Mauern und weißen Schindeldächer der Häuser waren gefärbt von der
+Abendröte; Fensterscheiben leuchteten, als ob alle inneren Räume in
+Flammen ständen — so herrlich scheidet der Tag, so unheimlich naht die
+Nacht, und dem Manne im Abgrund — wie wird's ihm ergehen?</p>
+
+<p>Endlich tönte aus dem Brunnen ein hohles, langgezogenes: »Auf!«</p>
+
+<p>Man spannte den Strick, man zog und zog; die Last war schwer, das Seil
+lag schon am Boden in unzähligen Ringen und Schlingungen wie eine
+endlose Schlange, und endlich —</p>
+
+<p>Malchus kam herauf und in seinen Armen hatte er, bedeckt von Schlamm —</p>
+
+<p>»Martha, meine Martha!« erscholl in dem Augenblicke eine Stimme, und
+ein Weib stürzte zum Brunnengeländer, auf das sich Malchus erschöpft
+mit seiner Beute gesetzt hatte. Nun erst sah er recht, was er trug: ein
+bleiches, schönes Mädchen, dessen feuchte Locken weit über seinen Arm
+hinabhingen.</p>
+
+<p>Malchus riß die Augen auf, auch das linke, und diesmal war es, daß der
+Mann die Welt zweifach anschaute.</p>
+
+<p>Das eine sank aber sogleich wieder zu, als das Weib, eine Näherin, mit
+ihrem Kinde laut weinend in das nächste Haus ging.</p>
+
+<p>Aber Malchus ging nach in das Haus und blieb so lange<span class="pagenum" id="Seite_379">[S. 379]</span> bei dem Mädchen,
+bis es die Augen aufschlug — die blauen Augen, und bis es die Mutter
+küßte auf seinen zarten Mund und sagte: »Martha, du mein Leben, was
+hätte ich getan, wenn du dahin gewesen wärest!«</p>
+
+<p>Martha war neun Jahre alt und der Häuslerin einziges Kind. Zum Krämer
+war sie heute gegangen, auf daß sie Zwirn hole; spielend mit der
+kleinen Geldnote dahin über den Dorfplatz. Das Lüftchen spielte in
+ihren losen Haaren, aber dasselbe Lüftchen entführte ihr die Geldnote
+und trug das Papier hin und hin über das Geländer des Dorfbrunnens.
+Und wie nur zu viele Menschen dem Gelde nachjagen und in den Abgrund
+stürzen, so erging es auch der kleinen Martha; am Geländer blieb das
+Blättchen nicht liegen, es schwebte, das Mädchen langte über — und so
+kam's.</p>
+
+<p>Unten unmittelbar in dem Wasser stand ein Balken in die Quere, daran
+klammerte sie sich, da kam Malchus hinab.</p>
+
+<p>Wie ihm das arme Weib dankte, wie ihn Martha anblickte, da war's doch,
+wie noch nie, wie noch gar nie in allen seinen Lebenstagen.</p>
+
+<p>»Und jetzt geh' ich dem Brechlerhause zu, heut' möcht' ich tanzen.«</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>So vergingen wieder einige Jahre und das erwartete Unglück kam nicht.</p>
+
+<p>Malchus war um ein gut Stück heiterer geworden, aber er lebte immer in
+seinem Dachstübchen und strickte oder tat andere Kleinigkeiten. Zur
+Weihnachtszeit erhielt er immer ein Paket Wäsche, er wußte nicht von
+wem; der Pfarrer sagte: »Ich weiß wohl, wer dir das schickt, darf es
+aber nicht sagen.«</p>
+
+<p>Malchus fragte auch nicht mehr, sondern fühlte sich behaglich in den
+weichen Linnen und war zufrieden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_380">[S. 380]</span></p>
+
+<p>Zweimal des Jahres war ein Fest in seiner Stube, da schickte ihm
+Martha, die indeß zu einer lieben Jungfrau geworden war, einen
+Strauß schneeweißer Röslein, wie sie im kleinen Garten der Näherin
+am Hagebuttengesträuche wuchsen. Der eine Strauß kam immer zu seinem
+Namenstag, der andere an einem Tag im Herbst — der Empfänger wußte es
+kaum, warum.</p>
+
+<p>Martha hätte ihm die Rosen selbst gebracht, aber Malchus sagte einmal
+zu ihr: »Martha, die Leiter zu meiner Stube ist gebrechlich.«</p>
+
+<p>Du guter Bursche, dein Herz war gebrechlich. Du bist fünfundzwanzig
+Jahre alt.</p>
+
+<p>Wohl dachte der Jüngling daran. Aber er will keine Nahrung sammeln für
+die Seespinne.</p>
+
+<p>Und die gab doch keine Ruh', er sollte nicht glücklich werden.</p>
+
+<p>Marthas Mutter, die Näherin, war dürftig. Da kam eines Tages Malchus
+mit seinem Wollbeutel, öffnete ihn und legte die zwölf Taler auf den
+Tisch, dann suchte er noch eine Weile im leeren Beutel herum und
+murmelte: »Weiß nicht, aber ich hab' doch dreizehn gehabt!«</p>
+
+<p>»Was machst denn da, Malchus?« fragte die Näherin.</p>
+
+<p>»Mutter,« sagte der Bursche und blinzelte stark, »ich hab' ein
+Anliegen. Schenkt mir so viel Liebe und nehmt die paar Groschen!«</p>
+
+<p>Da sagte das Weib: »Eher ins Grab, Malchus, eh' ich einen Groschen von
+dir nehmen tät; wir sind dir viel tausend Gottesdank schuldig!«</p>
+
+<p>Malchus mußte sein Geld wieder in seine Wohnung tragen. Sein Leben
+hatte er aber so eingerichtet, daß er nicht notwendig hatte, etwas von
+den zwölf Talern anzubrauchen, so wie er von seinem kleinen Erwerbe
+auch nichts<span class="pagenum" id="Seite_381">[S. 381]</span> dazu tat, sondern damit seine Bedürfnisse bestritt. Auf
+diese Art besaß er durch alle die Jahre zwölf Taler und nicht mehr und
+nicht weniger.</p>
+
+<p>Ein erzählender Hausierer in der Schenke eines Bergdorfes ist den
+Leuten Zeitung, Romanliteratur, Anekdotenschatz, Theater und Erbauung.
+Aber die Gurgel muß so einem Mann feucht sein, sonst ist kein glattes
+Wort hervorzubringen. Der Wirt hat ein Fäßchen, da ist ein treffliches
+Gurgelöl darin, davon werden alle Gedanken los und ledig und kommen
+herauf in merkwürdigen Worten, und da schlüpft freilich auch manches
+Geheimnis mit.</p>
+
+<p>Kommt so ein gesprächiger unterhaltsamer Hausierer ins Haus, so
+schmiert der Wirt gerne und unentgeltlich mit diesem Öle, denn er weiß,
+alle Gäste bleiben um zwei, drei Gläser länger sitzen als sonst, um den
+Geschichten und Neuigkeiten zu horchen.</p>
+
+<p>Ein solcher Hausierer kam auch in unser Dorf.</p>
+
+<p>Und heute wußte der Hausierer eine ganz besondere Neuigkeit, wie sie
+nicht alle zehn Jahre zu hören ist im Dorfe.</p>
+
+<p>»Ja, Leutchen,« erzählte er in seiner stets ruhigen Weise, aber jedem
+Worte Gewicht gebend, »da draußen im Land soll jetzt ein reicher Graf
+gehenkt werden, der den König hat ermorden wollen. Wißt ihr's, daß
+Raben und große Herren sich einander die Augen nicht auskratzen? Nu,
+wenn ihr's wisset, nachher trinken wir einmal.«</p>
+
+<p>Er hob den Humpen und neigte ihn so gegen seinen Mund hin, daß er
+wacker rinnen lassen konnte; die ihm zuhörten, taten es nach.</p>
+
+<p>»Wär's ein kleiner Spitzbub gewesen,« fuhr der Erzähler fort, »man
+hätt' einen neunundneunzig Klafter hohen Galgen gebaut, daß sie den
+kleinen Spitzbuben hätten baumeln sehen im ganzen Land. Weil's aber ein
+großer Herr,<span class="pagenum" id="Seite_382">[S. 382]</span> nu, so ist's erlaubt worden, einen anderen für ihn zu
+hängen.«</p>
+
+<p>»Was?« riefen die Gäste und ein paar sprangen von ihren Sitzen auf.</p>
+
+<p>»Je nu,« sagte der Erzähler, »freilich einen andern, der sich eben dazu
+hergibt. Der sich einschreiben läßt. Wisset, wie ich hab' vernommen,
+soll die Sache so sein: der Graf ist begünstigt und darf zwanzig Lose
+ausgeben und muß jedes derselben aus seinem Reichtum mit zwanzigtausend
+Gulden ausstatten. Eines von den zwanzig Losen aber ist schwarz —
+schwarz wie der Teufel — und wer das zieht, der muß sich für ihn
+henken lassen. D'rin in der Stadt beim Kreisgericht sind die Lose zu
+haben. Eh' ich mir das meine hol', trink' ich den Wein aus.«</p>
+
+<p>Und er trank.</p>
+
+<p>»Du liebe Welt mit Sauerkraut!« sagten einige, »so Lose werden doch
+noch anzubringen sein. Die Unwahrscheinlichkeit, daß man den Fehlgriff
+tue, ist neunzehnmal da und die Wahrscheinlichkeit einmal; eine
+kleinere Ziffer kann sie kaum mehr haben. Dem einen wird bigott wohl
+auszuweichen sein, und das Glück ist gemacht, und sein Lebtag braucht
+einer nicht ein Tüpfel mehr zu arbeiten, kann liegen im Gras und die
+Zwanzigtausend vergurgeln. Ich nehm' gleich ein Los.«</p>
+
+<p>»Ei ja, so denkt jeder von den Zwanzigen,« sprach ein alter
+Strohdecker, »den's aber erwischt, der ärgert sich und denkt: Donner,
+warum denn just mich? Jetzt muß ich mich henken lassen und weiß nicht
+warum. 's mag richtig sein; neunzehn Stück taugen der Gurgel von innen,
+aber das zwanzigste greift sie auswendig an.«</p>
+
+<p>»Wenn einer seine zwanzigtausend Gulden wenigstens früher verjuxen
+könnt',« sagte ein Schneidergeselle.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_383">[S. 383]</span></p>
+
+<p>»Drei Tag' hast Galgenfrist,« belehrte der Hausierer.</p>
+
+<p>»Drei Tag'! schau, das ginge noch an; da tät' ich gleich einen lustigen
+Handwerkertanz geben und drei Mädel foppen.«</p>
+
+<p>»Und ich tät' mir gleich den Freiherrntitel kaufen!« rief der Krämer.</p>
+
+<p>»Du den Freiherrntitel?« lachte der Schmied, »ja, bist du nicht unser
+Erzdemokrat, der die Adeligen nicht leiden kann?«</p>
+
+<p>»Just desweg',« sagte der Krämer, »so ließe ich den Baron statt des
+Bürgers henken.«</p>
+
+<p>So redeten sie in Spaß und Übermut, und es gab über den Gegenstand viel
+zu lachen.</p>
+
+<p>Und in den nächstfolgenden Tagen sagte so mancher, wenn ihm etwas nicht
+recht zusammenging: »Seh's schon, werd' wohl müssen auf das Kreisamt
+gehen um ein Los.«</p>
+
+<p>»Ja, wenn ich gewiß wissen tät', ich erwischte das schwarze nicht, ich
+tät mir gleich eins holen,« sagte mancher, und ein anderer entgegnete
+darauf: »Narr, wenn ich das wissen tät', alle neunzehn müßt' ich haben.«</p>
+
+<p>Es ging aber doch keiner.</p>
+
+<p>Es sollte aber doch einer gehen. Malchus hatte sich die Geschichte
+dreimal erzählen lassen, dann hatte er noch einmal nachgefragt: »Und
+das schwarze Los hat die zwanzigtausend Gulden auch?«</p>
+
+<p>Dann war er stundenlang auf seiner Matratze gesessen und hatte mit sehr
+großem Nachdruck seinen Strohhalm zerkaut.</p>
+
+<p>»Werde ich gehenkt oder lassen sie mich laufen,« murmelte er endlich,
+»das Geld bekommt Martha. Zwar, es wird kein Zweifel sein, die
+Seespinne wird mich abtun, aber schon recht, dann ist sie mit mir
+fertig und ich bringe auf<span class="pagenum" id="Seite_384">[S. 384]</span> diese Weise mein Leben noch am anständigsten
+weg, weiß so nichts damit anzufangen. Ja, so wird's sein.«</p>
+
+<p>Dann stand er auf, aß seine Erbsen, nahm einen Knotenstock, versperrte
+alles wohl und verließ den Pfarrhof und das Dorf.</p>
+
+<p>Als er am Häuschen der Näherin vorüberkam, klopfte er an die
+Fensterscheibe und sang das Liedel:</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 1em;">»Zwei Roß und ein Wäglein,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Und auf dem Wäglein ein Mägdlein,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Und neben dem Mägdlein ein Bräutigam,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Und der hat ein gold'nes Kleidlein an!«</span><br>
+</p>
+
+<p>Dann schritt er fürbaß auf der Straße gegen das Kreisgericht.</p>
+
+<p>Als Malchus in das Städtl kam, begegnete ihm der alte Domini, welcher
+eben eine Harztrage auf den Markt gebracht hatte.</p>
+
+<p>»Hast du auch ein Los geholt?« war das erste Wort, welches Malchus dem
+Alten entgegenbrachte.</p>
+
+<p>Der wußte von allem kein Wort und der Bursche mußte ihm erzählen.</p>
+
+<p>Domini hörte auch ruhig zu, dann aber sagte er: »Malchus, ich will dir
+was sagen, du wirst kein Los bekommen. Schau, die Sache ist so: Leute,
+die keinen Kopf haben, die kann man nicht henken.«</p>
+
+<p>Schier wollte dem Malchus bei diesen Worten auch das linke Auge
+aufgehen.</p>
+
+<p>Aber Domini fuhr fort: »Hör' mich einmal, Junge, und wenn's auch wahr
+wäre, wer wollt' sich gleich aufknüpfen lassen! Das tät' ich nicht, und
+nicht um ein Gschloß! Aber sag' mir, hast denn gar nichts zu beißen,
+weil du auf solche Gedanken kommst?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_385">[S. 385]</span></p>
+
+<p>»Ich schon,« sagte der Bursche, »aber, es gibt noch andere Leut' auf
+der Welt. Domini, ich weiß mir völlig nicht zu helfen, dir sag' ich's.
+Daheim in unserem Dorf kenn' ich was, und das wird mich nach und nach
+umbringen. Ich möchte sie oft gern ansehen, aber ich kann nicht. Es ist
+noch wie ein Kind, aber ich tu' so schwer mit ihm reden, wie mit einem
+König. Dann, wenn ich so dasteh', mein' ich, es ist nicht anders und es
+trifft mich der Schlag. Ich fürcht' nur, es ist mir was antan worden,
+Domini!«</p>
+
+<p>Der alte Pechbrenner sagte: »Ja, Malchus, du mußt heiraten?«</p>
+
+<p>Nach einer Weile entgegnete Malchus: »Das Zeug ist mir auch schon
+eingefallen. Aber ich darf doch andere Leut' nicht mit mir ins Unglück
+bringen.«</p>
+
+<p>Domini sah den Burschen mitleidig an. Er hatte über die armselige
+Denkweise des jungen Mannes unwirsch werden wollen, es war ihm schon
+ein herbes Wort auf der Zunge gelegen, aber er schluckte es wieder
+hinab — der Arme kann ja nicht dafür, und kein Mensch auf der Welt
+kann ihn mehr anders machen. Domini sagte zuletzt nur: »Malchus, mach'
+was du willst und magst, ich, der alte Domini, der es immer gut mit dir
+gemeint hat, sag' dir nur das, tu' nicht sinnen und grübeln, sondern
+immer nur arbeiten und arbeiten. Kannst du singen? Lerne Lieder und
+singe; Malchus, das ist das allerbeste Mittel gegen die Seespinne. Mußt
+das nicht vergessen, Malchus, tu' fleißig singen. Geh' jetzt heim.«</p>
+
+<p>So gingen sie auseinander und Malchus zog sein blaues Sacktuch heraus
+und machte einen Knoten daran, daß er sich erinnere, was ihm der
+Pechbrenner gesagt hatte.</p>
+
+<p>Und der Knoten blieb lange im Sacktuch.</p>
+
+<p>Malchus wollte singen und er sang:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_386">[S. 386]</span></p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 1em;">»Magst zählen die Sternlein am Himmel,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Die Halmlein im weiten Land.</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Magst zählen die Tropfen der Wasser,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Magst zählen die Körnlein im Sand.</span><br>
+<br>
+<span style="margin-left: 1em;">Doch nimmer magst du zählen,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Zu kurz ist die ewige Zeit,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Die Schmerzen in meinem Herzen,</span><br>
+<span style="margin-left: 1em;">Und meine Traurigkeit!«</span><br>
+</p>
+
+<p>So hatte es der Pechbrenner aber nicht gemeint.</p>
+
+<p>Auf der Heide weidete eine junge Hirtin Ziegen.</p>
+
+<p>Malchus war einigemal strickend hingegangen, um im Walde abgefallenes
+Brennholz zu sammeln, das er in den Korb tat, den er auf dem Rücken
+trug.</p>
+
+<p>Immer, wenn er an der jungen Hirtin vorüberkam, sagte er: »Tust
+gaißhalten, Martha?«</p>
+
+<p>Und darauf antwortete stets das Mädchen: »Ja, ich tu' gaißhalten,
+Malchus.«</p>
+
+<p>Einmal sagte sie aber auch noch etwas anderes: »Gib deinen Hut her!«</p>
+
+<p>»Geh, Martha,« sprach er, »was tätest denn mit meinem Hut, ist schon
+ganz zerrissen.«</p>
+
+<p>Er gab ihr ihn aber und sie steckte ein Sträußchen Heideblumen darauf.
+Und es war doch nicht sein Namenstag, und es war auch nicht der
+Gedenktag im Herbst. Es war ein Sommertag.</p>
+
+<p>Dem Burschen war's wieder so, wie er es dem alten Pechbrenner erzählt
+hatte. Er drückte schier beide Augen zu; nicht einmal den Strauß sah
+er recht an, schnell tat er den Hut auf die wirren Haare, und schnell
+eilte er dem Walde zu.</p>
+
+<p>Am andern Tag ging Malchus mit einem kleinen Holzkübel taleinwärts dem
+Bach entlang. Oft unterwegs zog<span class="pagenum" id="Seite_387">[S. 387]</span> er seine Wolljacke aus, streifte die
+Hemdärmel zurück, legte sich am Ufer des Wassers hin und langte, wo es
+tief war, unter den Rasen. Wo ihm eine Forelle nur einmal in die Hand
+kam, entschlüpfen konnte sie ihm nicht mehr.</p>
+
+<p>Heute hatte der Bursche einen besonderen Vorsatz. Am Abend, wenn er
+die Fische hintrage, wollte er Martha sagen, daß er sie lieb habe und
+er wolle nicht mehr stricken, er sei an die dreißig, er wolle zu den
+Holzschlägern gehen und im Walde arbeiten und Geld verdienen.</p>
+
+<p>»Wart du verblitzter Fischdieb!« rief es plötzlich neben dem
+hingestreckten Burschen.</p>
+
+<p>Malchus sprang auf. Ein großer Mann mit einer langen Stange über der
+Achsel stand da, es war der Fischer.</p>
+
+<p>»Ei schau, der Malchus ist's. Na hörst, wie kommst denn du unter die
+Pharisäer?«</p>
+
+<p>Der Bursche war wie vernichtet, jetzt erst fiel es ihm ein, daß hier
+das Fischen verboten sei.</p>
+
+<p>Nun war er ein Dieb, und der Mann treibt ihn vor das Gericht. — Die
+Seespinne!</p>
+
+<p>»Lass' es gut sein, Malchus, und geh' jetzt heim, die Forellen, die
+du da gefangen hast, die schenk' ich dir, lass' sie dir backen und
+schmecken.«</p>
+
+<p>»Will sie nicht!« brummte Malchus, seinen Strohhalm zerkauend, und
+stürzte den Kübel samt Wasser und Forellen in den Bach.</p>
+
+<p>Als er zu dem Pfarrhofe zurückkam, trat eben die alte Nähterin aus dem
+Hause, sie hatte es dem Seelsorger angezeigt, daß ihre Tochter heute
+aus der Gemeinde fortgezogen sei, um sich in der Fremde einen Erwerb
+zu suchen. Bei einem Verwandten, der in der Kreisstadt ein Haus habe,
+werde sie Dienst finden — es sei so das beste.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_388">[S. 388]</span></p>
+
+<p>Malchus hörte es, stieg über seine Leiter und als er im Stübchen saß,
+murmelte er: »Ja, ja, es ist so das beste!«</p>
+
+<p>Dann fuhr er sich mit dem Sacktuch über die Augen. Was doch das für ein
+Knoten war im Sacktuch?</p>
+
+<p>Der Mann wußte es nicht mehr.</p>
+
+<p>Singen sollst!</p>
+
+<p>Aber der arme Malchus sagte zu sich: »Jetzt wär's schon bald Zeit, daß
+die Geschichte zu Ende ging' — jetzt hab' ich kein' Freud' und kein
+Leid mehr auf der Welt.«</p>
+
+<p>Aber es kam der Herbst und der Winter und der Frühling und jeder hatte
+Freuden und Leiden, und es ging nicht zu Ende.</p>
+
+<p>Da war's an einem Maimorgen. Malchus saß in der Kammer am offenen
+Fenster, strickte und sah hinaus auf die Bretterdächer des
+Wirtschaftsgebäudes, aus welchen die Sonne noch den Tau sog. Die Luft
+war frisch und rein und der Himmel blau. Über das Dach ragte der
+Wimpfel einer junggrünenden Esche empor und auf diesem saß heute schon
+seit früher Morgenstunde ein Kuckuck. Er schrie in einem fort seinen
+hellen Ruf.</p>
+
+<p>Da warf Malchus sein Strickzeug weg, lehnte sich an die Fensterbrüstung
+und sagte: »Jetzt muß es gelten! Sag' mir, du Vogel, wie lange werde
+ich noch leben? Nenne mir die Jahre!«</p>
+
+<p>Der Kuckuck schwieg.</p>
+
+<p>»Kein Jahr mehr?« murmelte er dann, »nicht ein einzig Jahr mehr! Schau
+mich genau an, Vogel, ich bin noch jung!«</p>
+
+<p>Und es war wirklich, als ob sich der Kuckuck gegen ihn wendete. Dann
+begann er zu schreien. Er schrie zweiundvierzigmal.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_389">[S. 389]</span></p>
+
+<p>Dem Burschen ging schier das linke Auge auf. »Also zweiundvierzig
+Jahre! — Oder willst noch weiter schreien?«</p>
+
+<p>Der Vogel flog ab. Aber eine Stimme hörte er irgendwo: »Nach
+zweiundvierzig Jahren am Urbanitag!« — Ei der Kuckuck?</p>
+
+<p>Malchus wendete seinen Blick in die Stube zurück; sein Auge war
+geblendet, es war fast finster. Das Strickzeug ließ er eine Weile auf
+dem Boden liegen, nun war ja noch so viele, so viele Zeit zum Stricken.</p>
+
+<p>Zweiundvierzig Jahre, Malchus! Hast du Pläne? Wie wirst du diese Zeit
+ausfüllen? —</p>
+
+<p>Der Mann zog seinen Rosenkranz hervor, zählte zweiundvierzig Perlen ab,
+machte nach diesen einen Knoten in das Schnürchen. Die noch übrigen
+Kügelchen entfernte er, und nun bedeutete ihm der Rosenkranz die Zeit,
+die ihm noch beschieden war auf Erden.</p>
+
+<p>Seine zwölf Taler suchte er von nun an zu verwahren, seine Zeit und
+Lebensweise noch regelmäßiger einzuteilen und sein Leben so ruhig und
+einfach als möglich einzurichten, damit das Unglück nirgends eine
+Nahrung habe.</p>
+
+<p>So kamen und gingen nun Jahre und Jahre.</p>
+
+<p>Malchus Zacharias Rosenkranz lebte einsam in dem Dachkämmerlein des
+alten Pfarrhofes. An seinem Fenster blühte nie mehr ein Strauß von
+weißen Rosen.</p>
+
+<p>Nur die Mäuse, die kleinen, behenden, uralten, grauen Mäuse kamen von
+der nachbarlichen Rumpelkammer öfters zu ihm herüber auf Besuch und
+guckten ihn helläugig an und wisperten ihm auch oft was vor. Es freute
+ihn nicht, wußte er doch, daß der Besuch seinem Erbsentopfe galt.</p>
+
+<p>Mit den Menschen verkehrte Malchus nur wenig; sie hatten nichts für ihn
+als Wolle, und sie verlangten nichts<span class="pagenum" id="Seite_390">[S. 390]</span> von ihm als Strümpfe. Er strickte
+aber auch Handschuhe, Hauben und Unterjacken.</p>
+
+<p>Im Sommer ging er die stillsten Wege, die es im Tale gab, am liebsten
+aufwärts gegen die Heide, wo Martha einst die Ziegen gehütet.</p>
+
+<p>Vom Walde trug er weniges Brennholz heim; zur Erwärmung im Winter
+brauchte er nicht zu heizen, denn dafür hatte er eine Erfindung
+gemacht. Er hörte einmal, daß schnelle Bewegung der Körper Wärme
+erzeuge; sofort bat er den Pfarrer, daß dieser ihm die alte Windmühle
+borge, die schon lange Zeit unbenützt in der Scheune stand, weil sie
+keinen Rieselboden mehr hatte. Diese Windmühle nun stellte der Mann zur
+Winterszeit in sein Stüblein, und wenn ihn frieren wollte, begann er an
+der Handhabe zu treiben, daß es sauste und klapperte, und bald war ihm
+ganz leidlich warm und er konnte wieder stricken.</p>
+
+<p>Wohl schienen die Mäuse über ihren polternden Nachbar ungehalten zu
+sein, denn sie entzogen ihm nach dergleichen stets auf längere Zeit
+ihre Besuche.</p>
+
+<p>Seit mehreren Jahren hatte sich Malchus auch einen anderen, neuen
+Hausrat anzuschaffen bemüßigt gefunden — ein Rasiermesser, mit dem er
+sich nach jedem Neumond regelmäßig seinen braunen Bart schnitt.</p>
+
+<p>Die Kopfhaare begann er stehen zu lassen, und er wand dieselben nun, da
+der alte Filzhut schon längst den Weg alles Irdischen gegangen war, wie
+einen Turban um das Haupt.</p>
+
+<p>Aus praktischen Gründen hatte Malchus auch die bereits grau gewordenen
+Lederschuhe gegen Holzschuhe vertauscht, eine Änderung, mit der die
+Nachbarschaft ebenfalls nicht einverstanden war. Zum Weihnachts- und
+Osterfeste war er immer beim Herrn Pfarrer zu Tische geladen, weil er
+im Laufe des Jahres dann und wann kleine Kirchendienste<span class="pagenum" id="Seite_391">[S. 391]</span> tat, aber
+Malchus fand sich bei der Tafel nicht behaglich. Der Braten, ei ja,
+der täte schon schmecken, das Glas Wein auch, aber wie leicht ist die
+böse Angewohnheit da! Zu Weihnachten bekam er immer das Paket Wäsche.
+In der Neujahrsnacht langte Malchus stets seinen Rosenkranz aus dem
+Schranke hervor, tat eine Koralle weg, warf sie aus dem Fenster und
+ließ sie hinabrollen über die Schneerinde des Daches, so wie das Jahr
+hinabgerollt war in die Ewigkeit.</p>
+
+<p>Schon viele Kügelchen hatte der Rosenkranz auf diese Weise verloren,
+und Malchus war durch sein Sitzen auf der Matratze buckelig und
+mühselig geworden.</p>
+
+<p>Auch sein Turban war nicht mehr dunkel, sondern lichtgrau.</p>
+
+<p>Im Dorfe und im Tale waren Menschen geboren worden und aufgewachsen.
+Sie hatten Hochzeiten und Kindstaufen und Begräbnisse gehabt, hatten
+sich endlich selbst auf das Brett gelegt, und Malchus Zacharias
+Rosenkranz hatte für sie gestrickt. Auch die alte Nähterin hatten sie
+auf den Kirchhof getragen. Ein fremder Wagen mit zwei Pferden war zum
+Begräbnis gekommen — ein Mann und eine Frau saßen darin.</p>
+
+<p>Malchus bekam an demselben Tag vom Pfarrer einen neuen Anzug aus grauem
+Loden und ein silbernes Kreuz, das er um den Hals hing.</p>
+
+<p>Es waren große Ereignisse in der Gemeinde vorgegangen, noch größere
+draußen in der Welt. Für Malchus war es das größte gewesen, daß während
+der vielen Jahre zweimal am Dache des Pfarrhofes gedeckt werden mußte,
+wobei gräßlich gehämmert wurde, und daß auf dem gegenüberliegenden
+Dach des Wirtschaftsgebäudes einmal drei Kater rauften, und so wütend
+rauften, daß einer davon halb zu Tode gebissen über die Bretter
+kollerte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_392">[S. 392]</span></p>
+
+<p>Auch war im Laufe der Zeit, wie er meinte, jenem Stern, der in
+den Sommernächten gerade über dem Stallfirst stand, einmal ein so
+ungeheurer Schweif gewachsen, daß alle anderen Sterne der Nachbarschaft
+weit auseinander gehen mußten, um dem wüsten Ungeheuer eine Gasse zu
+machen.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>So lebte der arme, alte Mann fort; er wußte schier nicht mehr,
+wie er in das Dachkämmerlein gekommen war. Er hatte vergessen den
+Schreckenstag in seiner Jugend, auch den alten Pechbrenner Domini, und
+wie dieser gesagt hatte, daß er singen solle. Aber der alte Mann hatte
+endlich ja auch die Seespinne vergessen, die als unheilvolles Erbe des
+elterlichen Aberglaubens durch die schönsten Jahre der Jugend hin sich
+an sein weiches Herz geklammert hatte.</p>
+
+<p>Nur das war dem armen Malchus noch: es habe ihm einmal geträumt von
+einem lieben Mädchen, das auf der Heide die Ziegen gehütet und ihm
+Blumen gegeben hatte.</p>
+
+<p>Wie einem doch so wunderlich träumen kann, nicht wahr, Malchus? — Aber
+sag einmal, wie viel hast denn noch Korallen an deinem Rosenkranz?</p>
+
+<p>Der Alte mag selbst daran denken, der Grashalm wackelt ihm unsicher im
+Munde — er hat ja schier keinen Zahn mehr.</p>
+
+<p>Draußen blüht und leuchtet der Maitag.</p>
+
+<p>An der Kirchentür wird ein großer Kranz aus Tannenreisern geflochten,
+es werden auch Rosen hineingewoben, rote und weiße — es ist das Fest
+des Kirchenpatrones Urbanus nahe.</p>
+
+<p>Unten im Hofe bei den Schweinen ist großer Schrecken, wie er immer war,
+wenn ein großer Tag herannahte, und der Pfarrer für den Festbraten
+sorgte.</p>
+
+<p>Der alte Malchus befand sich ganz wohl. Aber er weiß, es naht der
+Tag ... Schon vor Wochen hatte er die Windmühle<span class="pagenum" id="Seite_393">[S. 393]</span> in die Rumpelkammer
+geschoben, wofür er von der Nachbarschaft eine sehr trauliche Gegen-
+und Dankvisite erhielt.</p>
+
+<p>Malchus holperte noch einmal durch das Tal; er konnte im Gehen nicht
+mehr arbeiten, er mußte schon den Stock recht fest halten. Heute wollte
+er sich die Welt noch einmal ansehen, diese Erde noch einmal, den
+Himmel noch einmal. Ist gut beisammen, alles. Und die Luft trägt den
+Duft der Blumen herum, und sie trägt den Gesang der Vögel herum. Der
+Kuckuck schreit auch; das wird derselbe nicht sein, von der Esche. —
+Malchus, das ist ein wunderlicher Morgengang! Und alles ist so mild
+gegen dich und weiß nichts davon, daß du — schon in zwei Tagen.</p>
+
+<p>Malchus bückte sich und riß einen jungen Halm ab, und begann an ihm zu
+saugen.</p>
+
+<p>Zur Heide stieg er auch hinauf. Ein Bauer, der ihm begegnete, sagte:
+»Hab' dir's ein für allemal gesagt, Malchus, magst sie schon nehmen die
+herabgebrochenen Äste zum Heizen, brauchst nicht zu fragen.«</p>
+
+<p>Am nächsten Tage kamen die Krämer mit ihren Tragekästen, schlugen auf
+dem Dorfplatz Stöcke in die Erde, banden Stangen daran und richteten
+ihre Stände auf. Kinder standen dabei und sahen zu.</p>
+
+<p>In den Häusern wird gebacken und geschmort, ins Wirtshaus kommen schon
+vier Männer mit Pfeifen und Geigen; hinten geht eine ungeheure Baßgeige
+nach.</p>
+
+<p>Der alte Malchus Rosenkranz humpelte gebeugt am Stabe durch das Dorf.
+Er kam jetzt von der Kirche, wo er eine Beichte abgelegt und die
+Kommunion empfangen hatte. Vor dem alten Brunnen, der schon lange
+verfallen war, und auf dem roter Holunder wuchs, blieb er einmal
+stehen und sah blinzelnd das frischgrüne Gebüsch an. Dann ging<span class="pagenum" id="Seite_394">[S. 394]</span> er
+weiter hinab bis ans Ende der Häuser, wo einmal ein alter Heustadl
+niedergebrannt war, und er ging weiter den Weg entlang bis zu einem
+Häuschen, in dem einst die alte Nähterin gelebt hatte. Dort kehrte er
+wieder um und ging durch die hintere Dorfgasse dem Pfarrhofe zu. Vor
+einer Schreinerwerkstatt blieb er stehen und sah durch das offene Tor
+den Gesellen zu.</p>
+
+<p>Sie hobelten an Läden, die Späne schoben sich durch die Eisenscharte
+und flogen lustig davon. Dann nahmen sie den Zollstab und maßen, und
+schnitten in die Quer.</p>
+
+<p>»Mit Verlaub zu fragen, was wird denn da gemacht?« fragte Malchus.</p>
+
+<p>»Ja, mein lieber Malchus!« sagte der Obergeselle bedeutungsvoll.</p>
+
+<p>»Ich verstehe,« murmelte Malchus, »werde auch bald so was brauchen.«</p>
+
+<p>»Gratulier'!« sagte der Geselle.</p>
+
+<p>Die Schreiner zimmerten eine Wiege.</p>
+
+<p>Der alte Mann schritt langsam seiner Wohnung zu. Mühsam kletterte er
+über die alte, halbmorsche Leiter. Dann kochte er sich einen Topf
+Erbsen.</p>
+
+<p>Am Abende desselben Tages saß er lange am Fenster und strickte.
+Er hatte für die alte Einleger-Ploni noch ein Paar Strümpfe
+fertigzubringen; 's ist schon gezahlt dafür, und 's wär' doch eine
+Schand, wenn er jetzt, ohne die Arbeit zu vollenden, durchginge.</p>
+
+<p>Auf das gegenüberliegende Bretterdach fiel das bleiche Licht des
+aufgehenden Mondes. — Wenn er über das Haus herüberkommt und nach
+Mitternacht zum Fenster hereinlugt, vielleicht bist du dann schon
+fertig.</p>
+
+<p>Auf dem Rosenkranz des Alten war keine Perle mehr, nur noch der Knoten
+— der letzte Knoten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_395">[S. 395]</span></p>
+
+<p>Auf dem Eschenwipfel, der über dem Dachfirst emporragte, meldete sich
+ein Vogel. War's wieder ein Kuckuck, wie vor einigen vierzig Jahren?
+Wollte er noch ein paar Jährchen draufgeben?</p>
+
+<p>Der Vogel krächzte — es war eine Eule.</p>
+
+<p>Der Alte hörte dem Gekrächze eine Weile ruhig zu, endlich begann er zu
+brummen: »Ja, ja, ja, ist das eine ewige Kräherei! Weiß es ohnehin —
+hab' gemeint, die Arbeit da brächt' ich noch fertig, aber 's wird nicht
+sein mögen!«</p>
+
+<p>Und er strickte und strickte.</p>
+
+<p>Gegen Mitternacht zog er die letzte Nadel aus der letzten Masche und
+der Strumpf war fertig. Der Alte machte ein Kreuz über Stirne, Mund und
+Brust und legte sich auf die Matratze. Seine Glieder waren müde, sein
+Sinnen war umflort — er schlief bald ein.</p>
+
+<p>Der Mond war über das Haus gekommen, blickte durch das Fenster und auf
+dem Fußboden lag seine weiße Tafel.</p>
+
+<p>Auf der weißen Tafel saß eine Maus und guckte mit hellen Äuglein den
+Mond an.</p>
+
+<p>Am andern Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen auf den Dachfirst
+fielen, läuteten alle Glocken. Malchus erwachte und schlug für einen
+Moment die beiden Augen auf. Es war das Fest des Kirchenpatrons Urbanus
+— jener Tag, der ihm vorausgesagt worden war. Ei, der Kuckuck, dachte
+sich der Alte, ich steh' jetzt auf und geh' in die Kirche; bist schon
+wieder beim Erbsensack, du vertrackte Maus? Nu, nu, nur nicht gleich so
+betreten, nag' zu, beiß' zu! Und wenn er kommt, so sag' ihm, er möge
+warten, ich sei bei der Messe.</p>
+
+<p>Dem Alten war wunderlich um das Herz — nicht so, als ob er sterben
+sollte. Klar war sein Denken nicht, statt der stumpfen Ergebung war
+eine Berauschung eingetreten.<span class="pagenum" id="Seite_396">[S. 396]</span> Mit seltener Sorgfalt ordnete er seinen
+Anzug und wand seine Locken um das Haupt.</p>
+
+<p>So kletterte er über die Leiter und ging in die Kirche.</p>
+
+<p>Da standen die Leute auf dem Dorfplatz, Kopf an Kopf, mit grünen,
+schwarzen, grauen und anderen Hüten; Weiber und Kinder drunter, mit
+bunten Hauben und Kopftüchern; alles schmuck, sogar Blumensträuße
+hatten sie bei sich auf den Hüten, im Knopfloch oder am rotseidenen
+Busentuch. Und sie waren fröhlich und plauderten miteinander und sahen
+die Marktsachen an, die in den Buden und Ständen ausgestellt waren, und
+sie feilschten mit den Krämern — und das war ein Summen und Brummen
+über den Kirchplatz hin, und darüber lag die Morgensonne, und auf dem
+Turme klangen die Glocken und riefen zur Frühmesse. Da drängte sich das
+Volk der Kirchentüre zu — viele blieben auch im Freien stehen oder
+gingen ins Wirtshaus.</p>
+
+<p>Trotzdem war die Kirche voll. Die Orgel war laut und hell —
+der Schulmeister hatte alle vier Register aufgezogen, sowie der
+Kirchendiener alle Kerzen, die in der Kirche waren, angezündet hatte.
+Der heilige Papst Urbanus, der in seinem goldenen Ornate über dem
+Altare stand und »der den Wein wachsen läßt«, hatte zwölf Kerzen und
+war in nicht geringer Feuersgefahr, was aber wenig zu sagen hatte, da
+der heilige Florian mit dem gefüllten Wasserbehälter daneben stand.</p>
+
+<p>Endlich war der Festgottesdienst vorüber und alles drängte sich in das
+Freie. Unser alter Malchus suchte sich auch durch die Menge zu winden.
+Man warf ihm Kreuzer zu, die er aber nicht auflas und für die er nicht
+dankte.</p>
+
+<p>Eine Bäuerin bat ihn, daß er ihrem Töchterlein ein Wollenjöpplein
+stricke, er sagte nicht zu. Er ging ein wenig durch das offene Tor in
+den kleinen Kirchhof. Da war alles<span class="pagenum" id="Seite_397">[S. 397]</span> grün und frisch. Es war aber keine
+rechte Stimmung. Malchus humpelte weiter.</p>
+
+<p>Als er in sein Dachstübchen zurückkam, blieb er einen Augenblick an der
+Türe stehen. Es war ein fremder Mann da. Er war dem Fenster zugekehrt,
+stützte sich auf die Brüstung und sah in den blauen Himmel hinaus.</p>
+
+<p>Er war sehr gebückt, hatte einen grauen Pelz an, und die wenigen Haare,
+die von seinem kahlen Kopfe über das Genick hinabhingen, waren weiß.
+Der Mann war uralt.</p>
+
+<p>Aha, da ist er schon! dachte Malchus, ging dann auf den Fremden zu.</p>
+
+<p>Der Alte kehrte sich langsam um. »Dennoch wohl, dennoch wohl!« sprach
+er nun, als er den Malchus erblickte. »Du, Junge, jetzt schau, ich
+bin keck gewesen, gelt? Nun, daß ich halt so heraufgekommen bin da in
+deine Stuben. Hab' wohl gewußt, daß du in der Mess' bist; hätt' auch
+können hineingehen, aber weißt, Junge, mag nicht recht, red' mit meinem
+Herrgott lieber, wenn ich mit ihm allein bin. Du schaust so! Kennen
+wirst mich doch wohl noch? — Bin ja der alte Domini, ich, gelt?«</p>
+
+<p>Malchus glaubte, er träume. — Das wird doch nicht der Pechbrenner
+Domini sein, den er vorzeiten als alten Mann gekannt hatte!</p>
+
+<p>»Siehst du, Malchus,« sagte der Domini, »dort auf dem Eschenwipfel
+sitzt ein kohlenschwarzer Rabe. Der ist ein Steinrabe, von dem gesagt
+wird, daß er zweihundert Jahre alt wird. Hab's noch nicht so weit
+gebracht, bin erst ein wenig über hundert, aber wir zwei werden es
+schon noch so weit bringen, Junge.«</p>
+
+<p>»Ei, versteht sich,« entgegnete Malchus, »'s ist nur schade, daß vor
+einigen vierzig Jahren ein anderer Vogel auf dem Wipfel dort gesessen
+ist. Wenn du aber der Domini<span class="pagenum" id="Seite_398">[S. 398]</span> bist und aus deinem Grab kommst — sei
+nur so gut und mach' nicht viel Umstände, ich weiß es ja —«</p>
+
+<p>»Red' nicht so kindisch; pack' lieber deine sieben Sachen zusammen;
+wirst heut' mit mir gehen müssen. Mit dem Pfarrer hab' ich schon
+gesprochen, wirst kaum mehr zurückkommen in dieses Dorf!«</p>
+
+<p>Was hatte der alte Malchus Zacharias Rosenkranz zusammenzupacken?
+Seinen Wollenbeutel nahm er und seinen Stock, dann war er fertig. Er
+stieg voran über die Sprossen hinab; als Domini nachkletterte, brach
+die Leiter, der Greis erhielt sich noch glücklicherweise an einem Haken.</p>
+
+<p>Zur selben Stunde schritten die zwei alten Männer aufeinander gestützt
+durch die Dorfgasse. Viele Leute blickten ihnen nach. Mehrere folgten
+sogar, und aus dem Wirtshause klang die Tanzmusik.</p>
+
+<p>Wohl blieb Malchus noch einmal stehen und sah zurück, aber er dachte
+kaum an das, was kommen sollte, sein Geist war wieder in Stumpfheit
+versunken.</p>
+
+<p>Am Ende des Dorfes, wo das Häuschen der Nähterin stand, war Roß und
+Wagen. Der Fuhrmann, der dabei war, half den beiden Greisen in den
+Wagen, und dann rollte das Gefährte davon.</p>
+
+<p>Malchus fuhr sich mit dem Ärmling zweimal über die Augen, er öffnete
+auch das linke zuzeiten und sah in die Gegend hinaus und sah seinen
+wunderlichen Gefährten an. War's denn doch wohl der alte Domini? —
+Malchus fühlte sich nicht behaglich; er hatte vergessen, einen Halm
+aufzulesen, und jetzt wußte er nicht, woran er kauen sollte. Einmal
+öffnete er seinen Wollenbeutel, zählte die Taler und murmelte dann
+vor sich hin: »Wo hab' ich denn doch den andern gelassen? Es müssen
+dreizehn gewesen sein!«</p>
+
+<p>Gegen Abend, als im Tale schon die Schatten lagen,<span class="pagenum" id="Seite_399">[S. 399]</span> ließ der alte
+Domini vor einem Wirtshaus halten; nach einem Imbiß ging das Fuhrwerk
+weiter. Der hatte sogar geschmeckt. Es kam die Nacht, sie fuhren über
+Auen und durch Wälder. Malchus saß in sich versunken da.</p>
+
+<p>Als die Sonne aufging, stand Roß und Wagen still, und da war ein See
+und an beiden Seiten standen rote Felswände und spiegelten sich im
+dunklen Grunde. Am Ufer des Sees stand ein neues Haus und ein heiteres
+Gärtlein.</p>
+
+<p>Domini führte den Malchus gegen das Haus und sagte »Wir zwei sind wohl
+ein wenig alt, aber da ist alles wieder jung geworden, seh' ich. Mich
+deucht, Malchus, du hast dem Pechbrenner Domini vor fünfzig Jahren
+einen Taler geschenkt, weil dieser Taler der Judas war, und mich
+deucht, der Pechbrenner Domini hätte mit demselben Taler zu hausen und
+wirtschaften angefangen, und er hätte dann dieses Haus bauen lassen,
+daß du eine Ruhestatt hättest für deine alten Tage. Jetzt, Malchus,
+schau ein wenig nach, ob's wohl so ist!«</p>
+
+<p>Und als sie in das Haus gingen, da stand ein Weib vor der Tür, und das
+reichte dem Malchus die Hand, und der Malchus hat sie erkannt.</p>
+
+<p>Und dann gingen sie in die Stube, in die freundliche Stube mit den
+großen Fenstern, durch welche die Fülle des Sonnenlichtes auf den
+gedeckten Tisch und auf das weiße Ruhebett strömte.</p>
+
+<p>Das ist nun dein, Malchus, glücklicher Malchus, für den der Freund
+gesorgt, den die Liebste nicht vergessen. — Martha hatte einen Mann
+gehabt, hatte viele Jahre glücklich mit ihm gelebt. Als er starb, da
+war sie wieder allein, wie ehdem. Nur ihr Lebensretter war noch in der
+Welt, verlassen, vergessen. Nein, vergessen nicht, sie dachte ja an<span class="pagenum" id="Seite_400">[S. 400]</span>
+ihn und sie wollte dem alten pflegebedürftigen Mann ihre noch übrigen
+Lebenstage weihen.</p>
+
+<p>Malchus ging hinab zum See, dann hörte er dem Kuckuck zu, der fort und
+fort schrie; dann ging er wieder ins Haus, kletterte auf den Dachboden,
+schlang sich den Turban seiner Haare wieder um das Haupt und setzte
+sich auf einen Holzstrunk. Dort saß er Stunden und Stunden und drückte
+das linke Auge zu und kaute an einem Halm. —</p>
+
+<p>Und jetzt ist das Gesicht zu Ende. Ich weiß nicht, wie es weitergeht.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_401">[S. 401]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_gluecklichste_Mann_von_Graz">Der glücklichste Mann von Graz.</h2>
+</div>
+
+
+<p>»Wollen Sie, lieber Freund, nicht einmal mit mir gehen? Ich möchte Sie
+gerne zum glücklichsten Manne von Graz führen.« Mit diesen Worten lud
+mich ein Nachbar in genannter Stadt zu einem Spaziergange ein.</p>
+
+<p>»Zum glücklichsten Mann von Graz?« entgegnete ich, »erlauben Sie, der
+bin ich ja selber.«</p>
+
+<p>Mein Nachbar stutzte, blickte mich an vom Haupt bis zum Fuße und
+schüttelte seinen Kopf. »Wirklich?« sagte er endlich, »um so besser, so
+werden Sie meinen Mann auch recht verstehen können.«</p>
+
+<p>Nicht lange danach, so stieg ich eines Nachmittags die südliche Lehne
+des Rosenberges hinan. Und auf sanfter Lehne, mit dem Ausblick auf die
+Wälder der Hilm und auf die schimmernde Kirche von Mariatrost habe ich
+den Mann gefunden. Ihr erkennt das Heim des Glücklichen an dem einen
+Merkmal: es ist mit einem Dornenkranze umgeben. Über Rosenzäune hüpft
+so gerne der Weltunfrieden; über eine Dornenhecke vermag Habsucht,
+Ehrgeiz und Neid schwer zu dringen. Wer aber an der kleinen Pforte
+zwischen den Dornen die Klingelschnur zu finden weiß, dem wird aufgetan.</p>
+
+<p>Unser Mann ist Grundbesitzer. Sein Erdboden mit Haus und Hof,
+mit Obst-, Gemüse- und Weingarten beträgt nicht weniger als 53
+Geviertklaftern. Auf diesem Grunde hat sich der Mann drei Häuser
+gebaut. Eines dieser Gebäude, ein hölzernes Bauernhaus, stand vor nicht
+langer Zeit in der Stadt. Viele Jahre wohnte und wirkte der Eigentümer
+in ihm und war's zufrieden. Aber das Haus stand auf keinem guten
+Boden; ein Sumpf- oder Moorgrund<span class="pagenum" id="Seite_402">[S. 402]</span> war es nicht, ein Zinsgrund war's.
+Und gleichwohl kein Fleckchen Erde in ganz Graz von den Mietern so
+gewissenhaft und haushälterisch verwertet wurde, als diese paar Klafter
+in der Lechgasse, so wucherte doch daraus das Unkraut der Mietzinse
+derart hervor, daß es das Häuschen und den Wohlstand darin gefährdete.
+Deß war nun unser Mann einmal nicht zufrieden. Rollte er denn vier
+Räder unter das Gebäude, spannte zwei Pferde daran und führte sein Haus
+davon. Er führte es am Hilmteiche vorbei und die Mariatrosterstraße
+kreuzend, den schönen Rosenberg hinan. Dort oben hatte er sich von dem
+Ersparten Grund und Boden zu eigen erworben und auf den stellte er das
+hölzerne Haus, so aus Graz ausgewandert war, und baute auch noch ein
+größeres dazu für Weib und Kind und gründete daneben ein Hüttchen, das
+»Industriegebäude« für den Erwerb. Und nun war er zu einem Gutsbesitze
+gekommen, wie es im Lande keinen seltsameren gibt. Da lächelt denn
+der Gute still in sich hinein, und wenn er von seinen Feld- und
+Gartenarbeiten spricht, so tut er's mit Selbstbewußtsein und mit
+Schalkheit zugleich. Nun gehört er mit zu den Besitzenden, und seinen
+Besitz und seine Welt hat er sich selbst erworben und geschaffen. Das
+ist eine Freude!</p>
+
+<p>Während das Weib Haus- und Landwirtschaft versorgt, sind der Mann und
+die Tochter in der Werkstatt tätig, und das Rauschen der Sägen und
+das Klopfen der Hämmerchen ist wohl weit und breit zu hören. Und was
+wird denn erzeugt? Je nun, vielleicht hängt in deiner Stube ein hübsch
+geschnitzter Vogelkäfig, vielleicht spielt dein Söhnchen gerne mit
+einem »Spatzenschießer«; vielleicht besitzt meine Leserin einen feinen,
+wohlriechenden Wacholderfächer — hervorgegangen aus der kunstreichen
+Hand meines glücklichen Mannes.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_403">[S. 403]</span></p>
+
+<p>Ich will aber nicht Reklame machen für seine Vogelhäuser, sondern für
+sein Glück. Es ist bei ihm zu haben; seine heitere Gemütlichkeit,
+seine Zufriedenheit ist für den Besucher ansteckend, wenigstens so
+lange sich der im kleinen Bereiche des Dornenkranzes befindet. Fest
+steht der Steinbau, in dem des Schnitzers Familie wohnt; aber er, der
+alte Patriarch, lebt in seinem hölzernen Häuschen. Dieses ist das
+gelungenste Abbild eines steierischen Bauernhauses und hätte auf einer
+Weltausstellung den Preis erhalten. So freundlich und behäbig steht
+es da, das kleinwinzige Haus mit seinem Dachgiebel, seinem Söller,
+der zur Herbstzeit mit Kukuruzzapfen behangen ist, mit seinen glatten
+Fensterbalken und allem, was dran und drum dazu gehört. In der Stube,
+die etwa 5-7 Fuß lang und breit und hoch ist, steht der Wandkasten und
+der Gesindetisch und der Hausaltar und das Bett des Hausvaters und
+der Kachelofen. Aber das Bett ist zu kurz für eine Manneslänge und so
+muß für die Fußstelle der gute Kachelofen sein Inneres erschließen.
+Seit Menschengedenken ist in dem Hause noch nicht geheizt worden,
+weder zur Sommers-, noch zur Winterszeit; das ist <em class="gesperrt">ja</em> auch eine
+Eigentümlichkeit des Mannes, daß er die Kälte nicht kennt. Wie viel
+Grad Wärme muß ein Herz haben, das in seinen Bretterwänden bei der
+ruhigen Schnitzarbeit im Jänner den Ofen erspart! Nichtsdestoweniger
+ragt ein Rauchfang über das Schindeldach; in diesem Rauchfang dreht
+sich eine Windmühle, die unten in der Stube ein Glockenspiel treibt.
+Tag und Nacht läßt solches Spiel, meist gemächlich langsam, zuweilen
+aber auch rasch und lebhaft, seine Musik erklingen. Und so hat sich's
+dieser Mann eingerichtet, daß, je stürmischer die Stunden, je lustiger
+sein Glockenspiel ertönt. In einer ganz windstillen, tonlosen Nacht
+kann der Mann gar nicht schlafen, und in einer Zeit, wo alles nach
+Wunsch ihm geht,<span class="pagenum" id="Seite_404">[S. 404]</span> kann er nicht recht ruhig sein; denn, sagt er, da
+kommt jählings was, das einen in die Haut zwickt. In der Stube hängt
+auch ein Vogelbauer; aber das Tor dieses Vogelbauers geht durch die
+Holzwand in das Freie, und da können die Vögelein aus- und einfliegen
+nach Belieben, und sie finden zu jeder Stunde Unterkunft und Nahrung in
+dem gastlichen Hause.</p>
+
+<p>»Der Mensch muß nicht alles in seiner Faust haben wollen,« sagt unser
+Schnitzer; »was gerne daherfliegt, dem mach' ich Tür und Tor auf, und
+will es wieder davon, so laß ich's fliegen.«</p>
+
+<p>Fragt ihn einmal, ob er zufrieden ist in seiner Lage, und seht dann
+sein Gesicht an. Er ist über die sechzig Jahre alt, und fragt ihr ihn,
+was ihm in seinem Leben schon Übles widerfahren ist, so antwortet er,
+er sei sein Lebtag nicht viel krank gewesen, und zu essen hab' er auch
+allweg gehabt. Und fragt ihr ihn, wie er mit der Welt stehe, so sagt er
+euch, an Geldeswert sei er niemand was schuldig und er kenne gute brave
+Leute die Menge. Und fragt ihr ihn endlich, was er von der Zukunft
+erwarte, so wird er entgegnen, er freue sich auf die Zeit, in der seine
+jungen Obstbäume Früchte trügen, und sollte er bis dahin nicht mehr
+sein, so würde wohl ein anderer die Nutznießung haben.</p>
+
+<p>Mehr will ich nicht verraten. Und sollte doch jemand in der
+freundlichen Stadt Graz leben, der die Überschrift meines Kapitels zu
+anmaßend findet und selbst auf sie Anspruch machen zu können glaubt,
+der möge sich deß ja nicht laut melden, der möge es halten wie der
+Schnitzer vom Rosenberge und eine Dornenhecke ziehen um die stille
+Stätte seines Glückes.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_405">[S. 405]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak" id="Der_Waldteufel">Der Waldteufel.</h2>
+</div>
+
+
+<p>In der Stadt Graz geht zeitweilig ein wunderlicher Mann um. Ein Mann
+mit klobigem, braunem Gesichte und einem großen roten Vollbart. Sein
+Lodenwams hat manchen Flicken, bisweilen sogar klaffende Nahte. Eine
+stattliche Ledertasche an der Seite, oder ein Bündel von Wurzeln und
+Kräutern. Über dem Bauch baumelt ein großes Bockshorn, mitunter auch
+manch andere seltsame Zier, deren Vorhandensein den Leuten nicht
+einleuchten will. Wozu an der Hüfte das Skelett eines Schafskopfes?
+Schafsköpfe trägt man doch sonst nur über dem Schlüsselbein. Das
+Merkwürdigste an dem Manne ist ein Riesenhut mit hohem Spitz, in
+der Art der alten Tiroler »Sternstecher«, nur noch viel größer; die
+breiten Krempen beherbergen den ganzen breitschulterigen Kumpan auf
+das beste. Dieser Hut ist zumeist mit wilden Blumen geschmückt,
+besonders aber mit Hahnen- oder Geierfedern, die hoch und keck in den
+Himmel hineinstechen. Sehr langsam schleift er dahin, immer wieder
+stehenbleibend, um mit singendem Rufe sich bemerkbar zu machen. Ich
+habe manchmal bemerkt, wie der Mann nicht ganz sicher durch die Straßen
+schritt; das ging nicht immer gerade aus, so wie es wohl sein Wille
+gewesen wäre. Gerne singt er ein dreistes Liedel oder läßt gar einen
+»Juchezer« fahren. Bisweilen aber grollt und flucht er — und hat
+Grund dazu. Die Gassenjugend, die »liebe«, tut ihn nämlich manchmal
+gern ein wenig »aushetzen«, weshalb die Polizei ihn immer abschaffen
+will, anstatt die Gassenbuben abzuschaffen. Sie meint wohl, er solle
+nicht Ärgernis geben, und die gibt er auch nicht, so viel ich weiß.
+Es gibt viel<span class="pagenum" id="Seite_406">[S. 406]</span> ärgerlichere Dinge auf der Welt, als die absonderliche
+Tracht dieses lustigen Sonderlings, und werden doch nicht abgeschafft.
+Den Namen »Waldteufel« hat man ihm geschenkt, er hat ihn freundlich
+angenommen, erstens, weil er am Geierkogel eine alte Waldhütte
+bewohnt, zweitens, weil er im Walde Beeren, Pilze, Heilkräuter und
+Wacholderstauden sammelt, um sie den Stadtleuten zu verkaufen, und
+drittens, weil ja der Titel zu seiner Erscheinung nicht übel paßt.
+Wie andere Geschäftsleute ihre Orden und Ehrentitel, so benützt er
+den seinen zur Reklame und man kann manche Hauswirtin eilig über die
+Treppen herablaufen sehen, wenn sie nach dem Geschrei vernommen, daß
+der Waldteufel in der Nähe sei. Da lacht er dann gemütlich, bietet
+seine Wacholderstauden aus und meint, er möchte die »Kranabeten« gern
+in »Kranabetenen« umsetzen. Dieses Teufels einziges Höllenfeuer dürfte
+das Feuer des Wacholderbranntweins sein.</p>
+
+<p>Wo der Mann sich zeigt, mit jemandem spricht, oder auch mit sich
+selber, oder mit einer Straßenlaterne, oder mit einer Statue, da
+sammelt sich um ihn bald ein Kreis von Zuhörern, die teils mit
+Neugierde, teils mit spöttischer oder mißtrauischer Geberde die Gestalt
+anstaunen, bis dann plötzlich irgend so ein Range hervorspringt, an
+seinen Kleidern zerrt oder ihn mit Staub bewirft.</p>
+
+<p>Eines schönen Maimorgens sah ich den »Waldteufel« — umringt wieder
+von Neugierigen — vor dem neuen Hamerlingdenkmal stehen. Er schien
+gerade vertieft zu sein in ein Gespräch mit dem Dichter. »Du bist
+ein gescheiter Mensch gewesen,« hörte ich ihn noch sagen mit seiner
+rindenrauhen Stimme, »hast ihnen schon immer einmal was gesagt, denen,
+was sie nit ins Hutbandel stecken. Ein gescheiter Mensch! So wie auch
+ich einer bin!« Dabei verzerrte er sein klobiges Antlitz zu einer
+Fratze, als ob er seiner eigenen Gescheitheit<span class="pagenum" id="Seite_407">[S. 407]</span> ein Gesicht schneiden
+wollte. Der steinerne Dichter hat ihm nicht geantwortet; der lebendige
+Hamerling hätte für diesen Mann gewiß ein gutes Wort gehabt, obschon er
+solche Leute gerne mir überließ. »Die Waldteufel gehören Ihnen,« sagte
+er einmal, »mit diesen wissen Sie besser umzugehen als unsereiner, dem
+die Stadtteufel so viel zu schaffen machen.« Übrigens glaube ich, daß
+er das Wort »Stadtteufel« gar nicht ausgesprochen hat; man verstand
+auch, wenn er in halben Sätzen redete. Nun aber mit diesem »Waldteufel«
+wußte auch ich nichts anzufangen. So vor Leuten zu ihm hintreten und
+fragen: »Wie geht's euch! Wie lebt ihr? Was ist euch schon alles
+passiert? Was denkt ihr? Erzählt mir etwas!« — das mag ich nicht,
+würde bei solchen Menschen auch nicht anschlagen. Oder man wird tüchtig
+gefoppt. Da heißt's möglichst gleichgültig dreinschauen und warten, bis
+so einer selber anfängt. Und mein Waldteufel fing an.</p>
+
+<p>Diesmal hatte er einen besonders merkwürdigen Hut auf. Auch der hatte
+die Form der Sternstecher, nur dünkt mich, er wäre noch wuchtiger
+und riesiger als seine sonstige Kopfbedeckung. Manchmal war solcher
+Hut beklebt mit illustrierten Zeitungsannoncen, weiß aber nicht,
+ob zur selbstgewählten Zier oder ob schlaue Geschäftsleute sie ihm
+angeschwätzt hatten, so daß er für sie eine wandelnde Annoncensäule
+abgab. Ich vermute den Mann des Lesens unkundig und immereinmal ein
+Opfer fremden Vorwitzes. Diesmal war der Hut aus Baumrinden gemacht,
+in doppelter Schichte, daß er besser halten sollte; die sehr breiten
+Krempen waren zierlich gezackt. Aber diese Krempen hatten ein paar
+Löcher. Der Hagel hatte ihn geschlagen. Er pflege — sagte der Mann
+in langsamer, gemütlicher Tonart — bei Ungewittern nie unter einen
+Baum zu gehen, er bleibe auf freiem Felde stehen und warte, bis es
+vorüber sei. Das sei sonst schier am sichersten,<span class="pagenum" id="Seite_408">[S. 408]</span> aber diesmal habe
+ihm der Hagel die Löcher geschlagen. Nun, es sei ja recht. Sonst hätte
+er doch auch nichts, was ihm der Hagel schlagen könne. Außer diesem
+Hut hätte er wohl einmal ein Haus gehabt, aber das sei ihm abgebrannt.
+Sei ihm immer noch leid um dieses Haus, seien ihm viel Altertümer
+mitverbrannt. Er meinte damit wahrscheinlich alte Kleider, besonders
+aber den weitbekannten Filzhut, den er sich vor vierzig Jahren selbst
+gebaut hatte. Um seine Angabe zu bezeugen, zog er ein Zeitungsblatt
+aus dem Sack; als er das abgegriffene Papier mit ungeschickten Fingern
+entfaltete, wollte es gleich auseinanderfallen, als ob auch diese
+letzte Erinnerung an seine Hütte zunichte werden sollte. Da stand
+denn in einer Notiz beiläufig erwähnt, daß am Geierkogel eine Hütte
+abgebrannt sei, in welcher der sogenannte Waldteufel sich manchmal
+aufgehalten habe. — So weit war auch dieser Naturmensch schon von der
+Kultur beleckt, daß er sich etwas Besonderes dünkte, »weil er in der
+Zeitung stand«. — Ja, Alter, das hat man davon, wenn man in die Stadt
+geht, Pilze und Kranabetstauden zu verkaufen. In die Zeitung kommt
+man, gedruckt wird man, gerade so wie der Dichter, der dort in Stein
+auf dem Sockel sitzt. — Da sagte er auf einmal: »Ihr Herren! Wenn ich
+alle Steine, die mir in Graz die Gassenbuben schon nachgeworfen haben,
+zusammengetragen hätte auf einen Haufen, es wäre auch ein Denkmal. Wäre
+<em class="gesperrt">auch</em> eins! Wie mich die Kinder aushetzen.«</p>
+
+<p>Es gibt ja böse Buben, hier wie dort. Der Unterschied, daß die
+Landkinder sich vor dem Waldteufel fürchten, während die Stadtjugend
+mit ihm ihren Spaß hat. Wie die löbliche Polizei sagt, Ursache daran
+wird doch wohl er selber sein mit seiner auffallenden Tracht. Ob er
+sich aus Eitelkeit so trägt? Oder ob er damit die Aufmerksamkeit der<span class="pagenum" id="Seite_409">[S. 409]</span>
+Leute aus praktischen Gründen auf sich lenken will? Vielleicht beides.
+Leicht ist sein Geschick sicherlich nicht. Wenigstens nicht in unseren
+Augen. Er selbst — wenn man ihn so sprechen hört — wüßte allerdings
+nicht, was ihm fehlt. Es müßten nur die »Altertümer« sein, die ihm
+verbrannt sind.</p>
+
+<p>Als Beweis für die Schlauheit des Waldteufels wird ein Stückl erzählt.
+Wandern da einige bergfrohe Herren aus der Stadt auf den Geierkogel.
+Der Weg ist weit und die Sonne brennt heiß. Nirgends im Kalkboden eine
+Quelle, nirgends ein Labsal! Endlich ein Haus, vor dem einige Knechte
+stehen, darunter der wilde Waldteufel. Freundlich bitten die Ausflügler
+um einen Trunk Wasser, der ihnen aus einer Lagel gern und ohne Anspruch
+auf Bezahlung gewährt wird. Mit einem herzlichen »Gelt's Gott!« wollen
+sich die Städter wieder entfernen, da fängt der Waldteufel zu munkeln
+an: »Ich muß das Wasser weit hertragen und ihr schenkt es den reichen
+Städtern. Holt euch von morgen ab selber das Wasser herauf!« Natürlich
+griffen die Herren sofort in die Tasche und legten Nickel auf Nickel
+in die nun demütig dargebotene Hand des Waldteufels. Kaum waren die
+Ausflügler außer Hörweite, da zeigte der Fechtbruder seine Kollekte den
+Knechten mit den Worten: »Da, zwei Gulden fünfzig, und merkt's euch,
+wie leicht man bei den Städtern Geld verdienen kann!« Es braucht nur
+noch erwähnt zu werden, daß sich der Waldteufel nie mit Wassertragen
+abgegeben hat.</p>
+
+<p>So ist es ihm sein Lebtag gut gegangen. Sein Vater, ein Tiroler, hat
+seine Mutter, eine Kärntnerin geheiratet. Und das Kind nachher ist
+ein Steirer geworden. Also drei Heimländer. Wer hat mehr? Er ist sein
+Lebtag viel gereist. Nicht bloß in den drei Heimatländern, wohl auch
+in Italien, im Küstenland und weiter um. Sein Vater war »Künstler«,
+Holzschnitzler, und ist dann mit seinen Waren:<span class="pagenum" id="Seite_410">[S. 410]</span> Holzschüsseln,
+Kornschaufeln, Kochlöffeln und dergleichen hausieren gegangen. Der Sohn
+ist überall mit ihm gewesen. Nicht jede Nacht haben sie ihr Quartier
+gefunden.</p>
+
+<p>Nun, im Freien ist's auch bequemer, da hat man weit genug, hat frische
+Luft und wird nicht geniert. Das Gras auf der Wiese ist auch ein
+Federbett, ein ganz frisches, und kein Königskind hat ein süßeres
+Schlaflied, als das die Grillen singen. Aber noch lieber ist der
+»Franz« auf Steinhaufen gelegen, da kann man sich mit den Ellbogen das
+Bett graben wie man's gern hat. »San die Gliederlan wohl immer a bissel
+steif worden; muß einer nachher halt wieder brav laufen, alsdann werden
+sie schon wieder gelenkig.«</p>
+
+<p>»Und hat's Euch nicht geschadet, bei Nacht und Wetter so im Freien
+schlafen?«</p>
+
+<p>»Bis jetzt nit. Gesund, Gott sei Dank, bin ich alleweil gewest.«</p>
+
+<p>»Wie alt seid Ihr denn?«</p>
+
+<p>»Im Achtunddreißigerjahr geboren.«</p>
+
+<p>»Was? Und nicht ein graues Gran im Bart!«</p>
+
+<p>»Aber da, lieber Herr!«</p>
+
+<p>Er hob seinen Hut vom Kopf, da hatte er noch eine schwarze Haube auf,
+wohl zum Schutz vor dem drückenden Baumrindendach. Das verschwitzte
+Haar hatte graue Fäden.</p>
+
+<p>»Seht Ihr, und so einen würdigen Herrn will die Polizei abschaffen!« Er
+sagte es munter gegen einen Sicherheitswachmann hin, der den Waldteufel
+schon lange beobachtet hatte, ohne ein Arg an ihm zu finden. Dann hob
+er mit beiden Händen den Hut langsam und bedächtig wieder auf den
+Kopf. Einer, der diesen Hut vorwitzigerweise versucht, behauptete,
+er wiege wenigstens fünf Pfund. Dem Manne schien die Gefahr des
+Abgeschafftwerdens nicht aus dem Kopfe zu gehen.<span class="pagenum" id="Seite_411">[S. 411]</span> Es schien ihm schon
+oft passiert zu sein, obwohl die Behörden nie recht wußten, wohin mit
+ihm. Von den drei schönen Alpenländern wollte jedes das bescheidenste
+sein und auf den drolligen Vagabunden verzichten. Er wäre ja doch in
+keinem geblieben. »Ich tu' halt so viel gern reisen, so viel gern
+reisen! Und abgeschafft werden wir alle einmal!« lachte er laut, gegen
+den Wachmann hin. »Bis wir alt sind, werden wir alle abgeschafft. Aber
+ich bin decht noch jung.«</p>
+
+<p>»Ja, bloß sechsundsechzig Jahre!« redete ich drein.</p>
+
+<p>»Was ist das, sechsundsechzig Jahr! Meine Mutter ist hundertvier Jahr
+alt geworden. Mein Vater ist hundertvierzehn Jahr alt geworden, weil er
+brav Schnaps getrunken hat. Heut' kunnten sie noch leben, wenn —«. Er
+hielt ein mit irgend einer Anklage und setzte schmunzelnd bei: »Wenn
+sie nit gestorben wären.«</p>
+
+<p>»So habt auch Ihr Aussicht, alt zu werden?«</p>
+
+<p>»Ich werde zweiundachtzig Jahre alt,« antwortete er ruhig. »Damit wir
+zusammen dreihundert Jahr ausmachen, alle drei. Dreihundert ist kein
+Spott mehr. Mein Vater hat allemal gesagt, er möcht's gern derleben,
+daß die Leut' gescheiter werden. Hundertvierzehn Jahr ist er alt worden
+und hat's doch nit derwarten mögen. So lang mag ich nit leben, so lang
+nit. Nur das möcht' ich noch sehen, wie's ausschauen wird auf der Welt,
+bis die Leut' <em class="gesperrt">noch</em> dümmer geworden sind.«</p>
+
+<p>Da hatten wir gleich seine Meinung über den Stand unserer Welt.
+Er brauchte keine langen anarchistischen Reden zu halten, keine
+pessimistischen Bücher zu schreiben — das eine Wort sagte alles.
+Er, der keinen anderen Rock hat, als das in allen Nahten klaffende
+Lodenwams, kein anderes Dach, als den Rindenhut — von der Art seiner
+Nahrung war überhaupt nicht die Rede — er fühlte sich erhöht über die<span class="pagenum" id="Seite_412">[S. 412]</span>
+Millionen der Durchschnittsmenschen, die ihn erst dann interessieren
+werden, bis sie noch dümmer geworden sind.</p>
+
+<p>Wie war nun dem stolzen armen Manne beizukommen? »Waren« hatte er
+diesmal nicht bei sich, die ihm etwa abzukaufen gewesen wären. War man
+sicher, daß der hohe Herr, der bedürfnislose, freie König des Waldes,
+eine bescheidene Gabe nicht zurückweisen würde?</p>
+
+<p>»Wie würdet Ihr es halten?« fragte ich ihn tückisch, »wenn ein armer,
+braver und ganz zufriedener Mensch dastände und jemand gäbe ihm ein
+Silberstück in die Hand. Wäre das gescheit oder dumm?«</p>
+
+<p>»Das wäre gescheit, das wäre gescheit!« rief er aus.</p>
+
+<p>»Und was glaubet Ihr, daß der arme, brave und ganz zufriedene Mensch
+mit dem Silberstück anfangen würde?«</p>
+
+<p>»Schnaps kaufen!«</p>
+
+<p>So weit ging sein Freiheitsstolz — und nicht weiter. Alle Bande
+hatte er abgestreift oder gesprengt, aber der Schnaps war sein Herr
+und Gebieter geblieben. Doch ich sah ihn keinen trinken. Ehe wir
+auseinandergingen, vertraute er mir noch ein Geheimnis an. Er sei
+gesonnen, sich demnächst zu veräußern. Er stehe in Unterhandlung
+mit der medizinischen Fakultät, er wolle ihr seinen heiligen Leib
+verkaufen. Bei dem Worte heilig schnitt er eine ganz abenteuerliche
+Grimasse. Er glaube, mit fünfhundert Gulden sei der Waldteufel nicht
+überzahlt, aber man spare immer am unrechten Orte und wolle ihm nur
+dreihundert geben. So viel aber sei die Haut allein wert, wenn sie
+ausgestopft werde. Was habe er dann für die Knochen? Daß diese auch
+hübsch was nutz seien, beweise er jedem, der es bewiesen haben wolle.
+Er hob den Arm mit der geballten Faust. Indes hätte ihm ein Wachmann
+geraten, sich nicht voreilig zu verkaufen, er lebe dann keine drei
+Wochen mehr! Die Studenten seien so<span class="pagenum" id="Seite_413">[S. 413]</span> viel gierige Leut', die würden
+seinen Tod nicht abwarten wollen, sondern recht bald mit »einem
+Stupferl von hinten« nachhelfen, daß sie zu ihrem Kadaver kämen.
+Überhaupt würde er am Arm gezeichnet werden und dürfe auch nicht nach
+Amerika, oder sonst übers große Wasser. Als Mann der Freiheit vertrage
+er das nicht. Es sei also eine Lebensfrage, ob er sich derweil nicht
+doch noch behalten solle. Es werde am besten sein, er gehe fleißig
+betteln. — Und machte sich auch gleich ans Tagewerk.</p>
+
+<p>Weiter weiß ich nichts von ihm. Jedenfalls erreicht der Mann ein hohes
+Alter, besonders, wenn er nach dem Grundsatz seines Vaters so lange
+leben will, bis die Leute gescheiter geworden sind.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p class="center">Von</p>
+<p class="s3 center"><b>Peter Rosegger</b></p>
+<p class="center">erschien zuletzt im gleichen Verlage:</p><br>
+
+<p class="s2 center">Frohe Vergangenheiten</p>
+<p class="s4 center">Launige Geschichten</p><br>
+<p class="s5 center">Mit einem Vorwort von</p>
+<p class="s3 center"><em class="gesperrt">Hans Ludwig Rosegger</em></p>
+<p class="center">15. Tausend</p>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p>»Der Titel trifft auf die Erzählungen, die, ernst und heiter
+vermischt, <em class="gesperrt">das schalkhafte Gesicht des Waldschulmeisters fleckenlos
+spiegeln</em>, absolut zu. <em class="gesperrt">Es ist echtester Rosegger</em>:
+Waldweisheit, die allerhand reizvolle Patina angesetzt hat und dennoch
+nicht nur ehrwürdig, sondern lebendig wie jedes Wort ist, das Rosegger
+je geschrieben hat. — <em class="gesperrt">Ganz ungewöhnlich lesenswert aber und als
+menschliches Dokument so ziemlich alles, was in den letzten Jahren auf
+dem Büchermarkt erschien, überragend, ist die dem Bande voran gesetzte
+»Lebns-Beschreibung«.</em> Die Orthographie ist die des fünfzehnjährigen
+Bauernbuben, aber das, was der »Autor« mit früherwachter Selbstkritik,
+»keine interesande Geschichte« nennt, ist nicht literarische
+Kuriosität, sondern in seiner Wahrhaftigkeit und in der Hilflosigkeit
+des von allen ersehnten Quellen des Wissens ausgesperrten Bauernbuben
+<em class="gesperrt">rührend und erschütternd. Alle Schulorthographie ist, gegen dieses
+erste Stammeln eines großen Menschen gehalten, Makulatur.</em>«</p>
+<p class="right">Karl Marilaun im »Neuen Wiener Journal«.</p><br>
+</div>
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75532 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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Binary files differ
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--- /dev/null
+++ b/LICENSE.txt
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+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
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