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+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75673 ***
+
+
+
+=======================================================================
+
+ Anmerkungen zur Transkription:
+
+Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion
+des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler
+sind stillschweigend korrigiert worden. Folgende Zeichen sind für die
+verschiedenen Schriftformen benutzt worden:
+
+ ~gesperrt gedruckter Text~, =antiqua gedruckter Text=
+
+=======================================================================
+
+
+
+
+ Gordon
+
+ der Held von Khartum.
+
+
+
+
+ Ein Lebensbild.
+
+ [Illustration]
+
+
+
+
+ Neue Volks-Ausgabe.
+
+ Mit Bildnis und Kartenskizze.
+
+
+ [Illustration]
+
+
+ Calw & Stuttgart.
+
+ Verlag der Vereinsbuchhandlung.
+
+ 1891.
+
+
+
+
+ Druck der Stuttgarter Vereins-Buchdruckerei.
+
+
+
+
+ ~Vorrede~.
+
+
+Nachdem das vorliegende Buch in zwei Auflagen verbreitet worden ist,
+tritt es nun in etwas veränderter Gestalt seinen Weg aufs neue an. Zu
+Grunde liegen folgende Quellen:
+
+
+ 1) ~Die stets siegreiche Armee, eine Geschichte des chinesischen
+ Feldes unter Oberstlieutenant C. G. Gordon, sowie der Unterdrückung
+ des Taiping-Aufstandes, von Andrew Wilson.~
+
+ 2) ~Die Geschichte des »Chinesen-Gordon« von A. Egmont Hake~,
+ zwei Bände.
+
+ 3) ~Oberstlieutenant Gordon in Zentral-Afrika (1874-1879) von G.
+ Birkbeck-Hill.~ Letzteres Werk besteht hauptsächlich aus Gordons
+ Briefen aus der genannten Zeit.
+
+ 4) ~Die Tagebücher von Generalmajor C. G. Gordon zu Khartum, nach
+ dem Original-Manuskript gedruckt. Mit Einleitung und Noten von A.
+ Egmont Hake.~
+
+ 5) ~Betrachtungen in Palästina von Charles George Gordon.~
+
+
+Außer diesen Hilfsquellen ist eine ganze Reihe kleinerer Bücher
+über Gordon, sowie eine nicht geringe Anzahl von Aufsätzen und
+Zeitungsartikeln gelesen und zum Teil auch benutzt worden. Der
+vorliegenden Auflage sind außerdem nachträglich bekannt gewordene
+Charakterzüge und Streiflichter eingefügt worden. Da und dort ist
+gekürzt, anderes hingegen ist ergänzt worden, so besonders die
+Schlußzeit in Khartum. Es wurde nichts unterlassen, das Lebensbild
+des trefflichen Mannes in gegebenen Grenzen zu einem möglichst
+vollständigen und abgerundeten zu machen.
+
+Die neue Auflage tritt ihren Weg zu einer Zeit an, in welcher
+das Interesse am dunklen Weltteil reger ist denn je. Auch
+~Deutschland~ hat einen Beruf in Afrika. Männer voll Hingabe wie
+Gordon, wie Emin Pascha, sind es, die Afrika nötig hat. Emin, der
+wie bekannt s. Z. als Gordons Unterstatthalter an den Äquator ging,
+schrieb uns unterm 2. April 1890 von Bagamojo: »Daß ~meine~
+Kräfte bis zum Tod der Sache Afrikas und seiner schwarzen Kinder
+gewidmet sind, versteht sich von selbst.« Hat Deutschland nicht noch
+andere opferwillige Herzen und Hände, die für die große Arbeit der
+Befreiung Afrikas mit einzutreten bereit sind? »Komm herüber und hilf
+uns!« ist der Schrei des dunklen Weltteils. Hat die Christenheit kein
+Ohr? Wann wird es heißen: Die Sklavenketten sind gefallen! Gordon war
+wie Livingstone ein Stern am Nachthimmel Afrikas, und von beiden gilt
+das Wort. »sie reden noch, wiewohl sie gestorben sind.« Möchte das
+Lebensbild des Helden von Khartum laut reden, der darum ein Held war,
+weil er ein ganzer Mann und ein ganzer Christ gewesen ist.
+
+ ~London~, im September 1890.
+
+
+
+
+ Erstes Buch.
+
+ Jugendzeit und Krimkrieg.
+
+
+Die Gordons sind von alter schottischer Herkunft: Clan Gordon war seit
+unvordenklichen Zeiten ein kriegerisches Hochlandsgeschlecht. Wer
+mit schottischer Geschichte, oder auch nur mit Walter Scott bekannt
+ist, der weiß, daß ein Clan sozusagen die erweiterte Familie ist;
+der alte Stammverband, ob er nun nach Hunderten zählte oder nach
+Tausenden, war von den Vätern her gemeinsamen Blutes, und Gordon
+hießen im vorliegenden Fall alle vom adeligen Clanshaupt an bis zum
+streitbaren Hirten. Im Laufe der Zeit hatte der Stamm übrigens auch
+seine Ableger, die als Gordons von so und so je nach dem betreffenden
+Wohnsitz sich nannten und sich so vom älteren Zweig unterschieden.
+Lord Byron z. B. stammte mütterlicherseits von den Gordons von Gieght.
+Unter dem britischen Adel giebt es jetzt noch mehrere Familien, die
+dem alten Stamm angehören: die Grafen von Huntley, von Aberdeen u.
+a. sind »Gordons«. In den kriegerischen Annalen Schottlands stößt
+man allerwärts auf Gordons, und mancher Gordon zog als Glücksritter
+in die weite Welt. Wo immer es Schlachten zu schlagen gab, da wurde
+der Name bekannt, in Preußen, in Polen, in Schweden, in Rußland, in
+Amerika. Vier Gordons fanden Lorbeeren unter Gustav Adolf. In weniger
+rühmlicher, wenngleich eingreifender Weise findet sich ein Gordon in
+Wallensteins Lager und bei Wallensteins Tod. Peter der Große lernte
+einen Gordon in Moskau hoch schätzen, und der eiserne Zar vergoß
+Thränen am Sterbebett dieses Fremdlings, der, nebenbei bemerkt,
+Tagebücher von historischem Wert hinterlassen hat. In Schottland
+selbst ehrte die englische Regierung das alte Geschlecht, indem sie
+einem der neuen Regimenter, die aus dem Chaos des Thronfolgekriegs
+hervorgingen, die Benennung »Gordon Highlanders« verlieh.
+
+Im Jakobitischen Aufstand des Jahres 1745 gab es Gordons auf beiden
+Seiten. Lord Lewis Gordon und fünf Clanshäupter mit ihren Gordons
+kämpften für den Kronprätendenten Prinz Charley (Stuart), während
+ihr Verwandter David Gordon für die neue (hannoverische) Linie
+stritt. In der Schlacht von Preston Pans wurde dieser David von den
+Hochländern (seinen Vettern) gefangen genommen, später aber auf
+Ehrenwort freigegeben. Wie er dazu gekommen war, gegen die Tradition
+seiner Familie für die neue Königslinie einzutreten, ist jetzt nicht
+zu ermitteln, jedenfalls stand er in Gunst beim Herzog von Cumberland
+(dem zweiten Sohn des Königs Georg II.), der ihm ein Söhnchen aus der
+Taufe gehoben hatte. Nach der Schlacht von Culloden, die der Sache des
+Prätendenten den Todesstoß gab, verließ David Gordon mit seinem jungen
+Sohn die alte Heimat und suchte Grund und Boden in der neuen Welt.
+Sechs Jahre später fand er seinen Tod in Halifax, Neuschottland. Sein
+Sohn, des Prinzen Patenkind, war allem nach ein »Häkchen«, das sich
+frühzeitig in der angestammten Weise krümmte; denn kaum vierzehnjährig
+schlägt sich der Jüngling schon in der britischen Armee. In seinem
+vierundzwanzigsten Jahre, als er bereits ein erfahrener Soldat
+war, und zuletzt unter General Wolfe bei Quebec mitgekämpft hatte,
+kehrte der junge Schotte nach England zurück. In Hexham, Grafschaft
+Northumberland, wo er in Quartier lag, fand er in der Schwester des
+dortigen Geistlichen die Soldatenbraut, mit der er 1773 in die Ehe
+trat. Drei Söhne und vier Töchter entsprangen diesem Bund. Die Söhne
+verfolgten wiederum die militärische Laufbahn; der älteste fand
+seinen frühen Tod am Kap, der jüngste hingegen, Henry William, ein
+Artillerieoffizier, geb. 1786, erreichte ein hohes Alter und erlebte
+die erstaunlichen Erfolge der »stets siegreichen Armee« unter seinem
+zweitjüngsten Sohn; dieser aber, Charles George Gordon, ist unser Held.
+
+Henry William Gordon war s. Z. in Woolwich stationiert, und
+Charles George wurde als der vierte von fünf Söhnen am 28. Januar
+1833 daselbst geboren. Die Mutter stammte zwar nicht aus einer
+Soldatenfamilie, Unternehmungsgeist war aber auch mütterlicherseits
+ein ererbter Charakterzug. Ihr Vater war Samuel Enderby, ein
+angesehener Kaufherr, dessen Walfischfahrer von sich reden machten.
+Seine Schiffe befuhren ferne und unbekannte Meere; »Enderbys Land« im
+antarktischen Ozean zeugt selbst von geographischer Entdeckung. Dem
+unternehmenden Kaufherrn gehörten auch jene beiden von der englischen
+Regierung mit Thee verfrachteten Schiffe, die im Jahre 1773 im Hafen
+von Boston vor Anker lagen, als die Kolonisten erklärten: »Das Land
+muß gerettet werden!« In jener Nacht bemächtigte sich ein Haufe von
+Schein-Indianern der beiden Schiffe und leerte mit dem Thee die
+aufgezwungene Steuer ins Meer. Das war der Anfang der amerikanischen
+Freiheit.
+
+Gordons Mutter schildern solche, die sie gekannt haben, als eine
+tüchtige Frau, die sich selbst in der Gewalt hatte und unter den
+schwierigsten Umständen immer ihren Gleichmut bewahrte. Mit wahrhaft
+genialem Takt habe sie immer alles zum besten zu wenden verstanden. Im
+Krimkrieg waren drei ihrer Söhne und mehrere ihrer nächsten Verwandten
+vor Sebastopol; man sah sie aber nie zaghaft, sondern immer nur damit
+beschäftigt, ihren Angehörigen zu Hause, wie den fernen Kriegern Gutes
+zu thun. Gordons Vater wird als origineller Mann, als tüchtiger Soldat
+von festem Charakter und angenehmer Persönlichkeit geschildert. Er
+hatte einen unerschöpflichen Humor, und Heiterkeit war sein Element.
+Übrigens war das »Gesetzbuch der Ehre« seine Richtschnur für sich und
+für andere. Soldat war er mit Leib und Seele, und zwar britischer
+Soldat, für ihn das höchste Ideal auf der Erde; es war ihm daher trotz
+der glänzenden Erfolge eine Enttäuschung, als sein Sohn späterhin in
+fremde, nämlich in chinesische Dienste trat. Ein Gordon, meinte er,
+sollte nur seinem eigenen Volk und Glauben dienen. Wer ihn kannte,
+schätzte ihn, denn er war freundlich und großmütig in all seinem
+Thun und von großer Gerechtigkeitsliebe; fürs übrige hatte er dies
+mit seinem Sohn gemein, daß er von Natur eher dazu angethan war zu
+befehlen als zu gehorchen.
+
+Über Gordons Jugend liegt nur wenig vor. Die ersten zehn Jahre seines
+Lebens verbrachte er mit seinen Eltern in Dublin, Leith und zuletzt
+in Korfu, wo der Vater Festungskommandant war. Obschon wir die
+Wahrheit des Dichterworts nicht verkennen, daß der Knabe des Mannes
+Vater ist, so trifft dies bei Gordon doch nicht auf den ersten Blick
+zu. Er soll als kleines Kind so zart und furchtsam gewesen sein, daß
+Kanonenschüsse, ein tagtägliches Ereignis in seines Vaters Beruf, ihn
+stets erzittern machten. Sehr bezeichnend ist indessen die Thatsache,
+daß der neunjährige Junge, ehe er schwimmen konnte, sich in Korfu
+öfter ins tiefe Meer warf mit der festen Zuversicht, seine größeren
+Gefährten würden ihn nicht ertrinken lassen. Ein sogenannter »braver«
+Junge war er durchaus nicht, vielmehr voller Schelmenstreiche. Sein
+Vater wurde nach der Rückkehr von Korfu im königlichen Arsenal zu
+Woolwich angestellt. Während der Schulferien geriet einst Charles
+Gordon mit einem seiner Brüder auf die undenkbarsten Einfälle. Ihres
+Vaters Wohnung lag der des Garnisonskommandanten gegenüber; es war
+ein altes Haus und voller Mäuse. Diese wurden fleißig weggefangen und
+in des Kommandanten Haus umquartiert. Viele Jahre später schreibt
+Gordon (aus dem Sudan 1879) einer seiner Nichten, welche die ersten
+zwanzig Jahre ihres Lebens im königlichen Arsenal verlebt hatte: »Es
+freut mich zu hören, daß die Rasse der echten Gordons noch nicht
+ausgestorben ist. Aber sicherlich hat keines von Euch die Arsenalleute
+so umgetrieben wie wir seiner Zeit: sie ließen alles liegen und
+stehen, wenn's galt uns zu Willen sein, sie verfertigten uns zum
+Beispiel die herrlichsten Spritzen, die nichtsahnende Menschenkinder
+bis auf die Haut durchnäßten. Und unsere Armbrüste waren einzig! Ich
+weiß noch, wie's einmal an einem Sonntag Nachmittag im Hauptmagazin
+siebenundzwanzig Scheiben gab, alle scharf durchschossen -- ein
+kleines rundes Loch zur Ventilation -- und der Hauptmann konnte
+von Glück sagen, daß wir ihn nicht mit unsern Bolzen an die Wand
+nagelten.« Ob nicht solch jugendliche Kraftproben mit ihrem gutmütigen
+Humor schon den spätern Mann erkennen lassen? Jedenfalls sieht man den
+werdenden Charakter in einem Beispiel von Knabenstolz. Es ereignete
+sich einmal, daß er unverdienter Weise von seinen Mitschülern
+ausgeschlossen werden sollte, als diese nach London durften, um
+»englische Reiter« zu sehen; es ergab sich noch rechtzeitig, daß
+der Junge die Strafe nicht verdient hatte, er war aber nicht dazu
+zu bewegen, sich dem Klassenvergnügen, auf das er sich vorher doch
+so sehr gefreut hatte, anzuschließen. In der Kadettenschule zu
+Woolwich soll ein unverständiger Offizier dem Zögling einmal das Wort
+hingeworfen haben: »Aus Ihnen wird Ihr Lebtag nichts Rechtes«, was
+den jungen Hitzkopf so aufbrachte, daß er sich die Epauletten von
+den Schultern riß und sie seinem Vorgesetzten vor die Füße warf. Man
+sollte zwar denken, daß solche Insubordination den jungen Menschen
+leicht seine Laufbahn hätte kosten können, und Gordon selbst war
+im späteren Leben ein viel zu tüchtiger Soldat, als daß er diesen
+Jugendstreich gebilligt hätte. Auch ist es nichts weniger als ein
+Beweis von Unzulänglichkeit, daß er nach vollbrachter Kadettenzeit
+den Royal Engineers einverleibt wurde, einem Regiment, das für seine
+Offiziere bekanntlich eine hervorragende technische Ausbildung
+voraussetzt.
+
+Im Juli 1852, also in seinem zwanzigsten Lebensjahre, erhielt er sein
+Unterleutnantspatent. Er saß darnach zwei Jahre lang zu Pembroke am
+Reißbrett. Dort gab es Pläne auszuarbeiten zur Befestigung des Hafens
+(Milford), die seitdem ihre Verwirklichung gefunden haben. Diese
+Beschäftigung wurde zuletzt zur ernstlichen Geduldsprobe für den
+jungen Mann, dessen Kameraden ostwärts fuhren, gen Sebastopol. Aber
+auch für ihn kam die Zeit, und am Neujahrstag 1855 trug das »Goldene
+Vließ« ihn in den Hafen von Balaclawa. Er landete mitten im tiefsten
+Winter.
+
+Die Belagerung von Sebastopol dauerte elf Monate, eine schlimme Zeit
+für die britische Armee. Die Schlachten von Balaclawa und Inkerman
+waren geschlagen (Okt. und Nov. 1854), ein Winter voll namenlosen
+Elends folgte darauf. Wie mancher Soldat erfror in den Laufgräben!
+Hunger, Kälte, Krankheit waren die Verbündeten des Feindes. Innerhalb
+der russischen Festung gab's Nahrungsmittel, warme Kleidung,
+Medikamente die Fülle, während die Belagerer draußen das Allernötigste
+entbehrten. Dem ausdauernden Mut der hungernden, zerlumpten Soldaten
+ist kaum ein ähnliches Beispiel an die Seite zu stellen. Englische
+Transportschiffe fuhren zwar mit ihren Ladungen von Zelten, Teppichen
+und Proviant aller Art in nächster Nähe von einem Hafen zum andern,
+aber den Kapitänen fehlten die richtigen Instruktionen, und die
+Offiziere, die's mit ansahen, wußten nicht was die Schiffe enthielten!
+
+Das war die Zeit, in der der junge Gordon seine Feuertaufe erhielt.
+Statt der glorreichen Erfolge sah er wochenlang nur den Jammer des
+Kriegs. Als Ingenieur war seine Arbeit in den Laufgräben. Infolge des
+Elends war da die Mannszucht nicht selten in Gefahr. Er war vielfach
+dem russischen Feuer ausgesetzt, hin und wieder auch dem planlosen
+Schießen seiner eigenen Leute. In gewisser Hinsicht war dies ein
+Vorbild seiner Laufbahn. Wie oft hat er im Feuer gestanden zwischen
+Freund und Feind, und seine wunderbarsten Leistungen waren nicht
+selten die, welche er allein vollbrachte, nachdem die Seinen ihn im
+Stich gelassen hatten.
+
+In seinen Briefen aus der Krim beschreibt er seine tägliche Arbeit und
+erzählt von gefallenen Kameraden. Schon damals giebt er den ernsten
+Sinn und die Ergebung in Gottes Willen zu erkennen, die ihn sein Leben
+lang kennzeichneten. Der Lauf der Jahre hat bei ihm nur das vertieft,
+was sich schon früh kund gab. Der Tod hatte keine Schrecken für ihn,
+jeden Augenblick war er zum Sterben bereit. Wie alle gottvertrauenden
+Menschen wußte er, daß der Tod nur dann kommt, wenn die dem Menschen
+zugewiesene Lebensarbeit vollbracht ist, und in dieser Zuversicht
+verfolgte er furchtlos die Bahn seiner Pflicht. Einmal sauste eine ihm
+zugedachte russische Kugel hart an seinem Ohr vorüber; in einem Briefe
+an seine Mutter erwähnte er der Sache aber nur mit der soldatischen
+Bemerkung: »Die Russen zielen gut; ihre Kugeln sind groß und spitz.«
+Einige Tage später fiel sein Hauptmann; er berichtet darüber in die
+Heimat: »Es ist mir lieb zu wissen, daß er ein ernstgesinnter Mann
+war. Die Bombe platzte über ihm, und ein Splitter traf ihn im Rücken
+-- ~durch einen Zufall, wie man's nennt~; er war augenblicklich
+tot.« Aus dem Sudan schreibt er zweiundzwanzig Jahre später im Blick
+auf die Unterdrückung des Sklavenhandels: »Ich kann's vollbringen
+mit Gottes Hilfe und habe die feste Überzeugung, daß er ~mich dazu
+bestimmt hat~, denn sehr gegen meinen eigenen Willen bin ich hieher
+gekommen ... Ich bin ein Fatalist geworden, wie's die Leute nennen,
+das heißt: ich überlasse es dem lieben Gott mir durchzuhelfen.« Ein
+andermal schreibt er: »Kein Trost kommt dem gleich, den ein Mensch
+hat, der sich allezeit auf Gott verläßt, der glaubt und es nicht nur
+mit dem Munde bekennt, sondern auch mit der That, daß ~alle~
+Dinge vorher bestimmt sind. Wer so denkt, der hat den Tod schon
+gekostet, und die Widerwärtigkeiten des Lebens fechten ihn nicht mehr
+an.« Gordon hat seine Führung als eine im großen wie im kleinen von
+Gott vorher bestimmte betrachtet, und das ist der Schlüssel zu seinem
+ganzen Leben; dieser Glaube ist es, der ihn zum Helden gemacht hat. Er
+that immer das Beste, was in seinen Kräften stand, dem Ausgang aber
+sah er ruhig entgegen. »Wenn wir nur immer glauben könnten,« heißt's
+in einem anderen Sudan-Brief, »daß alles von Gott bestimmt und zum
+besten bestimmt ist, so wären wir mehr denn Überwinder; die Welt läge
+zu unseren Füßen ... Unglück, das uns trifft, ist in Wirklichkeit
+nie so schlimm als in der Erwartung, und wenn wir nur stillhalten
+könnten, so trügen wir's leichter. Ich kann das Dasein Gottes von
+seiner Vorherbestimmung und Leitung aller Dinge, der guten wie der
+bösen, nicht trennen; das Böse läßt er zu, aber es bleibt unter seiner
+Fügung.«
+
+Nach dem Tod des Zaren, im März 1855, schritt die Belagerung stetig
+aber langsam vor. Ende April schreibt Gordon: »Wir schieben unsere
+Batterien vor, können aber nicht viel thun, ehe die Franzosen Fort
+Malakow eingenommen haben.« Bis Anfang Juni verharrten die Briten
+ziemlich unthätig. Gordon hatte nicht viel zu berichten; eine Zeile
+aber muß erwähnt werden: »Es ist sehr zu beklagen,« sagt der junge
+Leutnant, »daß wir keine rechten Feldprediger haben; ich wüßte auch
+nicht einen zu nennen, dem das Wohl der Soldaten wahrhaft am Herzen
+läge.«
+
+Am 6. Juni eröffneten die Engländer das Feuer aus tausend Feldstücken;
+aber obschon Gordon schreibt: »Ich glaube nicht, daß sich Sebastopol
+noch zehn Tage halten kann,« so hielt die Festung sich doch noch
+zehnmal zehn Tage; und während dieser ganzen Zeit war der junge
+Ingenieur-Offizier auf seinem Posten in den Gräben.
+
+Am 8. September erstürmten die Franzosen den Malakow. Die Engländer
+pflanzten ihre Fahne auf Fort Redan auf, wurden aber nach einer Stunde
+wieder daraus vertrieben. Zum wiederholten Angriff am folgenden Tage
+kam es nicht, denn in der Nacht räumten die Russen die Festung. Gordon
+schreibt:
+
+ »In der Nacht auf den 9. hörten wir eine furchtbare Explosion,
+ und als ich um vier Uhr morgens in die Gräben ging, sah ich ein
+ gewaltiges Schauspiel. Sebastopol war in Flammen, und als die
+ aufgehende Sonne die Zerstörung beleuchtete, war der Effekt in der
+ That wunderbar. Die Russen verließen die Stadt; alle Dreidecker
+ waren in den Grund gebohrt, nur die Dampfschiffe übrig. Viele Tonnen
+ Pulvers müssen in die Luft gesprengt worden sein. Morgens acht Uhr
+ erhielt ich Ordre, einen Plan der Festungswerke auszuführen, und
+ begab mich nach Fort Redan; dort hatte ich einen entsetzlichen
+ Anblick. Die Gefallenen wurden haufenweise beerdigt, Russen und
+ Engländer mit einander.«
+
+Nach dem Fall von Sebastopol war Gordon bis Februar 1856 fast
+ausschließlich damit beschäftigt, die vom Brande verschonten
+Festungswerke zu demolieren, und mit dieser wenig interessanten, aber
+harten Arbeit schließt seine Zeit in der Krim.
+
+Aus Gordons eigenen Berichten läßt sich wenig oder nichts über seine
+persönlichen Leistungen entnehmen; Oberst Chesney dagegen, ein
+Offizier, der vielfach Gelegenheit hatte ihn zu beobachten, stellte
+ihm nachmals folgendes Zeugnis aus: »In seiner bescheidenen Stellung
+als Ingenieur-Leutnant hat er durch seine Tapferkeit und Energie die
+Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich gezogen und überdies
+eine spezielle strategische Tüchtigkeit an den Tag gelegt, die sich
+in den Gräben vor Sebastopol in einer persönlichen Kenntnis der
+feindlichen Taktik kundgab, wie kein anderer Offizier sie erlangte.
+Wir beauftragten immer ihn damit, ausfindig zu machen, was die Russen
+vorhatten!«
+
+Auch General Jones hob seine Verdienste hervor, aber das war
+vorläufig alles, was ihm von englischer Seite an Lorbeeren zu teil
+wurde, da im Ingenieur-Korps das Avancement lediglich nach dem
+Dienstalter erfolgt. Die Franzosen verliehen ihm das Kreuz der
+Ehrenlegion. So jung er war, hatte er doch bereits einen guten Anfang
+gemacht »sein Bestes zu thun«.
+
+Ehe wir die Krim verlassen, mag noch bemerkt werden, daß mit ihm in
+den Laufgräben zwei andere junge Offiziere sich auszeichneten, die
+berühmt geworden und neben Gordon auch im Sudan auf den Plan gekommen
+sind: General Sir Gerald Graham und General Lord Wolseley, beide seine
+lebenslänglichen Freunde.
+
+Im Frieden von Paris verlor Rußland, was es seither durch den Berliner
+Kongreß wieder erlangt hat, nämlich einen Streifen Land, dessen Besitz
+die Beherrschung der untern Donau bedeutet. Bis 1812 gehörte dieser
+Landstrich den Türken. Jetzt sollte die alte Grenze wiederhergestellt
+werden. Eine Kommission, bestehend aus englischen, französischen,
+russischen und österreichischen Offizieren, wurde damit beauftragt.
+Der britische Abgeordnete war Major Stanton, und unter ihm die
+Leutnants James und Gordon. Im Sommer 1856 begab sich Gordon deshalb
+nach Bessarabien.
+
+Diese neue Arbeit bot Abwechslung. Zwar waren die Salzsümpfe am
+Schwarzen Meer kein angenehmer Aufenthalt und Kischinew, das
+Hauptquartier der Grenzkommission, das schmutzigste Nest in
+Südrußland. Gordon und James durchritten das Sumpfland fast ein
+Jahr lang, heute als Grenzvermesser, die russische Landkarte
+untersuchend und nötigenfalls verbessernd, morgen vielleicht nur als
+Depeschenkuriere. Gordon fand diese Beschäftigung weit ansprechender
+als den Krimkrieg; nichtsdestoweniger war es ihm unwillkommen, daß er
+nach vollbrachter Grenzbestimmung zu einem ähnlichen Geschäft an die
+asiatische Grenze versetzt wurde. Er hatte Verlangen nach der Heimat
+und telegraphierte die Anfrage nach England, ob nicht ein anderer für
+ihn eintreten könne. Aber seine Tüchtigkeit war bereits notorisch und
+»Leutnant Gordon muß gehen«, lautete die Antwort.
+
+In Armenien kam er zum erstenmal mit unzivilisierten Völkerschaften
+in Berührung und bewies schon damals durch den Takt, mit welchem er
+mit den Kurden-Häuptlingen umging, daß er ein besonderes Geschick
+hatte, das Vertrauen solcher Stämme zu gewinnen und sie mächtig zu
+beeinflussen. Sein Beruf führte ihn nach manchem interessanten Ort des
+berühmten Landes. Er besuchte Erzerum, Kars, Eriwan, die Ruinen von
+Arni, und bestieg auch den Ararat. In jenen Gegenden gewann er seinen
+ersten Einblick in die Art und Weise, wie die Türkei dem Sklavenhandel
+Vorschub leistet. Zwanzig Jahre später lernte er die Greuel der
+Sklaverei an der Westgrenze der muhammedanischen Welt kennen, und die
+schönste Arbeit seines Lebens war die, welche er der Unterdrückung
+jenes schändlichen Handels gewidmet hat.
+
+Nach einem halben Jahr in jenem Land voll reicher Erinnerungen kehrte
+er nach Konstantinopel zurück, wo die Grenzkommission tagte, um von
+da nach dreijähriger Abwesenheit den Heimweg anzutreten. Im Frühjahr
+1858 wurde er abermals nach Armenien geschickt, wo er bis zum Herbst
+damit beschäftigt war, die neue Heerstraße zwischen den russischen und
+türkischen Grenzländern zu untersuchen.
+
+Das folgende Jahr verbrachte er auf der englischen Militärstation
+Chatham, wo er im April 1859 nach siebenjähriger Dienstzeit zum
+Hauptmann avancierte.
+
+
+
+
+ Zweites Buch.
+
+ Gordon in China.
+
+
+ 1. Die Taipings.
+
+Die nächsten mit dem Juli 1860 beginnenden vier Jahre umschließen in
+dem Leben Gordons fast märchenhafte Ereignisse. Es ist die Zeit, die
+ihm den Ehrennamen »Chinesen-Gordon« brachte. Folgen wir dem Manne in
+den fernen Osten.
+
+In keinem Lande der Welt ist die Gegenwart so mit der Vergangenheit
+verwachsen wie in China. Das hohe Alter des chinesischen Reiches
+ist ein einzig dastehendes Beispiel in der Weltgeschichte, und
+dieselben Grundsätze, die diesen Staat in seiner Jugend regierten,
+sind noch jetzt die Haltpunkte des »schwarzhaarigen Volkes«. Um eine
+revolutionäre Bewegung der Neuzeit wie den Taiping-Aufstand richtig
+zu verstehen, muß man wenigstens einen Blick gethan haben in die
+Gedankenwelt der alten chinesischen Weisen. Bei uns wäre es müßig, die
+Sachsenkriege eines Karl des Großen oder die italienischen Feldzüge
+eines Barbarossa zu betrachten, um beispielshalber die Politik
+eines Staatsmannes der Gegenwart ins richtige Licht zu setzen; in
+China aber gehören Einst und Jetzt so zusammen, daß Yao und Schün,
+die halbmythischen Kaiser, und der große Yü von vier Jahrtausenden
+her heute noch das »blumige Land« beeinflussen. Konfucius, der
+»thronlose König«, der »Lehrer von zehntausend Geschlechtern«, betont
+es wiederholt, er bringe nichts Neues: »Ich selbst bin nicht die
+Weisheit«, sagt er, »ich suche sie bei den Alten.« Und was lehrten
+oder glaubten nun diese Alten? Wenn man das Schu-King, dieses wohl
+4000 Jahre alte »Lehrbuch der Anfänge« fragt, so lautet die Antwort:
+das ganze Weltall ruht auf einer göttlichen Harmonie, die im Herzen
+des Menschen Widerhall findet. Dieser ~Gedanke des Harmonischen~
+zieht sich durchs Schu-King und alle anderen chinesischen Klassiker
+hin. So heißt's vom Kaiser Yao, daß, »nachdem er selbst harmonisch
+geworden, er die Unterthanen zum Einklang gebracht habe«, und der
+Kaiser Schün ist deshalb gewählt worden, weil er's verstanden hat,
+»seinen Vater, seine Mutter, seine Brüder, ja alle dummen und
+einfältigen Verwandten zu ~harmonisieren~«. Wenn das Land
+zerrüttet ist, so sagt man in China: »die Leute sind nicht harmonisch«.
+
+In der Vorstellung der Harmonie wurzelt alles in China; es ist der
+Tien oder Himmel des Konfucius, das Schang-ti oder Göttliche der
+alten Schriften; und da nur der Weise wirkliches Verständnis dafür
+hat, so ist es sein heiliges und besonderes Vorrecht, den Himmel der
+Erde, die Gottheit den Menschen zu deuten. Er allein weiß, wie die
+wahre Harmonie sich in irdischen Dingen kundgiebt, sei's nun zwischen
+Herrscher und Unterthanen, zwischen Vater und Sohn oder Gatte und
+Gattin, Freund und Freund. Der Weiseste soll Regent sein; er sei an
+Gottes Statt der Beherrscher des blumigen Landes, der schwarzhaarigen
+Menschen, ja der ganzen Welt. Er ist der Ebenbürtige des Himmels.
+
+Es ist ersichtlich, daß die chinesische Anschauung der elterlichen
+Autorität, wie auch ihre althergebrachte Theorie, nur tüchtige
+Menschen zu Amt und Herrschertum zuzulassen, lediglich Bruchteile
+jenes Hauptgedankens der Harmonie sind, woraus die weitere Vorstellung
+sich ergiebt, daß in allen Verhältnissen des Lebens, in aller
+gemeinsamen Thätigkeit, gleichviel welche verschiedenartigen Kräfte in
+derselben sich äußern, eine symmetrische Einheit das Endziel ist. Kein
+Volk hat umfassendere Begriffe von Organisation und Zentralisation als
+die Chinesen; aber die Anschauung ist lediglich die einer organischen
+Einheit, in der das Niedere naturgemäß und willig dem Höheren sich
+unterordnet, das Gegenteil also einer nur äußeren Einheit durch
+Gewalt. Die Chinesen sind daher in Wahrheit ein demokratisches Volk.
+Nichts ist irrtümlicher als anzunehmen, daß der Kaiser oder seine
+Beamten, sei es theoretisch oder praktisch, eines unumschränkten
+Herrschertums sich erfreuen. Konfucius und alle anderen Weisen Chinas
+stimmen mit Plato überein, wenn er sagt: »Niemand thut ~gern~
+Böses«. Daraus folgern sie, daß eine gute Regierung beim Volk willigen
+Gehorsam erzeuge. »Wer's versteht, mich zu besänftigen, der ist mein
+Fürst, wer mich unterdrückt, ist mein Feind, der Verworfene des
+Himmels und der Menschen!«
+
+Über schlechte Regenten ergießt sich der göttliche Zorn und beschließt
+ihren Untergang. Nach chinesischer Ansicht ist ein Unglück, welches
+das Volk trifft, immer ein Beweis von der Untüchtigkeit oder Bosheit
+des Herrschers. Der Himmel zürnt, und das Volk ist in Erwartung, daß
+einer aufstehe, um den »Ausrottungsbefehl« zu vollziehen, und zwar
+trifft dieser Befehl öfters einen »geringen« Menschen. Es ist daher
+erklärlich, daß man sich bei politischen Bewegungen in China immer
+auf einen göttlichen Auftrag bezieht, mit dem ein Rückblick auf die
+Beispiele der Vergangenheit verbunden ist.
+
+Ehe wir nun zur Schilderung des Taiping-Aufstands übergehen, haben
+wir noch zu beachten, in wie hohen Ehren die Chinesen alles Wissen
+halten, ihre Ehrerbietung gegen das Alter, und die Verbreitung der
+Bildung in allen Schichten des Volkes. Konfucius drückt die Meinung
+des Landes, die heute noch gang und gäbe ist, aus, wenn er sagt: »Die
+Alten, die erhabene Tugend im Reich zu verbreiten wünschten, sorgten
+zuerst für Ordnung in der eigenen Familie; zu diesem Zweck veredelten
+sie vor allen Dingen ihre eigene Person; um sich aber zu veredeln,
+suchten sie ihr Herz zu bessern; um das Herz zu bessern, erstrebten
+sie Aufrichtigkeit des Denkens; um aber aufrichtig und wahr zu denken,
+erweiterten sie ihre Kenntnisse.« In diesem Zusammenhang von Bildung
+und der so hochgeschätzten Harmonie wurzelt die Sitte der allgemeinen
+Prüfungen in China, welche die besten Examinanden zum Beamtenstand
+zulassen und selbst dem ärmsten Bauernsohn den Weg zu den höchsten
+Staatswürden offen halten. Unter den zahllosen Millionen des Reiches
+sind nur wenige, die nicht lesen und schreiben können; und selbst der
+gewöhnliche Chinese nimmt lebhaften Anteil am Regierungswesen. Die
+himmlische Regierung, vom Kaiser an durch den ganzen Beamtenstand,
+weiß sich daher unter der Aufsicht einer öffentlichen Meinung, die
+nicht zu mißachten ist.
+
+Der Kaiser ist der Stellvertreter des Himmels, aber nicht kraft seines
+Amtes, sondern lediglich kraft der Art und Weise, wie er seines Amtes
+waltet. »Das Volk ist die Hauptsache«, lehrt die alte chinesische
+Weisheit; »darnach kommt der Grund und Boden; der Regent folgt
+zuletzt.« Das ganze Regierungsgetriebe ist nicht sowohl das Mittel, um
+des Kaisers Willen zur Geltung zu bringen, als eine Organisation, um
+die Bedürfnisse des Volkes laut werden zu lassen. Jeder Familie, jedem
+Dorf, jedem Distrikt, jeder Provinz in China liegt die Verpflichtung
+ob, sich selbst zu »harmonisieren«, und die oberste Instanz, die
+kaiserliche Regierung, mischt sich in nichts, wenn sie nicht speziell
+von den betreffenden Weisen zur Entscheidung aufgefordert wird. Giebt
+es Streitigkeiten, ja selbst Verbrechen in einer Familie, so ist es
+Sache des Familienoberhauptes, sie zu richten. Giebt es Händel in
+einer Dorfschaft, so haben die Ältesten eine beinahe unbegrenzte
+Strafgewalt, und so weiter im Distrikt, in der Provinz. Dies erklärt
+auch die chinesische Sitte, die Eltern für die Missethaten der Kinder
+zu strafen und die Gesamtheit eines Distrikts für Verbrechen innerhalb
+seiner Grenzen verantwortlich zu machen. Die ganze Wirtschaftspolitik
+beruht auf einem System gegenseitiger Verantwortlichkeit, was auch
+gegenseitige Aufsicht bedingt. Selbst der Kaiser, obgleich nominell
+unumschränkter Herrscher, hat einen heilsamen Respekt vor öffentlicher
+Censur und eventuellem Volksaufstand.
+
+Nun geht es aber in China wie anderwärts: die Praxis bleibt oft hinter
+der Theorie zurück, und das blumige Land ist keineswegs ein solcher
+Musterstaat, wie das Ideal ihn aufstellt. Kommt das aber dem Chinesen
+zum Bewußtsein, so ist ihm auch im voraus gewiß, daß die Regierung,
+nicht aber das Volk an allen Mißständen schuld ist, und daß es Zeit
+ist zur Revolution zu schreiten. So lange Wohlstand herrscht, ist man
+zufrieden mit der Dynastie; kommen aber böse Zeiten, dann betraut der
+Himmel einen mit dem Ausrottungsbefehl! So ist es von jeher gewesen,
+und so war es, als ~Hung Siu-tsiuen~, der Taiping, sich erhob.
+Seit den zwanziger Jahren unsres Jahrhunderts machten sich allerlei
+Übelstände im Land fühlbar und dazu kamen noch die Verwicklungen mit
+Europa, vorab mit England. Namentlich der sog. Opiumkrieg, den England
+zu Anfang der vierziger Jahre aus durchaus ungerechtfertigten Ursachen
+mit China führte, war von üblen Folgen für dieses Land. Die Macht der
+Regierung hatte bislang großenteils auf einem gewissen »Prestige«
+beruht. Durch die nötig gewordene Landmiliz lernte nun das Volk seine
+Wehrkraft kennen, und wo vorher ein Mandarin mit seinen Bütteln
+ausreichte, zogen jetzt bewaffnete Horden durch das Land. Die von
+England verlangte Kriegsentschädigung von 84 Mill. Mark brachte eine
+finanzielle Krisis. Verheerende Überschwemmungen des Gelben Flusses
+und des Jangtsze steigerten das Elend und verringerten die Einkünfte
+der Grundsteuer. Um allem Unglück die Krone aufzusetzen, suchte sich
+die Regierung damit zu helfen, daß Sträflinge sich mit Geld loskaufen
+konnten und die öffentlichen Ämter verkäuflich wurden. Infolge
+davon nahmen die Verbrechen überhand, und die zahlreiche Klasse der
+»Gebildeten« erachtete sich beeinträchtigt. So kam es, daß der Himmel
+voll drohender Wolken hing, als im Jahre 1850 der Kaiser Tao-Kwang
+starb und sein junger Sohn Hien-Fong an seiner Statt zu regieren
+anfing.
+
+Da erhob sich ein seltsamer Mensch, der bereits genannte
+~Hung Siu-tsiuen~, eine Verkörperung der im Volke gärenden
+Umsturzgedanken.
+
+~Taiping~ bedeutet »großer Friede«, und der ein neues himmlisches
+Reich unter dieser Bezeichnung gründen wollte, war ein Dorfschullehrer
+der Hakka oder Fremdlinge, eines ziemlich rohen Menschenschlags, der
+vor zwei Jahrhunderten in die Provinz Kwang-tung gekommen und von den
+Punti (d. h. Einwohnern) immer mit scheelen Augen angesehen worden
+war. Seine verachtete Herkunft mochte mit der Grund sein, daß er im
+höheren Examen durchfiel. Das machte ihn halb toll; er hatte Anfälle
+von Epilepsie mit Zeiten der Verzückung, und in solchen Verzückungen
+hatte er Gesichte. Bei alledem war er ein Chinese voll Aberglauben.
+Aus seiner Enttäuschung entwickelte sich der Gedanke, warum sollte der
+»Ausrottungsbefehl« des Himmels ihm nicht werden, wie schon so manchem
+»Geringen« vor ihm? Nach seiner ersten vierzigtägigen Verzückung hatte
+er nichts Eiligeres zu thun, als ein Manifest an seine Thorpfosten
+zu nageln, betitelt: »Die edeln Grundsätze des himmlischen Königs,
+des souveränen Königs Tsiuen.« Er wollte eine neue Religion einführen
+und das Kaisertum stürzen. Und das Merkwürdige dabei ist, daß ein
+Anflug von Christentum mit unterlief! Die Engländer bekriegten ja die
+Regierung, die er haßte; er studierte daher christliche Traktate,
+die ihm in die Hände fielen. Hung hatte in seinen Verzückungen alles
+Mögliche gesehen und warf nun seine krankhaften Gesichte mit der neuen
+Lehre zusammen. Ein alter Mann war ihm erschienen -- das mußte der
+Gott der Christen sein; er selbst war in jenen vierzig Tagen im Himmel
+gewesen und nannte sich den himmlischen Sohn -- Christus war deshalb
+ohne Zweifel der ältere Bruder und er selbst der jüngere. Es ist nicht
+zu vergessen, daß die Provinz weit und breit verheert war; Banditen
+plünderten und geheime Gesellschaften unterwühlten das Land, all dies
+infolge des Opiumkrieges. Das Volk war daher bereit, einen Retter
+mit offenen Armen zu empfangen, besonders einen, der sich von der
+altehrwürdigen vaterländischen Idee des »Ausrottungsbefehls« getragen
+wähnte. Hungs christlicher Firnis über seinem barocken Heidentum hatte
+den Reiz der Neuheit. Auch lag in den Ansprüchen des Mannes, sowie
+in seinem ganzen Auftreten etwas von der aller Vernunft spottenden
+Gewalt und Anziehungskraft, wie sie ungewöhnlichen Menschen eigen ist.
+Massenhaft fielen ihm die Leute zu. Daß es mit seinem Christentum
+nicht weit her war, ergiebt sich aus der Thatsache, daß er sich bei
+erster Gelegenheit bei einem hochgestellten Engländer erkundigte,
+ob die Jungfrau Maria nicht eine hübsche Schwester habe, die sich
+entschließen könnte, ihn, den himmlischen König, zu heiraten! Aber
+mit mehr als gewöhnlicher Klugheit verstand er es, die neue Religion
+zu seinen Gunsten auszubeuten. Und das Ergebnis ging in der That
+weit über das Glück eines gewöhnlichen Betrügers hinaus. Daß sich
+die Hakka um ihn scharten, ist begreiflich, aber auch das übrige
+Volk rottete sich um ihn, und bald zählten die Taipings nach vielen
+Tausenden. Mit Feuer und Schwert verwüstete er das große Thal des
+Jangtsze und näherte sich der Kaiserstadt Peking. Aus seinen Gesichten
+wurden himmlische Edikte, die das Los von Millionen entschieden und
+selbst europäische Kabinette in Atem erhielten. Es kam so weit, daß
+die schwarzhaarige Nation nahe daran war, samt und sonders von der
+herrschenden Dynastie abzufallen. Und das war um so leichter möglich,
+als ja (seit 1644 schon) diese Dynastie keine einheimische, sondern
+eine mandschu-tatarische war und also im Geruch des Fremdländischen
+stand. Jahrelang lag das Reich in Trümmern, und dann kam ein Ende
+mit Schrecken. Hung Siu-tsiuen selbst beschloß seine Laufbahn als
+Selbstmörder bei der Belagerung von Nanking; man fand seinen Leichnam
+in der mit Drachen bestickten gelben Atlaskleidung, und ganz China
+rief einstimmig: »Es giebt nicht Worte genug, um das Elend zu
+beschreiben, das dieser Mensch angerichtet hat; das Maß seiner Bosheit
+war voll, und der Zorn beider, der Götter und der Menschen, erhob
+sich gegen ihn.« Sechzehn Provinzen und sechshundert Städte hatte er
+verwüstet.
+
+In Nanking, im Schatten des Porzellanturmes, hatte er in königlichem
+Glanze gethront. Nur Frauen durften ihn in seinem Schloß bedienen.
+Es waren seine zahlreichen Weiber und noch zahlreicheren Kebsweiber.
+Seine Verwandten machte er alle zu Wangs, d. h. zu Unterkönigen. Es
+gab einen Tschung Wang oder getreuen König, einen Ostkönig und einen
+Westkönig, einen Kriegerkönig und einen Geleitskönig, das waren die
+fünf ursprünglichen; aber bei den Taipings wurde schließlich jeder
+ein Wang, der es verstand, sich geltend zu machen, und es gab ihrer
+mit der Zeit über zweitausend. Hung selbst war zwar blutdürstig und
+herrschsüchtig, aber ein Feigling; es lag daher immer für ihn die
+Gefahr vor, daß ein im Kriegswesen tüchtigerer Wang ihn überflügeln
+möchte. So verlor er im Jahre 1856 in purer Selbstverteidigung seine
+rechte Hand, den Ostkönig. Der kam eines Tages mit der Erklärung, auch
+er sehe Gesichte, und nannte sich den heiligen Geist; überdies brachte
+er die fatale Nachricht vom Himmel, Gott Vater sei sehr böse über den
+Tien Wang und zwar ganz besonders darüber, daß er seine schwangeren
+Weiber mit Füßen trete; er, der heilige Geist, habe daher den Auftrag,
+ihn mit vierzig Streichen zu züchtigen. Das war ein bißchen stark und
+selbst für einen Taiping zuviel! Es handelte sich schließlich darum,
+wer Herr sein sollte, ob der Tien Wang oder der Ostkönig, und obgleich
+Hung es für politisch hielt, sich der Prügelstrafe zu unterziehen,
+so traf er doch schleunige Maßregeln, sich des Ostkönigs und seiner
+Botschaften ein für allemal zu entledigen. Der Nordkönig wurde damit
+beauftragt, und die Folge war ein Blutbad.
+
+Der Bericht eines Engländers, der in jener Zeit Nanking besuchte und
+Gelegenheit hatte, das Rebellenvolk zu beobachten, wie es den »großen
+Frieden« mit sogenannten Gottesdiensten feierte, dürfte von Interesse
+sein.
+
+»Wir wohnten einer nächtlichen Feier bei; es war ihr Sabbatanfang,
+Freitag nachts zwölf Uhr. Die Versammlung fand in des Tschung Wang
+Audienzsaal statt. Er selbst saß inmitten seines Gefolges -- Frauen
+waren nicht anwesend. Zuerst wurde gesungen; darnach wurde ein
+geschriebenes Gebet verlesen und von einem Offizier verbrannt; dann
+wurde wieder gesungen, und man ging auseinander. Der Tschung Wang
+ließ mich vortreten, ehe er seinen Sitz verließ, und fragte mich,
+ob ich ihren Gottesdienst verstünde. Ich entgegnete, daß ich einem
+solchen eben zum erstenmal angewohnt hätte. Darauf wollte er wissen,
+wie wir es damit hielten. Ich sagte ihm, daß die Christen es sich
+angelegen sein ließen, ihren Gottesdienst mit der heiligen Schrift
+in Übereinstimmung zu bringen, und daß wir alles, was gegen die
+Schrift wäre, verwerfen müßten. Darauf versuchte er mir zu erklären,
+daß ihre Verschiedenheit von uns triftige Gründe habe. Der Tien
+Wang sei im Himmel gewesen und habe mit Gott Vater selbst verkehrt.
+Unsere Offenbarung sei achtzehnhundert Jahre alt; sie aber hätten
+eine neue, eine vermehrte Offenbarung, und diese verstatte es ihnen,
+ihren Gottesdienst nach einer bis jetzt noch nie dagewesenen Art
+einzurichten ....
+
+»Mit Tagesanbruch setzte sich der Zug in Bewegung nach dem Palast
+des Tien Wang. Der Prozession voraus wurden bunte Fahnen getragen
+und dann folgte eine Reihe Bewaffneter; darauf kam der Tschung Wang
+in einem großen Tragsessel mit gestickten gelben Atlasdecken. Ihm
+folgten die Fremdlinge zu Pferd inmitten der berittenen Offiziere.
+Unterwegs schlossen sich die anderen Könige an, jeder mit einem
+ähnlichen Aufzug. Pauken und Trompeten verursachten einen Höllenlärm,
+und neugierige Menschen standen Spalier. Einen »König« zu sehen
+mochte nachgerade etwas alltägliches sein, aber über das Gebahren
+dieser Menschen konnte sich das Volk offenbar nicht genug wundern
+.... Der Palast des Tien Wang ist ein großes Gebäude nach Art der
+Konfutsischen Tempel, nur viel umfangreicher. Wir begaben uns zuerst
+in eine Nebenhalle, die den Namen »Morgenschloß« führte. Daselbst
+wurden wir dem Tsau Wang und seinem Sohn und etlichen andern
+vorgestellt. Nachdem man eine Weile geruht und es mit angesehen
+hatte, wie zwei Bedienstete ihren Respekt vor den heiligen Räumen in
+einem Zwischenakt damit bekundeten, daß sie sich gegenseitig in die
+Haare fuhren, gings weiter nach dem Audienzsaal des Tien Wang. Hier
+wurde ich seinen beiden Söhnen, zwei Neffen und einem Schwiegersohn
+vorgestellt, die mit noch andern, welche ich bereits im Morgenschloß
+gesehen, um den Eingang eines Alkovens saßen, über dem die Inschrift
+stand: »das erhabene himmlische Thor«. Der Alkoven war tief, und ganz
+im Hintergrund desselben zeigte man uns den Sitz des »himmlischen
+Königs«, der aber vorläufig leer war .... Er selbst, der Himmlische,
+war nicht erschienen; und obgleich nach Beendigung der Feier noch eine
+Zeit lang gewartet wurde, erschien er überhaupt nicht. Er mochte sich
+eines bessern besonnen haben und es für ersprießlich erachten, sein
+Antlitz vor Fremdlingen zu verbergen, auf deren guten Glauben nicht zu
+rechnen war; vielleicht hatte der Tschung Wang ihm unsere Ansicht über
+unechte Offenbarung berichtet, und er zog es vor, uns vorläufig nur
+einen Vorgeschmack seiner Herrlichkeit zu verstatten in der Hoffnung,
+unsere Einbildungskraft möchte bei dem leeren Sitze sich die abwesende
+Majestät um so erhabener denken ....
+
+»Im Laufe des Nachmittags ließ der Tschung Wang mich zu einem
+Privatgespräch zu sich bitten. Durch eine Reihe von Gemächern führte
+man mich in sein Zimmer, wo er in einem luftigen Gewand von weißer
+Seide in einem Armsessel lag und sich von einem hübschen Mädchen
+fächeln ließ. Um den Kopf hatte er ein rotes Tuch gewunden mit einem
+Juwel über der Stirne. Er lud mich zum Sitzen ein und fragte mich
+allerlei über Maschinen, Landkarten, Ferngläser u. s. w., indem er
+offenbar annahm, daß unser einer über alles Bescheid wisse. Er wurde
+ganz vertraulich und war von Stund an bereit, mich jederzeit zu
+sehen. Bei nächster Gelegenheit zeigte ich ihm verschiedene Stellen
+im Neuen Testament, die mit der Lehre des Tien Wang in unverkennbarem
+Widerspruch stehen. Er wies es kurzerhand von sich. Im allgemeinen
+sprach er gern davon, daß alle Menschen Brüder wären, doch war leicht
+zu sehen, daß seine Religion ihn kalt ließ. Er gab zu, daß die
+Offenbarung des Tien Wang nicht mit der Bibel übereinstimme, jene sei
+aber neuer und darum glaubwürdiger ....«
+
+Der Berichterstatter meldet weiter, es sei ihm im Verkehr mit
+diesen Leuten einigermaßen verständlich geworden, wie Hungs
+»Offenbarungen« von seinen Anhängern aufgefaßt wurden. Ihr Glaube an
+den Ausrottungsbefehl schien ihr Gewissen gänzlich abgestumpft zu
+haben und ihnen alle nur denkbaren Verbrechen gegen Andersgläubige
+zu verstatten. Einen Anhänger der Mandschu-Dynastie zu berauben oder
+zu ermorden, war ein gutes Werk. Wo sie hinkamen, führten sie die
+jungen Männer der Landbevölkerung gefangen mit sich und machten sie zu
+Rekruten, während die vielen hübschen Mädchen und Weiber, die man bei
+ihnen sah, den thatsächlichen Beweis lieferten, daß bei den Taipings
+»großer Friede« sich recht wohl mit Weiberraub vertrug.
+
+Übrigens waren die Taipings bei all ihren Verkehrtheiten, um nicht
+eine stärkere Bezeichnung zu gebrauchen, doch in einigen Punkten
+zu loben. So war z. B. das Opium bei ihnen verpönt, ebenso der
+Sklavenhandel. Die Füße der Weiber durften bei ihnen nicht verkrüppelt
+werden; die Männer mußten sich das Haupthaar gleichmäßig wachsen
+lassen; der rasierte Schädel mit dem Zopf galt ja als Zeichen der
+Unterwürfigkeit gegen die Mandschu-Dynastie. Auch rühmten sich die
+Anhänger des Ex-Schulmeisters, die allgemeine Bildung zu fördern;
+aber damit war es nicht weit her. Das überall zur Schau getragene
+Zerrbild des Christentums prägte sich auch dem Unterrichtswesen
+auf, das als höchstes Wissen den Satz trieb: »Der himmlische Vater
+und der himmlische Bruder (nämlich Hung) sind über alle Pflicht und
+Sittlichkeit zu verehren.« Des Tien Wang Erlasse wurden als Lesebücher
+benutzt, damit es der Jugend schon geläufig würde, in ihm den
+Auserwählten zu erblicken, der zum Friedensherrscher über die ganze
+Welt bestimmt sei.
+
+In gewissen Kreisen Englands hatte sich ein merkwürdiges Vorurteil
+zu Gunsten Hungs eingeschlichen. Man fragte sich, ob die Taipings
+nicht am Ende doch Schutz verdienten, ob das Rebellentum nicht
+möglicherweise der Übergang zur Zivilisation, ja Verchristlichung des
+Landes wäre. Erst nachdem einmal britische Niederlassungen gefährdet
+waren, wurde man anderer Meinung.
+
+Die Briten hielten sich mit den Franzosen vorläufig neutral, und die
+Feindseligkeiten bis zum Jahr 1860 verblieben lediglich zwischen
+den Kaiserlichen und den Rotten des großen Friedens. Es war ein
+Bürgerkrieg von staunenswerter, riesiger Ausdehnung.
+
+Im Jahr 1859 war die Sachlage die: die Mißhelligkeiten zwischen
+England und China waren so ziemlich beigelegt, der Friede von Tientsin
+war geplant und, von Kanton abgesehen, hatte das britische Militär das
+Reich geräumt. Der Aufruhr, der nun in seinem neunten Jahre stand,
+schien seine besten Tage gesehen zu haben; die Taipings verloren
+einen Ort nach dem andern und wurden wiederholt in der heiligen
+Hauptstadt, ihrem Hauptsitze, angegriffen. »Nanking war härter
+bedrängt denn je«, sagt der getreue Wang in den vor seiner Hinrichtung
+verfaßten Erinnerungen. Hung ließ sich das aber nicht im geringsten
+anfechten; mit größtem Gleichmut fuhr er fort, seinen Ministern
+himmlische Befehle zu geben und innerhalb der belagerten Stadt auf die
+Anzeichen des großen Friedens ringsum hinzuweisen. Der Tschung Wang,
+der die Stumpfheit der Majestät offenbar nicht teilte, kann nur sagen:
+»Die Zeit zur Ausrottung der himmlischen Dynastie war eben noch nicht
+gekommen.« Fürs übrige war der Getreue ein thätiger Krieger, und nicht
+weniger als sechsmal brachte er's zu stande, Nanking zu entsetzen.
+
+Die kaiserliche Regierung aber, anstatt nun alles aufzubieten, das
+allmählich verglimmende Feuer des Aufstandes vollends auszutreten,
+beging den großen Fehler, sich abermals mit den Engländern zu
+überwerfen. Auf dem Wege nach Peking, wo der Friede unterzeichnet
+werden sollte, sah sich der britische Gesandte an der Mündung des
+Peiho-Flusses plötzlich einer chinesischen Streitmacht gegenüber.
+Die Taku-Forts waren in aller Eile repariert worden, und man wollte
+die britischen Schiffe nicht durchlassen. Als die Engländer trotzdem
+vordrangen, erfolgte eine Salve aus verdeckten Feldstücken, und drei
+Kanonenboote wurden in den Grund geschossen. Natürlich brüllte da der
+englische Löwe ob dem chinesischen Treubruch und man stand alsbald
+wieder auf dem Kriegsfuß. Die erneuten Angriffe der verbündeten
+Engländer und Franzosen im folgenden Jahre übten selbstverständlich
+ihre Rückwirkung auf den Aufruhr, der aufs neue um sich griff. Ein
+ganz direktes Resultat war ein Angriff der Taipings auf Schanghai.
+In dieser Stadt aber sind die englischen, resp. europäischen
+Handelsinteressen mit den chinesischen verwachsen; daraus ergab sich
+die Notwendigkeit englischer Intervention, mit andern Worten ein
+direkter englischer Angriff auf die Rebellen. Auch traten britische
+Offiziere in kaiserliche Dienste, und so wurde man mit der Zeit der
+Taipings Herr. Es liegt hier ein Stück historischen Ausgleichs vor:
+wie wir gesehen haben, wurzelte der Aufstand teilweise im englischen
+Opiumkrieg, und englische Waffen mußten schließlich dem zerrütteten
+Lande wieder zum Frieden verhelfen.
+
+Eine solche Verwicklung der Dinge ist übrigens wohl nur in China
+möglich, daß, während die zornmutigen Verbündeten noch damit
+beschäftigt waren, ihre Truppenschiffe von Singapore und Hongkong
+herauf zu bringen, um die Kaiserlichen in Peking zu züchtigen, der
+General-Gouverneur von Kiangsu in Person in Schanghai eintraf und
+die britischen und französischen Behörden daselbst um Hilfe gegen
+die Rebellen anging. Unterm 30. Mai 1860 meldet der englische
+Bevollmächtigte dem Ministerium Russell: »Ich beschloß im Einvernehmen
+mit Mr. Bourboulon, daß es sich sowohl in politischer als humaner
+Hinsicht empfiehlt, solchen Greuelscenen hier zuvorzukommen, wie sie
+anderwärts stattgefunden haben ... und wir können die Küstenstädte
+schützen, ohne anderweitig Partei zu nehmen.«
+
+Indessen hatten sich die reichen Kaufleute von Schanghai schon unter
+der Hand nach Schutz gegen die zu erwartenden Taipings umgesehen. Ein
+Amerikaner Namens Ward war erbötig, Truppen zu werben. Es war eine
+Belohnung ausgesetzt, das etwa dreißig Kilometer entfernte Sung-Kiang
+von den Rebellen zu säubern. Mit einer Bande von Matrosen machte Ward
+den Anfang, denen sich zusammengelaufenes Volk aus aller Herren Länder
+anschloß; auch Chinesen waren darunter, und dies war der Ursprung
+jenes merkwürdigen Söldnerhaufens, der sich in nicht allzuferner Zeit
+den Namen der »stets siegreichen Armee« erwarb und dann unter Gordon
+dieser Bezeichnung auch alle Ehre machte. Vorläufig nannten sich Wards
+Leute nach jener ersten Heldenthat das Sung-Kianger-Corps.
+
+Die Taipings, mittlerweile nicht müßig, unternahmen große Streifzüge
+in diesem Jahr. Wie bereits erwähnt, hatte der ~getreue Wang~
+Nanking zum sechstenmal entsetzt, was ihm übrigens nicht einmal ein
+billigendes Wort von Hung eintrug, auch durfte der streitbare Minister
+dem Himmlischen nicht vor die Augen kommen. Es ist kaum faßlich, wie
+dieser Mensch sich seine Unterkönige botmäßig erhielt; aber die ganze
+Bewegung ruhte ja eben auf den ~übermenschlichen~ Ansprüchen des
+wahnsinnigen Hung.
+
+Tschung Wang, der ~Getreue~, und Jing Wang, der Heroische, auch
+als vieräugiger Hund bekannt, vertrieben nun die Kaiserlichen aus dem
+ganzen Jangtsze-Thal, Schrecken zog vor ihnen her; in einer Stadt
+zogen viele Einwohner es vor, ihrem Leben durch Selbstmord ein Ende zu
+machen, als es hieß: die Taipings sind wieder da! Ein Distrikt nach
+dem andern ergab sich, und »der Getreue« beschloß seinen Siegesmarsch
+in Sutschau, der Hauptstadt der Provinz Kiangsu, einer der reichsten
+Städte des blumigen Landes, die sich fast widerstandslos ergab.
+
+»Im Himmel ist das Paradies«, sagt ein chinesisches Sprichwort,
+»aber auf Erden sind Su und Hang.« »Um in der Welt glücklich zu
+sein«, sagt ein anderes, »muß man in Sutschau geboren sein«; denn
+die Menschen dort sind vor allem ihrer Schönheit wegen berühmt --
+nach chinesischen Begriffen vermutlich. Die Stadtmauern maßen 15
+Kilometer im Umkreis und außerhalb derselben erstreckten sich noch
+vier ansehnliche Vorstädte. Man schätzte die Einwohnerzahl auf zwei
+Millionen. In ganz China stand Sutschau in fabelhaftem Ruf wegen
+der Pracht seiner antiken und modernen Marmorbauten, seiner schönen
+Grabstätten, seiner Granitbrücken. Herrlich seien dort die Straßen,
+die Gärten, die öffentlichen Plätze; verständiger als anderwärts die
+Männer und schöner die Frauen. Auch die Handelsprodukte der Stadt
+waren berühmt, kostbare Seidenstoffe insbesondere. In dieser Stadt
+hielt der Getreue seinen Einzug, während die Kaiserlichen in heller
+Flucht sie verließen, und durch die ganze Provinz Kiangsu schien damit
+die Herrschaft des großen Friedens gesichert.
+
+Der Kan Wang oder Schildkönig war zu dieser Zeit Generalissimus;
+dieser hatte vier Jahre in Hongkong gelebt und urteilte richtig,
+wenn er meinte, daß es den Taipings förderlich sein dürfte, mit den
+Ausländern anzuknüpfen. Wichtiger als der Besitz von Su und Hang
+erschien es ihm, in der Richtung von Schanghai vorzudringen, um dort
+europäische Dampfer zu erlangen, die auf dem Jangtsze dienlich sein
+sollten. Er urteilte praktisch, der Schildkönig, denn die Stimmung
+unter den Engländern und Amerikanern in den Hafenstädten war selbst
+zu dieser Zeit noch eine geteilte. Überdies mochten die Taipings wohl
+auf Beihilfe rechnen, denn die Engländer und Franzosen waren schon
+unterwegs, um in der Mandschurei ihre Streitkräfte zu vereinigen,
+von dort aus den chinesischen Kaiser aus der Ruhe seines Palastes
+aufzuschrecken und ihn für den bei den Taku-Forts erlittenen Schimpf
+zu züchtigen. In der That war auch etwas wie ein Waffenstillstand
+zwischen den Rebellen und den Verbündeten zu stande gekommen, wenn von
+einem Waffenstillstande überhaupt da die Rede sein kann, wo aktive
+Feindseligkeiten noch nicht ausgebrochen waren. Der englische Admiral
+Hope war den Jangtsze hinaufgefahren, welcher Fluß durch den Vertrag
+von Peking europäischen Schiffen zugängig war, und hatte unter den
+Mauern Nankings mit dem Tien Wang selbst unterhandelt. Das Ergebnis
+hievon war, daß die Rebellen sich verbindlich machten, Schanghai
+auf Jahresfrist in Frieden zu lassen. Die Verbündeten konnten ruhig
+nordwärts ziehen.
+
+Dies ist der Punkt, an welchem das Leben Gordons in den breiten Strom
+der Weltgeschichte einmündet.
+
+Im Sommer 1860 war er nach China beordert worden und nahm nun teil
+an der Operation gegen die Kaiserstadt. Er war dabei, als der
+Sommerpalast in Brand gesteckt wurde. Hören wir darüber seine eigenen
+Aufzeichnungen:
+
+ »Am elften Oktober erhielten wir Befehl, in möglichster Eile Schanzen
+ aufzuwerfen und Batterien gegen die Stadt zu richten. Die Chinesen
+ verweigerten die Übergabe des Thores, und so lang dies der Fall
+ war, wollten wir nicht mit ihnen unterhandeln. Auch die Gefangenen
+ sollten ausgeliefert werden. Diese waren sehr mißhandelt worden,
+ und zwar, wie gesagt wird, im Sommerpalast selbst in Gegenwart des
+ Kaisers ... Wir waren bereit, die vierzig Fuß hohe Mauer zu stürmen;
+ die Chinesen hatten Bedenkzeit bis zum 13. mittags. Um halb zwölf
+ ergaben sie sich, und wir nahmen Besitz von der Stadt. Sie erhielten
+ weitere Frist bis zum 23., während welcher Zeit sie für jeden ihrer
+ Mißhandlung erlegenen Engländer 200000 Mk. beibringen mußten, und
+ 10000 für jeden Eingeborenen. Die Strafgelder wurden auch richtig
+ gezahlt und der Vertrag gestern unterzeichnet.«
+
+Dem englischen General, Lord Elgin, blieb nun die Entscheidung, ein
+Exempel zu statuieren. Die Stadt in Brand stecken, hätte tausende
+von Unschuldigen mit den Schuldigen getroffen. Im Sommerpalast aber
+hatten sich genügende Beweise der daselbst verübten Grausamkeiten
+vorgefunden; somit sollte der stattliche Palast zerstört werden. Und
+so wurde der Juen-Ming-Juen (Garten der Gärten) in Brand gesteckt,
+und der schwarze Rauch hing wie ein Trauermantel über Peking. Gordon
+beschrieb und beklagte die Zerstörung:
+
+ »Unsere Leute plünderten in fast vandalischer Weise, und was ein
+ Raub der Flammen wurde, wäre nicht durch 80 Millionen Mark wieder
+ herzustellen ... Die Pracht und Schönheit des Zerstörten ist kaum zu
+ beschreiben ... Es that einem im Herzen weh, den furchtbaren Brand
+ mit anzusehen ... es war ein entsetzlich entwürdigendes Geschäft für
+ eine Armee, jedermann wollte nur plündern ...«
+
+Die Franzosen hatten schon vorgesorgt mit der Verheerung und die
+kostbarsten Gegenstände einfach zusammengeschlagen.
+
+Die beiden Armeen verzogen sich allmählich, die Engländer ins
+Winterquartier nach Tientsin. Gordons Aufenthalt daselbst verlängerte
+sich weit über sein Erwarten, nämlich bis zum Frühjahr 1862. Er war
+damit beauftragt, die Umgegend aufzunehmen. Öfters gab's auch einen
+Ritt nach den 220 Kilometer entfernten Takuforts, und einmal einen
+beträchtlicheren Ausflug mit seinem Kameraden Cardew nach der großen
+Mauer -- ein ziemlich kühnes Unternehmen, denn sie durchritten da
+weite Gegenden, die noch nie von Europäern betreten waren. Einen
+vierzehnjährigen Jungen, der etwas Englisch verstand, nahmen sie mit
+als Dolmetscher. Ein Zelt und Kochgerät führten sie auf einem Karren
+mit sich. Bei Kalgan erreichten sie die 2000 Kilometer lange Mauer des
+Schi Hoangi, die 240 Jahre älter ist als die christliche Zeitrechnung,
+zweiundzwanzig Fuß hoch, und sechzehn dick. »Es war wunderschön,«
+schreibt Gordon, »die endlose Mauerlinie sich über die Hügel hinziehen
+zu sehen.« Von Kalgan schlugen sie eine westliche Richtung ein nach
+Taitong, wo die Mauer nicht ganz so hoch ist. Daselbst sahen sie
+riesige Karawanen von Kamelen, die Thee nach Rußland trugen. In dieser
+Gegend fanden sie sich genötigt, die Achsen ihres Karrens verlängern
+zu lassen; denn die Fuhrwerke in jenem Lande laufen breitspuriger als
+anderswo, und ihre Räder paßten nicht in die ausgefahrenen Geleise der
+Landstraßen! Der Hauptzweck ihrer Reise war, zu erkunden, ob außer
+dem Tschatiau-Paß noch ein anderer vom russischen Gebiet nach Peking
+führe. Auf einem großen Umweg in südwestlicher Richtung suchten sie
+lange vergeblich die Straße übers Gebirge ostwärts; erst bei Taijuen
+fanden sie ihren Rückweg nach Peking und Tientsin.
+
+Im Mai 1862 erhielt Gordon Befehl, sich mit einer Abteilung Infanterie
+nach Schanghai zu werfen, weil dort die Taipings aufs neue die
+Gegend unsicher machten. Der himmlische König hatte den Engländern
+sagen lassen, er werde Schanghai angreifen, sobald das Jahr des
+Waffenstillstandes um sei. Im Januar 1862 hatte er dann auch seinen
+»Getreuen« in die Gegenden der Konsulatstadt geschickt, und von da an
+datiert die feindliche Stellung der Engländer gegen die Rebellen.
+
+Mit dem militärischen Oberbefehl innerhalb des Distrikts betraut,
+marschierte Gordon zuerst nach Singpu, erstürmte die Stadt und
+vertrieb die Taipings aus verschiedenen Plätzen, wo sie sich
+festgesetzt hatten. In erster Linie sollte Gordon dafür sorgen, daß
+der sogenannte »dreißig Meilen Umkreis«[1] um Schanghai her von
+feindlichen Überfällen gesichert bleibe.
+
+ »Wir hatten einen Besuch von den Taipings,« schreibt Gordon. »In
+ einzelnen Haufen kamen sie bis in die nächste Nähe des Stadtgebiets,
+ steckten in Brand was sie konnten und trieben die Landleute zu
+ Tausenden vor sich her. Wir zogen ihnen entgegen, aber ohne
+ viel Erfolg. Gräben und Sümpfe hindern allerwärts ~unser~
+ Fortkommen, die Rebellen sind uns in dieser Hinsicht weit überlegen
+ ... Es ist unfaßlich, was für Haufen flüchtigen Landvolkes nach
+ Schanghai kommen, sobald die Taipings in der Nähe sind; mindestens
+ fünfzehntausend Flüchtlinge sind eben hier, und keineswegs nur Weiber
+ und Kinder, sondern stämmige Männer, die sich wohl wehren könnten,
+ aber die Angst lähmt ihnen alle Thatkraft. Weiterhin im Land haben
+ die Leute Unglaubliches zu leiden und viele sterben Hungers. Dieser
+ Aufruhr ist eine entsetzliche Landplage, und unsere Regierung sollte
+ alles Ernstes eingreifen, um ihn zu unterdrücken. Worte können
+ nicht das Elend beschreiben, das überall herrscht, wo die Rebellen
+ hinkommen; die reiche Provinz ist zur Wüste geworden.«
+
+Für die Kaiserlichen hatte das Jahr 1861 schon einen Umschwung
+gebracht. Der Kaiser Hien-Fong war am 21. August auf seinem
+Jagdschloß in der Tartarei gestorben -- im sechsundzwanzigsten
+Jahre seines Lebens und im elften seiner unglücklichen Regierung.
+Unfähig mit den großen Schwierigkeiten einer Übergangsperiode zu
+kämpfen, hatte er wie manch anderer Fürstenschwächling sich durch
+Befriedigung seiner Genußsucht zu entschädigen gesucht. Schließlich
+aber »ergriff seine Krankheit ihn mit erneuter Heftigkeit, und am
+siebzehnten Tage des Mondes schwang er sich auf mit dem Drachen als
+Gast der oberen Räume.« Wohl mochte die arme Seele des untauglichen
+Monarchen, dessen sterbliche Hülle in einem »cedernen Schloß« zur
+Ruhe gebettet wurde, auf ihrem Drachenritt den vorangegangenen
+Kaisern manches zu klagen haben. Elend und Aufruhr hatte während der
+ganzen Regierungszeit dieses Jünglings das himmlische Reich verheert,
+und Rebellen herrschten an seiner Statt; allerwärts hatte das Volk
+sich von ihm losgesagt, der kaiserlichen Gewalt Trotz bietend, und
+zur Vollstreckung der heiligen Befehle fanden sich nur schlechte
+Statthalter, denen die eigene Größe mehr galt als die Wohlfahrt des
+Volkes. Jahr um Jahr durchzogen die rebellischen Horden das Land; die
+Brandfackel nächtlicher Zerstörung kündete ihren Weg, und der Rauch
+brennender Städte und Dörfer verhüllte der Sonne Licht am hellen Tage.
+Ein wahnwitziger Usurpator hatte es nicht nur gewagt, den Drachenthron
+für sich zu begehren, sondern sich außerdem noch göttlicher Ehre
+vermessen, während kriegerische Heervölker der abendländischen
+Barbaren das Kaiserreich demütigten, ja die jungfräuliche Kaiserstadt
+Peking bezwangen, die noch nie einem Fremdling sich erschlossen, und
+den Palast des himmlischen Sohnes in Brand steckten.
+
+So mochte der arme Kaiserjüngling gedacht haben. Wir aber erkennen in
+der mancherlei Trübsal die Wehen einer sich neu gestaltenden Zeit.
+Des Monarchen Tod öffnete Thür und Thor für neue Dinge. Der Thronerbe
+war ein Kind, und die Regentschaft neben der Kaiserin-Witwe bestand
+aus Vertretern der fremdenfeindlichen Partei. Als daher der Bruder
+des verstorbenen Kaisers, ein weitsichtiger Prinz, der die Konvention
+von Peking unterzeichnet hatte, an den Hof gerufen wurde, war die
+Hoffnung, daß er lebendig zurückkehren würde, keineswegs stark.
+Man hielt dafür, daß die Einladung nichts anderes bedeute, als die
+höfliche Erlaubnis, wie sie einem irrenden Mitglied der kaiserlichen
+Familie zukommt, sich in der Stille mittelst einer seidenen Schnur aus
+der Welt zu befördern. Zum Glück fürs Land aber war die Hauptgewalt in
+den Händen einer Frau von außergewöhnlichem Verstand und männlichem
+Charakter, nämlich der Kaiserin-Witwe, und diese erkannte alsbald, daß
+Prinz Kung sich besser auf die wahren Interessen des Landes verstehe,
+als die Ratgeber des verstorbenen Kaisers. Und während jedermann von
+seinem demnächstigen Selbstmord zu hören erwartete, griff er plötzlich
+in den Gang der Dinge ein und stürzte sofort -- gleichzeitig mit
+dem Einzug des jungen Monarchen in Peking -- durch den berühmten
+Staatsstreich vom 2. November 1861 die fremdenfeindliche Partei. Ihre
+Hauptvertreter wurden hingerichtet. Von da an datiert ein freundliches
+Einvernehmen zwischen den ausländischen Bevollmächtigten und der
+kaiserlichen Regierung. Die Zeit war in der That gekommen, da die
+verschiedensten Interessen in natürlicher Weise zusammenwirkten, die
+Taipings auszurotten und dem himmlischen Reich zu einem neuen besseren
+Stand der Dinge zu verhelfen.
+
+
+ 2. Die stets siegreiche Armee.
+
+Das Jahr 1861 war britischerseits den Rebellen gegenüber eine Zeit
+des Waffenstillstandes gewesen, in diesem Jahr aber hatten die
+Taipings ihre erste empfindliche Niederlage erlitten, ja eine Reihe
+von Niederlagen. Sie hatten versucht, sich des Jangtsze-Thales wieder
+zu bemächtigen mit besonderen Absichten auf Hangtschau. Aber obgleich
+dieses Jahr durch Hien-Fongs Tod eine innere Umwälzung der Monarchie
+mit sich brachte, so hatte die Macht der Kaiserlichen doch stetig
+gewonnen, und die Rebellen sahen sich mit Ende des Jahres wieder in
+die Gegend von Schanghai zurückgeworfen. Man darf die Vernichtung der
+Taipings daher nicht ausschließlich britischen Waffen zuschreiben.
+
+Wie bereits erwähnt, hatten die Handelsherren von Schanghai es schon
+vorher für geraten gehalten, sich durch ein Privatsöldnerheer gegen
+Überfälle möglichst zu sichern. Der Amerikaner Ward, ein tüchtiger
+Soldat, und nach ihm Burgevine, ein weniger tüchtiger Glücksritter,
+befehligte diesen Truppenhaufen, der sich des hochtrabenden Titels der
+»stets siegreichen Armee« erfreute.
+
+Die Leute des blumigen Landes haben eine Vorliebe für schöne
+Redensarten. Ihre Flüsse sind alle wohllautplätschernd, ihre Berge
+voll himmlischen Weihrauchs; das geringste Dörfchen fühlt sich als
+eine Pflanzstätte süßduftenden Korns, und jeder gewöhnliche Nachen
+ist ein Wunder der kristallenen Flut. Der Chinese findet solche
+Benennungen keineswegs lächerlich, er hält im Gegenteil dafür, daß
+der pure Wortlaut der Dinge irdisches Geschick beeinfluße. In den
+chinesischen Klassikern wird nichts so sehr betont als die Thatsache,
+daß Weisheit eine richtige Benutzung der Worte sei. Es fragte einmal
+einer den alten Mencius, worin er sich auszeichne; »ich verstehe mit
+Worten umzugehen«, war die tiefsinnige Antwort. Und anderswo wird
+darauf hingewiesen, wie selbst tugend- und talentvolle Menschen durch
+übelgesetzte Rede sich oft ganz in den Schatten stellen. Konfucius
+erklärte, der erste Schritt zu einer wohlgeordneten Regierung sei,
+»die Bezeichnung der Dinge zu verbessern«, und fügte bedeutungsvoll
+hinzu: »einen unpassenden Namen haben heißt in ungünstiger Lage
+verharren, allem Übel ausgesetzt.« Derlei Ideen sind gang und gäbe in
+China, und jeder Schwarzhaarige läßt sich's daher angelegen sein, sich
+und den Seinen schöne Namen zu gewinnen. Selbst die Regierung richtet
+ihre Erlasse nach dem Geschmack des Volkes ein, ob nun vom Sohne der
+Erde und des Himmels auf dem Drachenthron die Rede ist, oder vom
+Büttel des geringsten Mandarins. Daher also die Bezeichnung Tschang
+Seng Tschiun oder stets siegreiche Armee.
+
+Der General-Gouverneur der Kiang-Provinzen war Li Futai oder
+Li-Hung-Tschang, ein tüchtiger Soldat und berühmter Staatsmann.
+Tseng-kwo-fan, (der Vater des kürzlich verstorbenen, bekannten
+Marquis Tseng), der kaiserliche Generalissimus, hatte ihm den
+Oberbefehl von Schanghai übertragen. Der englische General Staveley
+erklärte ihm bei seiner Ankunft, daß, obgleich die Verbündeten den
+Dreißig-Meilen-Umkreis verteidigen würden, die allgemeine Bekämpfung
+des Aufstands doch nach wie vor den Chinesen überlassen bleibe. Li
+machte sich sofort daran, die chinesischen Truppen auf europäische
+Waffen einzuüben. Wards Söldner waren bislang ihren eigenen Weg
+gegangen, erst nachdem er gefallen war und sein Nachfolger Burgevine
+sich mit Li überworfen hatte, verschmolzen die fremden Söldner mit den
+chinesischen Rekruten, und Li bat den englischen General, einem seiner
+Offiziere den Oberbefehl zu übertragen.
+
+Der rechte Mann war bald gefunden in Gordon, der zwar noch nie im
+Oberkommando gestanden, der aber mehr denn irgend ein anderer für den
+verantwortungsvollen Posten geeignet war. Seinen Ruf von Sebastopol
+her hatte er in Peking und Schanghai aufrecht erhalten, und es spricht
+sehr für den Mann, daß er dem ehrenvollen Antrag keineswegs in blinder
+Aufregung Folge leistete, sondern im Gegenteil den gelassenen Wunsch
+vortrug, seine Arbeit der militärischen Kenntnisnahme des Terrains
+innerhalb des Dreißig-Meilen-Umkreises zuerst zu Ende bringen zu
+können, weil das für eventuelle Operationen jedenfalls von Wert
+sei. In einem Offizier, Namens Holland, ernannte man darum einen
+zeitweiligen Ersatzmann, unter dessen Führung die »stets siegreiche
+Armee« von den Taipings bei Taitsan glänzend geschlagen wurde. Erst im
+Frühjahr 1863 übernahm Gordon den Oberbefehl. Er schreibt darüber an
+seine Eltern:
+
+ »Ich fürchte, es wird Euch unlieb sein, daß ich das Kommando
+ übernommen habe; es geschah nicht ohne reifliche Überlegung
+ meinerseits. Ich halte dafür, daß es ein gutes Werk ist, diesen
+ Aufstand zu unterdrücken; es ist eine einfache Pflicht der
+ Menschlichkeit und kann außerdem dazu beitragen, dieses Land der
+ Zivilisation zugänglich zu machen. Ich will nicht tollkühn handeln,
+ und ich hoffe, bald nach England zurückkehren zu können -- ich will
+ nicht vergessen, daß das Euer Wunsch ist. Ich kann wohl sagen,
+ daß, wenn ich mich geweigert hätte, den mir übertragenen Posten
+ anzunehmen, die Truppen sich verlaufen hätten und der Aufruhr allem
+ Anschein nach das Land noch Jahre lang im Elend erhalten würde. Ich
+ hoffe, daß das nun nicht der Fall sein wird und daß ich Euch sehr
+ bald Beruhigendes werde schreiben können.[2] Ihr müßt es Euch nicht
+ zu nahe gehen lassen; ich glaube wirklich, daß ich das Rechte thue
+ .... Ihr seid mir stets gegenwärtig und dürft Euch darauf verlassen,
+ daß ich nichts Unbesonnenes thun will.«
+
+Gordon hatte gerade das dreißigste Jahr zurückgelegt. Sein Heer
+zählte bei der Übernahme zwischen drei- und viertausend Mann mit etwa
+hundertundfünfzig Offizieren, war aber später erheblich stärker. Die
+Uniform war eine halb-europäische, aus dunklem Wollenzeug und grünem
+Turban bestehend; die Soldaten waren anfänglich nichts weniger als
+mit ihrer Montur einverstanden, denn ihre Landsleute erblickten in
+ihnen nur »nachgemachte fremde Teufel«; unter der Bezeichnung »fremde
+Teufel« fasst nämlich der Chinese alle Ausländer zusammen. Später
+aber, als die Armee anfing, sich wirklich als die »stets siegreiche«
+zu erweisen, wurden die Leute stolz auf ihre eigenartige Kleidung und
+hätten sich dieselbe nicht wieder nehmen lassen. Ja, soweit ging die
+gute Meinung eines chinesischen Statthalters, daß er dafür hielt,
+schon ihren Fußstapfen folge der Sieg und demgemäß Entmutigung der
+Rebellen; er ließ daher viele tausend Paare europäischen Schuhwerks
+unter das Landvolk verteilen, um die Spuren von Gordons Truppen
+möglichst zu vervielfältigen! Ein Oberst dieses Korps erhielt etwa
+fünfzehnhundert Mark pro Monat, die Majore, Hauptleute, Adjutanten
+u. s. w. eine entsprechende Summe in absteigender Linie bis zum
+Leutnant, der sich auf sechshundert Mark stellte; die Unteroffiziere
+circa hundert Mark in abnehmendem Verhältnis bis zum Gemeinen, dessen
+Sold ungefähr vierzig Mark monatlich betrug. Im Feld verabfolgte man
+außerdem noch Rationen. Der Oberbefehlshaber selbst erhielt eine
+stattliche Summe -- 5200 Mark monatlich, also 62400 Mark im Jahr; --
+»aber das ist sehr gleichgültig«, schreibt Gordon.
+
+Sämtliche Offiziere waren Ausländer. Amerikaner bildeten die Mehrzahl,
+dann Engländer, Franzosen, Spanier, Deutsche. Im allgemeinen waren
+es tapfere Leute, die sich rasch in eine gegebene Lage zu finden
+wußten, im Feuer meist großen Mut entwickelten, im übrigen aber
+leicht einander in die Haare gerieten. Die Disziplin war so scharf
+wie thunlich, doch war es nicht oft nötig, summarisch einzugreifen,
+Gordons persönlicher Einfluß machte sich bald fühlbar. Das
+Schlimmste war die Trunksucht; innerhalb eines Monats starben einmal
+elf Offiziere an +delirium tremens+. »Man mußte froh sein,
+überhaupt Offiziere zu kriegen«, schrieb einer, der aus Erfahrung
+reden konnte; »sie schlugen sich gut, und das war schließlich die
+Hauptsache.« Ein anderer schreibt: »Es waren sogar offenkundige
+Freunde der Rebellen unter ihnen und solche, die alle Landesgesetze
+in den Wind schlugen; aber Offiziere wie Gemeine lernten sehr bald
+einen Anführer respektieren, auf dessen Tapferkeit, Kriegsgeschick,
+Gerechtigkeitsliebe und persönliche Güte sie alle Ursache hatten sich
+jederzeit zu verlassen, einen, der sich nie selbst schonte[3], wo es
+Gefahr gab, und der mit fester Hand alle Privathändel darnieder zu
+halten wußte, die bislang dem Erfolg oft hinderlich im Wege gestanden.«
+
+Der Kriegsschauplatz, auf welchem Gordon seine Armee innerhalb
+anderthalb Jahren dreiunddreißigmal ins Gefecht führte, war die von
+der Jangtsze-Mündung im Norden und von der Bucht von Hangtschau im
+Süden begrenzte Provinz Kiangsu, eine stumpfe Halbinsel, die von
+Hangtschau bis Nanking am Jangtsze, der Residenz des Taiping, über
+zweihundert Kilometer breit ist, während der Querdurchschnitt in
+der Mitte zwischen diesen beiden Punkten bis zum Meer dreihundert
+Kilometer beträgt. Am nordöstlichen Ende, etwa vierzig Kilometer vom
+Ufer entfernt, liegt inmitten zahlloser Buchten die Stadt Schanghai.
+Das von unzähligen Flüssen, Flüßchen und Kanälen durchzogene Land ist
+von fast lagunenartigem Charakter und, abgesehen von den einzelnen
+Hügeln, flach wie Holland, fruchtbar und reich an Dörfern und Städten.
+Stellenweise liegt das Land tiefer als der Spiegel des Meeres, und
+lange Strecken erheben sich nur wenige Fuß darüber. Der Verkehr
+ist größtenteils zu Schiff. Zum Manövrieren in Kriegszeiten ist es
+daher ein schwieriges Land, und es kam Gordon gut zu statten, daß
+er sich eine so gründliche Kenntnis desselben verschafft hatte. Ja,
+er war mit dem gesamten Kriegsschauplatz weit besser vertraut als
+die Rebellen, die das Land seit zehn Jahren durchstreift hatten. Er
+wußte genau, welche Kanäle zur Zeit schiffbar waren und welche nicht;
+er wußte, wo der Boden Artillerie tragen würde und wo er versumpft
+war. Er ging auch alsbald daran, sich durch eine kleine Flotte von
+Kanonenbooten zu verstärken, die in dem wasserdurchfurchten Land
+seiner Infanterie als Bedeckung dienen konnte und die überdies durch
+rasche Truppenbeförderung seine viertausend Mann in der Meinung des
+Feindes vervielfachte. Mit Gordons Korps kooperierte eine kaiserliche
+Armee; der dieselbe befehligende General war Li Adong, ein Mann, vor
+dessen militärischer Tüchtigkeit Gordon alle Achtung hatte. Gleichwohl
+hatte sich Gordon völlige Unabhängigkeit vorbehalten, und die wurde
+ihm auch zugestanden.
+
+Seine »Siegreichen« brannten vor Begier, die Scharte von Taitsan
+auszuwetzen, er aber ließ nichts übereilen. Er hatte das eine
+große Ziel im Auge, den Aufruhr schnell und gründlich aufs Haupt
+zu schlagen, und wußte genug von den bisherigen Ergebnissen, um
+einzusehen, daß hitziges Scharmützeln hier und dort, oder eine
+Taktik der Defensive -- wie z. B. das energische Sauberhalten des
+Dreißig-Meilen-Umkreises -- oder auch wiederholtes Angreifen des
+Feindes in seinen Verschanzungen wie in Taitsan, durchaus ungenügend
+sei, wenn es sich darum handle, dem ganzen Aufstand ein Ende zu
+machen. Ihm erschienen plötzliche Überfälle an Orten, wo man ihn am
+wenigsten erwartete, der geeignetste Kriegsplan; denn nicht nur
+gewannen seine Soldaten bei ziemlich sicheren Erfolgen immer mehr
+an Selbstvertrauen, sondern er zwang die Rebellen sehr bald, sich
+allerwärts seines Erscheinens gewärtig zu halten, zu einer Stellung
+der Defensive also, und ließ ihnen weder Zeit noch Mut, Schanghai oder
+die andern Hafenstädte zu beunruhigen.
+
+Nicht viele Tage gingen ins Land, ehe er mit zweihundert Mann
+Artillerie und so viel Infanterie, als seine beiden Dampfer tragen
+konnten, d. h. etwa tausend Mann, den Jangtsze hinaufdampfte. Etwa
+hundert Kilometer aufwärts, am südlichen Ufer, liegt Fusan, ein
+Piratennest, wo die Taipings sich befestigt und kurz zuvor einen
+kaiserlichen Angriff zurückgeschlagen hatten. Die Kaiserlichen waren
+dort verschanzt und unter ihrer Deckung brachte er seine Leute ruhig
+ans Land, obgleich die Taipings in ziemlicher Stärke seinen Bewegungen
+aus nächster Nähe zusahen. Er erreichte Fusan, und es gab eine
+dreistündige Beschießung; einen Ansturm warteten die Taipings gar
+nicht ab, sie wandten sich alsbald zurück. Fusan war der Schlüssel
+zu dem fünfzehn Kilometer südlicher gelegenen Tschanzu, wo eine
+kaiserliche Besatzung sich bisher tapfer gehalten hatte.
+
+Die Einwohner dieser Stadt waren selbst Rebellen gewesen, hatten sich
+aber wieder der kaiserlichen Sache zugewandt. Der getreue Wang hatte
+darauf die Stadt belagert und als Beweis, was er zu thun vermöchte,
+die Köpfe von drei bei Taitsan erschlagenen europäischen Offizieren
+über die Mauern werfen lassen; allein die Einwohnerschaft hielt aus.
+Auf dem Wege dahin fand Gordon die Leichname von fünfunddreißig von
+den Taipings gekreuzigten Kaiserlichen. Er vertrieb die Rebellen mit
+einem Verlust von nur zwei Toten und sechs Verwundeten auf seiner
+Seite. Der Feind zog sich nach Sutschau zurück; ein gut Stück Land war
+somit den Rebellen abgenommen. Die Leute von Tschanzu empfingen ihren
+Befreier mit großem Jubel und bedauerten lebhaft, ihm kein Geschenk
+machen zu können. »Das sei nicht Mode bei ihm«, entgegnete Gordon.
+
+Der Kaiser übrigens lohnte den glänzenden Anfang damit, daß Gordon
+den Titel Tsung-Ping erhielt, was annähernd durch Brigadegeneral
+wiederzugeben ist. Eine Besatzung von dreihundert Mann in Tschanzu
+zurücklassend, kehrten die Siegreichen nach Sung-Kiang zurück.
+
+Nordwestlich von Schanghai liegt Taitsan, von wo in südwestlicher
+Richtung der Weg durch Kuinsan nach Sutschau führt. Das waren die
+drei Hauptorte der Rebellen, der letztere als Provinzialhauptstadt
+der bedeutendste. Die Taipings hatten diese Stadt seit 1860 inne.
+Gordon machte sich marschfertig. Es war unbekannt, welchen der drei
+Orte er zuerst angreifen würde; man vermutete, Kuinsan sei das
+Ziel. Dieser Ort, als Verbindungsglied zwischen den beiden anderen
+Städten, war strategisch von großer Wichtigkeit; überdies hatten
+die Rebellen daselbst unter einem hergelaufenen Engländer eine
+Kugelgießerei in voller Thätigkeit. Auf dem Wege dahin erfuhr Gordon,
+daß der Kommandant von Taitsan dem Gouverneur Li einen Vorschlag zur
+Übergabe gemacht habe, daß demzufolge ein kaiserlicher Truppenteil als
+Besatzung dahin abgezogen sei, daß der Taiping den Kaiserlichen aber
+damit nur eine Falle gestellt und dreihundert derselben enthauptet
+habe, deren Köpfe er als Beweis seiner Geschicklichkeit nach Sutschau
+und Kuinsan sandte. Gordon nahm alsbald die verräterische Stadt aufs
+Korn.
+
+Kein leichtes Unternehmen! Die feindliche Garnison war zehntausend
+Mann stark, darunter waren zweitausend auserlesene Truppen mit
+französischen, amerikanischen und englischen Überläufern bei den
+Batterien, während er nur dreitausend Mann befehligte. Aber das
+war ihm einerlei, er belagerte die Stadt sofort. Nach zwei Tagen
+war Bresche geschossen und die Stürmenden in vollem Anmarsch. Der
+erste Angriff wurde jedoch zurückgeschlagen. Darauf ließ Gordon
+seine Artillerie die Bresche über den Köpfen der Stürmenden hinweg
+beschießen. Dieser zweite Angriff war erfolgreicher; die Flagge der
+Siegreichen wehte von den erstürmten Zinnen, und die Taipings retteten
+sich in tollster Flucht. Gordon schreibt darüber an seine Mutter:
+
+ »Am 24. April verließ ich Sung-Kiang mit etwa dreitausend Mann, um
+ Kuinsan anzugreifen, eine große Stadt zwischen Taitsan und Sutschau.
+ Ehe ich aber soweit kam, erfuhr ich, daß die Taipings zu Taitsan
+ vorgegeben hatten, mit den Kaiserlichen unterhandeln zu wollen, die
+ abgesandte kaiserliche Besatzung aber verraten und vernichtet hatten.
+ Ich änderte daher alsbald meinen Plan und marschierte nach Taitsan;
+ am ersten Tag wurde die äußere Verschanzung angegriffen, am zweiten
+ Tag die Stadt selbst. Die Rebellen wehrten sich tüchtig, aber es
+ half nichts; die Stadt fiel. Taitsan ist ein wichtiger Ort und die
+ Einnahme nach dem verübten Verrat eine verdiente; der Kommandant
+ hat eine Kopfwunde davongetragen. Diese Stadt erschließt uns ein
+ großes Stück Land. Die chinesischen Behörden sind voll Lobes über
+ meine Leute. Ich bin jetzt ein Tsung-Ping Mandarin (die zweitoberste
+ Würde) und habe viel Einfluß. Nicht daß ich das an sich schätzte,
+ aber ich bin immer gewisser, daß ich recht daran that, das Kommando
+ zu übernehmen. Du würdest mir ebenfalls recht geben, könntest Du Dich
+ mit eigenen Augen von der Niederträchtigkeit der Rebellen überzeugen.
+ Taitsan war stark befestigt, es ist eine Fu oder Hauptstadt.«
+
+Die stets siegreiche Armee hatte ihrem Namen Ehre gemacht und ihr
+Anführer sich als ein Befehlshaber erwiesen, der das wahre Geheimnis
+der Kriegskunst kennt -- das Wann, Wie und Wo des Draufschlagens.
+Zwanzig Jahre später, als die Araber angefangen hatten, seinen Palast
+in Khartum zu beschießen und er wußte, daß selbst etliche seiner zum
+Mahdi überlaufenden Sudanesen die feindlichen Kanonen bedienten,
+schrieb er in sein Tagebuch: »Es ist nicht das erstemal, daß meine
+eigenen Leute auf mich schießen. In der Bresche vor Taitsan waren
+zwei Engländer vom 31. Regiment unter den Rebellen. Der eine fiel,
+der andere wurde verwundet und gefangen genommen. ›Herr Gordon! Herr
+Gordon! lassen Sie mich nicht totschießen!‹ Lauter Befehl: ›Führt ihn
+weg und jagt ihm eine Kugel durch den Kopf.‹ Leiser Befehl: ›Bringt
+ihn in mein Boot, der Doktor soll nach ihm sehen; dann schickt ihn
+nach Schanghai.‹ Der Mann lebt wohl heute noch.«
+
+Die kaiserlichen Mandarine nahmen ihre Privatrache an einigen der
+Gefangenen, was zu Gerüchten Anlaß gab, die darauf berechnet waren,
+Gordon zu verleumden. Dieser schreibt mit Bezugnahme hierauf unterm
+15. Juli 1863 an den Herausgeber der Schanghaier Schiffszeitung:
+
+ »Ich kann bezeugen, daß die Chinesen meines Korps nicht grausamer
+ sind als die Soldaten irgend einer christlichen Nation; als Beweis
+ erwähne ich die Thatsache, daß siebenhundert der bei Kuinsan
+ gefangen genommenen Taipings bei uns jetzt im Dienst stehen. Sie
+ haben sich freiwillig unsern Fahnen angeschlossen und sich bereits
+ gut gegen die Rebellen geschlagen. Nur ~eine~ Hinrichtung ist
+ nötig gewesen; sie traf einen Rebellen, der es versuchte, seine
+ Kameraden gegen die Wache aufzuhetzen, und sofort erschossen wurde.
+ Es ist ein großer Irrtum, anzunehmen, daß dieses Korps aus lauter
+ gewissenlosen Menschen bestehe. In der Hitze des Gefechts schlagen
+ sie drauf und halten es für tapfer den Feind zu töten, wie andere
+ Soldaten auch; aber nach der Schlacht heißt es gleich wieder gut
+ Freund .... Wenn ein gewisser (ungenannter) »Augenzeuge« und jener
+ »Freund der Barmherzigkeit« ihre beiderseitigen Behauptungen mit
+ wirklichen Beweisen belegen könnten, so wäre es besser, als den
+ Zeitungen Zuschriften zu schicken, wie diejenigen, die den Bischof
+ von Viktoria beschäftigen. Und wenn irgend jemand der Meinung ist,
+ das Volk wäre mit der Rebellenwirtschaft zufrieden, so dürfte er
+ sich vom Augenschein hier leicht eines andern belehren lassen.
+ Ich überschätze die Zahl gewiß nicht, wenn ich sage, daß nach der
+ Einnahme von Kuinsan fünfzehnhundert der flüchtigen Rebellen von den
+ sich massenhaft erhebenden Landleuten erschlagen wurden.«
+
+Wir haben vorgegriffen. Daß die chinesischen Söldner in vollständiger
+Mannszucht standen, ist kaum anzunehmen; Gordon war ja noch keine zwei
+Monate im Kommando. Seine Soldaten hatten in Taitsan geplündert, was
+gegen seine Kriegsverordnung war. Er strafte sie aber damit, daß er
+ihnen keine Gelegenheit gab, ihre Beute zu verwerten; sie anderweitig
+zu züchtigen, dafür war es kaum der geeignete Moment, nachdem sie
+eben einen Sieg errungen, der, so glänzend er war, doch blutige Opfer
+gekostet hatte. Er überließ es den Mandarinen, die gefallene Stadt zu
+besetzen, und marschierte mit seinem Korps nach Sung-Kiang zurück.
+Dort erließ er eine Proklamation, dankte den Truppen für ihre tapfere
+Haltung, tadelte die Offiziere aber wegen allzu laxer Mannszucht.
+Um diese zu bessern, ernannte er an der Gefallenen Statt mehrere
+englische Offiziere aus einem in Schanghai liegenden Regiment, welche
+Erlaubnis hatten, ihm ihre Dienste anzubieten.
+
+Und nun ging's nach Kuinsan. Eine drohende Unbotmäßigkeit in seinem
+Korps wich seiner Ruhe und Festigkeit. Kuinsan war nicht nur der
+Schlüssel zum größeren Sutschau, sondern überhaupt zur Hälfte des
+rebellischen Territoriums. Die Stadt hatte eine ausgezeichnete Lage;
+in ihrer Mitte erhob sich inselartig, mit einer Pagode gekrönt, ein
+Hügel. Der Angriff konnte somit genau beobachtet werden, und zwei oder
+drei richtig aufgepflanzte Geschütze hätten die Stadt zur beinahe
+unnahbaren Festung gemacht. Der Graben um die Stadt her war über
+hundert Fuß breit. Die Garnison bestand aus zwölf- bis fünfzehntausend
+Taipings unter einem Anführer Namens Moh Wang. Der kaiserliche General
+Tsching war für einen Angriff von der Ostseite her, aber Gordons
+Kriegsgenie geriet auf eine andere Taktik, und in der That fiel die
+Stadt lediglich infolge seiner Manöver mit einem kleinen Flußdampfer.
+
+Er hatte bald entdeckt, daß Kuinsan bei seiner ausgezeichneten Lage
+doch einen schwachen Punkt hatte, indem die Verbindung mit Sutschau in
+einer einzigen Straße bestand, die teilweise an einem See hinführte,
+teilweise zwischen einem Netz von Kanälen lag. Er brachte seinen
+Dampfer Hyson zur Stelle, und die Verbindung zwischen den beiden
+Städten war abgeschnitten. Der Hyson trug einen Zweiunddreißigpfünder
+und einen zwölfpfündigen Mörser. Der Kapitän war ein kühner
+Amerikaner, und ihm folgte eine Flottille von etwa fünfzig kleinen
+Segelboten mit Kanonen. Der Hyson that gute Arbeit und säuberte sehr
+bald die Wasserstraße von allen Taipings, als wäre er ein mächtiges
+Kriegsschiff gewesen; ja einmal dampfte das kühne Boot mit Gordon an
+Bord bis unter die Mauern von Sutschau.
+
+Mittlerweile fand im großen Kanal ein hitziges Gefecht statt. Die
+Besatzung hatte nach Sonnenuntergang einen Ausfall gemacht. So
+zahlreich und so verzweifelt waren die Taipings, daß sie unter
+einem tüchtigen Anführer die »stets siegreiche Armee« völlig hätten
+aufreiben können. Mitten im Getümmel erschien der Hyson mit dem
+Aufblitzen und Donner seiner Geschütze, und -- was den Taipings
+offenbar einen tollen Schrecken einjagte -- mit dem schrillen Pfiff
+seiner Dampfmaschine. Der Feind geriet in verworrene Flucht, und
+ehe der Morgen tagte, war Kuinsan gefallen, ohne nur ein einzigesmal
+gestürmt worden zu sein. Von da an hatten die Krieger des großen
+Friedens eine heilsame Furcht vor dem Namen Gordon. Achthundert Mann
+der feindlichen Besatzung wurden gefangen genommen, und die meisten
+von diesen nahmen Dienst bei dem Sieger; doch war dies nicht der
+zehnte Teil der Mannschaft, und nur wenige Flüchtlinge erreichten
+Sutschau; der größte Teil muß unterwegs umgekommen sein. Gordon hatte
+diesen wunderbaren Erfolg fast ohne Opfer erreicht; zwei im Kampf
+Gefallene und fünf Ertrunkene war der ganze Verlust auf seiner Seite.
+Gordons Grundsatz, alle Gefangenen, die es begehrten, in seine Reihen
+aufzunehmen, bewährte sich glänzend. Feinde wurden zu Freunden.
+Auch gestattete er, so viel an ihm lag, nie, daß die Kaiserlichen
+Grausamkeiten verübten; Gefangene müßten so behandelt werden, sagte
+er, wie es Soldaten zukomme, die sich einem britischen Offizier
+ergeben. Sein eigener Bericht lautet:
+
+ »Die Rebellen haben diesmal tüchtig Schläge gekriegt; ich glaube
+ nicht, daß sie sich noch lange zur Wehr setzen werden, da wir ihnen
+ durch unsere Dampfer so weit überlegen sind. Kuinsan ist eine große
+ Stadt, über fünf Kilometer im Umkreis, ihren Mittelpunkt bildet ein
+ sechshundert Fuß hoher Hügel, von dem man die Gegend stundenweit
+ beherrscht. Es ist ein merkwürdiges Land, voller Wasserstraßen und
+ von großem Reichtum. Durch die Eroberung dieser Stadt ist es der
+ kaiserlichen Regierung nun ermöglicht, die reichen Korndistrikte
+ u. s. w. zu beschützen; die Landleute sind so dankbar, daß es eine
+ Freude ist, sie zu sehen. Sie waren in schlimmer Lage vorher, mitten
+ zwischen den Rebellen und den Kaiserlichen; sie waren aber schlau
+ genug, sich einigermaßen dadurch zu helfen, daß jedes Dorf sich zwei
+ Bürgermeister hielt, einen kaiserlichen und einen, der vorgab, es mit
+ den Rebellen zu halten. Auf diese Weise entrichteten sie Steuern an
+ beide. Was ich nun weiter zu sagen habe, könnte für Prahlerei gelten,
+ aber ich weiß, daß Ihr alles hören wollt. Der Gouverneur der Provinz,
+ Prinz Kung, und alle Mandarine sind froh, daß ich die Anführerschaft
+ übernommen habe. Ich bin ein Tsung-Ping, d. h. ein Mandarin zum
+ roten Knopf; wie Ihr Euch denken könnt, trage ich die Kleidung aber
+ nicht. Sie schreiben mir sehr schmeichelhafte Briefe und sind äußerst
+ verbindlich. Ich mag die Chinesen auch gut leiden, aber Takt ist
+ nötig im Umgang mit ihnen, und über ihr Phlegma zornig werden nützt
+ gar nichts; ich lasse es daher bleiben .... Sollten Gerüchte von
+ begangenen Grausamkeiten Euch erreichen, so glaubt sie nicht! Wir
+ haben an achthundert Gefangene gemacht; eine gute Anzahl derselben
+ ist jetzt meiner Garde eingereiht und hat seither gegen ihre alten
+ Freunde, die Rebellen, mitgefochten. Wenn ich Zeit hätte, könnte
+ ich lange Geschichten erzählen, wie Leute aus entfernten Provinzen
+ einander hier treffen, oder wie die Bauern unter meinen Soldaten
+ Rebellen erkennen, die vor noch nicht langer Zeit ihre Dörfer
+ geplündert haben -- aber ich habe keine Zeit! Ich nahm einen Mandarin
+ gefangen, der drei Jahre lang bei den Rebellen war; er hat jetzt eine
+ Kugel in der Wange, die er sich neulich im Gefecht gegen die Taipings
+ geholt hat. Die Ex-Rebellen, die ich in meine Garde aufnahm, waren
+ alle Schlangenträger oder Hauptleute. Sowohl bei den Rebellen als bei
+ den Kaiserlichen sind die Schlangenstandarten nämlich die Abzeichen
+ der Anführer. Wo man eine sieht, ist immer ein Befehlshaber in der
+ Nähe. Ihr Verschwinden bedeutet den Rückzug des Feindes. In Taitsan
+ hielten die Schlangen auch bis zuletzt, das bewies, daß der Kampf
+ ein hartnäckiger war. Die Wangs wußten nach der Einnahme von Fusan,
+ daß ein »neuer Engländer im Kommando war, aber sie erwarteten ihn
+ nicht in Taitsan.« Äußerst seltsame Gerüchte sind im Umlauf, so z. B.
+ sollen die Rebellen mir vierzigtausend Mark geschenkt haben, damit
+ ich Kuinsan in Ruhe lasse. Alle Mandarine hatten davon gehört, und
+ wenn sie es glaubten, so mußte es sie wunder nehmen, daß wir trotzdem
+ vor Kuinsan erschienen. Bu Wang und zehn andere Wangs ertranken auf
+ dem Rückzug; jener war Befehlshaber von Sutschau und schrieb einen
+ großthuenden Brief an General Staveley, wir wären nur ein Krämervolk,
+ und er habe Soldaten wie Sand am Meer. Ich meinesteils hielt die
+ Rebellen nie für so stark als man annahm; es sind nicht viel tüchtige
+ Soldaten unter ihnen. Tschung Wang, der Getreue, ist anderwärts
+ beschäftigt und soll nicht beabsichtigen, wieder nach Sutschau
+ zurückzukehren. Die Einwohner von Sutschau haben ihre Weiber und ihre
+ Habe in die Wassergegend hinter die Stadt geflüchtet. Ich fürchte,
+ die Wangs werden lange Gesichter machen, wenn sie dort auf unsere
+ drei Dampfer stoßen, was ihnen leicht blühen kann.
+
+ Eine gründliche Kenntnis des Landes ist unschätzbar, und ich habe
+ die Gegend genau studiert. Tschanzu ist etwa sechzig Kilometer von
+ hier. Ich bin öfters dort gewesen; die Leute fühlen sich jetzt sicher
+ dort, seit Kuinsan gefallen ist. Das Entsetzen der Rebellen über
+ unsere Dampfer ist ein großes, besonders wenn Signal gepfiffen wird,
+ das geht über ihr Fassungsvermögen .... Wir haben mehrere ehemalige
+ Diener des Bu Wang unter den Gefangenen, und ihre Berichte sind
+ ergötzlich. Die Wangs hatten beschlossen, meinen Dampfer in die Luft
+ zu sprengen, und erließen eine Proklamation, daß Pulver gelegt werde;
+ sie vergaßen nur die Hauptsache, nämlich ~wie~ das geschehen
+ könnte -- darüber hat allem nach nichts verlautet ...
+
+ Ich habe mehrere englische Offiziere, und wir begnügen uns mit der
+ Montur, die wir auftreiben können; die Soldaten sind in hellen Lumpen
+ ... Ja, es ist wie Du sagst, der Bezahlung wegen bin ich nicht
+ hier. Ich halte es immer mehr für ein gutes Werk, den Aufstand zu
+ unterdrücken, und Du würdest ebenso denken, könntest Du es nur einmal
+ mit ansehen, mit welch dankbarer Freude die Landleute ihre Freiheit
+ hinnehmen; die Rebellen sind ihre Tyrannen ... Die Verlegung des
+ Hauptquartiers war ein großes Stück Arbeit.«
+
+Gordon hatte nämlich beschlossen, Kuinsan jetzt zum Mittelpunkt seines
+Unternehmens zu machen, und zwar ebensowohl der Lage wegen als mit
+Rücksicht auf den nicht minder wichtigen Vorteil, daß er sein Korps
+dort in strammerer Mannszucht würde halten können als in Sung-kiang,
+wo die Tradition von Ward und Burgevine noch nachwirkte. Seine Leute
+aber billigten den Beschluß keineswegs. In Sung-kiang konnten sie
+etwaige Beute besser los werden, während das Plünderungsverbot in
+Kuinsan überhaupt so leicht nicht mehr umgangen werden konnte. Die
+Unbotmäßigkeit wuchs zur Meuterei. Die Artillerie weigerte sich
+anzutreten. Sie würden die Offiziere zusammenschießen, ließen sie
+Gordon schriftlich androhen. Dieser aber war ihnen gewachsen. Er rief
+sofort sämtliche Unteroffiziere heraus, indem er nicht zweifelte, daß
+unter diesen die Rädelsführer und Schreiber des frechen Schriftstücks
+sich befänden. Wer den Brief geschrieben, verlangte er zu wissen, und
+warum das Regiment sich dem ergangenen Befehl widersetze. Störriges
+Schweigen war die Antwort. Darauf erklärte Gordon mit ruhiger
+Bestimmtheit, er werde je den fünften Mann erschießen lassen, was mit
+wildem Murren aufgenommen wurde. Ein Korporal zeichnete sich hierbei
+besonders aus. Mit dem ihm eigenen Scharfblick erkannte Gordon seinen
+Mann. Mit eigener Hand zog er den Korporal aus der Reihe und ließ ihn
+von zwei dabeistehenden Infanteriesoldaten ohne weiteres erschießen.
+Die andern erhielten eine Stunde Arrest mit der Erklärung, daß, wenn
+alsdann der Antritt nicht erfolge und der Verfasser des Briefes nicht
+genannt würde, je der fünfte Mann unter ihnen erschossen werden
+solle. Das wirkte; das Regiment trat an, und als Gordon die verlangte
+Mitteilung erhielt, ergab sich's, daß der Rädelsführer eben jener
+Korporal war, dem er die verdiente Strafe hatte werden lassen.
+
+Die Einnahme von Sutschau war das nächste Ziel, aber erst im Dezember
+wurde es erreicht. Kuinsan war im Mai gefallen.
+
+Die Pagodenstadt Sutschau liegt am großen Kanal und ist von
+Wasserwegen umgeben. Gordon beschloß, sie allmählich abzuschneiden,
+indem er zu Wasser von allen Seiten näher rückte. Etwa fünfzehn
+Kilometer südlich von Sutschau liegt Kahpu am Thaihusee, wo die
+Rebellen zwei starke Forts innehatten, nicht weit davon die Stadt
+Wokong. Als Schlüssel zu dem etwa achtzig Quadratkilometer großen
+Thaihusee waren beide Orte von Wichtigkeit, außerdem beherrschten sie
+die Verbindung zwischen Sutschau und den Taiping-Städten im Süden.
+Dahin richtete Gordon deshalb seinen ersten Angriff und eroberte
+beide Orte mit etwa zweitausendzweihundert Mann Infanterie und
+Artillerie, sowie mit Hilfe zweier Kriegsboote, der »Feuerfliege« und
+dem »Heimchen«. Auch hier zeigte es sich wieder, daß rasche Bewegung
+Gordons Stärke war; so gab es z. B. einen ordentlichen Wettlauf nach
+einer Verschanzung außerhalb Wokongs, welche die Rebellen vergessen
+hatten zu besetzen. Als sie merkten, daß der Feind sich seine
+Gelegenheit ersah, wollten sie das Versäumte geschwind noch nachholen
+und machten sich kopfüber auf den Weg. Zwei Regimenter Gordons aber
+waren hinter ihnen her, so daß die Taipings eigentlich nur sozusagen
+zu einer Thür hinein und zur andern wieder hinausgejagt wurden, den
+Siegreichen den Posten überlassend.
+
+Viertausend Rebellen kapitulierten; fünfzehnhundert derselben sollte
+Tsching unter seine Kaiserlichen aufnehmen, nachdem er sein Wort
+gegeben hatte, sie gut zu behandeln. Es dauerte aber nicht lange,
+da hörte Gordon, Tsching habe trotz seinem Versprechen etliche
+derselben enthauptet, eine Wortbrüchigkeit, welche Gordons ganzen
+Zorn herausforderte. Überdies war er unzufrieden, weil der Sold
+seiner Truppen seit einiger Zeit im Rückstande war. Er hatte ihnen
+das Plündern verwehrt mit dem Versprechen einer regelmäßigen Löhnung;
+nun entbehrten sie beides, und allgemeines Murren wurde laut. Es ist
+bezeichnend, daß nach der Einnahme von Kuinsan, einem Erfolg, der
+europäische Truppen mit flammender Begeisterung erfüllt hätte, die
+Siegreichen in ziemlicher Anzahl davonliefen! Auch hierin liegt ein
+Grund, warum Gordon nicht anders konnte, als Taiping-Überläufer zu
+Rekruten zu machen! Durch Tschings zwecklose Grausamkeit wurde das Maß
+seines Unmuts voll; er beschloß sein Kommando niederzulegen, und ritt
+in dieser Absicht nach Schanghai. Als er am dritten August dort ankam,
+fand er indessen eine Nachricht vor, die ihn alsbald umstimmte.
+
+Burgevine mit etwa dreihundert Mann europäischen Pöbels und einem
+kleinen Dampfer hatte eben die Stadt verlassen, um sich den Rebellen
+anzuschließen. Burgevine ein Wang! das war allerdings eine Neuigkeit,
+die den Leuten von Schanghai nicht ganz einerlei war, und Gordon sah,
+daß er der kaiserlichen Sache nicht den Rücken wenden durfte, wenn er
+es nicht riskieren wollte, daß die »stets siegreiche Armee« sich ihrem
+alten Anführer zuwenden und mit ihm zu den Taipings übergehen sollte.
+
+Sofort kehrte er nach Kuinsan zurück, und ernste Gedanken mochten ihn
+auf seinem einsamen Ritte begleiten. Wie viel hing von der Stimmung
+seines Korps ab! Die Leute konnten es nicht vergessen haben, wie
+Burgevine seiner Zeit den kaiserlichen Zahlmeister prügelte, weil er
+im Rückstande war, und wie er nie Anstand nahm selbst Tempelraub zu
+begehen, wenn sich's darum handelte, die Siegreichen zu löhnen. Kein
+Wunder, daß Gordon bei seiner Rückkehr großer Aufregung begegnete;
+seine Macht über die Geister machte sich aber auch jetzt wieder
+geltend. Er schickte sich alsbald an, seine Stellung bei Kahpu zu
+verstärken, und nicht zu früh, denn die mutig gewordenen Taipings
+machten einen Überfall, wurden aber zurückgeschlagen; doch verlor
+Gordon ein Kanonenboot. Burgevine war übrigens nicht bei diesem
+Angriff; es hieß, er bilde eine Fremdenlegion in Sutschau. Gordon
+hielt sich fürs nächste auf der Defensive.
+
+ »Daß Burgevine sich den Rebellen angeschlossen hat, wird den Aufstand
+ ohne Zweifel verlängern, der sonst, nach menschlichem Ermessen, wohl
+ noch in diesem Jahr unterdrückt worden wäre, oder doch spätestens
+ im Laufe des Winters. Ich habe zu wenig Leute, um überall sein zu
+ können, auch ist bei der gegenwärtigen Sachlage doppelte Vorsicht
+ nötig. Die Kaiserlichen leiden an der Einbildung, daß sie die
+ Rebellen im offenen Felde schlagen können, was nicht der Fall ist
+ ... Man sucht mich zu überreden, alsbald die Offensive zu ergreifen,
+ allein das Leben der Leute ist mir anvertraut, und ich will nichts
+ thun, was ich von vornherein für tollkühn halten muß. So weit sind
+ wir gut weggekommen, wir hatten in all diesen Gefechten nicht mehr
+ als dreißig bis vierzig Tote bei sechzig bis achtzig Verwundeten.
+ Es wäre wohl ein Unternehmen, um von sich reden zu machen, wenn
+ ich Sutschau eroberte ohne Verstärkung abzuwarten; aber ich will
+ nichts derartiges riskieren. Wokong ist unser, damit ist schon viel
+ gewonnen, und wenn ich durch die Einnahme von Wusieh Sutschau von
+ aller Verbindung abschneiden kann, wird es wohl nicht nötig sein,
+ die Stadt zu stürmen. Ich denke, die Taipings werden sie von selbst
+ räumen. Burgevine ist ein Thor und sieht nicht, was für Elend er
+ übers Land bringt ....«
+
+Unterm 11. September heißt es weiter:
+
+ »Burgevines kleiner Dolmetscher ist zu uns übergelaufen und sagt,
+ daß sein Herr den Wangs allerlei von uns erzähle, was sie höchlich
+ interessiere. Er sei in guter Gesundheit, aber träge. Seine Anhänger
+ sind größtenteils Gesindel aus Schanghai .... Die Gegenwart von
+ Europäern (bezw. Amerikanern) hat die Rebellen in nichts gebessert;
+ sie sengen und brennen nach wie vor, wo und was sie können, und wir
+ haben eine Menge ausgehungerter Leute hier ....«
+
+Unterm 25. September schreibt er aus dem Lager bei Sutschau:
+
+ »Ich habe nun Stellung genommen, um die Kaiserlichen zu decken,
+ die sich in einer Entfernung von etwa fünftausend Fuß vor Sutschau
+ verschanzt haben ... Burgevine ist in Schanghai gewesen« -- nämlich
+ um sich Munition zu verschaffen, bei welch tollkühnem Unterfangen er
+ beinahe in Gefangenschaft geriet.
+
+Am 30. September konnte Gordon bereits von Erfolg berichten:
+
+ »Da die Kaiserlichen durch die Patatschau-Schanzen gehindert waren,
+ so beschloß ich, dieselben einzunehmen. Die Verteidigung war schwach
+ und unser Verlust bei der Erstürmung ein kaum nennenswerter --
+ fünf Verwundete .... Bei Patatschau ist eine merkwürdige Brücke,
+ sie besteht aus dreiundfünfzig Bogen und ist dreihundert Fuß lang.
+ Ich bedaure sagen zu müssen, daß sechsundzwanzig der Bogen gestern
+ zusammenfielen wie ein Kartenhaus, wobei zwei meiner Leute ums Leben
+ kamen, zehn andere retteten sich nur durch schleunige Flucht. Die
+ Bogen stürzten einer nach dem andern mit kolossalem Lärm zusammen,
+ und mein Boot wurde schier mit zertrümmert. Es ist mir sehr leid,
+ denn die Brücke war einzig in ihrer Art und sehr alt, eine wahre
+ Sehenswürdigkeit. Ich fürchte, ich bin am Einsturz schuld; ich wollte
+ nämlich einen Bogen wegnehmen lassen, um Raum für den Durchgang
+ eines Dampfers nach dem Thaihusee zu gewinnen, da brach die ganze
+ Geschichte zusammen, weil ein Bogen vom andern getragen war ... Die
+ Lage der Rebellen wird immer schlimmer; ich denke, es wird nicht
+ lange mehr dauern, bis ich den Fall von Sutschau melden kann. Wir
+ sind hier etwa drei Kilometer davon entfernt, am großen Kanal. Die
+ Dampfer legen den Taipings doch das Handwerk bedeutend.«
+
+Was den Sturz der Brücke betrifft, so bedarf Gordons Bericht der
+Ergänzung. Er saß eines Abends allein auf der Brüstung jener Brücke
+und rauchte seine Zigarre, als zwei Kugeln nach einander neben ihm
+auf den Stein schlugen und abprallten. Diese Flintenschüsse, die ganz
+»zufällige« waren, kamen aus seinem eigenen Lager, wo man nicht wußte,
+daß er sich gerade daselbst aufhielt. Nach dem zweiten Schuß erhob er
+sich und schickte sich an, zurückzurudern, um zu sehen was es gäbe.
+Er war noch keinen Steinwurf von der Stelle entfernt, als der Teil
+der Brücke, auf dem er gesessen, mit großem Gekrach einstürzte und
+sein Boot in nicht geringe Gefahr brachte. Die Hauptgefahr, der er
+soeben entronnen, war natürlich die gewesen, selbst mit der Brücke zu
+stürzen. Es ist charakteristisch, daß er die Sache in seinem Briefe
+mit keinem Wort erwähnt! Diese Begebenheit ist eines jener Ereignisse,
+die seine Leute auf den Glauben brachten, sein Leben sei gefeit.
+
+Dieser Glaube hatte bei seinen Chinesen in der That tiefe Wurzel
+gefaßt. In keinem Gefecht sah man ihn selbst Waffen tragen, obschon er
+es meist nötig fand, den Angriff persönlich zu leiten. Seine Offiziere
+waren ja im ganzen sehr tapfere Leute, aber nicht immer dazu angethan,
+dem verzweifelten Feind stand zu halten. Bei solchen Gelegenheiten
+konnte man Gordon oft sehen, wie er diesen oder jenen Offizier ruhig
+am Arm nahm und ihn mit sich in den dicksten Kugelregen führte. Er
+kannte keine Furcht; ihm galt ein Musketenfeuer nicht mehr als ein
+Hagelwetter. Die einzige »Waffe«, die er im Treffen führte, war sein
+kleines spanisches Rohr, womit er die Leute dirigierte; seine Soldaten
+aber, die ihn fast nur als Sieger kannten und ihn mit Staunen immer
+kaltblütig und unversehrt sahen, meinten, es habe mit dem Röhrchen
+eine besondere Bewandtnis. Als »Gordons Zauberstab« stand dasselbe
+denn auch in glänzendem Rufe. Und dieser Ruf war etwas wert.
+
+Die in der Festung eingeschlossenen Europäer fanden sich mittlerweile
+unter der Herrschaft der Taipings aufs gründlichste enttäuscht; es
+kam zu Unterhandlungen zwischen Gordon und Burgevine. Eine Brücke bei
+Patatschau war der neutrale Boden der Zusammenkünfte.
+
+Burgevine war ein amerikanischer Abenteurer vom reinsten Wasser,
+Sohn eines französischen Offiziers aus der Zeit des ersten Napoleon,
+in Nord-Karolina geboren. Er war nicht ohne Bildung, und der Traum
+seines Lebens scheint der gewesen zu sein, ein Kaiserreich zu
+gründen. Kalifornien, Australien, Hawaii, Indien und schließlich
+China waren der Schauplatz seiner Unternehmungen. Trunksucht soll
+ihn schließlich zu Grunde gerichtet haben. Seine Entlassung aus dem
+Sung-kiang-Corps hatte er nicht verwinden können, und er schloß sich
+den Taipings an, nur um sich an den Kaiserlichen zu rächen. In
+seiner ersten Unterredung mit Gordon erklärte er, er sei der Rebellen
+überdrüssig und wolle sie mit seinem Anhang wieder verlassen, wenn
+er die Gewißheit erhalten könne, daß die Kaiserlichen ihn für seinen
+Verrat nicht zur Verantwortung ziehen würden. Gordon übernahm es, die
+Bürgschaft zu leisten, und war alsbald bereit, sowohl Burgevine als
+andere Europäer, die dazu Lust hätten, unter seiner Fahne dienen zu
+lassen. Als aber Gordon und Burgevine das zweitemal zusammenkamen,
+gab der letztere seine wahre Gesinnung kund. Er und Gordon könnten
+gemeinschaftliche Sache machen, meinte er, mit einander der Stadt
+Sutschau habhaft werden, unter Ausschluß beider, der Rebellen und
+der Kaiserlichen, sich der in dieser Stadt aufgehäuften Schätze
+versichern, eine größere Armee heranbilden, nach Peking marschieren
+und das geträumte Kaiserreich gründen. Man kann sich denken, was
+Gordon dazu wird gesagt haben.
+
+Übrigens desertierten die Europäer in der Stadt einige Wochen später
+massenweise, und zwar mit Gordons Hilfe. So groß war ihr Vertrauen zu
+dem feindlichen Landsmann, daß sie ihm sagen ließen, sie gedächten
+einen Ausfall zu machen in der Absicht, sich seinem Schutz zu ergeben.
+Auf ein Raketensignal hin wollten sie den Dampfer Hyson entern.
+Dies geschah denn auch mit solchem Eklat, daß Tausende von Taipings
+hinter ihnen herstürmten, in der Meinung, es handle sich um einen
+wirklichen Überfall; der Hyson aber trug die Flüchtlinge davon, deren
+Abschiedsgrüße der Zweiunddreißig-Pfünder energisch vermittelte.
+Burgevine mit etlichen anderen war indessen zurückgeblieben; der
+Moh Wang habe Verdacht geschöpft, hieß es, weshalb sie die Sache
+beschleunigt hätten, ohne auf die Säumigen zu warten.
+
+Die Mehrzahl dieser Überläufer waren Matrosen, die nach Sutschau
+gelockt worden waren, ohne zu wissen, wohin sie gingen. Ausgehungert
+und zerlumpt wie sie waren, wußten sie ihrer Dankbarkeit kein Ende,
+und fast alle baten um die Erlaubnis, dieselbe dadurch mit der That
+beweisen zu dürfen, daß sie sich der siegreichen Armee einreihen
+ließen. Gordon aber, sobald er hörte, daß Burgevine in der Stadt
+zurückgeblieben und somit der Rache der Taipings hilflos überlassen
+war, richtete (16. Okt.) folgende Zuschrift an die beiden Haupt-Wangs
+der Belagerten:
+
+ »Es kann Ew. Exzellenzen nicht verborgen geblieben sein, daß ich
+ bei jeder Gelegenheit, wo es in meiner Macht stand, Ihren in unsere
+ Gefangenschaft geratenen Soldaten Barmherzigkeit erwiesen habe und
+ es mir habe angelegen sein lassen, die kaiserlichen Behörden vor
+ Grausamkeiten zurückzuhalten. Die Wahrheit dieser meiner Aussage kann
+ Ihnen von solchen, die persönliche Erfahrung haben, bestätigt werden;
+ denn mancher von Ihren Soldaten muß, nachdem Wokong in unsere Hände
+ gefallen war, wieder nach Sutschau zurückgekehrt sein, ich habe es
+ wenigstens keinem verwehrt, der es wünschte.
+
+ »Hierauf Bezug nehmend, erlaube ich mir Ew. Exzellenzen zu ersuchen,
+ die Lage der Europäer in Ihren Diensten wohlwollend zu beurteilen.
+ Ein Soldat, er mag kämpfen für wen er will, muß von loyalen Gedanken
+ getragen werden, wenn er seine Pflicht thun soll. Und wenn einer
+ gegen seinen Willen zu irgend einer Fahne gezwungen wird, so wird
+ er nicht nur ein schlechter Soldat sein, sondern außerdem auch ein
+ Unruhestifter im Regiment, den man nur hüten muß. Sollten nun solche
+ Europäer in Sutschau sein, so erlaube ich mir, an Ew. Exzellenzen die
+ Frage zu richten, ob es nicht viel besser wäre, solche unbehindert
+ ziehen zu lassen, wenn das ihr Wunsch sein sollte. Sie selbst würden
+ damit eine ständige Ursache des Argwohns los werden und sich die
+ Billigung fremder Mächte erwerben; während Sie außerdem die Gewißheit
+ hätten, daß Ihnen nur von außen ein Feind droht und nicht auch im
+ eigenen Lager. Ew. Exzellenzen denken vielleicht, daß durch ein paar
+ Hinrichtungen innere Ruhe bald hergestellt wäre; Sie würden dann aber
+ ein Verbrechen auf sich laden, das sich früher oder später rächen
+ müßte. Bei meinen Truppen steht es den Offizieren wie den Gemeinen
+ frei, zu kommen und zu gehen wie es ihnen beliebt; und obschon das
+ manchmal unbequem ist, so bin ich doch andererseits dadurch vor
+ innerem Verrat sicher. Ew. Exzellenzen wollen sich darauf verlassen,
+ daß Sie es zu bereuen haben werden, wenn Sie den in Ihrem Dienst
+ sich befindenden Europäern ans Leben gehen oder sie wider ihren
+ Willen zurückhalten. Dieselben haben nichts verbrochen, sie haben
+ Ihnen im Gegenteil eine Zeit lang gedient; und wenn sie nun zu
+ entfliehen suchen, so ist das nichts anderes als was jeder Mensch,
+ ja jedes Tier in mißlicher Lage zu thun strebt .... Persönlichen
+ Vorteil habe ich durchaus keinen dabei, ob die betreffenden in
+ der Stadt zurückgehalten werden oder dieselbe verlassen. Wenn ich
+ ihretwegen an Sie appelliere, so geschieht es lediglich aus Gründen
+ der Menschlichkeit .... Daß diese Europäer mir Mitteilungen machen
+ könnten, haben Ew. Exzellenzen durchaus nicht zu fürchten; Ihre
+ Truppenstärke und Kriegsmittel sind mir längst bekannt, ich brauche
+ mich daher nicht erst von ihnen belehren zu lassen.
+
+ »Sollte ich hinsichtlich dieser Männer vergeblich an Sie appellieren,
+ so schicken Sie mir wenigstens die Verwundeten unter ihnen und
+ glauben Sie, daß Sie damit eine That thun, die Sie nie bereuen
+ werden.
+
+ »Ich schreibe dies eigenhändig, da ich mich nicht auf einen
+ dolmetschenden Schriftführer verlassen will. In der Hoffnung, daß Sie
+ meine Bitte gewähren, schließe ich
+
+ Ew. Exzellenzen gehorsamer Diener
+
+ ~C. G. Gordon~,
+ Major-Kommandant.«
+
+Burgevine, der diese Teilnahme an seinem Schicksal durchaus nicht
+verdient hatte, wurde freigegeben und verschwand für immer. In einem
+Brief an die Seinen beschreibt Gordon die Sache und fährt fort:
+
+ »Moh Wang fragte den Boten genau aus, u. a. ob es möglich wäre, mich
+ zu bestechen, und mußte sich mit einem Nein begnügen. »Wird Gordon
+ die Stadt einnehmen?« »Jedenfalls«, lautete die Antwort, und er
+ schwieg nachdenklich. Ich höre, daß die Stadt in großer Verwirrung
+ ist; es ist nicht sowohl die Flucht der Europäer, was die Taipings
+ beunruhigt, als vielmehr das Bewußtsein, daß die Europäer die Sache
+ für verloren halten. Burgevine soll gut behandelt werden; ich werde
+ thun, was ich kann, ihn loszubringen, und dann, sobald sich einer
+ findet, der meine Stelle einzunehmen imstande ist, werde ich mich
+ zurückziehen ... an Ruhm und Ehren ist mir nicht gelegen ... Ich
+ hoffe, daß die chinesische Regierung sich hinlänglich davon überzeugt
+ hat, daß ich ehrlich an ihr gehandelt habe und daß nicht alle
+ Engländer von Geldgier beseelt sind. Daß sie diese Überzeugung in der
+ That gewonnen haben, das glaube ich; wenigstens kommen sie mir mit
+ vollem Vertrauen entgegen.«
+
+Die Tage von Sutschau waren gezählt. Die Kaiserlichen hatten
+südwestlich um die Stadt her feste Stellungen inne, während Gordon
+mit seinem Belagerungstrain und vor allem mit dem Dampfer Hyson die
+nördliche und östliche Seite gesperrt hielt. Der Hyson erwies sich
+stets als vorzügliches Kampfmittel; bei einer Gelegenheit wurden
+dreizehnhundert Taipings gefangen genommen, und ebensoviel ertranken
+bei einem Fluchtversuch. Aber die kaiserlichen Verbündeten unter
+ihrem Anführer Tsching waren es, die durch ungeschickte Taktik Gordon
+immer wieder an der Ausführung eines umfassenden Planes hinderten. In
+Schanghai und anderwärts wurden Stimmen laut, daß, wenn Gordon nicht
+den Gesammtoberbefehl erhalte, man den Fall von Sutschau nie erleben
+würde. Aber nicht nur hat er diesen Oberbefehl nie erhalten, sondern
+sein eigenes Korps geriet wieder an den Rand der Meuterei und war
+außerdem von Krankheit heimgesucht. Aber Gordon hatte in sich die
+Kraft eines Kriegsheeres.
+
+Zwar wurden die Siegreichen nun mehrmals zurückgeworfen, einmal
+lediglich infolge einer zur unrechten Zeit geleisteten Hilfe. Bald
+aber kann Gordon wieder ein Gegenteil berichten.
+
+ »Wir mußten die Rebellen aufs neue aus Wokong verjagen, sie hatten
+ trotz ihrer neulichen gründlichen Niederlage daselbst die Kühnheit,
+ diesen Ort abermals zu besetzen. Ich schickte einen Dampfer hin, und
+ der Erfolg war ein glänzender Sieg, fast wie der bei Kuinsan und auch
+ aus ähnlicher Ursache. Die Rebellen waren nämlich genötigt, ihren
+ Rückzug auf einer engen Straße zwischen dem großen Kanal und anderen
+ Gewässern zu nehmen ...«
+
+Es war ein Weg, der oft lange Strecken nur drei bis vier Fuß breit
+war und dann und wann kamen enge Brücken, die nur ein bis zwei Mann
+auf einmal durchließen. Auf der ganzen Strecke des Rückzugs, fünfzehn
+Kilometer weit, waren die Flüchtlinge unter dem Feuer der Dampfer und
+hatten die verfolgenden Truppen hinter sich. Der Verlust der Taipings
+war entsprechend.
+
+Am 1. November wurde Fort Liku erstürmt, etwa acht Kilometer nördlich
+von Sutschau. Dabei ereignete sich folgendes: Einige Tage zuvor hatte
+Gordon zufällig einen beschriebenen Zettel gefunden. Er erkannte
+die Handschrift als die eines seiner Offiziere, Namens Perry, der
+offenbar einem Rebellenfreund in Schanghai über das Korps berichtete.
+Perry leugnete auch gar nicht, entschuldigte sich aber damit, daß
+seine Mitteilungen nicht aus böswilliger Absicht stammten, sondern
+nur vertraulicherweise einem Bekannten gelten sollten. »Gut«, sagte
+Gordon, »ich nehme Sie für diesmal bei Ihrem Wort und erwarte von
+Ihnen, daß Sie beim nächsten ›hoffnungslosen‹ Gefecht vorne dran
+sind.« Er selbst vergaß den Fall alsbald wieder, aber nach wenigen
+Tagen waren beide nebeneinander vorne dran beim Erstürmen einer
+Verschanzung. Eine Kugel traf Perry in den Mund, Gordon fing ihn in
+seinen Armen auf -- er war tot.
+
+ »Wir eroberten Liku im Sturmlauf«, berichtet Gordon. »Leutnant
+ Perry ist leider gefallen, er war ein guter Offizier. Sonst nur
+ drei Verwundete. Die Rebellen hielten tapfer Stand, hatten vierzig
+ bis sechzig Tote; wir machten sechzig Gefangene, eroberten drei
+ Kanonenboote und etwa vierzig andere Boote.«
+
+Zehn Tage später wurde ein anderer Ort Namens Wanti angegriffen,
+der so mit Erdwällen verschanzt war, daß das Beschießen kaum einen
+Eindruck machte; als Gordon aber den Ort eingeschlossen hatte,
+stürzten die Taipings wie toll daraus hervor, es gab ein hitziges
+Handgemenge, und nach einer Stunde war Wanti erobert. Gordon hatte
+zwanzig Tote, darunter einen Offizier; die Rebellen dreihundertfünfzig
+-- sie waren nämlich unter das Feuer der Artillerie geraten -- und
+außerdem gab's sechshundert Gefangene.
+
+So wurde ein immer engerer Kreis um Sutschau gezogen. Die Wangs fingen
+an, mutlos zu werden.
+
+ »Uneinigkeit unter den Belagerten kann die Übergabe herbeiführen«,
+ schreibt Gordon; »sie haben nichts mehr als für zwei Monate Reis
+ ... Mauding am großen Kanal beabsichtigte ich zunächst durch zwei
+ Dampfer angreifen zu lassen; es ist nur eine Stunde von hier und
+ die Rebellen dort haben gar keine andere Wahl als sich zu ergeben.
+ Die Kaiserlichen reden davon, ihnen Garantie anzubieten, daß ihnen
+ das Leben geschenkt werde; die meisten wären ohne weiteres damit
+ einverstanden!«
+
+Wir werden bald sehen, was es mit solchen Versprechungen
+kaiserlicherseits auf sich hatte, und daß auch in China ein Treubruch
+Böses nach sich zieht.
+
+
+
+
+ 3. Der Fall von Sutschau und der Mord der Könige.
+
+Die Belagerung war vollständig; an vierzehntausend Mann umschlossen
+die Stadt, von denen drei- bis viertausend unter Gordons Befehl
+standen. Außerdem waren noch etwa fünfundzwanzigtausend Mann
+kaiserliche Truppen in der Nähe; Fusan war ihr Zentrum. Die Taipings
+zählten vierzigtausend in der belagerten Stadt, zwanzigtausend in
+Wusieh und weitere achtzehntausend zu Matantschiao, wo Tschung Wang,
+der Getreue, den großen Kanal beherrschte.
+
+Gordon wußte all dies, aber er wußte auch, daß der Getreue nur auf die
+Gefahr hin näher rücken konnte, Nanking bloßzustellen und Hangtschau
+preiszugeben. Tschung selbst war sich darüber klar, daß Nanking hart
+bedrängt war und daß der Fall der Hauptstadt dem »großen Frieden«
+den Todesstoß versetzen würde. Die Außenwerke von Nanking waren zum
+Teil schon in Feindeshand. Gordon wußte dies, denn die Kaiserlichen
+hatten eine Staffette abgefangen; und er beschloß, Sutschau auf der
+Nordseite zu stürmen. Der Angriff geschah nachts, mißlang aber, denn
+die innere Reihe der Außenwerke war stark befestigt und wohl bemannt.
+Die Angreifenden trugen weiße Turbane, um sich nächtlicherweile
+untereinander zu erkennen. Es schien zuerst, als ob der Überfall
+gelingen sollte. Gordon an der Spitze seiner Vorlinien hatte den
+Wall schon erstiegen, aber ein mächtiges Feuer der plötzlich in
+Masse erscheinenden Taipings hinderte seine Unterstützungskolonnen
+am Vordringen, und so mußte auch er wieder zurückweichen. Ein Kampf
+bei Nacht mochte den Rebellen übrigens nicht behagen; wirklichen Mut
+schien nur noch der Moh Wang zu haben, der sich wie ein Löwe in den
+vordersten Reihen wehrte, ohne Schuhe und ohne Strümpfe mitten unter
+den Gemeinen kämpfend. Zwanzig Europäer hielten sich zu ihm.
+
+Am andern Morgen hatte General Tsching eine Unterredung mit dem
+Taiping Kong Wang und erfuhr von diesem, daß unter den Wangs
+in Sutschau große Uneinigkeit herrsche; außer dem Moh Wang und
+fünfunddreißig zu ihm haltenden Unterbefehlshabern wären die Anführer
+bereit, mit dreißigtausend Mann zu kapitulieren. Denn trotz des
+zurückgeschlagenen nächtlichen Angriffs wüßten die Wangs nur zu
+gut, daß Sutschau fallen müsse; sie schlügen daher vor, daß Gordon,
+um ihnen einen gewissen Schein zu retten, einen zweiten Angriff
+aufs Ostthor mache, wobei sie dem Moh Wang den Rückweg in die
+Stadt abzuschneiden gedächten, um dann ihrerseits mit dem Feind zu
+unterhandeln.
+
+Am 29. November schoß Gordons Artillerie die Palissadenverschanzung
+zusammen und der Angriff erfolgte. Es war eine heiße Arbeit. Gräben
+voll Wasser mußten durchschwommen und Wälle erstiegen werden. Der
+Getreue selbst war von Wusieh her zu Hilfe gekommen und verteidigte
+die Stadt. Da ereignete es sich, daß Gordon, der mit einer Handvoll
+Leute ungestüm vordrang, plötzlich einen Haufen Taipings im Rücken
+hatte und so von den Seinen abgeschnitten war. Zurück konnte er
+nicht, wollte es auch nicht, also vorwärts! Er eroberte eine Redoute
+und hielt sich, bis Verstärkung sich zu ihm durchschlagen konnte.
+Die errungene Position, die er fast allein gewonnen, kam einem
+vollständigen Siege gleich, aber er war teuer erkauft. Neun Offiziere,
+meist Engländer, waren gefallen, dazu fünfzig Gemeine und es gab viele
+Verwundete. Aber am folgenden Tag konnte er eine Proklamation an seine
+Leute erlassen des Inhaltes, daß Sutschau faktisch erobert sei.
+
+Es dauerte nicht lange, so hatten Gordon und der kaiserliche General
+Tsching eine Zusammenkunft mit den Wangs. Immer noch besorgt, sich
+den Schein zu wahren, schlugen diese jetzt vor, daß ein Angriff auf
+die Stadt selbst geschähe, wobei sie versprachen, sich nicht bei der
+Abwehr zu beteiligen, vorausgesetzt, daß die Kaiserlichen ihnen bei
+der Einnahme die persönliche Sicherheit garantierten. Selbst unter
+solchen Umständen war der Angriff mit Schwierigkeiten verbunden; die
+Stürmenden konnten nicht viel über fünftausend Mann beibringen, ein
+breiter Graben umgab die Stadt und vom Ostthore hin zog sich eine
+unabsehbare Reihe von Schanzen. Als der Na Wang Gordon vorschlug,
+die Stadt im Sturm zu nehmen, erklärte dieser daher rundweg, daß es
+dann unmöglich sein würde, den Soldaten das Plündern und Brennen zu
+verbieten, und fügte hinzu, wenn es den Wangs wirklich ernst sei mit
+ihren Vorschlägen, sie ihre Aufrichtigkeit damit bekunden sollten, daß
+sie dem Feinde ein Thor überließen; wollten sie das nicht, so sollten
+sie die Stadt entweder räumen oder um den Besitz fortkämpfen, so lange
+sie sich würden halten können. Daraufhin erklärten sie sich bereit,
+die Übergabe der Stadt durch Überlassen eines der Thore ins Werk
+zu setzen; und während General Tsching die Unterhandlungen zu Ende
+führte, machte Gordon sich alsbald auf den Weg, um beim Gouverneur die
+Sicherheit der Besatzung zu beantragen.
+
+Übrigens war die Übergabe noch nicht vollzogen. Als der tapfere
+Moh Wang erfuhr, was seine Mit-Wangs im Schild führten, erfaßte
+ihn ein gewaltiger Ingrimm, und er versammelte sie alsbald um sich
+zum Kriegsrat. Er war der Oberbefehlshaber der Stadt. Es mag eine
+seltsame Szene gewesen sein, als nach der festlichen Mahlzeit und dem
+obligatorischen Gottesdienst diese Würdenträger mit ihren Kronen und
+Königsgewändern sich im Halbkreis um den Moh Wang scharten. Sofort kam
+es zu einem Wortwechsel. »Übergabe!« schrien die Wangs durcheinander.
+»Wir halten Sutschau bis zum letzten Mann!« entschied der Moh Wang. Da
+fuhr der Kong Wang auf, den Königsmantel von sich werfend, und stieß
+seinen Dolch dem Moh Wang neunmal in den Rücken. Miteinander trugen
+sie den Gemordeten hinaus und zerstückten seinen Leichnam. Gordon
+erfuhr diese Mordthat, als er eben von seinem Liebesritt zurückkehrte
+und das Versprechen von Li mitbrachte, dem Moh Wang und seinen
+Gefährten solle kein Leids geschehen. Er hatte den Moh Wang um seiner
+mannhaften Tapferkeit willen hochgeschätzt.
+
+In jener Nacht ergab sich Sutschau.
+
+Um, wenigstens so viel an ihm lag, die Plünderung zu verhüten,
+zog Gordon sein Korps auf einige Entfernung von der Stadt zurück,
+verlangte aber in Anerkennung ihrer Leistungen doppelte Löhnung
+für die Truppen auf zwei Monate. Allein Li handelte die Belohnung
+auf einen Monat herunter, was die Soldaten so verdroß, daß ihr
+unzufriedenes Gemurre fast in offene Meuterei überging. Ein paar
+Stunden Plünderung wäre ihnen lieber gewesen als alle Löhnung. Gordon
+konnte sich nur damit helfen, daß er seine Siegreichen nach Kuinsan
+zurück marschieren ließ.
+
+Was die nun folgenden Ereignisse betrifft, so mochte Gordon füglich
+erwarten, daß er eine Stimme im Rat habe, besonders rücksichtlich des
+Schicksals der Wangs. Ohne ihn und seine Leute hätten dieselben noch
+lange stand gehalten; und er, der sein eignes Leben nie der Gefahr
+entzog, dessen Todesverachtung die Armee mit Siegesmut erfüllte,
+mochte wohl denken, daß er vor allen das Recht habe, dem überwundenen
+Feind das Leben zu schenken. Li und Tsching wußten auch recht wohl,
+daß eine menschliche Behandlung der Überwundenen nach europäischen,
+bezw. nach christlichen Grundsätzen beobachtet werden müsse, wo Gordon
+mitzureden hatte. Li hatte es diesem bestimmt zugesagt, daß Gnade
+vor Recht ergehen solle, hatte ihm sozusagen das Leben der Wangs
+geschenkt. Wie wurde aber dieses Versprechen gehalten!
+
+Von Kuinsan zurückkehrend, betrat Gordon, nichts ahnend, die gefallene
+Stadt, von seinem jungen Dolmetscher begleitet. Er begab sich nach des
+Na Wang Wohnung. Dort fand er sämtliche Wangs im Begriff aufzusitzen.
+Li erwarte sie außerhalb der Stadt, um die Schlüssel der Thore von
+ihnen entgegenzunehmen. Es sei alles in Ordnung, versicherte Na Wang,
+und daraufhin sah Gordon sie ruhig ziehen, um so mehr, als Tsching ihn
+erst kürzlich versichert hatte, der Gouverneur habe eine allgemeine
+Amnestie erlassen. In aller Gemütsruhe schlenderte Gordon durch sie
+Stadt, sorgte für des Moh Wang Begräbnis und erreichte nach einiger
+Zeit das Ostthor, wo ein Haufe Kaiserlicher ihm lärmend entgegen kam.
+Er blieb stehen und forderte die Soldaten zu ruhigerem Benehmen auf,
+damit sie die Einwohner nicht unnötig alarmierten. Während er noch
+redete, betrat der General Tsching selbst die Stadt und erblaßte, als
+er Gordon sah. Dieser erkundigte sich alsbald nach den Wangs, die der
+Zeit nach längst von ihrer Audienz zurück sein mußten, worauf Tsching
+etwas hervorstotterte und sich in Ausreden verwirrte. Da schöpfte
+Gordon Verdacht und kehrte eiligst nach des Na Wang Hause zurück.
+Er fand es zerstört; die Plünderung hatte begonnen. Ein Oheim des
+Na Wang, der ratlos umherlief, bat ihn inständig, mit ihm in seine
+Wohnung zu gehen, um ihm behilflich zu sein, die Frauen des Na Wang
+in Sicherheit zu bringen. Er zögerte einen Augenblick, waffenlos wie
+er war, allein das Weibervolk erbarmte ihn; er beschloß, der Bitte
+Folge zu leisten und alsdann mit Hilfe seiner Leute dem Plündern der
+Kaiserlichen wo möglich zu steuern.
+
+Man sollte denken, daß Li den heldenmütigen Gordon, dem er so viel
+verdankte, wenigstens vor dem Betreten der Stadt hätte warnen
+lassen; aber davon war keine Rede. So hatte sich Gordon in der That
+unwissentlich als Geisel gestellt, während der treubrüchige Futai
+die Wangs draußen enthaupten ließ. Die lärmenden Kaiserlichen, denen
+er begegnete, kamen gerade von der Hinrichtung, der Tsching selbst
+beigewohnt hatte. Gordons Lage war um so bedenklicher, als er sich
+in völliger Unwissenheit befand. Hätten die Taipings, die alsbald
+zu Tausenden das Haus umstellten, mehr gewußt als er, er wäre nicht
+lebendig aus ihren Händen gekommen. So aber betrachteten sie ihn
+als Geisel, bis sie ihre Anführer wieder sähen. Bis zum folgenden
+Morgen befand er sich völlig hilflos unter den Taipings, die von der
+vertragswidrigen Plünderung wohl auf Schlimmeres schließen mochten;
+aber es geschah ihm kein Leid. Wer weiß, ob die Leute nicht halb
+unbewußt in ihm den festen Mann erkannten, der ihnen Treue halten
+würde, wenn alle anderen sie brächen. Jedenfalls hat wohl selten ein
+Heerführer inmitten seiner geschlagenen Feinde dem Tod näher ins Auge
+geschaut als er; allein über Gordon wachte ein Höherer, dem er diente
+und der ihn zu noch Größerem brauchen wollte.
+
+Am nächsten Morgen hatte er die Taipings soweit gebracht, daß
+sie ihm gestatteten, seinen Dolmetscher mit einem Brief an sein
+Boot zu entsenden, das vor dem Südthor vor Anker lag. Nichts kann
+bezeichnender für unsern Helden sein, als die Thatsache, daß das
+Schreiben auch nicht ein Wort über seine eigene Lage enthielt, wohl
+aber den Befehl an den Kapitän seiner Flottille, den Gouverneur
+Li gefangen zu nehmen und ihn festzuhalten, bis die Wangs in
+Sicherheit wären, ein prächtiger Plan, der aber leider mißlang.
+Der Taipingführer, der den Dolmetscher begleitete, kam allein mit
+der Nachricht zurück, die Kaiserlichen hätten dem Jungen den
+Brief abgenommen und denselben zerrissen. Darauf hin gestatteten
+die Taipings ihrem Gefangenen, sich selbst auf den Weg zu machen.
+Unterwegs wurde auch er von Kaiserlichen überfallen, die ihn wohl
+nicht kannten, aber es gelang ihm von ihnen loszukommen und das
+Ostthor zu erreichen, wo seine Leibwache lag. Diese entsandte er nun
+sofort zum Schutze der Taipings, die ihn die Nacht durch festgehalten
+hatten.
+
+Es war immer noch sein Vorsatz, den Li gefangen zu nehmen. Während er
+zu diesem Zweck auf seinen Dampfer wartete, stellte Tsching sich zu
+einer Unterredung ein; aber Gordon weigerte ihm das Wort. Da schickte
+der General einen seiner Offiziere, aber diesem fehlte der Mut, dem
+entrüsteten Briten die Wahrheit zu sagen. Auf Gordons Frage nach den
+Wangs entgegnete er, er wisse nichts, doch sei des Na Wang junger Sohn
+in der Nähe, der werde wohl Bescheid geben können. Und von dem Sohne
+eines der Gemordeten erfuhr denn Gordon endlich, daß bei Gelegenheit
+der Audienz die Hinrichtung stattgefunden hatte. Er ließ sich sofort
+übers Wasser rudern und fand die kopflosen Leichname der Wangs
+zerhackt und zerstückt.
+
+ »Ich fand sechs Leichen«, schrieb er, »und erkannte des Na Wang
+ Kopf.«
+
+Wohl selten in seinem Leben ist ihm etwas so nahe gegangen. Er
+vergoß Thränen vor Leid und Entrüstung, vor Scham und Zorn. Überdies
+erachtete er seine Ehre angegriffen durch die unmenschliche That.
+Er hatte den Wangs zwar nicht sein Wort gegeben -- das konnte er
+nicht -- aber er hatte von vornherein mit ihnen in der Voraussetzung
+verhandelt, daß der Gouverneur sie anständig behandeln werde. Und
+die Plünderung der Stadt gegen seinen Willen und Wissen war eine
+weitere Kränkung. Seinem Mut und Kriegsgeschick war's in erster
+Linie zu verdanken, daß Sutschau gefallen, und nun hatte man ihn
+einfach beiseite gesetzt, ja ihn selbst in nicht geringe Lebensgefahr
+gebracht. Diese perfide Handlungsweise der Chinesen, für die er sich
+aufgeopfert, ergrimmte ihn so sehr, daß sein Zorn keine Grenzen
+kannte, und wohl zum erstenmal in der ganzen blutigen Kriegszeit
+nahm er eine Waffe zur Hand. Er steckte seinen Revolver zu sich,
+entschlossen, an des Gouverneurs eignem Leben Gericht zu üben, mochten
+die Folgen für ihn selbst sein, welche sie wollten. Tsching aber war
+ihm zuvorgekommen und hatte Li wissen lassen, daß er wohl daran thun
+werde, dem zornmütigen Engländer aus dem Weg zu gehen. Als Gordon
+das Boot des Li bestieg, fand er daher, daß dieser sich in die Stadt
+geflüchtet hatte. Gordon verfolgte ihn dort und versuchte während
+mehrerer Tage vergeblich, zuerst allein und dann mit Hilfe seiner
+Garde, des flüchtigen Gouverneurs habhaft zu werden. In bitterm Mißmut
+kehrte er nach Kuinsan zurück. Dort verlas er seinem versammelten
+Korps einen Bericht über das Geschehene mit dem Anfügen, daß ein
+britischer Offizier unter dem Gouverneur Li nicht länger dienen könne,
+es sei denn, daß dieser vom Kaiser zur verdienten Strafe gezogen werde.
+
+Gordon schrieb an seine Angehörigen:
+
+ »Ihr werdet froh sein zu erfahren, daß wir wieder zu Kuinsan im
+ Quartier sind und es wohl so bald nicht wieder verlassen werden.
+ Ich habe weder Zeit noch Lust, Euch von dem Kampf am Ostthor zu
+ berichten, noch von dem kaiserlichen Verrat in Sutschau -- die
+ Zeitungen werden genug darüber melden. Des Na Wang Sohn habe ich
+ bei mir. Er ist ein gescheiter junger Mensch und sehr lebhaft, etwa
+ achtzehnjährig. Sein armer Vater war ein recht guter Wang, besser als
+ die meisten Kaiserlichen, mit denen ich noch zu thun hatte. Ich kann
+ Euch nicht sagen, wie tief ich die neuesten Ereignisse beklage und
+ zwar um verschiedener Ursachen willen. Hätte man dem Feind, der sich
+ ergeben, Treue gehalten, so wäre es mit dem Aufstand wohl zu Ende,
+ und die anderen Städte, die noch aushalten, wären ohne Zweifel dem
+ Beispiel Sutschaus gefolgt. Wir hätten uns dann rühmen können, den
+ Aufruhr mit geringem, nicht zu umgehendem Blutvergießen unterdrückt
+ zu haben. Wenn ~ich~ nicht mit dem Na Wang unterhandelt hätte,
+ wäre die Übergabe wohl so bald nicht erfolgt, und ich halte jetzt
+ all meine Mühe für verloren. Ich kann mich nur damit trösten, daß
+ ~alles~ zum besten dienen muß! Unverständlich ist und bleibt mir
+ die Handlungsweise des Li; er kennt mich hinreichend um zu wissen,
+ daß ein solches Verfahren mich aufbringen muß, und er handelte mit
+ nicht geringem persönlichem Risiko, denn meine Truppen waren in der
+ Nähe ....«
+
+Während von Regierungs wegen eine Untersuchung eingeleitet wurde,
+verhielt sich Gordon völlig unthätig in seinem Quartier, -- keine
+leichte Sache bei der Stimmung seines Korps. Li aber hatte sich weiß
+zu brennen gewußt; überhaupt wähnte man in Peking, das Hauptlob bei
+der Einnahme von Sutschau gebühre ihm. Gordon hatte allerdings eine
+Position nach der andern, die er mit seinen Siegreichen eroberte,
+mit Kaiserlichen besetzt. In Anerkennung dieser Thatsache erhielt Li
+mit der »gelben Jacke« die höchste militärische Auszeichnung. Doch
+erinnerte man sich auch des englischen Anführers. Ein kaiserlicher
+Erlaß bestimmte eine Medaille für den tapfern Tsung-Ping und außerdem
+ein Geschenk von siebzigtausend Mark.
+
+Diese Summe mit vielen andern Geschenken und der Versicherung der
+kaiserlichen Anerkennung wurde Gordon von Li übersandt, außerdem eine
+erhebliche Extra-Löhnung für seine Truppen und eine besondere Summe
+für die Verwundeten. Diese beiden letzten Beträge nahm Gordon an;
+die für ihn bestimmte Summe aber wies er mit Entrüstung zurück. Ja,
+als die buchstäblich mit Gold beladenen Schatzträger vor ihn traten,
+kommandierte er: rechts umkehrt mit seinem spanischen Röhrchen.
+Wahrlich keine schönere That läßt sich von dem »Zauberstab« berichten.
+Die Chinesen wußten sich nicht zu fassen vor Verwunderung. Wo war's
+erhört, daß einer solche Schätze von sich wies, und wer durfte es
+wagen, den kaiserlichen Gesandten mit dem Kommandostab zu begegnen!
+Der mit der Sendung betraute Mandarin brachte ihm außerdem vier
+seidene Fähnchen als Ehrengabe, zwei von Li und zwei von Wang-tetai,
+einem die Kanonenboote der Provinz befehligenden Mandarin. Li's
+Ehrengabe schickte Gordon zurück, die Fähnchen des Wang-tetai nahm
+er an, da derselbe nicht bei jenem Treubruch beteiligt war. Der
+kaiserliche Erlaß wurde auf gelbem Atlas feierlich auf einen mit zwei
+brennenden Kerzen versehenen Tisch gelegt und so zu Gordons Kenntnis
+gebracht. Eine Übersetzung war dem Schriftstück beigegeben. Auf die
+Rückseite derselben schrieb der uneigennützige Held stehenden Fußes
+folgende Antwort:
+
+ »Major Gordon nimmt Sr. Majestät des Kaisers huldvolle Billigung
+ mit Befriedigung entgegen, aber er kann es nur aufrichtig bedauern,
+ daß nach dem, was seit der Einnahme von Sutschau vorgefallen
+ ist, es nicht in seiner Macht steht, irgend welche Geschenke
+ kaiserlicher Gnade anzunehmen. Er entbietet kaiserlicher Majestät
+ seinen unterthänigsten Dank für die ihm zugedachte Belohnung, welche
+ abzulehnen man ihm gnädigst verstatten wolle.«
+
+In einem Brief an die Seinen spricht er sich so aus:
+
+ »Um die Wahrheit zu sagen, begehre ich weder Lohn noch Ehre, weder
+ von den Chinesen, noch von unserer Regierung. Auszeichnung habe ich
+ nie gesucht. Ich habe das Bewußtsein, ein gutes Werk zu vollbringen,
+ und fürs übrige gewährt mir mein Beruf an sich Befriedigung ...
+ Ich würde das kaiserliche Geschenk auch dann zurückgewiesen haben,
+ wenn es mit Sutschau anders gegangen wäre ... Ich weiß, daß ihr
+ Verständnis habt für meine Lage, die keine leichte ist, und daß
+ meine Erfolge Euch freuen. Die Rebellen sind ein grausames Volk. Der
+ Tschung Wang hat zweitausend hilflose Menschen umbringen lassen,
+ die nach der Ermordung der Wangs zu ihm flüchteten. Dem Li habe ich
+ übrigens einen Denkzettel angehängt, den er so bald nicht vergessen
+ wird.«
+
+
+ 4. Weitere Siege und das Ende des Aufstands.
+
+Die Enthauptung der Wangs hatte Gordons Lage in der That zu einer
+schwierigen gemacht. Seinen Kriegs- und Siegeszug nach der Gewaltthat
+zu Ende führen, hieß den Treubruch seiner Kollegen billigen, während
+andererseits seine bisherigen Erfolge vergeblich gewesen wären, wenn
+er alles weitere den Kaiserlichen allein überlassen hätte. Im Korps
+der Siegreichen gab es durch das zeitweilige Einstellen des Kampfes
+bereits bedenkliche Unruhen. Sechzehn Offiziere hatten kassiert werden
+müssen, während den Taipings offenbar der Mut wuchs. Gordon sah ein,
+daß er jetzt nicht mit seinen Gefühlen zu Rate gehen durfte, und
+beschloß deshalb, dem Gouverneur Li behufs weiterer gemeinschaftlicher
+Arbeit die Hand der Versöhnung zu reichen.
+
+In den Augen chinesischer Machthaber war die Hinrichtung der Wangs ein
+notwendiges Übel, und als Gordon bei ruhigerer Stimmung anhörte, was
+Li zu seiner Entschuldigung beibringen konnte, erschien ihm die That,
+wenn auch immerhin verabscheuungswürdig, doch minder ruchlos. Nach
+chinesischen Begriffen hätten die kapitulierenden Wangs sich nämlich
+alsbald wieder als Kaiserliche gebärden sollen; sie aber erschienen
+vor dem Gouverneur mit vollem Haarwuchs anstatt mit rasiertem Kopfe,
+sie kamen auch bewehrt, und ihre Haltung war die von Männern, die
+auch künftig noch zu herrschen gedachten. Das kam dem Li unerwartet.
+Die Unterhandlungen aber aus diesem Grund abbrechen, war keineswegs
+thunlich, ohne eine Katastrophe herbeizuführen. General Tsching,
+selbst ein Ex-Rebell, kannte seine Leute und hatte dem Li dringend zur
+Hinrichtung geraten. »Macht die Anführer unschädlich«, sagte er, »und
+die Hunderttausende ihrer Anhänger gelten für nichts; so allein ist
+Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.« Und so erfolgte die Hinrichtung.
+
+Um aber ehrlich und aufrichtig seinen Gang gehen zu können,
+machte sich nun Gordon auf den Weg zu Li und forderte ihn auf,
+eine Proklamation zu erlassen, die ihn von aller Teilnahme und
+Mitwissenschaft der Hinrichtung losspräche; alsdann wolle er den
+Kampf wieder aufnehmen. Es geschah, doch erst nachdem durch Hin-
+und Herschreiben zwischen dem englischen Bevollmächtigten und den
+chinesischen Behörden kostbare Zeit verloren gegangen war.
+
+ »Wenn ich meiner Neigung folgte,« schrieb Gordon damals an den
+ englischen Gesandten, »so würde ich das Kommando jetzt niederlegen.
+ Ich bin aus allen Gefahren unverletzt hervorgegangen, und schöne
+ Erfolge sind mein Lohn; aber das zusammengelaufene Volk, das unter
+ dem Namen der »stets siegreichen Armee« bekannt ist, ist eine
+ gefährliche Rotte, und ich halte es für meine Pflicht, das Korps
+ mit aller Vorsicht aufzulösen; so lange es aber besteht, soll es
+ der kaiserlichen Sache dienen ... Übrigens bin ich mir bewußt, daß
+ keinerlei persönliche Interessen mich bestimmen ....«
+
+Die Proklamation des Li war eine umfangreiche Darstellung der Dinge,
+die Gordon volle Gerechtigkeit widerfahren ließ. Am 19. Februar 1864
+zog dieser abermals ins Feld.
+
+Die westlichen Distrikte waren noch immer in den Händen der Taipings
+und von desperaten Rotten überlaufen. Eine von Sutschau durch Jesing,
+Lijang und Kintang westwärts gezogene Linie durchschneidet das
+Rebellenland in zwei Teile, mit Nanking am obern Ende und Hangtschau
+am untern. Gordon beschloß auf dieser Linie zu operieren, indem er
+Hangtschau einem französisch-chinesischen Heeresteil unter einem
+Offizier Namens d'Aiguibelle überließ, während einem Mandarin mit den
+Kaiserlichen die Belagerung von Nanking oblag.
+
+Strategisch war dies sehr wohl geplant, aber die Ausführung war
+mit Schwierigkeiten verbunden. Er verließ Kuinsan in Schnee und
+Hagelwetter. Bisher war Schanghai sein Proviantmagazin gewesen, jetzt
+in Feindesland war er lediglich auf sich selbst angewiesen, auch
+konnten seine Schiffe ihm nicht überall hin folgen. Überdies bestanden
+seine Truppen jetzt größtenteils aus Überläufern, die von Mannszucht
+nichts wußten.
+
+Über Wusieh am großen Kanal ging es zuerst nach Jesing, ein trostloser
+Zug durch Ländereien, welche die Taipings seit Jahren innegehabt und
+verwüstet hatten. Der Einwohner waren nur wenige übrig geblieben --
+ausgehungerte Skelette, die oft froh gewesen waren, an den Leichen
+Verhungerter ihren eigenen Hunger zu stillen. Jesing wurde eingenommen
+und Lijang, das nächste Ziel, ergab sich ohne Widerstand. An tausend
+Mann der Garnison wurden dem Korps einverleibt. Glücklicherweise war
+dieser Ort wohl verproviantiert, und Gordon that sein Möglichstes,
+es den ausgehungerten Landleuten zu gute kommen zu lassen. Von
+Lijang ging es nach Kintang. Hier schienen die Taipings entschlossen
+standzuhalten. Gordon traf seine Vorbereitungen zur Eröffnung einer
+Kanonade; als diese aber eben beginnen sollte, kam schlimme Kunde.
+Siebentausend Taipings aus Tschantschufu, einer Stadt nordwestlich von
+Sutschau, also in seinem Rücken, hatten die Kaiserlichen überflügelt,
+Fusan überrumpelt, bedrohten Wusieh und belagerten Tschanzu, wo Gordon
+seinen ersten Erfolg errungen hatte. Die Rebellen hatten somit wieder
+im Dreißig-Meilen-Umkreis Fuß gefaßt. Gordon beschloß aber, sich vor
+allen Dingen Kintangs zu versichern, wo eine ebenso grausame als
+hartnäckige Garnison zu überwältigen war.
+
+Eine dreistündige Beschießung erzielte eine Bresche und Gordon ließ
+stürmen. Aber der erste und zweite Angriff wurde zurückgeworfen. Und
+hier ereignete sich das in den Augen des Korps Unglaubliche: der
+»unverwundbare« Anführer erhielt einen Schuß in die Wade. Es war seine
+erste und einzige Verwundung. Einen seiner Gardisten, der neben ihm
+stand, hieß er schweigen und fuhr fort, seine Befehle zu erteilen, bis
+er vor Blutverlust fast ohnmächtig wurde. Daß auch der dritte Anlauf
+mißlang, war ohne Zweifel eine Folge von Gordons Verwundung, die ihre
+Rückwirkung nicht verfehlte. Nach einem Verlust von etwa hundert Toten
+und Verwundeten mußte sich das Korps nach Lijang zurückziehen!
+
+Hier gab es eine neue Unglückspost; kein anderer als der Getreue in
+Person hatte Fusan erobert. Nun hinderte zwar Gordon seine Verwundung
+am Stehen, aber er konnte auch liegend Krieg führen, und die Zeit
+drängte. Die Taipings erließen eine Proklamation um die andere, daß
+Schanghai ihr Ziel wäre, und daß sie Sutschau auf dem Wege dahin zu
+überfallen gedächten. Waren sie doch in Wusieh, keine drei Stunden
+von Sutschau entfernt! Trotz seiner Verwundung machte Gordon sich
+alsbald auf mit vierhundert Mann Artillerie und etwa sechshundert Mann
+Infanterie, welch letztere samt und sonders nur wenige Tage zuvor noch
+Rebellen gewesen, jetzt aber bereit waren, ihm überallhin zu folgen.
+»Man weiß nicht, was das Erstaunlichere ist,« ruft hier mit Recht ein
+englischer Berichterstatter aus, »ob der Mut, oder das Vertrauen des
+verwundeten Anführers!«
+
+Das überall zu Tag tretende Elend aber war über alle Beschreibung
+grauenhaft -- ausgehungertes Landvolk auf allen Seiten; die noch
+Lebenden hatten keine Kraft mehr, die Toten zu begraben, die überall
+die Luft verpesteten. »Es ist entsetzlich!« schreibt ein Augenzeuge,
+»von Kannibalen zu ~hören~ ist schlimm genug, aber mit eigenen
+Augen Tote zu ~sehen~, denen das Fleisch von den Knochen abgenagt
+ist, das übersteigt die menschliche Kraft. Man kann hier vor Ekel kaum
+mehr daran denken, seinen Hunger zu stillen. Die abgezehrten Leute
+machen Augen wie Wölfe und laufen den Booten nach in der Hoffnung,
+einigen Abfall zu finden.
+
+Die Taipings haben das Land rein ausgeplündert und alles Eßbare mit
+fortgeschleppt.«
+
+Mit unglaublicher Geschwindigkeit drängte Gordon indessen weiter, und
+aufs neue wurde nun Sieg um Sieg erfochten.
+
+Der letzte Schlag gegen die Rebellen geschah von Waisso aus. Die
+Taipings zogen sich auf Tschantschufu zurück, allerorts aber erhob
+sich das Landvolk in verzweifelter Rache, ihrer hunderte und tausende
+erschlagend. Tschantschufu wurde von Li belagert, und Gordon zog
+ihm mit dreitausend Mann zu Hilfe. Zwanzigtausend Taipings unter
+dem Hu Wang oder Schutzkönig, gemeinhin auch »Scheel-Auge« genannt,
+verteidigten die Stadt bis aufs Blut, sich tagelang wehrend. Aber
+Li hatte eine Proklamation erlassen, in welcher er allen, welche
+die Stadt verlassen würden, Pardon verhieß, den Hu Wang selbst
+ausgenommen, und siehe da -- die Überläufer kamen massenhaft.
+Schließlich erstürmte Gordon die Stadt; etwa fünfzehnhundert Taipings
+fielen, aber auch das siegreiche Korps litt große Verluste. Es war die
+letzte Kriegsthat desselben. Kurz vor der Einnahme der Stadt hatte
+Gordon an seine Mutter geschrieben:
+
+ »Ich werde mich natürlich versichern, daß der Aufstand wirklich
+ unterdrückt ist, ehe ich meine Leute heimschicke, da ich sonst eine
+ große Verantwortlichkeit auf mich laden würde .... Auf Weihnachten
+ hoffe ich bei Euch zu sein. Unsere Verluste innerhalb dieser
+ sechzehn Monate waren doch bedeutend: von hundert Offizieren sind
+ achtundvierzig tot oder verwundet, von dreitausendfünfhundert
+ Gemeinen an eintausend tot oder verwundet; aber ich habe die große
+ Befriedigung zu wissen, daß, soweit es in menschlicher Berechnung
+ liegt, es wohl keine sechs Monate mehr dauert, bis auch die letzte
+ Handbreit Erde den Rebellen unter den Füßen weggezogen sein wird,
+ während der Aufruhr sonst leicht noch sechs Jahre hätte dauern
+ können. Meine Beförderung und das Lob der Leute ist mir sehr
+ gleichgültig, und im übrigen werde ich China so arm verlassen als
+ ich es betreten habe, doch darf ich das Bewußtsein mit mir nehmen,
+ daß ich als schwaches Werkzeug dazu dienen durfte, achtzig- bis
+ hunderttausend Menschenleben zu erhalten. Ich brauche keinen anderen
+ Lohn. Die Rebellen von Tschantschufu gehören zu den ursprünglichen
+ Anstiftern, und obgleich manch Unschuldiger mit dabei sein mag, so
+ verdienen sie doch im allgemeinen das Los, das ihrer harrt. Hättest
+ Du eine Vorstellung von den haarsträubenden Grausamkeiten, die sie
+ verübten, so würdest Du wohl auch mit mir sagen: Strafe muß sein. Es
+ sind meist Ausreißer von Sutschau, Kuinsan, Taisan, Wusieh, Jefing u.
+ s. w., die sich hier schließlich zur Wehre setzen; sie halten täglich
+ mehrere Dutzend Hinrichtungen ab, um die mit ihnen in der Stadt
+ Eingeschlossenen an der Flucht zu hindern.«
+
+Am 11. Mai, zwei Stunden nach der Einnahme von Tschantschufu, sandte
+er in aller Eile folgenden mit Bleistift geschriebenen Brief ab:
+
+ »Liebste Mutter! Tschantschufu wurde um zwei Uhr heute von meinen
+ Truppen und den Kaiserlichen erstürmt. Übermorgen kehre ich nach
+ Kuinsan zurück und werde nicht mehr zu Feld ziehen. Die Rebellen sind
+ jetzt geliefert; sie haben nur noch Tajan und Nanking. Tajan wird
+ wohl in diesen Tagen fallen und Nanking kann sich höchstens noch zwei
+ Monate halten. Es freut mich, Dir zu sagen, daß ich wohlbehalten aus
+ dem Kampfe gekommen bin.
+
+ Dein treuer Sohn
+
+ C. G. G.«
+
+Nach Kuinsan zurückgekehrt, fand er daselbst die Nachricht vor, daß
+die Kabinetsordre, die es einem britischen Offizier verstattete,
+unter der chinesischen Regierung zu dienen, aufgehoben war. Es war
+ein Glück für China, daß Gordons rasche Züge das Werk in der kurzen
+Zeit vollbrachten; die letzte morsche Stütze des Taipingtums konnte
+ohne ihn zusammenbrechen. Mehrere feste Plätze der Rebellen ergaben
+sich ohne weiteres auf die Kunde hin, daß Tschantschufu gefallen sei.
+Nanking allein hielt noch aus, trotz Hungersnot. Aber Gordon konnte
+dem endlichen Sieg dort nicht ohne Besorgnis entgegensehen, galt es
+doch den Bestand seiner errungenen Erfolge. Er machte sich daher
+selbst nach Nanking auf den Weg, wo Tseng Kwo-fan kommandierte. Von
+einer Anhöhe oberhalb des Porzellanturmes besichtigte er die Stadt.
+Die Mauer war vierzig Fuß hoch und dreißig Fuß breit. Er sah, wie
+einige Taipings sich an Stricken herunterließen, um außerhalb Linsen
+zu sammeln; man wehrte es ihnen nicht. Innerhalb der Stadt waren große
+leere Plätze, und an vielen Stellen waren die Wälle ganz verlassen.
+Die kaiserliche Belagerungslinie erstreckte sich weithin mit einer
+doppelten Reihe von Schanzen und einhundertvierzig Lehmforts, je
+achtzehnhundert Fuß von einander entfernt und mit je fünfhundert Mann
+Besatzung.
+
+Seine »stets siegreiche Armee« verabschiedete nun Gordon auf eigene
+Verantwortung, jedoch im Einverständnis mit Li. Er entledigte
+sich dieser seiner letzten Pflicht mit derselben Festigkeit und
+Selbstlosigkeit, die ihn durchweg gekennzeichnet hat. Er behielt
+sich vor, Offiziere wie Gemeine nach Verdienst zu belohnen, und die
+chinesische Regierung gestattete ihm dies um so bereitwilliger, als er
+für sich selbst auf allen Lohn verzichtete. Jeder Offizier, der eine
+Verwundung davongetragen hatte, erhielt die Summe von achtzehntausend
+Mark; die andern je nach Verhältnis. Ein Preuße, Namens Schamroffel,
+der bei Sutschau um beide Augen kam, erhielt zweiunddreißigtausend
+Mark. Die nicht verwundeten Gemeinen erhielten je einen Monat
+Löhnung und Reisegeld in ihre Heimat. So wurde die stets siegreiche
+Armee aufgelöst, die während der sechzehn Monate unter Gordons
+Oberbefehl vier Hauptfestungen und ein Dutzend befestigte Plätze
+eingenommen und in einer Reihe von Gefechten eine Anzahl von Feinden
+außer Kampf gesetzt hatte, die, gering gerechnet, fünfzehnmal ihre
+eigene Streitkraft überstieg. Und der Aufruhr, dem sie in voller
+Blüte entgegengetreten, lag nun in den letzten Zügen: die hungernde
+Hauptstadt des Usurpators konnte sich nicht mehr lange halten.
+
+Die kaiserliche Regierung hatte Gordon eine stattliche Belohnung
+zugedacht -- zweimalhunderttausend Mark; allein er wies sie zurück wie
+vorher die siebzigtausend Mark. Und selbst von seiner während der 16
+Monate bezogenen Besoldung hatte er den größten Teil nicht für sich,
+sondern für seine Soldaten ausgegeben. Mit Recht konnte er sagen: ich
+verlasse China so arm wie ich es betreten!
+
+Li that was er konnte, seinem scheidenden Freunde mit Auszeichnung
+zu begegnen. Nie war ihm ein solcher Mann in seinem eigenen Volke
+vorgekommen, und die Ausländer, mit denen er zu thun gehabt, waren
+immer Leute gewesen, die sich für etwaige Dienste gut hatten bezahlen
+lassen. Nun lernte er die menschliche Natur von einer ganz neuen
+Seite kennen -- daß es die vom Christentum durchdrungene, erneute
+menschliche Natur war, verstand der Chinese nicht -- und eine
+lebenslängliche Bewunderung und Liebe für unseren Helden war das
+Ergebnis. Li hat es bis heute nicht vergessen, daß Gordon ihn einst
+im höchsten Zorn mit der Pistole verfolgte, weil er sich durch
+Wortbrüchigkeit eine That hatte zu Schulden kommen lassen, die der
+edle Sinn des Briten nicht verwinden konnte.
+
+Es bereitete der kaiserlichen Regierung einen ordentlichen Kummer,
+daß Gordon sich nicht lohnen lassen wollte; ihn nach Möglichkeit zu
+ehren, war ihr deshalb ein Anliegen. Er wurde zum Range eines Ti-tu
+erhoben, d. h. zur obersten Mandarinenwürde, auch erhielt er die gelbe
+Jacke mit der Pfauenfeder, was den höchsten Orden im europäischen
+Sinne gleichkommt. »Mir liegt nichts an diesen Dingen,« schreibt er
+an seine Eltern, »aber ich weiß, daß sie Euch Freude machen,« und er
+nahm sie an, wie auch eine goldene Kette, die Prinz Kung von seinem
+eigenen Halse löste mit den Worten: »Dies wenigstens sollen Sie mir
+nicht abschlagen!« Gordon ließ sich die Kette umhängen, aber es
+erging dieser Kostbarkeit nicht besser als manchen anderen, die er
+erhalten hat. Auf der Heimreise nämlich begab es sich, daß für eine
+arme Soldatenwitwe gesammelt wurde. Gordon ging in seine Kajüte,
+und da er fand, daß seine Barschaft ihm nur eben bis in die Heimat
+reichen würde, kam er mit jener Ehrenkette zurück und legte sie
+stillschweigend auf den Teller der Witwe. Ja, selbst eine Medaille,
+welche die Kaiserin-Mutter von China ihm mit ihrem besonderen Dank
+übersandte und die er werthielt, verschwand nach einiger Zeit aus
+seinem Besitz. Nicht einmal seine nächsten Angehörigen wußten,
+was daraus geworden. Nach Jahren verriet es ein Zufall. Bei einer
+Hungersnot unter den Fabrikarbeitern in Manchester, welche infolge
+der Baumwollenkrisis während des amerikanischen Krieges ausgebrochen
+war, hatte Gordon, dessen Kasse oft durch Liebeswerke erschöpft
+war, sich seiner Medaille erinnert. Er vertilgte die Inschrift und
+sandte die schwere Goldmünze als Beitrag an einen Geistlichen jener
+Stadt. Einer, der ihn persönlich kannte, sagt von ihm, daß er sich
+stets grundsätzlich von Dingen trennte, die ihm wert waren oder die
+irgendwie der Eigenliebe Vorschub leisten konnten. »Man muß sich auch
+von seinen Medaillen trennen können,« war späterhin in Freundeskreisen
+eine Redensart von ihm. In einem seiner Sudanbriefe aus dem Jahr
+1874 findet sich folgende Stelle: »Wie ist mir's gelohnt worden, daß
+ich damals die Inschrift (jener Medaille) vertilgte, tausendfältig
+gelohnt! Es giebt jetzt nichts mehr auf der Welt, woran mein Herz
+hängt. Ihre Ehren? sie sind hohl. Ihr sonstiger Tand? mir ganz
+gleichgültig. So lang ich lebe, schätze ich die Gottesgabe Gesundheit,
+das ist Reichtum genug.«
+
+Prinz Kung ließ Gordon nicht ziehen, ohne ein chinesisches Zeugnis
+seiner Tüchtigkeit an die englische Regierung zu senden. »Wir wissen
+uns nicht zu helfen,« sagte dieser Fürst zum britischen Botschafter,
+»er nimmt kein Geld an, und was wir an Ehren ihm verleihen können,
+ist geschehen; aber auch dies schlägt er gering an, und deshalb
+habe ich Ihnen dies Schreiben an die Königin von England gebracht,
+damit sie ihm einen Lohn gebe, der vielleicht mehr gilt in seinen
+Augen.« Des Lobes und der Dankbarkeit in diesem Schreiben war in der
+That kein Ende, und die Zuschrift an die britische Majestät schloß
+mit den Worten: »Der Titel Ti-tu verleiht ihm den höchsten Rang in
+der chinesischen Armee; der Prinz möchte aber hiermit die Hoffnung
+aussprechen, daß wenn die englische Regierung dem Heimkehrenden irgend
+welche Ehrenbeförderung kann zukommen lassen, der britische Minister
+es nicht unterlassen möge, solche zu befürworten, damit alle Welt
+erkenne, daß seine Heldenthaten und seine persönlichen Eigenschaften
+nicht hoch genug zu schätzen sind.«
+
+Der chinesische Brief soll irgendwo »zu den Akten« gelegt worden
+sein, ohne seine Bestimmung zu erreichen. Die Anerkennung seitens
+der englischen Regierung war jedenfalls eine sehr langsame. Dem
+damaligen Kriegsminister soll sogar der Name des Oberstleutnant
+Gordon ganz unbekannt gewesen sein! Dafür ließ die Stimme des
+Volkes sich hören, und »Chinesen-Gordon« lautet der aus jener Zeit
+stammende Ehrentitel, der unserem Helden im Volksmund noch immer
+anhängt. »Nie,« sagte die Times in jenen Tagen, »hat ein sogenannter
+Glückssoldat[4] ein feineres Verständnis für die militärische
+Ehre an den Tag gelegt, als der Mann, der nach einer Reihe von
+glänzenden Siegen soeben sein Schwert niedergelegt hat. Sein Heldenmut
+gegenüber den Widerstandleistenden, seine Barmherzigkeit gegen die
+Überwundenen werden nur durch sein selbstloses Außerachtlassen alles
+dessen überboten, was ihm persönlichen Gewinn hätte bringen können
+... Das Ergebnis seines chinesischen Feldzugs läßt sich kurz dahin
+zusammenfassen: er fand die fruchtbarsten Distrikte Chinas verwüstet
+und in den Händen von räuberischen Rebellen. Die reichen Gegenden der
+Seidenzucht waren eine Stätte barbarischer Greuel; den altberühmten
+Städten Hangtschau und Sutschau drohte das Los Nankings, sie waren
+nahe daran, im Besitze der Rebellen zu Grunde zu gehen. Gordon hat
+den Aufstand mitten entzweigeschnitten, die Städte erobert, die
+Räuberhorden aufgelöst; und all dies nicht nur durch die Macht seines
+Schwertes, sondern vielfach durch die bloße Wirkung seines Namens.«
+
+Sein Tagebuch hatte er vor seiner Abreise nach Hause gesandt.
+
+ »Ich wünsche aber keine Veröffentlichung,« schreibt er dazu, »je
+ bälder diese Geschichte vergessen ist, desto besser; ich weiß
+ nämlich durchaus nicht, ob wir (die Engländer) ein Recht hatten uns
+ einzumischen. Meinesteils bin ich ruhig im Gedanken, ein Werk der
+ Menschlichkeit vollbracht zu haben, doch kann ich nicht erwarten, daß
+ Fernstehende es eben so ansehen und billigen.« --
+
+Gordon war dringend nach Peking eingeladen worden, aber er lehnte die
+Aufforderung ab, wohl wissend, daß man ihn dort mit fürstlichen Ehren
+empfangen würde. In Schanghai aber hielt er sich vor der Abreise noch
+eine Zeit lang auf, um den Chinesen einigermaßen zu einer Armee nach
+europäischem Begriff zu verhelfen.
+
+ »Ich mache hübsche Fortschritte, die chinesischen Offiziere
+ einzuüben,« heißt es in seinem letzten Brief aus China, »es geht
+ leichter, als ich dachte!«
+
+Und in eben jenen Tagen, während er als einfacher Exerziermeister
+sich bestrebte, Nützliches zu hinterlassen, fiel Nanking. Jeden Fuß
+breit, bis in den Palast des himmlischen Königs, verteidigten die
+Taipings mit verzweifeltem Mut. Hung hatte seit Monaten in seiner
+Teilnahmlosigkeit verharrt, die man nur als eine Phase seines
+Wahnsinns betrachten kann. Es durfte ihm niemand sagen, daß die Stadt
+sich nicht werde halten können; und bis zuletzt bestand er auf seiner
+göttlichen Herkunft. »Ich bin der Herr von zehntausend Völkern,
+wen sollte ich fürchten?« rief er. »Ich habe Befehl von Schang-ti
+(Gott) und von Jesus selbst, dies Reich zu regieren.« Als der Getreue
+ihm einst dringend zur Flucht riet, entgegnete er: »Fürchtest du
+den Tod? Ich, der wahre Herr, kann ohne Truppen bestimmen, daß
+das Reich des großen Friedens sich bis an die äußersten Grenzen
+erstrecke.« Die Berge, die Ströme, die Völker seien sein, sagte
+er; und ließ die andern Wangs für sich kämpfen und seine Minister
+schalten und walten, wie sie wollten. Nur in ~einem~ war er
+unerbittlich: nie durfte man ihn anders als in religiösen Phrasen
+und mit kriechender Unterwürfigkeit anreden. Einem die Haut bei
+lebendigem Körper abziehen, war von Anfang an seine Lieblingsstrafe
+gewesen; jetzt wollte er jeden dazu noch gevierteilt sehen, der es
+unterließ, von ihm anders als von dem »Himmlischen« zu reden. Die
+letzten Monate seines unglücklichen Daseins verbrachte er unter seinen
+Weibern mit religiösen Andachten. Als man ihm mitteilte, daß nur die
+allerwohlhabendsten Leute der Stadt noch zu essen hätten, erließ er
+eine Verordnung, daß die anderen sich von »duftenden Kräutern« nähren
+sollten, wozu er selbst ein gutes Beispiel zu geben wähnte, indem er
+Gemüse aus dem königlichen Garten zur Tafel befahl.
+
+Der getreue Wang wußte wohl, wie es stand, aber Untreue gegen seinen
+Herrn scheint ihm nie als eine Möglichkeit vorgeschwebt zu haben. Nach
+dem Fall von Sutschau war er zum letztenmal nach Nanking zurückgekehrt
+in der Hoffnung, diese Stadt abermals zu entsetzen. Ihm selbst gelang
+es, Eingang zu finden, aber seine Truppen hatte er eingebüßt, weil
+es weithin an allem Proviant gebrach. Zu Ehren dieses Mannes sei's
+gesagt, daß er sich mit Aufbietung all seiner Kräfte und Mittel nun
+bestrebte, die Eingeschlossenen vor dem Verhungern zu schützen. Er
+erzählt in seinem Tagebuch, daß man sich täglich dem Himmlischen zu
+Füßen werfe, aber dieser gestattete keinem, das Wort Übergabe auch
+nur in den Mund zu nehmen. Den Rat des Getreuen, die Weiber und
+Kinder fortzulassen, verachtete er und wandte sich dem Schildkönig
+zu. Der Getreue aber that heimlich was er konnte, und zu tausenden
+verließen Weiber und Kinder die Stadt. Der kaiserliche General Tseng
+nahm alle auf und ließ ihnen Nahrung reichen. Der Schildkönig war ein
+Banditenanführer, und täglich gab es Mord und Totschlag unter den
+unglücklichen Taipings.
+
+Die Tage des großen Friedens waren gezählt. Ob der tolle Schulmeister
+wohl je an seine Jugend zurückdachte, da er noch von keinem anderen
+Ehrgeiz beseelt war, als im Examen zu bestehen? Ob er sich sein
+bisheriges Leben vergegenwärtigte? Ströme von Blut bezeichneten seine
+Laufbahn durch die Länge und Breite des blumigen Landes. Friedliche
+Städte hatte er in Räuberhöhlen verwandelt, fruchttragende Felder in
+Wüsteneien. Und nun das Maß voll war und er inmitten seiner wilden
+Horden dem sicheren Tod ins Auge sah, krönte er sein entsetzliches
+Leben damit, daß er eigenhändig seine Weiber aufhängte und dann Gift
+nahm.
+
+Nach seinem Tod bestieg sein ältester Sohn, Hung Fu-tien, als der
+»junge Herr« den angeblichen Thron; der aber war ein sechzehnjähriger
+Jüngling, in vollständiger Unwissenheit aufgewachsen. Die Belagerer
+bedrängten die Stadt mehr und mehr. Am 8. Juli wagte der Getreue einen
+Ausfall, wurde aber zurückgeschlagen; am 19. gelang es den Belagerern,
+mittelst einer Riesenmine, die vierzigtausend Pfund Pulver enthalten
+haben soll, die Mauer zu sprengen; sie drangen unaufhaltsam in die
+Stadt. Der Getreue leistete zum letztenmal Widerstand, aber die Stunde
+der Taipings war gekommen; bis Mitternacht hatte er noch den Palast
+des Tien Wang verteidigt, um den »jungen Herrn« und seine weinenden
+Angehörigen zu schützen, und als alles zu Ende ging, hatte er den
+Palast und seine eigene stattliche Wohnung in Brand gesteckt. In der
+allgemeinen Verwirrung, zwischen Feuer, Totschlag und Fluchtversuchen,
+legte er eine letzte Probe seiner seltenen Treue ab, indem er den
+»jungen Herrn«, der mit zwei seiner Geschwister ihn flehentlich um
+Rettung bat, auf sein eigenes tüchtiges Pferd setzte, während er
+selbst auf einem ausgehungerten Klepper zu entfliehen versuchte.
+»Obgleich der Tien Wang dahin war und alles verloren,« heißt's
+in seinem Tagebuch, »so konnte ich doch als einer, dem er einst
+wohlwollte, nicht anders, als wenigstens den Versuch machen, seinen
+Sohn zu retten.« Daß der Tien Wang ihm schließlich nur mit Undank
+gelohnt hatte, schien dieser Edelste der Taipings in seiner schönen
+Hingabe vergessen zu haben.
+
+Es gelang dem »jungen Herrn« sowie auch dem Getreuen und dem
+Schildkönig, mit etwa tausend anderen zu entkommen; sie wurden aber
+bald von einander getrennt. Als der Getreue fand, daß sein Tier ihn
+nicht mehr tragen konnte, suchte er Schutz in einem Tempel; dort
+wurde er von Landleuten erkannt, die ihn knieend baten, sich den
+Kopf rasieren zu lassen und verkleidet zu entfliehen. »Ich bin der
+Diener eines Königs, der nicht mehr ist,« entgegnete er, »es wäre ein
+Unrecht an den Gefallenen, ließe ich mir das Haar scheren.« Er fiel
+in die Gefangenschaft der Kaiserlichen und wurde samt dem Schildkönig
+enthauptet. Während der letzten Tage seines Lebens schrieb er seine
+Erinnerungen, die in gedrängter, klarer und durchaus glaubhafter
+Darstellung den ganzen Aufstand schildern.
+
+Was den »jungen Herrn« betrifft, so brachte des Getreuen Pferd ihn
+in vorläufige Sicherheit. Aber weder seine Erziehung noch sein
+genußsüchtiges Leben in der Gesellschaft seiner jungen Königinnen
+hatten ihn dazu geschickt gemacht, mit dem Unglück zu kämpfen. Nachdem
+er sich etliche Wochen im Gebirg herumgetrieben und angefangen, im
+Hunger sich den Tod zu wünschen, fiel auch er den Kaiserlichen in die
+Hände. Trotz seiner inständigen Bitte, ihn am Leben zu lassen, »damit
+er noch etwas lernen könne und sein Examen mache,« wurde er alsbald
+hingerichtet.
+
+Im November des Jahres 1864 schickte sich Gordon zur Heimreise an.
+Die Kaufleute von Schanghai faßten seine Verdienste um China in einer
+äußerst anerkennenden Denkschrift zusammen, die besonders auch darauf
+Wert legt, daß seine edle Selbstlosigkeit viel dazu beitragen werde,
+die Chinesen von ihrem Mißtrauen gegen alle Ausländer zu heilen. Als
+Gordons Tod bekannt wurde, kamen Zeugnisse aus dem fernen China, daß
+man seiner dort in Liebe gedenke; und als Gordon in Khartum gefallen
+war, da schickten der Kaiser und Li und andere, die ihm ihren Dank
+bewahrt hatten, erhebliche Beiträge zu dem Gedächtnisfonds, damit ein
+würdiges Denkmal für den Helden erstehe.
+
+Aber das schönste Zeugnis stellt ihm ein Taipingführer aus, der nach
+dem Fall von Sutschau geschrieben hat: »Fern sei es zu behaupten, daß
+Gordon um die Greuelthaten wußte. Bei aller Kenntnis des brutalen
+Verfahrens, dessen mancher, den Namen Engländer entehrend sich
+schuldig macht, glauben wir doch keinen Augenblick, daß der ehrenwerte
+Anführer der Armee, die sich die siegreiche nennt, jene mörderischen
+Greuel guthieß ... Wir wissen, daß Gordon es stets bitter beklagte,
+wenn Grausamkeiten verübt wurden, die er nicht verhindern konnte, und
+daß in seinem Herzen der Gedanke brennen muß, wie in seinem Heimatland
+solche Greuel vielleicht ihm zur Last gelegt werden. Möge es ihm eine
+Genugthuung sein zu wissen, daß unter seinen Feinden, die lieber seine
+Freunde wären, jene Thaten ihm nicht zugerechnet werden. Gefiele es
+doch dem Himmel, daß irgend ein unwürdiger Abenteurer seine Stelle
+einnähme, einer, den man nicht betrauern müßte, wenn er erschlagen
+würde! Statt dessen kann ich es bezeugen und habe es mehrmals mit
+eigenen Augen gesehen, wie im Schlachtgetümmel einem niederträchtigen
+Engländer, den Geldgier in unsere Reihen führte, die Flinte aus der
+Hand geschlagen wurde, wenn er von gedecktem Standpunkt aus auf den
+stets furchtlos sich bloßstellenden Gordon zu zielen sich unterstand.
+Und der solchem Meuchelmord wehrte, war immer einer unserer Anführer,
+ja einmal kein anderer als der Schildkönig selbst!«
+
+
+
+
+ Drittes Buch.
+
+ In der Stille.
+
+
+»Es ist einer auf dem Heimweg,« schreibt Gordon an seine Mutter im
+November 1864, »aber es ist ihm nicht darum zu thun, daß es bekannt
+werde.« Gefeiert zu werden war, wie wir wissen, nicht nach seinem
+Geschmack; wozu auch? meinte er, er habe nur seine Pflicht gethan.
+Der Geschichtschreiber der stets siegreichen Armee sagt, daß er über
+die Persönlichkeit Gordons von ihm selbst wenig Auskunft erhalten
+und daß der Leser, in dem die Berichte von Krieg und Sieg mit der
+Verherrlichung Gordons unwillkürlich zusammenfließen, sich ohne
+Zweifel wundern würde, wenn er den jungen Mann und seine ruhige,
+zurückgezogene Art sehen könnte. Freude an energischer Thätigkeit,
+Selbstaufopferung und Pflichtbewußtsein seien offenbar die Triebfedern
+seines Wesens. Äußerlich aber habe der tief fromme Soldat nichts von
+all dem an sich, was sonst den kühnen Anführer einer irregulären
+Soldateska kennzeichne.
+
+Kaum war Gordon im Kreise der Seinigen in Southampton angelangt, da
+regnete es auch schon Einladungen aus der vornehmen Welt. Er hatte
+den Mut, sie alle abzulehnen. Im engen Familienkreise nur ließ er
+sich herbei, seine chinesischen Erlebnisse zu beschreiben; und die
+so glücklich waren, es mit anzuhören, fanden die Berichte fast
+märchenhaft, fast wie eine Heldensage aus vergangener Zeit. Mit
+Ingrimm konnte er da wohl die Greuel des Rebellentums beschreiben,
+aber seine Stimme wurde stets leise, wenn von Sieg die Rede war, denn
+dann gewann neben der Bescheidenheit des Erzählers Mitleid mit den
+Überwundenen die Oberhand. Niedergeschrieben wurde nichts von all dem,
+außer was bewunderndes Interesse in die Herzen der Hörer eingrub.
+Selbst das Tagebuch, das Gordon aus China nach Hause gesandt hatte,
+fiel seiner Demut zum Opfer. Er wünschte keine Veröffentlichung, wie
+er bei der Übersendung schrieb. Leihweise fand es indessen seinen Weg
+in die Hände eines der Minister, und dieser war daran, es privatim
+drucken zu lassen, damit seine Kollegen es auch lesen könnten. Eines
+Abends hörte Gordon zufällig davon und begab sich stehenden Fußes nach
+der Wohnung des betreffenden Herrn, traf ihn aber nicht zu Hause; doch
+erfuhr er den Namen des Druckers, eilte zu diesem und verlangte sein
+Manuskript zurück mit dem Befehl, das bereits Gesetzte zu zerstören.
+Was jenes Tagebuch betrifft, so hat es niemand je wieder gesehen.
+»Ich besitze wenig auf der Welt,« pflegte er zu sagen, »meinen Namen
+könnten die Leute mir jedoch als Privateigentum lassen«. Von wie viel
+tausend Zungen ist der Name Gordon seither mit Bewunderung genannt
+worden!
+
+Im folgenden Jahre wurde ihm die Ernennung als königlicher
+Ingenieur-Kommandant zu Gravesend, wo in Aussicht auf einen möglichen
+Krieg mit Frankreich neue Forts an der Themse aufgeführt werden
+sollten. In Anerkennung seiner Verdienste erhielt er um diese Zeit
+den Ritterorden +of the Bath+.[5] Er war mittlerweile zum
+Oberst-Leutnant avanciert.
+
+In Gravesend war er sechs Jahre, die schönste Zeit seines Lebens
+-- arm nach außen in den Augen der Welt, reich nach innen an den
+christlichen Früchten der Hingabe und zwar unbewußter Hingabe und der
+edelsten reinsten Menschenliebe. Er selbst hat es ausgesprochen, daß
+es die glücklichsten, friedlichsten Tage seiner Wallfahrt waren, und
+damit giebt er sich selbst ein hohes Zeugnis. Wie ergreifend, wie
+herrlich ist das Bild des Mannes, der Thaten vollbracht wie wenige und
+der nun seine ganze Freude darin findet, in der Stille an den Armen,
+den Kranken, den Verlassenen, den leiblich und geistig Darbenden Gutes
+zu thun. Als eine Art Heiliger soll der Mann keineswegs gezeichnet
+werden; das wäre eine Übertreibung, die er selbst am meisten beklagt
+hätte. Er hatte seine Gebrechen wie alle Menschen, so unterlag er z.
+B. hin und wieder seiner Heftigkeit; seine Gleichgültigkeit gegen das
+Urteil der Leute grenzte zuweilen ans Rücksichtslose, und wenn er sich
+eine Meinung in den Kopf gesetzt hatte, so war es nicht immer leicht,
+ihn eines anderen, vielleicht besseren, zu belehren; trotzdem aber
+kann der Leser aus folgenden Zügen reichlich erkennen, daß Christus in
+diesem Manne eine Gestalt gewonnen hatte, die den meisten Menschen,
+ja den meisten Christen ein beschämendes, aber andererseits auch
+aufmunterndes Beispiel sein kann.
+
+Gordon war ein ideal angelegter Mensch, aber das Ideale wurde in ihm
+sofort real, praktisch. Sein Christentum war kein enges, frömmelndes,
+sondern eine große, tiefe, treue Liebe zu seinem Heiland, die alle
+Menschen als Brüder umschloß, ein rechter Israeliter, in welchem kein
+Falsch ist! Ob und wann es in seiner Lebensentwicklung einen Zeitpunkt
+gab, den man seine »Bekehrung« nennen könnte, ist nicht ersichtlich
+-- ernste Eindrücke empfing er schon in Pembroke; das aber ist nicht
+zu verkennen, daß ihm Gravesend zum Patmos wurde, wo sein Glaube sich
+höher schwang und seine Liebe sich vertiefte, wo er nach dem Worte
+lebte: »Simon Johanna, hast du mich lieb? Weide meine Schafe.«
+
+Er lebte nur für andere. Sein Haus -- und es war ein großes, viel zu
+groß für seine bescheidenen Junggesellenbedürfnisse -- war Schule,
+Kranken- und Armenhaus in einem; ein zufälliger Besucher hätte es
+eher für die Behausung eines Stadtmissionars gehalten als für die
+Dienstwohnung eines Offiziers. Kein Notleidender klopfte je vergebens
+an seine Thür; alle Hilfsbedürftigen hatten ein Anrecht an ihn, aber
+am meisten zog sein Herz ihn zu den sogenannten Straßenjungen. Nie
+ging er an einem vorüber ohne ihn anzureden. Er lud sie ein, zu ihm
+zu kommen, und versammelte sie bei sich in Klassen, wozu mehr als
+ein Zimmer seines Hauses herhalten mußte. Die ganz verkommenen und
+heimatlosen behielt er eine Zeit lang bei sich, kleidete und reinigte
+sie, um sie dann, am liebsten als Schiffsjungen, unterzubringen. Er
+nannte sie seine »Könige« -- als Deutscher hätte er wohl »Prinzen«
+gesagt. Einer seiner Bekannten, der ihn einmal besuchte, wunderte
+sich, warum auf der Weltkarte in seinem Arbeitszimmer so viel
+Stecknadeln mit Fähnchen angebracht waren, und erfuhr dann, daß
+Gordon auf diese Weise seine »Prinzen« auf ihren Fahrten begleite;
+und er vergaß keinen in seiner täglichen Fürbitte. Seine Prinzen
+vergalten ihm die Liebe aber auch mit begeisterter Anhänglichkeit. Sie
+vertrauten ihm und lernten von ihm mit der Wahrheit umgehen; und wenn
+einer Unrecht that, so wußten sie, daß sein Mitleid immer größer war
+als sein Mißfallen. Drei der Jungen hatten einmal das Scharlachfieber
+in seinem Hause; er pflegte sie und verbrachte mehrere Stunden der
+Nacht an ihrem Bette.
+
+Auch die Armenschule besuchte er; an den Sonntag-Nachmittagen konnte
+man ihn sicher daselbst antreffen, und die es mit Augen gesehen
+haben, sagen, kein erhebenderes Bild lasse sich denken als den Helden
+Chinas, der den armen Kindern mit heiliger Wärme biblische Geschichten
+erzählte, ja mit einer Begeisterung, als führe er sie durch Kampf zum
+Sieg. Für jedes einzelne interessierte er sich persönlich, kannte ihre
+Lage, ihre Sorgen, suchte sie in ihrer Armut auf und ließ sie zu sich
+kommen. Der Armenschule in Gravesend hat er auch seine chinesischen
+Trophäen geschenkt, nämlich die seidenen Fahnen, die seine Siege
+bekundeten. Ein anderer hätte sie allenfalls einem Monarchen zu Füßen
+gelegt; ihn freute es, daß seine Armenschüler damit eine Auszeichnung
+gewannen. Mehr als einer jener armen Jungen, der jetzt ein gemachter
+Mann ist, und, was besser ist, ein Christ, dürfte ein schöneres
+Denkmal für den gefallenen Helden sein, als irgend eines, das seine
+Nation ihm zu errichten vermöchte.
+
+Einer seiner »Prinzen« schreibt unterm 12. März 1885: »Nichts freut
+mich mehr, als es bezeugen zu dürfen, was der liebe gute General
+für mich und andere gethan hat, während er in Gravesend lebte. Zu
+der Zeit, als ich in seinem Hause Aufnahme fand, traf ich dort noch
+eine Anzahl anderer Jungen, die alle gleich mir kränklich waren;
+unsere Eltern hatten nicht die Mittel, uns hinreichende Nahrung
+zu gewähren. Der General aber hatte uns fast täglich bei sich zum
+Mittag- und Abendbrot, und wir durften mit ihm am selben Tisch essen.
+Drei von uns (darunter ich), die es am nötigsten hatten, schickte
+er in das Seebad-Krankenhaus nach Margate, wo er je 16 und 18 Mark
+wöchentlich Kostgeld für uns zahlte. Ich war ein volles halbes Jahr
+dort, die beiden anderen, ein Junge und ein Mädchen, jedes drei
+Monate. Ich danke jetzt noch dem lieben Gott dafür; denn von jener
+Zeit datiert meine Gesundheit ... Später hat er mich auch auf einem
+Schiff untergebracht und die Lehre bezahlt; ich kann ihm nie genug
+danken. Ein anderer Junge, der mit mir dort war, ist jetzt Lotse, und
+das verdankt er auch dem General ... Es drängt mich, dies bekannt zu
+machen als ein Beispiel von dem, was der liebe General an vielen that.
+»Seine Jungen« nannte er uns. Kaum ein Abend verging, daß er nicht
+ein Dutzend von uns bei sich hatte, meist Fischerjungen, die nicht
+zur Schule gehen konnten; er unterrichtete uns, und wenn das Lernen
+vorbei war, durften wir Domino oder Schach spielen, und im Sommer
+gab es Cricket. Wenn die Jungen alt genug waren, brachte er sie auf
+Kauffahrteischiffen unter, manchmal auch in der Marine. Keinen ließ er
+gehen, ohne ihn mit der nötigen Kleidung zu versorgen.«
+
+Auch später, als Gordon selbst wieder in weite Ferne zog, verlor
+er keineswegs das Interesse an seinen »Prinzen«. Mit manchen
+korrespondierte er, nach anderen erkundigte er sich, und wo Hilfe not
+that, schickte er auch Geld. Hier sind einige Sätze aus einem der
+vielen Briefe, die er an einen Freund in Gravesend richtete:
+
+ Galatz, 27. Februar 1872.
+
+ »Es freut mich zu hören, daß Georg P. verheiratet ist und daß Billy
+ Arbeit gefunden hat ... Ich habe meinen Wagen und die Pferde verkauft
+ -- ganz unnötiger Luxus ... Meine Grüße an Birls und Ridley; diese
+ beiden Jungen könnten manchen aus den besseren Ständen zum Muster
+ dienen. Was den M. betrifft, so sollte er als Junggeselle bei 25
+ Mark wöchentlichem Verdienst etwas zurücklegen können; ich lasse ihm
+ weniger Trunk und mehr Fleiß empfehlen. Ich bedaure, daß Sie, wie Sie
+ sagen, beinahe angeschwindelt worden sind. Weisheit in Geldsachen
+ geht uns beiden ab; doch ist es ein Trost, zu wissen, daß Gott uns
+ immer wieder durchhilft, und wenn wir nicht selbst manchmal Mangel
+ empfänden, so wüßten wir nicht, was ~Geben~ ist; von unserem
+ Reichtum geben ist keine Kunst. Ich lasse dem Harry A. für seinen
+ Brief danken, es freute mich von ihm zu hören. Auch der Frau K.
+ meinen Dank -- hat Karl Arbeit? Sie ist ein braves Frauchen, und es
+ würde ihr wohlthun, wenn Sie sie besuchen wollten. Auch nach dem
+ jungen Fordham könnten Sie sehen, erkundigen Sie sich doch, was er
+ vorhat; in seiner Schule wird es zu erfragen sein. Das Kunstwerk von
+ Brief ohne Unterschrift ist wohl von dem kleinen Arthur W..., sagen
+ Sie ihm, er müsse vor allen Dingen wachsen, bis er über den Tisch
+ sehen kann, und danken Sie ihm für den Brief. Sagen Sie der Frau M.
+ ein tröstliches Wort ...; es thut mir sehr leid, zu hören, daß E..
+ seine Stelle verloren hat; sagen Sie es ihm mit einem herzlichen
+ Gruße ....«
+
+Es erhellt schon aus diesem Briefe, daß er sich nicht nur der Jungen
+annahm. An Sonntagen hielt er regelmäßig eine Bibelstunde für alle
+Armen, die kommen wollten. Gepredigt im eigentlichen Sinne hat er
+dabei nicht, aber wie er ihnen die Bibel auslegte und was er ihnen
+von der Liebe Gottes sagte, das kam vom Herzen und ging zum Herzen.
+Als er Gravesend verließ, haben die Armen, denen er auf diese Weise
+Gutes gethan, aus eigenem Antrieb ihre Scherflein zusammengelegt und
+ihm eine schöne Bibel geschenkt; es war eine Gabe dankbarer Liebe wie
+selten etwas.
+
+Auch der Kranken nahm er sich an. Furcht vor Ansteckung kannte er
+nicht; er besuchte Häuser in den Armenquartieren, wohin andere zu
+gehen sich scheuten. Wenigstens einmal wöchentlich erschien er im
+Armenspital, und nie kam er mit leeren Händen. Was seine Freunde
+etwa ihm zuschickten, schöne Trauben oder Erdbeeren zu früher
+Jahreszeit, das wanderte zu den Kranken. Und die Liebe, die aus seinen
+Augen strahlte, und die liebliche Art seines Wesens war den Leuten
+erquicklicher noch als seine Gaben. Da las er denn auch ein paar
+Bibelworte und betete mit ihnen und verließ sie getröstet. Und sie
+zählten die Tage bis er wieder kam, sie richteten sich auf an seiner
+wahren Teilnahme, ja manches geprüfte Herz sah da den Himmel offen und
+lernte an den Heiland glauben, der alle Schmerzen auf sich genommen
+hat.
+
+Seine einzelnen Samariterdienste sind nicht zu zählen. Er hatte eine
+leidenschaftliche Freude an Blumen, hatte auch einen schönen Garten
+zu Gravesend, wo er sie pflegen konnte, aber wenn sie erblüht waren,
+trug er sie in die Krankenzimmer der Armenquartiere. Er hört von
+einer kranken Frau und geht hin, findet sie in Kälte und Elend, da
+zündet er eigenhändig ein Feuer an und macht ihr eine Tasse Thee. Dann
+schickt er ihr eine Wärterin und bezahlt den Doktor. Die Frau lebt
+heute noch, voll Lobes über seine Liebesthat. Ein andermal hörte er,
+daß eine Familie in Gefahr ist, aus ihrer Wohnung gewiesen zu werden;
+er zahlt die rückständige Miete und entzieht sich dem Danke. Unter
+seinen besonderen Schützlingen war ein alter Mann, der seit Jahren
+gelähmt war: nur die linke Hand konnte er noch bewegen, auch konnte
+er liegend lesen. Gordon sorgte dafür, daß ihm täglich eine Zeitung
+zukam. Derselbe gelähmte Mann klagte ihm einst, daß die Fliegen ihn so
+quälten, weil er sich ihrer nicht erwehren könne. Gordon sagte nichts,
+aber am andern Tage erschien ein den Leuten anfänglich unerklärliches,
+mit Schleierstoff überzogenes Gestell. Es war eine Vorrichtung, den
+Kopf des Mannes vor den Fliegen zu schützen, ohne ihn am Lesen zu
+hindern.
+
+Ja die Armen und Kranken zu Gravesend, denen er nie vorpredigte, ihr
+Elend sei der Wille Gottes, erinnern sich seiner mit lebenslänglicher
+Dankbarkeit. Ein alter Mann erzählt, seiner damals leidenden Frau
+seien kräftige Suppen und Wein verordnet worden, die er aus seinen
+Mitteln nicht bezahlen konnte, aber der gute Oberst habe, als er davon
+gehört, täglich eigenhändig Suppe oder Wein gebracht, und als es ihr
+wieder besser ging hätte er ihnen aus der Bibel vorgelesen, und das
+sei schön gewesen. Niemand beklagte seinen Tod aufrichtiger als dieser
+alte Mann, wenn es nicht jene alte Frau war, an deren Jungen er Gutes
+gethan hatte. Diese hatte schwer mit Armut zu kämpfen gehabt. Als es
+bekannt wurde, Gordon sei tot, meinte die fromme Einfalt, sicherlich
+würde er in London begraben werden, und schickte sich an, ihren ganzen
+Besitz, ein paar Fischernetze, zu verkaufen, um die Mittel zu einer
+Reise nach London aufzutreiben. »Ich muß sein liebes Gesicht noch
+einmal sehen,« sagte sie, »es mag kosten was es will, und wenn ich
+nachher Hungers sterbe.«
+
+Gordon war lange in Gravesend, ehe die Leute dahinter kamen, daß der
+freundliche Oberst im Forthaus und der »Chinesen-Gordon« ein und
+derselbe waren. Äußerst bezeichnend, sowohl für ihn als für gewisse
+Leute, ist folgende kleine Thatsache. Er hatte von Anfang an Sonntags
+seinen Sitz auf der Emporkirche unter den Armen genommen. Niemand
+kümmerte sich darum; als es aber nach und nach bekannt wurde, was
+für einen berühmten Mann man in der Gemeinde habe, würdigten die
+Kirchenältesten ihn einer feierlichen Aufwartung und baten ihn,
+er möge doch herunterkommen und sich eines der gepolsterten Sitze
+bedienen, die für die Vornehmeren bestimmt sind. Er dankte für die
+Rücksicht, zog es aber vor, unter den Armen auf hölzerner Bank sitzen
+zu bleiben.
+
+Es ließen sich leicht noch Dutzende von Beispielen beibringen, die
+sein Leben in der Stille kennzeichnen, doch dürfte das Vorstehende
+genügen. Was eine zu Gravesend wohnende Dame, die ihn kannte, über ihn
+schrieb, sei jedoch nicht unterdrückt:
+
+»Seine barmherzige Liebe umschloß alle; daß einer elend und arm
+war, war ihm genug, er erkundigte sich nie, ob man seine Hilfe auch
+verdiene. Wenn er dabei auch einmal hintergangen wurde, so war's nur
+selten[6], denn er hatte ein Auge, das die Leute zu durchschauen
+schien, es schien nutzlos, ihn belügen zu wollen. Ich habe mich
+oft gefragt, ob es seinem natürlichen Scharfblick zuzuschreiben
+ist oder vielmehr der ihm eigenen Einfalt und Selbstlosigkeit, daß
+er Menschen und Dinge meist in ihrem wahren Licht sah. Im Armen-
+und Krankenhaus war er ein ständiger Gast, und Empfänger für seine
+Liebesthaten gab's unzählige in der ganzen Umgegend. Mancher Sterbende
+schickte lieber nach ihm als nach dem Pfarrer, und weder Entfernung
+noch Wetter hielten ihn je ab, einem solchen Rufe zu folgen. Einen
+Armengottesdienst zu leiten, dazu war er immer bereit, und wo man
+die Hungernden zum Sichsattessen versammelte, ließ er sich nie
+zweimal bitten, ihnen biblische Geschichten zu erzählen. Aber in
+Versammlungen religiöser oder philanthropischer Art sah man ihn nie
+als Vorsitzenden, und öffentliches Redenhalten haßte er, besonders
+wenn es dazu dienen sollte, ihn persönlich zu verherrlichen. Und
+nichts war ihm gleichgültiger, als Essen und Trinken, sofern es ihn
+selbst betraf. Wir begegneten ihm einmal gegen Abend, und er nahm
+uns mit nach Hause, wo der Tisch für ihn gedeckt stand -- eine Kanne
+Thee und ein trockenes Laibchen Brot. Ich machte eine scherzende
+Bemerkung, ob er auf trockenes Brot reduziert sei; da nahm er das
+Laibchen (kein großes), drückte es in ein Schüsselchen und goß den
+Thee darüber. ›So, nun wird es bald weich sein,‹ sagte er, ›und nach
+einer halben Stunde ist es einerlei, was ich gegessen habe.‹ Um ein
+humoristisches oder witziges Wort war er nie verlegen, und noch
+seh' ich ihn mit den Augen zwinkern, als er mir erzählte, was für
+enttäuschte Gesichter es manchmal unter seinen Jungen gebe, die, von
+ihm aufgenommen, sich einbildeten, künftig herrlich und in Freuden
+zu leben, und dann die Entdeckung machen mußten, daß Pöckelfleisch
+und Kartoffeln auch ein gutes Mittagessen abgebe. Zu seinem Garten
+überließ er uns freundlicher Weise den Schlüssel, damit unsere Kinder
+darin spielen könnten. Als wir zum erstenmal davon Gebrauch machten,
+bewunderten wir die frühen Erbsen und andere leckere Gemüse, die darin
+wuchsen, und da eben seine Haushälterin hinzu trat, machten wir eine
+darauf bezügliche Bemerkung. Sie erklärte uns alsbald, daß der Oberst
+nie dergleichen auf seinem Tisch hätte; er überlasse fast den ganzen
+Garten armen Leuten, die ihn anpflanzen und den Ertrag dann verkaufen
+dürften. So kam es, daß es bei uns zu einer Redensart wurde, »der
+Oberst hat kein Ich.« All sein Thun war selbstlos, und darin folgte er
+seinem Herrn. Nie oder selten konnte man ihn dazu bringen, von sich
+zu reden. In jener Zeit wurde das erste Buch über ihn geschrieben.
+Er lud den Verfasser zu sich ein und half ihm nach Kräften, sofern
+es die Einzelheiten über den Taiping-Krieg betraf, wozu er ihm seine
+eigenen Aufzeichnungen gab. Als er aber, durch irgend eine Bemerkung,
+die gemacht wurde, auf den Verdacht kam, daß in dem Buche von ihm
+selbst und seinen Thaten viel die Rede sein könne, da bat er sich
+das Manuskript aus und zerriß eine Seite nach der andern zu des
+Verfassers nicht geringem Entsetzen. Es war mir ein Anliegen, den Mann
+und seine ungewöhnliche Abneigung gegen alles Lob zu verstehen, und
+so befragte ich ihn einmal darüber, indem ich hinzufügte, er habe ja
+alles Recht, auf diese Dinge stolz zu sein. Da entgegnete er, niemand
+habe ein Recht, auf irgend etwas stolz zu sein, da wir alles empfangen
+hätten und von Natur in keinem Menschen Gutes wohne. Er setzte
+hinzu, daß jeder nur immer alle Ursache habe, sich zu demütigen,
+daß alles Medaillentragen, aller äußere Schmuck des Körpers, wie
+überhaupt alle Selbstverherrlichung ganz übel angebracht sei. Auch
+hätte keiner ein Recht, irgend etwas sein zu nennen, der sich ein
+für allemal dem Herrn als Eigentum ergeben habe. Was sollte er da
+zurückbehalten? ›Des lieben Gottes Eigentum zu sein,‹ sagte er zu
+mir, ›sollte auch Sie hindern, diese goldene Kette da zu tragen; sie
+sollte für die Armen verkauft werden.' Indessen gab er zu, daß nicht
+alle Menschen je nach ihrer verschiedenen Lage es so leicht finden
+möchten wie er, irdischen Besitz in solchem Licht zu betrachten.
+~Sein~ Geldbeutel war immer leer infolge seiner Freigebigkeit.
+Ein silbernes Theeservice, das Geschenk seines Verwandten Sir William
+Gordon, bewahre er auf, sagte er einmal; der Wert desselben werde
+ausreichen, früher oder später seine Begräbniskosten zu bestreiten,
+ohne anderen zur Last zu fallen. So verhaßt es ihm war, von seinen
+Thaten zu reden, so freigebig war er mit seinen Gedanken, und manche
+interessante Unterhaltung führten wir mit ihm. Ein gewisser mystischer
+Zug, der ihm eigen war, verlieh seiner Rede einen eigenen Reiz; wir
+haben viel von ihm gelernt. Er besuchte uns oft, aber es war eine
+ausgemachte Sache, ohne daß je ein Wort darüber verloren worden wäre,
+daß man ihn nie auffordern dürfe, länger zu bleiben, wenn er sich zum
+Gehen anschickte. Ihn je zu Tisch zu bitten, wäre ordentlich eine
+Beleidigung gewesen: ›Ladet die Armen und Kranken ein,‹ hätte man da
+zur Antwort erhalten, ›ich kann zu Haus essen.‹«
+
+Daß er neben seinen Berufsarbeiten und täglicher fleißiger
+Beschäftigung mit Gottes Wort so viel Zeit fand, Gutes zu thun,
+verdankte er einerseits seiner Gewohnheit früh aufzustehen,
+andererseits seinem methodischen Fleiß, der nie auf einen andern
+Tag verschob, was sofort geschehen konnte. »Warum sollte man etwas
+hängen lassen, was man gleich erledigen kann,« pflegte er zu sagen.
+Immer beschäftigt sein, war offenbar die äußere Bedingung seiner
+Zufriedenheit. Einer Dame, die sich bei ihm über die Langeweile des
+Mode-Lebens beschwerte, gab er den guten Rat, sich doch einmal am
+Waschzuber ordentlich müde zu schaffen. Einer seiner Untergebenen, der
+über die Arbeiten seines Berufes in Gravesend berichtet hat, schreibt
+unter anderem: »Wenn Gordon an der Arbeit war, dann ~war's~
+Arbeit, und keiner von uns hätte es sich beikommen lassen, ihn auf
+irgend etwas einen Augenblick länger warten zu lassen als absolut
+nötig war. ›Schon wieder fünf Minuten verloren, die wir nie wieder
+haben werden!‹ konnte er ausrufen. Er hielt strenge Ordnung, aber das
+hinderte keinen, mit völliger Liebe und Verehrung an ihm zu hängen.«
+
+Gordons äußere Erscheinung soll durchaus nichts Überwältigendes
+gehabt haben. Er war nicht groß, hatte kein stattliches Auftreten;
+man sah ihm den Soldaten nicht an. Wer ihm zum erstenmale begegnete,
+konnte aus seinem bescheidenen Äußeren nicht schließen, daß er
+es mit einem der tüchtigsten Offiziere zu thun habe. Daß er der
+»Chinesen-Gordon« war, stand ihm nicht auf der Stirn geschrieben,
+obgleich er der denkbar offenherzigste Mensch war. Ein gewisses
+jugendliches Aussehen soll er bis ins mittlere Alter bewahrt haben.
+Die ihn kannten, stimmten darin überein, daß seine Macht über die
+Menschen von seinen blauen Augen ausging -- »sein Gesichtsausdruck
+hatte nichts bedeutendes, war aber von der Art, die es ›einem
+anthut,‹« sagt einer seiner Mitoffiziere, ein langjähriger Freund,
+»und im Umgang hatte er etwas unaussprechlich bezauberndes.« Man
+habe sich mit unwiderstehlichem Vertrauen zu ihm hingezogen gefühlt
+als zu einem Mann, der es gut mit einem meine; man habe ihm nur ins
+Auge zu sehen brauchen um zu wissen, daß man sich felsenfest auf ihn
+verlassen könne, selbst wenn alle andern einen im Stich ließen. Neben
+der Sanftmut und Güte seines Wesens, die alle rühmen, die je mit ihm
+zu thun hatten, konnte er aber auch herzhaft zornig werden, wie schon
+angedeutet wurde. Er kannte diese seine schwache Seite wohl, und wenn
+einer seiner Untergebenen einen Verweis verdiente, so suchte er für
+den zu erlassenden Tadel gern einen Stellvertreter, aus Furcht, von
+der Hitze mit fortgerissen zu werden.
+
+Wohl der schönste Zug seines Wesens war seine wunderbare Demut, die
+nie heller leuchtete als im Umgang mit den Armen und Niedrigen.
+Solchen erzählte er auch mit größter Bereitwilligkeit aus seinem
+Leben in China und anderwärts, worüber seinesgleichen ihn nie reden
+hörten. Er war höflich gegen den Geringsten und konnte einen Bettler
+um Verzeihung bitten, wenn er ihm eine Münze hastig hingeworfen. Wer
+zu jener Zeit in Gravesend wohnte, der konnte hin und wieder sehen,
+wie er auf der Straße plötzlich stehen blieb, um vielleicht einem
+armen Waschweib ihre Last abzunehmen, sei's Bündel oder Korb, und ihr
+tragen zu helfen, und war einer seiner Freunde in der Nähe, vornehm
+oder gering, so konnte er gewärtig sein, auch aufgefordert zu werden,
+mit Hand anzulegen.
+
+Gordon war ein Christ in des Wortes vollster Bedeutung, aber einer
+besonderen Gemeinschaft im englischen Sinn hat er nicht angehört. Dies
+ist schon durch seine Lebensführung begreiflich. Auch darf man wohl
+sagen, daß einer, der so in der Allgegenwart, ja Gemeinschaft Gottes
+wandelt, über die Unterschiede hinaus ist, die uns andere, die wir
+noch Schüler sind, in Klassen abteilen. Er hat sein Leben, wie wir
+gesehen haben, nach dem Wort eingerichtet: Ein reiner und unbefleckter
+Gottesdienst vor Gott dem Vater ist der, die Waisen und Witwen in
+ihrer Trübsal besuchen und sich von der Welt unbefleckt erhalten.
+Übrigens hielt er dafür, daß das Christentum eines Menschen sich vor
+allen Dingen in der gewöhnlichen Berufs- und Pflichterfüllung des
+Lebens bethätigen müsse. Das ist's, was der seltenen Energie zu Grunde
+liegt, die ihn zum großen Manne gemacht hat; das auch, was in der
+Gerechtigkeit, Festigkeit, Milde und Umsicht seinen Ausdruck fand, die
+seine Verwaltung des Sudan so rühmlich kennzeichneten. Er war überall
+und in allen Dingen ein Christ. Sich selbst für besser halten als
+andere, war nicht seine Sache. »Wir sind alle voll Schwären,« konnte
+er sagen, »manche verdecken ihre Schäden mit seidenen Lappen, andere
+haben nur Lumpen; reißt beides weg, und die Krankheit ist dieselbe.«
+
+Auf sein inneres Leben und seine Stellung zur christlichen Lehre
+werden wir später zurückkommen. Die Früchte, die aus seinem Glauben
+erblühten, sind mit der kurzen Schilderung aus Gravesend wohl zur
+Genüge dargethan.
+
+Im Jahr 1871 wurde Gordon nach Galatz geschickt, in eine ihm nicht
+unbekannte Gegend, wo er an der Donau-Mündung eine ähnliche Arbeit
+ausführen sollte wie daheim an der Themse. Die »öffentliche Meinung«
+aber fing an sich zu wundern, warum die Kräfte eines so eminent zum
+Kriegführen geschaffenen Mannes wie Gordon an eine Arbeit verschwendet
+würden, die jeder andere Ingenieuroffizier auch erledigen könne.
+Es war die Zeit der Asante-Sorgen, und die Zeitungen fingen an sich
+zu erkundigen, wo der »Chinesen-Gordon« stecke und warum man nicht
+ihn absende, um dem König Kofi das Handwerk zu legen. Unter den
+vielen Zuschriften an die öffentlichen Blätter in jener Zeit verdient
+ein »Mandarin« unterzeichneter Brief, den die Times brachte, hier
+wenigstens im Auszug wiedergegeben zu werden.
+
+»Es ist zum Verwundern,« sagt der Schreiber, ein ehemaliger Offizier
+der stets siegreichen Armee, »wie wenig die erstaunlichen Thaten
+des Mannes, der als »Chinesen-Gordon« öfters genannt worden ist,
+in diesem Land bekannt geworden sind. Als einer, der in der stets
+siegreichen Armee unter ihm diente -- welche Bezeichnung ganz gewiß
+nicht aus seinem Munde stammt -- könnte ich lange Spalten füllen mit
+den Beweisen seiner unglaublichen Thatkraft, seiner über alles Lob
+erhabenen Um- und Vorsicht, seiner anspruchslosen Bescheidenheit,
+seiner Ausdauer und Herzensgüte, seines überlegenen Mutes, ja
+Heldenmutes. Es ist die einfache Wahrheit, daß alle, die je unter ihm
+gedient haben, seine militärische Tüchtigkeit, um nicht zu sagen sein
+Kriegsgenie, in alle Himmel erheben. Es giebt nicht viele Heerführer,
+denen ein ganzes Offizierkorps solch einstimmiges, begeistertes Lob
+zollt. Und noch wunderbarer ist die völlige Hingabe, mit der die
+chinesischen Truppen ihm anhingen, das unbedingte Vertrauen, das sie
+in irgend welches Unternehmen setzten, wenn nur er es persönlich
+leitete. In ihren Augen war er einfach ein Zauberer, dem alles möglich
+war .... In ihrem Glauben an seine gefeite Unverwundbarkeit bestärkte
+sie seine Gewohnheit plötzlich zu erscheinen, wenn die Truppen unter
+Feuer waren, wo er dann im dichtesten Kugelregen ganz ruhig dastand.
+Außer seinem spanischen Rohr, das die Soldaten seinen Zauberstab
+nannten, trug er ein kurzes Fernrohr, nie Waffen; oder richtiger,
+was er an Waffen trug, war unsichtbar.... Einmal nur erinnere ich
+mich Zeuge gewesen zu sein, wie Gordon einen Revolver zog. Es war
+bei Kuinsan, nachdem die Truppen ein Vierteljahr lang während der
+Sommerhitze im Quartier gelegen hatten. Man benutzte diese Zeit,
+sie einzuexerzieren, mit dem Gedanken an die geplante Einnahme von
+Sutschau. Die Hitze war entsetzlich. Ruhr und Cholera lichteten die
+Reihen, und die Disziplin war nicht ganz so stramm wie sonst..... Als
+gegen Ende September Befehl zum Abmarsch gegeben wurde -- es galt
+die Forts und Schanzenwerke zwischen Kuinsan und Sutschau -- war's
+besonders die Artillerie, die den Gehorsam weigerte. Eine Kompagnie
+wurde störrig und wollte sich nicht einschiffen ... da erschien Gordon
+mit seinem Dolmetscher. Er war zu Fuß, dem Anschein nach unbewaffnet
+und wie gewöhnlich sehr gefaßt. Sobald er zur Stelle war, erließ er
+durch den Dolmetscher die Ordre, daß jeder Soldat, der gesonnen sei,
+sich nicht einzuschiffen, vortreten solle. Nur einer trat vor. Da zog
+Gordon eine Pistole aus seiner Brusttasche, richtete sie gegen des
+Mannes Kopf und ließ ihm durch den Dolmetscher zurufen: »Marsch!« Der
+Mann gehorchte auf der Stelle und die ganze Kompagnie ihm nach. Sage
+einer -- das hätte jeder andere kaltblütige und entschlossene Offizier
+auch erreicht! Durchaus nicht! Wenigstens gab's unter uns damals nur
+~eine~ Meinung, daß der Gehorsam in diesem Fall lediglich der
+grenzenlosen Achtung, ja Ehrfurcht zuzuschreiben war, mit welcher
+das ganze Korps zu Gordon aufsah. In der That war die Stimmung der
+Truppen damals eine solche, daß wenn irgend ein anderer Offizier es
+gewagt hätte, zu handeln wie Gordon handelte, offene Meuterei und
+die Ermordung der Offiziere die Folge gewesen wäre .... Die wahre
+Ursache der beispiellosen Erfolge des Korps ist einerseits wohl in
+der militärischen Tüchtigkeit des Anführers zu suchen, andererseits
+aber in seinem Charakter und seinem ganzen Wesen, welches der Art
+war, daß alle, die mit ihm in Berührung kamen, unbegrenztes Vertrauen
+in seine Fähigkeit setzten neben dem festen Glauben, daß er mit
+den besten ihm zu Gebot stehenden Mitteln die besten Resultate zu
+gewinnen der Mann war.[7] Wer Gordon kennt mit seiner anspruchslosen
+Persönlichkeit, seiner ruhigen zurückhaltenden Art, kann von seinem
+wunderbaren Einfluß über ein Heer von unwissenden Soldaten und aus
+aller Herren Länder zusammengelaufenen Offizieren nur auf die höchsten
+Eigenschaften seines Charakters schließen. Um einen Vergleich zu
+ziehen, so möchte es scheinen, daß die unwissenden Chinesen den Mann
+besser zu würdigen verstanden, als gewisse wohl unterrichtete Leute
+hierzulande.«
+
+Allein die Regierung hatte taube Ohren; einer aus dem Ingenieurkorps,
+und wäre er selbst der »stets siegreiche General«, wie das Volk
+ihn neuerdings nannte, sei nicht fürs Kommando bestimmt, war die
+Entschuldigung. Als der Khedive aber nach einiger Zeit einen
+Kommandanten nötig hatte und sich dazu den Oberst Gordon ausersah,
+hatte die englische Regierung nichts dagegen einzuwenden.
+
+
+
+
+ Viertes Buch.
+
+ Im Lande der Schwarzen.
+
+
+Die Sudanländer sind insbesondere durch deutsche Reisende allgemeiner
+bekannt geworden. Der Name »Sudan« bedeutet nichts anderes als das
+~Land der Schwarzen~ und stimmt also mit der alten Bezeichnung
+»Äthiopien« überein, woraus sich ergiebt, daß der Sudan, heutzutage
+ein Land des Elends und der Knechtschaft, schon eine bessere
+Vergangenheit gekannt hat. Wir erblicken in ihm das Mohrenland der
+Bibel, das Land der Königin Kandaze. Im Propheten Jeremia ist zu
+lesen: Lasset die Helden ausziehen, die Mohren! Memnon, ein König von
+Äthiopien, zog mit zehntausend Mann den Trojanern zu Hilfe. Und auch
+neuerdings haben sich die Sudanesen als Soldaten bewährt, mit denen
+nicht zu spassen ist. Aber der Fluch Hams liegt auf dem Lande.
+
+Sudan ist ein Gemeinname, er umfaßt die ungeheuren mittelafrikanischen
+Ländergebiete zwischen Ägypten im Norden und den Seen (Njansa) im
+Süden, zwischen dem Roten Meer im Osten und dem Lande Darfur im
+Westen. Khartum am Zusammenfluß des Blauen und Weißen Nils liegt
+so ziemlich in der Mitte zwischen dem Mittelländischen Meer und
+dem Viktoria Njansa, von Meer und See je sechzehnhundert Kilometer
+entfernt. Von Khartum nach der Ostgrenze des Sudans, nämlich bis
+zu den Hafenstädten Suakim und Massaua am Roten Meer, beträgt die
+Entfernung etwa sechshundert Kilometer, nach der Westgrenze bis
+Darfur sind es zwölfhundert. Die Hauptstationen zwischen Khartum und
+Ägypten sind Berber und Dongola, beide am Nil. In Berber mündet die
+Wüstenstraße von Suakim her, und zwischen diesen beiden Orten ist die
+Eisenbahnlinie projektiert, die den Sudan vom Roten Meer aus leichter
+zugänglich machen soll. Um die Entfernungen durch einen Vergleich zu
+veranschaulichen, so ist es von Kairo nicht weiter nach Petersburg
+als nach Gondokoro, der Hauptstadt der ägyptischen Äquatorialprovinz,
+während es von Khartum nach Gondokoro etwa so weit ist, als von
+Berlin nach Rom. Khartum und Gondokoro sind durch den Nil verbunden,
+durch den »Ssett« aber, eine Massenanhäufung von schwimmenden
+Wassergewächsen, sind diese Städte trotz aller Dampfer oft monatelang
+außer Verbindung.
+
+Ägypten hat sich während der letzten sechzig Jahre in den Sudanländern
+ausgebreitet. Mehemet Ali mochte es redlich meinen oder nicht, als
+er sich anschickte, an die Stelle der herrschenden Anarchie im
+Sudan eine geregelte Regierung zu setzen, und seinen Sohn Ismail
+mit einem Soldatenhaufen und etlichen Gelehrten hinsandte, um von
+dem Lande Besitz zu nehmen. Dieser aber wurde mit samt seinem
+Gefolge von einem Häuptling verbrannt. Man wußte sich furchtbar zu
+rächen, und die ägyptische Gewaltherrschaft wurde aufgerichtet. Die
+geregelte Regierung bekundete sich in Unterdrückung und Aufstand,
+und die eingeführte Zivilisation beschränkte sich hauptsächlich
+auf Elfenbeinhandel, wogegen nichts zu erinnern gewesen wäre, wenn
+nicht auch das »schwarze Elfenbein«, der Negerhandel, zur Goldquelle
+geworden wäre. Der Sklavenhandel nahm nach und nach so zu, daß er
+zum offenkundigen Skandal wurde. Die arabischen Händler zahlten
+eine beträchtliche Abgabe an die ägyptische Regierung, die deshalb
+ein Auge zudrückte. Das Elend im Land spottete aller Beschreibung;
+ein ehrliches Gewerbe konnte neben dem Menschenraub nirgends
+aufkommen. Europäische Händler waren die Urheber des Unfugs. Um
+das Jahr 1860 mußten sich diese aber angesichts der öffentlichen
+Meinung zurückziehen. Seither haben die Araber die Negerjagd und
+den Negerhandel ins Unglaubliche getrieben. Die Einwohnerschaft der
+Sudanländer besteht nämlich aus zwei Hauptklassen, von welchen die
+eine, die eingewanderten Araberstämme, die natürliche Unterdrückerin
+der andern, der Neger, ist. ~Schweinfurth~ beobachtete die
+Sklavenhändler mehrere Jahre lang. Vor zwanzig Jahren, schreibt
+er, gab es Hunderte von Denka-Dörfern auf der östlichen Seite des
+Flusses, jetzt ist die ganze Strecke zur Einöde geworden. Man stößt
+allenthalben auf Spuren, daß Dörfer und angebaute Gegenden da zu
+finden waren, wo jetzt alles verwüstet ist; die Bevölkerung muß
+wenigstens um zwei Drittel abgenommen haben. Sir ~Samuel Baker~
+ist der Ansicht, daß niemand anders als die ägyptischen Pascha an der
+Verwüstung des Denka-Landes schuld seien. »Das Land ist vollständig
+entvölkert infolge der Razzien der vom Statthalter von Faschoda
+begünstigten Sklavenjäger.« Er durchreiste das Land nach allen
+Richtungen und kam allerwärts auf Spuren zerstörter Dörfer. Im Jahre
+1864 sah er die Gegend des Viktoria-Nils zum erstenmal; das Jahr
+1872 brachte ihn wieder dahin. »Die in diesen Jahren stattgefundene
+Veränderung ist nicht zu beschreiben; damals war die Landschaft ein
+Garten, dicht bevölkert und voll reicher Produkte. Jetzt ist alles
+zur Wüstenei geworden! Niemand ist schuld daran, als die Khartumer
+Händler, welche Weiber und Kinder in die Sklaverei führen und plündern
+und zerstören, wo sie hinkommen.« »Man sieht meilenweit keine
+Menschenseele,« schreibt Gordon, als er den Sobat hinaufdampfte: »die
+Sklavenhändler haben die ganze Bevölkerung aufgerieben und die Gegend
+zur vollständigen Wildnis gemacht.«
+
+Während einer Reihe von Jahren geschah nichts, um dem schändlichen
+Handel zu steuern. Zwar wurden Proklamationen erlassen, aber,
+wie Schweinfurth sagt, schien eine unüberwindliche Neigung zum
+Sklavenhandel jedem Türken oder Ägypter angeboren, der im Dienste
+der Regierung den Sudan verwalten half. Und als der Greuel dem
+Khedive endlich zu arg wurde, war dies nicht sowohl eine Regung von
+Mitleid mit den armen Negern, als vielmehr Furcht vor einem sich
+erhebenden Machthaber, der seine Oberherrschaft im Sudan bedrohte. Die
+Sklavenhändler zählten nach Tausenden; mit bewaffneten Horden zogen
+sie durchs Land, ja so mächtig wurden sie, daß sie die Abgaben an die
+Regierung nicht länger zu entrichten für nötig fanden. Auch das war
+ein Grund, ihnen das Handwerk zu legen. Unter den Sklavenhändlern
+war besonders einer, der durch seinen unglaublichen Reichtum, seine
+aus Sklaven rekrutierten Truppen, sowie durch die beträchtliche
+Anzahl seiner befestigten Stationen fast die Stellung eines Königs
+einnahm. Es war dies der berüchtigte Sebehr Rachama, der schwarze
+Pascha. Schweinfurth fand ihn von fürstlichem Hofstaat umgeben. Seine
+Gäste wurden von reichgekleideten Sklaven in mit kostbaren Teppichen
+behangene Vorzimmer geführt, und um den königlichen Glanz seiner
+Umgebung zu erhöhen, wurden Löwen herbeigebracht. Sein Reichtum und
+sein Aberglaube schienen einander die Waage zu halten, wenigstens wird
+erzählt, daß er einmal fünfundzwanzigtausend Maria-Theresia-Thaler
+einschmelzen ließ, um Kugeln aus Silber zu gießen, mit denen ein
+Feind beschossen werden sollte, der angeblich gegen Blei gefeit
+war. Ursprünglich ein Elfenbeinhändler, hatte er sich auf das
+»schwarze Elfenbein« verlegt. Er war Herr von nicht weniger als
+dreißig Stationen, die sich bis ins Innere von Afrika erstreckten,
+und sein Name verbreitete Schrecken durch den ganzen Sudan. Von den
+einzelnen Stationen aus wurden Streifzüge auf die Neger unternommen;
+auf den Stationen fanden sich die Kleinhändler ein, welche ihm die
+Sklaven abkauften und durch die Wüste an die Grenze schleppten. Als
+Schweinfurth im Jahre 1871 die Raubhöhle Schekka, Sebehrs Hauptstation
+an der Südgrenze Darfurs, besuchte, fand er daselbst nicht weniger
+als zweitausendsiebenhundert solcher Händler, die gekommen waren,
+um sich mit Sklaven zu versehen. Schon 1869 hatte es die ägyptische
+Regierung versucht, Sebehrs großer Macht einen Zügel anzulegen. Eine
+Truppenabteilung unter einem Anführer Namens Bellal folgte dem
+Sklavenräuber in die Bahr el Ghasal. Es kam auch zu einem Gefecht,
+in welchem Bellal, sowie die meisten seiner Soldaten umkamen.
+Sebehr selbst trug eine Fußwunde davon. Der Khedive war nicht wenig
+entrüstet, mußte sich aber vorläufig damit zufrieden geben, daß nicht
+er, sondern Sebehr Herr im Sudan war, den Tausende von Sklavenhändlern
+als solchen anerkannten. Zwar dem Namen nach war Sebehr ägyptischer
+Unterthan, aber in Wirklichkeit souveräner Herr.
+
+Die Eroberung Darfurs war eines der mit Bellals Unternehmen in
+Aussicht genommenen Projekte. Dieses Land war damals noch frei. Es
+hatte seit vierhundert Jahren seine eigenen Sultane. Darfur ist der
+Kornspeicher für den westlichen Sudan, und der regierende Sultan hatte
+dem drohenden Überfall Bellals eine Ausfuhrsperre entgegengesetzt,
+was nicht nur seinem offenen Feinde, sondern auch den Sklavenhändlern
+ungelegen kam. Sebehr war Manns genug, einen Gegenschlag zu führen.
+Er plante seinerseits eine Einnahme Darfurs. Das konnte dem Khedive
+nicht einerlei sein. Fiel Darfur in Sebehrs Hand, dann war nichts
+wahrscheinlicher, als daß der ganze Sudan sich ihm ergeben würde. Der
+Khedive nahm zur Politik der Feigheit seine Zuflucht und beschloß,
+lieber mit als gegen Sebehr zu handeln, worauf ägyptische Truppen
+unter Ismail Pascha Jakub vom Norden her in Darfur einfielen, während
+die Sklavenhändler es im Süden bedrängten.
+
+In einer Schlacht wurde der Sultan von Darfur erschossen, und als
+seine beiden Söhne den Leichnam decken wollten, fielen auch sie. Ihr
+jüngerer Bruder war ein Kind, und ein entfernterer Verwandter Namens
+Harun beanspruchte die Thronfolge. Darfur aber wurde unterjocht und
+Sebehr zum Pascha gemacht. Diese Ehre war ihm keineswegs genügend; er
+und seine Horden hätten das Land erobert, sagte er, ihm komme es daher
+zu, als Generalgouverneur die neue Provinz zu verwalten. Er hatte
+sogar die Kühnheit, selbst nach Kairo zu gehen, um seine Ansprüche
+dort geltend zu machen. Zwei Millionen Mark soll er mit sich genommen
+haben, um die Pascha zu bestechen. Es nützte ihm nichts, er wurde in
+Kairo festgehalten. Soliman, Sebehrs Sohn, beunruhigte an seines
+Vaters Statt das Land und war die Seele eines gewaltigen Aufstandes.
+Wie derselbe von Gordon und seinem kühnen Stellvertreter Gessi
+unterdrückt wurde, werden wir später hören.
+
+Der Khedive, der den Sklavenhandel geduldet, wo nicht geschützt hatte,
+so lange er ihm eine Rente abwarf, verfiel auf philanthropische
+Motive, sobald seine Oberherrschaft gefährdet war. Durch ganz Europa
+posaunte er die Nachricht, daß er gesonnen sei, den greulichen
+Handel auszurotten. Nur zu diesem Ende habe er Sir Samuel Baker an
+den Äquator geschickt und nun auch den genialen Gordon berufen. Das
+ganze Nilbecken bis zu den Seen am Äquator wurde zu einem Teile von
+Ägypten erklärt. Selbst an jenen äußersten Grenzen -- so lautete das
+vielverheißende Manifest -- müßten Leib, Leben und Freiheit fürderhin
+als heilige Dinge gelten. Unter dieser Maske der Menschenliebe wurde
+Gordon, der als einer der aufrichtigsten Menschenfreunde, als einer
+der kühnsten Heerführer bekannt war, für den neuen Gouverneurposten in
+Aussicht genommen. Oberägypten sollte einen Regierungsbezirk für sich
+bilden, und der Elfenbeinhandel innerhalb seiner Grenzen wurde zum
+Staatsmonopol erklärt.
+
+Gordon war noch in Galatz, als ihm die neue Thätigkeit angeboten
+wurde. Im Jahre 1872 war er in Konstantinopel mit dem ägyptischen
+Minister Nubar Pascha zusammengetroffen, und dieser, von seiner
+Tüchtigkeit überzeugt, hatte ihn gefragt, ob er nicht einen Nachfolger
+für Baker zu empfehlen wisse. Gordon erblickte in dem sich eröffnenden
+Wirkungskreise eine Möglichkeit, den geknechteten Schwarzen zu dienen,
+und bot im folgenden Jahr seine Dienste an, vorausgesetzt, daß der
+Khedive bei der englischen Regierung um ihn einkommen wolle und diese
+nichts dawider habe. In England schien man seiner nicht zu bedürfen,
+und so machte er sich auf den Weg zur Ausrichtung eines großen Berufs
+im Innern des schwarzen Weltteils. Es war der Tag, der die Nachricht
+vom Tode Livingstones nach England brachte, an welchem Gordon von
+London aufbrach! Jener war mit dem Gebete auf den Lippen gestorben,
+daß der Herr sich Afrikas erbarmen und einen Befreier senden möge.
+War es nicht wie eine Antwort auf diese Bitte, daß Gordon sich
+rüstete, um den Kampf mit dem großen Unrecht aufzunehmen, das jener
+ans Licht gebracht hatte? Die Namen Livingstone und Gordon sind wie
+zwei Sterne an Nachthimmel Afrikas; beide sind untergegangen; wann
+wird der Tag anbrechen?
+
+Der Khedive setzte seinem neuen Statthalter denselben Jahresgehalt
+aus, den Baker bezogen hatte, nämlich zweimalhunderttausend Mark,
+Gordon selbst aber bestimmte nur vierzigtausend. Das war dem Khedive
+und noch andern Leuten ein Rätsel. Wer den Mann aber kannte und
+überdies wußte, auf welche Weise Ismail seine Schatzkammer füllte, dem
+war die Handlungsweise erklärlich. Gordon verabscheute einen Gewinn,
+der, wie er wohl wußte, dem Schweiß der Fellahs erpreßt wurde; es
+wäre ihm wie Blutgeld vorgekommen; er nahm daher nur so viel, als er
+durchaus nötig hatte. »Wie Mose, so verachte auch ich den Reichtum
+Ägyptens,« schreibt er. »Wir haben einen König, der mächtiger ist,
+denn diese alle, und bessere Güter in ihm, als die Welt uns bieten
+könnte. Ich beuge mich keinem Haman.«
+
+Gordons Auftrag bestand darin, eine fast unbekannte Provinz zu ordnen,
+in der bewaffnete Händler ihr Wesen trieben und durch Elfenbein
+und Schwarze sich bereicherten. Die eingeborenen Stämme hatten sie
+grausam unterdrückt und gezwungen, mit ihnen Handel zu treiben, ob
+sie wollten oder nicht. Einige dieser Tyrannen hatten Erlaubnis,
+im Lande zu wohnen, vorausgesetzt, daß sie sich des Sklavenhandels
+enthielten; man hatte sie dem Gouverneur vom Sudan unterstellt. Dieser
+aber war von Khartum aus nicht im stande gewesen, seine Autorität
+geltend zu machen, und aus diesem Grunde hatte der Khedive die neue
+Äquatorialprovinz gebildet. Wenn der Sklavenhandel und das Raubwesen
+erst einmal abgeschafft wäre, dann sollte aller rechtmäßige Handel
+frei sein. Gordon sollte eine Kette von Stationen errichten, sollte
+versuchen, das Vertrauen der Stämme zu gewinnen und der Sklavenjagd
+auf alle mögliche Weise entgegenarbeiten.
+
+Aber bei seinem kurzen Aufenthalte in Kairo hatte er mit dem ihm
+eigenen Scharfblick den Khedive und seine Pläne durchschaut. »Ich
+glaube, den wahren Beweggrund entdeckt zu haben,« schreibt er,
+»man hofft, uns Engländern Sand in die Augen zu streuen.« Trotzdem
+schwankte er keinen Augenblick. Er wußte, daß er in eines Höheren
+Dienst stand, und das gab ihm Kraft. So schreibt er einmal:
+
+ »Wer dürfte es wagen, der nicht den allmächtigen Gott auf seiner
+ Seite hat? Ich kann es und will es thun, ~denn mein Leben achte
+ ich für nichts~ -- ich würde nur viel zeitlichen Verdruß mit dem
+ ewigen Frieden vertauschen!« Und weiter: »~Wer doch den Tod immer
+ als Erlöser vor Augen hätte!~ Welche Ruhe ist des Menschen Teil,
+ der so denkt, und was für Thaten kann er vollbringen -- nichts kann
+ ihn mehr beunruhigen, in welchem Amt er auch stehe!«
+
+Es war Gordons Wunsch, als gewöhnlicher Passagier sich nach Suakim zu
+begeben; allein Nubar Pascha erklärte, der Gouverneur von Oberägypten
+müsse mit Gepränge reisen. Ein Gefolge wurde ernannt, und, von einem
+Adjutanten des Khedive begleitet, sollte Gordon mit einem Extrazug
+nach Suez fahren. Aber unterwegs versagte die Lokomotive, und die
+Reise mußte mit dem gewöhnlichen Zug fortgesetzt werden -- ein
+Hauptspaß für Gordon. »Wir haben groß angefangen und dürfen klein
+aufhören,« berichtet er darüber. Von Suakim ging's durch die Wüste
+nach Berber; etwa zweihundertundzwanzig Mann Militär, die mit ihm
+an Bord waren, bildeten die Eskorte für den vierzehntägigen Marsch,
+dessen Länge Gordon keineswegs beklagte, denn es war ihm vor allen
+Dingen darum zu thun, seinen Soldaten, die von Mannszucht nichts
+wußten, Gelegenheit zu geben, ihn kennen zu lernen. Was persönlicher
+Einfluß vermag, das wußte er von China her.
+
+Sein Generalstab bestand aus einem kühnen und in jeder Beziehung
+tüchtigen Italiener, dem nachmals so rühmlich bekannt gewordenen
+~Romulus Gessi~, den er als Dolmetscher schon in der Krim kennen
+gelernt hatte; ferner aus mehreren anderen Europäern, Namens Kemp,
+Russell, Anson und zwei Brüdern Linant, dem Amerikaner Long und Abu
+Saud, einem gewesenen Sklavenhändler und niederträchtigen Menschen,
+den er in Kairo als Gefangenen vorfand und dem er mit einem gewissen
+Eigensinn zutraute, daß er sich künftighin der Redlichkeit befleißigen
+und sich nützlich erweisen werde. Der Khedive wußte nicht recht, was
+mit diesem Gefangenen anfangen, der am oberen Nil als »Sultan« bekannt
+war, aber nichts weniger als einen guten Namen dort hinterlassen
+hatte. Gordons Vorschlag, sich seiner Kenntnis des Landes zu bedienen,
+hielt der Khedive für sehr gewagt; Gordon aber ließ sich in diesem
+Vertrauen nicht irre machen, und der ehemalige Sklavenjäger wurde
+seinem Stabe einverleibt. Die Gewohnheit Gordons, Feinde durch gutes
+Zutrauen zu Freunden zu machen, hat sich in seinem Leben zwar oft
+bewährt; Abu Saud aber hat die ihm entgegengebrachte gute Meinung
+~nicht~ gerechtfertigt und Gordon viel zu schaffen gemacht, bis
+dieser sich durch einen Machtspruch seiner wieder entledigte.
+
+Über Gordons Zeit im Sudan liegt ein umfangreicher Band seiner,
+hauptsächlich an seine Schwester gerichteten Briefe vor; wir folgen
+ihm ins Land der Schwarzen an der Hand dieser Briefe. Am 13. März 1874
+wurde Khartum erreicht.
+
+ »Der Generalgouverneur kam in voller Uniform Deinem unter dem Donner
+ der Geschütze landenden Bruder entgegen. Gestern stand dieser noch
+ mit nackten Beinen im Nil und half das Boot flott machen -- trotz
+ der Krokodile, die einem nichts thun, so lange man in Bewegung ist
+ -- heute salutiert ihn die Garde, so oft er sich blicken läßt ...
+ Ich habe seit meiner Ankunft schon Musterung gehalten und das Spital
+ und die Schulen besucht; die kleinen Schwarzen lachten, als sie mich
+ sahen. Ich wollte, die Fliegen suchten sich ein anderes Quartier, als
+ die Augenwinkel dieser Kinder! Khartum ist eine schöne Stadt, was die
+ Lage betrifft. Die Häuser sind von Lehm und haben flache Dächer ...
+ Ich bin wohlauf bei ruhiger Zeit, trotz vieler Arbeit. Übrigens ist
+ es wahr, Herr Selbst ist der beste Diener, den man haben kann.«
+
+In Khartum scheint er seinen neuen Titel ausfindig gemacht zu
+haben, und zwar keinen geringeren als »Se. Exzellenz General Oberst
+Gordon, Generalgouverneur am Äquator«, ein Titel, den er mit Recht
+ein sonderbares Gemisch nennt. Von Khartum aus erging auch sein
+Erlaß an die neue Provinz, worin er den Elfenbeinhandel als Monopol
+der Regierung erklärte, die Einfuhr von Waffen und Pulver, sowie
+unbefugtes Waffentragen überhaupt verbot und außerdem ankündigte, daß
+in Zukunft niemand ohne Paß die Provinz bereisen dürfe.
+
+Am 22. März trat er die Reise nach seiner Hauptstadt ~Gondokoro~
+an. Er erwähnt der großen glitzernden Krokodile, die allabendlich
+mit weitoffenem Rachen auf dem Ufersand liegen, der vielen Zugvögel,
+die sich anschickten, den brennenden Süden mit dem Norden zu
+vertauschen. Hier gab es Störche, schwarze und weiße, zu Tausenden,
+dort Pelikane und Flamingos, auch große Nilpferde -- doch sieht
+er vorläufig nur ihre Nasen, denn sie stehen mitten im Fluß. Die
+Affen kommen herdenweise und tragen ihre kerzengerade in die Höhe
+gerichteten Schwänze wie Speere hinter sich; die Giraffen erscheinen
+ihm wie wandernde Türme. Offenbar hatte er seine Freude an all dem
+Neuen, Ungewohnten, und beschreibt es gern der fernen Schwester.
+Eines Abends, als er beim stillen Mondlicht die vor ihm liegenden
+Schwierigkeiten zu vergessen sucht und halb träumerisch der Heimat
+gedenkt, erschreckt ihn ein lautes Gelächter.
+
+ »Ich war nahe daran, es für eine Beleidigung zu halten,« erklärt
+ er spaßhaft, »aber es waren nur ein paar überschlaue Vögel, die
+ guterdinge schienen und es gar zu lächerlich fanden, daß unsereiner
+ den Weg nach Gondokoro unternimmt in der Meinung, dort etwas Gutes zu
+ schaffen.«
+
+Nicht weit davon, in einer Felsenhöhle auf der Insel Abba, hielt sich
+damals ein Derwisch auf, Namens Muhamed Achmet, der im Geruch der
+Heiligkeit stand. Wie ahnungslos fuhr Gordon an ihm vorüber! Zehn
+Jahre später ist dieser »Heilige«, der Mahdi, das Werkzeug seines
+Todes geworden.
+
+An den ersten Wilden, die Gordon sieht, bemerkt er die Folgen der
+Mißhandlung.
+
+ »Wir kamen an einem Dorfe der Schilluk vorüber, die sich über unsern
+ Anblick wunderten und erschreckt davonliefen, wenn man ein Fernrohr
+ auf sie richtete.«
+
+Am 22. April lief er in den Sobat ein, der oberhalb Faschoda in den
+Weißen Nil mündet. Hier präsentierten sich ihm die ersten seiner
+Unterthanen -- ein Stamm der Denka. Es waren harmlose Leute, ein
+Hirtenvolk, deren Häuptling nur schwer dazu zu bringen war, an Bord zu
+kommen.
+
+ »Dann aber erschien er in seinem ganzen und besten Staat -- einer
+ Halskette von Glasperlen. Wir machten ihm einige Geschenke. Darauf
+ trat er auf mich zu, nahm erst meine rechte Hand und dann meine
+ linke, leckte sie tüchtig, packte mein Gesicht und that, als ob er
+ mich anspeien wollte.«[8]
+
+Man trug zu essen auf; als Häuptling verzehrte er außer seinem auch
+seines Nebenmannes Teil. Zum Dank wollte er Gordon die Füße küssen,
+aber das wurde ihm nicht gestattet; er brüllte daher mit seinem
+Gefolge einen Lobgesang und trug sein Geschenk, eine Kette Glasperlen,
+vergnügt davon; d. h. der gewandlose Herrscher war viel zu erhaben, um
+sie eigenhändig zu tragen, er überließ sie einem Geringeren, der sie
+vor ihm hertrug.
+
+Wo der Bahr el Ghasal in den Weißen Nil einmündet, bildet das
+Gewässer einen See und Sümpfe. Gordons Dampfer drang stetig vor.
+Die Eingebornen, die er jetzt sah, hatten sich die Gesichter mit
+eingeriebener Holzasche grau gefärbt, elende Menschen, die offenbar
+kaum zu leben hatten.
+
+ »Es ist ein Rätsel, warum sie erschaffen sind! ... ihr Leben schwankt
+ zwischen Furcht und Not. Kein Wunder, daß sie den Tod nicht fürchten
+ ... Ich freue mich auf meine Arbeit, denn ich glaube, ich werde
+ manche Gelegenheit finden, das Elend der armen Leute zu lindern.«
+
+Er fuhr an einer verlassenen österreichischen Missionsstation
+vorüber, wo innerhalb dreizehn Jahren fünfzehn Missionare dem Klima
+erlegen waren, ohne auch nur ~einen~ Schwarzen gewonnen zu
+haben; »die Sklavenhändler hatten den Teufel hingebracht,« sagt ein
+Berichterstatter. Die nächste Station war Bohr, ein Sklavenjägernest,
+»wo man uns nicht allzu höflich empfing.« Am 16. April, also nach
+einer Fahrt von dreiundzwanzig Tagen, ankerte das Boot bei Gondokoro
+zum Erstaunen der Leute, die von ihrem neuernannten Gouverneur noch
+gar nichts gehört hatten. Seine Residenzstadt fand er in verwahrlostem
+Zustand, und unbewaffnet hätte er sich anfänglich in der nächsten
+Umgebung nicht zeigen können; die Eingebornen waren durch lange
+Mißhandlung allerwärts voll Mißtrauen. Gordon aber war der Hoffnung,
+sie mit der Zeit zu gewinnen und bessere Zustände einzuführen.
+
+Man sieht aus seinen Briefen, wie er fleißig von Ort zu Ort zieht,
+vorab darauf bedacht, sich die Herzen seiner schwarzen Unterthanen
+geneigt zu machen. Hier schenkt er den Leuten Korn, dort bringt er sie
+dazu, selbst Mais anzupflanzen.
+
+ »Sie verstehen es ganz gut und thaten es nur deshalb nicht, weil der
+ Ertrag ihnen gewaltsam entrissen wurde; sie pflanzen nur so viel,
+ daß sie nicht geradezu Hungers sterben, und dies nur in entfernt
+ liegenden versteckten Plätzen.«
+
+Die Schwarzen erkannten bald einen Helfer in ihm, und einer der ersten
+Beweise des ihm entgegengebrachten Vertrauens war das Verlangen eines
+Vaters, seine Kinder, die er nicht ernähren konnte, um eine Handvoll
+Durra (eine Art Hirse) zu übernehmen! Gordon nahm die Kinder an und
+kleidete sie. Der Vater aber kümmerte sich von Stund an nicht mehr um
+dieselben und erkundigte sich nicht einmal nach ihnen, als er wieder
+in die Nähe kam. Ein anderes Beispiel von elterlicher Gleichgültigkeit
+erzählt Gordon so:
+
+ »Ein Mann mit seiner Frau und zwei Kindern (unsere ersten
+ Kolonisten!) haben sich nahe bei der Station niedergelassen. Ich
+ verabreiche ihnen täglich etwas Durra, bis das von ihnen gesäete Korn
+ zur Ernte reift. Ich hoffe, ihr Vertrauen zu gewinnen« ....
+
+Nach einiger Zeit lautet der weitere Bericht:
+
+ »Es scheint, daß der Mann, ehe er hierherkam, eine Kuh gestohlen
+ hatte und deshalb seinen Wohnsitz veränderte. Allein der Eigentümer
+ der Milchspenderin machte ihn ausfindig und verlangte die längst
+ geschlachtete und verzehrte Kuh zurück. Auf meiner Runde kam ich bei
+ der Hütte vorüber und sah nur eins der Kinder. Das andere, erzählte
+ mir die Mutter mit befriedigtem Lächeln, hätten sie dem Mann gegeben,
+ dem sie die Kuh gestohlen hatten. Es wäre ihnen auch gar nicht leid,
+ sagte sie, die Kuh wäre besser!«
+
+Wenn die Mutter eine Spur von Verlangen nach ihrem Kind an den Tag
+gelegt hätte, so würde Gordon es ihr wieder verschafft haben; aber
+sie war nichts weniger als betrübt, der Verlust einer Handvoll Durra
+wäre schmerzlicher gewesen. Um dieselbe Zeit kaufte Gordon einen
+Jungen, dessen Bruder ihn um ein Körbchen voll Korn feilbot. Die
+schwarzen Jünglinge hatten es offenbar mit einander ausgemacht, denn
+der eine lächelte so vergnügt wie der andere. Gordon nennt derartige
+Vorkommnisse Experimente; er wollte vor allen Dingen Land und Leute
+kennen lernen.
+
+Die Sklaverei hat die Stämme so heruntergebracht, daß, wie es Gordon
+scheinen will, die Eltern- und Kindesliebe bei ihnen wie ausgestorben
+ist. »Organisierte Auswanderung wäre das Beste für dieses Land.« Aber
+so elend das Leben jener Schwarzen ist, so hält Gordon doch mit Recht
+dafür, daß es anderwärts trotz der gepriesenen Zivilisation im Grunde
+oft nicht besser ist.
+
+ »Für junge Leute ist dieses Klima ein äußerst niederdrückendes; wer
+ aber einmal über die Mittagshöhe hinaus ist und gelernt hat, das
+ Leben lediglich als eine Prüfungszeit zu würdigen, der erträgt es
+ und freut sich sogar der Einförmigkeit. Wir sind immer selbst daran
+ schuld, wenn wir unglücklich sind. Wir verlieren die besten Jahre
+ unseres Lebens, indem wir nach einem Glück jagen, das auf Erden
+ nicht zu finden ist. Das Geheimnis des Glücklichseins liegt darin,
+ daß wir lernen, mit dem zufrieden zu sein, was uns beschert ist ...
+ Die Schwarzen sind mit einer Handvoll Mais zufrieden; Wohlleben ist
+ ihnen ein unbekannter Zustand; sie haben kaum einen Fetzen, ihre
+ Blöße zu decken, und sind trotzdem glücklicher zu nennen als Hunderte
+ von unzufriedenen Menschen bei uns zu Lande mit ihrer erbärmlichen
+ Vergnügungssucht, wo alles hohl ist ... Heutzutage wäre niemand
+ weniger willkommen in der Welt als unser Heiland. Man würde ihn für
+ altmodisch erklären ... Wahres Glück besteht darin, daß man den
+ Willen Gottes annimmt, was dieser auch sei. Wer so weit kommt,
+ hat die Welt und ihre Trübsal überwunden ... Der stille Friede im
+ Leben unseres Herrn wurzelte lediglich in seiner völligen Ergebung
+ in den Willen Gottes. Allerdings giebt es Zeiten, die uns Kampf
+ bringen, aber je nach der Größe des Kampfes ist dann auch das Maß der
+ verliehenen Kraft ... Ich habe kürzlich ein elendes klapperdürres
+ Weib aufgenommen und sie seither gefüttert; gestern hat der Tod sie
+ ganz still geholt, und jetzt weiß sie alle Dinge. Sie hatte ihren
+ Tabak bis zuletzt und starb sehr leicht. Welch ein Wechsel aus ihrem
+ Elend! Ich denke, sie genügte ihrem Lebensberuf so gut, wie eine
+ Königin Elisabeth.«
+
+Ein andermal erzählt er der Schwester:
+
+ »Es schwankt eine Gestalt die Straße herauf -- so dünn, daß der Wind
+ nicht viel Mühe hat sie umzuwerfen; es ist eine Deiner schwarzen
+ Schwestern, ich sehe, sie bleibt stehen und läßt den Regen über sich
+ ergehen. Ich schicke ihr etwas Durra, das wird ihrem abgezehrten
+ Leichnam eine Freude sein. Sie hat nicht einmal einen baumwollenen
+ Rock an, ja ihre ganze Kleidung ist keinen halben Heller wert.«
+
+Am folgenden Tag heißt's weiter:
+
+ »Ich muß Dir doch schreiben, wie's der schwarzen Dame ferner erging,
+ der ich gestern in Wind und Wetter zu helfen versuchte. Ich schickte
+ meinen Diener hinaus, daß er sie in einer der Hütten unterbringe,
+ und dachte nicht anders, als es wäre geschehen. Die Nacht war naß
+ und kalt und ich hörte mehrmals ein Kind schreien, stand deshalb
+ auf und ging hinaus; da lag Deine und meine Schwester tot in einer
+ Pfütze. Ihre schwarzen Brüder waren hin- und hergegangen und hatten
+ keine Notiz von ihr genommen. Ich ordnete an, daß sie begraben werde,
+ und ging weiter; fand ein etwa einjähriges Kind im Gras, das wohl
+ die ganze Nacht in der Nässe gelegen hatte, ohne Zweifel von seiner
+ eigenen Mutter ausgesetzt -- Kinder sind hier immer eine Last! Ich
+ trug's zurück, und da die Leiche noch immer in der Pfütze lag,
+ machte ich mich selber daran, sie mit Hilfe einiger meiner Leute
+ zu beerdigen. Zu meiner Verwunderung fand ich das Geschöpf lebend,
+ brachte ihre schwarzen Brüder aber nur mit großem Mühe dazu, mit
+ Hand anzulegen, um sie aus der Pfütze aufzunehmen. Ich ließ sie in
+ eine Hütte tragen, ein Feuer anzünden, gab ihr etwas Branntwein ein
+ und wusch ihr den Sand aus ihren lebensmüden Augen. Nun liegt sie
+ da, kaum sechzehn Jahre alt! Ich kann nicht anders als hoffen, ihr
+ Schiffchen schwimmt dem Hafen der Ruhe entgegen. Das Kind ist um
+ eine tägliche Portion Durra von einer Familie angenommen worden.
+ Ich zweifle nicht, bin sogar gewiß, daß Du Deine schwarze Schwester
+ einmal finden und dann von ihr hören wirst, daß die ewige Weisheit
+ alles wohl gemacht hat. Ich weiß, daß das nicht leicht zu glauben
+ ist, ~aber es ist doch wahr~! Ich meinesteils ziehe ein Leben
+ unter den Elenden einem Leben trägen Genusses vor. Und es giebt
+ überall Elend. Mancher ist in seinem Reichtum ganz so beklagenswert,
+ wie diese arme Sterbliche. Wie schlecht ist dieser Senf angemacht,
+ sagte einer meiner Offiziere neulich, während unsere schwarzen Brüder
+ um uns herumlaufen und man ihnen alle Rippen zählen kann!« ...
+
+Vierundzwanzig Stunden später:
+
+ »Laß Dir's nicht zu nahe gehen. Deine schwarze Schwester ist heute
+ nachmittag aus diesem Leben erlöst worden, nur von mir betrauert;
+ ihre schwarzen Brüder sind froh, sie los zu sein.«
+
+Neben solchen Erlebnissen finden wir aber den Gouverneur alles
+Ernstes damit beschäftigt, den Sklavenhändlern hinderlich zu sein;
+bald macht er jedoch die Entdeckung, daß den Schurken durch die
+Regierungsbeamten Vorschub geleistet wird. Ein seinem Dolmetscher in
+die Hände gefallener Brief von einer Bande Menschenjäger an den Mudir
+(Bezirksstatthalter) von Faschoda lautete folgendermaßen: »Wir sind
+auf dem Weg mit zweitausend Kühen und allem anderen nach Wunsch.« Die
+Kühe waren von verschiedenen Stämmen gestohlen, und das ›alles andere‹
+bedeutete eine Anzahl Sklaven. Die ganze Sendung wurde abgefangen,
+und die Sklaven soweit es möglich war in ihre Heimat zurückgeschickt;
+einen Teil derselben behielt er. Die Sklavenhändler erhielten
+Gefängnisstrafe; nach einiger Zeit aber nahm er die brauchbaren unter
+ihnen in seine Dienste, so z. B. einen gewissen Nassar, der ein
+Haupttyrann in jener Gegend war. Diesem jagte er eine Karawane von
+mehreren hundert Sklaven ab, die derselbe mit einer Bande bewaffneter
+Schwarzer nach Faschoda zu bringen hoffte; ihn selbst setzte er
+vierzehn Tage hinter Schloß und Riegel und schrieb dann:
+
+ »Ich habe dem Hauptsklavenhändler Nassar verziehen und ihn in meinen
+ Dienst genommen; er ist nicht schlimmer als die andern, und die Leute
+ sind bisher nur in ihrem Thun bestärkt worden. Er ist ein tüchtiger
+ Mensch und kann was leisten.«
+
+Als er nach einiger Zeit seine Station an einen gesünderen Ort
+verlegte, berichtete er:
+
+ »Nicht ich hab's zu stande gebracht, sondern die gewesenen
+ Sklavenhändler, die ich in meinen Dienst genommen.«
+
+Wie mit den Taipings in China, so verfuhr er hier: zuerst überwältigte
+er den Feind und dann benutzte er ihn.
+
+Im Mai hatte er den ganzen Weg nach Berber zurückmachen müssen, um
+seine dort liegengebliebene Ausrüstung flott zu machen. Und dann
+ging's wieder zurück nach dem Sobat. Es dauerte lange, bis seine
+Dampfer ihm nachkamen. Mittlerweile aber ist er nicht müßig, gewinnt
+mehr und mehr das Vertrauen der Schilluk und weiß sich in allen
+Lagen zu helfen, von der Verfertigung einer Rattenfalle an bis zum
+eigenhändigen Nähen einer Hose für einen seiner Schwarzen, an welchem
+wohlgelungenen Kunstwerk er seinen Spaß hat. Und wenn alle anderen
+in der trostlosen Wildnis mutlos werden, so bewahrt er die gute
+Stimmung. »Ich bin längst über den Graben des Mißmuts hinaus,« kann er
+sagen, denn sein Herz hat einen festen Ankerpunkt. Als er einst nach
+viertägiger Abwesenheit auf seine Station zurückkam, umdrängten ihn
+die Schwarzen, die er den Sklavenhändlern abgejagt hatte: sie wollten
+ihm alle die Hand geben. Das freute ihn. »Ich kann jetzt allein
+umhergehen und alle grüßen mich.« Kein Araber durfte das wagen, so
+fürchteten sie die von ihnen unterdrückten Neger. Daß die Scheiks um
+Gondokoro her sich ihm zuneigten, verdankte er übrigens teilweise dem
+Einfluß Abu Sauds. Er machte ihn zu seinem Vakil oder Unterstatthalter.
+
+In Gondokoro geriet Gordon mit Rauf Bey in Konflikt; derselbe war
+Statthalter gewesen, aber, nur auf seinen Gewinn bedacht, hatte er
+nichts gethan, das Gordon ihm nachrühmen konnte. Zwischen ihm und
+Abu Saud entspannen sich alsbald Eifersüchteleien und Zwistigkeiten.
+Gordon fand es rätlich, ihn mit Briefen nach Kairo zu senden, d. h.
+sich seiner zu entledigen. Und mit Abu Saud mußte er bald ähnlich
+verfahren. Dieser hatte sich allerlei Betrügereien zu schulden
+kommen lassen, hatte Elfenbein unterschlagen, das für die Regierung
+bestimmt war. Außerdem gebärdete er sich den andern Offizieren
+gegenüber, als ob er Statthalter wäre. Gordon sah, daß er sich in
+seinem Vertrauen getäuscht hatte. Er gab ihm den Laufpaß, nicht zu
+früh, denn es stellte sich heraus, daß Abu Saud eine Meuterei unter
+den von ihm befehligten schwarzen Truppen anzuzetteln im Begriff
+war. Diese erklärten, sie würden ohne ihn nicht nach Dufile gehen,
+wohin sie das Dampfboot in Teilen tragen sollten, damit es dort
+wieder zusammengestellt werde. Gordon, der unlängst erklärt hatte,
+daß die Losung der Provinz »Hurryat«, d. i. Freiheit, sei, erwiderte,
+sie könnten bleiben wo sie wären, aber keine Macht der Welt würde
+ihn zwingen, Abu Saud mit ihnen zu schicken, denn das würde seine
+»Hurryat« beeinträchtigen. Da sie übrigens von der Regierung Sold
+nähmen, so versähe er sich ihres Gehorsams. Seine feste Haltung
+stellte die Ruhe her, und Abu Saud ging seiner Wege, ohne jedoch
+sofort die Provinz zu verlassen. Nach einigen Wochen kamen Gessi
+und einer der anderen Offiziere um seine Begnadigung ein, weil die
+Kenntnisse des Schurken eben doch dienlich waren. Gordon gab nach;
+»braucht doch jeder selbst Gnade,« schreibt er, »und kriegt sie auch,
+so er darum einkommt.« Die Zurückberufung des Menschen war aber ein
+Fehler; bald darauf mußte er doch nach Kairo geschickt werden.
+
+Auch mit Krankheit hatte Gordon zu kämpfen. Er selbst, zwar zu
+einem Schatten abgemagert, war der einzige Gesunde unter all seinen
+Offizieren. Sein Zelt nannte er ein Lazaret, und Tag und Nacht wartete
+er der Siechen. Der eine der beiden Linant und zwei andere starben,
+mehrere mußten zurückgeschickt werden. »Ich bin wohl, aber sehr
+überreizt,« erklärte er, »was schlimm ist, wenn mir etwas quer kommt.«
+Damit meinte er die kleinen Widerwärtigkeiten, die immer wieder einen
+Teil seiner Last ausmachten. Er mußte sich um alles selbst kümmern.
+
+ »Die Hauptsache ist, immer gerecht und gradaus zu verfahren; keinen
+ Menschen zu fürchten; alle Winkelzüge zu vermeiden, selbst wenn man
+ für den Augenblick dabei verlieren sollte, und allen, die nicht
+ parieren wollen, mit vollster Strenge zu begegnen. Es ist nicht immer
+ leicht!«
+
+Auf dem Wege nach Rigaf oberhalb Gondokoros wurde er von einem Scheik
+aufgefordert, bei ihm Quartier zu nehmen; er lehnte es ab und fand in
+der Nacht sein Zelt von diesem Häuptling und seiner Gruppe umstellt.
+Mit dem Gewehr in der Hand hieß er sie ihrer Wege gehen, und die
+beträchtliche Anzahl gehorchte dem »zum Schatten abgemagerten« Mann.
+
+Ein großer Fortschritt bei den Eingebornen war, daß er ihnen den
+Gebrauch des Geldes beibrachte. Vorher hatte nur Tauschhandel
+existiert; und wenn ein Stamm zum Lasttragen bestellt war, so
+beanspruchte der Häuptling den Lohn, Glasperlen oder Kattun, stets für
+sich. Gordon entdeckte, daß die Leute schlecht dabei wegkamen, und
+nahm sich vor, die Vorrechte des Scheiks in etwas zu verringern. Bei
+nächster Gelegenheit gab er jedem Lastträger selbst einige Glasperlen;
+am folgenden Tage lohnte er sie mit Kupfergeld ab -- jeder erhielt
+einen halben Piaster. Darnach bot er ihnen Glasperlen zum Verkauf an.
+Sie merkten den Witz auch alsbald und erklärten, sie wollten erst noch
+mehr Kupfer verdienen und sich dann eine größere Anzahl Perlen dafür
+geben lassen. Er richtete einen förmlichen Laden ein, wo allerlei zu
+haben war, was den Eingebornen begehrlich erschien; wie bei allen
+Neuerungen ging es auch hier keineswegs ohne Widerspruch ab.
+
+Unter viel Krankheit der Stabsmannschaft ging das erste Jahr zu Ende.
+Gordon beschloß, das Hauptquartier auf die andere Seite des Flusses
+nach Lado zu verlegen, um der Sumpfluft bei Gondokoro zu entgehen.
+Um diese Zeit kam sein Ingenieur Kemp, der in Dufile, zweihundert
+Kilometer weiter oben am Nil, damit beschäftigt war, den Dampfer
+zusammenzufügen, mit dem der Albert Njansa erreicht werden sollte, mit
+der Nachricht zurück, daß von dem Unternehmen vorläufig abgestanden
+werden müsse. Die Stämme waren mit seiner moralisch ganz ungenügenden
+Mannschaft ins Treffen geraten. Doch brachte Long, der Amerikaner,
+bessere Kunde, der mittlerweile bei dem König Mtesa von Uganda gewesen
+war und sich einer guten Aufnahme bei der schwarzen Majestät erfreut
+hatte. Außerdem hatte er die Wasserverbindung zwischen Urondogani und
+Foweira entdeckt, wofür ihm Gordon großes Lob zollte.
+
+Die eignen Erfolge Gordons faßt ein Sachverständiger mit folgenden
+Worten zusammen: »Gordon hat Wunder vollbracht in der kurzen Zeit. Bei
+seiner Ankunft fand er siebenhundert Mann Soldaten in Gondokoro vor,
+die sich nur truppweise und bewaffnet in die nächste Umgebung wagten;
+mit diesen hat er nicht weniger als acht Stationen besetzt. Sir Samuel
+Bakers Äquatorzug hat die ägyptische Regierung über 20 Millionen Mark
+gekostet, während Gordon bereits Geld genug nach Kairo geschickt
+hat, um alle Unkosten seines Unternehmens nicht nur für dieses Jahr,
+sondern auch für das kommende zu decken.« Es war dies lediglich ein
+Resultat seiner getreuen und umsichtigen Verwaltung der rechtmäßigen
+Einkünfte, hauptsächlich des Elfenbeinmonopols. Ein schönerer Erfolg
+aber war der, daß trotz seiner Strenge gegen die Araber, oder vielmehr
+gerade wegen dieser Strenge, die Schwarzen landauf landab angefangen
+hatten, in ihm ihren einzigen Helfer gegen die Unterdrücker zu
+erblicken. Er hatte ihr Vertrauen gewonnen, so unmöglich es anfangs
+schien.
+
+Der Hauptplan für das Jahr 1875 war die Verbindung Gondokoros mit
+dem südlicheren Foweira, die durch eine Reihe von befestigten, je
+eine Tagereise von einander entfernten Stationen hergestellt werden
+sollte. Foweira konnte zur Zeit nur durch eine beschwerliche, sechs
+Monate in Anspruch nehmende Reise erreicht werden und eine Karawane
+mußte mindestens hundert Mann stark sein. Später waren zehn Mann
+ausreichend, um den Weg in Sicherheit zurückzulegen, und statt der
+Monate genügten Wochen. Außerdem hoffte Gordon, den Äquatorbezirk von
+einer neuen Richtung her zugänglich zu machen, hatte er doch selbst
+die Schwierigkeiten der Verbindung mit Ägypten über Khartum reichlich
+erfahren. Nach seinem Plan sollte die Mombasbay am indischen Ozean zur
+Kopfstation werden, von wo aus eine Karawanenstraße durch Mtesas Land
+an die großen Seen führen sollte. Dem Khedive war der Vorschlag nicht
+unwillkommen, denn es stand mit auf seinem Programm, die ägyptische
+Flagge auf dem Albert Njansa wehen zu lassen. Es wurde auch ein Anfang
+gemacht, nämlich ein Pascha entsandt, um den Plan zu verwirklichen;
+zur Ausführung kam er aber nicht.
+
+Gordons nächste Briefe erzählen von einem König und einem Häuptling,
+die ihm zu schaffen machten. Von Foweira war Nachricht gekommen,
+daß Kaba Rega, der König von Unyoro, sich mit den Sklavenhändlern
+verbündet hatte und einen Überfall auf jene Stadt beabsichtigte.
+Er beschloß diesen Kaba Rega seines »Stuhls«[9] zu entsetzen, und
+einen gewissen Rionga zum König zu machen; es war dies aber schon
+der Entfernung wegen leichter geplant als ausgeführt und blieb
+einstweilen ein Vorhaben. Der unruhige Häuptling, Scheik Bidden, war
+näher bei der Hand; diesem hatte Gordon im Herbst einen Boten mit
+Geschenken zugeschickt. Den nächsten Boten werde er umbringen, hatte
+der schwarze Machthaber zurückmelden lassen. Bidden beherrschte einen
+Distrikt in der Nähe von Rigaf, und Gordon sah, daß er nicht weit
+würde vordringen können, ehe er sich Bidden botmäßig gemacht hätte,
+der überdies ganz kürzlich einen dem Statthalter freundlich gesinnten
+Häuptling überfallen hatte. Das einzige Mittel, ihn Respekt zu lehren,
+bestand darin, ihm sein Vieh abzujagen. Gordon beschreibt diese Razzia
+folgendermaßen:
+
+ »Ich ließ sechzig Mann auf der Ostseite des Flusses vordringen
+ und hundert Mann auf der Westseite, während ich selbst mit einem
+ Offizier und zehn Mann ein Boot bestieg in der Absicht, nach den
+ Inseln zu rudern, wo die Umzäunungen für das Vieh sich befanden. Um
+ zehn Uhr abends stießen wir ab, es war eine wunderschöne Mondnacht.
+ Die Entfernung bis zu Biddens Inseln betrug etwa fünf Wegstunden;
+ und dort fangen die Stromschnellen an. Nach einiger Zeit geriet das
+ Boot in eine Untiefe und mußte zurückbleiben. Der Offizier mit acht
+ Soldaten marschierte voraus, mich zurücklassend ... Wir waren nicht
+ weit von einer der Inseln und man konnte Stimmen unterscheiden. Ich
+ war allein mit nur zwei Mann und einem Dolmetscher! Wir gingen eine
+ Strecke weiter und setzten uns dann nieder ...«
+
+Sowohl die westliche als östliche Abteilung seiner Leute sollte hier
+mit ihm zusammenstoßen; die sudanische Mannschaft war aber nicht sehr
+zuverlässig. Es war vier Uhr, und in weniger als zwei Stunden mußte
+es tagen. Gordon sagt, militärisch sei die Lage eine ganz schlimme
+gewesen, aber sie war nicht zu ändern. Er legte sich daher ruhig hin
+und schlief eine Weile; als er aufwachte, stand das Morgenrot am
+Himmel und man hörte eine Trommel, das Signal zum Melken.
+
+ »Das Vieh ist nur nachts in der Umzäunung; diese hat einen einzigen
+ Eingang, und die Krieger schlafen in der Mitte. Für den Angriff
+ empfiehlt sich folgende Methode; man postiert ein paar Mann am
+ Eingange, die bei Tagesanbruch, ehe die Herde hinausgetrieben wird,
+ mit drei Schüssen ein Zeichen geben. Wartete man, bis das Vieh im
+ Freien ist, so kriegte man nicht leicht ein Stück. Die Helden von
+ Herdenwächtern suchen das Weite, sobald sie schießen hören, geben
+ aber den Alarm mit der Kriegstrommel, wenn die Flucht keine zu eilige
+ ist. Die Umzäunung zu verteidigen, fällt ihnen nicht ein; und es
+ ist immer am besten, sie laufen zu lassen, denn die Kühe sind die
+ Hauptsache. Während ich also die rote Glut im Osten aufsteigen sah,
+ ertönten uns gegenüber drei Signalschüsse, und alsbald wirbelte die
+ Trommel. Es war aber ein schwacher Wirbel, und die anderen Trommeln
+ schwiegen dazu ... Nach einiger Zeit erschienen unsere Verbündeten,
+ der Scheik und seine Leute. Biddens Krieger, meldeten diese, hielten
+ stand inmitten ihrer Kühe und schossen ihre Pfeile ab. Bald aber
+ liefen sie doch davon, und die Herde war gewonnen. Ich entschädigte
+ den Scheik mit dem, was keineswegs unser Eigentum war« ...
+
+Die andere Abteilung hatte ähnlichen Erfolg, und so wurde der
+widerspenstige Bidden ohne Blutvergießen oder Dorfverbrennen durch
+einen Verlust von zweitausendsechshundert Stück Vieh gezüchtigt.
+
+Etwa vierzehn Tage später machte Gordon einen Ausritt und, auf einen
+Trupp Eingeborner stoßend, fragte er sie, ob sie Biddens Leute wären.
+Da wiesen sie auf einen alten Mann, der unter einem Baume saß, und
+sagten bedeutungsvoll: »Bidden!« Der gefürchtete Scheik war ein
+blinder Greis! Gordon ging sofort auf ihn zu und schenkte ihm seine
+Pfeife (übrigens ein Blas-, kein Rauchwerkzeug) und eine Portion
+Tabak. Das freute den Alten, und er versprach dem Gouverneur einen
+freundschaftlichen Gegenbesuch. Als er sich einfand, gab Gordon
+ihm eine Anzahl seiner Kühe zurück, welche Großmut den günstigsten
+Eindruck auf die Stämme machte. Bidden, der Greis, war indessen nur
+dem Namen nach Scheik; der wirkliche Machthaber war sein Sohn.
+
+Seine Arbeit während der nächsten Monate faßt Gordon so zusammen:
+
+ »Um es kurz zu sagen, ist's wenig genug -- an einem Fluß hin
+ befestigte Stationen errichten und Bote durchzwingen, wo die
+ Schifffahrt fast unmöglich ist -- das ist so ziemlich alles, und die
+ Mühe ist größer als der Erfolg.«
+
+Aber ob es auch wenig scheint, so weiß Gordon doch, daß durch
+anscheinend geringe Dinge oft Großes erreicht wird. Zwar weiß er
+nicht, daß er in der Vorbereitung auf Größeres steht, aber im Glauben,
+daß Gott ihn an jenen Posten gestellt hat, dringt er vorwärts, und als
+sein Motto für diese Zeit kann das Wort des Predigers gelten: »Alles,
+was dir zu thun vorkommt, das thue frisch!« Der Held von China, der
+Mann von Gravesend, thut überall sein Bestes, mag die übernommene
+Arbeit äußerlich eine glanzvolle sein oder nicht.
+
+Die Nilbarken, »Nuggers« genannt, durch die Stromschnellen und
+zwischen Felsen flußaufwärts zu bringen, scheint eine Riesenarbeit
+gewesen zu sein; er spricht von sechzig bis achtzig kohlschwarzen,
+atlashäutigen Eingebornen, die jedem Boot vorgespannt sind. Die Stämme
+sahen es erstaunt mit an und ließen ihre Zauberer das Wasser schlagen,
+teils freundlich, teils feindlich gesinnt. Und wenn die Lage oft eine
+verzweifelte zu sein schien, so war sie doch so, daß Gordon in seiner
+eigentümlichen Weise schreiben konnte:
+
+ »Ich wußte mir selbst oft nur damit zu helfen, daß ich mir die
+ Nuggers herbetete, wie einst die Truppen in China, wenn sie nicht mir
+ nach in die Bresche wollten.«
+
+Thatkraft und Glaube waren bei ihm eng verschwistert! Er hat in
+jenen Tagen und Wochen lange Briefe geschrieben, die eine Kette von
+Schwierigkeiten berichten, aber er bewältigte sie, und nacheinander
+wurden die Stationen Kirri, Muggi, Labore und Dufile erreicht. Ob der
+Khedive mit ihm zufrieden ist oder nicht, darnach fragt er nicht.
+
+ »Ich danke Gott, daß ich's längst aufgegeben habe, mich um die Gunst
+ oder Ungunst von Menschen zu kümmern. Ich kann ehrlich sagen, ich
+ weiß keinen, der die Verbannung und Quälerei meines gegenwärtigen
+ Lebens ertrüge ... Ich thue mein Bestes, soweit mein Verstand mir's
+ zeigt, und suche gegen alle gerecht zu sein ... Was würde ich hier
+ zurücklassen, wenn es Gottes Wille wäre, daß man mich zurückriefe --
+ ein Zelt, Hitze bei Tag und feuchte Kälte bei Nacht, die geringste
+ Nahrung, die sich denken läßt: trockenen Zwieback, gedörrtes Fleisch,
+ etwas Maccaroni, das ist alles. Mit Tagesanbruch an die Arbeit
+ und früh zu Bett (ich lege mich schon um sieben oder acht Uhr der
+ Moskitos wegen, und wollte: sich legen hieße schlafen!) Nichts zu
+ lesen, ~ein~ Buch ausgenommen, und dieses nicht so oft als
+ man wünschte, weil die Ruhe fehlt, die zu andächtiger Betrachtung
+ der göttlichen Geheimnisse nötig ist; den lieben langen Tag nichts
+ als Plackerei, an alles selbst denken, alles selbst thun, wenn's
+ geschehen soll, das ist zur Zeit mein Leben ... Die arme Exzellenz
+ ist der Hauptsklave.«
+
+Und während der ganzen Zeit lassen seine von Khartum ihm folgenden
+Dampfer auf sich warten. Zuletzt kann er aber doch schreiben:
+
+ »Wie froh bin ich, daß die Verbindung hergestellt ist! Gestern kam
+ ein Mann allein von Bidden her; vor einiger Zeit wagten die Leute nur
+ zu zwanzig und dreißig den Weg. Die Schwarzen würden sich im hohen
+ Gras versteckt haben und hätten den Hintermann angespießt. Jetzt
+ sind sie ganz freundlich. Ein Bari in meinem Dienst hat dieser Tage
+ ein Schaf gestohlen, und alsbald kamen die Beschädigten zu mir, um
+ Recht und Gerechtigkeit zu erlangen, und sie kamen nicht umsonst.
+ Ist das nicht schön? Auch unter meinen Leuten hat eine Veränderung
+ stattgefunden; sie fürchten die Schwarzen nicht mehr wie früher,
+ es herrscht ein besseres Einverständnis ... Die Stämme haben viel
+ Verkehr miteinander, und auch solche, die uns nicht kennen, wissen es
+ jetzt, daß sie uns nicht zu fürchten brauchen.«
+
+Allerdings hatte er die Eingebornen auch von der feindlichen Seite
+kennen zu lernen, so z. B. schreibt er zwischen Muggi und Labore:
+
+ »Es herrscht große Aufregung auf der anderen Seite des Flusses; ein
+ Scheik in einem roten Hemd mit zwanzig Bewaffneten läuft hin und her
+ und Zauberfeuer sind zu sehen. Sonderbar, daß all dies Entsetzen
+ dadurch hervorgerufen scheint, daß ich in einem Nachen überfuhr. So
+ viel Vorstellung mußte der Anblick der Nuggers ihnen doch geben, daß
+ wir überfahren können, wenn wir wollen ... Mein Fernglas zeigte mir
+ eine Anzahl Eingeborne, die unter einem Baume saßen. Nach einiger
+ Zeit stand einer auf und wandte sich gegen Norden, pflückte einige
+ Kräuter und schwenkte sie fortwährend gegen unser Lager; darnach
+ lief er südwärts und machte eine ähnliche Bewegung, als ob er Hilfe
+ herbeiwinke. Ohne Zweifel war er ein Prophet, der Israel verfluchen
+ sollte. Sie waren etwa dritthalbtausend Fuß von uns entfernt. Um
+ ihnen ein bißchen Schrecken einzujagen, schoß ich eine Kugel so ab,
+ daß sie etwa fünfzig Schritte zu ihrer Rechten in den Boden schlug.
+ Da hörte das Zaubern sofort auf, und sie wunderten sich offenbar,
+ dabei ertappt zu sein.«
+
+Linant, der Bruder des in Gondokoro dem Fieber Erlegenen, kam um
+diese Zeit von einem Streifzug nach Makade zurück. Vorher war er bei
+Mtesa gewesen und hatte Stanley, den bekannten Afrikareisenden, dort
+getroffen. Gordon sollte nun abermals erfahren, was seine Araber
+wert waren. Er hatte an vierzig Mann über den Fluß geschickt, weil
+Nachricht eingetroffen war, daß einer der längst erwarteten Dampfer
+in einiger Entfernung fest säße. Kaum waren aber die Leute gelandet,
+als sie von einem Trupp Eingeborner, die sich im hohen Grase verborgen
+gehalten hatten, überfallen und zurückgeworfen wurden. Gordon fuhr
+alsbald selbst über und versuchte, durch seinen Dolmetscher eine
+Unterhandlung anzuknüpfen. Die Schwarzen wollten aber nichts davon
+wissen. Als den »Häuptling« glaubten sie ihn an seinem Schirm zu
+erkennen und suchten ihn zu umringen. Er ließ sie ruhig näher kommen
+und schickte dann eine Ladung Kugeln unter sie. Zu treffen waren sie
+übrigens nicht leicht, denn sobald sie den Feind schußfertig sahen,
+lagen sie auch schon auf dem Leib. Am folgenden Morgen schlug Linant
+vor, mit einem Teil der Mannschaft überzusetzen und den Eingebornen
+ein paar Häuser in Brand zu stecken. Gordon gab es zu, denn es war zu
+fürchten, die kampflustigen Gesellen möchten den Dampfer überfallen.
+Er selbst blieb zurück. Gegen Mittag hörte er schießen und erblickte
+Linant, den er an seinem roten Hemd erkannte. Er konnte auch seine
+Mannschaft beobachten, es waren gegen vierzig Mann. Mit einemmale
+aber waren sie verschwunden, und sein Fernrohr zeigte ihm ungefähr
+dreißig Schwarze, die eiligst flußabwärts liefen. Er vermutete, sie
+suchten den Dampfer, und schickte einige Kugeln unter sie. Nach
+einiger Zeit erblickt er einen einzelnen Mann von seinen Leuten, der
+ohne Waffen daherkam; er sandte alsbald einen Nachen über den Fluß
+und ließ ihn holen. Die Eingebornen hätten ihn entwaffnet, erklärte
+er, und die andern wären alle tot. Gordon hatte nur noch dreißig Mann
+bei sich, und diese waren hilflos vor Angst. Trotzdem beschloß er zu
+handeln. Die Station war unbefestigt und es galt Weiber und Kinder
+in Sicherheit zu bringen; er mußte sich nach der nächsten Station
+durchschlagen. Dies ließen die Eingebornen ruhig geschehen, nur daß
+ihr Zauberer von einem Felsen herunterschrie: »Ha ha! ta ta a!« soviel
+als »Geschieht euch recht!« Gordon belehrte aber den Hexenmeister
+mit einer Kugel, daß es unklug sei, den Feind in Schußweite zu
+verwünschen. Leider stellte es sich heraus, daß nicht nur fast die
+ganze Mannschaft, sondern Linant selbst dem Überfall erlegen war; und
+zwar war dieser offenbar ein Opfer seines roten Hemdes geworden, das
+den Schwarzen als begehrenswerte Beute erschien. Er fiel zuerst, von
+seiner Mannschaft verlassen, die vor Schrecken zu schießen vergaß;
+und als einer dahin und ein anderer dorthin lief, wurden die meisten
+durchspeert. Gordon betrauerte Linant um so mehr, als er ihm das
+unselige Hemd selbst geschenkt hatte. Aber trotz des empfindlichen
+Verlustes kann er die Eingebornen nicht verdammen; er kann es
+vielmehr begreifen, wenn sie sagen: »Wir brauchen eure Glasperlen und
+euren Kattun nicht -- laßt uns in Frieden.« Und er denkt daran, wie
+ernsthaft sie zauberten, ehe sie den Überfall wagten; er sagt sogar,
+er hätte eine Ahnung gehabt, daß der Sieg diesmal nicht auf seiner
+Seite sein würde.
+
+»Es war ihnen offenbar ernst mit ihrem Beten,« schreibt er, »sie
+wußten, daß sie Hilfe nötig hatten, und wendeten sich an den
+unbekannten Gott. Denn wenn der Schwarze auch den wahren Gott nicht
+kennt, so kennt Gott doch ihn; und Gott ließ sie merken, daß sie
+beten müssen, und erhörte ihr Gebet. Rosse werden zum Streittag
+bereitet, aber der Sieg kommt vom Herrn.«
+
+Trotzdem er aber so denkt, weiß er, daß die Schwarzen gezüchtigt
+werden müssen, was dadurch geschieht, daß er ihnen zweihundert Kühe
+und fünfzehnhundert Schafe entführt. Da auch des Häuptlings Tochter
+eingefangen wurde, ließ er dem Vater sagen, wenn er versprechen wolle,
+sich künftig ruhig zu verhalten, könne er sie wieder haben. Die
+Köpfe Linants und seiner Gefährten hatten die Schwarzen an Pfählen
+aufgesteckt, die Leiber aber aus Furcht vor Gespenstern begraben.
+Es blieb bei diesem einen Überfall, aber noch eine gute Strecke
+begleiteten sie Gordon in gehöriger Entfernung am Ufer hin; und mehr
+wie einmal konnte er »Balak und Bileam« auf den Anhöhen beobachten,
+wie sie ihm von Herzen alles Böse wünschten.
+
+Im September endlich wurde Dufile erreicht, wo der Nil in einem engen
+Thal zwischen Hügelreihen fließt; der Fluß, dessen Wassermassen an
+mehreren Stellen einem See gleichen, ist dort nur etwa hundert Fuß
+breit. ~Alles umsonst!~ war Gordons erster Eindruck, als er nach
+unsäglichen Mühen so weit gekommen war. Es hieß: bis hierher und nicht
+weiter, die Folafälle waren die Grenze. Doch konnte er sich damit
+trösten, daß er die Schifffahrt wenigstens bis dahin als möglich
+nachgewiesen hatte, und die errichteten Stationen von bleibendem Wert
+waren. Nachdem er sich vierzehn Tage in Dufile aufgehalten hatte,
+das er als eine Insel in einem Meer von Riedgras beschreibt, zog er
+landeinwärts nach Faschelie, wo er eine Bande Sklavenjäger aushob.
+An diesem Ort erreichte ihn ein »kühler« Brief des Khedive. Gordon,
+den es ohnehin verlangte, eine Statthalterschaft niederzulegen, die
+ihn lediglich zum Entdeckungsreisenden machte, gab alsbald Befehl zu
+packen und schickte sich an, eine Depesche abzufertigen, die seine
+Rückkehr melden sollte. Als nach wenig Tagen aber ein Brief in anderer
+Tonart von Kairo den ersten zu vernichten schien, hatte er nicht
+das Herz, sein Amt Knall und Fall niederzulegen. Dahin aber hatte er
+sich entschlossen, daß er es einem seiner Untergebenen überlassen
+wollte, zum erstenmal den ~Albert Njansa~ zu befahren. Dieses
+Zurücktreten von der Ehre, die sein Werk krönte, ist so bezeichnend
+für den Mann, daß man ihn selbst darüber hören muß:
+
+ »Ich wünsche einen Beweis zu liefern, wie wenig von den Lobhudeleien
+ zu halten ist, die man dem Führer einer Expedition zollt. Hat nicht
+ mein Schiffszimmermann das Seine gethan, daß wir die Nuggers so weit
+ gebracht haben? Es ist keine Kunst den Njansa zu befahren, wenn
+ die Boote zur Stelle sind. Es ist die Arbeit vieler und einer hat
+ die Ehre. N. N. schrieb mir neulich und gratulierte mir zu meinen
+ Lorbeeren. Da ~muß~ ich ja zeigen, daß es nichts damit ist!«
+
+Am letzten Tag des Jahres kann er schreiben:
+
+ »Endlich ist der Dampfer in Sicht, d. h. die Lastträger, welche die
+ einzelnen Teile daherschleppen. Die Arbeit war eine entsetzliche, und
+ das ganze Jahr ist eine Last gewesen, die manch sauren Schweißtropfen
+ gekostet hat.«
+
+Und Gordon erklärt seiner Schwester, die schönste Entdeckungsreise,
+die er sich noch denken könne, wäre der Rückweg in die Heimat.
+
+Ein Ergebnis seines Fleißes in jener Zeit sind seine Nilkarten.
+
+ »Wir haben den Fluß (im halben Zollmaßstab per Meile) von Khartum bis
+ Dufile und wieder von Foweira bis Mruli, und ich hoffe, entweder ich
+ oder einer meiner Offiziere wird die Strecke von Dufile bis zu den
+ Murchisonfällen auch noch aufs Papier bringen.«
+
+Somit blieben drei Lücken: 1) von Kositza nach Mruli, 2) von Foweira
+nach den Murchisonfällen und 3) der Albertsee. Trotz seinem Vorhaben,
+nicht selbst den See zu befahren, füllte er diese Lücken noch aus. Die
+Folafälle bei Dufile, wo der Fluß etwa eine Stunde lang durch tiefe
+Schluchten sich stürzt, sind die einzige Strecke des ganzen Nils, die
+er nicht zu durchschiffen vermochte.
+
+ [Illustration: Kartenskizze des Sudan.]
+
+Ende Januar 1876 erreichte er Fatiko und Foweira im Lande Unyoro;
+dort hörte er, daß Kaba Rega mitsamt seinem Sessel sich nach Massindi
+davongemacht hatte. Foweira wurde nach einemfünftägigen Marsche
+durch dornenbewachsenes Land erreicht. Von dort ging er nach Mruli,
+um dann nach Urondogani vorzudringen. Die kurze Strecke von diesem
+Ort bis zum Viktoriasee ist das »einzige Stückchen« Nil, das Gordon
+schließlich nicht selbst bereiste.
+
+Im Februar traf er mit seinem Unterbefehlshaber Gessi in Dufile
+zusammen. Letzterer machte sich von dort mit zwei Booten nach den Seen
+auf den Weg. Er umschiffte den Albert Njansa in neun Tagen und fand
+ihn etwa zweihundert Kilometer lang und achtzig breit. Durch einen
+Sturm wurde er an eine Insel verschlagen, die voll von Kaba Regas
+Truppen war; diese weigerten sich aber mit seinen Leuten anzubinden,
+weil sie den weißen Mann für einen Teufel hielten. Gessi errichtete
+des Khedive Flagge am See, und die Stämme ergaben sich nacheinander.
+Die Schwarzen in jener Gegend waren gekleidet, während in den vorher
+durchreisten Nilstrecken die Menschen nackt gingen.
+
+Die nächsten Monate bis zum August waren für Gordon eine Zeit
+verhältnismäßiger Ruhe; er reiste zwischen den gewonnenen Stationen
+hin und her, und seine Briefe bezeugen es, daß seine Gedanken in
+stillen Tagen sich am liebsten den ewigen Dingen zuwenden.
+
+Im September war er wieder auf dem Marsche nach Massindi. Kaba Rega
+hatte die meisten seiner Anhänger verloren, während Rionga und ein
+anderer Häuptling sich um die Herrschaft stritten. Längere Zeit vorher
+hatte Gordon Mannschaft nach Massindi abgefertigt und aus erhaltener
+Botschaft konnte er nur schließen, daß dieser Ort von den betreffenden
+Truppen besetzt sei. Als er aber in die Nähe kam, fand er, daß seine
+Araber ihn betrogen hatten und nie dort waren, obschon der Anführer
+seine Meldungen von dorther datierte. Er selbst kam mit einer kleinen
+Anzahl und geriet durch diesen Verrat der nichtswürdigen Mannschaft
+förmlich in eine Falle.
+
+Die Stämme lauerten ihm von allen Seiten her auf.
+
+ »Ich danke Gott nicht nur mit Worten, sondern aus tiefster Seele,«
+ schrieb er, »daß er uns glücklich durchbrachte.«
+
+Er hatte nicht hundert Leute bei sich, und von diesen war ein Drittel
+kaum sechzehnjährig. Die Mannschaft, die er nach seinem Befehl in
+Massindi wähnte, lag die ganze Zeit auf der faulen Haut in Keroto,
+eine Tagereise davon entfernt. Als er hinkam, brach er in einen
+»wütenden« Zorn aus, dann aber beruhigte er sich.
+
+ »Als einer, dem selbst Erbarmung widerfahren ist, konnte ich nur
+ Gnade vor Recht ergehen lassen,« sagte er. »Sie sind ein erbärmliches
+ Volk, was kann man von ihnen erwarten!«
+
+Während der nächsten Wochen errichtete er noch verschiedene Stationen,
+von welchen aus der ägyptische Einfluß sich geltend machen sollte. Es
+blieb den Besatzungen überlassen, den Kaba Rega in Ordnung zu halten.
+
+Die drei Jahre seiner persönlichen Statthalterschaft am Äquator waren
+eine Zeit der Pionierarbeit und der Vorbereitung für weitere drei
+Jahre, die nun folgten. Er sollte erst zu dem Kampf gestählt werden,
+der ihm bevorstand. Nur durch innerliches Wachstum geht ein Mann wie
+Gordon »von Kraft zu Kraft«.
+
+Am 29. Oktober schrieb er von Khartum aus: »Es giebt englische Spatzen
+hier; was für eine Freude, sie zu sehen!« Anfangs Dezember war er in
+Kairo, und am heiligen Abend des Jahres 1876 begrüßten ihn die Seinen
+in der Heimat.
+
+
+
+
+ Fünftes Buch.
+
+ Der General-Gouverneur des Sudan.
+
+
+ 1. Als Ritter ohne Furcht.
+
+»Man wirft mir vor, den Engländern nicht zu trauen,« sagte der
+alte Khedive Ismail, als es sich um seine Absetzung handelte,
+»habe ich nicht noch immer dem Gordon Pascha vertraut? Der ist ein
+ehrlicher Mann, ein guter Landverwalter und kein Diplomat!« Ismail
+war darum auch keineswegs damit einverstanden, einen so tüchtigen
+Mann zu verlieren. Gordon aber hatte erklärt, daß er nur dann
+zurückkehren werde, wenn ihm die gesamte Statthalterschaft der
+Sudanländer übertragen würde. Seine drei Jahre am Äquator waren
+ja keineswegs verlorene Zeit gewesen, er hatte die Sklavenjagd
+in seinem Bezirk geschwächt, wenn nicht unterdrückt, aber von der
+Hauptstadt Khartum aus hatte der General-Gouverneur Ismail Jakub
+Pascha seinen Bestrebungen stets entgegengearbeitet. Er mußte in
+Zukunft ganz freie Hand haben. Daß man ihm so weit entgegenkommen
+werde, erwartete er keineswegs, als er sich zu einer Besprechung
+nach Kairo begab; der Khedive aber war zu allem bereit. Jakub wurde
+beseitigt, und Gordon verließ die Residenz als Oberstatthalter einer
+von Südägypten bis zum Äquator, und vom Roten Meer bis Darfur sich
+erstreckenden Provinz. Er sollte drei Vakile oder Unterstatthalter
+haben, einen im eigentlichen Sudan, einen in Darfur, und einen am
+Roten Meere. Als die beiden Hauptzwecke seiner Verwaltung war »die
+Vervollkommnung der Verkehrsmittel und eine völlige Unterdrückung
+des Sklavenhandels« in Aussicht genommen. Außerdem hieß es im neuen
+königlichen Bestallungsschreiben: »An der abessinischen Grenze giebt
+es Streitigkeiten; ich trage Ihnen auf, dieselben zu schlichten«.
+
+Am 18. Februar 1877 machte sich Gordon zum zweitenmal nach dem Sudan
+auf den Weg, nicht auf sich selbst vertrauend, wohl aber stark in der
+Kraft seines Herrn.
+
+ »Ich ziehe allein hinauf mit dem allmächtigen Gott, der mich führen
+ und leiten wird; wie gut ist's, sich so völlig auf Ihn zu verlassen
+ und nichts zu fürchten, ja und des Gelingens gewiß zu sein!«
+
+Nach des Khedive Erklärung gab es Grenzstreitigkeiten mit
+~Abessinien~. Die Lage war kurz die: nach König Theodors Tod
+hatte ein gewisser Kasa, unter dem Namen Johannes, sich zum Herrscher
+aufgeworfen, allein Johannes war, wie Gordon treffend bemerkte, nur
+da König, wo er sich gerade befand, anderwärts galt er nichts. Im
+Trüben fischend hatten die Ägypter darauf Bogos annektiert, während
+der rechtmäßige Regent, Walad el Michael, von Johannes gefangen
+gehalten, aber aus Furcht vor dem allzunah heranrückenden Nachbar
+unter der Bedingung freigelassen wurde, daß auch er sich gegen den
+gemeinsamen Feind zur Wehre setzen werde. Die Abessinier hatten
+zuerst die Oberhand. Walad aber ersah seine Gelegenheit, den Ägyptern
+sich anzuschließen und andere abessinische Häuptlinge aufzuwiegeln.
+Als nun Johannes sich von Anarchie umgeben sah, schickte er einen
+Gesandten nach Kairo und bot das südlich von Bogos gelegene Hamasen
+als Friedensopfer an. In Kairo aber nahm man gar keine Notiz von
+diesem Botschafter, ja man gestattete dem Pöbel, ihn auf offener
+Straße zu beleidigen, dann schickte man ihn zurück! Natürlich war
+Johannes voll Ingrimm, und im Bewußtsein, nicht zum besten gehandelt
+zu haben, sandte der Khedive nun Gordon als Bevollmächtigten, die
+Mißhelligkeiten beizulegen.
+
+In der Wüste zwischen Massaua am Roten Meer und Keren (Senheit)
+spricht sich Gordon über seine Lage so aus:
+
+ »Nun ich wieder in dieser weiten Einsamkeit auf meinem Kamel
+ bin, überdenke ich meine Lage. Dem Johannes habe ich annehmbare
+ Bedingungen geschickt und hoffe, mit seinem einflußreichen General
+ Alula in Senheit zusammenzutreffen. Gelingt es mir, die Sache
+ abzuwickeln, dann gehe ich alsbald nach Khartum und von dort nach
+ kurzem Aufenthalt nach Darfur, das in Aufruhr sein soll, doch glaube
+ ich das nicht recht ... Die Wohlgeneigtheit des Khedive ist über
+ alle Begriffe. Er hat Zeila, Berbera und Harrar meiner Provinz
+ beigefügt. »Was du wirst von mir bitten, will ich dir geben, bis
+ an die Hälfte meines Königreichs.« Was aber ist die Kehrseite? Das
+ Opfer eines Lebens, das man erst selbst durchkämpfen muß. Sein Leben
+ zu sofortigem Tod hingeben, ist nicht das schwerste! Aber ich habe
+ den Kampf übernommen und will mein Leben nicht in Anschlag bringen.
+ Und es ist mir dabei, als ob ich mit dem Khedive nichts mehr zu
+ thun hätte. Gott der Herr muß den Kampf selbst unternehmen, ich
+ bin zur Zeit sein Werkzeug. Die Ehre, die der Khedive mir erzeigt,
+ hat mich gar nicht, oder richtiger nur sehr wenig bewegt; ich bin
+ doch wohl ein bißchen stolz auf das Vertrauen, das er mir schenkt.
+ Mancher möchte die große Verantwortung scheuen, aus Furcht, ihr nicht
+ gewachsen zu sein; ich habe nicht daran gedacht. Ich weiß gewiß, daß
+ mir's gelingen wird, denn ich verlasse mich nicht auf meinen Verstand
+ -- Er leitet meine Wege. Sind doch alle zukünftigen Ereignisse für
+ einen jeden von uns vorherbestimmt. Des Negers, des Arabers, des
+ Beduinen Laufbahn, ihr Zusammentreffen mit mir u. s. w. ist längst
+ beschlossen. Wie kann da einer sich viel darauf einbilden, wenn er
+ etwas zu stande bringt!« ...
+
+Er hatte eine Zusammenkunft mit Walad, und kam durch Alula zu einem
+Einverständnis mit Johannes, der mittlerweile von Menelek, dem König
+von Schoa, im Süden bedrängt war; eigentliche Erfolge konnte er aber
+nicht abwarten. Seine Anwesenheit in Khartum war dringend notwendig,
+denn die Sklavenjäger im Sudan thaten ihr möglichstes, die noch
+verstattete Frist auszunützen. Er beeilte sich daher. Schon auf dem
+Wege verschaffte er den Leuten Recht, wo er konnte. Die Thatsache,
+daß der neue Gouverneur einen jeden anhöre, der etwas zu klagen habe,
+ging wie ein Lauffeuer durchs Land. Er mußte zuletzt einen wandernden
+Briefkasten einführen, in welchen die Bittsteller ihr Anliegen an ihn
+sozusagen zur Post geben konnten. Auch das Unangenehme der Würde eines
+»großen Herrn« erfuhr er.
+
+ »Wenn ich absteigen will, so sind gleich acht oder zehn Mann bei der
+ Hand, mich vom Kamel zu heben, als ob ich ein Todkranker wäre. Und
+ wenn ich eine Zeit lang zu Fuß gehen möchte, so steigt die ganze
+ Karawane ab; dann werde ich ärgerlich und sitze wieder auf!«
+
+In ~Khartum~ wurde er gleich einem Könige mit Kanonenschüssen
+empfangen und eine feierliche Installierung fand statt. Anstatt aber
+eine Thronrede zu halten, sagte er nur: »Mit Gottes Hilfe will ich
+die Waage gerecht halten!« und das gefiel den Leuten besser als die
+glänzendste Rede, war doch Gerechtigkeit das, was dem armen Lande am
+meisten not that. Nach der Feier ließ er Geld an die Armen austeilen:
+in drei Tagen hatte er an zwanzigtausend Mark aus seiner eigenen Kasse
+verschenkt.
+
+Als Stellvertreter des Khedive hatte er einen überaus stattlichen
+Palast mit einem Schwarm von Dienern, die ihn »hüteten wie einen
+Klumpen Gold«; das verdroß ihn. Auch hier war es den Leuten etwas
+ganz Neues, daß man den Statthalter sprechen konnte, ohne erst eine
+Menge von Schranzen zu bestechen. Bald war er so von Hilfesuchenden
+belagert, daß er auch hier einen Briefkasten einführen mußte, und
+zwar an seiner eigenen Hausthüre, wo jeder sein Begehren schriftlich
+einreichen konnte. Das erste, was er abschaffte, war die Peitsche
+(Karbatsche), mittels welcher seine Vorgänger regiert hatten.
+Gewaltherrschaft war nicht seine Sache. Übrigens war er nicht
+allgemein populär; sein Vorgänger Ismail Jakub hatte Verwandte in
+Khartum, auch eine zornmütige Schwester, die zur Begrüßung des ihr
+verhaßten neuen Statthalters an den Fenstern des Regierungspalastes
+die Scheiben einschlug und in den Gemächern die Diwane durchlöcherte!
+Auch sein Vakil, Halid Pascha, war von Anfang an widerspenstig. Mit
+dem machte Gordon aber kurzen Prozeß, er telegraphierte nach Kairo und
+verlangte, daß er entfernt werde; der Wunsch wurde gewährt.
+
+Die Aufgabe, den Sklavenhandel in einem Lande zu unterdrücken,
+wo Menschenware seit Jahrhunderten als ein erlaubtes Mittel zum
+Reichwerden galt, war in der That eine große; Gordon weiß das und
+setzt hinzu:
+
+ »Wie Salomo bitte ich Gott um Weisheit, dies Land zu regieren; und
+ nicht nur sie wird er mir geben, sondern alles übrige dazu. Und
+ warum? Weil mir an dem übrigen nichts gelegen ist.«
+
+Aber er weiß auch, daß er die Sache nicht übers Knie abbrechen
+läßt. Selbst Sklaven sind Besitz, der sich nicht ohne weiteres
+antasten läßt. Ihre Freiheit soll mit der Zeit gesichert werden,
+und mittlerweile sind's die Sklavenjäger, welche immer neue Zufuhr
+bringen, denen er Krieg auf Tod und Leben ankündigt, er, der eine
+Mann, kann man sagen, denn sein Militär ist fast wertlos. Sechstausend
+türkische Baschi-Bosuks, seine Grenzwächter, beschließt er abzudanken;
+denn er sieht, daß sie mit den Händlern unter ~einer~ Decke
+stecken. Sechstausend Soldaten aber den Laufpaß geben, in einem Lande,
+wo sie sich alsbald wieder als Banditen zusammenrotten können --
+
+ »Wer dürfte es wagen, der nicht den Allmächtigen auf seiner Seite
+ hat? Ich will es thun, denn mein Leben achte ich für nichts, ich
+ würde nur eine große Last mit der ewigen Ruhe vertauschen ... Ich
+ bin an des Khedive Statt hier, mit unumschränkter Gewalt, und weiß
+ es jetzt, wie machtlos er in Kairo dem Sklavenhandel gegenüber ist.
+ Aber mit Gottes Hilfe will ich's vollbringen und habe das Bewußtsein,
+ daß er mich dazu bestimmt hat ... Die Arbeit ist riesengroß, aber das
+ ficht mich nicht an ... ich kenne meine Schwäche und verlasse mich
+ auf Den, der stark ist. Ich kann nur gradaus meinen Weg gehen, den
+ Erfolg überlasse ich Ihm ... Es ist in der That eine Riesenprovinz,
+ die ich zu verwalten habe; wie froh bin ich zu wissen, daß Gott
+ der Herr Verwalter ist; es ist sein Geschäft, nicht meines. Wenn
+ ich unterliege, so ist's sein Wille; gelingt es mir, so gebührt
+ Ihm die Ehre. Jedenfalls hat Er mir's gegeben, die Ehre der Welt
+ für nichts zu achten, und die Gemeinschaft mit Ihm über alle Dinge
+ hochzuschätzen. Möge mir alles mißlingen und ich in den Staub
+ gedemütigt werden, wenn nur Er verherrlicht wird. Die hohe Stellung,
+ die ich bekleide, will mich manchmal drücken, und ich kann mich nach
+ der Zeit sehnen, wo Er mich beiseite legen wird und einen andern Wurm
+ dies Werk thun läßt. Ich wollte, die Kampfhitze meines Lebens wäre
+ vorüber; aber Er hält mich aufrecht und wird mich davor bewahren, je
+ wieder an Irdisches mein Herz zu hängen.«
+
+Wer so denkt, wie kann der anders als große Thaten thun! Ein an Gott
+sich haltender Mensch ist immer ein Held.
+
+Wir haben Gordon den Ritter ohne Furcht genannt. Wie ein Recke in
+den alten Heldensagen zieht er aus, mit dem starken Arm seines
+Gottvertrauens ein Beschützer seiner Herde zu werden, und das Los der
+Armen in diesem traurigen Land zu mildern. Eine Armee hat er nicht, er
+muß sie sich erst schaffen, und zwar aus erbärmlichem Material, und
+einen Hauptsieg erringt er, wie wir sehen werden, ohne Armee. Er soll
+die Bahr el Ghasal der Macht Sebehrs, des schwarzen Pascha, entreißen;
+er soll einem Lande Frieden bringen und ehrlichen Handel einführen, wo
+die Menschen durch Unterdrückung fast vertiert sind und die Religion
+in Fanatismus besteht.
+
+Er war noch keine drei Wochen in Khartum, da konnte er bereits seiner
+Schwester schreiben:
+
+ »Ich glaube, die Leute haben mich gern; es ist auch schön, daß, wo
+ früher täglich zehn bis fünfzehn Menschen durchgepeitscht wurden,
+ jetzt dies nicht bei einem mehr vorkommt.«
+
+Damit ist nicht gesagt, daß er nicht strenge Ordnung hielt und Herr
+war im Amt. Die erste äußere Wohlthat, die er der Stadt erwies, war
+die Errichtung einer Wasserleitung; vorher mußte das Wasser aus
+dem Fluß herauf getragen werden. Dabei geriet er mit katholischen
+Missionaren in Konflikt, die flüchtigen Sklaven Versteck gewährten.
+Als Gordon ihnen sagte, er brauche dieselben zur Arbeit, begegneten
+sie ihm mit Anmaßung. Da schrieb er einen Brief an den Papst mit
+der Bitte, dieser möge seinen Dienern begreiflich machen, daß
+Angelegenheiten der vizeköniglichen Regierung außerhalb ihres
+Bereiches lägen. Als der Brief fort war, sagte er den Missionaren, er
+habe nach Rom geschrieben, was sie zwar aufbrachte, die gewünschte
+Wirkung aber nicht verfehlte.
+
+Ende Mai verließ er Khartum. Es war der Anfang eines fünfmonatlichen
+Kamelrittes. Seine Anwesenheit in Darfur war dringend notwendig.
+~Darfur~ hat eine in die graue Vorzeit zurückreichende
+Geschichte. Es gab längst Sultane von Darfur, ehe es Kurfürsten
+von Brandenburg gab. Auch einen alten Handel hat das Land --
+Sklavenhandel. Jetzt aber war Darfur in Aufruhr, und die ägyptischen
+Besatzungen der Städte Fascher, Darra, Kolkol u. a. von den Rebellen
+eingeschlossen. Eine Heeresabteilung war schon im März nach Fascher
+geschickt worden, von Erfolgen hatte aber noch nichts verlautet.
+
+ »Ich rechne darauf, im Lauf dieses Jahres meine achttausend Kilometer
+ zu reiten,« schreibt Gordon. »Ich bin ganz allein, und das ist mir
+ lieb. Ich bin ein Fatalist geworden, wie die Leute es nennen; d. h.
+ ich überlasse es dem lieben Gott mir durchzuhelfen. ~Die großartige
+ Einsamkeit der Wüste läßt einen fühlen, wie schwach der Mensch ist.
+ Alles Gott anheimzustellen giebt allein Kraft~, und ich kann den
+ Tod als eine Erlösung erwarten, wenn es sein Wille ist. In meiner
+ gegenwärtigen Lage, auf manch langem, heißem Ritt kann ich meine
+ Gedanken um so besser ausdenken, weil ich allein bin. Ich gewöhne
+ mich nach und nach ans Kamel, es ist ein wunderbares Tier, das weich
+ und still geht wie auf Teppichen, recht angenehm.«
+
+Natürlich folgte ihm die statthalterliche Leibgarde von zweihundert
+Berittenen. Sein Kamel, ein besonders schnelllaufendes Tier, trug ihn
+aber öfters weit voraus, so z. B. ganz gegen seinen Willen wie im
+Sturmlauf in die Grenzstadt Fodja, was ihn auf die Vermutung bringt,
+daß die Kamele und die Gordons als eigensinnige Geschöpfe verwandter
+Rasse sein möchten.
+
+ »Ich habe ein prächtiges Tier, so giebt's keines mehr; es fliegt nur
+ so dahin, selbst zur Verwunderung der Araber. Wie ein Blitz fuhr
+ ich in die Stadt hinein, und ehe die Besatzung sich recht besinnen
+ konnte, wie ich zu empfangen sei, war ich da. Nur ein Araber hatte
+ Schritt mit mir gehalten, und der sagte, es wäre der Telegraph! Die
+ andern kamen anderthalb Stunden später.«
+
+Gordon hatte im Gedanken an einen der Erwartung der Leute
+entsprechenden Einzug seine Marschallsuniform angelegt.
+
+ »Welch tolles Bild,« ruft er scherzend aus, »wenn die goldbetreßte
+ Exzellenz so im Sturm anlangt, als wären alle Feinde hinter ihr her!
+ Der Mudir war sprachlos!«
+
+Das Land nennt er eine elende, sandige, strauchbewachsene Wüste. Den
+Aufruhr schreibt er lediglich schlechter Verwaltung zu. Wo vorher
+~ein~ Mann den Weg nach Fascher allein zurücklegen konnte,
+genügten bei der jetzigen Unsicherheit kaum zweitausend Mann Militär
+von der Art, wie es ihm zu Gebot stand. In Omschanga findet er die
+erste Nachricht von der Heeresabteilung vor, mit der er das Land
+erobern soll. Die Truppen lagen hier und dort zerstreut, alles in
+allem keine dreitausend Mann -- Soldaten von der »unbeschreiblichen«
+Sorte, mit denen er schließlich auch nichts ausrichten konnte. Doch
+tröstet er sich.
+
+ »Ich denke, ~Gott~ wird mir's ermöglichen, die Stämme zu
+ gewinnen, und mit ~seiner~ Hilfe werde ich dann mit den
+ Häuptlingen nach Fascher ziehen, die jetzt noch Rebellen sind.«
+
+Wo in der ganzen Weltgeschichte findet sich ein ähnliches Beispiel,
+daß ein Feldherr auf seine Feinde rechnet, um mit ihnen Thaten zu
+thun! Bei ihm ist das von jeher so gewesen; es ist der Sieg des
+Rechts über das Unrecht, des Guten über das Böse. Und wie er in China
+öfters mit überwundenen Taipings die Taipings besiegte, so verläßt er
+sich mit seinem großartigen Vertrauen auch in Darfur auf die erst zu
+überwältigenden aufrührerischen Stämme.
+
+ »Nichts giebt mir größere Kraft,« sagt er, »als für die Leute zu
+ beten; und es ist wunderbar: ~wenn ich dann mit einem Häuptling
+ zusammenkomme, für den ich vorher gebetet habe, so ist es immer,
+ als ob er schon gewonnen wäre~. ~Darauf~ gründe ich meine
+ Hoffnung auf einen siegreichen Zug nach Fascher. Truppen habe ich
+ lediglich keine, aber der Allerhöchste geht mit mir, und ich
+ verlasse mich so viel lieber auf Ihn allein. Solches Vertrauen könnte
+ ich ja nicht haben, wenn er mir's nicht gäbe und mich nicht dazu
+ ermutigte; ich erachte daher, daß gerade dieses Vertrauen eine Art
+ Angeld auf Sieg ist.«
+
+Und bezüglich seines Vorhabens, mit gewonnenen Rebellen nach Fascher
+zu ziehen, sagt er weiter:
+
+ »Vielleicht läßt Er's auch nicht gelingen, und Kampf mag bevorstehen.
+ Die Herzen der Menschen sind in seiner Hand, und er lenkt sie wie
+ er will. Er ~kann~ es aber thun, so es ihm wohlgefällt; und
+ wer möchte etwas anderes wünschen, als daß er nach Seiner Weisheit
+ alles leite. Die Gefahr für mich dabei ist die, daß es mich aufblasen
+ möchte, so er's thut. Aber auch das kann und wird er verhindern.
+ Ich mag meine Laufbahn überdenken wie ich will, so finde ich
+ nirgends besonderen Verstand, oder Geschicklichkeit, oder Weisheit
+ meinerseits. Meine Erfolge bisher waren eigentlich immer, was man
+ im gewöhnlichen Leben Glücksschüsse nennt ... Ich bin nichts, gar
+ nichts, als einer, der von Gott Almosen empfängt. Ein Sack voll Reis,
+ den ein Kamel durch die Wüste schleppt, kann soviel vollbringen als
+ ich oft meine, daß ich vollbringe. Aber wie verschieden urteilt die
+ Welt!! Ich meinesteils danke Gott, daß Er mich als ein Werkzeug
+ benutzt, und freue mich auf die vorbehaltene Ruhe. Und ich kann mich
+ freuen mit seiner Freude, wenn den armen Menschen Hilfe wird -- durch
+ Ihn, nicht durch mich, obwohl Er sich meiner bedient.«
+
+Und so zog er durch die Wüste als ein unverwundbarer Glaubensheld, der
+wie David mit seinem Gott über Mauern springt, der Völker besiegt und
+Städte einnimmt und dabei meint, er vollbringe gar nichts, das ihm
+selbst zur Ehre gereiche! Er war noch in Fodja, als ihn ein Telegramm
+erreichte: man brauche in Kairo sofort eine halbe Million Mark
+Einkünfte aus seiner Provinz! Über diese Erwartung seines irdischen
+Oberherrn schreibt er in die Heimat:
+
+ »Soviel ist sicher, daß ich vor der Hand in einem Sumpfe bin mit
+ dem Sudan, aber wenn ich bedenke, wer als mein Oberschatzmeister,
+ mein Heerführer, mein Landverwalter im Regiment sitzt, so wäre
+ es merkwürdig, wenn ich darin stecken bliebe. Ja, hätte ich den
+ Allmächtigen nicht zur Seite mit seiner Weisheit, ich wüßte mir
+ wahrlich keinen Rat!«
+
+Dabei legt er aber nicht die Hände in den Schoß, sondern gürtet auch
+in dieser Hinsicht seine Lenden zu dem ungleichen Kampfe.
+
+ »Mit unsäglicher Anstrengung kann es mir gelingen, in zwei bis drei
+ Jahren aus diesem Lande eine ordentliche Provinz zu schaffen mit
+ einer tüchtigen Armee und regelmäßigen Einkünften, mit hergestelltem
+ Frieden und aufblühendem Handel, und vor allem mit unterdrückter
+ Sklavenjagd; und dann -- ja dann gehe ich heim und lege mich ins Bett
+ und stehe nie auf bis Mittag, und marschiere nie mehr als höchstens
+ eine Meile per Tag. Und esse Austern zu Mittag!«
+
+Diese scherzenden Zeilen an seine Schwester beweisen nur, daß er eine
+fast unübersteigliche Arbeitslast vor sich sieht.
+
+Während er noch in Omschanga durch seine »Unbeschreiblichen«
+hingehalten war -- keine geringe Geduldsprobe für den energischen Mann
+-- hatte er Zeit, sich die endlose Schwierigkeit der Sklavenbefreiung
+weiter zu überdenken. Die Wüstenstrecken von Darfur und Kordofan
+sind von Beduinenstämmen durchzogen, von denen mancher mehrere
+tausend Krieger ins Feld stellen kann, die unter ihren kampfgeübten
+Scheiks keine verächtliche Macht bilden. Diese Stämme haben von jeher
+Streifzüge auf die Neger im Süden unternommen, oder sich Sklaven im
+Tauschhandel mit anderen Stämmen verschafft. Zu Gordons Zeit wurden
+die Sklaven selten in großen Karawanen, wohl aber von den Händlern in
+vielen kleinen Trupps durchs Land getrieben. So begegnete er eines
+Tages einem Manne, der sieben schwarze Weiber vor sich hertrieb und
+sie samt und sonders für seine Eheweiber ausgab; die Kinder, die
+nebenherliefen, nannte er seine Nachkommenschaft. Wer sollte ihm
+das widerlegen! Vor der Hand aber war's fast noch mehr das von den
+türkischen Grenzsoldaten übers Land gebrachte Elend, das Gordon
+Tag und Nacht beschäftigte. Und als die unterdrückten Landbewohner
+kamen und ihm demütig ihre Unterwerfung zu Füßen legten, sagte er
+ihnen, wie's ihm ums Herz war, daß sie vielmehr erwarten könnten,
+er, als Statthalter des Khedive, bäte sie um Verzeihung. Des Khedive
+Grenzwächter, die Baschi-Bosuks, dankte er seinem Vorhaben gemäß ab.
+
+ »Ich habe mich auf einen Felsen gestellt und thue was recht ist, ohne
+ mich um die Folgen zu kümmern ... Wenn Angestellte ihre Pflicht nicht
+ thun, so besinne ich mich keinen Augenblick, sie ihrer Wege gehen zu
+ heißen, mag man in Kairo denken was man will. Es ist jedenfalls ein
+ großer Vorteil, ganz furchtlos zu sein. Und wenn ich selbst abgesetzt
+ würde, so wäre es ja keine Strafe, denn ich opfere mein Leben in
+ diesem Land.«
+
+An vierzehn Tagen wartet er auf seine saumselige Mannschaft, ohne nur
+zu wissen, wo die Helden sind. Er nennt's ein trostloses Geschäft,
+und bei der furchtbaren Hitze in dem jammervollen Land ist's kein
+Wunder, wenn er ausruft: »Wollte Gott, ich wäre in der andern Welt!«
+Er meint, mehr als andere Menschen hätte er immer wieder durch die
+Mangelhaftigkeit seiner Streit- und Arbeitskräfte zu leiden; so sei's
+in China gewesen, und so sei's hier. Das unnötige Wartenmüssen ist es,
+was dem thatkräftigen Mann so schwer fällt.
+
+ »Aber es ist nicht recht, es hat jeder sein Kreuz zu tragen. Wir
+ sind alle Knechte; heute giebt der Herr uns Arbeit, und morgen will
+ er, daß wir warten können. Dieses Hinliegen ist mir aber sehr gegen
+ die Natur. Und ich kann auch gar nicht sehen, was in diesem Lande
+ schließlich zu gewinnen ist!«
+
+Endlich kamen fünfhundert seiner Helden. Fascher hatte er aber bereits
+auf seine Weise ohne Schwertstreich gewonnen; die Stämme hatten sich
+ihm einer nach dem andern ergeben. Nun machte er sich nach Tuescha
+auf den Weg, von wo er eine Garnison von dreihundert mitnehmen will.
+In Darra warten weitere zwölfhundert. Auf diese Art kann er ein Heer
+von zweitausend Mann zusammenbringen. Unterwegs findet er allerwärts
+Arbeit, das aufrührerische Banditenvolk aus seinen Schlupfwinkeln
+zu vertreiben. Zuletzt beabsichtigt er, sich auf Schekka zu werfen,
+das er die »Höhle von Adullam« nennt, wo Räuber und Mörder hausen,
+nämlich die Horden Sebehr Paschas, des großen Sklavenhändlers, unter
+dessen Sohn Soliman. Auch diesem gegenüber, der ihm mit elftausend
+Mann begegnen kann, rechnet er auf keinen andern, als einen
+~innerlichen~ Sieg.
+
+ »Ich bin gar nicht unruhig,« schreibt er, »und hoffe, es wird ohne
+ Blutvergießen abgehen.«
+
+Ins Gefecht geriet er nun allerdings; aber nicht sowohl seinen Waffen,
+als seinem gewaltigen Geist und seiner demutstarken Seele wurde der
+Sieg.
+
+In Tuescha fand er die dreihundertfünfzig Mann Garnison, welchen
+seit drei Jahren kein Sold bezahlt worden, beinahe ausgehungert.
+Das war nicht sehr ermutigend, aber Gordon war dergleichen gewohnt.
+War's ihm doch gegeben, seine glänzendsten Thaten einem Chaos von
+Unmöglichkeiten abzugewinnen. Der Aberglaube der Chinesen erblickte
+in seiner Hand einen Zauberstab und nannte seine Erfolge Wunder. Wohl
+hatte er einen Zauberstab: es war derselbe, mit dem einst Moses aus
+dem Felsen Wasser schlug. Die Besatzung von Tuescha war in der That
+so erbärmlich, daß er beschloß, ihrer Beihilfe zu entbehren, sie nach
+Kordofan zu schicken und mit seinen ursprünglichen Fünfhundert samt
+ihren schlechten Steinschloßgewehren weiterzuziehen. Ein Scheik, der
+versprochen hatte zu ihm zu stoßen, ließ ihn im Stich, während die
+Umgegend voll von kampflustigen Schwarzen war, die recht gut wußten,
+daß der General-Gouverneur nur mit einer Handvoll Leute des Weges
+komme, und ihn ernstlich bedrohten. Aber zu einem Angriff kam es
+nicht. »Gottlob, die Gefahr ist vorüber,« kann er schreiben. Wie groß
+sie war, weiß er nicht einmal; aber das weiß er, daß nur wenige es
+begreifen können, was es heißt Truppen anführen, in die man keine Spur
+von Vertrauen setzt.
+
+ »Ich habe von ganzer Seele um einen Ausweg gebetet; es gab mir
+ ordentlich einen Stich ins Herz, wie damals, als ich mich bei
+ Massindi (S. 116 f.) verraten fand. Nicht, daß ich den Tod fürchte,
+ aber aus Kleinglauben fürchte ich die Folgen meines Todes; das ganze
+ Land stünde wieder in Aufruhr. In solcher Lage zu sein, kommt einem
+ wirklichen Schmerz gleich, es macht mich in einer Stunde um ein Jahr
+ älter ... Auch ist es eine Demütigung. Aber gottlob! es ist vorüber
+ ... wohl sage ich mir, daß alles zum guten Ende führen wird, aber
+ das macht dergleichen nicht weniger peinlich. Ich glaube, ich habe
+ in dieser Hinsicht in meinem Leben mehr gelitten als die meisten
+ Menschen. Heute morgen z. B. (nach der überstandenen Gefahr) kam mir
+ ein Wild schußgerecht und ich ließ mir meine Flinte reichen. Der
+ Kerl, der sie trug, hatte sie mittlerweile zerbrochen; also hätte
+ ich in einem Überfall nicht einmal meine Waffe gehabt!«
+
+Die Charakterzeichnung Gordons wäre eine unvollständige, wenn man zu
+bemerken vergäße, wie er oft gerade in der schwierigsten Lage auch
+eine komische Lichtseite erblickte, deren er gerne Erwähnung that. So
+schließt der Brief, der von der vorübergegangenen Gefahr berichtet,
+mit folgenden Worten:
+
+ »Wir hatten auch dreißig oder vierzig Esel bei uns. Und wenn einer
+ anfing, dann wußte ich, daß sie alle schreien mußten; es war
+ ordentlich eine Wohlthat, den vierzigsten endlich zu hören. Da fing
+ der erste die Reihe wieder an, und so ging's die Nacht durch! Der
+ Darfur-Esel brummt aber nur ganz tief in der Tonleiter; die hohen
+ Töne, die sein englischer Bruder aus frohem Herzen ausstößt, kennt er
+ offenbar nicht.«
+
+Als Gordon nach Darra kam, gab's auch dort Enttäuschung. Die
+Hilfstruppe, auf die er gerechnet hatte, war ihm entgegen gezogen und
+hatte den Weg verfehlt!
+
+
+ 2. In der Räuberhöhle.
+
+Die Leute von Darra waren nicht wenig erstaunt, den Generalgouverneur
+in ihrer Mitte zu erblicken; sie wußten sich seit einem halben Jahre
+von der Außenwelt abgeschnitten. Die Stämme umher waren im Aufstand;
+Harun, der als Anverwandter des gefallenen Sultans von Darfur die
+Herrschaft beanspruchte, bedrohte die Stadt, und in Schekka saß
+der Sohn Sebehrs mit sechstausend bewaffneten Sklaven. Gegen Harun
+schickte Gordon eine ziemlich starke Truppenabteilung, die auch
+ins Gefecht geriet und Beute machte, sonst aber keine Heldenthaten
+verrichtete. Ein Offizier war damit beauftragt, eine zweite Abteilung
+gegen die Stämme zu führen, und Gordon selbst blieb vorläufig in
+Darra, um den schlimmsten der Feinde, Soliman, im Auge zu behalten.
+Den Einwohnern der Stadt war seine Anwesenheit eine Schutzmauer,
+aber sie fanden auch sonst noch Ursache, derselben froh zu sein.
+So gab er ihnen z. B. ihre Moschee zurück, die von den Ägyptern in
+ein Pulvermagazin verwandelt worden war; freute es ihn doch, wenn
+die Muselmänner Gottesdienst hielten, sofern sie es nur redlich
+meinten. Das Land weithin war nach dreijähriger Anarchie im Elend der
+Hungersnot. Er beschreibt die Kinder als »nur Bäuche mit Gliedmaßen
+wie Fühlfäden« -- eine Folge des Grasessens.
+
+Um Solimans habhaft zu werden, tauchten verschiedene Vorschläge auf.
+Gordons schwarzer Schreiber z. B. ersann einen Plan, wie man ihn nach
+Darra locken könne, um ihn daselbst, sofern er sich nicht ergeben
+wolle, zu ermorden. Statt dieses »asiatischen« Einfalls, wie Gordon
+sich ausdrückt, kam ihm selbst ein anderer, wie nur ~seine~
+Großmut ihn ersinnen konnte: er wollte den Sohn Sebehrs durch
+Vertrauen entwaffnen.
+
+ »Es ist mir der gute Gedanke gekommen, den Soliman zum Statthalter
+ von Darra zu machen und ihn damit von dem Räubernest Schekka zu
+ entfernen. Das wird ihn auch an fernerer Sklavenjagd hindern, denn
+ seine sechstausend werden genug zu thun haben, das Land gegen die
+ Stämme zu halten.«
+
+Der Plan war nicht ausführbar; dennoch hoffte er Soliman ohne Waffen
+zu besiegen. Aus der »Höhle Adullam« erhielt er mittlerweile durch
+die Häuptlinge El Nur, Awad und Idris Kenntnis, die zwar Sebehrs
+Herrschaft anerkannten, sich aber die Regierung geneigt zu machen
+suchten, indem sie dem Statthalter verrieten, was dort vorging. So
+wußte er z. B., daß Soliman beständige Verbindung mit seinem Vater
+in Kairo unterhielt und daß der Aufruhr in Darfur aus Gehorsam gegen
+Sebehr ins Werk gesetzt wurde, als dieser seinen Anhängern sagen ließ,
+sie sollten »das jetzt ausführen, was unter dem Baum beschlossen
+worden sei.« Der schwarze Pascha regierte selbst als Gefangener noch
+das unglückliche Land.
+
+Ehe Sebehr nämlich mit seinen zwei Millionen »Bakschisch« (Trinkgeld)
+nach Kairo ging, um die Pascha zu bestechen, hatte er alle
+sklavenhandeltreibenden Häuptlinge seines Gebietes unter einem großen
+Baum an der Straße zwischen Schekka und Obeid versammelt und ihnen
+einen Eid auf den Koran abgenommen, daß sie sich allerorts gegen
+die Regierung erheben sollten, wenn er ihnen das Wort sende. Als
+nun Gordon nach seiner Arbeit am Äquator die Statthalterschaft des
+Sudan übernahm und sich nach kurzem Aufenthalt in Khartum aufmachte,
+um die Sklavenhändler in ihrem bis jetzt sichersten Schlupfwinkel zu
+bekämpfen, wo die Bande sich um Soliman geschart hatte, da wußte der
+alte Menschenräuber, daß es damit seiner Hoffnung ans Leben ging, den
+Handel, von dem er seine Macht und seinen Reichtum hatte, je wieder
+zur alten Blüte zu bringen. So erging sein Mandat an die Raubgesellen
+in Schekka.
+
+El Nur und Idris hatten sich beide mit Hinterlegung einer Strafsumme
+aus Schekka fortgemacht. Von ihnen erfuhr Gordon, daß Soliman festsäße
+bis nach der Regenzeit und sich in seiner »Höhle« vor einem Überfall
+gesichert erachte. Daraus ergab sich indessen keine Ruhezeit für
+unseren Helden. Er war noch nicht vierzehn Tage in Darra, als er
+schrieb:
+
+ »Heute haben sich sechshundert der Nazagats mit ihrem Scheik zu mir
+ geflüchtet.«
+
+Dieser Stamm hatte seinen Wohnsitz in der Nähe von Schekka und war
+einer der gewaltigsten im Land, der siebentausend Krieger ins Feld
+bringen konnte. Aber infolge der fortwährenden Plünderungen von
+Sebehrs Bande fingen sie an, sich zu Gordon zu schlagen; und er hörte,
+daß es nur der Anfang einer Einwanderung sei, indem noch andere Stämme
+ähnliches beabsichtigten. Sie konnten über Nacht kommen, denn »Gepäck
+haben sie keines und reiten wie der Blitz, ohne Bügel.« Der Vorteil
+einer solchen Verstärkung war aber ein zweifelhafter -- wo Nahrung
+hernehmen für so viele in dem ausgeplünderten Land?
+
+Eine weitere Schwierigkeit, die sich ihm um diese Zeit darbot,
+verstattet einen Einblick in die Ratlosigkeit, die ihn angesichts des
+von ihm bekämpften Greuelwesens mehr wie einmal befiel. Eine seiner
+Streifkolonnen hatte ihm zweihundertundzehn Sklaven in die Stadt
+gebracht, ausgehungerte Menschen, die ihn so flehentlich anblickten,
+daß ihm die Augen übergingen. Was soll er mit ihnen anfangen? wem
+soll er sie überlassen? Selber behalten kann er sie nicht und füttern
+kann er sie auch nicht. Selbstverständlich läßt er ihnen für den
+Augenblick etwas Durra reichen, denn sie haben seit sechsunddreißig
+Stunden nichts gegessen. »Ich wollte heute mein Leben hinlegen,« ruft
+er aus, »um das Elend dieser Menschen zu lindern; wie viel mehr muß
+Gott sich ihrer erbarmen!« Und immer mehr wird es ihm zur Klarheit,
+daß das Schwerste des von ihm unternommenen Kampfes nicht sowohl die
+Unterdrückung der Händler selbst sei, als die Versorgung der hilflosen
+Sklaven.
+
+Es ist ihm öfters zur Last gelegt worden, daß er selbst Sklaven, als
+solche, seinen Truppen einverleibe, ja sie gegebenenfalls sogar kaufe.
+Er, der sein Leben für nichts achtete in dem großen Kampf gegen das
+Unrecht, konnte es ruhig der Zeit überlassen, sein Thun ins rechte
+Licht zu setzen. Er braucht Truppen gegen die Sklavenhändler; woher
+soll er sie nehmen? Wenn er es unterläßt, Sklaven zu nehmen und
+ihre Eigentümer zu entschädigen, so gehören sie nach wie vor, d. h.
+vertragsmäßig noch zwölf Jahre lang ihren jeweiligen Herren. Sie mit
+Gewalt frei machen, hieß den Aufruhr verallgemeinern. Es schien ihm
+der beste Weg, die Banden bewaffneter Sklaven im Land möglichst unter
+seine Disziplin zu bringen. Das Urteil der Leute hatte ihn nie viel
+angefochten. Seiner Schwester formuliert er Anklage und Entschuldigung
+mit den kurzen Worten:
+
+ »Ich möchte, daß Du es richtig verstehst -- ›Oberst Gordon kauft
+ Sklaven an von Regierungs wegen und läßt die Gellaba nach wie vor
+ ihr Wesen treiben‹, heißt's in den Zeitungen. Ja, er thut's, denn
+ nur mit Hilfe von Sklaven kann er die Sklavenhändler bekämpfen
+ und die bewaffneten Banden unter sich bringen. Die Sklaven, die
+ ich kaufe, sind längst ihrer Heimat entrissen, ich kann sie nicht
+ zurückschicken, selbst wenn ich wollte. Es ist nicht, als ob ich dem
+ Handel dadurch Vorschub leistete, nicht einmal indirekt, denn gerade
+ dadurch gewinne ich ein Mittel, ihn zu unterdrücken.«
+
+Die Gellaba -- er nennt sie selbst Geier -- sind die kleinen Händler,
+welche die Ware im einzelnen den Jägern abkaufen.
+
+ »Wenn wir mit Rußland im Krieg sind,« sagt er, »benutzen wir diesen
+ Zeitpunkt nicht, um in Indien Mißstände zu unterdrücken? Ich wäre
+ tollkühn, wollte ich mir die kleinen Leute verfeinden, ehe ich mit
+ den Hauptsündern fertig bin.«
+
+Er weiß, daß in Schekka an viertausend Sklaven liegen, die ihm in die
+Hände fallen werden, sobald er jenes Nest aushebt.
+
+ »Was soll ich mit ihnen anfangen, mit Weibern und Kindern? Ich
+ kann sie nicht in ihre Heimat zurückschicken (weithin ins Innere
+ von Afrika, selbst wenn er im einzelnen Fall immer wüßte, wo die
+ Geraubten zu Hause sind!) ich kann sie nicht erhalten. Ich muß sie
+ entweder den Stämmen überlassen, oder meinen Truppen, oder den
+ kleinen Händlern. Ich habe keine andere Wahl. Wenn ich sie freigebe,
+ so überlaufen sie das Land, und ein herrenloser Sklave ist wie ein
+ verlorenes Schaf -- das Eigentum dessen, der ihn findet. Ich muß
+ suchen den Ausweg zu ergreifen, der für die armen Sklaven der beste
+ ist. Was Europa dazu sagt, ist nicht die Hauptsache: es ist der
+ Sklave, der leidet, nicht der Europäer. Das weiß ich wohl, daß wenn
+ ich jene viertausend Sklaven den Stämmen oder den Gellaba, oder auch
+ meinen Truppen überlasse, man in den nächsten Monaten um so viel mehr
+ von Sklaventransport hören wird; aber dann ist wenigstens das damit
+ gewonnen, daß die Ärmsten auf die beste Art ihre Bestimmung erreichen
+ und nicht hier Hungers sterben.«
+
+Als ihre Bestimmung kann man neben dem Orient überhaupt auch Ägypten
+betrachten, wo merkwürdigerweise der Ankauf von Sklaven auch dann noch
+gestattet war, als der Handel im Sudan unterdrückt werden sollte.
+
+ »Ich könnte die Verantwortung von mir abwälzen, und die Sache sich
+ selbst überlassen -- das hieße die Sklaven dem sichern Elend und dem
+ Hungerstod preisgeben. Soll ich ein solcher Feigling sein, aus Furcht
+ vor der Meinung des besser unterrichteten Europa? Nein, ich werde
+ dem Transport fürs nächste Vorschub leisten. Die Leute sollen in die
+ Zeitungen schreiben, was sie wollen. Hier sind die Sklaven, um sie
+ her die Geier, und hier bin ich, der eine Mann, der keine Nahrung für
+ sie hat und keine Möglichkeit, sie in ihre Heimat zurückzuschicken.
+ Hätte ich einen tüchtigen Mann mit starkem Arm, der mir helfen
+ könnte, jeden einzelnen Sklaven nach seinem Wunsche zu behandeln --
+ es wäre mir lieber. Denn merkwürdigerweise haben selbst diese elenden
+ Sklaven noch Wünsche in dieser Hinsicht -- manche vertrauen sich
+ lieber den Gellaba an, manche den Stämmen, manche meinen Truppen;
+ nach ihrer verwüsteten Heimat verlangen sie indessen nicht zurück,
+ denn sie wissen, daß sie dann nur anderen Stämmen zum Opfer fallen
+ und wieder Sklaven werden. Ihre Dörfer sind zerstört; es würde
+ lange dauern, ehe sie nur wieder auf eine Ernte hoffen könnten....
+ Angesichts dieser Thatsachen steht man hilflos dem Erlaß gegenüber,
+ daß alle Sklaven nach zwölf Jahren frei sein sollen. Wer will sie
+ frei machen? Man könnte gerade so gut erwarten, daß Steine und Bäume
+ das Gesetz erfüllen, als daß die Stämme unter sich ihre Sklaven
+ aufgeben. Man kann lediglich nichts thun, als sie an der Jagd auf
+ neue Sklaven hindern ... Ich habe so wenig Korn hier, daß ich nicht
+ weiß, was anfangen. Bei solcher Sorge vergeht einem der hohe Mut.
+ Aber das weiß ich, daß ich um keinen Gewinn der Welt die übernommene
+ Arbeit jetzt aufgebe; es wäre eine Feigheit ... Ich höre von Fascher,
+ daß nach einem Ausfall auf Harun das Volk zu Hunderten Hungers starb
+ oder den Pocken erlag -- arme Kinder und Weiber, deren jedes sein
+ Leben lieb hat wie wir! Schön war, daß meine Araber ihre Gefangenen
+ freiließen -- es seien ihrer zweihundertfünfunddreißig gewesen, die
+ Arm in Arm in einer langen Kette davonwankten. Es geschah in der
+ Hoffnung, sie vor den Gellabas zu retten, was hoffentlich gelungen
+ ist ...
+
+ »Eine Truppe ausgehungerter Menschen ist in meinen Hof eingebrochen,
+ ich habe sie fortschicken müssen bis morgen, in der Hoffnung, bis
+ dahin etwas Durra aufzutreiben.«
+
+Mittlerweile verhielt sich der von Darra abgesandte Offizier ganz
+unthätig, ja Gordon hörte, daß er sich vom Feind habe bestechen
+lassen. Kein Wunder, daß Gordon allen Mut verlor, sich auf seine
+Truppen zu verlassen. Er beugt sich unter diese Thatsache als unter
+eine Fügung Gottes. Dies hindert ihn aber nicht, sich vorzunehmen,
+den Mann im Betretungsfalle kriegsrechtlich erschießen zu lassen. Wie
+seine Truppen sich ferner verhielten, ergiebt sich aus folgendem.
+Die ~Leparden~, ein zahlreicher Stamm, hatten sich gegen
+ihn aufgeworfen und die Verbindung zwischen Darra und Tuescha
+abgeschnitten. Er beschloß daher, seinen Besuch in der Räuberhöhle
+Schekka noch hinauszuschieben und mit einer Abteilung seiner
+»Unbeschreiblichen« und einer Anzahl verbündeter Mascharins den
+Leparden entgegenzuziehen. Es war eine schlimme Nacht, voll Sturm und
+Regen.
+
+ »Ich zog meinen Mantel an und setzte mich unter meinen Schirm und
+ wünschte, es wäre Tag. Angenehm war die Lage nicht, aber ich wickelte
+ mich ein und konnte schlafen.«
+
+Es war ein Regen, der einem die halbe Kraft aus dem Körper spülte,
+sagt Gordon, aber nichtsdestoweniger führt er seine Leute am
+folgenden Tage in den Kampf -- den Teil wenigstens, der bei der Hand
+war, und das waren ~nicht~ seine »Unbeschreiblichen«, die langsam
+hinterdrein kamen. Seine Verbündeten, die Mascharins, waren es, die,
+obgleich geringzählig, sich nicht halten ließen und die Leparden, d.
+h. ihre einhundertsechzig Mann starke Vorhut, gänzlich aufrieben.
+Als seine Truppen herankamen, besetzten sie das gewonnene Lager
+des feindlichen Stammes, und während Gordon mit dem Häuptling der
+Mascharins Kriegsrat hielt, stürmten die Leparden in zwei Abteilungen
+von je dreihundertfünfzig Mann daher. Sie wurden zurückgeworfen, aber
+wieder nicht von seinen Truppen, sondern von den tapfern Mascharins,
+deren Anführer Ahmed Nurra tödlich verwundet wurde. Seine Helden
+hielten das Palissadenwerk von der sichern Seite! Gordon befand sich
+in einem Zustand der peinlichsten Entrüstung. Das Einzige, was ihn
+zurückhielt, sich selbst unter die anstürmenden Leparden zu werfen,
+war der Gedanke, daß seine elenden Truppen dann gar nicht mehr wüßten,
+was thun. Aber gründlich verhaßt wurden ihm die Baschi-Bosuks mit
+ihrem Waffengeklirr, wenn der Feind nicht da war, und ihrer maßlosen
+Feigheit, wo's Ernst galt.
+
+ »Kein Mensch hat eine Vorstellung davon, was meine Offiziere und
+ Soldaten für Kerle sind -- ihr bloßer Anblick regt mir die Galle
+ auf!«
+
+Der kurze Feldzug endete damit, daß er die Leparden von drei
+Wasserstationen abschnitt, so daß nur eine einzige, vierte Quelle
+ihnen blieb. Den Feind in jenen Wüstenländern vom Wasser abschneiden,
+heißt ihn besiegen. Die Brunnen liegen stundenweit auseinander.
+
+ »Gern hätte ich's den Frauen und Kindern und dem armen Vieh erspart,
+ aber ich habe keine andere Wahl, wenn ich den Stamm bewältigen will.«
+
+In der glühenden Hitze kamen sie denn auch bald mit hängenden Zungen
+und verdorrten Lippen und baten um Gnade. Gordon nahm ihnen die Speere
+ab, ließ sie auf den Koran Treue schwören und schickte sie dann
+allesamt an die nächste Quelle.
+
+ »Sie waren einen Tag ohne Wasser, ich kann's nicht ändern. Der Krieg
+ ist ein grausames brutales Geschäft. Wie oft lesen wir in den Kriegen
+ Israels, dass das Volk ohne Wasser war. Es ging damals nicht anders
+ zu als jetzt.... Meine Berittenen fingen einen Scheik ein, er war
+ über die Maßen durstig; wie gern hab ich ihm Pardon gewährt und
+ ihn mit seinen Leuten ans Wasser geschickt ... er sagte, der Stamm
+ sei auseinandergesprengt. Auch des Häuptlings Sohn war dabei, ein
+ fünfzehnjähriger Junge, und wie sie gebunden in meinem Zelt hockten,
+ sah ich, wie der arme Bursche nach Wasser lechzte. Was für eine
+ Freude war's, ihn sich satt trinken zu lassen!«
+
+Aber auch Streitigkeiten mußte er beilegen. Der Zankapfel war oft nur
+eine Handvoll Korn, oder ein irdener Topf. Ob solcher Beute gerieten
+zwei hintereinander, die verschiedenen Stämmen angehörten, und der
+eine erschoß den andern!
+
+ »Ich ließ die Stammesangehörigen des Getöteten vortreten und auch den
+ Gefangenen; und dann fragte ich sie, ob ich ihn erschießen sollte,
+ oder ob sie ihn haben wollten, damit er für die Hinterbliebenen des
+ Ermordeten arbeite. Und ich war froh, zu finden, daß sie auf den
+ letztgenannten Vorschlag eingingen. Der Mann war vorher schon der
+ Sklave eines der Soldaten (das Wort ist mir entschlüpft, ich wollte
+ ihn nicht so nennen!) ich habe ihn daher nur einem andern Herrn
+ gegeben. Das Entsetzen der Leute war unbeschreiblich, als ich mich
+ mit meinem Gewehr vor den schwarzen Mörder stellte und den Hahn
+ spannte -- es war gar nicht geladen. Ich wußte auch, daß sie seinen
+ Tod nicht verlangen würden, denn selbst in diesen armen wilden
+ Menschenherzen wohnt Gutes. Sie glaubten aber fest, ich würde ihn
+ erschießen, wenn sie nicht um sein Leben einkämen, und so thaten
+ sie's einstimmig.«
+
+Die Leparden hielten nicht lange Frieden, kaum länger als bis ihr
+Durst gestillt war, und dann entführten sie Gordons Verbündeten eine
+Anzahl Sklaven, wofür er ihnen tausend Stück Vieh wegnahm und einen
+weiteren Teil des Stammes entwaffnete. Er rückte durchs Lepardenland
+nach Duggam vor, wo ein Gemisch von Stämmen hauste. Die Leparden
+gingen nach Gebel Heres zurück; er zog ihnen nach und hörte, daß
+Harun sie unterstützte, indem er ihnen vierzig Berittene nach Gebel
+Heres zur Verstärkung geschickt habe, während er selbst das Land
+weiter nördlich verwüstete. Seinem Truppenteil, den er in jener
+Gegend vorfand, kann Gordon das gewohnte Lob gänzlicher Untüchtigkeit
+ausstellen. Eine ganze Menge Fragen hinsichtlich eingebrachter Sklaven
+harrten seiner Erledigung.
+
+ »Ich wollte, die Gesellschaft zur Unterdrückung der Sklaverei wäre
+ hier,« ruft er nicht ohne Ironie, »und sagte mir, was ich thun soll!«
+
+Während er seine erbärmlichen Streitkräfte beklagt, gab's Meuterei;
+sein Leben war nicht sicher in ihrer Mitte. Fascher war so nahe,
+daß man seine Wachtfeuer von der Stadt aus sehen mußte; dort waren
+achttausend Mann ihm dienstpflichtiger Truppen eingesperrt -- oder
+sollten doch dort sein. Er machte sich auf den Weg, um ihnen das
+Gewehr zu visitieren, und erreichte mit etlichen hundert Mann die
+Stadt gegen Abend nach einem »schmählichen Ritt« durch Sumpfland. Man
+hatte keine Ahnung von seinem Kommen und war »angenehm überrascht«.
+In der Stadt selbst waren viermal so viel Truppen, als er bei sich
+hatte, und zehnmal so viel kampierten unter Hassan Pascha Helmi
+drei Tagmärsche entfernt; aber von diesem Militär war nicht der
+geringste Versuch gemacht worden, sich nach Darra oder sonst wohin
+durchzuschlagen, während der Feind noch vor kurzem bis in die Nähe von
+Fascher Streifzüge unternommen hatte. Hassan Pascha, der die Besatzung
+befehligte, hatte sich schon vor Wochen in aller Gemütsruhe mit dem
+Hauptteil der Truppen davon gemacht. Gordon verschrieb sich den Mann.
+Mittlerweile konnte er von einem anderen seiner Offiziere folgenden
+Streich erzählen.
+
+ »Ein Muezzin oder Gebetsrufer in der Stadt war gewohnt, die
+ Gebetsstunde nah bei der Stelle auszurufen, wo jetzt mein Zelt steht.
+ Mein Oberstlieutenant hieß ihn schweigen, weil es mich störte; zum
+ Glück erfuhr mein schwarzer Schreiber die Sache. Es lag nichts
+ anderes zu Grunde als der Wunsch, den Fanatismus der Leute gegen mich
+ aufzustacheln. Ich schenkte dem Ausrufer 40 Mark, meinen gefälligen
+ Freund, den Oberstlieutenant, aber schickte ich nach Kedaref in die
+ Verbannung, wo er Zeit finden wird, ähnliche Pläne auszuhecken. Ich
+ besinne mich nie einen Augenblick, solche Kerle zu züchtigen. Der
+ Gebetsrufer schreit jetzt noch einmal so laut, eben während ich dies
+ schreibe.... Ich gebe mir alle Mühe, jenen anderen Tapfern, der sich
+ bestechen ließ, um den Feind nicht anzugreifen, und mich neunzehn
+ Tage in Darra hinhielt, seiner Thaten zu überführen; aber die Zeugen
+ sind nicht besser als er selber, so wird mir nichts übrig bleiben,
+ als meine despotische Gewalt in Anwendung zu bringen. Er nahm
+ viertausend Mark in Geld, den Wert von tausend Mark in Straußenfedern
+ und zehn Kamelladungen Durra als Geschenk hin, um den Stamm nicht
+ anzugreifen.... Sebehrs Sohn ist jetzt bereit, sich mir anzuschließen
+ in der Hoffnung, das Land um so besser zu plündern; und Harun
+ plündert auf seine Rechnung im Norden. Ich sitze mitten zwischen
+ diesen beiden, und um mich her sind die Stämme, die jenem feindlich
+ sind und teilweise auch mir feindlich, während sie dem Harun günstig
+ sind und von mir erwarten, daß ich ihnen gegen Sebehrs Sohn beistehe
+ -- das nennt man einen dreiseitigen Zweikampf.«
+
+Es war in der That eine unerquickliche Lage, die täglich schwieriger
+wurde. Von den drei Feinden, mit denen er im Zweikampf stand, wäre
+der selbstgekrönte Sultan ohne Zweifel am leichtesten zu unterwerfen
+gewesen, wenn er ihn nur im offenen Felde hätte stellen können; aber
+abgesehen von seinem Mangel an tüchtiger Mannschaft, war er anderwärts
+zu sehr in Anspruch genommen, und Hassan Pascha mit seinen fünftausend
+Unthätigen hatte nicht den Mut, ohne die Gegenwart Gordons den Angriff
+zu wagen.
+
+Es waren die eingebornen Stämme, die dem Feldherrn so hinderlich
+waren. Manche in nächster Nähe verhielten sich noch feindlich, und
+die entfernteren thaten ihr Bestes, die von ihm zur Ruhe gebrachten
+wieder aufzustacheln. Außerdem wurde sein Schreiber krank und für
+alle Einzelheiten der Verwaltung mußte er selbst einstehen. Wegen
+jeder Kleinigkeit drängten sich die Leute unangemeldet in des
+Generalgouverneurs Zelt und meinten, er könne sich ihrer nicht schnell
+genug annehmen. Erteilte er aber einen Befehl, so erfüllte man
+denselben im Leichenschritt. Seine Diener waren nicht besser als seine
+Soldaten. »Ich erledige täglich einen Berg von Geschäften,« schreibt
+er, trotz der furchtbaren Hitze, die so sengt und brennt, daß er »alle
+vierzehn Tage eine neue Haut im Gesicht hat.« Und wenn er von einem
+Ausritt müde heimkommt, so findet er Skorpione in seinem Zelt, oder
+dasselbe von einem Sturmwind umgeblasen, während seine Diener dabei
+sitzen, als ob es sich von selbst wieder aufrichten müsse. Dann ist er
+wohl manchmal niedergeschlagen und meint, es helfe alles nichts, er
+müsse dieses verzweifelte Land sich selbst überlassen, aber sein hoher
+Mut gewinnt auch in solcher Lage die Oberhand und er sieht durch den
+Wolkenhimmel doch wieder die Sonne scheinen.
+
+Er hatte sein Hauptaugenmerk zur Zeit auf Harun gerichtet, denn
+der Verdacht war ihm gekommen, ob Hassan mit seinen fünftausend
+nicht ähnlichen Verrat treibe, wie jener andere, der sich hatte
+bestechen lassen. Und obschon es fast täglich Unternehmungen gegen
+die feindlichen Stämme oder Streifzüge auf höchstnötigen Proviant zu
+leiten gab, so traf er doch energische Vorbereitungen, einer etwaigen
+Krisis zuvorzukommen. Da hieß es mit einemmal, der »Sultan« sei
+verschwunden und niemand wisse wohin. Somit hatte er neben verlorener
+Mühe vorläufig das Nachsehen.
+
+Während er so sein Bestes thut, der kleinen wie der großen
+Mühseligkeiten Herr zu werden, kommt ihm die Nachricht, daß sein
+schlimmster Feind ausgebrochen ist und sich anschickt, Darra zu
+belagern. Gordon weiß, daß Soliman sechstausend bewaffnete Sklaven mit
+sich führt, während er selbst zwar seine »unbeschreiblichen« Helden
+hat, sich aber nicht im geringsten auf sie verlassen kann, -- eine
+Wendung der Dinge, vor der alle bisherigen Schwierigkeiten erblaßten.
+Gordons Genie aber erweist sich nie glänzender als in einer Lage, die
+völlig hilflos erscheint. Da gürtet sich der Held zum Einzelkampf und
+erringt einen Sieg, der durch Waffen allein nicht zu gewinnen wäre.
+Schrieben wir einen Roman, es ließe sich nichts Romantischeres denken,
+als solche Siege über große Bedrängnis; da es sich aber um Thatsachen
+handelt, so ist es eben die großartige Kindeseinfalt des heroischen
+Mannes, die stets mitten ins Feuer geht, den Umstand vergessend, daß
+er einer ist gegen viele. Gordon verlor keinen Augenblick. Seine
+Armee und alles zurücklassend, bestieg er sein Kamel und ritt allein
+und unbewaffnet nach Darra. Von diesem gewaltigen Ritt, eine der
+wunderbarsten Leistungen in seiner ganzen wunderbaren Laufbahn, lassen
+wir ihn selbst an seine Schwester berichten. Es ist hierbei nur zu
+bemerken, was übrigens von allen seinen Briefen gilt, daß er stets
+frisch nach der That schrieb und nicht im entfernteren daran dachte,
+daß je ein größerer Leserkreis an seinen Berichten sich erfreuen würde.
+
+ »Etwa um vier Uhr nachmittags erreichte ich Darra, lang vor meinem
+ Gefolge, nachdem ich in anderthalb Tagen 140 Kilometer zurückgelegt
+ hatte. Etwa zwei Stunden vor Darra geriet ich in einen Schwarm von
+ Fliegen, die mich und mein Kamel so quälten, daß wir mit immer
+ größerer Eile vorwärts drängten. Ich denke mir, die Königin des
+ Geschmeißes muß darunter gewesen sein. Wenigstens dreihundert
+ umschwärmten den Kopf des Kamels und ich ritt einfach in einer
+ Wolke. So hatte ich doch wenigstens ein Gefolge von Fliegen, wenn
+ sonst keines. Die Leute in Darra waren sprachlos, ich überfiel
+ sie wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Als sie sich erholt hatten,
+ feuerten sie eine Salve ab. Mein armes Gefolge! wo das war, wußte
+ kein Mensch. Denke Dir Deinen Bruder, einen einzelnen, staubigen,
+ sonnverbrannten Menschen auf seinem Kamel und über und über mit
+ Fliegen bedeckt, wie er so ganz unerwartet im Divan erscheint. Die
+ Leute starrten mich an wie gelähmt. Zu essen gab's nicht viel nach
+ meinem langen Ritt, aber eine ruhige Nacht, in der ich alles Elend
+ vergessen konnte. Bei Tagesgrauen stand ich auf, zog die goldene
+ Uniform an, die der Khedive mir geschenkt hatte, und ging hinaus, um
+ meine Truppen zu besichtigen. Darnach bestieg ich mein Pferd, und
+ mit einem Geleit von ~meinen~ Räubern von Baschi-Bosuks ritt
+ ich hinaus in das Lager der anderen Räuber, das ich in einer halben
+ Stunde erreichte. Der Sohn Sebehrs kam mir entgegen -- ein ganz
+ hübscher Junge, etwa zwanzigjährig -- und ich ritt mit ihm durch das
+ Räuberlager. Ich schätzte, es waren ihrer dreitausend, Männer und
+ Burschen, die er bei sich hatte. Ich ritt mit ihm bis an sein Zelt;
+ dort waren die Häuptlinge versammelt und nicht wenig überrascht,
+ mich in ihrer Mitte zu sehen. Ich ließ mir ein Glas Wasser geben
+ und kehrte dann zurück, indem ich den Sohn Sebehrs einlud, mich mit
+ seinen Angehörigen in meinem Divan zu besuchen. Sie kamen denn auch
+ richtig und hockten im Halbkreis um mich her, während ich ihnen in
+ gewähltem Arabisch meine Meinung beibrachte: erstens, daß ich wohl
+ wüßte, daß sie neuen Aufruhr gegen die Regierung im Schild führten,
+ und zweitens, daß sie mir glauben dürften, daß ich lediglich dazu
+ gekommen sei, sie zu entwaffnen und zu vernichten. Diesen Bescheid
+ nahmen sie stillschweigend entgegen und entfernten sich dann, um
+ sich's zu überlegen. Es dauerte nicht lange, so erhielt ich ein
+ Schreiben mit der Zusicherung ihrer Unterwerfung und dankte Gott
+ dafür! Rings umher haben sie das Land verwüstet, und ich konnte es
+ nicht ändern. Mich dauern nur die armen Leute, die es traf, darunter
+ die mir Verbündeten, die mit mir nach Wadar (gegen die Leparden)
+ zogen und ihr Eigentum unbeschützt zurückließen. Was für Jammer
+ überall! Aber der Allerhöchste sieht es, und er kann helfen. Ich
+ kann's nicht. Die verblümten Gesichter der Schurken, als sie meine
+ Anklagen vernahmen, und die merkwürdige Gebärdensprache bei meinem
+ ungenügenden Arabisch hättest Du mit ansehen sollen! Es ist noch
+ keine drei Tage her, daß Sebehrs Sohn seine Pistole dreimal auf
+ meinen Kavaß (eine Art Polizeisoldat) abfeuerte, weil der Ärmste
+ krank war und ihm nicht entgegenkommen konnte ... Du hättest sein
+ Gesicht sehen sollen und seine Versicherungen der Treue mit anhören,
+ als ich ihm dies vorrückte. Schließlich habe ich ihm verziehen.
+ Maduppa Bey hat mir seither erzählt, daß der Sohn Sebehrs sich nach
+ der Unterredung mit mir hingelegt und kein Wort gesprochen hätte,
+ so daß die Araber meinten, ich hätte ihn mit Kaffee vergiftet! ...
+ Man sieht ihm an, daß er ein verwöhntes Kind ist, dem die Rute nicht
+ schaden würde. Ich habe mir Mühe gegeben, freundlich mit ihm zu
+ reden, aber er wirft mir nur wütende Blicke zu. Armer Junge! er wird
+ noch manch bittere Erfahrung machen müssen, ehe er die Nichtigkeit
+ des Irdischen erkennt; bisher war er Herr inmitten einer kriechenden
+ Schar von Sklaven, konnte thun was er wollte, Leute umbringen, wann
+ es ihm einfiel, und soll nun auf einmal ~nichts~ sein! Indessen
+ -- ›fahret mir säuberlich mit dem Knaben Absalom‹ -- ich will suchen,
+ nach diesem Wort zu handeln. Es ist ein zierlicher Bursche in einer
+ Jockei-Jacke von blauem Sammet. Die ganze Sippschaft kam bis an die
+ Zähne bewaffnet, als sie sich in meinem Divan einstellten.«
+
+Nachdem Gordon Soliman und seiner Horde den Standpunkt klargemacht,
+beschloß er, die »Höhle Adullam« auszufegen, und sandte eine Abteilung
+seiner Truppen ab, um Schekka zu besetzen. Im feindlichen Lager
+war man übrigens keineswegs ~einer~ Meinung: ein Teil der
+Sklavenjäger war für Unterwerfung, der andere für Krieg. Soliman
+selber war in einem Zustand unbändigster Wut, und wenn er nur die
+Scheiks zu gemeinsamem Handeln hätte bringen können, so wäre ein neuer
+Aufstand erfolgt. Die Leute waren aber moralisch überwältigt: einer
+nach dem andern erklärte dem Generalgouverneur seine Unterwerfung, und
+dem Sohne Sebehrs blieb zuletzt nichts übrig, als sich Gordons Befehl
+zu fügen, der ihn nach Schekka zurückkehren hieß. Er wolle das thun,
+sagte der Bursche, wenn Gordon ihm zuerst Feierkleider schenke nach
+dem herkömmlichen Brauch und als Beweis, daß er mit ihm zufrieden sei.
+»Ich habe keine Feierkleider,« erwiderte jener und fügte hinzu, daß
+sein Betragen ein viel zu anmaßendes sei; er wisse ja nicht einmal,
+was sich des Khedive Statthalter gegenüber schicke, der ihn -- einen
+eingebildeten Jungen -- mit ganz unverdienter Milde behandle. Das war
+dem Sohne Sebehrs eine bittere Pille, aber er mußte sie schlucken.
+Von Schekka aus sandte er dann einen Brief, in dem er sich Gordons
+getreuen Sohn nannte und eine Statthalterschaft begehrte. Darauf wurde
+ihm die Antwort, daß ehe er in Kairo gewesen sei, um sich dem Khedive
+persönlich zu unterwerfen oder sonst eine nicht mißzuverstehende Probe
+der Treue abgelegt habe, der General-Gouverneur ihm keinen Posten
+anvertrauen werde, und wenn es ihn sein Leben koste. Diesen Bescheid
+schickte ihm Gordon durch die Scheiks. Ehe diese sich verabschiedeten,
+fragte Gordon einen derselben, ob er Kinder habe; der Mann bejahte
+es. »Nun,« rief Gordon, »sagen Sie selber, ob eine Tracht Schläge dem
+Burschen nicht heilsam wäre!« Und der Scheik gab es zu.
+
+Während er so mit den Sklavenhändlern fertig wurde, hörte er, daß
+sein schwarzer Schreiber, dem er bis dahin vollkommen getraut hatte,
+ebensowenig »bakschischfest« war, als die meisten seiner Untergebenen:
+er hatte sechstausend Mark Bestechungsgelder angenommen. Dergleichen
+Erfahrungen waren Gordon ein wahrer Schmerz. Dann kam ein Eilbote
+von Fascher, wo er doch über fünftausend Mann Militär wußte, mit der
+Nachricht, daß ein panischer Schrecken die Stadt befallen habe; Harun
+hatte nämlich von weither von sich hören lassen. Da verlor Gordon ob
+solcher bodenloser Feigheit die Geduld. Er ließ ihnen zurücksagen,
+sie sollten nicht sterben vor Angst, die Sklavenhändler würden ihnen
+demnächst zu Hilfe kommen.
+
+In der zweiten Septemberwoche machte er sich selber nach Schekka auf
+den Weg. Als Soliman von seinem Kommen hörte, lud er ihn ein, in
+seinem Hause abzusteigen, was Gordon auch ohne weiteres annahm. Er und
+die anderen Raubgesellen empfingen ihn mit aller Unterwürfigkeit, ja
+sie kamen ihm wie ihrem König entgegen. Sebehrs Sohn war sogar ganz
+bescheiden und trug diesmal keine Sammetjacke; seinen Wunsch nach
+einer Statthalterschaft konnte er jedoch nicht unterdrücken. Gordon
+ließ sich aber nicht durch Unterthänigkeit bestechen, sondern erklärte
+dem Bittsteller, er müsse vor allen Dingen Vertrauen zu verdienen
+suchen. Doch war er persönlich freundlich gegen diesen »Absalom«, wie
+er ihn nannte, und schenkte ihm sogar sein eigenes Gewehr.
+
+Übrigens blieb er nur zwei Tage in dem Räubernest, und das war gut,
+denn er hatte keine Schutzwache bei sich, und, wie sich später
+herausstellte, wurde während seiner Anwesenheit Kriegsrat gehalten, ob
+es thunlich und ratsam sei, sich an ihm zu vergreifen! Daß es nicht
+geschah, ist ein Wunder, das sich nur damit erklären läßt, daß seine
+vollständige Gleichgültigkeit gegen persönliche Gefahr wie lähmend auf
+seine Feinde wirkte; es war die Großartigkeit seines Wesens, die sie
+entwaffnete. Und wie Daniel aus der Löwengrube, so ging er aus dem
+Nest der Sklavenräuber hervor.
+
+Es war auf dem Weg nach Schekka, daß er folgenden Brief schrieb:
+
+ »Weiterhin im Land hausen noch an sechstausend Sklavenhändler,
+ die sich wohl ergeben werden, nun ich den Sohn Sebehrs und seine
+ Häuptlinge überwältigt habe. Es ist nicht zu sagen, wie groß die
+ Schwierigkeit ist, mit all diesen bewaffneten Horden das Rechte zu
+ treffen. Ich trenne sie in einzelne Haufen und hoffe sie so mit der
+ Zeit zu bewältigen. Man kann sie doch nicht alle totschießen! Haben
+ sie nicht auch ihre Rechte, die man berücksichtigen muß? Hatten die
+ Pflanzer (in Amerika) keine Rechte? Hat nicht selbst unsere Regierung
+ einst Sklavenhandel gestattet? Ich hätte viel darum gegeben, Sie und
+ die Herren von der Gesellschaft zur Unterdrückung des Sklavenhandels
+ in jenen drei Tagen in Darra zu haben, als man nicht wußte, ob
+ die Sklavenhändler sich zur Wehre setzen würden oder nicht. Eine
+ schlechtbefestigte Stadt, eine feige Besatzung, unter der nicht einer
+ war, der nicht vor Angst zitterte; und auf der andern Seite eine
+ handfeste entschlossene Bande, die sich aufs Kriegshandwerk versteht,
+ gut schießen kann und zwei Feldstücke bei sich hat. Ich hätte gern
+ gehört, was Sie und die anderen dazu gesagt hätten! Ich sage dies
+ nicht, um mich zu rühmen, denn Gott weiß, wie groß meine Sorge war
+ -- nicht um ~mein~ Leben, denn ich bin längst dem abgestorben,
+ was einem das Leben lieb macht, den Annehmlichkeiten und der Ehre
+ und Pracht dieser Welt -- sondern meiner armen Schafe wegen hier
+ in Darfur und anderwärts. Ihr sagt dies und das und handelt nicht
+ darnach; ihr gebt Beiträge und meint, ihr habt eure Pflicht gethan;
+ ihr lobt einander u. s. w. Es ist auch natürlich. Gott hat euch Dinge
+ gegeben, die euch an diese Welt binden, ihr habt Frauen und Kinder.
+ Ich habe keine und bin frei -- gottlob. Verstehen Sie mich recht:
+ wo es mir nötig erscheint, da kaufe ich Sklaven und ich hindere es
+ nicht, wenn gefangene Sklaven nach Ägypten verbracht werden; und
+ im Punkte der dienstpflichtigen Sklaven will ich Freiheit haben,
+ das zu thun, was mir recht scheint und was Gott selbst in seiner
+ Barmherzigkeit mir nahe legt; aber den Sklavenjägern will ich das
+ Genick brechen, und wenn es mich mein Leben kostet. Ich kaufe Sklaven
+ für meine Armee und mache sie zu Soldaten gegen ihren Willen, damit
+ sie mir helfen die Sklavenjagd unterdrücken. Ich thue dies am hellen
+ Tag aller Welt gegenüber, und trotz all euren Beschlüssen. Meint ihr,
+ es würde mir das Herz brechen, meiner Würden entsetzt zu werden? ich
+ würde mich zurücksehnen nach der entsetzlichen Ermüdung des ewigen
+ Kamelreitens, nach all dem Elend, das ich mit ansehen muß, nach der
+ Hitze, und nach der Plackerei meines persönlichen Lebens? Stellt
+ euch einmal meine Reisen vor in diesen sieben Monaten! Tausende von
+ Kilometer zu Kamel, und es wird so fortgehen, wenigstens noch ein
+ Jahr lang. Sie finden es nur hie und da nötig, sich auf Gott zu
+ verlassen -- ich fortwährend, Tag und Nacht. Ich will damit sagen,
+ daß Sie nur hie und da eine schwere Prüfung haben -- etwa wenn Ihnen
+ ein Kind krank ist -- die Sie erkennen läßt, wie völlig schwach und
+ hilflos Sie sind. Ich bin fortwährend in solcher Lage. Der Körper
+ lehnt sich dagegen auf -- es ist oft mehr als man tragen kann.
+
+ Zeigen Sie mir den Mann -- und ich will mir von ihm helfen lassen
+ -- der Geld, Ruhm, Ehre verachtet, dem es einerlei ist, ob er je
+ seine Heimat wieder sieht, der sich allein auf Gott verläßt als die
+ Quelle alles Guten und den Machthaber über alles Böse, einen, der bei
+ gesundem Körper und mit thatkräftigem Geist dem Tod entgegensieht,
+ der ihn einst von allem erlösen wird. -- Sie sagen, Sie wissen
+ keinen? nun dann lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe wahrlich genug an
+ meinem Leben zu tragen und brauche keine weitere Last.
+
+ »Auf einen Unterschied zwischen hier und Amerika muß ich Sie
+ aufmerksam machen: man hört hier nie davon, daß Eigentümer ihre
+ Sklaven zu harter Feldarbeit benutzen. Sie sind entweder Dienstboten
+ oder im Truppendienst der Händler; es sind meist muntere flinke
+ Kerle, gewandt wie Antilopen, auch wieder wild und schonungslos,
+ ein Schrecken dieser Länder, und mit einem Prestige weit über das
+ Militär der Regierung hinaus. Sie sind die Stärke der Sklavenhändler.
+ -- In Kedaref sollen sich ein paar Griechen niedergelassen haben,
+ die eine Menge Sklaven auf Plantagen beschäftigen. Ich habe vor, sie
+ aufzugreifen. Kurz, der Zustand der Neger hier ist weit besser, als
+ er je in Westindien war, und ich behaupte, daß die Leute hier nicht
+ so herzlos sind, als einst die Pflanzer mit all ihrer Bildung und
+ ihrem Christentum.
+
+ »Ihre Ansicht über den Mohammedanismus teile ich nicht. Nach meiner
+ Ansicht giebt es Muselmänner, die christlicher sind als manche
+ Christen. Wir alle sind mehr oder weniger Heiden. Haben Sie je das
+ Buch gelesen »Das moderne Christentum ein zivilisiertes Heidentum«?
+ Ich war dieser Ansicht lange, ehe ich es las. Ich mag einen rechten
+ Muselmann wohl leiden; er schämt sich seines Gottes nicht und sein
+ Privatleben ist ein ziemlich reines; allerdings erlaubt er sich
+ viele Weiber, auf der anderen Seite aber begnügt er sich mit seinen
+ eigenen. Kann man das immer von den Christen sagen?
+
+ »Was geht mich das Ministerium des Äußeren an, oder ich das
+ Ministerium? Ich brauche seine Hilfe nicht; es wäre unrecht gegen
+ den Khedive, wollte ich sie annehmen. Außerdem »derer ist mehr, die
+ bei mir sind, denn derer, die bei ihnen sind.« Ich brauche keine
+ Helfer außer dem Allmächtigen ... Nein, mein Lieber -- richten Sie
+ Ihr Leben in Wahrheit nach dem Christentum ein, dann erst wird es
+ Sie befriedigen. Das Christentum der meisten Leute ist ein schales,
+ kraftloses Ding und führt zu gar nichts. Ein gutes Mittagessen ist
+ ihnen wichtiger; es giebt nur einige wenige, die Gott dazu antreibt,
+ sich wirklich um ihre schwarzen Brüder zu kümmern. ›Ach die armen
+ Sklaven!‹ und ›darf ich Ihnen noch ein Stückchen Salm anbieten?‹
+ heißt es da in einem Atem.«
+
+Mitte September zog er nach Obeid, weil sein Diener das feuchte Klima
+bei Schekka nicht ertragen konnte. Da kam es ihm vor, als erhielte
+seine Karawane einen ungewöhnlichen Zuwachs und es dauerte nicht
+lange, so entdeckte er den Sachverhalt -- etwa achtzig Männer und
+Weiber und Kinder in Ketten. Natürlich packte er den Sklavenhändler;
+es war einer jener Geier. Und da hieß es denn, es sei dessen eigene
+Familie! Hätte Gordon sie befreit, so wären sie liegen geblieben und
+Hungers gestorben. So blieb nichts übrig, als einem Sklaventransport
+den oberstatthalterlichen Schutz zu gewähren! nur daß den armen
+Geschöpfen die Ketten abgenommen wurden.
+
+Diese Reise scheint besonders ermüdend gewesen zu sein.
+
+ »Keine Sonntage für mich,« schreibt er, »es ist Last und Hitze jeden
+ Tag, ob ich auf meinem Kamel bin oder im Zelt.«
+
+Und überall Sklaven; manche kauft er, andere, die in der Glut fast
+verdursten, schickt er ans Wasser. Ihr Elend bekümmert ihn, und er
+hätte sein Leben gelassen, nicht ~einmal~, sondern wieder und
+wieder, um den Handel mit Menschenware von der Erde zu vertilgen. Und
+doch weiß es niemand besser als er, daß er nichts thun kann, als neue
+Einfuhr möglichst verhindern. Daß er mit dem Räubernest in Schekka
+fertig geworden war, leuchtete wie ein Stern am Horizont seines Lebens
+und gab ihm die Hoffnung, daß bessere Tage kommen würden.
+
+Ende September gelangte er nach Obeid und war vierzehn Tage später in
+Khartum. Der Ruhm seines Siegeszugs war vor ihm hergegangen. Die Leute
+konnten sich nicht genug über seine Kühnheit wundern; solcher Mut,
+solche Willenskraft, solche unwiderstehliche Energie war den schlaffen
+Menschen in diesem schlaffen Land unfaßlich. Und die Geschwindigkeit,
+mit der er seine riesengroße Provinz bereiste, wäre jedem andern als
+eine Unmöglichkeit erschienen. Seine Beamten fühlten sich ordentlich
+ihrer Trägheit nicht mehr sicher. »Der Pascha kommt!« war ihnen ein
+Schreckschuß, der besser wirkte, als Aussicht auf die Peitsche. So
+beherrschte der freundliche, wohlwollende Mann mit seinem felsenfesten
+Willen das Land.
+
+
+ 3. Weitere Kämpfe und der Aufstand in der Bahr el Ghasal.
+
+Am 14. Oktober 1877 war Gordon nach Khartum zurückgekehrt und schon
+am 23. begab er sich auf eine neue Reise. Die Arbeitslast, die er
+vorfand, hatte er in einer Woche bewältigt. Er sei nur noch ein
+Schatten seiner selbst, schreibt er; und jene Woche nennt sogar er
+eine harte Zeit. Auf Schritt und Tritt belagerten ihn die Leute mit
+Bittschriften, ihn mit Geschrei verfolgend. Sich ihrer mit Gewalt
+entledigen, das brachte er nicht über sich.
+
+ »Ich lasse sie eben schreien, denn wie kann ich jedem seinen
+ Willen thun oder jeden Gefangenen frei geben? Hätte ich nicht
+ meinen Gott zum Trost,« fährt er fort, »und das Bewußtsein, daß Er
+ Generalgouverneur ist, wie sollte ich's weiter führen?«
+
+Nachdem er seine Regierungsgeschäfte in Khartum erledigt und einen
+Mörder hatte hinrichten lassen, machte er sich über Berber nach Hellal
+auf den Weg, um daselbst mit Walad el Michael zu verhandeln. Die Reise
+den Nil hinunter war die erste wirkliche Ruhezeit, die ihm seit dem
+Vorfrühling 1874 im Sudan zu teil wurde. Und während er so mit stillem
+Gemüt den Nil hinabsegelt, spricht er sich brieflich über seinen
+Beruf aus. Sein englischer Biograph bemerkt hierzu, man höre da zum
+erstenmal ein Wort von ihm, das für Selbstüberhebung gelten könnte.
+
+ »Wie köstlich war die Ruhe heute auf dem Nilboot. Voriges Jahr um
+ diese Zeit war ich auf meiner Heimreise vom Äquator her. Wieviel
+ ist seither geschehen, bei Dir, bei mir, und in Europa! Mir ist so
+ wohl zu Mut. Wenn ein Stern seine Höhe erreicht, so sagt man: er
+ kulminiert; nun, mir ist auch, als ob ich kulminiert hätte -- ich
+ möchte weiter und höher hinauf. Doch weiß ich, daß ich hier bin, so
+ lange es Gottes Wille ist; mit diesem Bewußtsein fuße ich wie auf
+ einem Felsen und bin zufrieden. Mancher andere möchte wohl auch hoch
+ steigen, aber ohne die damit verbundene Last; mir macht umgekehrt die
+ Last die Ehre lieb und ich danke Gott dafür. Er hat mir's gelingen
+ lassen, und wenn's auch kein sehr glänzender Erfolg ist, so ist's ein
+ handgreiflicher, der bleibenden Wert hat. ~Jene Stelle im Propheten
+ Jesaia habe ich mir zugeeignet, und soweit es in meiner Macht steht,
+ suche ich sie zu bewahrheiten.~«
+
+Er meinte die Stelle Jesaia 19, 20:
+
+ »Welcher wird ein Zeichen und Zeugnis sein dem Herrn Zebaoth in
+ Ägyptenland. Denn sie werden zum Herrn schreien vor den Beleidigern;
+ so wird er ihnen senden einen Heiland und Meister, der sie errette.«
+
+Warum aber soll das Selbstüberhebung sein? Ist es nicht vielmehr
+die Rede eines Menschen, der mit Paulus sagen kann: »Ich habe mehr
+gearbeitet denn sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die
+mit mir ist?«
+
+In Berber wurde zu seiner Ankunft die Stadt festlich erleuchtet,
+und der Generalgouverneur, »der Beklagenswerte, mußte zwei Stunden
+umherlaufen und den Leuten zulieb ihre trüb brennenden Ampeln
+bewundern -- ein wahres Opfer!« Darein fügte er sich, die acht oder
+zehn Hofschranzen aber, mit denen man ihn umgab, hieß er ihrer Wege
+gehen. Sich bewachen lassen, war nicht seine Art. Auch in Berber
+war an Arbeit kein Mangel -- Bittschriften, Briefe, Telegramme zu
+Dutzenden. Im ganzen Land meinten die Leute, er sei nur dazu da,
+ihre Privatangelegenheiten zu erledigen. Von fünfzig Stunden her
+telegraphiert einer, es sei ihm ein Sklave entlaufen; ein anderer, er
+habe Händel mit seiner Frau und ein Nachbar hätte sich drein gelegt
+-- als ob es nirgends Bezirksgouverneure gäbe. Jenem flüchtigen
+Sklaven wird der Generalgouverneur nicht nachgegangen sein, auch jene
+Ehehändel nicht geschlichtet haben; Spital und Gefängnis aber ließ er
+nicht unbesucht.
+
+Auf der Weiterreise nach Dongola mußte er sich über schlechte
+Kamele beklagen, die Ruhe und Stille der Wüste mit ihren klaren
+taulosen Nächten war ihm indessen eine wahre Erquickung nach der
+langen Kampfzeit und nach der feuchten Hitze in Darfur. In Meraui,
+dem angeblich südlichsten Grenzpunkt altägyptischer Zivilisation,
+erreichte er den Fluß wieder. Hier hatten die Leute seit Jahren keinen
+Statthalter zu Gesicht bekommen und verfolgten ihn mit Klaggeschrei.
+In Dongola hörte er, daß Walad el Michael Senheit bedrohe, und Gordon
+hatte keine Truppen. Auch ein Telegramm vom Khedive fand er vor, in
+welchem seine Anwesenheit in Kairo begehrt wurde. Er machte sich daher
+nach Ägypten auf den Weg, aber schon nach einer Tagreise bestürmten
+ihn Telegramme vom Sudan mit der Nachricht eines abessinischen
+Einfalls. Ras Arya, ein Heerführer des Johannes, bedrohte Sennaar
+und Fazolie, südlich von Khartum. Es schien ihm unglaublich; aber
+in Khartum war auch nicht ein Mensch, auf den er sich nötigenfalls
+hätte verlassen können; so eilte er denn nach Dongola zurück und von
+dort durch die Bajuda-Wüste in fünftägigem Ritt nach Khartum. Es war
+blinder Lärm gewesen; man hatte ein paar abessinische Grenzmänner
+gesehen und sie auch zurückgeworfen.
+
+Drei Tage hielt er sich in Khartum auf, dann bestieg er abermals
+sein Kamel, um über Abu Haras, Kedaref und Kassala nun doch erst den
+Walad el Michael aufzusuchen, ehe er nach Kairo ging. Gordon hätte
+gewünscht, den König Johannes zu einem Einverständnis mit Walad zu
+bringen, wonach der König dem unruhigen Häuptling Hamasen überließe,
+das überdies sein angestammtes Erbe war, allein Johannes war ein
+Starrkopf. Walad war für die Ägypter ein böser Grenznachbar; man war
+seiner nie sicher. Das einfachste wäre gewesen, ihn dem abessinischen
+König in die Hände zu liefern, aber selbst ägyptische Politik hätte
+nach dem Vorausgegangenen dies für schmählich gehalten. Man hoffte,
+Gordon würde es zu stande bringen, die ägyptische Ehre mit möglichstem
+Gewinn zu retten. Somit war er denn auf dem Wege nach Senheit, wo
+Walad lag.
+
+Unterwegs fand er wie gewöhnlich Ursache, sich über sein Gefolge zu
+beschweren; er hatte es zu eilig für seine gemächlichen Araber, und wo
+sie konnten, erwiesen sie sich hinderlich.
+
+In Kassala sah er den Heiligen, Scherief Seid Hakim, einen Abkömmling
+Mohammeds, mit dem er schon einmal zusammengetroffen war, und der
+sich damals in seiner Würde verletzt fand, weil sein unwissender
+europäischer Gast sich neben ihn auf den Ehrendivan setzte. Diesmal
+war der Heilige etwas herablassender und ließ sich sogar eine
+Zwanzigpfundnote (400 Mark) schenken. Als Gegengeschenk that er Gordon
+die Ehre an, ihn zu bitten, sich zum Turban zu bekehren und ein
+Muselmann zu werden. Er war nicht der erste, der dem Generalgouverneur
+diese Bitte vortrug!
+
+Als er Senheit erreichte, fand er, daß Walad sich in seinem Lager zu
+Hellal befand, und mußte zwei hohe Berge übersteigen, um dasselbe zu
+erreichen. Es war ein ähnliches Unternehmen wie sein Besuch in der
+Räuberhöhle zu Schekka.
+
+ »Die Leute in Senheit waren so furchtsam, daß ich beschloß, mich
+ in Gottes Hand zu stellen und hierher zu reiten. Der Weg über zwei
+ Berge war über alle Beschreibung; den zweiten zu übersteigen war eine
+ entsetzliche Arbeit. Walad el Michael und seine Banditen lagen auf
+ einem hohen Berg. Er hat volle siebentausend Mann bei sich, die alle
+ bewehrt sind. Sie standen in Reih und Glied, um mich zu empfangen,
+ und sein Sohn kam mir entgegen. Michael, hieß es, sei krank, oder gab
+ vor es zu sein. Darnach begrüßte mich ein Trupp Priester mit heiligen
+ Bildern. Michael empfing mich liegend -- er habe ein böses Knie;
+ aber die Leute zu Senheit sagen, es wäre nicht wahr. Dann führte man
+ mich in mein Zelt, und ich muß sagen, ich gedachte der Löwengrube.
+ Wir waren miteinander in einer zehn Fuß hohen Umzäunung eingesperrt.
+ Ich wurde zornig, denn ich sah wohl, was meine Leute (zehn Soldaten)
+ davon hielten. Ich wandte mich an den Dolmetscher und sagte ihm, daß
+ wenn Michael vorhabe, mich als Gefangenen zu betrachten, es ihm frei
+ stünde, daß er es aber würde büßen müssen. Das war Kleinglaube von
+ mir, dies zu sagen! Der Dolmetscher und Michaels Sohn waren indessen
+ so überaus höflich und voller Entschuldigungen, daß ich vorläufig
+ wohl noch kein Gefangener bin. Ich erläuterte meine Bemerkung dahin,
+ daß wenn es in Senheit bekannt würde, wie man mich hier logiere,
+ man dort allerdings für meine Sicherheit fürchten müßte, und der
+ Telegraph würde solches nach Kairo melden.«
+
+Die Nacht verlief ungestört, abgesehen von quälenden Flöhen, welches
+Ungeziefer in jenen Himmelsstrichen nur in hoher Bergluft gedeiht. In
+der Morgenfrühe sammelten sich die Priester um des Gastes Gefängnis
+her und sangen ihre Hymnen -- »wahrscheinlich um den bösen Geist zu
+bannen,« meinte Gordon. In einem späteren Brief heißt es übrigens:
+
+ »Die Priester (in Abessinien) versammeln sich morgens um drei Uhr und
+ singen eine Stunde lang in eigentümlich melodischer Weise davidische
+ Psalmen. Es hat für den aus dem Schlaf erwachenden Hörer etwas tief
+ Ergreifendes.«
+
+Am folgenden Tag hatte er eine Unterredung mit Walad und machte ihm
+den Vorschlag, beim König von Abessinien um Pardon einzukommen. Der
+»Patient« wies dies energisch von sich und meinte im Gegenteil,
+die ägyptische Regierung thäte wohl daran, ihm weitere Distrikte
+(zum Plündern) zu überlassen; auch erklärte er sich bereit, die
+abessinische Stadt Adowa zu überfallen. Zwar wußte Gordon, daß er den
+listigen Verbündeten auf diese Weise leicht dem Johannes in die Hände
+spielen könnte, aber Verrat war nicht seine Sache, und er brachte
+Walad durch eine beträchtliche Geldsumme fürs nächste zur Ruhe.
+
+ »Wie verhaßt mir diese Abessinier sind,« schreibt er, »den Walad
+ mitgerechnet; sie haben auch gar nichts Anziehendes. Ihr Christentum
+ ist ein totes; und was ihre Zivilisation betrifft, so sind sie nicht
+ viel besser als die Stämme am Äquator. Wäre es nicht der europäischen
+ Regierungen wegen, ich kümmerte mich nicht um diesen Johannes.
+ Meine Beduinen von Darfur und hier herum sind andere Leute. Manche
+ der jüngeren Leute haben eine Haltung, die man ordentlich beneiden
+ möchte. Ich könnte nie durch mein Äußeres imponieren, aber diese
+ jungen Ismaels sind lauter Prinzen.«
+
+Den König Johannes nennt er anderswo »einen richtigen Pharisäer«,
+und sagt von ihm, er führe eine Sprache wie das alte Testament,
+abends betrinke er sich und am frühen Morgen singe er Psalmen; wenn
+er in England wäre, ginge er zu den Methodisten und hätte eine
+Bibel so groß wie ein Handkoffer. Gordon war offenbar froh, den
+Abessiniern den Rücken kehren zu können und begab sich nach Massaua
+am Roten Meer, um dort eine Antwort von Ras Barin, dem abessinischen
+Grenzgeneral, abzuwarten. Er hatte nämlich dem Könige den Vorschlag
+gemacht, wenigstens Walad el Michaels Truppen Pardon zu gewähren,
+damit sie sich nach Abessinien flüchten könnten, wenn er sich etwa
+zu einem Angriff genötigt sehen sollte. Die Antwort aber blieb aus.
+Johannes lag zu Feld gegen Menelek, den König von Schoa, und so wenig
+umfangreich das Land ist, wußte niemand genau zu sagen, wo das wäre.
+Gordon wartete eine Zeit lang und trat dann über Suakim und Berber
+den Rückweg nach Khartum an. Unterwegs erhielt er einen zweiten
+Befehl vom Khedive, sich in Kairo einzufinden, um an Finanzberatungen
+teilzunehmen. Der bloße Gedanke daran war ihm verhaßt; überdies meinte
+er, nach seinem Nomadenleben im Sudan sei er weniger als je dazu
+geeignet, an höfischem Leben Gefallen zu finden. Es war Ende Dezember;
+über sechstausend Kilometer Wüstenritt lagen hinter ihm in diesem
+Jahr, und leider hatte er unterlassen, die Binde um Brust und Hüfte
+zu tragen, die beim Kamelreiten der fortwährenden Erschütterung wegen
+nötig ist. Die schlimmen Folgen zeigten sich nun.
+
+ »Ich habe mir das Herz oder die Lungen verrüttelt und habe ein
+ Gefühl in der Brust als ob alles verrenkt wäre ... Wahrlich, obwohl
+ ich lieber hier bin, als sonstwo auf der Welt, es wäre besser tot
+ sein, als dies Leben führen. Ich habe meinem Schreiber mit der Bitte
+ Entsetzen verursacht, mich zu begraben wo ich sterbe und jeden Araber
+ einen Stein auf mein Grab werfen zu lassen, damit ich doch auch
+ ein Denkmal hätte. Es ist sonderbar, so gute Fatalisten die Leute
+ hier sind, eine solche Anspielung ist ihnen doch ein Greuel; sie
+ meinen, es hieße den Tod mit Namen rufen, obschon sie zugeben, daß es
+ vorherbestimmt ist, wann einer sterben soll.«
+
+Gordon begab sich nach Kairo. Mit Dampf und Segel ging's nilabwärts
+und die Residenz wurde anfangs März erreicht. Der Khedive hatte seinem
+Oberstatthalter eine Aufforderung zur Hoftafel entgegentelegraphiert,
+aber der Zug hatte Verspätung, und als Gordon den vizeköniglichen
+Palast erreichte, fand sich's, daß die Hoheit anderthalb Stunden auf
+ihren Gast gewartet hatte. Staubig wie er war, mußte Gordon sich
+zu Tisch setzen, und alle Auszeichnung wurde ihm zu teil. Er wurde
+aufgefordert, als Präsident der Finanzkommission zu figurieren. Sein
+Platz bei der Tafel war zur Rechten des Khedive, und sein Quartier
+war ein Palast, in dem sonst nur fürstliche Gäste untergebracht
+werden. Aber die Pracht seiner Umgebung und die glänzende Bedienung
+waren für Gordon verlorene Liebesmüh.
+
+ »Meine Leute wissen sich nicht zu helfen vor Verwunderung, und ich
+ auch nicht. Ich wollte, ich wäre wieder glücklich auf meinem Kamel.«
+
+Einem Engländer, der ihn besuchte, erklärte er, er komme sich vor
+wie eine Fliege in diesem großen Haus. Und seiner Schwester schrieb
+er, es sei die helle Quälerei; er lege sich um acht Uhr schlafen,
+das sei noch das beste, denn er gehe abends nicht in Gesellschaft.
+Ismail hoffte, Gordon werde ihm aus seiner bedrängten Lage helfen.
+»Ich kenne keinen, zu dem ich größeres Vertrauen hätte,« schrieb
+der Khedive, allein die Geldangelegenheiten Ägyptens sind in den
+Händen europäischer Kapitalisten; englische und französische
+Koupon-Abschneider hatten mitzureden; wie hätte der ehrliche Gordon
+da mit seinem Rat durchdringen können, der kurz und gut der war, die
+Zinsen der europäischen Anleihen von 7 auf 4 Prozent herabzusetzen!?
+Kein Wunder, daß er die ganze Bande von Diplomaten und Juden
+gegen sich hatte, die in Kairo mitregieren. Nein, Gordon war kein
+Finanzrat[10] und war froh, wieder seine Wege zu gehen.
+
+ »Ich verließ Kairo wie ein gewöhnlicher Sterblicher, ohne Extrazug,
+ und bezahlte mein Billet. Die Sonne, die so glanzvoll aufging, hatte
+ einen ganz bescheidenen Untergang ... Die Last ist groß -- ich
+ wünsche, die Zeit der Ruhe wäre da; aber die kommt nicht, bis ich
+ ~sein~ Werk vollbracht habe. Hier bin ich -- sende mich!«
+
+Die Reise ging über Suez, Aden, Zeila nach Harrar; er wollte den Raouf
+Pascha, der als grausamer Tyrann dort schaltete, abermals seines Amtes
+entsetzen; es war derselbe, dem er vier Jahre vorher eine Züchtigung
+hatte zu teil werden lassen. In Harrar blieb er nur so lang als nötig
+war, um Ordnung zu schaffen; dann kehrte er nach Zeila zurück, wo er
+nach »achttägigem fürchterlichem Marsch« am 9. Mai 1878 anlangte.
+Müde wie er war, ging's alsbald weiter nach Massaua und Berber. Ihn
+verlangte nach Khartum zurück, wo ein Berg von Arbeit seiner harrte.
+Das Volk freute sich seiner Rückkehr und treulose Beamte zitterten;
+nicht weniger als acht seiner hochgestellten Untergebenen entsetzte
+er ihren Würden. Aber nur zu gut wußte er, daß er mit eingefleischter
+Veruntreuung im ungleichen Kampf stand, weil Ägypten wie die Türkei
+im Regierungswesen von oben bis unten durch und durch faul ist; und
+Menschenkraft, selbst die eines Gordon, reicht da nicht aus, auf die
+Dauer zu bessern.
+
+Die erste Nachricht von außen, die ihn in Khartum erreichte, war die,
+daß Walad el Michael in Abessinien eingefallen sei und sich des Ras
+Bariu bemächtigt habe. Somit waren Gordons Briefe an Johannes jetzt in
+Walads Hand, was dem Schreiber übrigens kein großer Kummer war. Walad
+wußte nun, wessen er sich zu versehen hatte, und daß Gordon, obschon
+er sich von ihm lossagte, bei Johannes um sein Leben eingekommen war.
+
+Die zweite ungleich bedenklichere Nachricht war ein erneuter und
+verstärkter Aufstand der Sklavenjäger. Soliman hatte sich in die Bahr
+el Ghasal zurückgezogen, wo die ganze Bande der aus ihren Nestern
+verjagten Sklavenhändler sich zur letzten verzweifelten Gegenwehr um
+ihn scharte. Während Gordon den Menschenhandel im Norden im Schach
+hielt und die Verbindungen der Räuber mit ihren Märkten abschnitt,
+erhob sich Soliman im Süden, und seine Horden überfluteten die Bahr el
+Ghasal.
+
+ »Ich habe den ganzen Besitz der Sebehrfamilie konfisziert,« schrieb
+ Gordon, als er dies vernommen, »und sende eine Truppenabteilung gegen
+ den Sohn.«
+
+Diese Unterwerfung persönlich zu leiten war ihm schon deshalb nicht
+möglich, weil durch Anhäufung des Ssett in den Flüssen und Seen die
+Verbindung der Bahr el Ghasal mit Khartum oft monatelang abgeschnitten
+ist. Der Generalgouverneur durfte seine Provinz auf eine solche
+Möglichkeit hin nicht verlassen. Aber außerdem war eine Zeit der
+Schwierigkeiten angebrochen, der selbst seine Energie oft manchmal
+erliegen wollte. Die Paschas in Ägypten arbeiteten ihm geradezu
+entgegen.
+
+ »Ich stehe so ziemlich mit ganz Kairo auf dem Kriegsfuß, und Dornen
+ sind mein Teil. Aber diese Arbeit ist mir nun einmal übertragen, ich
+ will sie durchführen, und Gott wird mich von allem Übel erlösen. Wenn
+ man sich von den irdischen Dingen nur immer innerlich frei halten und
+ sie dem göttlichen Walten überlassen könnte, wie viel leichter wäre
+ dann alles! Ich verzweifle nicht, aber wenn ich sehe, daß trotz aller
+ Anstrengung kein wirklicher Fortschritt erreicht wird, dann überfällt
+ mich ein Überdruß und ich wollte ich wäre daheim ... Seit die
+ einsamen Kamelritte hinter mir liegen, habe ich keine erquicklichen
+ Gedanken mehr ... Die fortwährenden Händel sind sehr niederdrückend
+ und täglich möchte ich rufen: Wie lang, Herr, wie lang! Ich habe nie
+ einen ruhigen Tag ... Aber so schwer es auf mir liegt, so ist es doch
+ besser hier arbeiten, als anderwärts ein nutzloses Leben führen.«
+
+Man sieht hieraus und aus ähnlichen Stellen, daß selbst ein
+Glaubensheld wie Gordon seine Stunden hat, wo er innerlich gebrochen
+ist und wie David und Hiob und andere Gottesknechte zu Zeiten meint,
+daß das Böse siegen werde. Auch körperlich hatte er zu leiden.
+
+ »Ich war mehrere Tage recht unwohl und so allein in meinem großen
+ einsamen Haus. Und dann schleppte ich mich von einem Zimmer ins
+ andere, weil die Gedanken mir keine Ruhe ließen. Bei all dem habe
+ ich den großen Trost, mich nie vor dem Tod zu fürchten.« Und einige
+ Wochen später: »Gottlob ich bin fast wieder wohl, aber ich war zwei
+ Tage recht elend. Die ganze Stadt ist krank dieses Jahr. Aber so
+ krank ich war (und zwar gleichzeitig mit meiner Dienerschaft --
+ alles lag darnieder), war es mir doch lieb, in meinem großen Haus
+ allein zu sein und niemand zur Last zu fallen ... Ich glaube, mein
+ armer Kopf hat nie mehr nutzlose Arbeit vollbracht als in jenen
+ beiden Nächten. Bittschriften verfolgten mich und wenn ich meinte sie
+ erledigt zu haben, so waren sie von neuem da; es war entsetzlich.«
+ Und hieran knüpft er die nicht leicht zu beantwortende Frage an
+ seine Schwester: »Was möchtest du lieber, nach einem kampflosen
+ Leben die ewige Seligkeit in geringerem Maße erreichen, oder durch
+ ein Heer von Prüfungen hier durch müssen, um die ewige Seligkeit in
+ größerem Umfang zu gewinnen? Merke, die ewige Seligkeit, als eine
+ vollständige, in beiden Fällen! Ich weiß nicht, was ich wählen würde,
+ ich möchte lieber nicht wählen, obschon ich ein abgehärteter Mann
+ bin, denn dies Leben ist eine ~fürchterliche~ Schule.«
+
+Unter den äußeren Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, war
+der trostlose Zustand der Finanzen nicht die geringste: das Volk war
+über und über besteuert, aber mehr als zwei Drittel der Schatzung
+ging nie ein. Die Steuereinnehmer waren wie die weiland römischen
+Zöllner, die nebenher ihre eigenen Geschäfte machten. Gebt uns ein
+Sechstel als »Bakschisch«, sagten sie den Leuten, dann stellen wir
+euch ein Zeugnis aus, daß ihr nicht mehr zahlen könnt. Als Gordon
+die Verwaltung antrat, fand er, daß es vorher allgemein üblich war,
+den Gouverneur zu bestechen, um z.B. eine Stelle zu erhalten, und
+zwar so, daß ein Bewerber zwölftausend Mark »Bakschisch« für eine
+Anstellung zahlte, die ihm kaum mehr als ein Drittel dieser Summe
+an Jahresgehalt eintrug. Natürlich lag der Schluß nahe, daß die
+Beamten auf ganz andere Einkünfte als ihren Gehalt ihr Augenmerk
+richteten. Gordons Wachsamkeit legte manchem das Handwerk; das System
+war aber so eingerissen, daß er sich anfänglich der ihm zukommenden
+»Bakschisch«-Gelder gar nicht erwehren konnte; er legte sie in die
+Verwaltungskasse. Aber Ägypten selber betrachtete das abhängige
+Land nur als eine Geldquelle, und nicht zufrieden mit rechtmäßigen
+Einkünften, wie z. B. dem Ertrag des Elfenbeins, war es unter den
+ägyptischen Paschas ganz üblich, ihr eigenes Defizit aus dem Sudan zu
+decken. Selbst der Khedive telegraphierte seinem Statthalter Gordon,
+so oft er sich in Geldverlegenheit befand.
+
+ »Ich bin hinter den Büchern gewesen,« schreibt dieser, »und habe
+ einen guten Streich geführt. Die Finanzverwaltung von Kairo
+ telegraphierte um eine halbe Million Mark, die der Sudan dorthin
+ schulde. Ich habe die (alten) Abrechnungen nachgesehen und finde, das
+ umgekehrt Kairo dem Sudan hundertachtzigtausend Mark schuldet!«
+
+Er ließ sich nie dran kriegen, von keinem Vizekönig und keinem
+Minister. Im ersten Jahr seiner Verwaltung fand er ein Defizit von
+über fünf Millionen Mark in seinen Finanzen, im zweiten Jahr hatte
+er's auf eine Million heruntergebracht, und mit der Zeit hoffte er der
+Schulden ganz Herr zu werden und rechtmäßige Überschüsse nach Kairo zu
+schicken. Er hatte oft Ebbe in der Kasse und dabei die fortwährenden
+Schwierigkeiten mit dem Sklavenhandel -- »wahrlich, man ist hier nicht
+auf Rosen gebettet!« rief er aus.
+
+Denn bei aller übrigen Not hatte er ein wachsames Auge auf die
+Sklavenwirtschaft. Im Juli z. B. meldete er:
+
+ »Wir haben in diesen zwei Monaten zwölf Sklaventransporte abgefangen;
+ auch ist mir ein Brief von einem Händler in der Bahr el Ghasal in die
+ Hände gefallen, worin dieser seinen Abnehmern schreibt, er habe eine
+ Menge Sklaven bereit, wisse aber nicht, wie sie landabwärts bringen.
+ Er wird sich wundern, die Antwort von ~mir~ zu erhalten ... So
+ weit es in meiner Macht steht, soll dieser Handel aufhören.«
+
+Einige Wochen später wurde von seinen Leuten eine Karawane von
+neunzig Sklaven aufgefangen, die Überbleibsel von einer viermal
+größeren Anzahl, die über achthundert Kilometer weit durch die Wüste
+hergeschleppt worden waren; die wenigsten davon waren über sechzehn
+Jahre alt, die meisten ganz junge Kinder.
+
+ »Es fällt mir schwer, die Händler nicht nach Verdienst zu züchtigen
+ (ihm selbst waren ja die Hände über ein gewisses Maß hinaus
+ gebunden); aber ich darf nicht vergessen, daß Gott es zuläßt, und ich
+ muß nach dem Gesetz handeln. Ich thue mein Bestes, und fürs übrige
+ ist Er Generalgouverneur.«
+
+In der Bahr el Ghasal waren, wie bereits gemeldet, die Sklavenjäger in
+erneutem Aufstand, und zwar abermals infolge eines geheimen Aufruhrs
+Sebehrs, jener Geißel Zentral-Afrikas, von welchem der ganze Greuel
+ausging. Der schwarze Pascha hoffte seiner Gefangenschaft in Kairo
+dadurch ledig zu werden, daß man ihn als den einen Mann, der die Bahr
+el Ghasal zu beschwichtigen vermöchte, nach dem Sitz des von ihm
+selbst hervorgerufenen Aufruhrs schicken würde. Sein Sohn Soliman
+war sein Stellvertreter. Und daß er so rechnete, war keineswegs
+weit vom Ziel geschossen; Gordon erlebte es in den nächsten Monaten,
+daß rücksichtlich des Sudaner Budgets Nubar Pascha ihm von Kairo
+aus den Vorschlag machte, ihm den Sebehr als eine Art Finanzbeirat
+zu schicken. Derselbe hoffte den Sudan so zur Blüte zu bringen, daß
+Ägypten in kurzer Zeit auf eine halbe Million Mark Einkünfte von
+dorther werde rechnen können. Gordon meldete zurück: ja, eine halbe
+Million aus Sklaventransporten, er begehre solcher Hilfe nicht.
+
+Der Umfang des Aufstandes war anfänglich weder in Kairo noch
+in Khartum bekannt; später stellte es sich heraus, daß die
+Hauptsklavenhändler die Provinzen des Sudan von vornherein unter
+sich verlost hatten und sich mit der Hoffnung trugen, ihre Fahnen
+auf den Mauern Kairos wehen zu lassen. Keineswegs ein unmöglicher
+Traum! Auch als jener Aufstand unterdrückt war, erklärte es Gordon
+als seine Meinung, daß irgend ein entschlossener Anführer den Sudan
+gegen Ägypten aufwiegeln könne, wie das ja auch durch den Mahdi
+seither geschehen ist. Es sind nicht nur die Sklavenjäger, die das
+Brandmaterial in jenen unglücklichen Ländereien ausmachen, obschon
+diese an sich zu jener Zeit mächtig genug waren, um Ägypten in Atem
+zu erhalten, ein weiterer Zündstoff ist in den arabischen Stämmen
+vorhanden, die vor Hunderten von Jahren übers Rote Meer herüberkamen
+und sich im Innern von Afrika festsetzten. Diese Araber sind
+kriegstüchtige Leute, stolz auf ihre Abkunft und nach moslemischen
+Begriffen von sittlicher Lebensart. Diese sind es hauptsächlich, die
+sich dem Mahdi anschlossen, um die verhaßten Ägypter zu vertreiben,
+und sie waren es, die in jenem Aufstand Solimans Horden verdoppelten
+und verdreifachten. Fürs übrige stehen sie den Negern näher als den
+Ägyptern; sie selbst aber treiben Sklavenhandel, und Solimans Banditen
+waren zum Teil Angehörige dieser Stämme. »Unser ist das Land,« war der
+Schlachtruf jener Araber, »wir brauchen keinen Effendina (Khedive)
+hier!« »Wären Sebehr und seine Leute nicht so verruchte Sklavenjäger,«
+schrieb Gordon, »und hätten sie sich nicht solch furchtbare
+Grausamkeiten zu schulden kommen lassen, es wäre für den Sudan
+vielleicht besser gewesen, die Aufrührer hätten ihren Zweck erreicht.
+Und -- fügte er fernsichtig bei, -- wenn England und Frankreich sich
+nicht besser vorsehen und für eine gerechte Verwaltung sorgen, so ist
+ein Sichlosreißen des Sudan von Ägypten nur noch eine Frage der Zeit.«
+
+Gordon verlor keinen Augenblick, den Aufruhr zu dämpfen, und da
+er nicht selbst den Rebellen entgegenziehen konnte, so entsandte
+er ~Gessi~, seine rechte Hand, einen tüchtigen Soldaten, der
+uns schon vom Äquator her bekannt ist und den Gordon bei dieser
+Gelegenheit folgendermaßen beschreibt:
+
+ »Romulus Gessi, Italiener, neunundvierzig Jahre alt; kurz, von
+ gedrungener Gestalt; ein kaltblütiger, entschlossener Mann, und in
+ praktischen Dingen ein geborenes Genie.«
+
+Auf seinem Wege nilaufwärts stieß dieser tapfere Soldat auf reichliche
+Beweise, daß die ägyptischen Beamten eigenen Gewinnes halber mit den
+Händlern unter ~einer~ Decke steckten. Nicht nur begegneten ihm
+bei jeder Wendung mit Menschenware beladene Boote, sondern sogar
+Dampfer, die unter der Flagge der Regierung dem Sklaventransport
+Vorschub leisteten. Auf einem der Boote fand er an dreihundert
+Schwarze und unter diesen einige Lastträger, die als freie Menschen
+mit Ladungen von Elfenbein und Getreide nach Lado gekommen waren.
+Ibrahim Fansi aber, der dortige Statthalter, bemächtigte sich ihrer
+und verschiffte sie auf seine Rechnung in die Sklaverei. Zum Glück
+begegneten sie einem handfesten Befreier. Gessi war auf dem Wege nach
+den Äquatorialdistrikten, um auf den verschiedenen Stationen seine
+Streitmacht zu vervollständigen. Auf dem Rückwege landete er seine
+Mannschaft in Gaba Schambil, aber erst mit Anfang September konnte
+er durch das überschwemmte Land westwärts ziehen und infolge der
+Regenzeit mußte er wochenlang in Rumbehk am Bahr el Rohl bleiben. Dort
+erreichte ihn die Nachricht, daß der Sohn Sebehrs sich zum Herrn der
+Bahr el Ghasal aufgeworfen habe, daß er in Dem Idris die ägyptische
+Besatzung überfallen und vernichtet habe, wodurch ein beträchtlicher
+Vorrat von Kriegsbedarf in seine Hände gefallen sei. Die Häuptlinge
+der Araber in der Umgegend wandten sich ihm auf diesen Erfolg hin
+massenweise zu, und solche, die es nicht thaten, metzelte er nieder.
+Weiber und Kinder erlagen entweder seiner Grausamkeit oder wurden
+in die Sklaverei geschickt. Rings umher hatte er die Leute ihrer
+Kornvorräte beraubt, so daß sie zu Hunderten Hungers starben.
+
+Soliman hatte sechstausend Mann, und es verlautete, er beabsichtige
+einen Überfall auf Rumbehk; Gessi hatte nur dreihundert reguläre
+Truppen mit zwei Feldstücken und etwa siebenhundert schlechtbewaffnete
+Irreguläre. Er erwartete noch bis dreihundert Mann Verstärkung
+und machte sich alsbald daran, Rumbehk zu befestigen. Seine von
+Gordon erwartete Hilfe blieb aber aus, weil sein Schreiben an den
+Generalgouverneur fünf Monate lang nach Khartum unterwegs war!
+Hilfe von den benachbarten Bezirksstatthaltern erhielt er nicht.
+An Beamten scheint die Provinz keinen Mangel gelitten zu haben.
+In Dem Idris hatte sich eine »fabelhafte Anzahl« derselben die
+Langeweile mit Tricktrackspielen vertrieben, während Jussuf Bey,
+der Bezirksgouverneur, ein ruchloses Leben führte, worin seine
+Untergebenen, sämtlich seine Neffen und Vettern, ihn nach Kräften
+unterstützten. Ägyptische Wirtschaft! Am 17. November verließ Gessi
+seine feste Stellung, und das war der Anfang eines Kriegs- und
+Siegesmarsches, das Ergebnis einer Energie, wie sie nur aus Gordons
+Schule hervorgehen konnte. Unaufhaltsam durch das Land der Ströme
+vorwärtsdringend und auf Flößen übersetzend -- einmal inmitten von
+Krokodilen -- verschanzte er sich in dem am gleichnamigen Fluß
+gelegenen Dorfe Wau. Dort kamen ihm die Eingebornen Hilfe suchend von
+allen Seiten entgegen. Über zehntausend Menschen hatte Soliman aus
+den Dörfern der Bahr el Ghasal geraubt. Ein Araberhäuptling schloß
+sich ihm mit siebenhundert Bewaffneten an und nun warf er sich auf
+Dem Idris, welche Stadt er befestigte, eines Überfalls von Soliman
+gewärtig.
+
+Der Sohn Sebehrs aber hatte sich überraschen lassen; bei dem
+überschwemmten Lande wähnte er Gessi noch in weiter Ferne und war
+selbst im Begriff, in seine Höhle zu Schekka zurückzukehren. Als
+ihm aber die Nachricht von der Nähe des Feindes kam, sammelte er
+rasch seine Streitkräfte, über zehntausend Mann, und warf sich auf
+Dem Idris. So sicher war er seiner Sache, daß er schon die Stricke
+in Bereitschaft hielt, um Gessi und seine Handvoll Leute zu binden.
+Viermal kam es zum Angriff, und viermal wurde er zurückgeschlagen, das
+erstemal am 27. Dezember, wobei er tausend Tote und fünf Standarten
+zurückließ. Aus Mangel an Munition konnte Gessi den zurückgeworfenen
+Feind nicht verfolgen. Dieser machte vierzehn Tage später einen
+neuen Angriff und wurde abermals zurückgeschlagen. Soliman und seine
+Häuptlinge hatten sich vorher im Kriegsrat mit einem Eidschwur auf
+den Koran zu Sieg oder Tod verbündet. Durch Überläufer wußte Gessi
+davon und verband sich seinerseits mit seinen Leuten, ihr Leben so
+teuer als möglich zu verkaufen. So wenig Kriegsbedarf hatte Gessi,
+daß er nach dem ersten Angriff die Kugeln des Feindes sammeln und
+wieder gießen lassen mußte. Er sah aber, daß den schwarzen Soldaten
+der Sklavenhändler der Mut gebrach, daß die Araber mit gezückten
+Schwertern hinter ihnen standen und den Zagenden den Garaus machten.
+Am folgenden Morgen kam es zum dritten Angriff und sieben Stunden
+lang wütete der Kampf. Endlich wichen die Horden Solimans. Dieser
+war in verzweifelter Wut von seinem Pferd gesprungen und weigerte
+sich zu fliehen; wenn der Tod ihn nicht finde, wolle er ihn suchen,
+schrie er, aber seine Leute schleppten ihn mit Gewalt davon. Abermals
+nach vierzehn Tagen, in der Nacht des 28. Januar 1879, stürmte der
+Feind heran. Eine von Solimans Bomben setzte ein Strohdach in Brand,
+und das Lager stand in Flammen. Gessi war dadurch gezwungen, den
+Kampf im offenen Feld zu wagen, aber nach drei Stunden hatte er die
+Sklavenhändler in die Flucht geschlagen.
+
+Im März erhielt er Zufuhr von Pulver und Blei und konnte es wagen, den
+Feind in seiner Verschanzung anzugreifen. Solimans Lager bestand aus
+einem Verhau von Baumstämmen, im Zentrum war eine feste Verschanzung,
+die sechs- bis achttausend Mann deckte, und darum her standen statt
+der Zelte Reisighütten. Eine Rakete der Angreifenden fiel ins Lager,
+und im Augenblick brannte alles lichterloh. Die Rebellen suchten mit
+verzweifelten Anstrengungen des Feuers Herr zu werden, aber bald
+stand auch die äußere Einpfählung in Flammen, und den Banditen blieb
+keine Wahl als einen Ausfall zu machen. Sie wurden auf ihr brennendes
+Lager zurückgeworfen und retteten sich zuletzt in wilder Flucht. Ihr
+Verlust war ein beträchtlicher. Die Nacht senkte sich auf Gessis müde
+Schar, die seit dreizehn Stunden der Nahrung ermangelte. Am andern
+Morgen bemächtigten sie sich des halbverbrannten Lagers; verkohlte
+Leichen bedeckten die Stätte und weithin lagen die auf der Flucht
+Umgekommenen. Mangel an Schießbedarf verhinderte Gessi abermals,
+seinen Sieg auszubeuten. Der Statthalter von Schekka, als der nächste,
+der Zufuhr hätte verschaffen können, ließ ihn im Stich, und als die
+Pocken in Dem Idris ausbrachen, war seine Lage in der That eine
+traurige.
+
+Während der tapfere Italiener den Sohn Sebehrs auf diese Weise im
+Schach hielt, war Gordon, wie wir gesehen haben, an der Arbeit
+in Khartum. Der Anfang 1879 brachte ihm nicht weniger als drei
+Einladungen nach Kairo; er umging sie mit der Antwort, daß der
+Zeitpunkt ein kritischer und eine Folgeleistung für ihn mit der
+Niederlegung seines Amtes gleichbedeutend sei. Während er täglich
+seine wirkliche Rückberufung erwartete, erhielt er die Nachricht vom
+Fall seines Gegners, des Nubar Pascha selbst. Gordon hatte dem Gessi
+deshalb keine Verstärkung schicken können, weil Nubar ihm das Militär
+verweigert hatte. Es war bei dieser Gelegenheit, daß dieser ihm statt
+eines dringend nötigen Regiments Soldaten den Sebehr anbot! Gordons
+Sorge um Gessi nahm täglich zu, und wiederholt telegraphierte er dem
+Khedive um Genehmigung eines Zuges seinerseits nach Kordofan und
+Darfur. Mitte März machte er sich dann nach Schekka auf den Weg.
+
+Den Zweck seines die Unterstützung Gessis bezweckenden Unternehmens
+beschreibt Gordon folgendermaßen:
+
+ »Erstens galt es, die Anhänger des Sohnes Sebehrs in Kordofan zu
+ verhindern, den Sklavenhändlern Hilfe zuzuführen; zweitens, dem
+ Feind den Rückzug abzuschneiden und Sebehrs Horden zu verhindern, in
+ Darfur einzufallen und sich daselbst mit dem angeblichen Sultan zu
+ vereinigen, der im Hügelland noch sein aufrührerisches Wesen trieb;
+ und drittens, Gessi moralischen Beistand zu gewähren sowie ihm den
+ nötigen Kriegsbedarf zukommen zu lassen.«
+
+In größter Eile drang Gordon vorwärts nach Schekka. Durch Gluthitze
+bei Tag und empfindliche Kälte bei Nacht, über sandige Strecken und
+verdorrtes Gras trug sein Kamel ihn durch die wasserlose Wüste. Der
+Weg ging über Obeid, wo die Leute »sauer sahen, weil er Handel und
+Gewerbe durch Unterdrückung der Sklavenjagd beeinträchtigte.« Da und
+dort faßte er unterwegs Sklavenkarawanen ab, konnte die Händler aber
+nur durchpeitschen und ihnen die verbotene Ware abnehmen.
+
+ Persönlich hatte er »keinen sehnlicheren Wunsch, als sie zu
+ erschießen,« -- es war lediglich das Gesetz,[11] das ihn daran
+ verhinderte.
+
+Auf einem nächtlichen Ritt in jener Zeit aber sah er einen Ausweg, den
+Greuel besser als bisher zu unterdrücken.
+
+ »Von gestern abend halb sieben bis halb vier diesen Morgen habe ich
+ auf meinem Kamel gesessen. Und auf diesem langen Ritt zeigte sich mir
+ eine Möglichkeit den Sklavenhandel zu vernichten, dadurch nämlich: 1)
+ ~wer im Lande Darfur wohnt, muß eine Aufenthaltskarte haben~; 2)
+ ~niemand darf das Land betreten oder es verlassen ohne Paß für sich
+ und sein Gefolge~. Auf diese Weise kann niemand im Land verweilen,
+ ohne seine Erwerbsquelle nachzuweisen, und niemand kann ohne
+ Kenntnisnahme der Regierung darin umherreisen. Ein Zuwiderhandeln
+ dieser Verordnung wird mit Gefängnis oder durch Beschlagnahme des
+ Besitzes der Schuldigen bestraft.«
+
+Er berichtete dies der Schwester als einen guten Nachtgedanken, den
+er aber nicht seinem eigenen klugen Kopf zuschrieb, denn es steht
+in Klammern daneben: »So aber jemand unter euch Weisheit mangelt,
+der bitte von Gott, der da giebt einfältiglich jedermann, und
+rückt es niemand auf.« Allerdings sieht er nur zu bald ein, daß
+sein Nachtgedanke zwar theoretisch gut, aber praktisch unausführbar
+ist; denn wer sollte der Paßanwendung Nachdruck verleihen? Am 8.
+April erreichte er Schekka, »diese Sündenhöhle.« »Das Entsetzen der
+Sklavenhändler« -- es waren ihrer mehrere hundert beisammen -- »war
+groß«.
+
+Am Tage vorher hatte ihn die Nachricht von Gessis Erfolgen erreicht,
+dem um diese Zeit auch die ersehnte Verstärkung geworden war. Während
+Gordon in Schekka dem Greuel den Boden sozusagen unter den Füßen
+wegzog, errang Gessi in der Bahr el Ghasal neue Siege. Die armen
+Schwarzen wußten sich nicht zu fassen vor Glück! Ein Dorf ums andere
+wurde ihnen zurückerobert, und ihre grausamen Unterdrücker fanden die
+verdiente Strafe. Mehr als zehntausend jener Unglücklichen schenkte er
+ihre Heimat wieder. Einmal brachten seine Späher ihm acht Sklavenjäger
+ins Lager und mit ihnen achtundzwanzig zusammengekoppelte Kinder. Er
+ließ die Schurken sofort erschießen. Ein paar Tage später hängte er
+eine ganze Reihe derselben im Wald auf. Kein Tag verging, daß nicht
+ein Negerhäuptling kam und sich ihm mit Dankesthränen zu Füßen warf;
+jetzt endlich konnten sie's glauben, daß es eine Regierung gebe, der
+es obliege, sie zu schützen.
+
+Am 1. Mai verließ er Dem Idris und suchte den Sohn Sebehrs in seinem
+eigenen Nest auf, das seinen Namen trug -- Dem (d. h. Stadt) Soliman.
+Der Überfall war in Plan und Ausführung ein so glänzender, daß der
+junge Bandit ums Haar in seine Hände gefallen wäre. Die Stadt wurde
+erobert, und die reichen Vorräte kamen Gessis Truppen sehr zu statten.
+Der Sohn Sebehrs aber war zu einem andern Sklavenjäger, einem der
+mächtigsten Rebellen, Namens Rabi, entkommen. Mit sechshundert Mann
+machte sich Gessi auf den Weg, ihn zu verfolgen. Durch das verwüstete
+Land, das nach Rache gegen den Feind schrie, drängte der Rächer.
+Der Hunger folgte ihm auf den Fersen, zog vor ihm her, er achtete
+es nicht. Er erreichte ein Dorf, das noch die Spuren der vor kurzem
+verschwundenen Einwohner trug; es war spät am Abend, er fand Obdach
+vor dem strömenden Regen, aber nicht eine Handvoll Durra. Da ging
+seinen Leuten der Mut aus. Mit Tagesanbruch rief er sie zusammen
+und sagte ihnen, daß er keine Nahrung für sie habe, daß aber der
+Feind nicht weit sei, und was sie ihm abjagen könnten, gehöre
+ihnen. Da feuerte der Hunger die Mannschaft an und weiter ging's im
+Sturmschritt. Sie kamen an Gräbern vorüber und scheuchten Raubvögel
+von ihrem Fraß auf, fanden unbeerdigte Leichen und frische Fußstapfen,
+dann Häuser und ein ausgestorbenes Dorf. Da stürzte ihnen ein weißes
+Weib mit aufgelöstem Haar und fast ohne Kleidung entgegen, sie
+trug ein Kind an der Brust, und ihr abgehärmtes Gesicht sprach von
+Schrecken und Jammer. Mit strömenden Thränen sank sie dem Anführer zu
+Füßen. Ihr Mann, ein ägyptischer Offizier, war bei dem Überfall von
+Dem Idris niedergemetzelt und sie als Beute entführt worden. Von ihr
+erfuhr Gessi auch, daß der Feind nicht weit war.
+
+In den Häusern gab's wenigstens genug Durra, die ausgehungerten
+Soldaten zu sättigen. In der folgenden Nacht lagerten sie in einem
+dichten Wald; Kundschafter wurden ausgeschickt. Die brachten nach
+zwei Stunden Nachricht von weithin leuchtenden Wachtfeuern. Gessi
+hielt dafür, daß er auf eine Sklavenkarawane gestoßen sei, denn die
+Hauptbande vermutete er in einem noch entfernteren Dorfe. Er teilte
+seine Mannschaft in der Absicht, die Karawane zu umgehen und sich
+zuerst der Rebellen zu versichern; aber die eine Abteilung verfehlte
+ihren Weg und kam mit Sklavenhändlern ins Gemenge. Schüsse fielen,
+und in wenig Augenblicken war die Bande auseinandergesprengt. Einige
+Händler fielen ihnen in die Hände, und diesen wurden nun dieselben
+Ketten angelegt, unter denen eben noch ihre Opfer geseufzt hatten.
+Ihr Anführer war Abu Snep, einer der berüchtigtsten Sklavenhändler in
+der ganzen Bahr el Ghasal. Aber der Rebellenhaufe hatte die Schüsse
+vernommen, und plötzlich -- es war noch dunkle Nacht -- erleuchtete
+eine Feuersbrunst den Himmel; die flüchtigen Banditen hatten das Dorf
+angezündet, und als Gessi es in der Morgenfrühe erreichte, fand er
+einen rauchenden Trümmerhaufen. Nirgends eine Menschenseele, nur ein
+kleines Sklavenbübchen, das sich in der Verwirrung versteckt hatte.
+Das Kind berichtete, daß Soliman selbst keine vierundzwanzig Stunden
+vorher im Dorf gelagert hatte.
+
+In der folgenden Nacht stellten sich sieben Männer in Gessis
+absichtlich nicht erleuchtetem Verhau ein, seine Truppen für die Bande
+Rabis haltend, die sie in der Nähe wußten; sie sagten, sie seien vom
+~Sultan Idris~ entsandt, der alsbald hinterdrein käme und Rabi
+möchte ihn zum Anschluß erwarten. Gessi schickte durch einen der
+sieben die Antwort, daß er den Sultan da und da zu sehen hoffe. Die
+anderen sechs wurden zu Gast gebeten und sahen sich in kurzem als
+Gefangene.
+
+Gessis Plan war alsbald entworfen; er beabsichtigte sich Rabis zu
+versichern und dann den nachkommenden Sultan Idris zu empfangen. In
+größter Eile ging's vorwärts. Mit Tagesanbruch überfiel er jenen in
+seinem Lager, vernichtete seine Horde, bemächtigte sich aller seiner
+Vorräte und seiner Flagge, und nur der Häuptling selber entkam durch
+die Schnelligkeit seines Pferdes. Dann, in der Richtung zurückfallend,
+wo er seinen »Verbündeten« wußte, ließ er sein Zelt aufschlagen und
+Rabis Standarte daneben pflanzen. Seine Leute legte er im Umkreis in
+Hinterhalt; darnach schickte er ein halb Dutzend Schwarzer aus, die
+wie von ungefähr dem Sultan in die Hände gerieten. Wem sie gehörten?
+war die Frage. Dem Rabi, lautete die Antwort, und sie wären auf der
+Jagd. Da sandte Idris sie zurück, um seine Ankunft binnen einer Stunde
+zu melden. Ein plötzlicher Sturmwind und Regenguß trieb ihn und seine
+Leute vorwärts, und Schutz suchend, lief die Bande im Durcheinander in
+die Falle. Da krachte ein Signalschuß und Musketenfeuer knatterte um
+sie her. So groß war ihre Verwirrung, daß nicht einer die Gegenwehr
+versuchte. Idris und etliche seiner Araber waren die einzigen, die
+entkamen, und das nur, weil sie sich im Wetter unter einen Baum
+geflüchtet hatten und dadurch etwas zurückgeblieben waren. Reiche
+Beute fiel in Gessis Hand. Er kehrte nach Dem Soliman zurück, das er
+vor neun Tagen verlassen hatte, seine Rückkehr glich einem Triumphzug.
+Die Sklavenhändler in der Umgegend schienen in alle Winde zerstreut.
+Das Volk hatte sich erhoben und die Flüchtigen mit Pfeil und Speer
+verfolgt. Die gefangenen Anführer brachte Gessi in Ketten mit sich,
+während die besiegte Mannschaft Lasten von erbeutetem Elfenbein hinter
+ihm herschleppte. In Dem Soliman fanden die Rächer eine wohlverdiente
+Ruhe.
+
+Indessen hatte Gordon in Schekka mit den fast unbezwingbaren
+Schwierigkeiten seiner Verwaltung ritterlich weiter gekämpft.
+Auch um diese Zeit schrieb man ihm wieder von Kairo und begehrte
+zweihundertundvierzigtausend Mark aus dem Sudan. Er meldete zurück:
+»Wenn die zerlumpten Truppen hier Kleidung und Löhnung haben, dann
+kann man wieder davon reden.«
+
+In Darfur fand er die alte Mißwirtschaft: »Ich verzweifle am
+ägyptischen Regiment!«[12] Immer wieder ist's ihm sonnenklar, daß das
+Hauptelend des Landes von der Gewinnsucht der Beamten ausgeht.
+
+ »Ich habe dem Khedive telegraphiert, den Sohn des Sultans Ibrahim
+ herzuschicken (der in Kairo festgehalten wurde) und mit ihm die
+ rechtmäßige Sultansfamilie hier wieder einzusetzen, denn mit diesem
+ Diebspersonal von Beamten ist eine gerechte Regierung unmöglich....
+ Mich kennen die Leute von Darfur und haben Vertrauen zu mir ... ich
+ werde dann dem Harun, der noch immer seine Ansprüche behauptet,
+ schreiben, daß es ihn nichts nützt, länger gegen Ägypten und den
+ rechtmäßigen Sultan aufkommen zu wollen, daß ich ihn angreifen
+ könnte, daß das aber nur neues Elend übers Land bringen würde und ich
+ ihn deshalb auffordere, mir zu helfen, Land und Leute für den jungen
+ Sultan zu gewinnen.«
+
+Es war immer wieder Gordons Politik, mit Großmut den Feind zu
+gewinnen, dem geschlagenen Feinde voran zum nächsten Siege zu eilen
+und den noch gegen ihn ankämpfenden aufzufordern, ~ihm zu helfen, zu
+thun, was recht ist~! Oft ist ihm diese wunderbare Taktik gelungen,
+manchmal auch nicht. Harun wollte nichts davon wissen. Wir werden
+später sehen, wie gerade an dieser hochherzigen Gewohnheit Gordons,
+Feinde zu seinen Mitarbeitern zu machen, die ihm entgegentretende
+Politik ihre Handhabe fand, ihn dem Verderben zu überlassen. Seine
+Großmut war oft zu gut für die Welt und darum ihr unverständlich;
+Krämerseelen nannten ihn einen Enthusiasten. Ja, es war der göttliche
+Enthusiasmus, der den Sünder für seine Sünde züchtigt, ihn selbst aber
+wieder aufrichtet, der den Saulus zu Boden schlägt und im Paulus sein
+Rüstzeug gewinnt.
+
+Und wieder der Sklavenhandel:
+
+ »Gott ist mein Zeuge, wenn ich diesen Greuel vernichten könnte, ich
+ ließe mich heute nacht noch erschießen; dies beweist wenigstens mein
+ heißes Verlangen, aber ich mag kämpfen wie ich will, ich sehe wenig
+ Hoffnung, dieses Übel zu bewältigen.«
+
+In Stunden des Kleinmuts war ihm in dieser Zeit der erste Gedanke
+gekommen, sein Amt als Generalgouverneur niederzulegen, weil er
+fühlte, daß er das Land nicht so regieren konnte, wie es seinem
+eigenen Herzen genügte. Daran knüpfte sich für ihn die Frage: soll
+er, wenn er die glänzendere Würde niederlegt, sich nach Darfur
+zurückziehen und sein Leben dort opfern? Durch dauernde Anwesenheit in
+jenem Land, in dem das ganze Greuelwesen wurzelt, könnte er vielleicht
+das ersehnte Ziel erreichen. Manch einer (besonders wenn die Frage ihm
+nicht selbst gilt) möchte hier sagen, das ist ja ein schöner Beruf,
+für den man gern sterben könnte! Es ist auch nicht der Tod, den Gordon
+fürchtet, sondern die »lange Kreuzigung in diesem fürchterlichen
+Land.« Seine Körperkräfte sind geschwächt und der physische Mut
+gebricht ihm, solch ein Kreuz auf sich zu nehmen.
+
+ »In den Tod gehen, ja, aber ach! es wäre ein langes, langes
+ Hinsterben, und ich vermag es nicht!«
+
+Mittlerweile ist er rüstig wie immer, wenigstens das Beste zu thun,
+was in seiner Kraft steht.
+
+ »Diesen Abend wurden sieben eingefangene Händler mit dreiundzwanzig
+ Sklaven vor mich gebracht; das Elend dieser letzteren war unsäglich
+ -- es waren Kinder von kaum drei Jahren darunter, die durch diese
+ Wüste hergetrieben worden sind, vor der es mir auf meinem Kamel
+ bangt ... Ich höre, daß andere auf dem Weg sind, und manche von den
+ armen Weibern haben nicht einen Fetzen, um sich zu decken. Wir haben
+ in diesen neun Monaten wenigstens zweitausend abgefangen, und das
+ ist wohl nicht der fünfte Teil der Karawanen, die hier durch sind.
+ Und wie viele sind unterwegs umgekommen? ... Ich habe mit einigen
+ Häuptlingen gesprochen, es ist trostlos zu hören, daß mehr als ein
+ Drittel der Bewohner dieses Landes in die Sklaverei geschleppt worden
+ ist ... Ich höre, daß Kalaka in großer Aufregung ist, seit mein
+ Kommen in Aussicht steht. Ein Sklavenhändler dort soll einen Mann
+ erschossen haben; ich werde ihn dafür erschießen lassen, wenn ich
+ hinkomme. Ich werde wohl eine beträchtliche Anzahl dort wegfangen.
+ Sie wissen sich nicht zu helfen, kein Schlupfwinkel ist mehr übrig,
+ denn die Beduinen helfen mit.«
+
+Diese notgedrungenen Freunde fingen eine Menge Händler weg, und
+die Sklaven liefen umher wie herrenlose Schafe, wurden auch immer
+wieder von Händlern aufgeschnappt, die sie gern als ihr Eigentum
+betrachteten. Die aufgegriffenen Sklavenhändler züchtigte Gordon stets
+nach dem -- zwar ungenügenden -- Gesetz; er ließ sie durchpeitschen
+und setzte sie, wo er konnte, hinter Schloß und Riegel.
+
+Ehe er Schekka verließ, um nach Kalaka weiter zu ziehen, hörte er
+noch von Gessis namhaften Erfolgen. Die Straße nach Kalaka trug
+überall Spuren, daß die Händler des Weges gezogen waren. An manchen
+Orten bleichten Schädel und Menschenskelette zu Hunderten; hier
+und dort lagen die Schädel aufgehäuft, ein grauenhaftes Denkmal
+des entsetzlichen Handels. Wie viele Tausende von armen Schwarzen
+mochten da vorbeigetrieben worden sein! Man fragt sich, wohin
+sie nur alle geschleppt werden? Ein Teil wird als Dienstsklaven
+verwendet, besonders in den Küstenländern des Roten Meeres; die
+ganze mohammedanische Welt aber ist, teils offenkundig, teils
+heimlich, eine Empfangsstätte für Sklaven, meist Weiber und Kinder.
+Das Haremswesen verschlingt alljährlich eine große Anzahl. Im Blick
+auf dieses Endziel des schändlichen Handels möchte man fast sagen:
+es ist ein Glück, daß die meisten unterwegs erliegen! In Kalaka hob
+er ein ganzes Nest von Händlern aus und wenigstens tausend Sklaven,
+welch letztere er den eingebornen Stämmen überlassen mußte. Und
+weiter ging's durch die Wüste nach Darra, nach Fascher und Kobeh an
+der obersten Grenze des Landes. Was für Reisen! Er sagte einmal in
+jener Zeit: nur kraft seines Kamels sei er einigermaßen Herr im Land.
+Auf dem Weg nach Kolkol an der äußersten Nordwestgrenze wurde er
+mit seiner Schar von etwa hundertundfünfzig Banditen überfallen und
+mehrere Stunden lang ging es ihm mit seinen Leuten »hinderlich«, wie
+er sagte; aber schließlich zogen die Räuber, die »seine Kamele und
+seine Sachen« wollten, den kürzeren. In Kolkol angekommen, hatte er
+die Länge und Breite der ägyptischen Herrschaft durchreist. Er faßt
+seine Eindrücke in die Worte zusammen: »Das Elend dieser verkommenen
+Länder ist unsäglich -- die Regierung selbst hat sie in eine Wüstenei
+verwandelt.« Kolkol nannte er ein Gefängnis; es hatte seit zwei Jahren
+niemand den Weg dahin gefunden. Die Garnison war in entsetzlichem
+Zustand. Aus diesem verlassenen Nest sandte er eine ganze Bande
+hilfloser Besatzung nach Khartum, vierhundert Araber mit Weibern und
+Kindern. Von dieser äußersten Grenze des Elends trat er den Rückweg
+nach Khartum an, zunächst über Fascher, Omschanga und Tuescha. Während
+seiner kurzen Abwesenheit hatten sich die Banditen wieder in Schekka
+gesammelt und von dort sich ins Innere des Landes geschlagen. Obschon
+er auf diesem Zuge mehrere tausend Sklaven weggefangen und viele
+Händler bestraft hatte, so stand der greuliche Betrieb doch alsbald
+wieder in Blüte.
+
+ »Es ist anzunehmen, daß in diesen zwei Jahren allwöchentlich etwa 600
+ Sklaven hier durch sind! Während meiner Amtszeit! Habe ich da Ursache
+ stolz zu sein?«
+
+Bei dem vorhandenen Wassermangel war das Elend der Ärmsten oft über
+alle Beschreibung; und meist konnte er mit den Befreiten nichts
+anfangen, als sie den Eingebornen überlassen. So ging's auch mit ein
+paar hundert Sklaven, die er in und um Tuescha aufgegriffen hatte. Er
+ließ sie vor sich kommen und sagte ihnen, daß er keine Möglichkeit
+hätte, sie in ihre Heimat zurückzuschaffen, daß sie aber jetzt frei
+wären. Sie waren alle damit einverstanden, sich den Leuten dort
+anzuschließen. Drei schwarze Weiber wurden vor ihn gebracht, um über
+die Händler ausgefragt zu werden, und als Beweis, daß selbst im
+größten Elend die Eitelkeit oft oben auf ist, erzählt er, daß eine
+derselben sorgfältig eine Ecke des schmutzigen Fetzens aufknöpfte, den
+sie als Kleidungsstück um sich gewickelt hatte, und etliche Glasperlen
+daraus zum Vorschein brachte; die hing sie sich um den Hals und guckte
+dann um so zufriedener in die Welt. Aber von anderen, besonders von
+einem kaum vierjährigen Bübchen sagt er, daß das Lachen ein Ding sei,
+das ihn nie ankäme, die Bitterkeit seines jungen Lebens sei zu groß!
+
+In Tuescha sah er Gessi wieder, der ihm um Jahre gealtert schien;
+vielleicht konnte Gessi dasselbe von ihm sagen. Wie wir gesehen
+haben, hatte Gessi dem Räubervolk in der Bahr el Ghasal tüchtige
+Schläge versetzt und nebenbei reiche Ladungen an Elfenbein erobert.
+Nur Soliman selbst war ihm bis jetzt noch immer entkommen; doch waren
+seine Tage gezählt! Gordon belohnte den heldenmütigen Italiener,
+indem er ihn zum Pascha der Osmanlie zweiter Klasse ernannte und
+ihm vierzigtausend Mark dazu schenkte. Während er selbst nach
+Khartum zurückkehrte, wandte sich der neue Pascha wieder seinem
+Kampfgebiet zu. Schon nach wenigen Tagen brachte ein Überläufer
+ihm die Nachricht, daß Soliman im Schild führe, sich mit Harun zu
+vereinigen. Alsbald machte er sich auf, dies zu verhindern. Der Sohn
+Sebehrs versuchte sein Heil in der Flucht in der Richtung von Gebel
+Marah, einem schwierigen und wenig bekannten Hügelland. Neunhundert
+seines Gesindels waren mit ihm: Rabi mit siebenhundert entrann auf
+andern Wegen. Gessi, der seine Streitkräfte noch nicht zusammengezogen
+hatte, konnte mit nur zweihundertundneunzig Mann zur Verfolgung sich
+aufmachen; aber diese waren wohlbewaffnet und durch die unlängst
+errungenen Siege innerlich gehoben. Durch einen mit bewundernswerter
+Kühnheit ausgeführten Eilmarsch überraschte er Soliman und die Seinen
+in einem Dorf Namens Gara zu früher Morgenstunde im Schlaf. Drei Tage
+und drei Nächte hatte der unaufhaltsame Pascha sich und seiner Schar
+kaum Ruhe gegönnt und dem Feind auf Querpfaden den Weg abgeschnitten.
+Wie manches friedliche Dorf hatte die ruchlose Horde Solimans auf
+ähnliche Weise zur Nachtzeit überfallen! Wie manche Wohnstätte hatten
+sie mit Feuer verwüstet und die nichts ahnenden Bewohner mit sich
+geschleppt! Das Blut war in Strömen geflossen, und viele Tausende von
+Menschen waren durch sie dem Elend der Sklaverei verfallen. Jetzt war
+die Stunde der Rache gekommen.
+
+Mit seiner geringen Streitmacht wagte Gessi es nicht, das Dorf zu
+umstellen. Er wagte es nicht einmal, sie dem Feind zu zeigen, sondern
+hielt sie im Wald zurück, um jenen über die Anzahl zu täuschen. Dem
+Soliman gab er zehn Minuten Bedenkzeit, die Waffen zu strecken; ergebe
+er sich in der kurzen Frist nicht, so habe er keine Gnade zu erwarten.
+Die schlaftrunkene Bande glaubte sich von Gessis ganzer Streitkraft
+umringt und ergab sich im Schrecken der Überraschung. Einige der
+Sklavenhändler hatten sich beim ersten Alarm in den Wald geflüchtet,
+die meisten aber, unter ihnen Soliman selbst, gehorchten dem Befehl
+und legten ihre Waffen nieder. Als der Sohn Sebehrs entdeckte, mit
+wie wenig Leuten Gessi ihn überwältigt hatte, erfaßte ihn ein wilder
+Ingrimm. »War das eure ganze Anzahl?« schrie er. »Sie genügte!«
+entgegnete ihm Gessi kaltblütig. Da brach jener in Zornesthränen aus
+-- »wäre mein Vater hier gewesen, wir wären nie erlegen! Es sind
+ihrer nur dreihundert, und ihr (seine Häuptlinge) meintet, es wären
+dreitausend!«
+
+Den Tag über ließ Gessi sie im Dorf bewachen und sie verhielten sich
+ruhig; als es aber dunkel wurde, schien Leben über sie zu kommen,
+und er vermutete, daß Botschaft zwischen ihnen und ihren entlaufenen
+Gefährten hin- und hergehe. Sie planten ein Entkommen in der Nacht,
+in der Hoffnung, ihren Verbündeten Abdulgassin zu erreichen, der mit
+seiner Bande nicht allzuweit entfernt war. Gessi entdeckte die Pferde
+seiner Gefangenen, die gesattelt bereit standen. »Nun,« schrieb er,
+»sah ich, daß die Zeit gekommen war, diese Schurken ein für allemal
+unschädlich zu machen.« Er traf eine Auswahl. Ihren bewaffneten
+Sklaven war er erbötig Leben und Freiheit zu schenken, wenn sie zu
+ihren Stämmen zurückkehren wollten. Dazu waren sie mehr als bereit
+und er ließ sie unter dem Geleite seiner Mannschaft ziehen. Die
+kleineren Sklavenhändler, etwa hundertfünfzig an der Zahl, machte
+er zu Gefangenen. Die Haupträdelsführer aber, d. h. Soliman und zehn
+andere, wurden erschossen. Dazu hatte er Gordons Vollmacht. Zwei Jahre
+vorher in der »Höhle Adullam« hatte dieser sie gewarnt, daß sie die
+Sklavenjagd mit ihrem Leben würden büßen müssen, sofern sie nicht
+davon abließen. Sie hatten die Warnung in den Wind geschlagen, und nun
+war das Maß ihrer Bosheit voll. Keiner zeigte Reue. Dem Sohn Sebehrs
+schien der Mut zu entfallen, denn er sank vor dem Schuß zu Boden; ein
+anderer vergoß Thränen; die übrigen aber gingen ohne Spur von Rührung
+in den Tod. Auf diese Nachricht versprengte der Schrecken Abdulgassins
+Horde und auch Rabi mit den Seinen floh.
+
+Damit war der Sklavenhandel für den Augenblick aufs Haupt geschlagen,
+und da die Eingebornen sich nun auch allerwärts gegen ihre
+Bedrücker erhoben, so fanden die flüchtigen Händler nirgends einen
+Schlupfwinkel. Abdulgassin, die Hyäne dieses Landes, der ganze Dörfer
+entvölkert hatte, wurde später eingefangen und erschossen. Rabi entkam
+-- wohin wußte niemand. Nun war Friede und eine Zeit der Ruhe kam über
+die gequälten Neger, die sich in ihren Heimstätten wieder ansiedeln
+konnten; sie wußten ihrer Freude kein Ende, schrieb Gessi.
+
+So wurde die Macht Sebehrs in seinem Sohne gebrochen, aber noch war
+er selber unbestraft. Der schwarze Pascha war ein König gewesen, der
+mächtigste aller Sklavenhändler in der Welt. Weithin, bis ins Innere
+von Afrika hinein, hatte er seine festen Plätze und Raubhöhlen;
+ganze Länder hatte er verwüstet, wo vorher die schwarzen Stämme in
+verhältnismäßigem Wohlstand ihr Naturleben führten. Mit fürstlichem
+Glanz hatte der greuliche Menschenräuber im Lande geherrscht; aus
+einem Strom von Thränen und Blut war sein Reichtum gewonnen worden,
+und nun war der Strom versiegt. Ihm selbst schien der verdiente Lohn
+zu werden; denn unter dem Nachlaß seines Sohnes fanden sich Briefe
+von seiner Hand, die ihn als den Anstifter des ganzen Aufstandes
+verrieten. Er wurde in Kairo vor Gericht gestellt und zum Tode
+verurteilt. »Es wird ihm nichts geschehen,« sagte Gordon, als er's
+vernahm; und so war es! Er blieb nicht nur am Leben, sondern wurde
+sogar eines Gnadengehaltes für würdig erachtet. Warum? muß ein Rätsel
+bleiben. Der abgesetzte König der Sklavenhändler wurde nach wie
+vor in Kairo festgehalten und hat seine zweitausend Mark monatlich
+aus der vizeköniglichen Kasse bezogen! Die verkehrte Schwäche, die
+ihm das Leben schenkte, hat viel dazu beigetragen, daß Gordons und
+Gessis glänzende Erfolge den greulichen Menschenhandel im Sudan zwar
+zu unterdrücken, aber nicht auszurotten vermochten. Sebehr war und
+blieb eine Macht der Finsternis, und die Schlußszene von Gordons
+Lebensdrama, die tieftragische, ist zweifelsohne mit sein Werk.
+
+
+ 4. Als Gesandter in Abessinien.
+
+Auf dem Rückweg nach Khartum erfuhr Gordon in Fodja, daß Gessi den
+Soliman und seine Genossen überwältigt und erschossen hatte. Er
+selbst hatte dem Sklavenhandel in Darfur mehr wie einen empfindlichen
+Schlag versetzt. Zwar war er zu der Überzeugung gekommen, daß eine
+völlige Vernichtung des Unwesens ein Ding der Unmöglichkeit war,
+insolange nämlich als die ägyptische Regierung nicht von Grund aus
+eine andere würde; aber für den Augenblick lag der Greuel am Boden
+und das gequälte Land atmete auf. In Fodja erreichte ihn auch die
+zweite Nachricht, daß die seit Monaten drohende Umwälzung in Kairo
+stattgefunden und daß Ismail zu Gunsten seines Sohnes Thewfik
+abgedankt hatte. Es lag ihm ob, den Regierungsantritt des neuen
+Khedive in den Sudanländern zu verkündigen.
+
+ »Es ließ mich kühl,« sagte Gordon, »ich telegraphierte an die
+ verschiedenen Unterstatthalter und quittierte dem Cherif Pascha den
+ Empfang der Anzeige -- damit begnügte ich mich.«
+
+Ismails Glückswechsel ließ ihn übrigens nicht kalt, er nahm
+aufrichtigen Anteil an seiner Demütigung, obschon er seine Politik
+öfters beklagt, ja getadelt hatte. Die Veränderungen in Kairo, welche
+mit dem neuen Khedive die dem Sklavenhandel freundlichen Pascha wieder
+ans Ruder brachten, bestärkten ihn aber ohne Zweifel in seinem bereits
+gefaßten Vorsatz, sein Amt niederzulegen. Er hatte das übernommene
+Werk vollbracht, so weit es ihm möglich schien; die Würde an sich
+hatte keinen Reiz für ihn. Mit diesen Gedanken kehrte er nach Khartum
+zurück.
+
+Um diese Zeit erhielt er einen Brief von seinem alten Freunde, dem
+Gouverneur Li in China, folgenden Inhalts:
+
+»Sehr freute es mich von Ihnen zu hören. Es sind vierzehn Jahre, seit
+wir uns trennten, und wenn ich Ihnen auch bisher nicht geschrieben
+habe, so spreche ich doch oft von Ihnen und gedenke Ihrer mit
+großer Teilnahme. Die Wohlthaten, die Sie China erwiesen haben,
+verschwanden nicht mit Ihrer Person, sondern sind jetzt noch in den
+Gegenden fühlbar, in denen Sie eine so wichtige und thatkräftige
+Rolle spielten. Das Volk segnet Sie um des Friedens und des Gedeihens
+willen, dessen es sich seither erfreute. Ihre Erfolge in Ägypten
+sind durch die Welt erschollen; ich lese oft in den Zeitungen von
+Ihrem edlen Werk am obern Nil. Sie sind ein Mann, der sich stets zu
+helfen weiß, in was für Lagen Sie sich auch befinden. Ich hoffe, daß
+Ihnen ein langes Leben geschenkt werde, denn Sie verbreiten Segen
+um sich her, wohin auch immer Ihr Beruf Sie führt. Ich lasse es mir
+ernstlich angelegen sein, mein Volk auf eine höhere Stufe zu bringen
+und dieses Land mit andern Ländern innerhalb der »vier Meere« in einem
+Bruderbündnis zu vereinigen. Ich beantworte Ihre Fragen: -- Kwoh Sung
+Ling hat sich vom öffentlichen Leben zurückgezogen und erfreut sich
+der Ruhe. Jang Ta Jen ist schon lang gestorben. Dem Sohn des Na Wang
+geht es gut, er ist Regimentsoberst mit fünfhundert Leuten unter ihm.
+Die Pataschau-Brücke, die Sie teilweise zerstörten, ist bald nach
+Ihrer Abreise wieder aufgebaut worden und ist in recht gutem Zustand.
+-- Kwoh Ta Jen, der chinesische Minister, schrieb mir, daß er die
+Freude hatte, Sie in London zu sehen. Ich wollte, ich wäre auch dabei
+gewesen; aber die Pflichten dieses Lebens führen die verschiedenen
+Menschen in verschiedene Teile der Welt und es ist eine weise
+Einrichtung der Vorsehung, daß wir nicht alle am selben Orte sind.
+Ihnen Glück und Segen wünschend meinen Gruß.«
+
+An diesem Brief des alten Chinesen kann man nur seine Freude haben;
+steht es doch nicht bloß ~zwischen~ den Zeilen zu lesen, daß
+Gordons Werk dort ein bleibendes war.
+
+Gordon verließ Khartum Ende Juli und erreichte Kairo am 23. August.
+Acht Tage später begab er sich als außerordentlicher Gesandter zum
+König von Abessinien. Thewfik setzte offenbar Vertrauen in ihn,
+obschon er halb und halb gefürchtet hatte, daß Gordon beabsichtige,
+sich als Sultan im Sudan aufzuwerfen. »Das würde unser einem aber doch
+nicht passen,« meinte Gordon. Seine abessinische Reise bezog sich auf
+die alten Wirren. Mit ihm ging sein schwarzer Schreiber Berzati Bey,
+der in seinem Dienst stand seit er jenen anderen der Bestechlichkeit
+wegen entlassen hatte und dem er nachrühmte, daß er die unschätzbare
+Eigenschaft besessen habe, es ihn wissen zu lassen, wenn er
+anderer Meinung war als er. Dieser Berzati stammte aus einer alten
+muselmännischen, in Khartum ansässigen Familie. Als Schüler eines
+namhaften Gelehrten dieser Stadt erlangte er eine tüchtige Bildung.
+Die Geschichte des Landes kannte er von Grund aus und verstand sich
+auf verschiedene Geheimschriften. »Er war in diesen drei Jahren mein
+bester Freund,« sagt Gordon, »obwohl wir manchmal hintereinander
+gerieten. Ich verdanke ihm viel; denn ob er zwar ein guter Patriot und
+fester Muselman war, riet er mir doch stets ehrlich zum Besten des
+Volkes .... Er hat übrigens seine Last -- vier Weiber; hat mancher
+doch an ~einer~ genug. Ein paar Männer wie Berzati Bey könnten
+Ägypten aufhelfen; aber solche sind selten. Spötter nennen ihn den
+›schwarzen Gnomen.‹«
+
+Die Abessinier hatten das Grenzland Bogos inne. Am 11. September 1879
+machte sich Gordon von Massaua zu einer Zusammenkunft mit dem in Gura
+lagernden Alula auf den Weg. Unterwegs schrieb Gordon:
+
+ »Wir sind einer Karawane begegnet, die von Gura kommt ... Sie brachte
+ die Bestätigung der Nachricht, daß Alula auf des Königs Befehl den
+ Walad el Michael und alle seine Offiziere gefangen genommen habe, und
+ daß Walads Sohn, Metfin, erschlagen sei. In Massaua traf mich die
+ Kunde, daß Abdulgassin, der letzte der Anführer von Sebehrs Banditen,
+ eingefangen und auf meinen Befehl erschossen worden sei. Er war
+ jener Schurke, der einen Negerknaben umbrachte und in dessen Blut
+ seine Flagge tauchte. (Bei der Einnahme von Dem Idris, um den Himmel
+ günstig zu stimmen!) So giebt's immer mehr Lücken in meiner Fürbitte
+ für die Feinde. Sebehrs Anführer und Walads Sohn, sie waren alle in
+ mein Gebet eingeschlossen. Ich gestehe, ich bin dieses Leben müde, es
+ wäre mir kein Kummer, wenn Walads Bande mir unterwegs auflauerte.«
+
+Wie charakteristisch ist dieser Brief für den Schreiber! Als Soldat
+giebt er den Schurken ihren verdienten Lohn, er läßt sie erschießen;
+als Christ hat er es nie unterlassen, sie mit Namen in seiner Fürbitte
+vor Gott zu bringen!
+
+Gordon litt auf dieser Reise viel von der Hitze. Er nennt sich einen
+Hiob voll Schwären. Aber wenn auch der Körper schwach ist, seine
+Aufgabe führt er durch und entwirft sich seine Pläne auf dem Ritt
+durch die Wüste.
+
+ »Ich bin entschlossen, entweder mit oder ohne des Königs Hilfe mit
+ Walad und seinen Leuten fertig zu werden und dann mit Johannes selbst
+ ins reine zu kommen.«
+
+Unter Hilfe verstand er nicht Waffen, sondern ein Versprechen, daß
+Walads Truppen, wenn sie Bogos räumten, eine Zuflucht gewährt werde.
+Wo Barmherzigkeit am Platze war, unterließ er es gewiß nicht, darauf
+hinzuarbeiten! Er erreichte Gura halbtot von seinem Wüstenritt und
+vernahm, daß Alulas Lager auf einem steilen Berg sich befand, und weil
+sein Lasttier erschöpft war, so erstieg er die Höhe mühsam zu Fuß. Er
+fand den abessinischen Befehlshaber in einem niedern, langen Gezelt
+von Baumzweigen, an dessen oberem Ende Alula auf einem Diwan saß, wie
+eine Mumie in weiße Tücher gewickelt, die nur die Nase sichtbar ließen.
+
+ »Feierliche Stille herrschte; und alle Anwesenden waren gleich ihm
+ vermummt, als ob meine Nähe sie vergiften könnte. Die Figur auf dem
+ Diwan regte sich nicht, und war wirklich so eingewickelt, daß mich
+ ein Verlangen ankam, dem Mann nach dem Puls zu fühlen. Der Mensch muß
+ krank sein, dachte ich. Durchaus nicht -- es war Freund Alula!«
+
+Und Gordon sah, als Alula nach einiger Zeit die weiße Hülle etwas
+fallen ließ, daß er ein ganz kräftiger, sogar hübscher junger Mann
+von etwa dreißig Jahren war. Auch den andern schien nach und nach die
+Furcht vor Gift zu vergehen. Gordon fand die Audienz aber tödlich
+langweilig, denn Alula schien ihm durch Schweigen imponieren zu
+wollen. Nach langer Pause gestattete er ihm zu rauchen, was eine
+besondere Vergünstigung war, indem der König einen Befehl erlassen
+hatte, allen Rauchern die Nase abzuschneiden. Gordon lehnte es ab
+und betrachtete sich einstweilen die Priester, die den Hofstaat
+vervollständigten. Viel erreicht wurde bei dieser Gelegenheit darum
+nicht, weil Alula vorläufig nur den einen Zweck verfolgte, dem
+Gesandten mit wenig Höflichkeit zu begegnen. Ägypten hatte Abessinien
+schlecht behandelt, Gordon wußte sich daher über den unmanierlichen
+Empfang zu trösten.
+
+ »Bei der nächsten Audienz aber werde ich meinen sudanischen
+ Thronsessel mitbringen, sowie einen geeigneten Sitz für den schwarzen
+ Gnomen.«
+
+Als Alula jedoch verlangte, daß der Gesandte am Fuße des Berges
+kampiere und täglich zu ihm hinaufklettere, schlug ihm Gordon dies
+rundweg ab; das wisse er im voraus, daß er in diesem Falle dann stets
+schlechter Laune zur Audienz kommen würde, was den Verhandlungen
+gewiß schädlich wäre. Alula gab dies zu und ließ ihm ein Zelt neben
+sich aufschlagen. Als ägyptischer Gesandter war Gordon in der
+Feldmarschallsuniform. Die Audienzen führten zu dem Beschluß, daß
+Gordon zum König Johannes selbst reisen sollte und daß Alula bis auf
+weiteres sich der Feindseligkeiten zu enthalten versprach.
+
+Der König befand sich in Debra Tabor bei Gondar, zwölf Tagereisen von
+Gura entfernt. Aber geduldig wie immer, wenn's Arbeit gab, machte
+Gordon sich auf den Weg durch ein entsetzliches Land und über die
+steilsten Berge »über die Kruste des Erdballs hinschleichend.« Bei
+Adowa kam er an der Bergeinöde vorüber, in der Walad el Michael
+festgehalten wurde.
+
+ »Die Abessinier setzen ihre Staatsgefangenen nämlich auf
+ unzugängliche Berge, die Amba genannt werden. Es giebt deren drei
+ verschiedene Arten: erstens solche, die so steil sind, daß der
+ Gefangene in einem Korb durch einen Flaschenzug hinaufgeschafft wird;
+ zweitens, andere, die durch einen einzigen Fußweg zugänglich sind;
+ und drittens solche, deren Höhe auf zwei oder drei Wegen erreicht
+ werden kann. Auf diesen Amba befindet sich kultivierbares Feld und
+ auch Wasser. Ein Gefangener kann da existieren und in Vergessenheit
+ seine Sünden bereuen, bis eine neue Revolution ihn vielleicht auf den
+ Thron setzt.«
+
+Unterwegs vernahm Gordon, daß ein aufrührerischer Häuptling ihn zu
+überfallen gedenke, aber trotzdem gelangte er ungefährdet nach Debra
+Tabor. Der König selbst gab zu, daß er auf den denkbar schlechtesten
+Wegen zu ihm geführt worden war. Gordon schloß daraus, daß Alula
+den Gesandten auf diese liebenswürdige Weise von der Unwegsamkeit
+des Landes zu überzeugen hoffte, damit dieser Ägypten von etwaigen
+Kriegsgedanken zu heilen vermöchte.
+
+Als er den abessinischen Hof erreichte, wurde er alsbald vorgelassen.
+Der König saß auf seinem Thron, neben ihm stand Ras Arya, sein Vater,
+der Itagé oder Hohepriester, und ein Stuhl war für den Gesandten
+hingestellt. Da ertönten Kanonenschüsse, »das ist Ihnen zu Ehren,«
+erklärte der König und bedeutete ihm alsbald, er sei entlassen. Ein
+paar erbärmliche, halbfertige Hütten waren das Gesandtschaftsquartier.
+Bei Tagesanbruch erscholl das Psalmensingen, das Gordon in Alulas
+Lager früher schon vernommen hatte.
+
+Von dieser Audienz hat außerdem folgendes verlautet. Der König saß auf
+seinem Thronsessel, und der für den Gesandten bestimmte Stuhl stand
+auf niederer Stufe in ziemlicher Entfernung; Gordon hatte den Stuhl
+genommen und sich in die Nähe des Königs gesetzt, um ihm begreiflich
+zu machen, daß er als Ägyptens Vertreter von der abessinischen
+Majestät nicht allzu geringschätzig zu behandeln sei. Da fuhr der
+König ihn an: »Wissen Sie nicht, Gordon Pascha, daß ich Sie dafür auf
+der Stelle hinrichten lassen kann?« »Gewiß,« sagte Gordon, »ich bin
+auch bereit dazu, wenn es des Königs Wille ist.« »Was -- bereit zu
+sterben?« rief Johannes entsetzt. »Ich bin immer bereit,« entgegnete
+der Pascha ruhig; »der König würde mir durch einen gewaltsamen Tod
+sogar einen Dienst erweisen, den meine Religion mir selbst nicht
+gestattet, indem ich dadurch von aller Not erlöst würde, welche die
+Zukunft mir noch bringen kann.« Da erblaßte Johannes vor Entsetzen.
+»Dann hat meine Gewalt keine Schrecken für Sie?!« stammelte er.
+»Durchaus keine,« war die kurze Antwort. Worauf der König: »Sie sind
+entlassen!«
+
+Die Verhandlungen waren ganz unbefriedigender Natur und mitten darin
+erklärte Johannes, er müsse sie abbrechen und Gesundbrunnen trinken,
+»ganz +à la mode+,« sagt Gordon; »der Brunnen sprudelt durch
+ein Bambusrohr in einer alten Hütte.« Auch dort wurde nichts weiter
+erreicht. Johannes hatte vielerlei Begehren: Bogos, Massaua und andere
+Städte, dann einen Abuna[13] (Erzbischof) und zwanzig bis vierzig
+Millionen Mark, wollte aber seinerseits lediglich nichts einräumen.
+Gordon versprach den Abuna, indem er seinen Privateinfluß geltend
+machen wolle, aber Bogos und sonstige Ländereien werde Ägypten nicht
+abtreten. Er wahrte die ihm anvertrauten Interessen und betrachtete
+sich lediglich als des Khedive Sendboten. Johannes glaubte ihm in
+persönlicher Weise beikommen zu können. »Sie sind ein Engländer und
+ein Christ,« sagte er, worauf ihm Gordon rasch entgegnete: »Hier
+bin ich ein Ägypter und Muselmann.« Als der Gesandte seine Bitten
+zu Gunsten der Soldaten vorbrachte, wurde Johannes zornig und hieß
+ihn seiner Wege gehen. Einen Brief an den Khedive werde er ihm
+nachschicken.
+
+Und so begab sich Gordon auf den Rückweg. Der Brief wurde ihm auch
+nachgesandt; er lautete folgendermaßen: »Ich habe das Schreiben
+erhalten, das Sie mir durch ~jenen Menschen~ sandten; ich will
+keinen geheimen Frieden mit Ihnen schließen. Wollen Sie Frieden, so
+wenden Sie sich an die Sultane von Europa.« Auf dem Rückweg wurde
+Gordon, sei es mit, sei es ohne des Königs besonderen Befehl, von
+dessen Vater mit hundert und zwanzig Abessiniern überfallen und
+gefangen genommen. Mehrere Tage lang wurde er im Lande hin- und
+hergeschleppt und mußte sich viel Widerwärtigkeiten gefallen lassen.
+Geld erwies sich als den Schlüssel, der ihn schließlich durchließ; es
+kostete ihn achtundzwanzigtausend Mark, Massaua zu erreichen.
+
+ »Das durchgemachte Elend lasse ich unbeschrieben,« sagt Gordon,
+ »Gottlob, es ist vorüber. Zwischen zwei Abessiniern zu schlafen, ist
+ kein Vergnügen, und so verbrachte ich meine letzte Nacht in diesem
+ Land.«
+
+Den König Johannes schildert Gordon als einen grausamen,
+halbverrückten Menschen.
+
+So endete diese ganz nutzlose Mission, und Gordon kehrte nach
+Ägypten zurück. Auch in diesem Jahre (1879) lagen über dreitausend
+Kilometer Kamelritt hinter ihm und zwölfhundert hatte er in
+Abessinien auf Maultieren zurückgelegt. In den drei Jahren seiner
+Oberstatthalterschaft beliefen sich seine Kamelreisen auf etwa
+vierzehntausend Kilometer. Abgesehen von den Schwierigkeiten, dem
+neuen Khedive zu dienen, war es Zeit, daß er sein Amt niederlegte; der
+britische Konsulatsarzt in Kairo fand seine Nervenkraft erschöpft und
+ihn auch sonst leidend; die körperliche Übermüdung, die vielen Sorgen
+und die ungenügende Nahrung der letzten drei Jahre hatten selbst
+einer eisernen Gesundheit, wie der seinigen zugesetzt. Er sollte
+nach England zurückkehren und ruhen. Der Abschied von Kairo war kein
+angenehmer; es gab noch Verhandlungen mit den Pascha, denen er stets
+die Wahrheit sagte. Aber er konnte Ägypten nicht anders machen als es
+war; einem der Pascha schickte er zu guterletzt noch telegraphisch
+das Wort: »Mene Mene Tekel Upharsin«, und dann schiffte er sich nach
+England ein. Mochten die Pascha denken was sie wollten, die Wünsche
+von Tausenden geleiteten ihn. Im Sudan blieb er dem Volk in dankbarer
+Erinnerung als ~der gute~ Pascha. So lang er da war, waltete
+Gerechtigkeit im Land; als er fort war, wußten es die Unterdrückten
+nur zu gut, was sie an ihm verloren hatten.
+
+
+
+
+ Sechstes Buch.
+
+ Zwischenzeit.
+
+
+Gordon sollte in England der Ruhe pflegen. Das war leichter gesagt,
+als gethan. Energischen Naturen ist oft nichts eine größere Last als
+das Nichtsthun. Gordons Erholungszeit war eine kurze. England empfing
+seinen Helden mit Genugthuung, die Presse sprach von ihm als dem
+»ungekrönten König«. Man wußte von seinem heroischen Kampf gegen den
+Sklavenhandel, man bewunderte den unscheinbaren bescheidenen Mann,
+der waffenlos das Werk einer Armee vollbracht, den Held von Gottes
+Gnaden; man ärgerte sich über den Khedive, der seinen besten Diener
+so wenig zu schätzen wußte, und man sagte sich, daß wenn ausländische
+Einflüsse sich nicht geltend machten, der Sklavenhandel alsbald aufs
+neue erblühen werde, da Gordon Afrika den Rücken gewandt habe. Daß
+nicht viele Jahre vergingen, ehe das Land in schlimmerer Lage war als
+vorher, ist eine bekannte Thatsache.
+
+Im Grunde aber kannte England seinen Helden doch nicht; erst seit
+es ihn verloren, hat das Land ihn wirklich schätzen lernen. Daß
+man seiner in englischen Diensten nicht zu bedürfen schien, ist
+erklärlich, wenn man bedenkt, was für ein Mann er war. Seine Stärke
+lag in dem Glauben, der Berge versetzt; höheren Orts mochte er als
+eine Art Fanatiker gelten, der nicht überall zu brauchen war: Paule,
+du rasest! Auch bei seiner diesmaligen Anwesenheit in England ging
+Gordon geflissentlich allen Ehren aus dem Wege; mit wahrer Kriegslist
+soll er die Leute umgangen haben, die ihn gern eingeladen und zum
+großen Mann gemacht hätten. Er verbrachte mehrere Wochen mit den
+Seinen und zog sich dann (im Winter 1880) nach Lausanne zurück. Einen
+Sohn seines kurz vorher verstorbenen Bruders nahm er mit sich.
+
+Ein englischer Geistlicher, der ihn daselbst kennen lernte, beschreibt
+ihn folgendermaßen: »Der Fremde war von nur mittlerer Größe und
+wohl gebaut; sein Gesicht von tiefen Linien durchfurcht; seine
+schöne breite Stirn und ein sehr entschlossener Mund schienen auf
+ungewöhnlichen Ernst des Denkens, sowie auf praktischen Verstand zu
+deuten. Er schien beides, sanft und stark; eine gewisse Weichheit
+lag in seiner wohllautenden kraftvollen Stimme und sprach aus seinen
+ausdrucksvollen blauen Augen. Nach einiger Zeit redete er mich an,
+und da ich leidend war, so erbot er sich mir zur Begleitung auf
+kurzen Spaziergängen. Unsere Unterhaltung wandte sich bald auf Dinge
+des Glaubens, und die Unmittelbarkeit, die Einfachheit und der tiefe
+Ernst, mit dem er sich darüber aussprach, machte einen großen Eindruck
+auf mich.« Mehrere Tage vergingen und sein neuer Freund erfuhr zwar
+seinen Namen, hatte aber keine Ahnung, daß er es mit dem Gordon Chinas
+und des Sudans zu thun habe. Weder sein Gespräch, noch sein Aussehen
+verriet es. Als der Geistliche eines Tages in sein Zimmer trat, fand
+er ihn über arabischen Dokumenten. »Das sind Todesurteile,« sagte
+Gordon aufsehend. »Todesurteile! ei, wer sind Sie denn?« rief der
+Geistliche fast entsetzt. »Wissen Sie das nicht?« entgegnete er ruhig;
+»ich war Generalgouverneur vom Sudan, und bin es noch dem Namen nach;
+indem ich nun diese Schriftstücke unterzeichne, ist's damit zu Ende.«
+Gordon stand damals in seinem achtundvierzigsten Jahr.
+
+Nach London zurückgekehrt bot sich ihm neue Arbeit an. Die
+Leute trauten ihren Ohren nicht, als sie hörten, der gewesene
+Generalgouverneur vom Sudan hätte die Stelle eines Privatsekretärs
+unter dem neuernannten Generalgouverneur von Indien, Lord Ripon,
+angenommen. Daß er damit sozusagen vom Herrn zum Diener wurde, das
+war, sofern es Gordon betraf, nicht das Erstaunliche, denn er schätzte
+eine Stellung überhaupt nur, insoweit sie ihm einen Wirkungskreis bot,
+Gutes zu schaffen; aber es war ein verfehlter Schritt, und bald genug
+sollte er das selbst einsehen.
+
+ »In einer schwachen Stunde,« schrieb er, »hatte ich die Stelle
+ angenommen. Aber kaum war ich in Bombay gelandet, so sah ich auch,
+ daß ich auf einem solchen unverantwortlichen Posten nicht hoffen
+ konnte, einen guten Zweck zu erreichen. Überdies war es mir alsbald
+ klar, daß meine Ansichten mit denen der übrigen Beamten durchaus
+ nicht harmonierten, und so legte ich die Stelle nieder ... Es war
+ besser, die Sache rasch vom Zaun zu brechen, noch ehe ich von
+ Staatsgeheimnissen Kenntnis erhielt, die mich unter diesen Umständen
+ nichts angingen. Ich hätte ja freilich ein paar Monate bleiben können
+ und dann einen bösen Finger oder sonst was kriegen, was meinen
+ Abschied motiviert hätte. Aber die übernommene Arbeit war mir eine so
+ verhaßte, daß es besser war, sie sofort niederzulegen, um so mehr,
+ als das Urteil der Welt mir ganz gleichgültig ist ... Es gehört mit
+ zu den Geheimnissen der Vorsehung, daß wir Menschen manchmal (in
+ gutem Glauben) Schritte thun und sie alsbald bereuen; so ging es mir,
+ indem ich diese Stelle annahm.«
+
+Die wahre Erklärung ist die, daß ihm klar wurde, er werde sich nie mit
+einer Verwaltung einigen können, die dem reichen Indien große Schätze
+entzieht, ja fürstliche Gehälter für englische Beamten, während über
+Millionen Hindu ein übers anderemal Hungersnot hereinbricht. Mit
+derlei Regierungsresultaten konnte er »durchaus nicht harmonieren«.
+Er hat übrigens mit dem ihm eigenen Humor folgendes als Grund seines
+Rücktritts angegeben: »Wie kann ich einen Posten bekleiden, auf dem
+fortwährend Toilette zu machen ist -- Frack zu Festessen, Frack zu
+Soireen, Frack zu Bällen, Frack und Orden, Orden und Frack -- kein
+Wunder, daß ich davonlief!«
+
+Er beschäftigte sich als nächstes mit dem Gedanken, sich nach Sansibar
+einzuschiffen, um den dortigen Sultan zu einem Unternehmen gegen die
+Sklavenhändler zu bewegen, als ihm eine Aufforderung von seinen alten
+Freunden in China zuging, sie zu besuchen. Das Telegramm lautete:
+»Bitte, kommen Sie und urteilen Sie selbst. Es ist eine Gelegenheit
+Gutes zu thun, die benutzt werden sollte. Arbeit, Stellung,
+Bedingungen lassen sich gewiß zu Ihrer Befriedigung ordnen, wenn Sie
+hier sind. Nehmen Sie sechs Monate Urlaub und kommen Sie!« Die Antwort
+des »ungekrönten Königs« war seiner würdig:
+
+ »Gordon kommt mit erster Gelegenheit nach Shanghai -- Bedingungen
+ ihm gleichgültig.«
+
+Seine Regierung zögerte mit dem Urlaub, da man nicht recht wußte,
+was zu Grunde lag. Hierauf erklärte er dem Kriegsministerium seinen
+Wunsch, aus englischen Diensten entlassen zu werden, und schiffte
+sich nach Hongkong ein. Er wußte selbst nicht, was er in China etwa
+für Arbeit finden würde -- es war eine Zeit drohender Feindseligkeiten
+zwischen den Chinesen und Russen -- das aber wußte er und hatte
+es auch seiner Eingabe beigefügt, daß er Friede und nicht Krieg
+zu befürworten gedachte. Endlich gewährte man ihm den gewünschten
+Urlaub und gab ihm sein Entlassungsgesuch zurück. In Petersburg
+war die Aufregung nicht gering, als es bekannt wurde, daß der
+»Chinesen-Gordon« nach China unterwegs sei. ~Der~ Mann war ja
+eine bedenkliche Verstärkung des Feindes.
+
+In China traf Gordon mit seinem alten Kampfgenossen, dem Staatsmann
+Li, zusammen und ließ sich die Sachlage von ihm erklären. Da schien
+es ihm abermals das allein Richtige, seine Stellung als englischer
+Offizier niederzulegen, um zu Rat und That freie Hand zu haben. Er
+telegraphierte nach London:
+
+ »Nach Unterredung mit Li-Hung-Tschang wünscht derselbe mein
+ Hierbleiben. Ich kann China in dieser Krisis nicht im Stich lassen
+ und wünsche Freiheit, nach Gutdünken zu handeln. Ich bitte daher mein
+ Abschiedsgesuch zu gewähren.«
+
+Sein Aufenthalt in China war zwar ein kurzer, aber lang genug,
+um nicht nur jenem Land, sondern einem ganzen Weltteil einen
+unschätzbaren Dienst zu leisten; denn ihm ist es zu verdanken, daß
+ein Völkerkrieg zwischen Rußland und China nicht zum Ausbruch kam. Er
+war ein Militärgenie, wie es wenige giebt; er hatte es aber längst
+gelernt, kriegerische Ehren für nichts zu achten, und freute sich,
+einen Einfluß zu besitzen, der einem großen Land den Frieden erhielt.
+Er hinterließ außerdem den Chinesen allerlei guten Rat; man hatte dort
+nicht vergessen, was man diesem Manne verdankte, und hörte ihn gern.
+An Li hatte er jetzt seine Freude. Dieser hatte seit der Taipingszeit
+Gordons gute Meinung gerechtfertigt und sich als einen der tüchtigsten
+Berater der Regierung im blumigen Land erwiesen. Und was China seither
+an Fortschritt erreicht hat, ist sein Werk. Als er den Mann wieder
+sah, von dem er so viel gelernt hatte, fiel er ihm um den Hals und
+küßte ihn. Der stets siegreiche General ist seither aus dem Kampf
+dieser Welt in den »großen Frieden« hinübergegangen, in China aber
+ist sein Einfluß, wie Li in jenem Brief sagte, mit seiner Person nicht
+verschwunden.
+
+
+
+
+ Siebentes Buch.
+
+ Bei den Basuto.
+
+
+Im Winter 1881 finden wir Gordon wieder in England. Die
+Zeitungsschreiber fingen an sich zu wundern, was man wohl als nächstes
+von ihm hören werde. Das Kriegsministerium hatte auch sein zweites
+Entlassungsgesuch nicht angenommen. Er hätte am liebsten schon damals
+einen langgehegten Plan ausgeführt und sich im heiligen Lande eine
+Zeit der Ruhe gegönnt, aber noch lagen andere Dinge dazwischen. Es
+war das Jahr der irischen Wirren. Er machte einen Besuch auf der
+Schwesterinsel und fand, daß die niederen Volksschichten daselbst --
+aus was für Ursache war ihm gleichgültig -- elender und verkommener
+sind als die Armen irgend eines andern ihm bekannten Landes. Der
+hoffnungslose Zustand Irlands schnitt ihm ins Herz. Mit seiner
+gewohnten Freimütigkeit veröffentlichte er seine Ansichten in der
+Times, die von dem Gedanken ausgingen, daß eine Nation, die s. Z.
+vierhundert Millionen Mark für die westindischen Neger erübrigen
+konnte, ein ähnliches für die Irländer zu thun im stande sein dürfte.
+Seine an sich höchst beachtenswerten Vorschläge waren aber viel zu
+opferwillig, als daß sie den maßgebenden Kreisen eingeleuchtet hätten.
+In gewohnter Weise leerte er seinen eigenen Beutel in Irland und mußte
+sich von einem Bekannten in Dublin zur Rückreise nach London aushelfen
+lassen.
+
+Um diese Zeit erreichte eine Todesnachricht England, die ihn tief
+betrübte: am 30. April 1881 war Romulus ~Gessi~ im französischen
+Spital zu Suez nach längerem Leiden gestorben. Der tapfere Italiener
+war ein Opfer des Landes geworden, für das er mit Gordon sein Leben
+eingesetzt hatte. Kehren wir für einen Augenblick in die Bahr el
+Ghasal zurück. Nachdem Gessi dort den Sklavenhändlern den Garaus
+gemacht hatte, blieb er daselbst als Statthalter. Nun das Greuelwesen
+unterdrückt war, konnte er das fruchtbare Land einen Garten nennen.
+Die Schwarzen hielten sich zu ihm und Land und Leute schienen sich
+von dem Jammer zu erholen. Gordons Nachfolger in Khartum aber, kein
+anderer als jener berüchtigte Rauf, den Gordon früher wegen Tyrannei
+zweimal gezüchtigt hatte und in welchem die ägyptische Regierung
+ihren Ersatzmann zu erblicken schien, als sie Gordon verlor, machte
+es ihm unmöglich, in seiner Stellung zu verbleiben. Am 25. September
+1880 legte er sie nieder, als gerade ein Dampfer die Reise nilabwärts
+unternahm. Lassen wir ihn das entsetzliche Ende selbst erzählen:
+
+»Zu spät sah ich meine Thorheit ein. Die Grasverstopfungen im Nil
+hatten sich aufs neue angehäuft, und das Boot war der schweren Arbeit,
+sich durch den Ssett zu ringen, nicht gewachsen. Die Maschine war
+eine schwache, nur vierzig Pferdekraft, und durch die Nachlässigkeit
+des Kapitäns war sowohl der Holzvorrat als die Zahl der Matrosen
+viel zu gering. Die vorhandene Nahrung war für fünfundzwanzig Tage
+berechnet, wir waren drei Monate unterwegs; fünfhundertsechzig Seelen
+waren an Bord, und obgleich wir Tag und Nacht arbeiteten, war an kein
+Vorwärtskommen zu denken. Die Nahrung ging zu Ende. Meine Soldaten
+wurden mutlos; weithin nichts als Sümpfe, und Hungersnot in der
+schrecklichsten Lage war unser Los. Es waren einige Sklavenhändler
+an Bord, die ich sehr gegen ihren Willen nach Khartum mitnahm; diese
+verbreiteten die Nachricht, daß ich sechzig Säcke voll Korn versteckt
+hielte; ich konnte die Soldaten nur heißen, das Schiff durchsuchen
+und essen was sie fänden. Dann behaupteten die Händler, ich hätte
+das Korn (vor der Abfahrt) verkauft; Drohungen wurden laut, und von
+da an ging ich nur mit geladener Pistole umher. Die Hungersnot nahm
+zu. Zuerst wurden die Lederüberzüge der Betten gegessen und dann
+das Schuhwerk. Im Fluß fand sich hie und da eine nahrungshaltige
+Pflanze, aber leider in geringer Menge. Und zuletzt nährten sich die
+Lebendigen von den Toten. Was mich am Leben erhielt, war zuweilen
+ein Fisch, den meine Diener mit einem gebogenen Draht fingen. Ein
+Nugger begleitete uns, und so lange der Besitzer desselben Nahrung
+hatte, teilte er sie großmütig mit mir. Gern wären wir zurückgekehrt,
+aber vor uns und hinter uns hatte der Wind die entsetzlichen Massen
+zusammengetrieben, und weithin war durch heftigen Regen das Land ein
+See. Das Holz gebrach und wir verbrannten ein Boot. Der Tod lichtete
+unsere Reihen täglich; zuerst starben die Kinder, dann die Weiber. Der
+Truppenbefehlshaber schloß sich in seine Kajüte ein und erwartete sein
+Schicksal. Niemand wollte mehr arbeiten; nur der Kapitän, zwei Heizer,
+vier Matrosen und der Steuermann unterstützten mich noch. Langsam
+brachten wir das Schiff vorwärts, aber es war wenig genug, was wir mit
+ausgehungertem Körper leisten konnten. Soweit das Auge reichte, saß
+das Boot wie in einer dichten Wiese fest. Überall um uns her lagen die
+Toten; niemand rührte einen Finger, die Leichen zu entfernen. Die Luft
+war verpestet und das Wasser auch. Aasvögel waren unsere Gäste. Von
+den fünfhundertfünfzig Seelen, welche die Reise antraten, waren nach
+zwei Monaten noch hundert übrig -- hundert Skelette, nicht menschliche
+Körper. Am letzten Tag des Jahres machte ich mein Testament und
+legte es auf den Tisch in meiner Kajüte. Nach zwei Tagen hörte ich
+Schüsse, es war ein Signal des Dampfers »Bordeen« von Khartum.
+Unsere Abreise dorthin war telegraphisch gemeldet worden; aber der
+Generalgouverneur besann sich lang, bis er uns Hilfe entgegenschickte.
+Der »Bordeen« hatte eine tüchtige Maschine und schleppte uns bald
+durch den Ssett. Auf dem uns erlösenden Dampfer fanden wir eine Bande
+von Sklavenhändlern, die landaufwärts wollten, um aufs neue ihre
+Menschenjagd zu beginnen: neues Elend, Raub, Mord und Qualen jeder Art
+erwartete die armen Stämme, die kaum angefangen hatten, aufzuatmen.
+Um ein bißchen Elfenbein zu erlangen, sollte wieder Blut in Strömen
+fließen. An einer Station fanden wir eine Herde gestohlener Ochsen
+und tausend Sklaven. Die Händler, die sich wie Heuschrecken von allen
+Seiten her einfanden, kauften die Armen und trieben sie vor sich her.«
+
+Gordon wußte nur zu gut, daß menschlich geredet sowohl er als Gessi
+vergeblich gearbeitet hatte. Auf seinem Weg nach Mauritius kehrte er
+in Suez ein und besuchte das Grab seines Kampfgenossen.
+
+Gordons nächster Aufenthaltsort nämlich war die Insel Mauritius; er
+begab sich dahin als Ingenieur-Kommandant. Einer seiner Mitoffiziere
+war zu dem Posten ausersehen, fand sich aber aus Familienrücksichten
+bewogen, einen Ersatzmann zu suchen, was nicht gegen die englische
+Militäreinrichtung verstößt. Jeder andere hätte sich mit der auf diese
+Weise übernommenen Stelle einer schönen Geldentschädigung erfreut.
+Gordon machte hiervon eine Ausnahme; ihm genügte es, einem andern
+einen Gefallen zu erweisen. Die zehn Monate, die er auf der schönen
+Insel verbrachte, waren äußerlich eine stille und friedliche Zeit für
+ihn. Berufsmäßig machte er verschiedene Vorlagen zur Beherrschung des
+indischen Ozeans. Er besuchte die Seyschellen, deren Schönheit ihn so
+entzückte, daß er schrieb: »Ich habe den Ort gefunden, wo einst der
+Paradiesgarten war!« Seines Erachtens sind diese Inseln die Überreste
+eines versunkenen Landes. Im März 1882 wurde er Generalmajor, und im
+folgenden Monat begab er sich ans Kap.
+
+Die Verbindung zwischen der Insel Mauritius und der Kapstadt ist
+keine sehr rege, aufs nächste Passagierboot hätte er wochenlang
+warten müssen, das paßte nicht in Gordons Plan, er benutzte deshalb
+ein kleines Frachtsegelschiff, das zufällig in Mauritius vor Anker
+lag. Von dieser Reise, die einen vollen Monat in Anspruch nahm,
+liegt ein hübscher Bericht vor. Der Kapitän, ein Schotte, führte ein
+Tagebuch, in welchem allerlei Charakteristisches über Gordon seine
+Stelle fand. So z. B. war Gordon, der sich auf vier Uhr nachmittags
+angesagt hatte, erst um Mitternacht erschienen; er habe erfahren,
+sagte er, daß man ihm in der Stadt ein Abschiedsfest zugedacht
+hatte, er hasse dergleichen, habe daher am Morgen einen heimlichen
+Ausflug aufs Land unternommen und sei erst bei Nacht und Nebel
+zurückgekehrt. Am andern Vormittag war der zur Abfahrt sich richtende
+Schoner nichtsdestoweniger von Gordons Freunden umlagert, die ihn
+nicht fortließen, ohne ihm Lebewohl zu wünschen, und zwar waren diese
+»Freunde« keineswegs nur seine Mitoffiziere oder Notabilitäten
+der Stadt, vielmehr Arme, denen er gewohntermaßen Gutes gethan,
+und Kinder! Unter den Kleinen, die ihm da ihre Anhänglichkeit
+bekundeten, war ein Büblein, das Gordon der Schiffsmannschaft
+als »mein Lieblingsschäfchen« vorführte. Das Bübchen brachte dem
+berühmten Mann als Abschiedsgabe zwei Flaschen Wein, die Gordon mit
+dem freundlichsten Lächeln von der Welt annahm, aber nicht selbst
+trank; er soll selten ein Glas Wein getrunken haben. Kindern und
+großen Kindern, d. h. Eingebornen, hat er allem nach seine beste Liebe
+zugewandt. Der Generalgouverneur von Sudan hat sich mehr denn einmal
+unter seine Schwarzen auf den Boden gesetzt und mit Thränen in den
+Augen angehört, was sie ihm aus ihrem Leben erzählten. Kein Wunder,
+hatte er solche Macht über sie! Einer englischen Dame, die er einst
+in ihrer Kinderstube traf, sagte er: »Sie können wohl nichts im Leben
+schwer nehmen mit diesen kleinen Geschöpfen um Sie her.« Man fragt
+unwillkürlich, warum ging dieser Mann ~allein~ durchs Leben? Die
+Gattin des Kapitäns auf jener Reise, die ihren Mann auf seinen Fahrten
+begleitete, wagte eines Tages die Frage an ihren Gast, warum er sich
+denn nicht verheiratet habe. Gordon schwieg ein paar Augenblicke,
+dann sagte er langsam: »Ich habe nie eine kennen gelernt, die aus
+Liebe zu mir bereit gewesen wäre, die Annehmlichkeiten des heimischen
+Herdes und vielleicht liebe Verwandte zu verlassen, um mich dahin
+zu begleiten, wohin die Pflicht mich ruft, vielleicht mit raschem
+Entschluß ans Ende der Welt, eine, die bereit gewesen wäre, Gefahren
+und Schwierigkeiten mit mir zu teilen, vielleicht mich zu stärken in
+Stunden der Not. Solch eine habe ich nie kennen gelernt, und nur eine
+solche könnte mein Weib sein!«
+
+Darauf ist nichts weiter zu sagen.
+
+Gordon litt sehr an Seekrankheit auf dieser Reise, und wollte
+mehrmals ans Land gesetzt sein. Der Kapitän schreibt darüber in sein
+Tagebuch: »Wie viel verschiedene Arten von Mut muß es doch geben!«
+Ihn wunderte, daß den tapfern Gordon, doch gewiß ein mutvoller Mann
+sondergleichen, die Seekrankheit so anfocht. Nach überstandenem Jammer
+war es aber wieder Gordon, welcher aller Herzen auf dem Schiff gewann,
+der kranken Matrosen wartete (es gab allerlei Krankheit an Bord)
+ihnen vorlas und Stückchen aus seinem Leben erzählte. Dem Kapitän
+gestand er eines Tags, tausend Mark sei zur Zeit sein ganzer irdischer
+Besitz, und diese Summe hatte er dem Schotten angeboten, wenn er den
+Kurs ändere und ihn ans Land setze. Unter seiner »fahrenden Habe«
+befand sich eine Kiste, über deren Inhalt der Kapitän und seine Frau
+vergeblich sich den Kopf zerbrachen: sie war voll Holz »vom Baum der
+Erkenntnis des Guten und Bösen«, wie Gordon gelegentlich versicherte;
+auf den Seychellen-Inseln wachse nämlich ein merkwürdiger Baum,
+der sonst auf der ganzen Welt nicht anzutreffen sei, das müsse der
+Baum des Paradieses sein. Die Stücke Holz, die er mit sich führte,
+schätzte Gordon darum über alles! Diese zuversichtliche Idee wird
+seinem »wahren Gottesdienst« keinen Eintrag gethan haben. Die
+Schiffsmannschaft, die an jener Kiste ungläubig vorüberging, sah
+Gordon auch mit seiner Bibel auf Deck, oft stundenlang in Gedanken
+versunken, den Blick wie träumend aufs weite Meer geheftet. In solchen
+Stunden wird das in ihm gewachsen sein, was ihn zum mutvollen Mann und
+Helden von Khartum gemacht hat.
+
+Das südafrikanische Stück seiner Laufbahn ist als ein fruchtloses
+bezeichnet worden, aber mit Unrecht; es sind nicht immer die äußeren
+Erfolge, die den Wert einer Sache ausmachen. Der selbständige und
+selten großmütige Charakter des Mannes tritt nie klarer zu Tag, als in
+diesen kurzen Monaten seines sogenannten Mißlingens.
+
+Es ist bekannt, daß die Engländer seit einer Reihe von Jahren sich
+sowohl mit den Boeren als auch mit den Eingebornen von Südafrika
+überworfen hatten; verschiedene Kriege sind die Folge gewesen. Es
+war besonders einer derselben, der Gordons Interesse erregte. Schon
+im Frühjahr 1881 telegraphierte er an den Minister des Kaplandes:
+»Der ›Chinesen-Gordon‹ bietet seine Dienste auf zwei Jahre an, um
+Basutoland zu beruhigen,« d. h. den Krieg zu beendigen und die Basuto
+im Wege der Verwaltung zu friedlichen Verhältnissen zurückzubringen.
+Dieses Anerbieten blieb vorläufig unbeantwortet. Ein Jahr vorher
+hatte die Regierung ihm die Befehlshaberschaft der Kaptruppen mit
+einem Gehalt von dreißigtausend Mark angeboten, welchen Posten er
+als einen rein militärischen abgelehnt hatte. Im Frühjahr 1882 nun,
+als die Lage im Basutoland zu einer ernsten sich gestaltet hatte,
+sprach man ihm telegraphisch den Wunsch aus, sein Anerbieten annehmen
+zu wollen. Lediglich im Gedanken, daß er Gutes wirken könnte,
+war er alsbald bereit, sich den Basuto zu widmen, und setzte mit
+charakteristischer Selbstlosigkeit seinen Gehalt auf etwa die Hälfte
+der angebotenen Summe herunter, »weil die Verhältnisse des Kaplandes
+mehr nicht rechtfertigten!« Als er aber nach seiner unerquicklichen
+Segelschiffreise die Kapstadt betrat, übertrug man ihm gerade jenen
+Oberbefehlshaberposten über die Kolonialtruppen, den er zwei Jahre
+vorher von England aus abgelehnt hatte, während er doch gekommen war,
+sich der Basutofrage anzunehmen. Es scheint, daß ein anderer damit
+beschäftigt war, die Angelegenheiten der Basuto zu verwalten oder
+mißzuverwalten, und daß die Regierung den Mut nicht hatte, jenen
+andern zu entfernen. Gordon ließ sich's in der Hoffnung gefallen, daß
+die Umstände ihm den Weg bahnen würden. Es dauerte auch nicht lange,
+so gestaltete sich die Grenzlage zu einer so drohenden, daß man ihn
+beauftragte, sich durch eigene Anschauung hinsichtlich der Überfälle
+der Boeren und der Unruhen im Basutoland zu orientieren. Das war im
+Juni.
+
+Die Basuto sind ein interessanter Zweig der Kafferrasse, und zwar
+der volkreichste und vorgeschrittenste, letzteres aus dem einfachen
+Grund, weil das Christentum bei ihnen Eingang gefunden hat. Vor etwa
+fünfzig Jahren hatte der Stamm einen Oberhäuptling Namens Moschesch,
+auch »Herr des Berges« genannt, weil er einen Berg mit einer kleinen
+Festung versehen hatte, die ihm und seinen Getreuen als Zuflucht
+im Krieg dienen sollte. Die andern Stämme und selbst seine eigenen
+Häuptlinge verwickelten ihn oft in Kämpfe; er selbst aber, obschon
+tapfer und furchtlos, war ein friedliebender Mann. Er hatte von
++Dr.+ Moffat und anderen Missionaren gehört, die in benachbarten
+Gegenden und besonders unter den Korannas arbeiteten, welcher Stamm,
+von Natur ein kriegerischer, sich neuerdings friedlich verhielt.
+Da schickte er dem Häuptling der Korannas eine Anzahl Ochsen zum
+Geschenk mit der Bitte, ihm dafür »einen Beter zu senden, der die
+Basuto in der Religion unterrichten könne, welche die Leute friedlich
+stimme.« Evangelische Missionare aus Paris, die nicht lange vorher in
+Südafrika angekommen waren und einen Wirkungskreis suchten, hörten
+davon und besetzten das neue Arbeitsfeld. Moschesch empfing sie mit
+Freuden und bestimmte selbst den Platz für ihre erste Station, am Fuß
+seines Festungsberges. Moschesch lebte bis 1870. Vor seinem Scheiden
+glaubte er Anzeichen einer besseren Zukunft für sein Land und Volk zu
+erblicken. Eins seiner letzten Worte an die Missionare war: »Lasset
+mich zu meinem Vater gehen, ich bin schon ganz bereit dazu!« Sein
+letzter Wille lautete: »Laßt die Missionare nicht müde werden, mein
+Volk zu unterrichten, besonders aber meine Söhne.«[14]
+
+Schon vorher hatten sich die Basuto im Pitso (jährliche
+Volksversammlung) mit Begeisterung für »unsere Mutter die Königin
+von England erklärt.« Man kann es nur bedauern, daß die britische
+Kolonialpolitik dieses Volk gegen seinen Willen von der Kapstadt
+aus regiert haben will. Sie hatten sich freiwillig der englischen
+Regierung unterstellt unter Vorbehalt ihrer Rechte. Sie entrichteten
+eine Kraalsteuer und waren es zufrieden, daß britische Beamten im
+Land weilten. Indem aber ihr Wohlstand wuchs und ihre Zahl zunahm,
+verdoppelte und verdreifachte sich die Steuer; anstatt nun den
+Ertrag derselben zum Besten des Landes zu verwenden, bereicherte
+derselbe vertragswidrig den Säckel der Kapregierung. Aber das allein
+war's nicht, was die Basuto aufbrachte. Bekanntlich sind vor etwa
+zwanzig Jahren ergiebige Diamantenfelder in Südafrika entdeckt
+worden. Die Basuto strömten herzu, um als Taglöhner in den Gruben
+zu arbeiten; statt in Geld bestand ihre Löhnung aber in Flinten
+und Schießbedarf, ohne Zweifel ausgediente Militärwaffen, welche
+die Eigentümer der Felder billig gekauft hatten. Die Kapregierung
+wußte um diese Waffenverbreitung, ja sie hatte dieselbe genehmigt.
+Auf diese Weise erlangten die Basuto beträchtlichen Kriegsbedarf.
+Nach zehn oder zwölf Jahren entdeckte die Kapregierung das Mißliche
+dieser Sache und erließ ein Entwaffnungsgesetz, die Basuto sollten
+die Waffen ausliefern, welche sie durch ihrer Hände Arbeit und mit
+dem Vorwissen der Regierung redlich erworben hatten! Es war eine
+Ungerechtigkeit sondergleichen, und die Basuto verweigerten den
+Gehorsam. So verwickelte sich die Kapregierung in einen Krieg, an
+dem sie allein die Schuld trug und in welchem sie einen Vorteil
+fürs nächste nicht erringen konnte. Das war die Sachlage, als sie
+Gordon berief, der wie überall so auch hier mit seinem gerechten Sinn
+alsbald auf den Grund sah. Er verfaßte einen Bericht, in welchem er
+es unumwunden als seine Meinung erklärte, daß die Basuto weniger zu
+tadeln wären als die Kapregierung; diese habe vor allen Dingen ihr
+Unrecht gut zu machen und dann erst könne sie die Basuto zum Frieden
+mahnen; übrigens liege der Hauptfehler darin, daß man die Basuto gegen
+ihren Willen der unmittelbaren Regierung Englands entzogen und sie
+der mittelbaren der Kapregierung unterstellt habe. Er schlug vor,
+diesen Fehler dadurch gut zu machen, daß man die Basuto-Häuptlinge
+zusammenberufe und die Bedingungen ihrer Unterwerfung unter die
+Kapregierung mit ihnen berate. Außerdem riet er dringend, die loyale
+Gesinnung der Basuto dadurch zu ehren, daß man ihnen das Bewußtsein
+der unmittelbaren Verbindung mit England zu erhalten suche, indem
+man einen Bevollmächtigten der britischen Krone in Basutoland wohnen
+lasse. Man gab ihm keine Antwort.
+
+Die Mißhelligkeiten zogen sich hin, aber Gordons wärmste Teilnahme war
+auf Seite der »feindlichen« Eingebornen, wie aus folgender Depesche
+ersichtlich ist:
+
+ »Es ist mir unmöglich, gegen Stämme zu kämpfen, gegen die
+ meines Erachtens ungerecht verfahren wird. Der Sekretär für die
+ Angelegenheiten der Eingebornen hat das Unrecht zugestanden, aber
+ ein solches Zugeständnis allein genügt meinem Gewissen nicht.«
+
+Es kann hiernach nicht wunder nehmen, daß Gordon nach wenigen
+Monaten seine Stelle niederlegte. Ehe er jedoch vollständig mit der
+Kapregierung brach, wurde er aufgefordert, als ~Privatmann~ nach
+Basutoland zu gehen und mit dem Häuptling Masupha zu verhandeln. Er
+nahm die Sendung an und ging allein und unbewaffnet. Daß er unversehrt
+zurückkam, ist ein Wunder; denn während Gordon als Friedensbote bei
+den Basuto verweilte, benutzte ein Kapminister die Gelegenheit,
+einen andern Häuptling gegen Masupha aufzuhetzen. Es ist lediglich
+Gordons persönlichem Einfluß zuzuschreiben, mit dem er stets das volle
+Vertrauen der Eingebornen zu gewinnen wußte, daß er aus dieser Lage
+unversehrt hervorging. Masupha sah, daß sein Gast an diesem Verrat
+keinen Anteil hatte, und ließ es ihn nur mit verdoppelter Hochachtung
+entgelten. Wenn solche Dinge in Südafrika seitens der Regierung
+vorfallen, dann kann man sich nur mit Gordon auf Seite der Eingebornen
+schlagen. Daß er daraufhin seinen Abschied einsandte und bei seiner
+Abreise nach England die Kapstadt links liegen ließ, ist nicht mehr,
+als von ihm zu erwarten war.
+
+Als Beweis, wie wichtig es ihm erschien, die Basuto auf
+freundschaftlichem Wege bei ihrer Loyalität zu erhalten, bot er sich
+selbst an und war willens, sich zwei Jahre lang um den geringen Gehalt
+von sechstausend Mark bei dem Häuptling Masupha niederzulassen. Es war
+ein Opfer der Uneigennützigkeit, dessen man jedoch entbehren zu können
+glaubte. Zum Schluß noch seine Abschiedsrede an die Basuto, die ihn
+durchaus als den gebornen Beherrscher von Eingebornen, ja als einen
+Hirten der schwarzen Herde kennzeichnet:
+
+ »Als ein Freund der Basuto bin ich hier; ich habe mich als ihr Freund
+ erwiesen, denn als man mich als Feind schicken wollte, um sie zu
+ bekämpfen, weigerte ich mich zu kommen. Nun ich aber hier bin, möchte
+ ich den Basuto Gutes thun. Die Basuto sind zum Rechten geneigt. Ich
+ frage den Häuptling und sein Volk: Wie kann Basutoland für die Basuto
+ erhalten bleiben? Und ich sage, daß die (britische) Regierung es
+ wohl meint mit dem Land. Die Königin wünscht nicht, daß die Kolonie
+ den Basuto ihr Land nehme; aber sowohl die Kolonie, als die Königin
+ fürchten, daß die Basuto von den Boeren aufgegessen werden, wenn sie
+ sich von ihnen zurückzieht. Ich mag die Boeren gut leiden, sie sind
+ tapfer und wollen unabhängig sein; als sie kämpften, war es für ihre
+ Freiheit. England hätte sie schlagen können, aber es wäre unrecht
+ gewesen. Was aber glauben die Basuto, daß den Boeren lieber ist --
+ die Basuto oder ihr Land? Ihr Land meine ich wohl. Wenn nun die
+ Kolonie dieses Land sich selbst überließe, so hätten die Basuto bald
+ Not mit den Boeren und es gäbe Krieg. Ich blicke zehn Jahre voraus
+ und sehe boerische Anpflanzungen hier: das gefällt mir nicht, es
+ gefällt der Kolonie nicht, und der Königin nicht, und dem Basuto gar
+ nicht. Deshalb sage ich zu den Basuto: haltet euch an die Regierung.
+ Sagen die Basuto: Wir sind stark und können uns wehren und brauchen
+ niemand über uns, und wollen keine Steuern zahlen, so antworte ich:
+ mir persönlich ist es einerlei, ob sie Steuern zahlen oder nicht. Ich
+ kann sie nicht dazu zwingen. Aber mein Herz ist betrübt, wenn ich
+ an die Basuto denke. Ich sehe die Boeren hier, wie sie das Land an
+ sich reißen. Ich versetze mich in Masuphas Lage und frage mich: was
+ ist das Beste für mein Land und mein Volk. Ich weiß wohl, daß es in
+ Basutoland Leute giebt mit zwei Zungen. Ich aber denke, daß einer mit
+ ~einer~ Zunge die Wahrheit spricht. Ich glaube, daß Gott euch
+ zu Christen gemacht hat. Ihr seid Schafe unseres Herrn Jesu und Er
+ hat euch lieb. Wenn die Boeren euch aus eurem Lande verdrängen, so
+ ist es mir kein Verlust und kann uns allen gleichgültig sein, sobald
+ wir einmal begraben sind. Darin aber wünsche ich, daß die Basuto mir
+ folgen. Habt alle nur ~eine~ Zunge. Ich kann mich nicht schwarz
+ machen; ich kann den Masupha und sein Volk nicht zwingen zu thun,
+ was mir gut scheint, ich überlasse es dem Herrn Jesus, der alles
+ recht macht. Das ist's, was ich euch sagen wollte: thut, was euch
+ gut dünkt, aber überlegt es wohl, und bittet Jesus um Rat.«
+
+
+
+
+ Achtes Buch.
+
+ Gordons Christentum.
+
+
+Eine Zeit der Ruhe war endlich für Gordon gekommen: er verbrachte sie
+nicht »im Bett bis Mittag« und dann mit »Austernessen«, wie er's im
+Sudan einmal scherzweise als sein Ideal hingestellt hatte, sondern er
+nahm seine Bibel und seine Meßinstrumente und ging nach Jerusalem, um
+die Topographie der heiligen Stätten zu erforschen. Und zwar that er
+dies ebenso sehr mit dem geschulten Auge des Ingenieurs, als mit dem
+gläubigen Herzen des Christen. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen
+waren originell, wie alles an diesem Mann. Seinen eigentümlichen
+Ideen über Dinge, die er in Jerusalem gesehen, kann zwar nicht jeder
+folgen; sie sind zum Teil absonderlich; der lebendige Glaube aber, der
+dabei sein Herz erfüllt, ist ein leuchtendes Vorbild für uns alle.
+Der Bischof von Derry sagt schön: »Gordon ist zwar kein berufsmäßiger
+Theologe, aber er ist etwas viel Besseres; und ich meinesteils würde
+mich scheuen, einen zu kritisieren, an dem ich in jeder Hinsicht nur
+hinaufsehen kann, selbst wenn ich seiner Beweisführung nicht immer
+vernunftmäßig beizutreten im stande bin. Er ist uns allen ein Vorbild
+des Glaubens an den lebendigen Gott.«
+
+Vier Punkte waren es hauptsächlich, die Gordon beschäftigten; erstens
+der wirkliche Ort der Kreuzigung; zweitens die Grenzlinie zwischen
+den Stämmen Benjamin und Juda; drittens die Frage, wo die Hebroniter
+wohnten, und viertens die Lage des Gartens Eden. Wie einer von Gordons
+englischen Biographen treffend bemerkt, ist's der gläubige Christ
+und der Mann vom Sappeur-Korps, den wir hier in einer eigentümlichen
+Verschmelzung von Mystizismus und mathematischem Vermessungstrieb
+begegnen; für den einsichtsvollen Kritiker ist es interessant, Gordons
+originellen, wenn gleich etwas seltsamen Gedanken zu folgen. Wir
+begnügen uns mit nachgehendem von mehr allgemeinem Wert.
+
+Gordon hat in Palästina fleißig mit der Feder hantiert und im Laufe
+eines Jahres mehrere Tausend Briefseiten nach England geschickt.
+Etliche seiner Freunde, insbesondere jener Geistliche, den er in
+Lausanne kennen gelernt hatte, stellten dann aus diesen Briefen ein
+Büchlein: »Betrachtungen in Palästina« (London 1884) zusammen, das
+mit seinem Wissen und Willen bald nach seiner Abreise nach Khartum
+veröffentlicht wurde. Die Herausgabe des kleinen Buches war eine Art
+Vermächtnis, denn es ist bekannt geworden, daß Gordon die letzte
+Reise nach Khartum mit dem bestimmten Vorgefühl antrat, er werde
+England nicht wieder sehen. Von dem Büchlein hoffte er, es möchte
+»manchen Gläubigen zu neuen Gedanken anregen und dazu beitragen,
+daß Gottes Wohnungmachen in uns mit mehr Klarheit erfaßt werde.
+Das ist das große Geheimnis (Ps. 25). Er schuf uns, um ein Haus --
+einen Tempel -- zu haben, in dem Er wohnen kann. Ohne uns ist er
+wohnungslos. Er bedarf unser, und wie sehr bedürfen wir seiner! Es ist
+mir ein Trost in meiner Schwachheit hier (in Khartum 3. März 1884)
+zu wissen, daß Er alles leitet, und es ist die reinste Meuterei, im
+Herzen oder gar mit der That gegen Seine Führung sich aufzulehnen.
+Möge Sein Name verherrlicht werden; möge dieses arme Volk hier
+gesegnet und getröstet werden; möge ich selbst gedemütigt werden,
+damit ich die Gegenwart Seines Geistes in meinem Herzen um so gewisser
+erfahren darf! Das ist mein ernstliches Gebet.«
+
+Gordon ging weiter als die meisten Christen, die sozusagen damit
+zufrieden sind, daß Christus für sie genug gethan hat. Er suchte
+Wachstum und fand die Heiligung in der Gemeinschaft mit Gott in
+und durch Jesus. Daher erkannte er in den Sakramenten den von Gott
+verordneten Weg, dieses große Ziel zu erreichen. Nicht, daß er in
+der heiligen Taufe und im heiligen Abendmahl den ~einzigen~ Weg
+erblickte, auf dem Gottes Gnade dem Sünder zu teil werden kann, aber
+er verkündet ihren hohen Wert als wesentliche Bestandteile des Heiles
+und des christlichen Glaubenslebens. Ihm steht es fest, daß jeder
+Christ, Mann, Weib oder Kind, zur Priesterschaft Gottes berufen ist,
+und daß die Glieder der wahren Gemeinde selbst vor den Engeln durch
+die Gegenwart des heiligen Geistes ausgezeichnet sind, ja, daß sie wie
+beim Pfingstfeste des heiligen Geistes voll werden können.
+
+Was die nachfolgende Übersetzung von Gordons Ansicht über die
+Sakramente anlangt, so machen wir nochmals darauf aufmerksam, daß
+wir es mit einem Teil der aus seinen Briefen zusammengestellten
+»Betrachtungen« zu thun haben, also mit seinen eigenen von Freunden
+zusammengetragenen Worten. Er ist daher nicht gerade für die
+Zusammenstellung verantwortlich, doch hat er von Khartum aus die
+ihm mitgeteilten Korrekturbogen gebilligt. Aus diesem Grund ist das
+Nachstehende auch nicht als eine erschöpfende Betrachtung anzusehen,
+wohl aber sind es tiefe Gedanken, die für den deutschen Leser um so
+merkwürdiger sind, als weder die Wiedergeburt in der heiligen Taufe,
+noch die wirkliche Gegenwart des Leibes und Blutes Jesu Christi im
+heiligen Abendmahl im allgemeinen von den englischen Christen geglaubt
+wird.
+
+
+ Die heilige Taufe.
+
+Die Taufe geht dem heiligen Abendmahl voraus; ihr Vorbild muß daher
+auch in der Geschichte der ersten Menschen dem Essen der verbotenen
+Frucht voraus gehen.
+
+Das Essen des Leibes und Blutes (Brot und Wein) im Sakrament dient
+zur Ernährung und Belebung des neuen Menschen. Es bedingt sichtbare
+Gestalt und äußerliche Handlung. Es schließt ein die Handlung eines
+Wiedergeborenen. Die Taufe wird Wiedergeburt genannt. Sie ist das
+Siegel der Einverleibung in den Leib Christi, die Kirche; sie wird
+auch ein Begrabenwerden und Auferstehen genannt, ein Ablegen des
+fleischlichen Leibes (Kol. 2, 11-12).
+
+Adams Geschichte besteht aus Geschaffenwerden, Essen, Tod. Die
+heilenden Sakramente, Taufe und Abendmahl, sind die Fortsetzung dieser
+Geschichte. Nach dem Genuß der verbotenen Frucht war der Mensch tot in
+Übertretung und Sünde, von Gott getrennt und daher der innewohnenden
+Gegenwart des heiligen Geistes verlustig. Die Taufe ist das Sakrament,
+das den toten Menschen belebt -- seine Auferweckung; der Genuß des
+Abendmahls erhält ihn am Leben.
+
+Durch das verbotene Essen verfiel der Mensch dem Tode; die Taufe
+erweckt ihn aus dem Tode und das heilige Abendmahl nährt ihn vom Baum
+des Lebens.
+
+In der Taufe wird ein Element -- Wasser -- eine materielle Substanz
+mit des Menschen Leib in äußerliche Berührung gebracht; im Abendmahl
+werden die Elemente, Brot und Wein, in des Menschen Leib aufgenommen.
+
+Im Essen liegt die Verbindung des heiligen Abendmahls mit dem Baum der
+Erkenntnis des Guten und Bösen.
+
+Im Wasser liegt die Verbindung der Taufe mit einem vorsündlichen
+Ereignis, und dieses Ereignis ist die Schöpfung. Die Geschichte
+des Menschen ist Geschaffenwerden, Essen, Tod; Auferstehung oder
+Neuschaffung oder Wiedergeburt, Essen und ewiges Leben. In der
+Schöpfung müssen wir daher die Erklärung der Taufe suchen. »Im Anfang
+schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer und der
+Geist Gottes schwebete auf den Wassern.«
+
+Durch das Wort Gottes wurde die Erde aus den Wassern gerufen. Das ist
+die Schöpfung, und wie des Menschen Leib aus Erde gemacht ist, so darf
+man sagen, daß er aus den Wassern hervorgerufen worden ist durch das
+Wort Gottes, durch den heiligen Geist.
+
+Hierin liegt die Analogie zwischen der Schöpfung, dem Ruf ins Leben,
+und der Taufe. Die Erde war tot sozusagen bis sie ins Leben gerufen
+wurde. So ist der Mensch tot sozusagen bis er wiedergeboren wird.
+Der Zustand der Erde vor der Schöpfung war ein ~toter~. Der
+fleischliche Mensch ist ~tot~. Der Zustand der Erde vor der
+Schöpfung war gleich dem Zustand des Menschen, als der Engel ihn aus
+dem Garten trieb.
+
+Was Gottes Wort durch den heiligen Geist an der Erde vollbrachte, als
+es wüste, leer und finster auf der Tiefe war, das muß am fleischlichen
+Menschen vollbracht werden, ehe er leben kann. Durch den Ruf Christi
+und die Arbeit des Geistes kommt er zur Erkenntnis, daß er in einem
+Zustand der Sünde und Finsternis tot ist; und das äußere Zeichen
+solcher Erkenntnis ist, daß er getauft, bildlich untergetaucht wird
+ins Wasser, das seine Rückkehr ins Nichtssein bedeutet und somit die
+Neuschaffung ermöglicht.
+
+Und wie die Erde einst mit Wasser bedeckt und tot war, so bedeckt die
+Taufe den Menschen bildlich mit Wasser, um seinen Tod anzudeuten, um
+öffentlich zu bezeugen, daß er den Tod als seinen Lohn anerkennt; und
+wie die Erde als eine neue Schöpfung aus dem Wasser hervorging, so ist
+der Mensch nach der Taufe eine neue Kreatur und dazu geschickt, vom
+Baum des Lebens im heiligen Abendmahl sich zu nähren.
+
+Ich sage damit nicht, daß die Taufe als äußerliche Handlung den
+Menschen vom Tod errettet, wie ich auch nicht sage, daß das Abendmahl
+einem andern als dem gläubigen Empfänger ein Genuß zum Leben ist. Die
+Taufe ist ein Auferstehen vom Tod, und das Abendmahl ist ein Genuß
+zum ewigen Leben. Die Taufe an sich macht den Menschen nicht zum
+Christen. Wer nicht vorher ein Christ ist, der wird es nicht durch
+die Taufhandlung. Nach Röm. 4, 10. 11 war die Beschneidung das Siegel
+eines Bundes, dem Abraham durch den Glauben schon angehörte; ebenso
+ist die Taufe das Siegel eines bereits bestehenden Bundes, welcher ist
+ein Bund des Glaubens und des Innewohnens des heiligen Geistes.
+
+Und wie der Gläubige im Abendmahl des Leibes und Blutes Christi
+teilhaftig wird, so wird der Gläubige in der Taufe aus dem Tod
+erweckt, er empfängt im Wasserbad die Vergebung der Sünde und die
+Einwohnung des heiligen Geistes, der schon an ihm gearbeitet hat; denn
+wie könnte er glauben, wenn der heilige Geist seine Seele nicht in den
+Stand setzte, zu bekennen, daß Jesus der Herr ist!
+
+Ich hebe es noch einmal hervor, daß 1) in der heiligen Taufe das
+Element des Wassers mit dem Körper in äußerliche Berührung gebracht
+wird; daß 2) im heiligen Abendmahl Brot und Wein in den Körper
+aufgenommen werden; daß 3) das heilige Abendmahl in dem ersten Essen
+(der verbotenen Frucht) sein Gegen- und Vorbild hat und daß es 4)
+höchst wahrscheinlich ist, daß das andere Sakrament, die Taufe, in
+analoger Weise auf ein vorsündliches Ereignis sich bezieht. Mir ist
+schon lange der Gedanke gegeben worden, daß das dritte Kapitel des
+Evangeliums Johannes so zu verstehen ist, daß zwischen der natürlichen
+und der neuen Geburt ein Sterben liegt. Nikodemus verstand das nicht
+(V. 4), so klar es scheint. Er meinte, daß das Fleisch geheilt und für
+den Himmel geschickt gemacht werden könnte. Es war ihm unverständlich,
+daß der natürliche Mensch, weil getrennt von Gott, wirklich tot ist.
+Die Taufe ist also ein offenes Bekenntnis, daß der natürliche Mensch
+hoffnungslos schlecht und tot ist und nichts Gutes zu thun vermag; und
+daß sie bildlich ein Begrabenwerden des natürlichen Menschen und eine
+Neuschaffung oder Auferstehung vom Tod enthält. Im Abendmahl verkünden
+wir Christi Tod; die Taufe verkündet, daß der Mensch im natürlichen
+Zustand tot ist und vom Tod erstehen muß. Ein neugeborenes Kind ist
+tot in Gottes Augen, die Eltern aber, die es im Glauben zur Taufe
+bringen, empfangen (an seiner Statt) die Verheißung.
+
+Ich kann nicht umhin, dafür zu halten, daß beide, die Taufe und
+das heilige Abendmahl, mit des Menschen Leib zu thun haben, denn
+die Elemente in beiden Fällen sind von dem Leib nicht zu trennen.
+Die Elemente werden in der Taufe äußerlich, im Abendmahl innerlich
+angewandt.
+
+Der aber ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das
+nicht eine Beschneidung, die auswendig im Fleische geschieht (Röm.
+2, 28. 29). Und ebenso bei der Taufe: der Mensch ist nicht darum ein
+Christ, weil er getauft ist. Kann einer nicht glauben ohne getauft
+zu sein, und kann in diesem Fall sein Nichtgetauftsein nicht als
+Getauftsein angesehen werden? Es giebt viele Stellen in der Schrift,
+die es klar zeigen, daß die Taufe an sich ohne Glaube kein nütze ist;
+und daraus erkennen wir, warum viele, die getauft sind, den heiligen
+Geist nicht haben.
+
+Meiner Meinung nach hätten sich die Ausleger, welche über Taufe und
+Abendmahl geschrieben haben, manchen Irrweg gespart, wenn sie die
+drei ersten Kapitel des ersten Buches Mose besser erwogen hätten. Mir
+hat es seit Jahren Gedanken gemacht, was von der Taufe zu halten ist,
+doch ist es mir schon vor etlichen Jahren klar geworden, daß zwischen
+zwei Geburten ein Tod liegen muß (Joh. 3). Ich halte dafür, daß im
+Taufwasser die Sündenschuld zurückbleibt, so wie natürliches Wasser
+die Unreinigkeit der Gegenstände zurückbehält, die darin gewaschen
+werden. Es scheint mir aber nicht, daß der heilige Geist das Wasser
+in anderer Weise als Träger benutzt, als indem er es wirksam macht,
+die Sünde abzuwaschen. Als Jesus (der, obgleich ohne Sünde, sich
+als Mensch der Taufe unterzog) aus dem Wasser heraufstieg, kam der
+heilige Geist über ihn. Gott ist aber nicht an die Taufe gebunden,
+denn Johannes war voll des heiligen Geistes von Mutterleibe an, und
+Kornelius hatte den heiligen Geist empfangen vor der Taufe. Die
+Gläubigen gehen als Kinder Adams ins Taufwasser und gehen als Kinder
+Gottes daraus hervor.
+
+Die Unterlassung der Taufe in gewissen Fällen anlangend, so fiel
+der heilige Geist auf Kornelius, ehe er getauft war (Apostelgesch.
+10, 44). Mag auch jemand das Wasser wehren, daß dieser nicht
+getauft werde? Als Petrus und Johannes hinunter nach Samaria gingen
+(Apostelgesch. 8, 15-16), fanden sie, daß auf des Philippus Predigt
+hin die Leute glaubten und sich taufen ließen, sie empfingen den
+heiligen Geist aber erst durch der Apostel Handauflegung.
+
+Aus diesen beiden Stellen ersehen wir, daß der heilige Geist nicht
+notwendigerweise mit der Taufe dem Täufling gegeben wurde, daß er aber
+auch nicht dem gläubigen Ungetauften versagt war. Paulus beschnitt
+Timotheus um der Juden willen (Apostelgesch. 16, 3). Die Beschneidung
+ist nichts und die Vorhaut ist nichts, sondern Gottes Gebot halten
+(1 Kor. 7, 19). Um der Juden willen beschneidet Paulus zwar den
+Timotheus, den Titus aber (Gal. 2, 3) will er nicht beschneiden.
+Dies zeigt, daß er nach der jedesmal von Gott ihm gegebenen Einsicht
+handelte. Indem er den Timotheus beschnitt, fügte er sich dem Urteil
+der Juden, gegen welches zu verstoßen er sich gewissermaßen fürchtete;
+oder warum hätte er sonst diesen jüdischen Gebrauch vollzogen? Wenn
+ich sage, daß er fürchtete, den Juden Anstoß zu geben, so meine ich
+damit, daß Gott ihm die Einsicht verlieh, daß es, um weiser Absichten
+willen und zur Vermeidung der Uneinigkeit recht sei, sich zu fügen.
+Ich glaube daher, daß wir z. B. gerechtfertigt wären, die Taufe bis
+auf weiteres zu unterlassen, wo der öffentliche Fanatismus sich
+dagegen auflehnt. Denn die Taufe macht einen nicht zum Christen,
+so wenig wie die Beschneidung einen zum Juden macht. Das bildliche
+Ausziehen des Fleisches durch die äußerliche Taufe ist nicht mehr
+nütze, als das bildliche Abthun der Unreinigkeit des Fleisches durch
+die äußerliche Beschneidung.
+
+Wie bereitwillig gewährte Paulus dem Kerkermeister die Taufe
+(Apostelgesch. 16, 33). In derselben Stunde der Nacht, als dieser
+ihm die Striemen abwusch, verkündete ihm Paulus das Wort des Herrn
+und taufte ihn alsbald. Der Kerkermeister wusch des Apostels
+Striemen, und der Apostel wäscht ihm im Wasserbad die Sünden ab. Die
+Apostelgeschichte ist in erster Linie ein Missionslehrbuch; warum
+sind wir denn so vorsichtig mit der Taufe unter den Heiden? Fehlt uns
+selber der rechte Glaube? Paulus taufte in jener Nacht nicht nur den
+Kerkermeister, sondern alle, die in seinem Hause waren. Zu Philippi,
+der Hauptstadt des Landes (Apostelgesch. 16, 12), war das Gefängnis
+gewiß groß und es waren ohne Zweifel viel Leute in des Kerkermeisters
+Haus. Da drängt sich einem wohl die Frage auf, ob der Kerkermeister
+und alle, die in seinem Hause waren, alle die Katechismusfragen
+unserer heutigen Missionare hätten beantworten können!
+
+Was hat der Mensch durch jenes erste verbotene Essen verloren? (Ich
+brauche nicht gern das Wort »Sündenfall« -- die Schrift nennt es
+nicht so.) Er verlor den heiligen Geist. Was gewinnt der Mensch im
+andern Essen? Er gewinnt den heiligen Geist. Es ist von Wert hierüber
+nachzudenken.
+
+Der Verlust des heiligen Geistes ist Trennung von Gott, Tod; so sind
+wir in Gottes Augen von Natur tot, und wenn wir in das Taufwasser
+untergetaucht werden, so bekennen wir uns bildlich tot bei dem
+Begräbnis im Wasser.
+
+Adam, der erste Mensch, entstieg dem Wasser der ersten Schöpfung. Er
+sündigte, das ganze menschliche Geschlecht war in ihm und starb in
+ihm, somit sind wir alle tot in den Augen Christi und verfallen damit
+der Gemeinstatt aller, dem Grab, dem Orte der Toten. Wir bekennen, daß
+wir beim Hineingehen ins Wasser der Taufe dasselbe sind, was Adam war.
+Wir gehen mit dem neuen Adam, Christus, als neue Kreatur aus der Taufe
+hervor. In ihm sind wir nicht länger tot; wir leben. Unser Hervorgehen
+aus der Taufe ist unser Auferstehen, und in Ihm erhalten wir (was wir
+vorher verloren hatten) den heiligen Geist, welcher unser Leben ist.
+
+In Adam sind alle Menschen geschaffen, sie sterben mit ihm, werden
+zu Staub und gelangen an einen Ort, aus welchem sie alle kamen. Was
+ist der Sammelplatz aller Menschen? -- Das Grab. Christus aber, der
+zweite Adam, versammelt uns aus dem Grab in ihm selber, in der neuen
+Geburt. Indem wir im Taufwasser untertauchen, verbildlichen wir
+unsern Zustand; und indem wir uns so bildlich ins Grab des Wassers
+legen, können wir daraus als neuer Mensch zu Christus gesammelt
+werden. (Im Griechischen steht das Wort [Greek: synagôgê] [Sammlung],
+gebraucht von dem Sammeln der Wasser ebenso wie [Joh. 11, 52] für das
+~Zusammenbringen~ der Kinder Gottes, die zerstreut waren.) Die
+Taufe besagt im Bild, daß wir im Taufwasser in den ersten Zustand 1
+Mos. 1 zurückkehren, und im neuen Adam, Christus, gehen wir daraus
+hervor. Wir kosten vom Baum des Lebens. Wir gelangen zur Auferstehung,
+die sich im 22. Kapitel der Offenbarung abspiegelt, wo von einem Strom
+die Rede ist und vom Baum (Holz) des Lebens, von Gott und dem Lamme.
+
+Ehe der heilige Geist in uns erneut wird (es ist auf dieses Wort zu
+achten, denn es deutet an, daß der Mensch ihn einmal besessen und dann
+verloren hat), müssen wir im Bild begraben werden, müssen unsern Tod
+und unsern hoffnungslosen Zustand erkennen. Denn wie das Salböl nicht
+aus das Fleisch gegossen werden kann, so kann der Fleischlichgesinnte
+den heiligen Geist nicht empfangen. Fleischlichgesinntsein ist eine
+Feindschaft wider Gott und kann den heiligen Geist nicht empfangen
+(Röm. 8, 7 und 9, ein gar ernstes Wort!).
+
+In der Taufe wird der natürliche Leib in der Erwartung gesäet, daß
+der geistliche Leib auferstehe. In der Taufe bekennen wir uns zur
+Notwendigkeit solchen Säens; wir bekennen, daß wir in natürlichem
+Zustand zu nichts nütze sind als (mit dem verweslichen Körper) gesäet
+und begraben zu werden.
+
+Der erste Adam wurde ins Leben gerufen und starb und ist bildlich
+in der Taufe begraben. Der zweite oder letzte Adam, Christus, ist
+der lebendigmachende Geist (der Herr vom Himmel), der von den Toten
+auferweckt.
+
+ Die Taufe ist eine Auferstehung aus der Verwesung.
+ Die Taufe ist eine Auferstehung aus der Unehre.
+ Die Taufe ist eine Auferstehung aus der Schwachheit.
+
+ (1 Kor. 15.)
+
+Wir ersehen hieraus, daß die Taufe eine wichtige Sache ist. Denn die
+wahre Taufe, sei es bei unmündigen Kindern durch ihre Stellvertreter,
+die Paten, so diese gläubig sind, sei es bei Erwachsenen, ist der
+Bedeutung nach ~nichts anderes als ein Bekenntnis, daß das Fleisch
+nichts Gutes zu vollbringen vermag~. Und mir scheint, daß diese
+Ansicht eine Stütze für die Kindertaufe ist, denn es handelt sich
+darum, etwas das tot ist und das sich nicht selbst helfen kann zu
+begraben. Ein kleines Kind ist tot hinsichtlich des eigenen Willens u.
+s. w.; indem es nun bildlich durch seine gläubigen Stellvertreter in
+der Taufe begraben wird, ergiebt sich hieraus die Hoffnung, daß es in
+Christo auferstehen wird -- ja unser Glaube an Gott kann nicht anders
+als dies glauben.
+
+Wenn es sich um einen Erwachsenen handelt, der von seiner
+fleischlichen Natur frei werden möchte, an Christus glaubt und
+getauft wird, so glaube ich, daß ein solcher den heiligen Geist in
+seinem ~Leibe~ empfängt. Die Elemente des Segens, dessen er in
+seinem ~Leibe~ teilhaftig wird, sind in dem einen Falle Brot und
+Wein, in dem andern ist es Wasser, in welchem er den fleischlichen
+~Leib~ ablegt. In beiden Sakramenten sind die Elemente stofflich,
+und beide sind geheiligt für den Leib durch den heiligen Geist:
+das eine zur Erhaltung des neuen Lebens in Christo, das andere zur
+Auferstehung von den Toten in Christo, welcher ist der neue Adam.
+
+War nicht das Essen der verbotenen Frucht ein Zerreißen der Einheit
+mit Gott und, infolge davon, die Bildung einer Einheit mit dem Satan?
+Und was ist der Glaube anderes als eine Fähigkeit, die unmittelbar
+aus der Gegenwart des heiligen Geistes kommt? »Niemand kann Christus
+einen Herrn heißen, ohne durch den heiligen Geist,« auch andere
+Stellen beweisen dies. Der Glaube ist eine unmittelbare Wirkung der
+Einwohnung des heiligen Geistes. Da kann kein Glaube sein, wo der
+heilige Geist nicht seine Wohnung hat. Einer der sagt, er glaube an
+Christus, aber nicht an die Gegenwart des heiligen Geistes in ihm
+selber, ist entweder ein Lügner und Ungläubiger, oder er macht Gott
+zum Lügner.
+
+Daraus folgere ich, daß jedes Wort, jede That, jeder Gedanke, der
+nicht aus der Gemeinschaft mit Christus durch den heiligen Geist
+entspringt, genau dasselbe ist, was das Essen der verbotenen Frucht
+war. Andererseits ist jedes Wort, jede That, jeder Gedanke, der durch
+den heiligen Geist in der Gemeinschaft mit Christus wurzelt, ein Essen
+vom Baum des Lebens.
+
+Ferner, gleichwie das Essen der verbotenen Frucht sowohl durch Wort
+oder Gedanken, als durch die That geschehen kann (im verbotenen Essen
+im Paradies gipfelten Gedanke und Wort in der That), so kann das
+Essen von dem Baum des Lebens, Christus, auch durch Wort und Gedanke
+geschehen, ist aber wesentlich eine That. Das Einssein mit Christus
+durch die Einwohnung des heiligen Geistes ist das A und O alles
+Lebens, und diese Anschauung empfiehlt sich selbst unserer Vernunft.
+Das Ergebnis dieses Einsseins ist ein Fruchtbringen. Es bedarf keiner
+Anstrengung; wenn wir das Einssein suchen und pflegen, so müssen die
+Früchte des heiligen Geistes die natürliche Folge sein.
+
+Nur durch den heiligen Geist ist Leben oder Gemeinschaft mit Christo
+möglich. Die Erlösung oder die Wohlthat des Sühnopfers unseres Herrn
+kann nur dann von uns erfaßt werden oder uns zu gute kommen, wenn der
+heilige Geist in uns wohnt. »Wer aber Christi Geist nicht hat, der
+ist nicht sein.« Röm. 8, 9. Wer das nicht hat, was die Gemeinschaft
+ausmacht, kann nicht mit Christo vereinigt sein. Und es ist klar, daß
+die Ausgießung des heiligen Geistes erst die Folge von Christi Leiden
+war; er konnte nicht eher herkommen, als bis Christus aufgefahren war.
+Nach Christi Himmelfahrt kam der heilige Geist hernieder, nicht vorher.
+
+Wie mancher bekümmerten Seele wäre es ein unaussprechlicher Segen
+zu wissen, daß der einzige Weg, um heilig oder Christus ähnlich zu
+werden, der ist, die Gegenwart des heiligen Geistes in uns zu suchen
+und zu pflegen. Die Früchte leugnen, welche der heilige Geist bringt,
+hieße die Gottheit des heiligen Geistes leugnen. Wenn ich daran denke,
+wie lange ich in der Irre ging und wie nutzlos ich mich abmühte am
+alten Menschen zu flicken, so kann ich nicht genug Nachdruck hierauf
+legen. Menschlich geredet, was für ein Segen wäre es für mich gewesen,
+wenn einer mir mit dem Wort zu Hilfe gekommen wäre (es steht übrigens
+deutlich genug in der Bibel): ›~Suche du des heiligen Geistes in
+dir selbst gewiß zu werden und kümmere dich sonst um nichts!~‹ Wer
+an Christum glaubt, der hat Gott den heiligen Geist lebendig in sich.
+Diese Wahrheit im täglichen Leben zu pflegen ist alles was wir nötig
+haben, und Er nährt uns durch die Schrift. Alles übrige kommt dann von
+selbst.
+
+
+Über die Verbindung zwischen dem Sündenfall und dem heiligen Abendmahl.
+
+In einem jüdischen Schulbuch fand ich die Geschichte des sog.
+Sündenfalles ausgelassen, und als ich einen Rabbiner darüber
+fragte, sagte er mir, daß die Juden dieselbe nicht als etwas
+Wirkliches anerkennen, sondern alle ihre Gebrechen aufs goldene
+Kalb zurückführen. Das ist begreiflich, denn sie meinen, sie können
+durchs Gesetz gerecht werden, indem sie aber das goldene Kalb als
+den Grund ihres Sündenfalles ansehen, ist ihnen der Sündenfall ein
+jüdisch-nationales Ereignis.
+
+Betrachten wir den Sündenfall.
+
+Der Baum des Erkenntnisses des Guten und Bösen war ein Baum, an dem
+man lernen konnte, was gut und was böse ist. Indem der Mensch von
+diesem Baum aß, wurde er wie Gott, denn Gott der Herr sprach: Siehe
+Adam ist geworden wie unser einer und weiß, was gut und böse ist.
+
+Auch ist zu bemerken, daß das Verbot, von dem Baum zu essen, gegeben
+wurde, ~ehe~ das Weib aus Adams Rippe gebaut war; so daß Eva
+~im~ Garten erschaffen wurde und Adam ~außerhalb~ desselben.
+Und ~Adam~ wurde aus dem Garten getrieben; der Eva geschieht
+dabei keine besondere Erwähnung. Dem Weib wurde kein Grund angegeben.
+Zu Adam sprach Gott: »dieweil du gegessen hast.« Die Strafe des
+Essens, der Tod, »du mußt sterben,« muß in Beziehung gebracht werden
+zu dem Worte »weil du gegessen hast, verflucht ist der Acker, bis daß
+du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde
+und sollst zu Erde werden.«
+
+Eph. 2, 2. »In welchen (Sünden) ihr weiland gehandelt habt, nach dem
+Lauf dieser Welt, nach dem Fürsten, der in der Luft herrschet, nämlich
+nach dem Geist, der zu dieser Zeit sein Werk hat in den Kindern des
+Unglaubens.« Der Fürst, der in der Luft herrschet, der Satan, hat also
+sein Werk in den Kindern des Unglaubens (Ungehorsams), und er begann
+dieses Werk im Menschen, als der Mensch im Ungehorsam gegen Gott von
+der verbotenen Frucht aß.
+
+Wir dürfen annehmen, daß wenn Gott dem Menschen mit einer einzigen
+Ausnahme alles gewährte, eben diese Ausnahme ihren Grund in dem
+dem Menschen drohenden Schaden hatte. Hätte Eva nicht von dem, was
+verboten war, gegessen, dann hätte der Geist des Ungehorsams, Satan,
+sein Werk in ihr nicht beginnen können. Und wir mögen es betrachten
+wie wir wollen, so viel ist klar, daß sie durch die Thatsache ihres
+Essens dem Satan die Thür öffnete und er in ihrem Herzen Eingang fand.
+
+1 Kor. 10, 20 zeigt, daß den Götzen opfern einer Gemeinschaft mit
+den Teufeln gleichkommt: »was die Heiden opfern, das opfern sie den
+Teufeln und nicht Gott. Nun will ich nicht, daß ihr in der Teufel
+Gemeinschaft sein sollt«.
+
+Der gesegnete Kelch aber ist die Gemeinschaft oder das
+Teilhaftigwerden des Blutes Christi. Das Brot, das wir brechen, ist
+die Gemeinschaft oder das Teilhaftigwerden des Leibes Christi, 1 Kor.
+10, 16.
+
+Das Trinken vom Kelch des Herrn ist die Anteilnahme an des Herrn
+Tisch; und das Trinken von der Teufel Kelch ist die Anteilnahme
+an der Teufel Tisch. Durch dieses ganze Kapitel zieht sich die
+Gegenüberstellung von zweierlei Essen, von zweierlei Opfern, und von
+zweierlei Folgen solchen Essens (d. i. solcher Anteilnahme), von
+zwei Genossenschaften, zwei Gemeinschaften, welche in der Thatsache
+von zweierlei Essen und den Folgen solchen Essens gipfeln, nämlich
+die Gemeinschaft mit dem Wesen, an dessen Tisch der Mensch sozusagen
+sich setzt, welche Gemeinschaft ein Teilhaftigwerden der Eigenschaften
+dieses Wesens bedeutet.
+
+Mögen wir nun über die Bedeutung der Worte streiten wie wir wollen,
+so läßt sich's nicht hinwegerklären, daß nach Joh. 6, 56 Christus in
+~dem~ Menschen wohnet, der sein Fleisch ißt und sein Blut trinkt;
+und nach dem 53. Vers dieses Kapitels haben wir kein Leben in uns,
+so wir das nicht thun. Darnach ist es klar, daß dieses Essen sein
+Wohnungmachen in uns bedeutet; während nach 1 Kor. 10 ebenfalls klar
+ist, daß solche, die den Teufeln opfern (oder mit ihnen Gemeinschaft
+haben, was nach V. 20 dasselbe ist), auch den Teufeln in sich Wohnung
+verstatten. Nun kann darüber kein Zweifel sein, daß Evas Essen
+vom verbotenen Baum eine Gemeinschaft mit dem Teufel war, erstens
+darum, weil der Satan wirklich mit ihr verkehrte, zweitens weil es
+nicht eine Gemeinschaft mit Gott war, und drittens weil es im Geist
+des Ungehorsams geschah. Dabei lasse ich alle Opfer des mosaischen
+Ceremonialgesetzes außer Frage und beschäftige mich nur mit dem
+Sündenfall und der Wiederherstellung des Zustandes vor dem Fall, in
+welcher der Hauptpunkt das Sakrament ist, durch welches wir des Herrn
+Tod verkünden, bis daß Er kommt.
+
+Wir glauben, daß Brot und Wein kraft göttlicher Einsetzung die
+werkzeugliche Ursache des geheimnisvollen Teilhaftigwerdens Christi
+ist, wodurch Er ganz unser wird und wir so eng mit ihm verbunden
+werden, als sein Fleisch ~sein~ Fleisch und sein Blut ~sein~
+Blut ist. Durch Brot und Wein, durch das Essen und Trinken seines
+Leibes und Blutes, d. h. durch die thatsächliche Handlung solcher
+Nießung wird das feste Band geknüpft. Dabei glauben wir nicht, daß das
+Brot Fleisch wird und der Wein Blut, so wenig als die verbotene Frucht
+verwandelt worden ist.
+
+Ich denke, es steht fest, daß der Fürst, der in der Luft herrschet,
+darum Eingang in uns fand und in den Kindern des Unglaubens sein Werk
+hat, weil Eva und Adam von der verbotenen Frucht aßen. Sie traten
+aus der Gemeinschaft mit Gott und wurden der Gegenwart des heiligen
+Geistes verlustig, durch den wir Gemeinschaft mit Gott haben. Dies
+führt zur Wiederherstellung in Christo, wenn er uns die Gemeinschaft
+mit dem heiligen Geist wiederherstellt, »die Verheißung des Vaters«
+und ein Unterpfand des Erbes. Nach Rom. 8, 11 wird der Geist des,
+der Jesum von den Toten auferwecket hat, unsere sterblichen Leiber
+lebendig machen durch den Geist, der in uns wohnet. Ich denke mir, daß
+der heilige Geist zuerst mit der Seele in Gemeinschaft ist, und daß
+Er dann durch die erweckte Seele den sterblichen Leib auferweckt. Da
+der heilige Geist nur in geistiger Weise an der Seele arbeiten kann,
+die geistiger Natur ist, so fragen wir, auf welche Weise kann der Leib
+erfaßt werden, der durch eine thatsächliche Handlung (durch Essen)
+der Gewalt des Bösen anheimfiel? Ich beantworte diese Frage mit aller
+Vorsicht, aber es erscheint mir sowohl vernunft- als schriftgemäß,
+daß er durch dasselbe Mittel auch wieder geheilt wird, das den Fall
+bewirkte und dem Teufel den Zugang verstattete, nämlich ~durch
+Essen~.
+
+Das Sakrament von des Herrn Nachtmahl steht in enger Verbindung mit
+der Auferstehung des Leibes. »Wer mein Fleisch isset und trinket mein
+Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am jüngsten Tage
+auferwecken.« Und wir wissen, daß, so wir würdig zu seinem Sakrament
+kommen, wir seinen Leib in unsern Leib und sein Blut in unser Blut
+empfangen zur Reinigung von aller Sünde. Wäre es denkbar, daß unsere
+Leiber je umkommen könnten, nachdem sie einer so engen Gemeinschaft
+mit der Gottheit teilhaftig geworden sind, als das Essen seines Leibes
+und das Trinken seines Blutes in sich schließt?
+
+Wir müssen annehmen, daß der Leib beim Sündenfall in vorzüglichem Maße
+thätig war, denn er genoß thatsächlich, was verboten war, und hier bei
+diesem zweiten Essen ist ebenfalls der Leib in demselben Maße thätig.
+Beim ersten Essen brachte der Leib die Seele zum Opfer (denn der Seele
+konnte es an sich nichts verschlagen, ob gegessen wurde oder nicht);
+beim zweiten Essen bringt die Seele den Leib zum Opfer. Beim ersten
+Essen trug der Leib den Sieg davon; beim zweiten Essen bleibt der
+Seele der Sieg.
+
+Warum sind wir alle so tot? Warum wird unser Fleisch nicht belebt?
+Viele unter uns sind wahre, ernste Christen. Warum sind sie so
+trübselig? Sie haben die Barmherzigkeit Gottes in Christo erfahren,
+aber es ist, als ob die Seele bei ihnen an einen Leichnam gefesselt
+wäre -- an ihren Leib. Sie glauben oder hoffen, daß sie ihrer
+Seligkeit gewiß sind, aber sie werden dieser Gewißheit nicht froh.
+Warum schleppen sie den toten Leib mit sich herum? Er atmet den Geruch
+des Verderbens aus, er ist träge und beschwerlich. Kann er nicht zum
+Leben gebracht werden? Wahrlich ich glaube, ~der Grund des Übels
+liegt in der Mißachtung des heiligen Abendmahls~. Wenn er auch
+ein toter Leib ist, so kann er doch essen; und wenn die Seele durch
+den heiligen Geist zum Leben erweckt ist, warum sollte sie den toten
+Leichnam nicht zu bewegen suchen, den Leib und das Blut Christi in
+sich aufzunehmen, woraus ihm Leben zu teil werden wird. Es mag zuerst
+nur ein schwaches Fünklein sein, ja es mag scheinen, als ob er nur um
+so mehr Verwesung von sich ausscheide, aber er wird bald voll Leben
+sein und dieses Leben wird das ewige Leben sein. Er wird den Tod nicht
+schauen, sondern die Auferstehung des Lebens.
+
+Was für Vorbereitung ist nötig um zu essen? Ich meine, wenn ~ein~
+Baum mit einem Zaun zu umgeben ist, so ist es der Baum der Erkenntnis
+des Guten und Bösen, denn dieser Baum existiert noch immer. Aber
+hüten wir uns, den Baum des Lebens einhegen zu wollen! Gott selbst
+hat uns den Weg dazu in Christo bereitet. Es ist gar nichts nötig
+als das eine: »Ich bin krank; ich möchte gesund werden; ich hasse
+und verabscheue mich selbst; ich habe nur schwache Hoffnung, daß es
+mir Segen bringen wird, aber ich will Ihm vertrauen, und zu seinem
+Gedächtnis will ich thun, was Er mich thun heißt.« Kann jemand am
+Erfolg zweifeln? In Summa -- nichts ist nötig als erstens Kranksein,
+zweitens Verlangen nach Gesundheit und drittens Gehorsam gegen des
+Herrn Gebot.
+
+Ich glaube, die meisten geben das erste und das zweite zu. Warum nicht
+auch das dritte? Es ist so gar wenig, und wie unendlich ist der Segen.
+Zweifelst du, so laß mich dich an die verbotene Frucht erinnern; wie
+gering schien die Übertretung, und die Folgen waren derartige, daß der
+allmächtige Gott selbst ins Fleisch kommen und den Tod leiden mußte,
+um den Schaden zu heilen.
+
+
+ Du solltst nicht davon essen. -- Nehmet, esset.
+
+Was für Anstrengungen machen die Menschen, um körperliche Leiden
+zu heilen, was für Summen läßt man es sich kosten. Welche
+Krankheitsdiagnosen werden gemacht und doch -- selbst die wirksamsten
+Arzneien können das sichere unausbleibliche Ende nur um ein kurzes
+hinausschieben. Wahrlich, wenn man es sich so angelegen sein läßt,
+körperliche Leiden zu untersuchen, wie viel mehr sollte man die
+Ursache und das Heilmittel der geistlichen Krankheit erforschen. Denn
+daß wir geistlich krank und nicht so sind, wie wir sein sollten, daran
+zweifelt wohl keiner.
+
+Wenn im natürlichen Leben ein Gift in den menschlichen Körper geraten
+ist und ihn mit seiner schädlichen Wirkung durchdringt, so muß in
+denselben Körper ein Gegengift aufgenommen werden, um mit seinen
+heilenden Kräften jene bösen Folgen zu vernichten.
+
+Einer, der vergiftet ist, fragt nicht lange, auf welche Weise das
+Gegengift wirkt; er versteht die gute Wirkung des Gegengiftes
+vielleicht so wenig, als er die schädliche Wirkung des Giftes zu
+erklären weiß; er weiß nur, daß er leidet und geheilt werden möchte.
+Er nimmt das Gegengift in gutem Glauben; vielleicht hat er auch das
+Gift sozusagen in gutem Glauben genommen, denn im allgemeinen sucht
+der Mensch sich nicht selbst zu vergiften. Der Mensch sucht auch nie
+das Böse, weil es böse ist; er sucht vielmehr etwas (vermeintlich)
+Gutes im Bösen. Es genügt dem Menschen also zu wissen, daß er
+geistlich vergiftet ist, um Heilung zu begehren.
+
+Ist es ein Zufall, daß das erste Gebot Gottes, das Er dem Menschen
+gab, und eines der letzten Gebote Christi an seine Jünger, und durch
+sie an die ganze Welt, beides von einem Essen handelt? Gott sprach:
+»~Du sollst nicht davon essen~« -- Jesus spricht: »~Nehmet,
+esset, das ist mein Leib!~«
+
+Eine wirkliche Substanz (Brot) soll in den vergifteten Körper
+aufgenommen werden, und zwar nach dem ~Gebot~ des Herrn, und sie
+ist der Träger, durch welchen Christus dem vergifteten Körper seine
+göttlichen Eigenschaften mitteilt; gerade so, wie die ~verbotene~
+Frucht der Träger war, durch welchen der Teufel dem Körper seine bösen
+Eigenschaften mitteilte und ihn vergiftete.
+
+Der Mensch aß in völliger Unwissenheit hinsichtlich der Folgen des
+Essens von der verbotenen Frucht, denn er konnte nicht wissen,
+~was~ der Tod sei; ebenso kann der Mensch in völliger Unwissenheit
+hinsichtlich der Folgen vom Brot des Sakraments essen.
+
+In jenem Fall aß er im Vertrauen auf sich selbst und im Mißtrauen
+gegen Gott und in Gemeinschaft mit dem Teufel.
+
+In diesem Fall soll er im Vertrauen auf Gott und im Mißtrauen gegen
+sich selbst essen und in Gemeinschaft mit Gott.
+
+Der Welt ist dieses wie jenes eine Thorheit, aber es ist Weisheit bei
+Gott.
+
+Wir sagten vorhin, der Mensch sucht nie Böses, weil er böse ist,
+sondern er sucht (vermeintlich) Gutes im Bösen. Eva suchte Gutes in
+der verbotenen Frucht, aber sie suchte es im Vertrauen auf sich selbst
+und im Mißtrauen gegen Gott.
+
+Ein kleines Kind kann verstehen, daß es ein Heilmittel braucht,
+wenn es krank ist, und nimmt selbst eine widrige Arznei von seiner
+Mutter, weil es ihr vertraut. Der Mensch kann deshalb das sakramentale
+Gegengift verstehen, wenn er weiß, daß er geistlich vergiftet ist;
+aber der höchste Verstand kann weder ergründen die Tiefe des ersten
+Bundes mit Satan, noch die des zweiten Bundes mit Christus.
+
+Ich frage nun, ~was ist nötig, damit der Mensch esse von diesem
+Sakrament~? Nichts, als daß er seine geistliche Krankheit erkenne
+und geheilt werden möchte. Die meisten Menschen wissen es auch wohl,
+daß sie krank sind, und wären auch gern gesund.
+
+Warum wird das Gegengift im Sakrament so vernachlässigt? weil es so
+einfach ist, darum hält es die Welt für Thorheit und des Herrn Tisch
+ist verachtet. (Mal. 1, 7.)
+
+Zum Schluß noch die Frage: ist nicht das Abendmahl des Herrn das
+einzige aus der sichtbaren Kirche, was auch im Himmel bleiben wird?
+(Luk. 22, 18.) Es ist wesentlich das Hochzeitsmahl der Kirche; es ist
+das äußerliche Pfand des gegenseitigen Einwohnens des Menschen in Gott
+und Gottes im Menschen. (Offenb. 3, 20.)
+
+ * * * * *
+
+Mit solchen Gedanken beschäftigte sich Gordon während jenes Ruhejahres
+im heiligen Land. Im Juli schrieb er seinem Freund: »Es ist ein Gefühl
+der Ermattung über mich gekommen, ~nicht der Unzufriedenheit~,
+aber ein Verlangen, die Bürde abzuwerfen. Ich glaube, daß es gut für
+mich ist, hier zu sein, sonst wäre ich ja nicht hier, und Gott schenkt
+mir tröstliche Gedanken, aber der Körper ermattet, und es scheint
+mir ein selbstsüchtiges Leben. Doch sind alle Forschungen, die ich
+hier mache, interessant, und mein gottgeschenkter Glaube verhindert
+mich, es für ein nutzloses Leben zu halten.« Es ist die Energie des
+Mannes, die hier zum Vorschein kommt; er will nicht nur glauben, er
+will seinen Glauben auch bethätigen. Bei den Londoner Maiversammlungen
+1885 hat Missionar Hall aus Jaffa einer großen Versammlung unter
+atemloser Stille von seinem acht Monate langen Umgang mit Gordon
+erzählt. In den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft sagte Gordon zu ihm:
+»Ich habe keine rechte Ruhe, ich bin in dieses Land gekommen, um eine
+Zeit lang in der Stille zu sein, mich mehr mit dem Wort Gottes zu
+beschädigen und nebenher die heiligen Stätten zu untersuchen. Aber
+es befriedigt mich nicht; ich bin unruhig, ich muß etwas für Gott
+thun. Glauben Sie, wenn ich nach Jaffa käme, daß ich dort Arbeit
+finden könnte?« Die Folge der bejahenden Antwort des Missionars
+war, daß Gordon sich in Jaffa einmietete. »Eines Tages,« erzählte
+Hall, »erhielt ich ein Schreiben von dem Komitee des Inhalts, daß
+ein Missionshaus in Nablus (Sichem) errichtet werden sollte und daß
+Baupläne einzusenden seien. Ich schrieb an den Missionar Fallscheer
+in Nablus, worauf dieser mich in Jaffa besuchte und es beklagte, daß
+er nichts vom Baufach verstehe. In Jaffa gebe es keinen Baumeister,
+und sich bei einem Baumeister in Jerusalem Rats zu holen, sei eine
+kostspielige Sache. Ich gab das zu und entgegnete: »Es ist eben ein
+Mann hier, der sich aufs Planzeichnen versteht; ich weiß zwar nicht,
+ob man ihn damit belästigen darf -- wir wollen es aber versuchen.«
+Und so begaben wir uns in Gordons Wohnung. Wir hatten uns nicht den
+günstigsten Augenblick gewählt, denn es war vormittags, welche Zeit
+Gordon der Betrachtung des Wortes Gottes widmete. Wir fanden ihn in
+Hemdärmeln an seinem Tisch sitzen. Er erkundigte sich nach unserm
+Begehren. »Wir möchten Ihren Rat holen wegen eines Missionshauses,
+das in Nablus gebaut werden soll,« sagte ich, und um unserm Bedürfnis
+nach Bauplänen näher zu kommen, fügte ich dies und jenes hinzu. Da
+unterbrach er mich: ›Ich weiß, was Sie wollen -- Sie brauchen nicht so
+vorsichtig mit mir zu reden; Sie möchten einen Beitrag haben.‹ Darauf
+erwiderte ich, daß wir keinen Beitrag von ihm wollten, wohl aber etwas
+Besseres als Geld, nämlich die Baupläne, wenn er sie uns entwerfen
+wolle. ›Baupläne,‹ rief er, ›ei gern!‹ und nahm sofort Papier und
+Bleistift zur Hand, notierte sich wie viel Zimmer nötig seien, was
+für Fenster und Thüren, was die Lage des Bauplatzes sei u. s. w. Noch
+am Abend desselben Tages brachte er uns die schönsten Pläne, die man
+sich denken konnte. Am andern Tage bestellten wir Handwerksleute,
+und Gordon machte einen Kostenüberschlag für jeden. Das Missionshaus
+steht jetzt in Nablus. Einige Zeit später sagte ich ihm, daß ich
+mich fast gefürchtet hätte, ihn um die Baupläne zu bitten. ›Meinen
+Sie, ich hätte Ihre Bitte übel genommen,‹ sagte er. ›Wozu bin ich
+denn nach Jaffa gekommen, habe ich Ihnen nicht gesagt, daß, wenn Sie
+mir etwas für das Reich Gottes zu thun geben könnten, Sie mir einen
+Dienst erweisen würden? Ich war nicht recht mit mir zufrieden, weil
+ich mich ins heilige Land zurückgezogen hatte, anstatt mit meinen
+Kräften mich in Gottes Arbeit zu stellen.‹ In diesem Sinn hatte er
+die Pläne entworfen.« Missionar Hall fügte dem bei, daß er von Gordon
+mehr Aufschluß über geistliche Dinge erhalten habe, als sonst von
+irgend einem Menschen, mit dem er je in seinem Leben zu thun gehabt.
+Gordon fand auch sonst in Jaffa Arbeit von der Art, wie er sie in
+Gravesend gefunden hatte. Ein bekannter schottischer Geistlicher, der
+kürzlich in Palästina reiste, kam mit einem armen Dragoman zusammen,
+der ihm nicht genug davon sagen konnte, wie Gordon ihn und seine Frau
+in Krankheit besucht und in Ermangelung eines Stuhles sich mit seinem
+neuen Testament auf den Boden gesetzt habe, um ihnen von Christus
+zu erzählen. Dabei hatte er ausfindig gemacht, daß sie eine große
+Doktorrechnung hätten, und diese in aller Stille bezahlt. In Jerusalem
+und den Dörfern umher habe er den Armen viel Gutes gethan, und diese
+trauerten um ihn, wie um ihren Vater.
+
+Überall wo Gordon hinkam, dasselbe Urteil über ihn! Er aber sagt: »Wie
+wenig Christus-ähnliche Menschen giebt es doch -- wer unter uns ist
+Ihm gleich? Keiner, bis alles von uns genommen ist; dann erst können
+wir werden wie Er und eins sein mit Ihm. ›Selig sind die geistlich
+Armen, denn das Himmelreich ist ihr,‹ heißt es; und nur die Armen ohne
+Geld und ohne Ansehen im vollen Sinne des Wortes können durch die
+dunkle Grabesthüre zu der Ruhe eingehen, die uns behalten ist .... Ich
+wollte, daß alle die Gewißheit des ewigen Lebens hätten! Es ist ja
+gerade, ~weil~ wir arm und unwert sind, daß wir Eingang finden.
+So lange wir uns für besser halten als andere, sind wir weit vom
+Himmelreich entfernt. Wir müssen den Gedanken fahren lassen, daß wir
+im geringsten bei Gott etwas zu gut haben könnten, wir sind ja ~alle
+und nur~ seine Schuldner. Nach Ephes. 2, 10 sind wir zu guten
+Werken geschaffen, in denen wir wandeln sollen. Wenn uns Gott also
+vorher dazu bereitet hat, daß wir dies oder jenes Gute vollbringen,
+wo bleibt da noch Ehre für uns?« Nicht genug kann er es betonen, daß
+man alles, im großen wie im kleinen, Gott anheimstellen soll; es gäbe
+nicht so viel unzufriedene Gesichter in der Welt, meint er, wenn die
+Leute das lernten. Der Glaube, daß Gott im Regiment sitzt, sei ihm
+sein lebenlang eine unversiegbare Quelle der Kraft gewesen, die ihn
+nicht nur für die Gegenwart und Zukunft stark mache, sondern die ihm
+selbst das Vergangene zurecht bringe. Das sei es ja, was der Herr
+von uns haben möchte, daß wir ›seine Freunde‹ seien, und nicht seine
+Knechte. Und wenn Er uns in eine schmerzliche Lage geraten lasse, so
+geschehe dies darum, damit wir Ihn um so besser kennen lernten und
+an uns selber erführen, wie stark Er ist, zu helfen. Gordons völlige
+Gleichgültigkeit gegen das Urteil der Menschen ist die Kehrseite
+dieser Gotteszuversicht, und Menschenlob nennt er eine Trennungswand
+zwischen der Seele und ihrem Gott (Joh. 12, 43).
+
+Aus einem Briefe vom 4. Juli 1876:
+
+»Das menschliche Leben ist eine Rückreise zu unserm Urquell, Gott,
+der sich uns als die ewige Wahrheit, Liebe, Weisheit und Allmacht
+offenbart hat. Als Begriffe erkennen wir diese seine Eigenschaften
+bereitwillig an; das ist aber kein Herzensglaube. Wir stoßen auf
+Widersprüche, wir sind blind. Er öffnet uns die Augen nach und nach,
+und hilft uns durch manches sogenannte Unglück ihn immer besser kennen
+lernen. Er offenbart sich verschiedenen Menschen in verschiedener
+Weise, aber das Endziel aller ist, ~Ihn zu erkennen~. So wie der
+Mensch in diese Welt geboren ist, hängt ein Schleier vor seinen Augen,
+der ihm Gott verhüllt. Dem in der Christenheit aufwachsenden Menschen
+tritt Gott in beidem, im geschriebenen und im Mensch gewordenen Wort
+nahe, aber wenn er dies auch mit seinem Verstand erfaßt, so ist in
+diesem Leben doch vieles unverständlich, und der Schleier bleibt. Jede
+schmerzliche Erfahrung aber und jede Prüfung macht einen Riß in die
+Hülle und er ~sieht~ dann, was er vorher nur als toten Buchstaben
+geglaubt hatte ... Ein Samenkorn göttlichen Wesens ist in unser Herz
+gelegt; und dieses Gottgeborene in uns sollte dem Ausgang des Kampfes
+zwischen Fleisch und Geist ruhig entgegensehen können. So oft der
+Geist über das Fleisch Herr wird, so oft giebt es einen weiteren Riß
+in der Hülle und wir erkennen Gott immer besser. Wenn dem Fleisch der
+Sieg bleibt, so verdichtet sich der Schleier. Zuletzt aber, wenn das
+Unausbleibliche, der Tod eintritt, dann reißt der Schleier mitten
+entzwei und das völlige Schauen beginnt. Das Fleisch ist überwunden,
+der Geist aber lebt.«
+
+Geben wir noch ein Schlußwort Gordons. Es ist ein Wort, das er vor
+einer Reihe von Jahren geschrieben hat, er hätte es in jenen letzten
+Monaten schreiben können, als er von seinem Volk verlassen, mit seinem
+nie wankenden Heldenmut in Khartum eingeschlossen war:
+
+»Die Welt ist ein weites Gefängnis mit grausamen Hütern. Einsam und
+verlassen sitzen wir in unseren Zellen und warten auf Erlösung. An den
+Wassern der irdischen Freude und vollen Genüge weilen wir -- so denkt
+das Fleisch und der Irdischgesinnte; aber es sind die Wasser zu Babel
+voll Jammer für unsere Seele, und wir sitzen und weinen, wenn wir der
+Heimat gedenken, von der ein so schmaler Strom, der Tod, uns trennt.
+
+»Unsere Harfen hängen an den Weiden, und unsere Widersacher heißen uns
+fröhlich sein, wir sollen ihnen ein Lied singen, als wären wir daheim.
+Wie aber sollen wir des Lammes Lied singen im fremden Lande, die wir
+in der Wildnis sind, wo niemand uns kennt?
+
+»O wären wir doch daheim, wo die Gottlosen aufhören mit ihrem Toben,
+und ~die~ ruhen, die viele Mühe gehabt haben; wo der Kampf zu
+Ende ist und die heiße Arbeit vorüber, wo die Krone des Lebens uns
+werden wird; wo wir Ihn schauen werden, der all unsere Not kannte,
+der unser Elend mit uns trug, der unserer müden Seele Trost gab. Und
+siehe, es ist kein neuer Freund, es ist der alte!
+
+»Bist du müde? Er war es auch. Bist du betrübt? Er war es auch.
+Findest du dich in deiner Liebe unverstanden und begegnet man dir mit
+Kälte? Ihm ging es nicht besser.
+
+»In Seinem großen Erbarmen hat Er sich unter all Seine Brüder
+erniedrigt. Wie müde, wie einsam, wie betrübt war Er auf dieser Erde;
+ein Mann der Schmerzen, der Leid trug mit Geschrei und Thränen. Und
+sollten wir über unser Elend murren, das doch bald vorüber ist? Bringt
+nicht jeder Tag uns der Heimat näher? Kein dunkler Fluß, sondern
+zerteilte Wasser liegen vor uns; und der Welt bleibt ihr Lohn. Sie ist
+Erde, und wir schütteln ihren Staub von den Füßen.
+
+»Ich hörte eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Schreibe, selig sind
+die Toten, die in dem Herrn sterben. Ja der Geist spricht, daß sie
+ruhen von ihrer Arbeit -- ruhen von Trübsal, von Mühe und Last, von
+Herzweh, Thränen, Hunger, von all dem Jammer seufzender Seelen, die
+hier im Gefängnis, ohne Frieden sind, von Krieg und Kriegsgeschrei und
+allem Hader.
+
+»Es ist eine lange, mühselige Reise, aber schon sehen wir das Ziel.
+Die Meilenzeiger unserer Jahre fliegen dahin, und für die Last jedes
+Tages wird uns die Kraft gegeben, die uns not ist (5 Mos. 33, 25.
+englische Übersetzung). Wer weiß wie nahe das Ende, wie bald der
+Pilger daheim sein wird im schönen Lande, wo Ströme lebendigen Wassers
+fließen, wo keine Not mehr sein wird, noch Leid, noch Schmerzen, und
+wo er ewig ruhen darf bei seinem himmlischen Freund.
+
+»Der Sand verrinnt -- Tag und Nacht, Nacht und Tag -- schüttle du
+nicht das Glas. Trage deine Last, leide wie Er litt.«
+
+
+
+
+ Neuntes Buch.
+
+ Khartum.
+
+
+ 1. Der Mahdi.
+
+Während Gordon sein stilles Jahr in Palästina verlebte, gelangte man
+daheim zur Erkenntnis, daß der Zustand in den Armenquartieren der
+reichen »City« ein Schandfleck für England sei. Es war das Jahr,
+in dem »der bittere Notschrei Londons« in allen Ohren wiederklang.
+Es wurden Untersuchungen eingeleitet, und die Enthüllungen, die
+es gab, entsetzten die feine Welt. Wohl war es teilweise ein
+Sensationsinteresse, es lag ein gewisser Kitzel darin, die sogenannten
+untersten Schichten aufzuwühlen, aber man fing doch ernstlich an, auf
+Besserung der Zustände zu drängen. Es wurden Komitees ernannt und
+Sitzungen gehalten, auch in der Folge mancherlei gethan. Ob das Los
+der Armen seither ein merklich gebessertes ist, bleibe dahingestellt;
+dergleichen wird wohl weniger durch Komitees, als durch einzelne
+Menschen erreicht, denen die Liebe gegeben ist, unter den Elenden zu
+leben. Es giebt solche, aber ihrer sind wenig. Der Notschrei drang
+bis ins heilige Land, und Gordon lieh ihm ein williges Ohr; ja er
+fing an, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob es in Whitechapel
+und Spitalfields nicht eine ähnliche Arbeit für ihn gebe, wie s. Z.
+zu Gravesend, ob ein Leben der Samariterliebe im Herzen von London
+nicht die Lösung für seine Zukunft wäre, die ihn nur um so völliger in
+Anspruch nehmen würde, als der Jammer in jenen Höhlen der krassesten
+Armut und Verkommenheit weit über dem steht, was in der kleinen
+Themsestadt zu finden ist, deren Gassenjungen seine »Prinzen« waren.
+
+Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Während Gordon sich in Gedanken
+mit seinen armen Brüdern und Schwestern in der englischen Hauptstadt
+beschäftigte und die Aussicht ihm eine liebe wurde, sich dieser
+»Innern Mission« zu widmen, brachte anderswo ein König ganz andere
+Pläne zu Papier und versah sich des Träumers in Palästina, als des
+Mannes, der sie ihm verwirklichen sollte.
+
+Es war der König von Belgien, der in Gordon den Mann erblickte,
+welcher als Stanleys Nachfolger die Hoffnungen des »freien
+Kongostaats« ihrem Ziel entgegen führen sollte. Wahrscheinlich
+hat Stanley selbst auf Gordon hingewiesen; und dieser war zu
+allem bereit, was dazu dienen konnte, dem Sklavenhandel im Innern
+von Afrika entgegen zu arbeiten und den umnachteten Weltteil den
+Einflüssen christlicher Zivilisation zu erschließen. Der Plan war kein
+geringerer, als vom Kongo aus dem Njamnjamlande und den Gebieten
+der Rituellen beizukommen und auf diese Weise die verschiedensten
+Negerstämme zu einem Bund gegen die Sklavenwirtschaft im Sudan zu
+vereinigen. Es war gegen Ende des Jahres 1883, daß die belgische
+Aufforderung Gordon erreichte. Schon drei Jahre vorher, als er sein
+Amt im Sudan niederlegte, hatte er bei Gelegenheit einer Audienz in
+Brüssel seine Bereitwilligkeit ausgesprochen, dem König in dieser
+Sache zu dienen, wenn es sich so fügen sollte, daß man seiner
+bedürfe. Und als dieser ihn nun an sein Versprechen mit dem Bemerken
+erinnerte, daß der Zeitpunkt gekommen sei, der unter Gordons Leitung
+zu den schönsten Hoffnungen am Kongo berechtige, war es die gewohnte
+Schlagfertigkeit des Mannes, die stehenden Fußes die palästinischen
+Studien abbrach und die Pläne hinsichtlich der Armen Londons auf
+eine künftige Zeit verschob. Er wartete nicht einmal ein richtiges
+Passagierboot ab, sondern verließ Jaffa bei erster bester Gelegenheit
+mit einem Frachtschiff, das ihn um ein kleines mit samt der Ladung
+auf den Meeresboden gebettet hätte. Am letzten Abend des Jahres 1883
+erreichte er Genua und nahm den Schnellzug durch die Neujahrsnacht
+nach Brüssel. Es war der Anfang des für ihn so verhängnisvollen Jahres
+1884, aber noch ahnte er nicht, daß Khartum sein Ziel war. Er gedachte
+der Kongo-Arbeit, die seiner harrte, und seine Seele war stille zu
+Gott.
+
+ »Ich war allein in meinem Koupé,« schrieb er den Freunden in Jaffa,
+ »und habe auch ~an euch alle gedacht~!«
+
+Und die Freunde in Jaffa wußten, was er damit sagen wollte. Sie
+gehörten mit zu der Liste von etlichen hundert ihm Nahestehender,
+deren er vor Gott gedachte. Wer diese Liste hätte durchsehen können
+-- ein König hier, ein alter Netzstricker dort, die seine Fürbitte
+brauchten!
+
+Der belgische König war entzückt, einen so trefflichen
+Bevollmächtigten gewonnen zu haben, und Gordon ging nach England, um
+sich von den Seinen zu verabschieden. Sein Entlassungsgesuch aus dem
+englischen Dienst hatte er eingesandt. Noch vor Ende Januar wollte
+er wieder in Brüssel sein, um von dort die Reise nach dem Kongo
+anzutreten. Wie ganz anders sollte es kommen!
+
+Daß im Sudan alles drunter und drüber ging, wußte er. Kein Jahr war
+vergangen, nachdem er seine Statthalterschaft niedergelegt hatte,
+da kamen Hilferufe genug von Khartum her, welche den guten Pascha
+zurückverlangten, der allein im stande war, dem geknechteten Volk
+eine Schutzmauer gegen seine Unterdrücker zu sein. Der Sklavenhandel
+war neu aufgeblüht und von Ägypten war keine Rettung zu erwarten. Die
+englische Bevormundung der ägyptischen Frage, die sich kurzer Hand als
+eine Koupon-Politik bezeichnen läßt, hatte nicht viel Gutes erreicht;
+und sowohl die englischen als die ägyptischen Minister waren viel zu
+sehr von dem Arabi-Aufstand in Anspruch genommen, als daß man Zeit
+gehabt hätte, im Sudan zum Rechten zu sehen. Dort war unter Gordons
+Nachfolger in der Statthalterschaft, jenem berüchtigten Rauf Pascha,
+eine böse Zeit angebrochen. Die Erpressung seitens der Beamten war
+ärger denn je, und als im Mahdi ein angeblicher Befreier sich erhob,
+war der Zündstoff im Lande in einer Weise angehäuft, daß der Aufruhr
+wild empor loderte.
+
+Wie es mit der Gelderpressung durch übermäßige Besteuerung aussah,
+beschrieb der Times-Korrespondent Power, den Gordon in Khartum
+vorfand, und der einer der drei Engländer war (Gordon und Stewart die
+beiden andern), die des Landes Märtyrer wurden.
+
+»Wenn die Leute hier ihre Acker bebauen wollen,« lautete der Bericht,
+»so müssen sie eine Steuer zahlen; und um Wasser aus dem Nil auf
+ihre Äcker zu leiten, ohne welches das Land nutzlos ist, müssen sie
+eine zweite Steuer zahlen. Wenn das Korn dann geerntet ist, kommt
+die dritte Steuer, ehe sie es verkaufen dürfen. Ist die Ernte gut,
+so wird die Steuer verdoppelt, damit neben der Regierungskasse
+der Privatbeutel des Pascha nicht zu kurz komme. Lassen die Leute
+unter diesen Umständen den Ackerbau liegen, dann kriegen sie die
+Karbatsche aus guter Rhinozeroshaut. Wenn der Bauer für Weib oder
+Kind ein armseliges Kleidungsstück kauft oder seine Lotterfalle von
+Haus wetterfest zu machen sich getraut, dann heißt's, er müsse Geld
+versteckt haben, das noch nicht besteuert sei. Kurz, die Leute müssen
+zahlen und zahlen und wieder zahlen, ob sie wollen oder nicht, ob sie
+können oder nicht; und wer nicht arbeitet, wird bis aufs Blut gequält,
+bis er mithilft, die Beamten zu bereichern. Wer ein Boot auf dem Nil
+hat, muß achtzig Mark zahlen, wenn er nicht unter ägyptischer Flagge
+fährt, und die Erlaubnis, die Flagge zu führen, kostet ebenfalls
+achtzig Mark. Dies ist's, was in erster Linie am Aufruhr schuld ist,
+nicht der Mahdi; und ich wünsche aus tiefster Seele, daß jeder Ägypter
+aus dem Land gejagt werde. Die Zustände der Sklavenwirtschaft, so
+beklagenswert sie sind, sind immerhin noch besser, als solch ein
+Regiment ägyptischer Blutsauger.«
+
+Zwischen dem Mahdi des Sudan und jenem Schulmeisterkönig des großen
+Friedens in China ist eine gewisse Ähnlichkeit unverkennbar; der
+Aufstand war beidemal der eines falschen Propheten, welcher eine
+himmlische Sendung vorgiebt, um ein im Elend verkommenes Volk für
+seine Zwecke zu gewinnen. Beiden gelang es in erstaunlicher Weise, mit
+ihren Horden das Land zu verheeren und Träume einer goldenen Zukunft
+auszustreuen.
+
+Der Mahdi wollte nichts Geringeres sein, als der Messias der
+moslemitischen Völker.
+
+Die zum Islam »Bekehrten« sind in Zentral-Afrika nach Millionen zu
+rechnen, und mit der Lehre Mohammeds hatte sich in jenen Ländern
+auch die Erwartung verbreitet, daß in der Fülle der Zeit ein Mahdi,
+d. h. Führer, erscheinen werde, dem es vorbehalten sei, das Werk des
+Propheten mit Schwerteskraft zu vollenden, um die Gottlosigkeit von
+der Erde zu vertilgen, das unschuldig vergossene Blut der Imams zu
+rächen und ein Reich der Gerechtigkeit aufzurichten.
+
+Es hat zu verschiedenen Zeiten Mahdi gegeben, und der, dem es
+neuerdings gelang, die Messiashoffnungen seiner Glaubensgenossen zu
+seinen Gunsten auszubeuten und die unterdrückten Stämme bis zu seinem
+im Sommer 1885 erfolgten Tode um sich zu scharen, war ein Eingeborner
+der Provinz Dongola, ein noch nicht vierzigjähriger Mann von hoher
+geschmeidiger Gestalt, schwarzem Bart und hellbrauner Gesichtsfarbe.
+Er hieß Mohammed Achmet und war der Sohn eines Schiffszimmermanns
+Namens Abdallah. Mohammed war der jüngere von mehreren Brüdern
+und wurde in seiner Jugend gleich diesen zum väterlichen Handwerk
+angehalten. Eine Abneigung dagegen machte sich jedoch früh bei ihm
+bemerkbar; er zog sich gern von den Menschen zurück und beschäftigte
+sich stundenlang mit dem Koran. Als junger Mensch entlief er der
+Heimat infolge einer Tracht Prügel; ging nach Khartum und schloß sich
+der »Medressu« oder freien Schule eines Fakir an, der zu Hoghali,
+einem Dorfe östlich von Khartum, dem Lehrwesen oblag. Diese Schule
+gehörte zum Grab des Scheik Hoghali, des hochverehrten Schutzheiligen
+von Khartum; und der Hüter des Schreins, obschon er für die freie
+Schule aufkommt und die Armen speist, erfreut sich einer schönen
+Einnahme seitens der andächtigen Wallfahrer. Er giebt vor, ein
+Abkömmling des ursprünglichen Hoghali und durch diesen Mohammeds
+selbst zu sein. Hier also ließ Mohammed Achmet sich nieder und
+befleißigte sich des Studiums der Religion. Nach einiger Zeit begab
+er sich nach Berber und besuchte die Schule des Scheik Ghubusch,
+der ebenfalls eines Heiligenschreins wartete. Im Jahr 1870 schloß
+er sich einem andern Fakir an, dem Scheik Nur el Daim (das ewige
+Licht). Dieser fand ihn soweit vorgerückt in der Religion, daß er ihn
+selbst zum Scheik oder Fakir bestellte, worauf der neue Lehrer sich
+auf die Insel Abba im Weißen Nil zurückzog. Dort lebte er eine Zeit
+lang in beschaulicher Stille, indem er sich in einer Höhle verbarg
+und stundenlang den Namen Gottes hersagte, viel fastete und Weihrauch
+verbrannte. Bald stand er im Geruch absonderlicher Heiligkeit; es
+sammelten sich Derwische um ihn, er wurde reich und heiratete eine
+Menge Weiber, die er sich umsichtigerweise unter den Töchtern der
+angesehensten Scheiks erwählte. Allerdings soll der wahre Moslem mit
+vier Weibern sich begnügen, und der kluge Heilige that dies auch,
+indem er, so oft er aufs neue Hochzeit hielt, eine der überzähligen
+älteren Gattinnen der Ehre seines Harems verlustig erklärte.
+
+Im Frühjahr 1881 schrieb er an alle übrigen Fakire und offenbarte sich
+ihnen als den vom Propheten verheißenen Mahdi: er habe göttlichen
+Befehl erhalten, den Islam zu erneuern, derselbe müsse die Religion
+der Welt werden, ~ein~ Gesetz, ~eine~ Freiheit müsse die
+Gläubigen verbinden, und wer nicht gesonnen sei ihn anzuerkennen,
+sei er Christ, Heide oder Mohammedaner, müsse von der Erde vertilgt
+werden. Dieses Manifest richtete er u. a. auch an Mohammed Saleh,
+den gelehrten und einflußreichen Fakir von Dongola, indem er ihn
+aufforderte, mit seinen Derwischen in Abba zu ihm zu stoßen. Dieser
+aber benachrichtigte die Regierung von dem Vorhaben Mohammed Achmets
+und fügte als sein Privaturteil die Anmerkung bei, der Mensch müsse
+geistig gestört sein. Auch die Ulema von Khartum erklärten sich gegen
+ihn, ebenso wurde er in Kairo und Konstantinopel verworfen und als
+falscher Prophet gebrandmarkt. Gleichwohl fand der Mahdi Anhänger
+genug; ihm schlossen sich alle an, die das ägyptische Regiment
+haßten, vorab die Sklavenhändler, die wohl wußten, daß sie unter einem
+Aufruhrregiment ihr Raubwesen nur um so besser würden treiben können.
+Ja Gordon war der Ansicht, daß Sebehr von Anfang an die Hand mit im
+Spiel hatte, daß er den Mahdi, wenn er ihn nicht förmlich anstiftete,
+so doch jedenfalls bestärkte, alles, um durch Aufruhr und Anarchie
+in den Sudanländern seine Freilassung und Rücksendung zu erzwingen.
+Jedenfalls gehörte ein Verwandter Sebehrs von Anfang an zu des Mahdi
+Helfershelfern.
+
+So viel ist sicher, daß der Glaube an die wahre Mission des Mahdi
+rasch um sich griff. Rauf Pascha konnte das bedenkliche Wachstum
+seiner Macht kaum unbeachtet lassen und schickte einen Botschafter
+nach der Insel Abba. »Als ich dieselbe erreichte,« berichtete dieser,
+»empfing mich Mohammed Achmet inmitten von mehreren Hunderten seiner
+Getreuen; in der Rechten hielt jeder ein Schwert. Der Mahdi saß auf
+einem erhöhten Thron, mit dem Stab des Propheten in der Hand. Auf
+meine Frage, was er beabsichtige, beschrieb er mir seine angebliche
+Sendung. Ich erwiderte ihm, daß wir alle so gut Muselmänner wären,
+als er selber. Das bestritt er, weil wir den Christen gestatteten,
+auf ihre Weise Gottesdienst zu halten, und weil unsere Regierung
+Steuern erhebe. Ich riet ihm, seine Pläne ruhen zu lassen, denn er
+könne doch nichts gegen eine Regierung ausrichten, die über Truppen
+und Schießbedarf und Dampfer verfüge. Darauf entgegnete er: ›Wenn eure
+Soldaten auf uns schießen, so werden ihre Kugeln uns nicht treffen;
+und wenn ihr mit euren Dampfern kommt, so werden diese untergehen.‹«
+
+Die Kriegs- und Eroberungszüge des Mahdi während der Jahre 1881-83 zu
+verfolgen würde zu weit führen. Es genüge zu sagen, daß eine Provinz
+nach der andern, eine Stadt nach der andern ihm zufiel. Es war die
+Zeit der Arabi-Wirren in Ägypten; man war dort kaum in der Lage, sich
+viel um den Mahdi zu kümmern. Die wichtige Stadt Obeid ergab sich ihm
+im Anfang des Jahres 1883.
+
+Erst nachdem Arabi mit Hilfe der Engländer nach Ceylon verschifft war,
+konnte man sich ägyptischerseits gegen den Mahdi wenden. Derselbe
+hatte verkündigt, daß er mit der Zeit auch berufen sei, Kairo und
+Konstantinopel zu seiner Sendung zu bekehren. Was die Statthalter
+im Sudan bisher gegen ihn unternommen hatten, war meist mißglückt
+und schon im August 1882 hatte Khartum in Belagerungszustand erklärt
+werden müssen. In diesem Jahr wurde das ägyptische Militär der Provinz
+unter die Anführerschaft des englischen Obersten Hicks gestellt,
+der mit noch andern Briten und verschiedenen sonstigen Europäern,
+darunter auch ein Deutscher, Major von Seckendorff, in des Khedive
+Dienste trat; denn da der Mahdi an alle wahren Moslemin appellierte,
+so hielt man es für geraten, ihm mit nichtmohammedanischen Kräften
+entgegenzutreten. Hicks Pascha war ein tüchtiger Offizier, der in
+Indien gedient hatte. Nach verschiedenen erfolgreichen Voroperationen
+verließ Hicks Khartum im September 1883 an der Spitze von zehntausend
+Mann mit der Absicht, den Mahdi aus Obeid zu vertreiben. Es war der
+unglücklichste Kriegszug, der je unternommen wurde. Ob und inwieweit
+Hicks der Unvorsichtigkeit zu beschuldigen war, ist nicht zu sagen,
+denn die näheren Einzelheiten der furchtbaren Katastrophe werden wohl
+nie ans Tageslicht treten. Das einzige, was verlautete, waren die
+Worte eines Zeitungskorrespondenten: »Wir wagen kein Geringes, indem
+wir unsere Verbindungslinien verlassen und über dreihundert Kilometer
+weit in ein unbekanntes Land vordringen. Die Brücke hinter uns ist
+sozusagen abgebrochen. Der Feind zieht sich vor uns zurück und das
+Land ist ausgeplündert. Wassermangel ist unsere große Sorge; die
+Kamele halten's nicht aus.« Und Schweigen umhüllte die Unternehmung,
+bis nach Wochen die Schreckensnachricht in Khartum einlief, daß Hicks
+Pascha mit seinen Zehntausend bis auf den letzten Mann aufgerieben
+sei. Der Mahdi hatte sie in eine wasserlose Wüste gelockt. Es soll
+eine dreitägige Schlacht stattgefunden, Hicks selber, als einer der
+letzten, seinen Tod gefunden haben. Gordon war der Ansicht, daß die
+Armee großenteils verdurstet sei. So viel ist sicher, daß nicht
+~ein~ Europäer entkam und daß die ägyptischen Truppen bis auf
+wenige Mann aufgerieben wurden; oder wahrscheinlich richtiger -- denn
+es war ägyptisches Militär von der »unbeschreiblichen« Sorte -- was
+von den Truppen überblieb, schloß sich dem Mahdi an. Es war eine
+Niederlage wie im Teutoburger Wald, und ein Schrei des Entsetzens
+hallte durch England. Der 1., 2. und 3. November 1883 ist das
+mutmaßliche Datum der verhängnisvollen Schlacht.
+
+Nach dieser Unglückspost waren noch zwei Engländer im Sudan: der
+bereits erwähnte Times-Korrespondent Power und Oberst Coëtlogon,
+der krank in Khartum zurückgeblieben war, als Hicks den unseligen
+Marsch unternahm. Die Folgen des Sieges für den Mahdi waren kaum zu
+überschätzen. Darfur war für den Khedive verloren; was an Provinzen
+oder Stämmen bis jetzt noch loyal war, ging zu den Rebellen über. Ein
+panischer Schrecken hatte das Land befallen; er machte sich in Kairo
+geltend, und im fernen England erlitten die ägyptischen Papiere aufs
+neue eine bedenkliche Baisse.
+
+Ägypten wird nicht in Kairo, sondern in London regiert. Das Kabinet
+Gladstone hatte sich bis jetzt geweigert, dem Mahdi mit englischer
+Macht zu begegnen, und als nach Hicks Niederlage der Sudan einem
+unentwirrbaren Knäuel von Schwierigkeiten glich, erging seitens des
+britischen Ministeriums der einem Befehl gleichkommende gute Rat nach
+Kairo, die Sudan-Provinzen fahren zu lassen. Sir Evelyn Baring, der
+englische Agent in Ägypten, sollte den Khedive dahin beeinflussen, daß
+eine feste Stellung auf der Suakimlinie vorläufig das Beste wäre. Wenn
+der Mahdi erst einmal diese Linie überschritten hätte, dann wäre es
+den Friedensministern an der Themse immerhin noch früh genug gewesen,
+ihm mit Heeresmacht zu begegnen. Die englischen Interessen in Ägypten
+freilich mußten sicher gestellt werden; der Kontre-Admiral Hewett im
+Roten Meer und Baker Pascha zu Land sollten dieselben wahren.
+
+Die Macht des Mahdi wuchs unterdessen lawinenartig, und nicht nur
+in Ägypten wurde die Meinung laut, daß eine Räumungspolitik nicht
+das Beste wäre. Daß des Khedive Grenztruppen den fanatischen Horden
+des falschen Propheten gewachsen sein würden, glaubte niemand;
+englisches oder türkisches Militär allein konnte sein Vordringen
+hindern. Aber auf englische Truppen sollte nicht gerechnet werden,
+und was die Türken beträfe, meinten die Ratgeber, wie sollte man es
+dem Beherrscher der Gläubigen selbst zumuten, einen heiligen Krieg
+mit Waffen zu unterdrücken? Denn daß es ein heiliger Krieg sei, das
+glaubten Tausende; und die Begeisterung in den Sudanländern nahm
+überhand, nun der längstverheißene Befreier gekommen schien. Die
+plötzliche Machtentfaltung des Mahdi hatte den Unterdrückten Thür
+und Thor geöffnet; er sprach von Freiheit und das seufzende Land
+erhob sich gegen das Joch der verhaßten Ägypter. Gordon hatte dies
+vorausgesehen. Hatte er nicht vor Jahren gesagt, daß ein beherzter
+Anführer jederzeit die Sudan-Völker zu einem gewaltigen Aufstand
+würde vereinigen können? Er hatte damals auch gesagt, daß gewisse
+Leute schlafen würden, bis es zu spät sei. Es waren nicht nur die
+Sklavenhändler, sondern vielmehr noch die zahllosen bewaffneten
+Araberstämme, in denen Gordon das Brandmaterial erblickte. Ein
+Anführer war erschienen, und allem nach einer, dem es an Mut nicht
+fehlte.
+
+In England also war beschlossen worden, die Sudan-Provinzen zu räumen;
+welche Anarchie alsdann daselbst herrschen würde, das fragte man sich
+vorläufig nicht. Ein lebhafter Depeschen-Wechsel zwischen London
+und Kairo fand statt. In Ägypten nämlich stieß die Räumungspolitik
+auf Widerstand. Das Ministerium Cherif erklärte, die Verwaltung des
+Sudan sei ihnen von der Pforte anvertraut, und die Räumung lasse
+sich deshalb nicht so ohne weiteres vollziehen. Cherif Pascha fügte
+seinerseits hinzu: »Wir haben Tausende von getreuen Unterthanen im
+Sudan, und nichts auf der Welt soll mich dazu bringen, diese Leute dem
+Mahdi zu überantworten. Ich bin überzeugt, daß ich recht habe; die
+Zukunft wird zwischen mir und dem Kabinet Gladstone in dieser Sache
+richten.«
+
+Damit legte das Ministerium Cherif sein Amt nieder und ein
+neues Kabinet unter Nubar Pascha trat ans Ruder. Als man diesem
+glückwünschend die Meinung aussprach, daß das neue Ministerium
+im Hinblick auf die vorhandene Krisis ein von der Klugheit
+zusammengerufenes zu sein scheine, entgegnete er trocken, dem sei
+ohne Zweifel so, das Wort Minister werde in Ägypten zur Zeit nur
+leider von dem lateinischen Wort +minus+ hergeleitet, das weniger
+als nichts bedeute. So viel war aber sicher, daß, obschon das neue
+Ministerium bereit war, sich seine Aufgabe von England diktieren zu
+lassen, damit noch keineswegs Mittel und Wege gefunden waren, die
+ägyptischen Besatzungen, um die es sich handelte, aus den dem Aufruhr
+überladenen Sudanländern zurückzuziehen. An Vorschlägen fehlte es
+nicht, aber der eine war so unausführbar wie der andere.
+
+Zwischen Dongola und Gondokoro standen etwa zwanzigtausend Mann
+ägyptischer Truppen mit Weib und Kind, und in allen Bezirken gab's
+Beamte, die das Brot der Regierung aßen und deren Lage täglich
+kritischer wurde. Unter den verschiedenen Garnisonsplätzen war Khartum
+selbst der Hauptort, dessen elftausend ägyptische Unterthanen einen
+Hilferuf nach dem andern ergehen ließen -- inständige Bitten, einen
+Rückzug ins Werk zu setzen. Khartum war damals schon wie eine von
+allem Verkehr abgeschnittene Insel; jene elftausend Menschen hätten
+sich unmöglich selbst nach Ägypten durchschlagen können. Das Land
+umher war dem Mahdi zugefallen, und fürs übrige benutzten die zum
+Feind sich schlagenden Stämme gern die Gelegenheit, den Ägyptern alle
+bisherige Unterdrückung mit Zinsen heimzugeben. Daß damit manchem sein
+verdienter Lohn geworden, unterliegt keinem Zweifel; aber, wie es
+immer geht, leiden mit einem Schuldigen zehn Unschuldige.
+
+Übrigens war nicht einmal das Nubar-Ministerium bereit, Khartum ohne
+weiteres fahren zu lassen; man hoffte diese Stadt für den Khedive
+halten zu können, selbst wenn man das Land dem Mahdi überließe --
+eine thörichte Hoffnung, welche die Schritte für den Rückzug der
+Besatzungen so lange verzögerte, bis es zu spät war.
+
+Daß England eine Verantwortung in der Sache hatte, liegt auf der
+Hand; die Räumungspolitik war britischer guter Rat; und es gab in
+England Leute genug, die sich für die Besatzungen ereiferten und es
+für schmählich erklärten, diese im Stich zu lassen. In jenen Tagen
+sprach Gladstone selbst das Wort aus: »Darin sind wir alle einig,
+daß Maßregeln getroffen werden müssen, um den sichern Rückzug der
+Besatzungen zu ermöglichen.« Die einzige Maßregel, zu welcher das
+britische Kabinet sich bis dahin aber verstehen konnte, war die
+Grenzverteidigung unter Baker Pascha, ein klägliches Auskunftsmittel
+angesichts der Sachlage. Denn auch im östlichen Sudan griff der
+Aufruhr mit Riesenschritten um sich. Die Küstendistrikte des Roten
+Meeres fielen nacheinander der Rebellion anheim, während die
+Besatzungen von Suakim, Tokar, Trinkitat und Sinkat täglich in
+schlimmere Not gerieten. Jede Post brachte bedenklichere Nachrichten.
+Das englische Volk wurde ungeduldig und erklärte, die britische Ehre
+stehe auf dem Spiel. Da fiel wie ein Blitzstrahl eines Morgens die
+Nachricht ins Land -- ~Gordon geht nach Khartum~!
+
+
+ 2. Der Kriegsheld als Friedensbote.
+
+Noch während Gordon in Jaffa weilte, waren Stimmen in England laut
+geworden, daß er der Mann sei, der allein im stande wäre, der Lage im
+Sudan Herr zu werden. Auf Engelrat könne man zwar heutzutage nicht
+warten, meinte eine dieser Stimmen, allein es wäre wünschenswert,
+daß die öffentliche Meinung zu Gladstone spreche: »So sende nun
+hin gen Joppen und laß herrufen einen Gordon, mit dem Zunamen der
+Chinese; der wird dir sagen, was du thun sollst.« Und als Gordon nach
+seiner Brüsseler Audienz in der ersten Januarwoche 1884 in England
+eintraf und es bestimmt schien, daß er nach wenigen Tagen nach dem
+Kongo abreisen werde, da ging ein Sturm durch die Zeitungen, daß man
+diesen Mann verlieren könne; er habe sich zwar dem König von Belgien
+verbindlich gemacht, allein das sei kein Hindernis, König Leopold
+werde jedenfalls zurücktreten, wenn England seines Sohnes bedürfe. Auf
+diesen Wink der Presse hin antwortete die Regierung vorläufig damit,
+daß sie es nicht für nötig fand, Gordon aus dem englischen Dienste
+zu entlassen, wenn er als Bevollmächtigter des Königs von Belgien an
+den Kongo gehen sollte; fürs übrige ließ man ihn am 16. Januar nach
+Brüssel abreisen. Keine zwölf Stunden aber vergingen, da berief man
+ihn telegraphisch zurück, und frühmorgens am 18. war er wieder in
+London. Außer den Ministern wußte kein Mensch davon. Nachmittags um 3
+Uhr hatte er Audienz, die er selbst folgendermaßen beschrieb:
+
+ »Wolseley (der bekannte General) brachte mich ins Ministerium und
+ ließ mich im Vorzimmer warten; dann kam er zurück und sagte: ›Es ist
+ beschlossen, den Sudan zu räumen, und England will für die künftige
+ Regierung der Sudanländer keinerlei Gewähr leisten. Wollen Sie
+ gehen?‹ ›Ja,‹ sagte ich. Da hieß er mich eintreten, und ich sah die
+ Minister. ›Hat Wolseley Ihnen unsere Wünsche mitgeteilt?‹ fragten
+ sie. ›Ja,‹ entgegnete ich, ›England will für die künftige Regierung
+ des Sudans keine Gewähr bieten, und ich soll gehen und das Land
+ räumen.‹ -- ›Das ist's,‹ sagten sie; ›wie bald können Sie gehen?‹ --
+ ›Sofort,‹ entgegnete ich und reiste am selben Abend ab.«
+
+Das war eine frohe Stunde am andern Morgen, als es hieß: »Gordon
+ist nach Khartum abgereist!« Die Zeitungen überboten einander mit
+Glückwünschen, und wie die Times sagte, war es unmöglich, das Gefühl
+der Erleichterung zu beschreiben, welches das Land auf und nieder
+bei der Nachricht erfüllte, daß Gordon es übernommen habe, als
+Friedensbote nach dem Sudan zu gehen. Mit diesen Worten ist auch
+die diesem übertragene eigenartige Mission charakterisiert. Die
+englische Regierung, die keine Truppen senden wollte, um dem Mahdi
+zu begegnen, war wissentlich oder unwissentlich von dem allgemeinen
+Glauben angesteckt, daß Gordon an sich ein Heer sei, und so schickte
+man ihn, um durch seinen persönlichen Einfluß ein Ziel zu erreichen,
+wozu man sonst Armeen und Millionen braucht. Nicht um einen Krieg zu
+führen, zog der Held aus, sondern um auf seine Weise den Sudan aus dem
+Aufruhr zu retten; er sollte den ägyptischen Unterthanen den Rückzug
+ermöglichen, mit dem Mahdi unterhandeln und das Land sozusagen an
+die Sudanesen zurückgeben. Es lag etwas so Romantisches in diesem
+Ausziehen eines für viele, daß das Herz des Volkes davon ergriffen
+wurde und die Wünsche aller ihn begleiteten. Gordon selbst soll gesagt
+haben: »Ich soll dem Hund den Schwanz abschneiden, und ich will es
+thun, es mag kosten was es will.« Einen einzigen Kampfgenossen hatte
+er, Oberst Stewart, den er sich zum Begleiter ausgebeten hatte,
+derselbe, der früher schon von Regierungswegen im Sudan gewesen war.
+
+Nur wer Gordon nicht kannte, mochte sich wundern, wie er so schnell
+zur Abreise bereit sein konnte; der Leser aber versteht es wohl jetzt,
+daß dieser Mann allezeit und in allen Lagen reisefertig war. Auf Erden
+angewachsen war er nirgend und seine persönliche Ausrüstung kümmerte
+ihn wenig. Es hat ihn an jenem Nachmittag des 18. Januar einer
+gefragt: »Haben Sie denn auch alles, was Sie brauchen?« Die Antwort
+lautete: »Ich habe, was ich immer habe, dieser Anzug ist gut genug.
+Ich gehe wie ich bin.« »Ja, aber haben Sie auch Reisegeld?« »Das hätte
+ich beinahe vergessen. Der König von Belgien hat mir vierhundert Mark
+geliehen; die muß er wieder haben, und ohne Geld kann ich natürlich
+nicht fort.« Als man ihm aber vierzigtausend Mark mitgeben wollte,
+meinte er, das brauche er nicht, viertausend thäten es auch.
+
+Daß es keine leichte Mission war, die er übernommen, daß Gefahren
+aller Art vor ihm lagen, wußte niemand besser als Gordon selbst, aber
+das focht ihn nicht an. Sein letztes Wort auf englischer Erde war ein
+Telegramm an seinen Freund, jenen Geistlichen, welchen er in Lausanne
+kennen gelernt hatte:
+
+ »Ich gehe nach Khartum; wenn er mit mir geht, ist alles wohl.«
+
+Der Telegraphist hatte er und nicht Er gesetzt; aber der Empfänger
+dieser Botschaft sagte mit Recht, daß in diesen kurzen Worten Gordons
+Lebensgeschichte niedergelegt sei. Gordon ging allein und nicht
+allein; »der Herr der Heerscharen geht mit mir,« schrieb er unterwegs.
+
+Unterwegs, an Bord der Tanjore, zwischen Brindisi und Port Said,
+brachte er den Zweck seiner Sendung im Licht des ministeriellen
+Auftrags zu Papier, in welchem Schriftstücke er betonte, daß es
+seitens des englischen Kabinets ausgemacht sei, für die künftige
+Regierung des Sudan keinerlei Gewähr zu leisten, daß England es
+aber unternommen habe, dem Land seine Unabhängigkeit zurückzugeben
+und ägyptische Unterdrückung nicht länger zu dulden; daß bei dieser
+Absicht sein Auftrag darin bestehe, einen sicheren Rückzug der
+Garnisonen und anderer ägyptischen Unterthanen zu bewerkstelligen und
+daß die Art und Weise dieses Rückzuges von den Umständen abhängen
+werde. Nachdem er damit seine Mission gekennzeichnet hatte, zeigte
+er weiter, wie sich dieselbe am besten ausführen lasse. Er schlug
+vor, daß man das Land den Erben der verschiedenen Sultane übergeben
+könne, die vor der ägyptischen Eroberung die Sudan-Provinzen
+beherrschten, und daß es diesen überlassen bleiben müsse, den Mahdi
+anzuerkennen oder nicht. Ferner machte er darauf aufmerksam, daß die
+Rückzugskolonnen eines Angriffs seitens des Mahdi wohl gewärtig sein
+müßten, in welchem Fall er voraussetzte, daß die Regierung es billigen
+würde, wenn er zu den Waffen griffe.
+
+Es war Gordons Absicht, sich direkt durch den Suezkanal nach Suakim
+zu begeben und von dort durch die Wüste und über Berber nach Khartum
+zu gelangen. Er glaubte seiner Sendung als Friedensbote an das
+unglückliche Land besser genügen zu können, wenn er direkt hinkomme,
+ohne sich erst mit Ägypten ins Einvernehmen zu setzen. Als er aber
+in Port Said eintraf, war Sir E. Baring mit noch anderen von Kairo
+gekommen, um ihn aufzufordern, sich dahin zu begeben. Auch war die
+Nachricht angelangt, daß die Suakim-Route nun vollständig in den
+Händen der Rebellen und somit abgeschnitten sei. Er fügte sich den
+Umständen und hielt sich zwei Tage in Kairo auf. Großer Freundlichkeit
+seitens des Khedive hatte er sich nicht versehen, denn mit seiner
+Meinung über dessen Politik hatte er nie und nirgend hinter dem Berg
+gehalten; trotzdem sprach jener ihm seine volle Befriedigung darüber
+aus, daß er die Beruhigung des Sudan übernommen habe, und verlieh ihm
+zu diesem Zweck seine alte Oberstatthalterwürde. Allerdings war dies
+unter den vorliegenden Umständen mehr Form als Inhalt; des Khedive
+Firman aber beauftragte ihn nicht nur mit der Räumung des Landes,
+sondern mit der Reorganisation desselben, wenn es möglich wäre, die
+Provinzen der Anarchie zu entreißen. Gordon ging also einerseits als
+englischer Friedensbote nach Khartum, andererseits aber kehrte er in
+diese Hauptstadt als der Generalgouverneur der Provinz zurück, um sie
+so lange zu halten, bis man den Sudan sich selbst überlassen könne.
+Es lag kein Widerspruch in dieser doppelten Sendung, war doch der
+Zweck beider derselbe. Die englische Regierung billigte die Haltung
+des Khedive, und Sir E. Baring versicherte Gordon, daß der völlige
+Beistand beider, der englischen wie der ägyptischen, Behörden zu Kairo
+ihm gewiß sei.
+
+Ehe Gordon die ägyptische Hauptstadt verließ, empfahl er die
+Wiederernennung eines Sultans von Darfur als ein Stück richtiger
+Taktik gegenüber dem Mahdi. Infolge dieses Rates wurde Emir Abdel
+Schakur, der rechtmäßige Erbe, vom Khedive als Beherrscher der Provinz
+anerkannt, die seinem Vater vor Jahren entrissen worden war. Der junge
+in Ägypten aufgewachsene Sultan verließ Kairo unter Gordons Schutz,
+entpuppte sich unterwegs aber als ein unfähiger Weichling. Am 26.
+Januar wurde die Reise nach Khartum angetreten. Der Weg sollte über
+Assuan nach Wady Halfa gehen, von wo aus Gordon durch die nubische
+Wüste nach Abu Hamed zu ziehen gedachte, um von da aus Khartum mit
+einem Nilboot zu erreichen.
+
+Ob Gordon aber die bedrängte Stadt je sehen werde, das wurde nicht
+nur in England, sondern alsbald durch die ganze Welt zur Tagesfrage;
+der Held auf seinem Ritt durch die Wüste war ein Gegenstand der
+lebhafteren Teilnahme. Wußte man doch, daß der Feind in allen
+Richtungen streifte, daß aufrührerische Scheiks mit ihren Stämmen den
+Friedensboten stündlich überfallen konnten. Es war eine Wüstenstrecke
+von vierhundert Kilometer, die der furchtlose Gordon mit seinem
+Geleitsmann Stewart und einem geringen Gefolge von nicht zehn Mann
+auf raschen Kamelen zu durcheilen gedachte. Khartum war von Kairo aus
+benachrichtigt worden, daß Gordon in drei Wochen daselbst einzutreffen
+gedenke. »Es ist erstaunlich,« rief der junge Power, der ihn dort
+sehnlichst erwartete; »es hat noch nie einer diese Reise unter einem
+Monat gemacht. Gordon aber mit Schwert und Bibel fährt wie ein Wirbel
+durchs Land.«
+
+Kein Feind belästigte ihn, der alte Zauber zog vor ihm her, oder wie
+er es nannte, ihn geleitete die Wolke bei Tag, die Feuersäule bei
+Nacht, und er war sicher in Feindesland. Eine friedliche Begegnung
+hatte er auf dem halben Wege, nämlich den letzten Flüchtling von
+Khartum, dem es gelang Kairo zu erreichen; es war dies ein Deutscher,
+Namens Bohndorff, der mit +Dr.+ Junker im Njamnjamlande
+wissenschaftliches Forschungen obgelegen hatte, bis es fast zu spät
+war zu entkommen. Sie waren alte Bekannte; Gordon hatte mit diesem
+Deutschen früher schon am Weißen Nil verkehrt. Bohndorff beschrieb
+die Begegnung: eine Staubwolke am Horizont und ein sich daraus
+loslösender Reitertrupp, der Anführer voraus, und man erkannte von
+weitem den ernsten Eifer, der ihn seinem Ziele entgegentrug. Von
+Bohndorff erfuhr Gordon, wie es in Khartum stehe, daß außer den beiden
+Engländern Power und Coëtlogon nur ein Europäer noch dort sei, nämlich
+der österreichische Konsul Hansal, welche Bemerkung übrigens eine
+Anzahl ansässiger Griechen außer acht ließ. An sechzigtausend Seelen,
+worunter zahlreiche Flüchtlinge aus der Umgegend, wären in der Stadt
+-- ein Bild der Sorge und Niedergeschlagenheit -- doch werde die Ruhe
+aufrecht erhalten, und Oberst Coëtlogon lasse sich die Befestigung
+angelegen sein.
+
+Wenn man in England und anderwärts um Gordon sorgte, so war dies
+nicht ohne Grund, denn die Nachrichten aus dem östlichen Sudan
+waren nichts weniger als beruhigend. Am 4. Februar erlitt Baker
+Pascha mit seinen vierthalbtausend Ägyptern und etlichen englischen
+Offizieren eine gründliche Niederlage bei Trinkitat, als er einen
+Versuch machte, Tokar und Sinkat zu entsetzen. Er hatte sein Bestes
+gethan, die erbärmliche Mannschaft, welche ihm zu Gebote stand,
+einen zusammengeworfenen Haufen ägyptischer Gendarmerie, türkischer
+Baschi-Bosuks und Schwarzer aus dem Sudan, annähernd kriegstüchtig zu
+machen; aber gleich beim ersten Zusammenstoß mit des Mahdi Heerführer,
+Osman Digna, überfiel die Helden eine Todesangst, und sie machten
+nicht einmal den Versuch Stand zu halten. Die einen schossen ihre
+Flinten ab und schrieen um Gnade, während die anderen ihre Waffen von
+sich warfen und in wilder Flucht davon stürzten. An hundert Offiziere,
+darunter die Mehrzahl der englischen Offiziere, kamen um, und nur ein
+kleiner Teil der Truppen gelangte nach der Uferstadt Trinkitat zurück,
+von wo sie ausgezogen waren. Baker selbst kam nur wie durch ein Wunder
+davon, nachdem er sich vergeblich bemüht hatte, seine flüchtigen
+Helden zum Stehen zu bringen.
+
+Osman Digna war der Mann, diesen Sieg auszubeuten. Man erwartete,
+daß er sich auf Suakim werfen werde. Ringsumher hatte er die Stämme
+gewonnen, und selbst in dieser Hafenstadt brachte der Schrecken viele
+dazu, sich für den Mahdi zu erklären. Sinkat fiel; die Besatzung hatte
+sich gehalten, bis der letzte Hund verzehrt war. Man schlachtete die
+Pferde; noch ein Sack voll Korn war übrig, und der tapfere Kommandant
+Thewsik Bey hatte erklärt, daß wenn bis zum achten Februar keine Hilfe
+komme, er den letzten verzweifelten Ausfall machen müsse, um einen
+besseren Tod zu finden, als das Verhungern innerhalb der Mauern. Er
+erfuhr nichts von Baker Paschas Niederlage, und nachdem auch sein
+letzter Hilferuf ungehört verhallt war, vernahm die Welt, daß die
+Belagerung von Sinkat mit einem todesmutigen Ausfall der Besatzung
+geendet habe, der ägyptischen Truppen ein weit rühmlicheres Zeugnis
+ausstellte, als man seither zu hören gewohnt war.
+
+Das war Wasser auf die Mühle der Opposition in England; es gab eine
+heiße Debatte im Parlament. Gladstone erklärte, man sei deshalb der
+Besatzung von Sinkat nicht zu Hilfe gekommen, weil man nichts thun
+wolle, was irgendwie von Folgen für jene anderen Besatzungen sein
+könne, die Gordon zu retten versuche. Es sei geboten, sich ruhig zu
+verhalten. Angesichts dieser Erklärung jedoch und unter dem Drucke der
+öffentlichen Meinung wurde der britische General Graham, zur Zeit in
+Kairo, damit beauftragt, Tokar zu entsetzen. Noch ehe derselbe aber
+mit seiner Mannschaft in Trinkitat gelandet war, hatte Tokar sich
+ergeben, und die Besatzung war zum Feind übergegangen. Der Fall von
+Kassala wurde als das nächste erwartet, und auch die Ufer-Distrikte
+um Massaua her schienen dem Mahdi zuzufallen; es blieb nichts übrig,
+als die Araber unter Osman Digna bei Suakim zu erwarten und von dort
+zurückzuwerfen.
+
+Osman Digna war ein tüchtiger Soldat; er war Sklavenhändler gewesen
+und jetzt die rechte Hand des falschen Propheten. Dieser hatte ihn auf
+dem Sklavenmarkt zu Obeid kennen gelernt und mit großem Scharfblick
+seine Brauchbarkeit erkannt; er hatte ihn für seine Pläne gewonnen,
+worauf er ihm den Ost-Sudan übertrug, damit er dort Land und Leute
+für seine angebliche Mission gewinne. Mit siegreichen Waffen hatte
+Osman Digna des Propheten Werk seither ausgerichtet; jetzt aber galt
+es einem englischen General und englischen Linientruppen stand zu
+halten; er erlitt seine erste Niederlage und wurde ins Innere des
+Landes zurückgeworfen. Keineswegs aber streckte er die Waffen, und so
+spann sich ein englischer Separatkrieg im Ost-Sudan hin, während die
+Räumung des Landes auf friedlichem Weg ins Werk gesetzt werden sollte!
+Osman Digna bekämpfte man, den Mahdi wollte man nicht bekämpfen, und
+die Parteien stritten sich im Parlament.
+
+Und Gordon? Er wußte von all dem nichts. In felsenfestem Vertrauen
+eilte er durch die Wüste, unbesorgt um seine eigene Sicherheit,
+während man auf Kanzeln und Rednerbühnen seiner gedachte, während viel
+tausend Herzen ihm ein Engelgeleit in den Gefahren wünschten, die ihn
+umgaben. Gefahren? Er sah sie nicht! Einem Scheik, der ihm quer kam,
+sagte er: »Wenn ihr Frieden wollt, ich bringe ihn; sucht ihr Krieg,
+so bin ich bereit.« Und der verzagenden Khartumer Garnison meldete er
+telegraphisch seine Nähe mit den Worten: »Ihr seid Männer und nicht
+Weiber. Seid guten Muts, ich komme.«
+
+
+ 3. Gordon im Land.
+
+War schon in England die Befriedigung eine allgemeine gewesen, als
+Gordon nach Khartum sich auf den Weg machte, so war's noch ein
+anderes in Ägypten. Eine Begeisterung sondergleichen erfüllte Land
+und Leute bei seinem Kommen. Man wußte dort ungleich besser, was
+man an ihm hatte, als daheim in England. Die Thaten seiner früheren
+Statthalterschaft waren auf aller Lippen; man sprach von ihm als einem
+Unüberwindlichen, dessen bloße Gegenwart Wunder wirken werde in dem
+zerrütteten Land. Des Mahdi Kriegsheer werde in nichts zerstieben wie
+Dunst vor der Sonne, rief das Volk, und des guten Pascha feste Hand
+werde alle Wunden heilen, die jener geschlagen. »Ich gehe, um die
+Ehre Ägyptens zu retten,« war Gordons letztes Wort an Nubar; daß er
+Englands Ehre in seiner Hand trug, wußte er nicht minder. Auf jenem
+Wüstenritt nach Abu Hamed durchstritt er im Geist die Kämpfe, die es
+zu liefern geben würde, und hätte er nur verwirklichen können, was
+sein hoher Sinn und sein unbefangenes Auge als das richtige erkannten,
+hätte man ihm nur freie Hand gelassen, es ließe sich wohl ein anderes
+Lied singen von der Heldenzeit in Khartum. Als die glitzernde
+Sandwüste hinter ihm lag, wußte er, was er zu thun habe, und stand
+gegürtet zur Schlacht.
+
+Er brauchte nicht weit vorzudringen, um Beweise zu finden, daß
+ägyptische Beamtenwirtschaft des Mahdi Handlangerin war; diesen
+hielt er übrigens für weniger stark als die Sage ging. So fand er
+die Eisenbahnarbeiter zu Assuan in größter Armut, weil ihre Löhnung
+seit Monaten im Rückstand blieb; der Hunger hatte da dem Propheten
+Glauben verschafft, und Gordon telegraphierte alsbald an Sir E.
+Baring, er solle den Leuten ohne weiteren Verzug ihr Geld schicken.
+Ebenso entdeckte er, daß der Aufstand zwischen Suakim und Kassala
+lediglich der Habsucht zweier Paschas zuzuschreiben war. Diese
+waren mit den Scheiks des Hadendoa-Stammes eins geworden, ihnen für
+Truppentransporte sieben Thaler für jedes Kamel zu geben; als die
+Hadendoas aber etwa zehntausend Mann durch die Wüste befördert hatten,
+erhielten sie je einen Thaler, während die übrigen sechs ganz ohne
+Zweifel im Privatbeutel der Pascha stecken blieben. Da erhob sich
+der Stamm, schloß sich Osman Digna an, und das Resultat war Bakers
+Niederlage.
+
+Als erste Abschlagszahlung in der Räumungspolitik hatte Gordon schon
+von Korosko aus an Nubar Pascha telegraphiert:
+
+ »Eine Anzahl Weiber und Kinder sind nach Ägypten auf dem Weg; suchen
+ Sie einen menschenfreundlichen Mann, daß er sich ihrer annehme.«
+
+Und nachdem er in Abu Hamed an die englische Regierung berichtet und
+darauf hingewiesen hatte, daß es so unpraktisch wie unrecht wäre, den
+Sudan sich selbst zu überlassen, ehe man von geordneten Verhältnissen
+daselbst reden könne, bestieg er ein Nilboot und erreichte Berber am
+11. Februar.
+
+Hier erließ er seine Proklamationen. Den Einwohnern der Stadt Berber
+sagte er, daß er gekommen sei, Frieden zu bringen, ja Freiheit von
+aller Unterdrückung, daß er bereit sei ihnen zu helfen, Ruhe und
+Ordnung herzustellen, und daß er ihnen zeigen wolle, wie das Land sich
+künftighin selber regieren könne. Alle vorenthaltenen Rechte sollten
+ihnen wieder werden; er habe nur den einen Wunsch, Gerechtigkeit
+walten zu lassen und Blutvergießen zu verhindern. Alle rückständigen
+Steuern bis zum Ende des Jahres 1883 seien gestrichen und alle Steuern
+des laufenden Jahres auf die Hälfte reduziert. Der Sudan gehörte nicht
+fremden Erpressern, sondern von jetzt ab den Kindern des Landes. Der
+beste Beweis, daß man ihm glaubte, liegt wohl darin, daß etliche
+hundert Leute sich um Ämter bei ihm meldeten; von großer Freude
+erfüllt illuminierten sie ihm zu Ehren ihre Stadt. Der englischen
+Regierung, die ihn gewarnt hatte, sich ja nicht in unnötige Gefahr
+zu begeben, konnte er hierauf erwidern, es habe keine Not, die Leute
+wären im Gegenteil froh und dankbar, von einer Oberherrschaft befreit
+zu werden, die ihnen nur Elend gebracht habe. Er hielt sich nur wenige
+Tage in Berber auf, aber es genügte, um seinen alten Einfluß geltend
+zu machen und ihm das volle Vertrauen der Stadt zu sichern. Und nun
+gar die Weiterreise nach Khartum! In englischen Zeitungen war die
+Besorgnis oben auf, wie sich Gordon durch die aufrührerischen Stämme
+durchschlagen werde; der Weg durch die Wüste sei nichts gewesen gegen
+die weit größere Gefahr der Nilreise, lägen doch die schwarzbraunen
+Feinde im Hinterhalt an beiden Ufern des Flusses, ihre Speere seien
+lang und ihre Hinterlist groß. Nichts dergleichen! Sie bildeten
+Spalier am Fluß hin für den Befreier des Landes, der sich auch gar
+nicht scheute, unter ihnen umher zu gehen. Sie kannten ihn alle. Und
+je weiter er vordrang, um so größer die Begeisterung; das Volk empfing
+seinen Retter mit Frohlocken, gleich einem Schutzengel, der eine Weile
+entschwunden war und nun zurückkommt aus der unbekannten Welt des
+Friedens, nach der man sich sehnt.
+
+Auch in Khartum wußte man, wessen man sich zu ihm zu versehen habe.
+Sein Manifest war ihm vorausgeeilt. Es lautete folgendermaßen:
+
+ »Vernehmet, daß ich gekommen bin, das Land aus der Not zu befreien,
+ in die es geraten ist, Ruhe herzustellen und Blutvergießen der
+ Moslems zu verhindern, den Einwohnern einen geordneten Wohlstand zu
+ sichern, Weib und Kind ihnen zu schützen und all der Ungerechtigkeit
+ und Unterdrückung zu steuern, die an diesem Aufruhr schuld sind.
+
+ »Ich habe aus diesem Grund alle rückständigen Steuern vergangener
+ Jahre erlassen und habe die Steuern des laufenden Jahres, sowie
+ alle unter Rauf Pascha eingeführte Besteuerung auf die Hälfte
+ herabgesetzt. Ich will euch vor Ungerechtigkeit schützen, damit der
+ Ackerbau und Handel erblühe und Wohlstand gedeihe. Ich gebe euch das
+ Recht zurück, die Sklaven, die in eurem Dienste sind, zu behalten,
+ und weder die Regierung noch sonst jemand wird es euch künftighin
+ wehren. Haltet Frieden; gebt euch nicht dem Verderben hin und bleibt
+ fern von des Teufels Weg. Benachrichtigt alle Einwohner von der guten
+ Kunde, auf daß sie den Weg der Gerechtigkeit betreten und vom Bösen
+ sich abwenden.
+
+ »Wer mich sehen will, der komme und fürchte nichts.
+
+ ~Gordon~
+ Generalgouverneur des Sudan.«
+
+In Khartum herrschte nur Freude, in England aber gab's böses Blut, als
+diese Proklamation bekannt wurde. Was, der will den Leuten im Sudan
+erlauben ihre Sklaven zu behalten, anstatt ihnen von der Freiheit der
+christlichen Zivilisation zu sagen, die alle frei macht! Der Sturm,
+der bei dieser Erklärung in gewissen Kreisen losbrach, lieferte den
+ersten Beweis davon, daß England seinen Gordon noch nicht kannte.
+Unbegreiflicher Mensch dieser Gordon, glaubt der, mit schlechten
+Mitteln könne man Gutes thun? England, das in aller Welt sich als den
+Befreier von Sklavenketten rühme, sei durch solche Haltung geschändet.
+Die wenigsten Leute hatten die kühle Überlegung, Gordons Urteil zu
+verstehen.
+
+ »Was für tolles Zeug!« rief er aus, als ihm die Nachricht von dem
+ Entsetzen kam, das sein Manifest in England hervorgerufen. »Ist es
+ nicht offenkundig erklärt worden, daß der Sudan geräumt werde und die
+ Sudanesen sich selbst überlassen bleiben sollten? Wenn das Volk aber
+ hier seinen Willen hat, so hält es Sklaven. Was hätte es genutzt,
+ die Leute an den kraftlosen Vertrag von 1877 zu erinnern, wenn man
+ sie sich selbst überlassen will? Und ist nicht der ~eine~ Zweck
+ meiner Sendung der, die Garnisonen und andere ägyptische Flüchtlinge
+ womöglich ohne Blutvergießen aus dem Land zu bringen? Was ich den
+ Leuten über die Sklaven gesagt habe, war nicht mehr und nicht weniger
+ als eine Plattheit!«
+
+Und anderswo erinnert er seine Ankläger daran, daß er während
+der Jahre seiner Kämpfe mit den Sklavenjägern nicht einen Finger
+geregt habe, die Sklaven im Hausstand, d. h. die ~leibeigenen
+Dienstboten~, zu befreien, während er doch mehr wie einmal sein
+Leben einsetzte, der Sklaven~jagd~ das Genick zu brechen. Gordon
+hat immer dafür gehalten, daß es ein Unrecht an den Leuten wäre,
+ihnen zwangsweise und ohne Vergütung die hergebrachten Dienstsklaven
+zu nehmen, und es war ein zu klar denkender Kopf, um sich über die
+Zukunft des Landes, das er räumen sollte, auch nur einen Augenblick
+einer Täuschung hinzugeben. Die harmlose Ansicht, daß der sich
+selbst überlassene Sudanese keine Sklaven halten werde, konnte ihn
+nicht beeinflussen, und nur ein Fanatiker hätte nach Khartum gehen
+können und sagen: »Hier bin ich und bringe euch im Namen zweier
+Nationen eure Unabhängigkeit zurück. Das Land sei künftighin euch
+überlassen, lebt darin nach eurem herkömmlichen Brauch. Haltet Frieden
+miteinander und Gott schenke euch Gedeihen, aber daß ihr euch nicht
+untersteht, eure Dienstboten als Sklaven zu betrachten« -- wenn doch
+der altherkömmliche Brauch den dienenden Stand leibeigen macht! Der
+bemittelte Sudanese hält Sklaven wie die Juden und Römer im Altertum.
+Gordon wußte das; vielleicht dachte er auch daran, daß Paulus dem
+Philemon seinen entlaufenen Sklaven zurückschickte. Hoffentlich denkt
+niemand, man wolle hiermit der Sklaverei das Wort reden; es soll nur
+der sentimentale Eifer damit ins Licht gestellt werden, der sich
+berufen fand, Gordon unbesehen zu verdammen.
+
+Am 18. Februar erreichte er Khartum. Als er durch die Straßen ging,
+drängten sich die Leute zu Hunderten um ihn; alle wollten ihm die Hand
+küssen. Einige freudetolle Weiber gingen so weit, ihm die Füße küssen
+zu wollen, und zweimal lag der Generalgouverneur am Boden, ehe er
+sich's versah. Er hatte nur wenige Worte gesprochen, aber es waren
+Worte voll goldener Hoffnung: »Ich bin ohne Soldaten, aber mit Gott zu
+euch gekommen, um der Not dieses Landes zu steuern,« sagte er. »Ich
+will nicht mit Waffen, sondern durch Gerechtigkeit hier kämpfen. Die
+Zeit der Baschi-Bosuks ist vorüber.«
+
+Das war ein Jubel! Kein Wunder, daß Power schon nach wenig Tagen
+schreiben konnte: »Gordon hat aller Herzen gewonnen. Er ist Diktator
+hier; der Mahdi gilt nichts mehr. Es ist erstaunlich, den Einfluß
+dieses einen Mannes über Tausende zu sehen. Mütter bringen ihm ihre
+kranken Kinder, daß er sie anrühre.« Wo er sich blicken ließ, rief
+das Volk: Sultan! Vater! Retter! und wer etwas zu klagen hatte, dem
+lieh er sein Ohr. Noch ehe die Sonne unterging, die seinen Einzug
+beleuchtete, ließ er alle Rechnungsbücher der ägyptischen Regierung,
+alle Peitschen und Marterwerkzeuge auf dem freien Platz vor seinem
+Palast aufhäufen und anzünden; es war das Autodafé der Unterdrückung,
+lachend und weinend tanzten die Leute um dasselbe her. Er besuchte
+das Gefängnis und ließ alle Ketten fallen; Hunderte schmachteten
+da, Männer, Weiber und Kinder, Schuldige und Unschuldige -- er gab
+ihnen allen die Freiheit. Ein alter Scheik wurde aus einem Tragbett
+vor ihn gebracht; der Ex-Statthalter Hussein Pascha Cherif hatte den
+Ärmsten bastonnieren lassen, bis seine Füße nur noch unförmliche
+Massen blutenden Fleisches waren. Gordon sagte nicht viel, aber er
+telegraphierte alsbald nach Kairo und forderte, daß jenem Hussein
+tausend Mark von seinem Gehalt abgezogen würden, die dem Opfer
+seiner Grausamkeit zu gut kommen sollten. Dann ließ er das Gefängnis
+anzünden, und weit in die Nacht hinein verkündeten die Flammen, daß es
+mit solcher Tyrannei auf immer vorbei sei.
+
+So that der weise Mann was er konnte, um die Mithilfe des Volkes für
+die große Arbeit zu gewinnen, die er übernommen hatte. Er öffnete die
+Thore der Stadt und erklärte den Markt frei, der bisher nur durch
+»Bakschisch« den Händlern offen stand. Und gleich vom ersten Tag an
+sahen die Leute die ihnen von früher in angenehmer Erinnerung stehende
+Brieflade wieder, welche an der Hauptthüre des Regierungspalastes zu
+dem Zweck angebracht war, daß jeder, auch der geringste, mit dem
+Oberstatthalter verkehren könne, so er es begehre. Als nach einiger
+Zeit Oberst Coëtlogon Khartum verließ, um seinen Weg nach Ägypten und
+England zurückzufinden, gab Gordon ihm die Versicherung mit, daß die
+Zurückbleibenden in der Stadt so sicher wären wie ein Spaziergänger
+im Kensington Park. Was den jungen Power betrifft, so hat sich dieser
+so für Gordon begeistert, daß er sich für Khartum entschied, so lang
+Gordon bleibe. »Er vollbringt Wunder hier,« meldete er der Times.
+
+Militärische Änderungen anlangend, so hatte Gordon bestimmt, daß
+die eingeborenen Truppen in Khartum verbleiben, während die weiße
+Mannschaft nach Fort Omderman auf der anderen Seite des Weißen Nils
+sich zurückziehen sollte, wo sie mit ihren Familien und den andern
+auf »Reisegelegenheit« wartenden Ägyptern bleiben würden, bis man
+sie nilabwärts schaffen könnte. Einen Neger, der sich unter Bazaine
+in Mexiko das Kreuz der Ehrenlegion erworben hatte, ernannte er zum
+Truppenbefehlshaber, was allgemeine Befriedigung hervorrief. Seinen
+Geleitsmann, den Oberst Stewart, ließ er den Weißen Nil hinauf
+dampfen, damit er rekognosziere und Gordons Proklamation auch dort
+bekannt mache. Auf der ersten Strecke, etwa sieben Stunden weit,
+schien das Land ruhig; dann erreichte er ein aufrührerisches Dorf,
+wo die Leute übrigens froh waren zu hören, daß er Frieden bringe.
+Es lagen etwa fünfhundert Mann bewaffnete Rebellen in demselben. In
+einem Dorf weiterhin fand sich ein Scheik, der kurz zuvor vom Mahdi
+zum Bezirksstatthalter ernannt worden war, damit er die Gegend für
+den Propheten gewinne. Andere Scheiks, mit denen Stewart verkehrte,
+erklärten ihm, daß ihnen nichts übrig bleibe, als sich dem Mahdi
+anzuschließen, wenn ihnen nicht von einer tüchtigen Regierung Schutz
+würde. Ganz Gordons Ansicht, die er bis zuletzt festhielt; den Sudan
+sich selbst überlassen, ehe der Mahdi aufs Haupt geschlagen ist, heißt
+nichts anders, als die Leute zwingen, ihn anzuerkennen.
+
+Der Mahdi saß zur Zeit noch in Obeid, etwa dreihundert Kilometer von
+Khartum entfernt. Dort hingen ihm die Araberstämme an, deren jeder
+sechs- bis achttausend Berittene ins Feld bringen konnte. Seine Macht
+war zwar allem nach überschätzt worden, aber Gordon verlor keine Zeit,
+es der englischen Regierung nahe zu legen, daß sein Einfluß, oder
+vielmehr die Furcht vor ihm, das Land regiere, und daß es dringend
+geboten sei, ihm entgegenzutreten; eine geringe Abteilung indischer
+Truppen nach Wady Halfa zu beordern, würde vorläufig genügen. Man nahm
+seinen Rat nicht an!
+
+Gordons Friedensbotschaft war nun allerdings von bester Wirkung
+gewesen, allein diese Wirkung erstreckte sich nicht weit über Khartum
+hinaus, und selbst in dieser Stadt wurde ein Nachlassen der guten
+Stimmung fühlbar, wie aus einer Proklamation hervorgeht, die Gordon
+schon Ende Februar erließ, worin er strengere Maßregeln ankündigte
+und solchen, die im geheimen die Rebellen begünstigten, anzeigte, daß
+er ein Auge auf sie habe. Viele Stämme um Khartum her, und wiederum
+zwischen dieser Stadt und Berber und Dongola, waren aufrührerisch und
+mehr oder weniger eine wachsende Quelle der Sorge für ihn; während die
+Bevölkerung zwischen Suakim und Kassala teils in offenem Aufruhr war,
+teils den Lauf der Dinge abwartete, um an den Sieger sich zu halten.
+Es war ihm klar, daß Khartum selber früher oder später keine andere
+Wahl haben würde. Khartum würde sich halten, so lange er dort sei,
+was aber, wenn er die Besatzungen zurückgezogen und das Land geräumt
+habe? Er würde die Anarchie zurücklassen und nichts würde dem Volk
+übrig bleiben, als den Mahdi anzuerkennen. Er betonte es in seinen
+Depeschen immer schärfer, daß England die Verpflichtung obliege, dem
+Volk die Möglichkeit einer Regierung an die Hand zu geben, die sich
+werde behaupten können; es müsse dies ein Mann sein, der dem falschen
+Propheten gewachsen sei, einer der Einfluß im Land habe, der die
+persönliche Macht besäße, sich als Herrscher geltend zu machen, der
+das Volk zusammenhalten würde, selbst wenn er es durch Furcht regiere.
+Es galt zwischen zwei Übeln zu wählen, und der Mahdi war für das Land
+von zwei Machthabern weitaus der schlimmere. In der Art und Weise,
+wie das Volk ihm selber zugefallen war, hatte Gordon erkannt, daß es
+sich nach einem kraftvollen Herrscher sehne und einem solchen sich
+mit Freuden ergeben würde; er sah sich vergebens nach einem solchen
+um, unter den Scheiks und kleinen Sultanen war keiner, der Manns genug
+gewesen wäre, sich nur einen Tag zu halten. Er blickte weiter und sah
+nur einen, der im stande wäre in die Bresche zu treten, und Gordon
+schlug ihn vor -- ~es war sein Todfeind Sebehr Rachama~.
+
+
+ 4. Im Stich gelassen.
+
+Wenn eine Bombe aus blauem Himmel in die englische Welt gefallen
+wäre, es hätte kein größeres Erstaunen verursacht, als die über Kairo
+in London eingelaufene Nachricht, daß Gordon als beste Lösung der
+Frage, wie der Sudan zu Ruhe und Ordnung zurückzubringen sei, der
+britischen Regierung vorgeschlagen habe, den alten Sklavenhändler
+Sebehr ins Land zu setzen, damit er es gegen den Mahdi halte. Gordons
+Rat, dessen Ausführung er bis zuletzt für den richtigen, weil einzig
+möglichen Ausweg hielt, ging dahin, daß England dem schwarzen Pascha
+einen moralischen Halt gewähren sollte -- wie es beim Amir von
+Afghanistan geschieht -- und dazu auf zwei Jahre einen jährlichen
+Beitrag von zwei Millionen Mark. Zwar könne man den Türken das Land
+überlassen, aber diese müßten dann noch ganz anders unterstützt
+werden, abgesehen davon, daß man damit wieder eine Fremdherrschaft
+aufrichte. Sebehr sei der eine Mann aus den Sudanländern selbst, der
+dem Mahdi gewachsen sei; dieser könne dann immerhin als »Papst« sich
+geltend machen, wenn jener als Sultan die weltliche Herrschaft in
+fester Hand halte. Die Sudanesen würden ihn als ihren Landsmann mit
+Freuden anerkennen und seiner Überlegenheit sich fügen, wodurch eine
+einigermaßen ordnungsmäßige Regierung möglich werde, während sonst
+alles in Anarchie versinke. Was die Sklavenjagd betreffe, so sei sie
+einst schlimm genug unter dem schwarzen Pascha gewesen, sie würde aber
+zehnmal schlimmer werden unter dem Mahdi; Sebehr sei also auch in
+diesem Stück das geringere Übel von zweien. Fürs übrige wollte Gordon
+den Sebehr teilweise durch Vertrauen gewonnen haben. Sebehr sollte
+die ihm zugedachte Würde unter der Bedingung annehmen, daß er als
+Beherrscher des Sudans kein Sklavenjäger sein werde, und Gordon wollte
+es selbst übernehmen, daß diese Bedingung darum jenem nicht allzuviel
+freie Wahl ließe, weil er, Gordon, die eigentlichen Jagdreviere
+am Äquator seine eigene Sorge hätte sein lassen, indem er dort im
+Auftrag des Königs von Belgien den Kongostaat weiter ausgestaltet und
+die hilflosen Negerstämme um sich gesammelt hätte. Es war die alte
+Politik Gordons, wo anderes fehlschlug, durch seine Feinde selbst das
+gesteckte Ziel zu erreichen; diese Politik mag den wenigsten Leuten
+einleuchten, man kann aber nur daran erinnern, daß es in Gordons
+Leben an Belegen nicht fehlt, wie gerade diese Taktik zu glänzenden
+Erfolgen geführt hat. Gordon war der letzte, der Sebehrs früheres
+Leben guthieß, und besser als sonst jemand kannte er die Geschichte
+verübter Greuel, die dieser zu verantworten hatte, ja, die er durch
+den Tod seines Sohnes und seine eigene zehnjährige Gefangenschaft
+hatte büßen müssen; dies aber hinderte ihn nicht, die politische
+Tüchtigkeit des Mannes anzuerkennen, und da seine Energie, seine
+Umsicht und sein Organisationsvermögen jetzt zu Besserem zu gebrauchen
+waren als zu Aufwiegelungen und Sklavenrazzien, so riet er, diese
+Eigenschaften zum Besten des Landes zu verwenden. Daß Sebehr ihn als
+seinen Züchtiger haßte und unter Umständen mit eigener Hand erstochen
+hätte, das kümmerte ihn keinen Augenblick, ja er ging so weit, den
+Vorschlag zu machen, er und Sebehr miteinander wollten die gewünschte
+Ordnung im Sudan aufrichten und miteinander würde es ihnen gelingen.
+Nur ein Mann wie Gordon konnte auf solche Pläne geraten, und hätte
+man ihm freie Hand gelassen, er hätte sie sicherlich ausgeführt! Daß
+die überklugen Diplomaten, die seinen Antrag im Kabinettsrat mit der
+Lupe der Staatswissenschaft untersuchten, sich nicht mit ihm einigen
+konnten, ist begreiflich; man kann sie auch aus Gründen der Theorie
+nicht tadeln, man kann aber darauf hinweisen, daß ihre Klugheit in
+der Folge zu Schanden geworden ist. Freilich hätte auch Gordon eine
+Täuschung erleben können, wenn man ihm Sebehr bewilligt haben würde,
+aber selbst dann hätten die Resultate kaum so sein können, wie sie
+jetzt geworden sind. Welche Ströme Blutes sind nicht geflossen, seit
+die staatsmännische Vorsicht ihr Verdikt gesprochen hat, und wie sehr
+ist der Sudan zur Zeit ein Chaos der Anarchie und Sklavenräuberei!
+
+Der schwarze Pascha war hiernach der Punkt, wo die Meinungen
+auseinandergingen, und von da ab entwickelte sich die Haltung der
+englischen Politik, welche Gordon im Stich ließ.
+
+Wie wenig Gordon bei seinen Ratschlägen der Blindheit beschuldigt
+werden kann, geht aus seinem Hinweis hervor, daß die von ihm
+befürwortete Ernennung Sebehrs zum Beherrscher des Sudan die reinste
+Ironie des Schicksals wäre. Hatte doch Sebehr von jeher gegen die
+ägyptische Regierung agiert und Aufstände angezettelt, um seine
+Rücksendung zu erzwingen.
+
+In Gordons Tagebüchern vom September und Oktober heißt es:
+
+ »Hätte man uns den Sebehr Pascha geschickt, als ich es beantragte,
+ so wäre Berber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gefallen, und man
+ stünde jetzt mit einer Regierung im Sudan dem Mahdi gegenüber. Man
+ hielt für gut, es wegen seiner Vorgeschichte als Sklavenhändler zu
+ verweigern. Angenommen, der Grund sei ein triftiger, so ist er in
+ solange trotzdem ein ganz thörichter, als wir keine Schritte thun,
+ den Sklavenhandel künftighin in diesen Ländern zu hindern. Es kommt
+ einfach darauf hinaus: Ich schicke den A. nicht hin, weil er das
+ und das thun könnte, aber ich lasse den B. dort, der ebenfalls so
+ handelt.«
+
+ »Ich bin nicht dafür, den Sudan zu halten, es ist ein ganz nutzloses
+ Land, das wir nicht verwalten könnten, und die Ägypter nach den
+ neuesten Ereignissen noch weniger. Ich suche nur den Weg, ~wie
+ man sich mit Ehren und mit möglichst geringen Unkosten daraus
+ zurückziehen kann~ (wir dürfen nicht vergessen, daß wir an all
+ diesem Wirrsal schuld sind) ... es ist für mich lediglich die Frage,
+ sich mit ~Anstand zurückzuziehen~. Sebehr würde die Schaggyeh
+ (einen Beduinen-Stamm) und die Khartumer beruhigen und er würde mit
+ dem Mahdi ins reine kommen. Dann könnten wir das Land verlassen ...
+ Soviel ist sicher, daß ihr nur mit Hilfe Sebehrs (oder der Türken)
+ vor dem November 85 auf Rückzug rechnen könnt!! Die Türken wären
+ unter den jetzigen Umständen die beste, wenn auch kostspieligste
+ Lösung. ~Die könnten den Sudan halten~; gebt ihnen vierzig
+ Millionen. Nach den Türken ist Sebehr mit zehn Millionen das Beste;
+ er würde den Sudan ~eine Zeit lang~ halten. In beiden Fällen
+ giebt's hier Sklavenhandel. Aber Ägypten wäre gesichert und ihr
+ könntet bis Januar 85 hier fertig sein. Ist euch keiner dieser
+ Auswege recht, dann seid darauf gefaßt, daß es hier noch gerade genug
+ Plackerei geben und euer Feldzug schließlich ~ein völlig zweck- und
+ glanzloser sein wird~.«
+
+Hat je ein Prophet den Ausgang eines Unternehmens bestimmter
+vorhergesagt?
+
+Unterm 8. November heißt es in dem Tagebuch weiter:
+
+ »Es liegt auf der Hand, daß wenn Sebehr mit euch käme und in quasi
+ unabhängiger Stellung zum Regenten ernannt würde ... ihm die Leute
+ massenhaft zufielen, die den Mahdi und seine Derwische herzlich satt
+ haben, sich aber an ihn halten müssen, weil ihr das Land räumen
+ wollt; sogar unsere Anhänger werfen wir dem Mahdi in die Arme.
+ Sebehrs Einsetzung würde euch auch die Arbeit in der Sennar-Gegend
+ sparen ... Mit den Booten, die ihr habt, hätte er die Nil-Verbindung
+ bald hergestellt. Und was den Sklavenhandel betrifft, so ist der
+ Mahdi zehnmal schlimmer als Sebehr, auf den man durch Hilfsgelder
+ einwirken könnte, daß er in Schranken bliebe. Sebehr wäre für uns
+ eine Art Vermittelung zwischen dem Davonlaufen und der fortwährenden
+ Gegenwart von Truppen im Land. Der Mahdi wäre nie im stand, das Volk
+ gegen Sebehr aufzuhetzen. Nur weil man den Leuten keinen Mittelpunkt
+ bietet, ~müssen~ sie sich an jenen halten. Hätte man den Sebehr
+ kommen lassen, der Mahdi hätte lange nicht so viel Anhang; und wäre
+ er hier gewesen, so wäre Berber nicht gefallen.«
+
+Wir haben vorgegriffen, doch ist aus diesen Mitteilungen ersichtlich,
+daß Gordons Vorschlag keine plötzliche Eingebung, keine Unüberlegtheit
+war; es war vielmehr ein Gedanke, der durch jede neue Erfahrung bei
+ihm sich vertiefte. Es folgt hier eine frühere Depesche an Sir E.
+Baring, den Vertreter Englands in Kairo, die in gedrängten Sätzen
+Gordons Ansicht in der Sebehrfrage klar und eingehend darlegt.
+
+
+ Khartum, den 8. März 1884.
+
+ »Die Ernennung Sebehrs ist gleichbedeutend mit der Möglichkeit
+ des Rückzugs der ägyptischen Angestellten von Khartum, sowie der
+ Besatzungen von Sennar und Kassala.
+
+ Ich sehe keine andere Möglichkeit, dies ins Werk zu setzen, als eben
+ durch ihn, der als ein Eingeborner dieses Landes ein Mittelpunkt für
+ die Bessergesinnten werden wird, die sich um so eher ihm anschließen
+ werden, weil sie wissen, daß er sich hier in seiner Heimat
+ niederlassen wird.
+
+ Ich bin nicht der Ansicht, daß die Thatsache, dem Sebehr auf
+ zwei Jahre Hilfsgelder zu bewilligen, mit der Räumungspolitik
+ unverträglich wäre.
+
+ Was das Halten von Sklaven betrifft, so könnten wir es auch dann
+ nicht unterdrücken, wenn wir selbst im Sudan blieben. Ich habe immer
+ gesagt, daß der Vertrag vom Jahre 1877 unausführbar ist, also würde
+ Sebehrs Ernennung in dieser Hinsicht durchaus keinen Unterschied
+ machen.
+
+ Mit der Sklavenjagd hätte es nach Räumung der Bahr el Ghasal und der
+ Äquator-Provinzen von selbst ein Ende.
+
+ Sollte Sebehr nach Ablauf von zwei Jahren und nachdem er Hilfsgelder
+ eingesteckt hat, sich jener Gegenden zu bemächtigen suchen, so
+ könnten wir leicht von Suakim her einen Druck auf ihn ausüben,
+ welcher Ort nach wie vor in unserer Hand bliebe.
+
+ Ich halte dafür, daß Sebehr mit dem Sudan selbst und mit der
+ Befestigung seiner Stellung zu viel zu thun haben wird, als daß ihm
+ Zeit bliebe, sich um jene Gegenden zu kümmern.
+
+ Was die Sicherheit Ägyptens betrifft, so war Sebehr lange genug in
+ Kairo, um unsere Macht kennen gelernt zu haben; er würde es sich
+ nicht leicht beikommen lassen, etwas gegen Ägypten zu unternehmen.
+ Ich glaube im Gegenteil, daß er Handelsvorteile in einem Bündnis
+ suchen würde, denn er ist ein geborener Krämer.
+
+ Das Zurückziehen der Besatzungen anlangend, so habe ich bis jetzt
+ nur das erreicht, daß die Invaliden, die Witwen und Kinder der in
+ Kordofan Gebliebenen flußabwärts geschickt werden.
+
+ Nach heutigem Bericht ist Sennar ruhig.
+
+ Auch Kassala wird sich infolge von Grahams Sieg ohne Mühe halten,
+ aber die Verbindung ist abgeschnitten, sowie auch die Verbindung mit
+ Sennar.
+
+ Es wird unmöglich sein, der Straße nach Kassala und Sennar Herr zu
+ werden oder die ägyptischen Truppen von hier weg zu befördern, wenn
+ Sebehr nicht kommt. Sein Kommen würde die ganze Sachlage ändern.
+
+ Die Äquator-Provinzen und die Bahr el Ghasal sind soweit sicher, aber
+ ich kann die dortigen Besatzungen nicht zurückziehen, ehe der Nil
+ steigt, was in zwei Monaten zu erwarten ist.
+
+ Dongola und Berber sind ruhig, aber ich fürchte, daß der Weg zwischen
+ Berber und Khartum nicht lange mehr offen sein wird, denn auf der
+ ganzen Strecke treiben des Mahdi Anhänger ihr Wesen.
+
+ Am Blauen Nil ist eine Besatzung von tausend Mann von den Rebellen
+ eingeschlossen, doch fehlt es ihnen nicht an Proviant; ehe der Nil
+ steigt, kann ich ihnen nicht zu Hilfe kommen.
+
+ Auch Darfur, soweit ich Nachricht habe, ist ruhig; der neueingesetzte
+ Sultan läßt sich hoffentlich angelegen sein, Anhang unter den Stämmen
+ zu gewinnen.
+
+ Es ist ganz unmöglich, einen andern Mann als Sebehr mit Erfolg hier
+ einsetzen zu wollen. Kein anderer hat soviel Einfluß wie er. Hussein
+ Pascha Khalifa könnte nur mit Dongola und Berber fertig werden.
+
+ Wird Sebehr nicht hierher geschickt, dann fehlt alle Aussicht, die
+ Besatzung zu retten; das fällt schwer ins Gewicht zu seinen Gunsten.
+
+ Auch ist es unmöglich, das Land zwischen Sebehr und anderen
+ Häuptlingen zu teilen; keiner der andern könnte sich auch nur einen
+ Tag gegen die Helfershelfer des Mahdi halten; auch Hussein Pascha
+ Khalifa würde fallen.
+
+ Die Häuptlinge weigern sich, gemeinsame Sache zu machen; Loyale und
+ Rebellen stehen einander gegenüber.
+
+ Es ist durchaus nicht zu fürchten, daß Sebehr sich je mit dem Mahdi
+ unter eine Decke stecken werde. Sebehr wird hier weit größere
+ Macht besitzen als der Mahdi und wird sich nicht scheuen, ihm dies
+ begreiflich zu machen.
+
+ Der Mahdi ist mit dem Papst zu vergleichen, Sebehr aber würde Sultan
+ sein; da ist keine Gefahr, daß die zwei sich einigen.
+
+ Sebehr ist dem Mahdi fünfzigmal gewachsen. Er ist auch aus guter
+ Familie (ein direkter Abkömmling der Abassiden), genießt Ansehen und
+ würde die Sultanwürde gut bekleiden; der Mahdi ist von all dem das
+ Gegenteil und ein Fanatiker dazu.
+
+ Ich zweifle gar nicht, daß Sebehr, dem die Stämme verhaßt sind, die
+ Aufruhrsaat gesäet hat und zwar in der Hoffnung, daß man ihn dann
+ hier nötig haben würde, um Ordnung zu schaffen.
+
+ Es ist die Ironie des Schicksals, die ihm seinen Wunsch erfüllt, wenn
+ er hierher geschickt wird.«
+
+Gordon predigte mit dieser klaren Auseinandersetzung tauben Ohren, die
+Minister im fernen England und außer Zusammenhang mit Land und Leuten,
+erklärten Sebehrs Ernennung für eine Unmöglichkeit; die öffentliche
+Meinung würde sich dagegen auflehnen, hieß es. Und als Berber von
+den Rebellen bedroht wurde, zog man sich auf den Standpunkt der
+Friedenspolitik zurück und verweigerte eine Truppensendung.
+
+Schon im März 1884 war die Lage Khartums eine bedenkliche geworden.
+Etliche Kilometer nördlich von der Stadt befindet sich das kleine
+Halfaja, woselbst eine Truppenabteilung von achthundert Mann,
+welche Gordon mit Waffen versehen hatte, von viertausend Rebellen
+eingeschlossen war. Der Ort liegt am Fluß, aber neuerdings war auch
+die Schiffahrt abgeschnitten. Die Besatzung hielt mutig aus und
+Gordon beschloß, ihr zu Hilfe zu kommen. Die Rebellen wurden täglich
+kühner und waren der Stadt selbst schon so nahe gerückt, daß ihre
+Kugeln den Palast erreichten. Es schien, als ob man sich auf die
+Verteidigung Khartums beschränken müsse, allein der Versuch, jene
+Getreuen zu entsetzen, sollte gemacht werden. Gordon hatte drei
+Dampfer kriegstüchtig gemacht und mit Geschütz versehen; mit diesen
+und zwölftausend Mann zog er aus. Nach zwei Tagen hatte er mit
+Verlust von zwei Mann die Belagerten entsetzt, und mit der Besatzung
+von Halfaja, ihren Kamelen und Pferden und einem beträchtlichen
+Vorrat von Kriegsbedarf kehrte er nach Khartum zurück. Der Jubel in
+der Stadt soll keine Grenzen gekannt haben, aber nur zu bald stand
+der öffentlichen Freude die Unglückspost gegenüber, daß Schendi den
+Rebellen erlegen und Berber bedroht sei. Die Khartumer selbst erlebten
+auf ihren Sieg eine böse Niederlage. Denn als die Rebellen fortfuhren,
+sich in der Nähe der Stadt zu postieren und den Palast zu beschießen,
+beschloß Gordon einen zweiten Ausfall, den er den ägyptischen Truppen
+unter ihren eigenen Offizieren übertrug. Er selbst beobachtete die
+Bewegungen vom Dach des Palastes aus. Die feindliche Linie erstreckte
+sich mehrere Kilometer weit am Blauen Nil hin. Die Ägypter drangen
+stetig vor und der Feind zog sich hinter die Dünen zurück, die,
+teilweise mit Bäumen und Strauchwerk bewachsen, eine natürliche
+Schutzwehr bilden. Es schien, als ob die Rebellen den Kampf weigern
+wollten, und die andern rückten ihnen nach, ihre Anführer voraus,
+bis diese wie von einem plötzlichen Schrecken ergriffen unversehens
+kehrt machten und auf ihre eigene Mannschaft eindrangen. Es entstand
+Unordnung; in die gebrochenen Reihen stürzten sich die berittenen
+Rebellen und die Flucht der Ägypter war die Folge. Ein Rebell
+durchrannte mit seinem Speere sieben Flüchtlinge in sieben Minunten.
+Das fürchterlichste Gemetzel zog sich bis in die Nähe von Khartum. Es
+war in jeder Hinsicht eine schimpfliche Niederlage. Die überbleibende
+Mannschaft aber war laut in der Anklage gegen ihre beiden Anführer,
+welche den ganzen Reißaus ins Werk gesetzt hatten. Es wurden sogar
+Beweise beigebracht, daß einer derselben einen Kanonier zu Boden
+schlug, der sein Geschütz gegen den Feind richten wollte. Sieben
+Stunden nach dem Gefecht lagen noch Verwundete umher; zum Glück waren
+es nur zwanzig, denn die Araber machten den Verwundeten den Garaus wo
+sie konnten. Oberst Stewart holte sie heim mit einem der Dampfer und
+brachte sie ins Lazaret. Weithin lagen die Erschlagenen, zweihundert
+an der Zahl, während der Feind nur vier Mann eingebüßt hatte.
+
+Den beiden Anführern wurde übrigens ihr Lohn zu teil; die Leute
+brandmarkten sie einstimmig als Verräter, welche absichtlich
+gegen ihre Mannschaft kehrt gemacht hatten, um für den Feind eine
+Öffnung zu gewinnen. Beide Pascha, Said und Hassan, wurden vor ein
+Kriegsgericht gestellt und erschossen. In Hassans Wohnung fand sich
+ein beträchtlicher Waffenvorrat vor, und es ergab sich überdies, daß
+beide den Truppen ihre Löhnung vorenthalten und selbst eingesteckt
+hatten. Sie hatten es offenbar darauf abgesehen, früher oder später
+zum Feinde überzugehen. Die Stimmung Khartums litt übrigens nicht
+durch diese Niederlage. Die Bevölkerung war voll guter Zuversicht zu
+ihrem Statthalter und es fehlte nicht an handgreiflichen Beweisen
+der Opferwilligkeit. Ein wohlhabender Araber bot Gordon ein
+unverzinsliches Darlehen von siebentausend Thaler an, ein anderer war
+erbötig, zweihundert Mann auf eigene Kosten zu bewaffnen. Die Stadt
+war bereit, sich an Gordon zu halten, der sie seinerseits nicht im
+Stich lassen würde. Die Rebellen schickten täglich ihre Grüße über die
+Mauern und schienen es besonders auf den Regierungspalast abgesehen zu
+haben, der nach kurzer Zeit mit Kugeln gespickt war. Den Statthalter
+selbst, der viele Stunden auf seinem Dach verbrachte, traf keine;
+sie fielen zu seiner Rechten, sie fielen zu seiner Linken, er selbst
+schien gefeit wie früher.
+
+Dem falschen Propheten hatte Gordon anbieten lassen, er wolle ihn zum
+Sultan von Kordofan ernennen, wenn er zu unterhandeln bereit sei.
+»Ich bin der Mahdi,« lautete die großartige Antwort. Drei bewaffnete
+Derwische erschienen eines Tages vor Khartum und begehrten Audienz.
+Sie wurden vor Gordon gebracht. Ihr Auftrag war, die Feierkleider
+zurückzubringen, die dieser dem Mahdi als Friedensgeschenk übersandt
+hatte. Darauf produzierte sie ein Derwischgewand, das Gordon anlegen
+sollte, um sich damit als Muselman und Anhänger des Propheten Mohammed
+Achmet, des Mahdi, zu bekennen. Es läßt sich denken, daß jener mit
+nicht allzuviel Zeremonie für die zugedachte Ehre sich bedankt hat.
+Von Stund an war es klar, daß von einer Räumung des Landes keine
+Rede sein konnte, wenn nicht der Mahdi wie einst Pharao mit Gewalt,
+im gegenwärtigen Falle mit Waffengewalt, belehrt wurde, daß er diese
+Leute müsse ziehen lassen. Auf britische Truppen aber war nicht
+zu rechnen und Gordon sah, daß ihm nichts weiter übrig blieb, als
+selbst zu handeln; auch war er rasch entschlossen und erließ an alle
+ägyptischen Truppen, welche durch die Wüste nordwärts zogen, den
+telegraphischen Befehl zurückzukehren.
+
+Es läßt sich hier passender Weise Gordons Ansicht über den Abfall vom
+Glauben einschalten. Vorausgeschickt sei die Bemerkung, daß der Mahdi
+nicht alle Europäer in diesem Stück so fest fand wie unsern Helden.
+Als Obeid in die Hände des falschen Propheten fiel, soll nur einer
+der dortigen römischen Missionspriester Treue gehalten haben, alle
+andern mitsamt den Nonnen trieb die Angst dem Mohammedanismus in die
+Arme. Die letzteren gingen sogar noch weiter, und traten mit dortigen
+Griechen in ein nominelles Ehebündnis, um sich vor Gewalt zu schützen.
+Da wird der Papst einen schönen Lärm schlagen, meinte Gordon, das ist
+ja eine Union der katholischen Kirchen. Es ist übrigens nicht dieser
+Scherz, worauf wir hinweisen wollten, sondern auf folgende Stelle in
+seinem Septembertagebuch:
+
+ »Was die an den Mahdi und an verschiedene Araber-Häuptlinge
+ geschriebenen Briefe anlangt, so gebe ich zu, daß sie scharf waren,
+ aber es ist keine Kleinigkeit, wenn ein Europäer aus Furcht vor dem
+ Tod seinem Glauben abschwört; es war nicht so vor alters, und sollte
+ auch heute nicht so leicht von statten gehen, wie das Vertauschen
+ eines Rockes mit einem andern. Wenn der christliche Glaube auf
+ Einbildung beruht, dann werft ihn immerhin ab; aber es ist niedrig
+ und ehrlos das zu thun, um sein Leben zu retten, wenn man ihn für
+ den wahren Glauben hält. Was kann stärker sein als diese Worte: ›Wer
+ mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen
+ vor meinem himmlischen Vater!‹ Die alten Märtyrer betrachteten solche
+ als ihre Feinde, die sie davon abzuhalten suchten, ihren Glauben frei
+ zu bekennen. Und was für Männer hatten wir in England zur Zeit der
+ Glaubensverfolgungen, als die Reformation sich Bahn brach, und damals
+ galt es nicht um das, um was es hier gilt; es handelte sich dort nur
+ um die Messe, während es sich hier um unsern Herrn und sein Leiden
+ handelt.... In politischer wie moralischer Hinsicht ist es besser für
+ uns, nichts mit den abtrünnigen Europäern im arabischen Feldlager zu
+ thun zu haben. Verrat führt nie zu gutem Ende, und mag es uns gehen
+ wie es will, so ist es besser wir fallen mit reinen Händen ..... Mit
+ Ehren zu erliegen, ist besser als ein Sieg mit Unehren, und auch die
+ Ulema in der Stadt sind dieser Meinung. Sie wollen nichts mit Verrat
+ zu thun haben.«
+
+Wo im obigen Punkte stehen, hatte Gordon angemerkt, wenn die
+Tagebücher je gedruckt würden, sei es vielleicht gut, die ganze Stelle
+zu unterdrücken, denn kein Mensch habe das Recht, einen andern zu
+richten.
+
+Es mag eine schwere Zeit inneren Kampfes für Gordon gewesen sein, als
+es ihm aus den englischen Depeschen immer klarer wurde, daß man ihm
+nicht nur die Hilfe Sebehrs verweigerte, sondern überhaupt gesonnen
+war, ihn sich selbst zu überlassen -- Krieg sollte vermieden werden;
+und das Schlimmste war noch, daß die Hälfte der abgesandten Depeschen
+ihn gar nicht erreichte. Es fehlte nicht an dringenden Vorstellungen
+seinerseits, und wochenlang schien Schweigen die Antwort zu sein. Wohl
+war er mit dem Gedanken ausgezogen, daß er als ein Friedensapostel
+kraft seines persönlichen Einflusses die ihm übertragene Mission
+erfüllen solle. Daß seine Regierung ihm aber gegebenen Falls unter die
+Arme greifen, daß sie ihn mindestens nicht im Stich lassen würde, das
+sollte keiner Vorversprechungen bedurft haben! Gordon hatte wieder und
+wieder erklärt, daß es ganz unmöglich wäre, die ägyptische Besatzung
+von Khartum zurückzuziehen, ohne die Stadt dem Mahdi zu überantworten
+und, was noch schlimmer wäre, die ägyptischen Besatzungen von Kassala,
+Sennar, Berber, Dongola und weiterhin in der Bahr el Ghasal ihrem
+Schicksal zu überlassen; dies aber erschien ihm als eine Feigheit,
+zu der er die Hand nicht bieten wollte. Was den Aufstand an sich
+betrifft, so war Gordon der Ansicht, daß es zu jener Zeit noch
+nicht tausend Mann englischer Truppen bedurft hätte, um gründlich
+aufzuräumen. Und als es klar war, daß englisches Militär zu diesem
+Zweck nicht vorhanden sei, kam er um die Erlaubnis ein, an die Türken
+zu appellieren; auch dies wurde ihm verweigert. Es war um diese Zeit,
+im März, daß der verlassene Held in einer eigentümlichen Depesche der
+englischen Regierung wie den ägyptischen Behörden seinen Dank für
+alle bisherige Beihilfe aussprach und die Erklärung beifügte, die
+betreffenden Machthaber hätten alles gethan, was von ihnen zu erwarten
+sei. Gordons englischer Biograph, Hake, macht darauf aufmerksam, daß
+diese Worte, so satirisch sie auf den ersten Blick erscheinen, auch
+nicht die Spur von Hohn enthalten, daß sich vielmehr die einfache
+und männliche Haltung des Mannes darin auspräge, von Stund an die
+Verantwortung der Lage auf ~seine~ Schultern zu nehmen als einer,
+der sich gezwungen sieht, der Übermacht der Umstände nach bestem
+Ermessen in eigener Kraft entgegen zu treten. In der Freiheit des
+Handelns aber lag die eine Hoffnung, die Tausende zu retten, deren
+Ankerpunkt er war. Es liegt etwas unendlich Rührendes darin, daß
+Gordon sich, abgesehen von seinem Pflichtgefühl überhaupt, für die
+ägyptischen Besatzungen aufopferte, für Menschen, die er im besten
+Fall immer nur als »Schafe« kennen gelernt hatte und von denen er
+nie viel Gutes sagen konnte. Diese Thatsache ist nicht der geringste
+Edelstein in der Krone des unvergleichlichen Mannes. Ein schönes
+Streiflicht hiezu giebt uns sein Tagebuch unterm 27. Oktober:
+
+ »Nicht weil ich dieses Volk hochachte, befürworte ich es, ihnen
+ zu helfen, sondern weil sie ein so kraftloses, selbstsüchtiges
+ Geschlecht sind, und weil dies die Frage unserer Pflicht ihnen
+ gegenüber nicht beeinflussen kann. Die Erlösung der Menschen hätte
+ nicht stattgefunden, käme unser Verdienst dabei in Betracht.« Und
+ anderswo: »es ist ja gerade, ~weil~ wir so unwert sind, daß der
+ Herr uns erlöst hat.«
+
+Selbst im eigenen Lager war Gordon vor Verrat nicht sicher, und die
+Wohlgesinnten waren ein verzagtes Volk. Hake vergleicht ihn treffend
+mit dem kühnen Schiffsführer, der mit fester Hand ans Steuer tritt,
+um, so es möglich ist, die ihm anvertrauten Seelen in der Sturmnot
+zu retten. Ein Segel am Horizont war in Sicht gewesen, ja die eigene
+englische Flagge, aber trotz seiner Notsignale beharrte der ferne
+Segler auf seiner Bahn. Man hatte ihm nur zurücksignalisiert: »Ihr
+habt Boote und könnt euch davonmachen; laßt das Schiff sinken, es
+ist doch nicht zu retten.« Nicht so der Tapfere; trug sein Schiff
+doch kostbare Dinge, Schätze, die er nicht gering achtete, als da
+sind die Ehre des Mannes und die des Volkes, dem er angehört, und
+Gerechtigkeit, ja Erbarmung gegen die Hilflosen, die an ihn sich
+halten. Ist sein Schiff anderen nicht so viel wert, daß sie es retten,
+so will er thun was er kann, und lieber mit versinken, als ehrlos
+davongehen. Er ruft sein Schiffsvolk zusammen und sagt ihnen: »Selbst
+ist der Mann!« Er heißt sie die nutzlose Notflagge einziehen und zeigt
+ihnen, wie das lecke Schiff noch flott zu halten ist. Er beseelt sie
+mit einem Heldenmut und die Verzagenden legen Hand an, seiner Führung
+vertrauend. Wohl hätten sie Rettungsboote, sagt er ihnen, aber nicht
+für alle, und wer die eigene Haut retten wolle, der könne es immerhin
+versuchen. Die Sturmflut steigt, Wellen türmen sich auf Wellen, und
+zwischen den Wogen gähnt das Grab. Das ferne Segel, die ihm teure
+Flagge verschwindet am Horizont. Wohl kostet es ihn bitteren Schmerz,
+doch wächst der Mut ihm mit der Not. Noch ist es Tag, er will thun,
+was er kann als Schiffsherr und Steuermann; und kommt die Nacht, so
+ist Gott über ihm und ist auch dann noch da, wenn kein Polarstern mehr
+leuchtet.
+
+Und Gordon blieb in Khartum, als englische Saumseligkeit sich
+zurückzog. Wer will es ihm verargen, daß die Haltung der Regierung,
+auf die er sich verlassen hatte, ihn mit Entrüstung erfüllte? Mit
+nackten Worten meldete er derselben, daß, möchten sie thun, was sie
+verantworten könnten, er nie und nimmer eine Besatzung verlassen
+werde, die an ihn sich klammere, daß er allen und jeden Versuch machen
+werde sie zu retten, ob solche Versuche auf den Leisten der Diplomatie
+paßten oder nicht. Die Khartumer hätten ihm ihr Geld geliehen, er
+hätte sie veranlaßt ihr Getreide billig zu verkaufen, er könne sein
+Schicksal von dem ihren nicht trennen.
+
+ »Soweit ich die Lage beurteilen kann,« telegraphierte er am 5. Mai
+ an Sir E. Baring, der für ihn die englische Regierung vertrat, »ist
+ sie einfach die: Sie erklären es als Ihre Absicht, weder Khartum
+ noch Berber mit Truppen zu Hilfe zu kommen, und Sie verweigern mir
+ Sebehr. Ich betrachte mich unter diesen Umständen frei, zu handeln
+ wie die Lage gebietet. So lange es möglich ist, werde ich hier
+ feststehen, und wenn ich den Aufruhr unterdrücken kann, werde ich
+ es thun. Vermag ich es nicht, dann ziehe ich mich an den Äquator
+ zurück und ~überlasse Ihnen den unauslöschlichen Schimpf, die
+ Besatzungen von Sennar, Kassala, Berber und Dongola im Stich gelassen
+ zu haben, mit der Gewißheit obendrein, daß Sie den Mahdi früher oder
+ später doch noch werden vernichten müssen -- und dann unter größeren
+ Schwierigkeiten als jetzt -- wenn Sie anders Ägypten nicht auch
+ fahren lassen wollen.~«
+
+Dieses Telegramm war sozusagen Gordons letzter Hilferuf an die
+englischen Minister; er verhallte ungehört. Die Stimme des Volkes
+zwar erhob sich und wollte den Helden nicht verlassen sehen. Auch im
+Parlament kam die Sache wieder und wieder zur Sprache. Lord Granville
+erklärte, daß wenn Gordon sich verlassen fühle, es nur deshalb
+sein könne, weil die englischen Telegramme ihn nicht erreichten;
+und Gladstone gab die keiner Auslegung bedürfende Erklärung ab,
+daß es Gordon jederzeit frei stünde, seinen Auftrag niederzulegen
+und nach England zurückzukehren! Die öffentliche Meinung in jenen
+Tagen glich einer wogenden See; Gordons Telegramm konnte nichts
+anderes als Teilnahme hervorrufen. In einer Versammlung englischer
+Bürger wurde einstimmig erklärt: »Wir verwerfen die Politik, die im
+Begriff ist, Gordon im Stich zu lassen, als eine unwürdige und das
+Land entehrende.« Und sowohl in dieser Versammlung als anderwärts
+wurde darauf hingewiesen, daß Gordons eigenartige Mission selbst den
+Ministern gegenüber von der Voraussetzung nicht zu trennen wäre, daß
+er nach seiner Einsicht handeln müsse, und daß man ihm, als er die
+Sendung übernahm, zu verstehen gegeben hätte, Unterstützung würde
+ihm nötigenfalls werden. Es seien leere Versprechungen gewesen; er
+habe um Geldmittel telegraphiert, man habe sie ihm verweigert; er
+habe nachgewiesen, daß Sebehr die beste Lösung der Frage sei, man sei
+ihm entgegengetreten; er habe um Truppen nachgesucht, man habe ihn
+benachrichtigt: er dürfe nicht darauf rechnen.
+
+Selbst Privatpersonen erklärten sich bereit, für die Regierung
+in die Bresche zu treten. Eine wohlhabende Dame bot in der Times
+hunderttausend Mark an, in der Hoffnung, daß durch freiwillige
+Beiträge eine genügende Summe zusammenkommen würde; anderthalb
+Millionen Mark wurden gezeichnet, eine Schar Freiwilliger sollte
+ausziehen, um England die Schande zu ersparen, den Helden und seine
+beiden opferwilligen Gefährten umkommen zu lassen, es wurde nicht
+genehmigt. Der Horizont wurde täglich dunkler. Dringende Mahnrufe
+ergingen an die Regierung von dem belagerten Berber; man könne nicht
+helfen, hieß es. Hilfe thue dort in sechzehn Stunden not, und ein
+Zuzug brauche ebenso viele Wochen. Daher unterblieb er. Das letzte,
+was man von Berber hörte, war die Botschaft, daß Hussein Khalifa
+die Stadt nur noch mit der Hoffnung halte, daß englischer Entsatz
+auf dem Wege sei; und als sich die Hoffnung als eine leere erwies,
+hieß es auch dort: Wir sind verlassen, wenn Gott uns nicht hilft.
+Von Kairo war Nachricht nach London gekommen, daß in Berber ein
+panischer Schrecken den Rebellen in die Hände arbeite, und wenn die
+telegraphische Verbindung nach Khartum noch einmal benutzt werden
+solle, dann sei keine Zeit zu verlieren.
+
+Und Berber fiel, unter Greuelszenen, wie sie den Sudan-Krieg
+kennzeichnen. Es war das Vorspiel für Khartum. Es war die Brandglocke.
+Noch wäre es Zeit gewesen, um dort zu löschen, allein man schlief
+ruhig weiter, ob nicht ein Regenguß vom Himmel, oder sonst was zu
+Hilfe käme und eigene Anstrengung ersparte. Und Schweigen fiel auf
+die verlassene Stadt. Depeschen blieben aus, man wußte nicht mehr
+wie es dort ging. Fünf Monate lang keine Nachricht oder doch nur
+unzuverlässige Gerüchte. Doch das wußte, wer es wissen wollte -- sein
+vergangenes Leben bürgte dafür -- daß Gordon die Pflicht für sein Volk
+wie ein Held erfüllte. Hatten die Seinen ihn verlassen, so war Gott
+mit ihm, und er wagte den Kampf.
+
+
+ 5. Mannhaft auf dem Posten.
+
+Gordon verlor keine Zeit, die Verteidigung Khartums ins Werk zu
+setzen. Seine erste Sorge war der Proviant. Es ergab sich, daß die
+Stadt eine fünfmonatliche Belagerung würde aushalten können. Den Armen
+wurde eine tägliche Ration bewilligt. Der leeren Kasse half er durch
+Papiergeld auf, und es beweist das Vertrauen der Leute, daß ihnen sein
+Wort für Zahlung galt. Auf diese Weise hielt er sein unzuverlässiges
+Militär zusammen und verhinderte wenigstens um jene Zeit das
+Desertieren. Um die Stadt her legte er Sprengminen, und in Erwartung
+der unbeschuhten Füße etwaiger Sturmläufer war der Boden weithin mit
+Glasscherben und zu ähnlichen Zwecken angefertigten Stachelnüssen
+bestreut, nämlich mit eisernen Nüssen, die, wie sie auch fallen, eine
+oder mehrere ihrer Spitzen nach oben kehren. Zwischen den Minen waren
+Drahtangeln angebracht, um den anlaufenden Feind zu Fall zu bringen.
+Gordon war entschlossen, sich und die Stadt so teuer als möglich zu
+verkaufen. An Schießbedarf fehlte es glücklicherweise nicht. Auch ließ
+die Gesundheit der Stadt nichts zu wünschen übrig, und der Nil war im
+Steigen; letzteres war ein Hauptfaktor in Gordons Berechnung, welcher
+sich bei dem Angriff auf die Rebellen hauptsächlich auf seine Dampfer
+verließ.
+
+Keine Woche verging, ehe er die Scharte der Dünen-Niederlage
+auswetzte, und zwar eben durch einen der Dampfer, der mit einer
+Kruppkanone unter den Rebellen aufräumte. Es war Gordons Genie,
+das aus gewöhnlichen Nilbooten Kriegsschiffe schuf, die ihrem
+Zweck vollkommen genügten. Manchen heißen Arbeitstag verwandte
+er selbst darauf, diese Schiffe mit Eisenplatten und mehrfach
+übereinandergelegten Holzdielen zu panzern und zum Spießrutenlaufen
+zwischen den von den Rebellen besetzten Ufern kugelfest zu machen.
+Seine Dampfer begleiteten sechs Barken, auf denen er zwanzig Fuß hohe
+Türme errichtete, die seine Schützen trugen. Die Flotte muß einen
+seltsamen Anblick gewährt haben, Gordon war aber offenbar stolz auf
+ihre Tüchtigkeit.
+
+Saati Bey war Flottenführer. Fast täglich wagte das kleine Geschwader
+den Ausfall aus der blockierten Stadt und kehrte öfters mit Beute
+-- Vieh und Getreide -- zurück, was nicht mit Geld aufzuwiegen war.
+Überhaupt konnte Gordon nur auf die Schiffe rechnen, wie aus seiner
+nicht ohne bitteren Humor abgefaßten Notiz hervorgeht:
+
+ »Unsere Dampfer halten sich prächtig; das ist ein Vorteil zu Wasser,
+ daß die Mannschaft nicht davonlaufen kann, sondern wohl oder übel
+ stand halten muß!«
+
+Es fehlte auch nicht an kleinen Gefechten, wodurch wenigstens das
+erreicht wurde, daß man sich die Rebellen auf Armslänge vom Leibe
+hielt; einen Angriff auf die Stadt selbst wagten dieselben nicht
+mehr, nachdem sie mit den Sprengminen Bekanntschaft gemacht hatten.
+Als Berber gefallen war, schlossen sich an den Mahdi auch die
+Schaggyeh-Beduinen an, die das Land nordwärts von Khartum inne hatten.
+Damit war die Isolierung der Stadt eine vollständige.
+
+Die Spannung in England nahm mit den Sommermonaten zu. Bei dem
+Ausbleiben aller glaubwürdigen Nachrichten malte man sich die Lage der
+Stadt noch schlimmer aus, als sie damals in Wirklichkeit war; man sah
+sie dem hohläugigen Hunger einerseits, den fanatischen Horden des
+Mahdi andererseits in die Arme fallen, man sah den heroischen Gordon
+mit seinen tapferen Gefährten, wie sie, von aller Welt verlassen,
+den sinkenden Mut von Tausenden aufrecht erhielten, obschon ihnen
+selbst kein Hoffnungsstern leuchtete. Und als endlich verlautete, der
+Regierung habe das Gewissen geschlagen und Entsatzungstruppen würden
+abgehen, da hielt mancher dafür, wie es sich ja leider auch als wahr
+erwiesen hat, daß das Ministerium der Verspätungsmaßregeln auch hier
+wieder mit dem guten Willen hinterdrein kommen werde.
+
+Am 29. September, nach fünfmonatelangem Schweigen brachte die Times
+Nachrichten von Khartum. Die Aufzeichnungen Powers[15] waren am Abend
+vorher angelangt, und das englische Volk las mit klopfendem Herzen,
+wie es den drei Söhnen Englands in der belagerten Nilstadt erging;
+hatte man doch die Hoffnung aufgegeben, je wieder Beruhigendes von
+ihnen zu vernehmen. Die hier folgenden Notizen zeigen mit der Kürze
+von Depeschen, wie Gordon, Stewart und Power zwischen dem ersten Mai
+und letzten Juli mannhaft auf ihrem Posten standen und Khartum bis
+dahin gehalten hatten.
+
+»1. Mai. -- Der befehlende Offizier der Sappeurs legte eine Sprengmine
+mit achtundsiebzig Pfund Pulver, trat aber unglücklicherweise selbst
+darauf und wurde mit sechs seiner Leute zerschmettert.
+
+»3. Mai. -- Ein Mann berichtet von einer englischen Armee in Berber.
+
+»6. Mai. -- Energischer Angriff seitens der Araber auf die
+Befestigungen am Blauen Nil; die Minen, die wir bei Buri legten,
+brachten ihnen große Verluste.
+
+»7. Mai. -- Starker Angriff von einem gegenüberliegenden Dorf;
+neun Minen explodierten und wir hörten nachher, daß es die
+Rebellen einhundertundfünfzehn Tote kostete. Die Araber schossen
+ununterbrochen. Oberst Stewart vertrieb sie mit zwei prächtigen Salven
+aus einem vor dem Palast aufgestellten Kruppschen Zwanzigpfünder
+aus ihrer wichtigsten Stellung. Während der Nacht brachen sie
+Schießscharten in die Mauern, aber am 9. verjagten wir sie, nachdem
+sie das Dorf drei Tage innegehabt hatten.
+
+»25. Mai. -- Oberst Stewart, durch eine feindliche Kugel verwundet,
+während er eine Mitrailleuse vor dem Palast leitete, ist jetzt wieder
+hergestellt.
+
+»26. Mai. -- Bei einem Manöver auf dem Weißen Nil schoß Saati Bey eine
+Bombe in ein arabisches Pulvermagazin. Gewaltige Explosion, an sechzig
+Bomben platzten.
+
+»Während der Monate Mai und Juni tägliche Dampferexpeditionen unter
+Saati Bey. Unsere Verluste unerheblich. Viel Vieh eingebracht.
+
+»25. Juni. -- Cuzzi, der englische Konsul von Berber, der bei den
+Rebellen ist, brachte unsern Linien Bericht vom Fall Berbers. Er ist
+auf dem Weg nach Kordofan.
+
+»30. Juni. -- Saati Bey hat den Rebellen vierzig Ardeb Korn abgejagt,
+und zweihundert Araber sind dabei gefallen.
+
+»10. Juli. -- Saati Bey machte einen Angriff auf Gatareeb, nachdem er
+Kalkala und drei andere Dörfer in Brand gesteckt hatte; er und drei
+seiner Offiziere fielen. Saatis Verlust ist keine Kleinigkeit.
+
+»29. Juli. -- Wir haben die Rebellen aus Buri am Blauen Nil verjagt;
+es hat sie viel Tote gekostet, uns ziemlich Munition und achtzig
+Gewehre eingetragen. Die Dampfer rückten bis El-Efan vor, säuberten
+dreizehn Schanzen und zerschmetterten zwei Kanonen. Die ganze
+Belagerung bisher hat uns keine siebenhundert Mann gekostet.
+
+»31. Juli. -- Mit dem heutigen schließt der fünfte Monat der
+Belagerung. Gestern schickte ich über Kassala einen übersichtlichen
+Bericht über unsere Lage und die hauptsächlichsten Ereignisse seit dem
+25. März. Bis 23. April ging wöchentlich mehrmals Nachricht ab; nach
+diesem Datum war's unmöglich Botschaft nach Berber zu bringen. Wir
+sind jetzt seit fünf Monaten eng belagert, die arabischen Geschosse
+erreichen den Palast von allen Seiten.
+
+»Seit 17. März ist kein Tag ohne Beschießung vergangen, trotzdem
+berechnen sich unsere Toten von Anfang an höchstens auf siebenhundert.
+Verwundungen, die im ganzen leicht sind, gab's viele. Seit die Stadt
+eingeschlossen ist, läßt General Gordon den Armen Zwieback und Korn
+verabreichen, und bis jetzt hat niemand ernstlich Not gelitten. Aber
+Teuerung herrscht, und die Lebensmittel sind enorm im Preis gestiegen;
+Fleisch, wenn man's überhaupt kriegen kann, kostet acht oder neun
+Schilling per Ober. Die Klassen, die sich nicht unterstützen lassen
+können, leiden am meisten.
+
+»Mit der Nachricht, die uns vorgestern erreichte, ist unsere letzte
+Hoffnung dahin, daß unsere Regierung uns zu Hilfe kommen werde. Wir
+haben noch Mundvorrat auf zwei Monate, und dann bleibt uns nicht
+übrig als zu fallen. Mit den Truppen, die uns zu Gebot stehen, und
+den vielen Weibern und Kindern ist es ganz unmöglich daran zu denken,
+sich durch die Araber durchzuschlagen. Wir haben nicht genug Dampfer,
+um alle fortzuschaffen, und nur mit Hilfe der Dampfer können wir den
+Rebellen begegnen.
+
+»Ein berittener Araber genügt, um zweihundert von unserer Mannschaft
+in die Flucht zu schlagen. Als Saati Bey fiel, hatten ihrer acht mit
+Speeren zweihundert der unsern angegriffen, deren jeder sein Gewehr
+trug. Die Kerle nahmen sofort Reißaus und kümmerten sich nicht darum,
+daß Saati und sein Vakil erschlagen wurde. Ein schwarzer Offizier hieb
+drei jener Araber zusammen, und die anderen fünf genügten, die ganze
+Truppe der unsern davonzujagen. Ein Berittener, der dazu kam, sprengte
+durch die flüchtige Schar und schlug sieben zu Boden. Oberst Stewart,
+der keine Waffen trug, kam wie durch ein Wunder davon; die Araber
+hatten ihn nicht gesehen. Was kann man mit solchen Truppen anfangen?
+Die Neger sind die einzigen, auf die wir uns verlassen können.
+
+»Der Ausfall der schwarzen Mannschaft unter Mehemet Ali Pascha am
+28. dieses war glänzend; die Araber müssen schwere Verluste gehabt
+haben. General Gordon hat es den Soldaten verboten, die Köpfe der
+erschlagenen Rebellen einzubringen, die Zahl läßt sich daher nur
+mutmaßen. Wir eroberten bei dieser Gelegenheit sechzehn Bomben,
+ziemlich viel Kartätschen und Patronen, eine schöne Anzahl Gewehre, an
+zweihundert Lanzen, sechzig Schwerter und einige Pferde. Wir hatten
+vier Tote und etliche Leichtverwundete. Dieser Sieg hat uns die
+Rebellen eine Zeit lang vom Hals geschafft, die unsere Linien bei Buri
+am Blauen Nil unablässig, selbst nachts, beschossen.
+
+»Den folgenden Tag, am 29. dieses, rückte unser Geschwader, d. h. fünf
+Kriegsdampfer und vier mit Türmchen und Geschütz versehene Barken,
+nach Giraffa am Blauen Nil vor. Ich ging mit. Wir säuberten dreizehn
+kleine Forts, stießen aber bei Giraffa auf zwei beträchtlichere
+Verschanzungen -- Erdwälle mit starken Palissaden aus Palmstämmen.
+Die eine trug zwei Kanonen. Wir beschossen diese Verschanzungen acht
+Stunden lang, bis wir die beiden Kanonen mit unserem Kruppschen
+Zwanzigpfünder endlich zum Schweigen brachten. Die Gewehre der
+Araber knatterten unaufhörlich; unsere Panzerboote aber können einen
+Kugelregen aushalten, und so hatten wir nur drei Tote bei zwölf oder
+dreizehn Verwundeten. Gegen Abend verjagten wir die Rebellen, die
+ziemlich zahlreich waren.
+
+»In etwa drei Tagen beabsichtigt General Gordon zwei Dampfer gegen
+Sennar zu schicken. Wir hoffen, daß sie den Dampfer »Mehemet Ali«
+wieder kapern, den die Rebellen dem Saleh Bey neulich abjagten.
+General Gordon ist wohl auf, und Oberst Stewarts Wunde ist wieder
+heil. Auch ich bin wohl und guter Dinge.«
+
+Man atmete auf in England bei dieser Nachricht und war stolz auf
+die drei Tapferen, die sich so rühmlich hielten. Und ob der Freude
+vergaß man im ersten Augenblick, wie lange die Botschaft unterwegs
+war! »~Wir haben noch Mundvorrat auf zwei Monate und dann bleibt
+uns nichts übrig, als zu fallen~,« so schrieb man am 31. Juli in
+Khartum, und am 29. September wiederhallten diese Worte in England.
+Noch ein Tag fehlte an der gesteckten Frist. Wie stand es jetzt um
+Khartum?
+
+Am 30. Juli schrieb Gordon an Sir E. Baring:
+
+ »Besten Dank für Ihre guten Wünsche. Der Nil ist jetzt hoch, und wir
+ hoffen, in wenigen Tagen offene Route nach Sennar zu haben. Unsere
+ Verluste bis jetzt sind nicht ernstlicher Art. Stewart war leicht
+ verwundet, ist aber wieder hergestellt. Seien Sie überzeugt, daß
+ wir diese Gefechte nicht suchen, aber wir haben keine andere Wahl,
+ denn der Rückzug wäre nur dann möglich, wenn wir die Zivilbeamten
+ und ihre Familien im Stich ließen, wogegen die allgemeine Stimmung
+ der Truppen sich auflehnt. Ich habe keinen Rat zu geben. Wenn wir
+ Sennar entsetzen und den Blauen Nil säubern können, wären wir stark
+ genug, Berber zurückzuerobern, d. h. wenn Dongola sich halten kann.
+ Nicht ein Pfund von Ihren Hilfsgeldern ist hier angelangt; es ist
+ dem Feind in Berber in die Hände gefallen. Und ich mißgönne es
+ den Arabern nicht, denn es ist doch nur ein Teil von dem, was die
+ ägyptischen Pascha dem Land erpreßt haben. Es sollten vier Millionen
+ Mark nach Kassala geschickt werden; man muß diesen Besatzungen
+ wenigstens mit Geld zu Hilfe kommen. Khartum kostet zehntausend Mark
+ per Tag. Wenn der Weg nach Berber frei wird, werde ich Stewart mit
+ dem Tagebuch hinschicken, d. h. wenn er einwilligt. Das dürfen Sie
+ glauben, wenn es irgend eine Möglichkeit gäbe, dieses erbärmliche
+ Scharmützeln einzustellen, so würde ich sie ergreifen, denn mir ist
+ der ganze Krieg verhaßt. Die Leute sind dagegen, daß ich die Stadt
+ verlasse, aus Furcht, daß alles noch schlimmer würde, wenn mir
+ etwas zustieße; so sitze ich immer auf Sohlen, wenn die Mannschaft
+ draußen ist. Wenn ich irgend jemand hier ans Ruder stellen könnte,
+ so würde ich es thun, aber es ist niemand da; alle tüchtigen Kräfte
+ zogen mit Hicks aus und sind geblieben. Als Beweis, wie gut die
+ Araber schießen, hat der eine Dampfer neunhundertundsiebzig und der
+ andere achthundertundsechzig Verletzungen im Rumpf. Seit unserer
+ Niederlage am 16. März haben wir nur etwa dreißig Tote und fünfzig
+ oder sechzig Verwundete gehabt, was sehr wenig ist. Wir haben wohl
+ eine halbe Million Patronen verschossen. Die Leute halten sich
+ im ganzen gut ... Es mag taktlos klingen, aber wenn wir je davon
+ kommen, so geben Sie dem Stewart einen Orden, aber nur mir nicht.
+ Ersparen Sie mir die Unannehmlichkeit es abzulehnen, aber ich hasse
+ solches Zeug. ~Wenn~ wir davonkommen, so ist es lediglich durch
+ Gebetserhörung und nicht aus eigener Kraft; fürs übrige ist's dann
+ eine Genugthuung, hier gewesen zu sein, so trostlos es manchmal ist.
+ Stewarts Tagebuch ist sehr ausführlich. Ich will nur hoffen, daß es
+ Sie erreicht, wenn ich's schicken kann. Landminen werden künftig
+ unsere beste Verteidigung sein; wir haben die Außenwerke damit
+ bedeckt, bis jetzt haben sie allen Angriff abgehalten und tüchtig
+ aufgeräumt ... Wir haben einen Khartum-Orden von drei Graden --
+ Silber mit Vergoldung, Silber und Zinn -- eingeführt, eine Granate
+ mit der Umschrift »die Belagerung von Khartum«. Sogar Frauen und
+ Schulkinder haben ihn schon erhalten; ich bin daher sehr populär bei
+ den schwarzen Damen. Wir haben Papiergeld im Wert von einer halben
+ Million Mark in Umlauf gesetzt, und von Kaufleuten habe ich eine
+ Million geliehen, beides auf ~Ihren~ Kredit hin! Auch habe ich
+ einhundertundsechzigtausend Mark Papiergeld nach Sennar geschickt.
+ Was die Steuern betrifft, so zahlt man uns nur in Blei, woraus Sie
+ abnehmen mögen, daß Sie eine schöne Rechnung hier zusammenkriegen.
+ Die Truppen und die Leute im ganzen sind gutes Muts ... Ich glaube,
+ daß eine schreckliche Hungersnot durchs ganze Land das Finale sein
+ wird. Ein Spion brachte gestern die Nachricht, die ›Königin von
+ England‹ sei in Korosko -- vielleicht ist es ein Schiff. Sieben Mann,
+ ich mitgerechnet, sind die ganze Verstärkung, deren der Sudan seit
+ der Hicks-Niederlage sich rühmen kann! während wir euch sechshundert
+ Mann Militär und zweitausend Mann Zivil zugeschickt haben -- wir
+ lachen manchmal darüber. Ich werde Khartum nicht verlassen, ehe ich
+ jemand an meine Stelle setzen kann. Wenn die Europäer, die hier sind,
+ suchen wollen, den Äquator zu erreichen, so will ich ihnen mit den
+ Dampfern dazu behilflich sein; aber nach all dem, was hinter uns
+ liegt, kann ich die Leute nicht im Stich lassen. -- Ich habe Ihnen ja
+ gesagt, daß der Weg über Wady Halfa am rechten Nilufer hin der beste
+ wäre; hätte Berber sich gehalten, so wäre es eine Vergnügungsfahrt.
+ Eine andere Möglichkeit wäre, von Senheit nach Kassala und von da
+ nach Abu Haraz am Blauen Nil; jedenfalls sicher bis Kassala, aber ich
+ fürchte, es ist ~zu spät~. Wir müssen uns selber durchhelfen, so
+ gut wir können. Wenn Gott uns seinen Segen dazu giebt, so wird uns
+ der Sieg; wenn es nicht sein Wille ist, so ist es auch recht ...
+
+ »Warum benutzen Sie die Geheimschrift? Ist ganz unnötig, die Araber
+ haben ja keine Dolmetscher. Sie sagen, es sei Ihr Ziel, den Sudan zu
+ räumen; gut, aber die Araber haben auch ein Wort dreinzureden, ehe
+ sie die Ägypter ziehen lassen. Es wird alles zum besten dienen. Ich
+ wiederhole zum Schluß, wir verteidigen uns so lang wir können, und
+ ich lasse Khartum nicht im Stich. Noch hoffe ich, wenn ich auch bis
+ jetzt kein Wie sehe, daß Gott uns einen Ausweg zeigen wird.«
+ #/
+
+ In einer Nachschrift heißt es:
+
+ /#
+ »Sie fragen in Ihrem Telegramm vom 5. Mai: warum ich darauf bestehe,
+ hier zu bleiben, wenn doch England sich zurückziehe? Antwort: ich
+ bleibe hier, weil die Araber uns eingeschlossen haben und niemand
+ durchlassen. Überdies würden mich die Leute festhalten, wenn ich
+ ihnen nicht vorher zu einer Regierung verhälfe oder sie mitnähme, was
+ nicht möglich ist. Niemand verließe das Land lieber als ich, wenn es
+ sein könnte.«
+
+Im Laufe des August schreibt er an einen Offizier der königlichen
+Marine zu Massaua:
+
+ ».... Eine ganze Reihe kleiner Gefechte mit den Arabern, die wir
+ gottlob zurückgeschlagen haben. Der Weg nach Sennar ist jetzt offen,
+ und wir haben im Augenblick nichts von den Arabern zu befürchten.
+ Wir beabsichtigen morgen einen Angriff und wollen einen Ausfall auf
+ Berber machen; Stewart und die beiden Konsuln (der Engländer Power
+ und der Franzose Herbin) wollen den Versuch wagen, nach Dongola
+ zu entkommen. Wir würden Berber zerstören und wieder auf unser
+ Piratennest zurückfallen ... Ich denke, wir halten Khartum in alle
+ Ewigkeit, wir sind dem Mahdi gewachsen. Hat er Reiterei, so haben wir
+ Dampfer. Wir sind sehr bös auf euch zu sprechen, denn seit dem 29.
+ März hat kein Sterbenswort von der Außenwelt uns erreicht. Ich habe
+ schon zweitausendachthundert Mark für einen Spion hingelegt, und ihr
+ habt dem armen Teufel zwanzig Thaler gegeben (wenigstens behauptet
+ er das), um von Massaua nach Khartum zurückzugelangen. Ich habe ihm
+ vierhundert Mark draufgelegt ... Wir haben wieder Mundvorrat auf fünf
+ Monate und hoffen noch mehr wegzufangen ... Unser Vaterland spielt
+ keine sehr edle Rolle, weder Ägypten noch dem Sudan gegenüber. Ich
+ wollte, ich hätte ein paar von euren Artilleristen hier, denn unsere
+ Kanonade ist erbärmlich. Meine Empfehlung an die Offiziere.«
+
+ Und weiter am 26.: »Ich schrieb Ihnen vorgestern, daß wir einen
+ Ausfall auf die Araber machen wollten. Es ist uns gottlob gelungen,
+ das feindliche Lager einzunehmen. Der arabische Befehlshaber ist
+ gefallen (+R. I. P.+). Unsere Verluste noch unbekannt. Der
+ Sieg hat uns auf drei Seiten, wenigstens in nächster Nähe, Luft
+ verschafft. Übrigens können die Araber ihre Niederlage teilweise den
+ Deserteuren zuschreiben, die im Augenblick des Angriffs in ziemlich
+ großer Anzahl zu uns überliefen. Meine Flotte hat sich glänzend
+ gehalten, worauf meine Freunde von der königl. britischen Marine
+ stolz sein können ... Wir und die hiesigen Truppen haben wenigstens
+ ~ein~ Band, das uns zusammenhält; sie wissen, daß sie in die
+ Sklaverei verkauft werden, wenn die Stadt fällt, und wir wissen,
+ daß wir nur durch eine Verleugnung unseres Herrn unser Leben retten
+ könnten. Und ich glaube, uns ist diese Alternative noch verhaßter
+ als den Soldaten jene. So Gott will, wollen wir den Sieg erringen
+ ohne Hilfe von außen. Spione von Kordofan melden, daß der Mahdi mit
+ sechsundzwanzig Kanonen auf Khartum loszieht. Das ist nicht mehr
+ als ich erwartete; ich habe von Anfang an gedacht, daß es hier zur
+ Entscheidung kommen wird. Will's Gott, ist der Erfolg nicht auf
+ seiner Seite; wir haben gethan, was wir konnten, um Khartum wohl zu
+ befestigen. Mißglückt es ihm, dann ist es auch mit ihm zu Ende.«
+
+Daß Gordons tapferer Mut aufrecht blieb, ergiebt sich aus diesen
+Briefen. Sie zeigen auch, daß er sich entschlossen hatte, seine
+beiden Gefährten Stewart und Power ziehen zu lassen und allein
+zurückzubleiben; es hatte dies einen doppelten Grund. Zum ersten war
+Gordon wohl schon damals zur Gewißheit gelangt, daß es einen harten
+Kampf ums Leben gelten würde, und er wollte seinen Waffengefährten
+Gelegenheit geben, dem fast sichern Tod zu entgehen; zum andern aber
+hoffte er, durch ihre Berichte die saumselige Regierung zum Handeln zu
+bringen. Denn daß man in London zu einem Entschluß in dieser Richtung
+gekommen war, davon hatte er damals noch keine Kenntnis. Warum er sich
+seinen Gefährten nicht anschloß, bedarf keiner weiteren Erklärung.
+Er blieb zurück in reinster Selbstaufopferung. Daß er sich solchen
+Edelsinn nicht selbst beimaß, erhöht nur die Größe seines Handelns. Er
+selbst spricht sich in seiner Weise so darüber aus:
+
+ »Was man auch sagen mag über unser hiesiges Aushalten, es ist bares
+ Geschwätz, wir hatten ja keine andere Wahl; und wenn man wissen
+ will, warum ich mich nicht mit Stewart aus dem Staub gemacht habe, so
+ ist die Antwort einfach die, daß die Leute hier nicht so dumm gewesen
+ wären, mich gehen zu lassen, also was hat sich's da mit Großthaten
+ und Selbstaufopferung!«
+
+Dennoch war's ein vollkommenes Opfer in jeder Hinsicht, ja ein
+Opfer im eigentlichsten Sinn, und Gordon wußte das! Während seines
+Aufenthaltes in Jerusalem hatte er hinsichtlich der englischen
+Beamtenwirtschaft in Ägypten geschrieben: »Mir ist, als ob dies
+Unrecht nur mit Blut zu sühnen wäre.« Und im März schrieb er von
+Khartum: »Wolle Gott diese Sünde nicht an unserem Volk heimsuchen,
+möge die Strafe auf mich fallen, geborgen in Christo. Das ist meine
+Bitte! Und möge Er sich des Volkes hier erbarmen, ihnen Friede
+schenken.« Übrigens konnte Gordon nur ~hoffen~, daß der Dampfer
+»Abbas« die kleine Schar sicher durch die feindlichen Linien tragen
+würde, er weigerte sich daher ihre Abreise anzubefehlen; er setzte
+ihnen auseinander, daß sie durch ihr Bleiben die Lage von Khartum
+nicht zu bessern vermöchten, während sie möglicherweise durch ihr
+Gehen der belagerten Stadt einen großen Dienst erweisen könnten. Beide
+Genossen entschlossen sich unter der Bedingung zu gehen, daß Gordon
+ihnen nicht nachsagen würde, sie hätten ihn in der Not verlassen. Es
+war ein Wettstreit der Großmut. Stewart wollte absolut nicht ohne den
+direkten Befehl seines Vorgesetzten gehen. »Nein,« sagte dieser, »zwar
+fürchte ich die Verantwortlichkeit nicht, aber ich will Sie nicht in
+eine mögliche Gefahr schicken, die ich nicht mit Ihnen teile.« Bei
+der Abreise von London hatte er den ihn an den Bahnhof begleitenden
+Freunden gesagt:
+
+ »So viel ist sicher, daß wo er in Gefahr sein wird, ich sie teilen
+ werde; und wo ich in Gefahr gerate, wird er nicht weit davon sein.«
+
+Aber alles war so ganz anders gegangen, als man es damals hoffte
+und erwartete, und die Kampfgenossen trennten sich. Gordon that zu
+ihrer Sicherheit, was er konnte, indem sein Geschwader ihnen über
+Berber hinaus das Geleite gab; auch ermahnte er sie, sich in der
+Mitte des Stromes zu halten und wegen Holzbedarf nur an einsamen
+Orten zu landen. Am 10. September verließ seine Mannschaft die Stadt
+und kehrte nach einem Siege über die Rebellen dahin zurück, während
+der Dampfer »Abbas« Stewart und Power mit noch etwa vierzig anderen
+stromabwärts trug.
+
+Schon anfangs Oktober gelangte die Unglückspost nach England, daß
+der »Abbas« im Nil gestrandet und seine Mannschaft dem Feind in die
+Hände gefallen sei. Man hoffte eine Zeit lang, Stewart sei mit dem
+Leben davon gekommen, aber nach wenigen Wochen war's auch mit dieser
+Hoffnung zu Ende. Monate vergingen jedoch, ehe man die Einzelheiten
+mit Gewißheit erfuhr, und zwar durch den Heizer des Dampfers, der aus
+der arabischen Gefangenschaft entkam und folgendes berichtete:
+
+Nachdem das Geschwader Berber bombardiert hatte, kehrte die kleine
+Flotte nach Khartum zurück, und der »Abbas« setzte seine Reise fort,
+gelangte auch sicher bis über Abu Hamed. Am 18. September aber stieß
+der Dampfer auf den Grund. Es war in des Scheik Wad Gamrs Land,
+und man hatte seit einiger Zeit bemerkt, daß die Leute auf beiden
+Seiten landeinwärts den Hügeln zu liefen. Als es sich ergab, daß der
+»Abbas« festsaß, wurde ein Rettungsboot mit dem Nötigsten beladen
+und als Landungsplatz eine nahe Insel in Aussicht genommen; das Boot
+ging viermal hin und her. Darnach vernagelte Oberst Stewart selbst
+die Kanonen und ließ sie über Bord werfen; ebenso die Kisten mit
+Schießbedarf. Die Eingeborenen hatten sich mittlerweile in großer
+Anzahl auf dem rechten Ufer versammelt und schrieen: »Gebt uns Frieden
+und Korn!« »Friede,« riefen die Gestrandeten zurück. Soliman Wad Gamr,
+der Scheik, war in einem kleinen Haus in der Nähe; auch er fand sich
+am Ufer ein und rief den Schiffbrüchigen zu, sie sollten nur furchtlos
+herüber kommen, die Soldaten müßten aber ihre Waffen niederlegen,
+sonst würden seine Leute sich fürchten. Und nachdem Oberst Stewart
+mit seinen Gefährten beraten hatte, setzte er mit den beiden Konsuln
+(Power und Herbin) und einigen andern über und betrat das Haus eines
+blinden Fakirs Namens Etman, um daselbst mit dem Scheik über den
+Ankauf von Kamelen zu unterhandeln. Er gedachte den Weg nach Dongola
+durch die Wüste fortzusetzen. Außer Stewart, der einen Revolver trug,
+hatte niemand Waffen. Und während er und seine Begleiter mit dem
+Scheik verhandelten, beschäftigten sich die übrigen mit der Landung.
+Es dauerte nicht lange, da bemerkten diese, daß Soliman aus dem Hause
+stürzte und seinen Stammesangehörigen, die in einem Haufen beisammen
+standen, mit einem Wassereimer, den er hin und her schwenkte, ein
+Zeichen gab. Da warfen sich diese mit ihren Speeren teils auf die
+Mannschaft am Ufer, teils auf das Haus. Der Heizer versteckte sich mit
+einigen anderen und wurde später gefangen genommen. Oberst Stewart
+und seine Gefährten aber wurden unbarmherzig niedergemacht und ihre
+Leichen in den Fluß geworfen. Dann teilten sich die Mörder in die
+Beute. Es war selbst nach arabischen Begriffen ein schändlicher
+Verrat. Stewarts Tagebuch über den bisherigen Verlauf der Belagerung
+Khartums, das Gordon als einen Schatz bezeichnete, wurde mit allen
+übrigen Schriftstücken, Briefen u. s. w., die der »Abbas« trug, dem
+Mahdi ausgeliefert.
+
+Gordons »Tagebücher« beginnen mit dem Tag, an dem er sich von seinen
+Gefährten trennte. Die vier ersten sind an Stewart gerichtet, die
+beiden letzten an den befehlenden General des Entsatzheeres. Es
+sind diese Tagebücher einfach die niedergeschriebenen Gedanken
+eines Menschen, der niemand mehr hat, gegen den er sich aussprechen
+kann. Er bespricht darin die Sachlage von allen Seiten, keinen
+möglichen Einwurf läßt er unbeantwortet; er bringt die militärische
+Stellung zu Papier und arbeitet die zu verfolgende Taktik aus. Er
+macht Aufzeichnungen der täglichen Nebendinge, die nicht selten
+humoristischer Art sind -- z. B. seine Gewohnheit, schwarze Überläufer
+mit den Spiegeln im Palast Bekanntschaft machen zu lassen, damit die
+Leute sich doch auch einmal selbst zu Gesicht bekämen. Die Tagebücher
+sind daher umfangreich, obschon sie nur einen Zeitraum von drei
+Monaten umschließen. Er stellt darin auch das Verfahren der Regierung
+in ein helles Licht, aber er thut es mit der Ruhe eines Menschen,
+der sich in einer höheren Hand weiß, als in der der irdischen
+Machthaber und dem Ausgang, so oder so, ohne viel Aufregung entgegen
+sieht. Nichts steht deutlicher in diesen Aufzeichnungen, als daß der
+Schreiber bis zuletzt an dem seltenen Gottvertrauen festhielt, das
+manche nur als Fatalismus zu belächeln wissen, das er selbst aber
+treffend dahin kennzeichnet:
+
+ »Wenn das Buch unseres Geschickes einmal aufgeschlagen ist, dann ist
+ Ergebung unsere Pflicht, in der Zuversicht, daß uns alles zum besten
+ dienen soll. So lang dieses Buch noch mit Siegeln versiegelt ist,
+ ist es etwas anderes. Und es kann mir niemand nachsagen, daß ich
+ mit diesem Glauben die Hände in den Schoß legte und alles über mich
+ ergehen ließ.«
+
+Es war sein Gottvertrauen und nichts anderes, das ihn dazu befähigte,
+die Gefährten ziehen zu lassen und allein weiterzukämpfen, und wie
+er überhaupt immer mehr an alles andere als sich selbst dachte,
+so erwähnte er dieses Alleinseins mit keinem Wort. Wohl mag er's
+empfunden haben! Wenn er aber schreibt: »Eine Maus hat jetzt bei Tisch
+Stewarts Platz eingenommen, sie scheint sich nicht zu fürchten, denn
+sie holt sich kecklich aus meinem Teller, was ihr gefällt,« so meinen
+wir, er hätte nicht leicht mit wenig Worten mehr sagen können.
+
+Ja, Gordon war allein, aber die Stadt will er halten, ob Hilfe noch
+komme.
+
+
+ 6. Menschenhilfe.
+
+Es war in der ersten Augustwoche 1884, als Gladstone, dem Drängen des
+Volkes nachgebend, sich anschickte, eine Entsatz-Expedition ins Werk
+zu setzen; bisher war standhaft erklärt worden, die Notwendigkeit
+zu militärischen Operationen liege nicht vor. Das Kriegsministerium
+that sein Möglichstes, die verlorene Zeit nachzuholen. Am letzten
+August verließ der erwählte Heerführer, Lord Wolseley, London unter
+den Zurufen und Glückwünschen einer Menge Volks, die sich am Bahnhof
+versammelt hatte.
+
+Wolseleys Instruktionen sind beachtenswert. Es gelte, Gordon zu
+retten, sagte die Regierung, ihrer Politik getreu bleibend, daß der
+Sudan England nichts angehe. Das Entsatzheer solle sich daher aller
+und jeder offensiven Operationen enthalten. Der Auftrag erstreckte
+sich nicht auf die Besatzungen von Kassala und Sennar, noch weniger
+auf die Bahr el Ghasal oder die Äquator-Provinzen. Die Regierung
+setzte sogar Zweifel darein, daß es sich als nötig erweisen werde, bis
+Khartum vorzurücken; jedenfalls sollten die britischen Operationen
+möglichst beschränkt werden. Einigermaßen in Widerspruch mit dieser
+Vorschrift folgte die weitere Anordnung, daß, nachdem ein sicherer
+Rückzug für General Gordon und Oberst Stewart, sowie für die
+ägyptischen Truppen und Zivilbeamten in Khartum gewonnen sei, General
+Wolseley Vorkehrungen treffen solle, um dem Sudan, insbesondere
+aber der Stadt Khartum, eine geordnete Regierung für die Zukunft zu
+sichern. Bezeichnender Weise erhielt dieser Sudan-Entsatzzug den Namen
+»Expedition zur Rettung Gordons«.
+
+Der Held in Khartum erfuhr davon auf eigentümliche Weise. Er erzählt
+in seinem Novembertagebuch, daß eine Post ihn erreicht habe. Die
+Briefe waren in alte Zeitungen gewickelt, darunter war der »Standard«
+vom 1. September, und »nicht mit Gold aufzuwiegen,« sagt Gordon,
+»waren wir doch seit dem 24. Februar ohne alle und jede Nachricht!«
+Dieses Zeitungsblatt aber beschreibt die Abreise Lord Wolseleys, um
+Gordon zu befreien. »Nichts dergleichen,« erklärt Gordon, »sondern um
+die eingeschlossenen Truppen zu entsetzen!« Anderswo spricht er sich
+so aus:
+
+ »Nicht energisch genug kann ich es ablehnen, daß dieser Zug
+ meinetwegen ins Werk gesetzt wird. Es geschieht lediglich, ~um
+ die Ehre Englands zu retten~, um die Besatzungen und andere aus
+ einer Lage zu befreien, in welche die englische Politik in Ägypten
+ sie gebracht hat. Ich unternahm den ersten Zug zum Entsatz, was
+ jetzt kommt, ist der zweite. Was mich betrifft, so könnte ich mich
+ ja jederzeit davon machen, wenn das alles wäre. Überlegt euch aber
+ einmal, was es auf sich hätte, wenn die erste Expedition davon liefe
+ und ihre Dampfer in des Mahdi Hände fallen ließe, wäre das nicht eine
+ böse Vorarbeit für die zweite Expedition, welche Englands Ehre retten
+ will, indem sie die Besatzungen befreit? ~Beide~ Expeditionen
+ gelten der Ehre Englands, das liegt auf der Hand. Ich bin gekommen,
+ um die Besatzungen zu retten und es ist mir nicht gelungen. Nun
+ kommt Earle (der mit Wolseley kam); hoffen wir, es gelingt ihm. Zu
+ ~meiner~ Befreiung kommt er aber nicht! Mit dem Entsatz der
+ Garnison, das gab von Anfang an jeder zu, stand unsere nationale
+ Ehre auf dem Spiel. Wenn Earle nun das gewünschte Resultat erreicht,
+ so verpflichtet er sich die »nationale Ehre«, die ihn hoffentlich
+ auch belohnen wird; mich geht das nichts an, ich bin höchstens zu
+ tadeln, daß es mir nicht gelungen ist. Jedenfalls bin ich nicht das
+ ~gerettete Lamm~ und wills's nicht sein.«
+
+Gordon baute überhaupt nicht auf die Erfolge des Feldzugs, der vier
+Monate früher hätte unternommen werden sollen. Es ist auch nicht
+leicht zu erklären, warum man sich im April nicht zu den Maßregeln
+verstehen konnte, die man im August doch ergriff!
+
+ »Die Möglichkeit liegt natürlich auf der Hand,« schrieb Gordon, »daß
+ Khartum der Expedition noch vor der Nase weggeschnappt wird; man wird
+ gerade noch dazu kommen, d. h. zu spät. Vielleicht hält man es dann
+ für nötig, die Stadt zurückzuerobern, aber das wäre ganz nutzlose
+ Mühe und würde auf beiden Seiten nur unnötig viel Blut kosten. Wenn
+ es so weit kommt, dann kann das Entsatzheer nichts besseres thun,
+ als den Schwanz einziehen und ganz still wieder umkehren. Denn wenn
+ Khartum einmal gefallen ist, dann ist die Sonne untergegangen und
+ die Leute werden sich nicht viel um die Planeten (d. h. die andern
+ Garnisonsstädte) kümmern.«
+
+Der Leser weiß, daß, wie Gordon ahnte, Wolseleys Truppen »gerade noch
+dazu kamen«; man weiß auch, daß sie unverrichteter Dinge umgekehrt
+sind. Und zwar trifft Offiziere und Mannschaft kein Tadel; manch
+Tapferer hat sein Leben gelassen, und die Geldopfer berechnen sich
+nach Millionen. Der Fehler war der, daß es von Anfang an ~zu
+spät~ war.
+
+Von Kairo nach Assiut wurden die Truppen per Bahn befördert und von
+dort per Nildampfer nach Assuan, wo die Schwierigkeiten der Expedition
+ihren Anfang nahmen. Ende September trafen die Flußboote von England
+dort ein, mit welchen man die Mannschaft und den Kriegsbedarf nach
+Dongola zu verbringen beabsichtigte, und vierhundert kanadische
+Bootsleute waren ihrer besonderen Tüchtigkeit halber auf Wolseleys
+Wunsch dazu verschrieben worden. Die Boote durch die Nilschnellen
+oberhalb Wady Halfa zu bringen, bot fast unübersteigliche Hindernisse
+und die Beförderung durch die Wüste mit Kamelen nicht minder; und
+als die Truppen endlich in Dongola angelangt waren, lag schon eine
+Riesenarbeit hinter ihnen, obgleich sie vom Feinde selbst noch nichts
+gesehen hatten.
+
+Dongola wurde anfangs November erreicht, und am 14. dieses Monats
+erhielt Wolseley Nachricht von Gordon vom 4., die ihm abermals zu
+wissen that, daß keine Zeit zu verlieren sei. Er benachrichtigt den
+britischen Heerführer, daß in Metammeh fünf Dampfer mit neun Kanonen
+seiner Befehle harren. Mit andern Worten, sobald er hört, daß der
+Hilfszug im Anmarsch ist, kommt er selbst seinen angeblichen Rettern
+zu Hilfe!
+
+ »~Noch vierzig Tage können wir aushalten~,« berichtet er,
+ »darnach wird's schwer sein ... Der Mahdi ist etwa acht Meilen von
+ hier ... Sennar ist ruhig, und man weiß dort, daß Ihr kommt ...«
+
+Wolseley that sein möglichstes, das Vorrücken zu beschleunigen,
+auch bedurfte es kaum seiner packenden Proklamation, die Truppen
+anzufeuern. Daß Gordon die Stadt bis zu ihrem Kommen halte, das war
+Offizieren wie Gemeinen genug. Durch den Mudir von Dongola hörte man
+ferner aus der belagerten Stadt, daß, als der Bote Khartum verließ,
+dreißig Barken voll Korn vom Blauen Nil eingebracht worden seien,
+und daß die Leute all ihre Hoffnung auf Gordon setzten; daß sogar
+aus des Mahdi Lager Überläufer zu ihm kämen; daß er seinen Bedarf
+an Schießpulver selbst fabriziere, daß er zwölf Dampfer auf dem
+Fluß habe, und daß das Volk anfange, sein Regiment dem des Mahdi
+vorzuziehen. Was letztere Behauptung und die Nachricht von Überläufern
+aus des Mahdis Lager betrifft, so erklärt Gordon in seinem Tagebuch
+dies damit, daß es überall an Nahrung gebreche und der Glaube im
+Umlauf sei, in Khartum leide man nicht Mangel; der Bauch regiere die
+Welt.
+
+So viel war sicher, daß der Mahdi Obeid verlassen und bei Omderman
+angesichts der belagerten Stadt seine Stellung genommen hatte. Es war
+der 21. Oktober, das Neujahr der Moslem, als Gordon das Geschick der
+Abbas, den Tod Stewarts und Powers erfuhr; es bekümmerte ihn tief.
+Nach Omderman aber, woher ihm die Nachricht gekommen, telegraphierte
+er: »Ich lasse dem Mahdi sagen, daß es mir nichts ausmacht und wenn
+er mir den Untergang von zwanzigtausend Dampfern wie die Abbas, den
+Tod von zwanzigtausend Offizieren wie Stewart Pascha meldet. Ich hoffe
+den englischen Entsatzzug bald hier zu sehen, wenn der Mahdi mir aber
+zu wissen thut, daß die Engländer den Schwierigkeiten erlegen sind, so
+ist mir auch das einerlei. ~Ich~ bin hier wie Eisen!«
+
+Der Mahdi machte einen Angriff auf die Stadt. Gordon begegnete
+ihm mit seinen Dampfern und achthundert Schwarzen; es kostete
+einen achtstündigen heißen Kampf, aber es gelang ihm, die Araber
+zurückzuwerfen und sie durch seine Sprengminen aus ihrer Stellung
+zu vertreiben. Der geschlagene Mahdi hat hierauf für gut gehalten,
+sein Angesicht eine Zeit lang zu verbergen und sich in eine Höhle
+zurückzuziehen. In dieser weissagte er, man werde sich sechzig Tage
+lang ruhig verhalten, darnach aber werde das Blut in Strömen fließen.
+Diese »Weissagung« ist so ziemlich auf den Tag in Erfüllung gegangen.
+
+Weihnachten und Neujahr ging vorüber, da schien es endlich Ernst
+werden zu wollen. Das englische Heer rückte in zwei Kolonnen, die
+eine unter Earle, die andere unter Sir Herbert Stewart durch die
+Bajuda-Wüste vor. Das Ziel Stewarts waren die Gakdul-Brunnen, die
+auch erreicht wurden; hier wurde eine feste Stellung gewonnen. Am 15.
+Januar 1885 bewegte sich der Zug weiter nach den Abu Klea-Quellen,
+etwa hundertundzwanzig Kilometer von Metammeh und Shendi am Nil. Dort
+kam es zur Schlacht. Hoffnungsvoll waren die Truppen vorgerückt;
+einzelne Araber, auf die sie unterwegs stießen, rissen des Mahdi
+Abzeichen von ihren Gewändern und erklärten, sie würden den falschen
+Propheten nie anerkannt haben, hätten sie gewußt, daß die Engländer
+kämen. Bei Abu Klea war der Feind zehntausend Mann stark. Die
+englische Kolonne zählte nicht viel über tausend. Es gab eine heiße
+Arbeit, aber den Briten blieb der Sieg; doch kostete er schwere
+Opfer. Sir Herbert Stewart selbst wurde tödlich verwundet; neun
+andere Offiziere fielen, darunter etliche der tapfersten, die England
+aufzuweisen hatte, außerdem gab es an Toten fünfundsechzig Gemeine,
+und fünfundachtzig Verwundete. Über tausend Araber bedeckten das
+Schlachtfeld. Unter Sir Charles Wilson, dem nach Stewarts Verwundung
+der Oberbefehl zufiel, erreichte die britische Abteilung den Nil,
+wo Gordons Dampfer der Befreier mit der frappanten Meldung harrten:
+»Alles wohl in Khartum; wir können uns noch jahrelang halten! -- C.
+G. G. 29. Dez. 84.« Hart auf die Siegesbotschaft von Abu Klea trug
+der Telegraph diese Kunde nach England, und alle Welt jubelte, daß
+die Hilfe doch nicht zu spät gekommen sei, daß der tapfere Held sich
+gehalten habe, und daß seine eigenen Dampfer in wenigen Tagen die
+englischen Landsleute ihm zuführen würden. Daß Gordons Meldung darauf
+abgesehen war, den Feind zu täuschen, daß sie das gerade Gegenteil
+von dem bedeuteten, was ihr Wortlaut besagte, das mutmaßte man vor
+übergroßer Freude nicht.
+
+Und doch war es so! Schon am 14. Dezember hatte ein Geheimbote die
+(ebenfalls für den Feind bestimmte) Nachricht gebracht: »Alles
+wohl in Khartum.« Aber eben derselbe Bote brachte dem britischen
+Oberbefehlshaber eine Privatmeldung ganz anderer Art:
+
+ »Wir sind auf drei Seiten belagert -- bei Omderman, Halfaja und Hoggi
+ Ali droht Angriff. Kampf ununterbrochen Tag und Nacht. Der Feind
+ kann uns nur aushungern. Haltet eure Truppen zusammen, der Feind ist
+ zahlreich. Bringt möglichst viel Truppen. Noch halten wir Omderman
+ und die Verschanzung gegenüber.
+
+ Der Mahdi hat Erdwälle in Schußweite von Omderman aufwerfen lassen;
+ er selbst aber bleibt außerhalb der Schußweite.
+
+ Vor ungefähr vier Wochen haben des Mahdi Truppen Omderman angegriffen
+ und einen Dampfer außer stand gesetzt. Wir haben dafür eine der
+ feindlichen Kanonen demontiert.
+
+ Drei Tage später haben sie uns wieder auf der Südseite angegriffen;
+ wir haben sie zurückgeworfen.
+
+ Saleh Bey und Slaten Bey sind gefangen in des Mahdi Lager.
+
+ Unsere Truppen hier leiden Mangel. Was noch an Proviant da ist, ist
+ wenig; etwas Korn und Zwieback.
+
+ Kommt sobald wie möglich; am besten über Metammeh oder Berber. Rückt
+ auf diesen beiden Linien vor. Versichert euch der Stadt Berber, ehe
+ ihr vorrückt. Hütet euch, den Feind euch im Rücken zu lassen, und
+ wenn ihr Berber habt, dann laßt mich's wissen.
+
+ Haltet den Feind möglichst in Unwissenheit über eure Bewegungen.
+
+ In Khartum giebt's weder Butter noch Datteln und sehr wenig Fleisch,
+ alle Lebensmittel sehr teuer.«
+
+Das klang anders, als »wir können noch jahrelang aushalten!«
+Aber diese Meldung wurde nicht nach England telegraphiert;
+oder, wahrscheinlich richtiger, man hielt für gut, sie in den
+Regierungsbureaus zurückzuhalten. Wie ein Donnerschlag aus klarem
+Himmel fiel daher am 5. Februar 1885 die Botschaft ins Land: Khartum
+ist gefallen!
+
+Sir Charles Wilson war in guter Zuversicht mit zwei von Gordons
+eigenen Dampfern von Metammeh abgefahren. Er erreichte das Ziel am 28.
+Januar, zwei Tage zu spät; des Mahdi Geschütze begrüßten ihn bei der
+Ankunft, er konnte sich nur wieder zurückziehen -- am 26. war Khartum
+gefallen!
+
+
+ 7. Getreu bis in den Tod.
+
+Wer vermag es, die letzten drei Monate in ihrem ganzen Ernst sich
+zu vergegenwärtigen, der nicht selbst als Augenzeuge mit in der
+eingeschlossenen Stadt war! Das Bild wird sich erst dann völlig
+entrollen, die Schlußszene von Gordons Leben wird erst dann mit voller
+Klarheit beleuchtet sein, wenn die Bücher aufgethan werden, in denen
+aller Menschen Thun verzeichnet steht. Einigermaßen aber sind wir,
+weil im Besitz seiner Aufzeichnungen, dennoch wie Augenzeugen.
+
+Kehren wir zu der Zeit zurück, da er mit einem Heldensinn und einer
+Großmut, die ihresgleichen sucht, die Gefährten ziehen ließ, um, wenn
+möglich, ihr Leben zu retten und allein, der einzige seines Volkes, in
+der unseligen Stadt zurückzubleiben. Wie oft hatte Gordon es früher
+ausgesprochen, daß er bereit wäre, sein Leben hinzugeben für seine
+»armen Schafe«, die Schwarzen im Sudan. Es war nicht bloße Redensart.
+Er hat es gethan, sofern ein Mensch für andere sich opfern kann. Es
+liegt ein merkwürdiger Brief von ihm vor, den er an die Freunde in
+Jaffa richtete, als Khartum ernstlich bedroht war und er nicht wußte,
+wie bald die Übermacht von außen, oder der Verrat von innen die Stadt
+dem Feind überliefern würde.
+
+ »Es ist eine Lage, in des man seine Hoffnung nur noch auf Gott setzen
+ kann,« schreibt er. »Zwar sollte dies uns genügen, aber wer nicht
+ selbst in der Lage war, kann kaum verstehen was es heißt: ›Wir wissen
+ nicht, was wir thun sollen, unsere Augen sehen nach dir‹ (2 Chron.
+ 20, 12). Der Aufruhr an sich wäre nichts, wenn wir nur ordentliche
+ Truppen hätten, aber die haben wir nicht, und ich muß mich daher ganz
+ auf Gott verlassen. Es klingt sonderbar, so zu schreiben, als ob Er
+ nicht genug wäre! Es ist meine Menschennatur, die so schwach ist,
+ daß der Mangel mich -- zwar nicht immer, aber manchmal -- bedrückt.
+ Was für veränderliche Geschöpfe sind wir doch und voll Widerspruch;
+ halb Fleisch, halb Geist. Und doch arbeitet Gott an uns und will uns
+ zu Bausteinen machen für seinen Tempel. Ich kann Ihnen nicht sagen,
+ wie ich zwischen zwei Seiten hin und herschwanke. ›Ist meine Hand
+ verkürzt?‹ heißt's auf der einen, und ›schlechterdings kein Ausweg
+ aus dieser Lage!‹ auf der andern. Es ist ein fortwährender Kampf.
+ Ich werde Ruhe finden im Grab. Denkt nicht, daß ich Euer vergesse;
+ denn als Hiob für seine Freunde bat, da wandte der Herr sein
+ Gefängnis (Hiob 42, 10). Lassen Sie Ihre Kinder für mich beten, denn
+ bei Menschen ist keine Hilfe. Wie wunderbar ist das Zurichten der
+ Bausteine, und wie ungern lassen wir uns behauen! Aber dennoch habe
+ ich es gewagt, vor Ihn zu treten, und habe es von Ihm begehrt, die
+ Sünden dieser auf mich zu legen, in Christo. Gott mit Euch. Habt Dank
+ für Eure Fürbitte.«
+
+Von allem, was wir über Gordon wissen -- und wie reich sind die
+Zeugnisse -- ist dieser Brief wohl das Wunderbarste, etwas, das uns
+tief ins Herz greift. Wie treu ist der Mann, der sein Leben einsetzt,
+der mit der ganzen Bürde eines hilflosen Volkes auf seinen Schultern,
+mit der Bitte vor seinen Herrn tritt, ihre Sünden auf ihn zu legen!
+Wenn es wahr ist, daß er schließlich durch Verrat fiel, so fehlt nur,
+daß er hinzugesetzt hätte: ~sie wissen nicht, was sie thun~!
+
+Noch hatte er das Volk auf seiner Seite, das in ihm seine Schutzmauer
+erblickte; aber der Hunger kam, und der Zweifel that sein Werk, wie
+aus seinen Worten hervorgeht: »die Leute mußten uns für Lügner
+halten.« Die Engländer kommen, war lange der Trost; aber sie verzogen
+und kamen nicht. Und dem Volk sank der Mut.
+
+ »Während ihr eßt und trinkt und sicher in euren Betten schlaft,«
+ schreibt er, »wache ich mit meinen Leuten Tag und Nacht, ob es uns
+ gelingen möchte, uns gegen den falschen Propheten zu halten.«
+
+Und wenn selbst seine Leute schliefen, so wachte er. In der Mitte der
+Stadt hatte er sich einen Turm errichtet, von dem er das Land weithin
+übersah. Wenn der Tag graute und andere wachen konnten, dann ruhte
+er. Den Tag über kämpfte er den Kampf mit dem Nahrungsmangel und dem
+Kleinmut in der Stadt; und wenn die Nacht sich senkte, bestieg er
+seinen Turm und hielt die Wache, allein unter dem Sternenhimmel mit
+seinem Gott um den Sieg ringend, die Hilfe erflehend, die versagt
+schien. Wer kann es ermessen, wie die Heldenseele in mancher langen
+Nacht im Kampf für »dies Volk« sich erschöpfte und immer wieder zum
+Anlauf bereit stand, wie oft auch ein neuer Tag heraufstieg und keine
+Rettung brachte!
+
+Nichts tritt in den Tagebüchern klarer zu Tag, als daß Gordon, so
+völlig er auch das Ende in eine höhere Hand legte, alles that, was
+in seiner Macht stand, daß er die ihm anvertraute Stadt Schritt
+um Schritt verteidigte. Nichts unterließ er, was er thun konnte;
+sein Auge war überall, und sein heroischer Mut war sozusagen
+täglich neu. Es war eine Zähigkeit in der Natur dieses Mannes, die
+um so erstaunlicher ist, als er's nicht genug betonen kann, daß
+Menschenhilfe kein nütze ist. Bis auf den letzten Blutstropfen ringt
+er um das Geschick der Stadt, und doch geht sein Glaube von dem
+Gedanken aus, daß eben dieses Geschick vorherbestimmt ist. Für den
+einsichtsvollen Leser liegt hier durchaus kein Widerspruch vor. Er
+erkennt es als seine Pflicht zu ringen, bis das ihm noch verborgene
+Geschick sich erfüllt. Oder um abermals an sein Wort zu erinnern:
+»~Wenn das Buch der Dinge, die sich ereignen sollen, einmal
+aufgeschlagen ist, dann ist Ergebung für uns das Richtige; vorher
+ist es etwas anderes. Und es kann niemand sagen, daß ich bei diesem
+Glauben die Hände in den Schoß gelegt habe.~«
+
+Seine Ergebung in den Willen Gottes, wenn die Ereignisse einmal
+erfüllt sind, hindert ihn z. B. auch durchaus nicht daran, in seinen
+Aufzeichnungen der englischen Regierung ihren Anteil an der Schuld
+recht gründlich unter die Augen zu halten.
+
+ »Wenn ich nicht dächte, daß alles vorherbestimmt und zwar zum besten
+ bestimmt ist, so könnte ich ganze Oktavbände voll Zorn loslassen, so
+ oft ich auf dieses Thema komme. Ich sehe gar nicht ein, warum ich die
+ Stadt auf halbe Rationen setzen soll, nur um die Belagerung um so
+ viel zu verlängern; wenn ich es thäte, so hätten wir eine Katastrophe
+ noch vor der Zeit, wo eine solche bei ganzen Rationen zu erwarten
+ ist. Ich wäre ja ein Engel (unnötig zu bemerken, daß ich das nicht
+ bin), wenn ich nicht bitterbös auf unsere Regierung zu sprechen
+ wäre. Ich will suchen mich über diese Sudan-Wirtschaft und all diese
+ unentschlossene Politik zu beruhigen; aber wenn mir meine schönen
+ schwarzen Soldaten draufgehen, so möchte ich doch den sehen, der beim
+ Gedanken an unsere Machthaber den hellen Zorn unterdrücken könnte!«
+
+Der gutmütige Ausfall auf seine Schaf-Soldaten thut seiner Gesinnung
+in diesem Stücke jedenfalls keinen Eintrag. Die Politik der Engländer,
+sagte er, lasse sich kurz dahin zusammenfassen: sie weigerten sich,
+den Ägyptern in der Sudan-Frage zu helfen, sie verboten den Ägyptern,
+sich selbst zu helfen, und sie wollten nichts davon hören, daß
+andere ihnen helfen. Er bestritt keineswegs das Recht der englischen
+Regierung nach ihrer Einsicht zu handeln, das aber warf er ihr vor,
+daß sie selber nicht wußte, was sie wollte, als es an der Zeit war, ja
+oder nein zu sagen. Hören wir ihn in seinem Oktober-Tagebuch:
+
+ »Was der gegenwärtige Hilfszug an Menschenleben und Geldopfern kosten
+ kann, ist nicht zu ermessen und wird vollständig zwecklos sein; die
+ Unschlüssigkeit unserer Regierung ist an allem schuld. Hätte man von
+ Anfang an gesagt: ›Es geht uns nichts an und wir regen keinen Finger,
+ wenn die Besatzungen im Sudan umkommen‹, hätte man nichts gethan um
+ Tokar zu entsetzen, hätte man mir nichts von Entsatz telegraphiert
+ (s. Telegramm vom 5. Mai, Suakim, und vom 29. April, Massaua), statt
+ dessen vielmehr die drei Worte: ~Hilf dir selber!~ dann könnte
+ kein Mensch sich beschweren. (Gordon fügt in Parenthese bei, daß,
+ während einerseits Baring im Namen der Regierung telegraphierte,
+ daß britische Truppen zum Entsatz Berbers ~nicht~ bewilligt
+ würden, der englische General Graham andererseits Befehl erhielt,
+ den Osman Digna anzugreifen.) Aber die Regierung wollte das nicht
+ sagen, daß sie die Besatzungen im Stich zu lassen gesonnen sei, und
+ darum unterblieb das ›Hilf dir selber‹. Das ist's, was uns die Hände
+ gebunden hat. Hätte ich die Flucht ergriffen, so wäre ich selbst
+ unserer Regierung gegenüber ein Deserteur gewesen; andererseits
+ freilich hat mein Bleiben den gegenwärtigen Hilfszug nötig gemacht.
+ Baring meldete mir klar und deutlich den Befehl, nicht ohne spezielle
+ Erlaubnis der Regierung an den Äquator zu gehen. (Wenn Gordon sich
+ nämlich hatte retten wollen, so wäre das sein Ausweg gewesen.) Ich
+ rechte durchaus nicht darüber mit der Regierung, daß sie den Sudan
+ hat fahren lassen. Es ist ein erbärmliches Land und nicht wert, daß
+ man es halte; aber das sage ich: die Regierung hätte im März den Mut
+ haben sollen zu sagen: ›Hilf dir selber!‹ Damals hätte ich es thun
+ können; jetzt bin ich Ehren halber an dies Volk gebunden, nachdem
+ sechs Monate in unnützem Widerstand hingegangen sind ... Ich sage
+ dies, weil niemand die Geld- und Menschenopfer dieses Hilfszugs
+ mehr beklagt als ich, und niemand kann die Schwierigkeiten besser
+ ermessen als ich; nach allem aber was hinter uns liegt und dank der
+ Unschlüssigkeit unserer Regierung haben wir keine andere Wahl. Es
+ handelt sich für uns jetzt darum, wie wir mit unserer Ehre und mit
+ möglichst geringen Opfern am besten davon kommen. Gebt das Land den
+ Türken, das ist die einzige Lösung der Frage. Hoffentlich denkt
+ niemand, daß ich aus Eigensinn Schwierigkeiten mache; wollte Gott,
+ ich wäre glücklich fort von hier, wo ich seit Februar keine ruhige
+ Stunde gehabt habe! ... Bis vor kurzem waren wir völlig im dunkeln,
+ ob die Regierung die Besatzungen im Stich lassen will oder nicht.
+ Hätte ich meinen Posten verlassen, so hätte man mich als Deserteur
+ darum zur Verantwortung ziehen können, weil ich die Dampfer und
+ Kriegsvorräte in des Mahdi Hand hätte fallen lassen. Denn wenn ich
+ Reißaus nehme, so dauerte es keine fünf Tage und der Mahdi wäre hier
+ ... Ich wiederhole, die englische Regierung wäre, sofern es mich
+ betrifft, aller Verantwortung ledig, hätte man mir nur den Entschluß
+ übermittelt: ›Hilf dir selber, wir lassen die Besatzungen im Stich.‹
+ Dann hätte ich gewußt, woran ich bin, hätte den Leuten sagen können,
+ daß auf Hilfe nicht zu rechnen ist, und hätte keine sechs Wochen
+ gebraucht, um den Äquator zu erreichen. Und ich hätte das in Ehren
+ thun können; denn sobald es einmal feststand, daß man uns im Stich
+ ließ, mußte mein Hierbleiben darauf hinauslaufen, daß ich mit den
+ Khartumern eingeschlossen würde, was ihre Lage nicht bessern konnte,
+ im Gegenteil den Mahdi nur um so mehr aufbringen mußte.«
+
+Wir geben diese Stellen gern ausführlich, weil die Anklage damit am
+besten widerlegt ist, die hin und wieder gegen Gordon laut geworden,
+er habe sich die Folgen seines Bleibens selbst zuzuschreiben.
+
+Weiter sagt er:
+
+ »Hätte ich einen Versuch gemacht mich zu retten, so hätten die Leute
+ hier etwa so geurteilt: ›Sie sind zu uns gekommen, und wir vertrauten
+ Ihnen; wären Sie nicht gekommen, so hätte wohl mancher von uns sein
+ Heil in der Flucht versucht, so aber verließen wir uns darauf,
+ was Sie für uns thun würden. Wir haben seit Monaten Entbehrung
+ über Entbehrung gelitten, um die Stadt zu halten. Wären Sie nicht
+ gekommen, so hätten wir uns dem Mahdi ergeben; jetzt aber, nach
+ unserm langen Widerstand, haben wir keine Barmherzigkeit von ihm zu
+ erwarten, und er wird das vergossene Blut bitter an uns rächen. Sie
+ haben unser Geld entlehnt und uns versprochen, es solle uns sicher
+ wieder gegeben werden; wenn Sie uns verlassen, so ist alles verloren.
+ Es ist Ihre Pflicht und Schuldigkeit, bei uns zu verharren und unser
+ Los zu teilen. Wenn die englische Regierung uns im Stich läßt, so
+ ist das kein Grund, daß Sie uns im Stich lassen, nachdem wir uns
+ all die Zeit her an Sie gehalten haben.‹ ›Und darum,‹ fügt Gordon
+ mit Nachdruck hinzu, ›~erkläre ich ein für allemal, daß ich den
+ Sudan nicht verlasse, bis jeder sich hat retten können, der's nötig
+ hat~, bis eine Regierung hier aufgerichtet ist, die mich meiner
+ Pflicht entbindet. Und wenn jetzt ein Befehl kommt, der mich gehen
+ heißt, ~so werde ich nicht gehorchen, sondern bleibe hier und falle
+ mit der Stadt und teile ihre Not~.‹«
+
+Er giebt anderswo zu:
+
+ »Ich fürchte, ich bin ein allzu selbständiger Offizier, aber so bin
+ ich und kann's nicht ändern. Ich habe nicht einmal Verstecken mit
+ meinen Vorgesetzten gespielt! Wenn ich die Regierung wäre, würde ich
+ so einen, wie ich bin, nie anstellen; denn ich bin unverbesserlich.«
+
+Aber er sagt auch:
+
+ »Ich bin mit dem Auftrag abgesandt worden, den Sudan zu räumen, und
+ nicht um Reißaus zu nehmen und die Besatzungen im Stich zu lassen.«
+
+Mit andern Worten, zu einem ehrlosen Auftrag hätte er sich nicht
+bereit finden lassen, und nachdem er einmal abgesandt war, will er
+die Hand zu einer Ehrlosigkeit nicht bieten. Sehr richtig macht er
+auch darauf aufmerksam, daß, wenn die Regierung mit ihrer langen
+Saumseligkeit recht hatte, es dann auch recht gewesen wäre, dabei zu
+verharren.
+
+ »Das ist mir ein Rätsel,« sagt er, »wenn es jetzt wohl gethan ist,
+ uns zu Hilfe zu kommen: warum war's nicht recht, das früher zu thun?
+ Es ist ganz schön von den Schwierigkeiten der Regierung zu reden,
+ aber das läßt sich nicht leicht wegerklären, daß eine stille Hoffnung
+ im Hintergrund war, ein Zuhilfekommen könnte durch unsern Fall
+ erspart werden! Was mich persönlich angeht, so will ich niemanden
+ Vorwürfe machen; aber es ist mir nicht sehr darum zu thun, mit
+ Verehrung von Leuten zu reden, seien sie wer sie wollen, die sich
+ mit solchen Hintergedanken abgeben können ... Ich weiß in der ganzen
+ Weltgeschichte kein Beispiel von ähnlicher Handlungsweise, wenn ich
+ nicht etwa auf David mit Uria dem Hethiter Bezug nehmen will, und da
+ war eine Eva im Spiel -- eine Entschuldigung, die im vorliegenden
+ Fall meines Wissens nicht existiert. Ich wiederhole, ich habe nichts
+ dagegen einzuwenden, wenn man den Besatzungen nicht helfen will, ich
+ verdamme nur die Unschlüssigkeit. Man hatte nicht den Mut ehrlich zu
+ sagen: wir lassen euch im Stich; man verhinderte es, daß ich an den
+ Äquator ging, mit dem stillen Vorsatz, mir nicht zu Hilfe zu kommen,
+ und -- soll ich sagen mit der Hoffnung? ... (›März, April u. s. w.
+ ~sechs Monate~! hält er noch immer aus?‹) ja, das ist's, was ich
+ der Regierung vorwerfe.«
+
+Es ist schwer, den Machthaber in London ein gerechteres Zeugnis über
+ihr Verhalten zum Sudan auszustellen, als Gordon es hier thut, und der
+Leser hat hoffentlich genug Beweise davon in diesem Buch, daß Gordon
+nicht aus persönlichen Rücksichten so redet; für sich selbst begehrt
+er nichts; er will heute sein Leben hingeben, wenn es sein muß, aber
+schwarz will er nicht weiß nennen und Unehre nicht für Ehre gelten
+lassen, und er wird nur gegen die bitter, die solches von ihm zu
+erwarten scheinen. Er ist sich selbst treu geblieben, und das kostete
+ihn sein Leben. Daß er nie wieder nach England zurückkehren und keinen
+Heller Entschädigung annehmen werde, spricht er mehr denn einmal in
+seinen Tagebüchern aus. Er hätte diesen Entschluß ohne Zweifel auch
+ausgeführt.
+
+Daß des Mahdi Machtentfaltung auf den Fanatismus des Volks
+zurückzuführen sei, giebt Gordon nicht zu; er sagt vielmehr, seiner
+Erfahrung nach gebe es selbst in jenen fanatischen Ländern heutzutage
+nicht viel reinen Fanatismus mehr. Es handle sich bei den meisten
+Leuten vielmehr lediglich um den irdischen Besitz; es sei eher eine
+Art Kommunismus unter der Flagge der Religion. Und Gordons alter Humor
+macht sich geltend, als er erfährt, daß nicht einmal der Mahdi ein
+ehrlicher Fanatiker, sondern ein »Humbug« sei. Ein aus dem feindlichen
+Lager entronnener Grieche erzählte ihm nämlich, daß der Mahdi Pfeffer
+unter den Fingernägeln habe, damit ihm Thränen zu Gebot stünden, wenn
+er Audienz gebe. Auch begnüge er sich, wo er gesehen werde, mit ein
+paar Körnlein Durra, in den verborgenen Räumen seiner Wohnung aber
+lebe er herrlich und in Freuden und versage sich selbst geistige
+Getränke nicht.
+
+ »Ich muß gestehen,« sagt Gordon, »seit ich das weiß, habe ich
+ allen Geschmack am Mahdi verloren; bis jetzt konnte man sich doch
+ wenigstens damit trösten, daß man es mit einem anständigen Fanatiker
+ zu thun habe, der an seine Sendung glaubt. Wenn einer sich aber
+ mit Pfeffer unter den Fingernägeln abgiebt, so ist's wirklich eine
+ Demütigung, sich ihm ergeben zu sollen! ...«
+
+Da übrigens Thränen doch im allgemeinen als ein Beweis der
+Aufrichtigkeit gelten, so setzte Gordon hinzu, das Rezept lasse sich
+vielleicht auch Staatsministern empfehlen.
+
+Unter den Mohammedanern seiner nächsten Umgebung, nämlich seinen
+Dienstboten, machte er ähnliche Entdeckungen.
+
+ »Wenn sie nicht mit Essen beschäftigt sind, dann sind sie am Beten;
+ und wenn sie nicht beten, dann schlafen sie oder sind krank. Man
+ hat wirklich Mühe, sie in den Zwischenpausen zu kriegen; es ist
+ schlechterdings nichts mit ihnen anzufangen, wenn sie auf eine dieser
+ vier Festungen sich zurückziehen, essen, beten, schlafen oder krank
+ sein, und sie wissen es. Man wäre ja ein Bengel, wenn man sie daraus
+ verjagen wollte (was ich übrigens doch manchmal thue). Es gilt einen
+ Befehl abzufertigen, man sieht sich nach seinem Diener um, und der
+ Mensch hält seine Andacht. Ich muß sagen, es ist ein prächtiges
+ Land, um einen Geduld zu lehren! Es ist auch höchst seltsam, aber so
+ oft ich Ursache habe aufgebracht zu sein, was wohl täglich mehrmals
+ vorkommt, ist die ganze Dienerschaft mit ihren Gebetsverrichtungen
+ beschäftigt. Ihre Religion folgt sozusagen der Tonleiter meiner
+ Stimmungen. Sowie ich guter Laune bin, sind sie Heiden.«
+
+Gordons natürliches hitziges Temperament machte sich bis zuletzt
+geltend; aber seine Zornausbrüche sind von so viel Gutmütigkeit
+erfüllt, daß ihnen der Stachel genommen ist. Wie er selbst einmal
+bemerkte, schienen ihn die Leute gerade dann am liebsten zu haben,
+wenn ihm, wie das Sprichwort sagt, der Gaul durchging. So ereignete
+es sich zwei Monate vor dem Ende, daß eines Abends spät durch drei
+Sklaven die Nachricht nach Omderman gebracht wurde, die Araber
+gedächten am folgenden Morgen einen Angriff zu machen. Es wurde
+nach Khartum gemeldet, aber der Telegraphist meinte, es wäre auch
+am andern Morgen noch Zeit, dem Generalgouverneur die Depesche
+vorzulegen. In der Frühe wurde Gordon durch ein heftiges Schießen bei
+Omderman geweckt, die Araber hatten in der That einen bedeutenden
+Angriff gemacht, und Gordons Dampfer mußten erst noch geheizt werden.
+Es folgten mehrere Stunden, die, wie er sagte, ihn um Jahre älter
+machten -- es war das heißeste Gefecht, das die Belagerten bis
+dahin ausgehalten hatten. Als Gordon vernahm, daß der Telegraphist
+eine Hauptschuld trug, dem es oft genug eingeschärft worden war, zu
+jeder Stunde Gordon nötigenfalls zu wecken, bestrafte ihn dieser mit
+ein paar tüchtigen Ohrfeigen, die ihn aber alsbald reuten und ihn
+veranlaßten, dem Geohrfeigten fünf Thaler zu schenken. Er dürfe ihn
+totschlagen, erwiderte der Telegraphist, ein schwarzbrauner Jüngling,
+denn er sei ja sein Vater! Ein andermal handelte es sich darum, einen
+neugebauten Dampfer zu taufen. Die Leute wollten ihn »Gordon« nennen,
+was er mit dem Bemerken ablehnte, es sei keine Gefahr vorhanden, daß
+die Stadt ihn je vergessen werde, habe er doch die meisten von ihnen
+auf alle mögliche Weise seinen Zorn schon fühlen lassen; sie sollten
+den Dampfer lieber »Sebehr« heißen!
+
+Daß Gordon durch die ganze schwere Belagerungszeit dem Ausgange
+ruhig entgegen sah, wissen wir; daß es nicht ohne viel innerliches
+Leiden abging, spiegelt sich wieder und wieder in den Tagebüchern ab.
+Merkwürdig ist folgende Stelle:
+
+ »Oft, seit wir eingeschlossen sind, haben wir die Frage aufgeworfen,
+ ob es wirklich unmännlich ist, sich zu fürchten, wie die Welt sagt.
+ Ich sage offen, daß ich fortwährend in Furcht schwebe und zwar recht
+ gründlich. Ich fürchte die möglichen Folgen der Gefechte. Todesfurcht
+ ist's nicht, die habe ich gottlob ja längst überwunden; aber ich
+ fürchte Niederlagen und was sie bringen. Man spricht von ruhigen
+ Leuten, die sich durch nichts anfechten lassen -- es giebt keine, d.
+ h. es giebt Leute, die es äußerlich nicht zeigen, was sie innerlich
+ fühlen. Daraus folgere ich, daß ein Heerführer nicht in vertrautem
+ Umgang mit seinen Offizieren leben soll, denn sie beobachten ihn mit
+ Luchsaugen und nichts ist ansteckender als Furcht. Mich hat es schon
+ fuchswild gemacht, wenn ich etwa vor Besorgnis nicht essen konnte und
+ dann merkte, daß es meinen Tischgenossen ebenso ging.«
+
+Wenn Gordon auch nicht Furcht im gewöhnlichen Sinn, so doch Besorgnis
+in reichlichem Maße kannte, so ist's kein Wunder. Er hat es öfters
+ausgesprochen, daß es eine Art Verhängnis in seinem Leben war, in all
+seinen Kriegsunternehmungen es mit mehr oder weniger wertlosen Truppen
+zu thun zu haben. Das Jahr in Khartum setzte auch in dieser Hinsicht
+seinem Leben die Krone auf; und was die Zivilverwaltung betrifft, so
+stand es damit nicht besser. Wenn etwas geschehen sollte, so mußte er
+selbst darnach sehen, und die Last eines jeden Departements lag auf
+seiner Schulter.
+
+ »Einen jeden Befehl, und wo sich's doch um das Interesse der Leute
+ selbst handelt, muß ich zwei-, dreimal wiederholen. Ich kann wahrlich
+ sagen, ich bin des Lebens müde; Tag und Nacht, Nacht und Tag ist's
+ ~eine~ fortdauernde Plage.«
+
+Von den Baschi-Bosuks, die ihm ja von jeher ein Dorn im Auge waren,
+kann er zuletzt nur noch sagen, er werde sie in Watte einwickeln und
+aufheben; all seine übrigen Ägypter, die Offiziere nicht ausgenommen,
+ist er bereit, den heranziehenden Engländern zu schenken in der
+Hoffnung, daß er sie dann nie wieder sehen möchte. Nachdem der
+»Abbas« seine Gefährten davon getragen hatte, war nicht ein Mensch
+in der Stadt, auf den er sich verlassen konnte; er nennt es eine
+peinliche Lage. Der österreichische Konsul Hansal war zwar noch da;
+als Gordon aber hörte, derselbe beabsichtige sich mit seinen sieben
+Frauenspersonen zum Mahdi zu schlagen, hatte er nur die eine Antwort:
+»Ich hoffe, er wird es thun!«
+
+Noch am 3. Dezember entwirft Gordon ein Programm, wie zu helfen
+sei, und wenn auch von zweifelhafter Moral, so wäre es doch für die
+Engländer der kürzeste Weg aus der Patsche:
+
+ »Die britische Entsatz-Expedition kommt, um britische Unterthanen aus
+ der Not zu retten, ~lediglich aus diesem Grunde~; man findet,
+ daß einer dieser Unterthanen hier Befehlshaber ist; man rettet ihn,
+ und ehe er sich retten läßt, setzt er, an der Genehmigung des Khedive
+ nicht zweifelnd, Sebehr als seinen Nachfolger ein, dem es zufällig
+ verstattet worden war, sich als Privatmann in Familienangelegenheiten
+ nach Khartum zu begeben. Wer kann da der britischen Regierung einen
+ Vorwurf machen -- kein Mensch. Sie hat den Sebehr nicht eingesetzt,
+ und des Thewfik Regierung geht sie nichts an; man ist nur gekommen,
+ um die eigenen Unterthanen zu retten, und Gordon ist der Mann, der
+ die Ernennung Sebehrs zu verantworten hat! Nicht einmal Thewfik
+ hat eine Verantwortung in der Sache, denn Gordon hat es auf seine
+ eigene Verantwortung hin gethan! Ist das nicht ein prächtiger Plan?
+ Denn erstens reinigt er die britische Regierung von aller Schuld,
+ zweitens legt er mir die Schuld auf, und in dem Wetter, das über
+ mich ergehen wird, werde ich so gründlich übergossen werden, daß
+ man -- ich will nicht schimpfen, noch die Monate zählen -- sagen
+ wir, daß man den bisherigen Verzug dabei ganz übersehen wird. Ja man
+ wird am Ende gar die Regierung noch tadeln, einem solchen Subjekt
+ von britischem Unterthan überhaupt zu Hilfe gekommen zu sein. Das
+ Ministerium kann sich dann ins Fäustchen lachen, und die Fabel bleibt
+ aufrecht erhalten, daß der Sudan oder Ägypten uns nichts angeht.
+ Der Gegenpartei wird's der reine Verdruß sein, wenn die Regierung
+ auf eine so anständige Weise aus ihrer Patsche kommt, während
+ die Gesellschaft zur Unterdrückung des Sklavenhandels und alle
+ Tugendhelden in Europa die Schalen ihres Zorns über mich ausgießen.
+ Und ich entgehe auf diese Weise allen Ehren und Belohnungen, denn man
+ wird höhern Orts nur zu gern die Gelegenheit ergreifen und sagen:
+ ›Nach solch niederträchtiger Handlungsweise kann man den Mann ja
+ nimmer anstellen,‹ als ob sie nicht wüßten, daß er »Belohnungen«
+ so wie so nicht annähme! Es kann mir überhaupt gleichgültig sein,
+ was über mich gesagt wird, denn da ich nicht wieder nach England
+ zurückkehren will, so kann viel in die Zeitungen geschrieben werden,
+ was ich nicht sehe. Es ist in jeder Hinsicht ein vorzügliches
+ Programm!«
+
+Und weiter meint er, er wisse wohl, was über ihn gesagt werden würde,
+jedenfalls ~einen~ wisse er, der ausrufen werde:
+
+ »Mein lieber Gordon, wie kann man so handeln -- ~wären~ Sie doch
+ lieber gestorben, ehe Sie sich so weit vom Pfad der Rechtlichkeit
+ verirrten!«
+
+»Vergnügte Weihnachten!« setzte er trocken hinzu.
+
+Am Tag, da er dies schreibt, berichtet er von drei Schlachten, während
+die Stadt fortwährend beschossen wird; und abends nach sieben fingen
+die Araber noch einmal an, weil die Zinkenisten in der Stadt das
+›Salaam Effendina‹ (das ägyptische ›Heil unserm Fürsten, Heil!‹)
+aufspielten. Am 5. Dezember beschließt er einen Ausfall, um dem Fort
+Omderman zu Hilfe zu kommen, das in bedrohter Lage war.
+
+ »Ich habe nun fast alle Hoffnung aufgegeben, die Stadt zu retten,«
+ sagte er, »dieser Ausfall ist ein letzter Versuch, um die Verbindung
+ mit Fort Omderman wieder herzustellen.« Am folgenden Tage schrieb
+ er: »Ich habe den Gedanken aufgegeben, eine Landung bei Omderman
+ zu bewerkstelligen, wir haben keine Möglichkeit es zu thun.« Am
+ 7. Dezember: »Heute der zweihundertundsiebzigste Tag unseres
+ Eingeschlossenseins. Die Araber haben von ihren Kanonen bei Guba acht
+ Bomben abgeschossen, eine fiel in der Nähe des Palastes, richtete
+ aber keinen Schaden an.«
+
+Daß Gordon am zweihundertundsiebzigsten Tag seiner hoffnungslosen
+Verteidigung der Stadt nicht leichten Herzens sein konnte, bedarf
+gewiß nicht des Nachweises; dennoch kann er seine Belagerungsnotizen
+an jenem Tag mit dem Satz unterbrechen:
+
+ »Mein Truthahn hat eines seiner Weiber umgebracht, Grund unbekannt;
+ wahrscheinlich geheime Korrespondenz mit dem Mahdi, oder sonst eine
+ Haremstreulosigkeit.«
+
+Es war Gordons Art und Weise, einen unliebsamen Gegenstand mit einem
+Gewaltsprung zu verlassen, als ob er einen Scherz machen müßte, um der
+Sorge Herr zu werden. Gold aber wird durchs Feuer bewährt; auch Gordon
+mußte hindurch. Was mag er innerlich gelitten haben im Blick auf die
+ihn umgebende Not einerseits, in Gedanken an seine Landsleute und ihr
+Verhalten andererseits! »~Der Allmächtige hilft mir durch!~«
+schreibt Gordon. Hätte dies tapfere Herz nur gewußt, wie England, ja,
+wie die ganze weite Welt in jenen Tagen um ihn sorgte -- aber es war
+ihm versagt. Er stand im Feuer in großer Einsamkeit, der Allmächtige
+allein war bei ihm.
+
+Die Belagerung stand nun im zehnten Monat, und nicht nur sah man
+der Erschöpfung der Lebensmittel entgegen, sondern, was fast noch
+schlimmer war, auch der Schießbedarf ging auf die Neige. Zwar wurde
+unter Gordons Aufsicht Pulver bereitet und sein Arsenal lieferte
+täglich mehrere tausend Patronen -- der Verbrauch aber war zu groß. Am
+11. Dezember bringt sein Tagebuch die Notiz:
+
+ »Ich habe der ganzen Besatzung Extralöhnung für einen Monat gegeben,
+ nachdem sie bereits solche für drei Monate erhalten hat; ja ich würde
+ nicht zögern, ihnen zwei Millionen Mark zu bewilligen, wenn ich
+ dächte, es hielte die Stadt.«
+
+Das sind inhaltsschwere Worte, nur noch mit Geld oder
+Geldversprechungen war seine Mannschaft bei der Fahne zu halten!
+
+Am 14. Dezember schließen die Tagebücher folgendermaßen -- es ist
+Gordons letzte Botschaft an seine Landsleute:
+
+ »Die Araber haben heute früh zwei Bomben auf den Palast abgefeuert.
+ Vorrat: 546 Ardeb Durra und 83525 Oke Zwieback! Halb elf Uhr -- die
+ Dampfer sind bei Omderman mit den Arabern im Gefecht, und ich sitze
+ auf Kohlen. Halb zwölf Uhr -- die Dampfer sind zurück; den Bordeen
+ traf eine Bombe in die Batterie; nur ein Mann der Unsrigen verwundet.
+ Morgen soll der Bordeen mit diesem Tagebuch abgehen. Hätte ~ich~
+ zweihundert Mann vom Entsatzzug zu befehligen, mehr sind nicht nötig,
+ so würde ich gerade unterhalb Halfaja die Araber angreifen und dann
+ nach Khartum vorrücken. Ich würde mich dann mit dem Nord-Fort in
+ Verbindung setzen und weiteres Handeln von den Umständen bestimmen
+ lassen. ~Das merkt euch~, wenn der Entsatz, und ich verlange
+ nicht mehr als zweihundert Mann, nicht in zehn Tagen hier ist, kann
+ ~die Stadt fallen~; und ich habe gethan, was ich konnte, für die
+ Ehre unseres Landes. Lebt wohl.
+
+ C. G. Gordon.«
+
+Er hat die Stadt nicht zehn, sondern noch dreimal zehn Tage gehalten;
+aber was nach dem 14. Dezember geschehen, wird schwerlich je in
+völlig authentischer Weise bekannt werden. Ohne Zweifel hat er bis
+zum letzten Tag seine Notizen niedergeschrieben, aber sein siebentes
+Tagebuch ist entweder in die Hand des Mahdi geraten oder in der
+allgemeinen Zerstörung zu Grunde gegangen.
+
+Gordon wußte wohl, daß die Besatzung zum äußersten gebracht war.
+Allerlei Anzettelungen in der Stadt und geheime Unterhandlungen mit
+dem Mahdi nahmen überhand. Es ist bemerkenswert, daß Gordon, selbst
+eine redliche Seele wie wenige, sein Leben lang immer wieder die
+Erfahrung machen mußte, daß andere ihn im Stich ließen oder gar
+mit Treubruch ihm begegneten. Es bringt ihn zu dem Geständnis, daß
+der Mensch von Natur ein trügerisches Geschöpf sei. Psalm 116, 11
+lautet in der englischen Übersetzung: ›Ich sprach in meiner Eile
+(Übereilung): alle Menschen sind Lügner‹; das hätte der Psalmist auch
+mit Bedacht sagen können, schrieb Gordon im September 1884. Ob die
+Stadt durch direkten Verrat fiel, wie man in der ersten Zeit nach
+der Katastrophe allgemein annahm, ist nicht klar erwiesen, so viel
+nur ist gewiß, daß die ausgehungerte Besatzung zur Übergabe bereit
+war, daß Gordon also allein stand in der großen Not. Der Mahdi war
+durch Überläufer aufs genaueste von allem unterrichtet, und es war
+seine Absicht, die Stadt zuletzt ohne Schwertstreich durch Hunger zu
+bezwingen.
+
+Gordons Tagebuch unterm 14. Dezember enthielt die letzte bestimmte
+Nachricht über Khartum. Die Lage der Stadt war schon damals eine
+äußerst kritische, »sie kann in zehn Tagen fallen,« schrieb er. Den
+noch vorhandenen Mundvorrat giebt er an jenem Tage auf 83525 Oke
+Zwieback und 546 Ardeb Durra an. Nach seinen fast wöchentlichen
+Angaben der Vorräte läßt sich berechnen, daß bei Einschränkung der
+Durra-Rationen die Verabreichung des Zwiebacks an die Truppen bis zum
+14. Dezember nicht geschmälert worden war, und daß der an diesem Tag
+erwähnte Vorrat allein durch den Bedarf der Truppen in etwa achtzehn
+Tagen erschöpft sein würde. Aber schon am 22. November hatte Gordon
+den Armen der Stadt 9600 Pfund Zwieback verabreichen müssen. Er
+bemerkte dabei: »Ich bin entschlossen, daß wenn die Stadt fällt, der
+Mahdi blitzwenig hier zu essen finden soll.« Es unterliegt kaum einem
+Zweifel, daß es von da ab nötig war, den ärmeren Einwohnern Rationen
+zu bewilligen, und selbst bei größter Sparsamkeit mußte der Vorrat mit
+dem 1. Januar 1885 so ziemlich auf der Neige sein.
+
+Man versetze sich in die Lage der von allen Seiten eingeschlossenen
+Stadt an jenem 14. Dezember, dem 277sten Tag ihrer Not! Es war
+fast auf die Stunde zu berechnen, wie lang die letzten ärmlichen
+Nahrungsmittel noch ausreichen konnten, schon jetzt ist Hunger die
+tägliche Losung, Entkräftung der Mannschaft und drohender Verrat
+sein Gefolge. Keine Nachricht vom Entsatzheer, wie ängstlich man
+desselben auch harrt, und täglich schwächer wird die Hoffnung, daß es
+rechtzeitig eintreffe, täglich geringer wird der Mut der Mannschaft
+und täglich giebt's Überläufer zum Feind.
+
+In all dieser Not, wie ein Fels in der Brandung, steht ~ein~
+Mann, äußerlich wohl auch geschwächt, aber innerlich mit stets
+wachsendem Mut, mit seinem alten Gottvertrauen, seinem kindlichen
+Glauben, die ~eine~ Zuversicht des erliegenden Volks --
+~ein~ Mann voll unbesiegbarer Widerstandskraft, allezeit
+wachsam, allezeit erfinderisch, voll Hingabe seiner selbst, voll
+Mitleid für ›dies Volk‹. »Ich halte aus,« kann er sagen, »aber die
+Haare sind mir grau geworden vor übergroßer Sorge und Anstrengung.«
+Wie nah ist die Hilfe -- er weiß es nicht. Bis fast zuletzt konnte er
+sich retten -- er thut es nicht. Er steht auf seinem Posten, getreu
+bis in den Tod.
+
+Etwa am 6. Januar erließ Gordon eine Verkündigung, in welcher er es
+den Einwohnern freistellte, zum Mahdi zu gehen. Dieser Erlaubnis wurde
+massenhaft Folge geleistet. Der hochherzige Gordon schrieb selbst an
+den Mahdi und forderte ihn auf, diesen armen Moslem Schutz und Nahrung
+zu gewähren, wie er selbst es seit neun Monaten gethan habe. Es ist
+berechnet worden, daß von den im September gezählten 34000 Einwohnern
+nur etwa 14000 zurückblieben. Den sinkenden Mut der Besatzung suchte
+Gordon durch tägliche Ansprachen zu beleben, er verwies immer wieder
+auf den nahenden Entsatzzug, er lobte seine Truppen, daß sie bisher
+ausgehalten, und selbst diese armen Menschen mußten sich an seinem
+eigenen unerschütterlichen Entschluß aufrichten, die Stadt nicht zu
+übergeben.
+
+Am 13. Januar fiel Fort Omderman, ein schwerer Schlag für die
+eingeschlossene Besatzung, die ihres Außenwerks auf der Westseite
+des Weißen Nils damit verlustig ging; auch konnten die Araber durch
+Errichten von Batterien den Weißen Nil jetzt gänzlich für Gordons
+Dampfer schließen, während ihre eigene Position durch die gewonnene
+Flußverbindung zwischen dem Dorf und Lager Omderman ungleich verstärkt
+war. Am 18. Januar, nachdem die feindlichen Außenwerke bist fast an
+die Stadt vorgeschoben waren, machten die Belagerten einen Ausfall
+und ein verzweifelter Kampf fand statt. Von der Besatzung fielen etwa
+zweihundert, und obgleich des Mahdi Verluste beträchtlich gewesen
+sein sollen, so ist doch nicht ersichtlich, daß ein Vorteil für die
+Belagerten errungen wurde. Nach der Rückkehr der Besatzung in die
+Stadt hielt Gordon eine Anrede an die erschöpfte Mannschaft. Er lobte
+ihren tapfern Widerstand und redete ihnen eindringlich zu, den Mut
+nicht fallen zu lassen, Hilfe sei nahe, die Engländer könnten täglich
+kommen und dann sei alles gut! Wie erschöpft mag er selbst gewesen
+sein, der große Held, von dem gesagt wurde, daß er um diese Zeit nie
+mehr schlief!
+
+Die Zustände innerhalb Khartums waren verzweifelte; alle Esel, Hunde,
+Katzen, Ratten waren aufgezehrt, eine kleine Quantität Gummi wurde
+täglich an die Truppen verabreicht, und aus der zerriebenen Holzfaser
+einer Palmenart wurde Brot bereitet. Gordon berief die namhaftesten
+Einwohner mehrmals zum Kriegsrat und ordnete an, daß die Stadt aufs
+gründlichste nach Nahrung durchsucht wurde; das Ergebnis war aber ein
+geringes, nur vier Ardeb Durra in der ganzen Stadt, und diese wurden
+für die Truppen beschlagnahmt.
+
+Mittlerweile gelangte die Nachricht von der Niederlage der Kerntruppen
+des Mahdi bei Abu Klea ins feindliche Lager und rief Bestürzung und
+Zorn unter den Arabern hervor; auch ist gesagt worden, daß bei dieser
+Gelegenheit Unzufriedenheit mit des Mahdi Regiment laut geworden sei.
+Die Rebellen verlangten stürmisch einen Angriff auf die Stadt. Das
+war am 20. Januar. Am 22. folgte die weitere Nachricht, daß die von
+Abu Klea vordringenden Engländer den Nil bei Metammeh erreicht hätten
+(wo Gordons Dampfer auf sie warteten), man schloß hieraus, daß dieser
+Ort in ihren Händen sei, daß somit nichts am Vorrücken sie hindere,
+und dies bestimmte den Mahdi zu einem sofortigen Angriff, ehe die
+englische Hilfe Khartum erreichen könne. In Khartum selbst war ein
+unklares Gerücht von der Schlacht bei Abu Klea und der Ankunft der
+Engländer bei Metammeh laut geworden. Wie nah war die Erlösung, der
+Lohn für alle Treue, die ruhmvolle Rechtfertigung des ausharrenden
+Heldenmuts!
+
+Es sollte anders kommen. Gordons schwarze Truppen standen unter dem
+Befehl von Farragh Pascha, einem freigelassenen Sklaven, der seine
+Erhebung Gordon verdankte, und dieser ist's, den die Anklage traf, die
+Stadt durch Verrat dem Mahdi überliefert zu haben. Wohl möglich, daß
+es sich so verhält, nachgewiesen ist es nicht; nur so viel ist gewiß,
+daß der Mahdi mit ihm unterhandelte, ihm Bedingungen zur Übergabe
+machte. Es ist bekannt geworden, daß Gordon am 23. einen stürmischen
+Auftritt mit Farragh Pascha hatte; ein den Fall Khartums überlebender
+Augenzeuge erklärte als die Ursache desselben, daß Gordon ein Fort
+am Weißen Nil, das unter Farraghs Befehl stand, ungenügend besetzt
+gefunden habe. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Farragh bei dieser
+Gelegenheit einen Vorschlag fallen ließ, die Stadt zu übergeben.
+Gordon soll ihm mit einer Ohrfeige geantwortet und Farragh den Palast
+in hohem Zorn verlassen haben.
+
+Am folgenden Tag berief Gordon abermals einen Kriegsrat. Höchst
+wahrscheinlich kamen Farraghs Vorschläge bei dieser Gelegenheit
+zur Sprache, und die Meinung, daß die Stadt nicht länger zu halten
+sei, scheint die Oberhand gewonnen zu haben. Gordon aber erklärte,
+~er~ werde sie halten. Am 25. war Gordon leicht erkrankt, es
+war ein Sonntag, er zeigte sich nicht öffentlich, doch hatte er
+verschiedene Unterredungen mit namhaften Leuten der Stadt. Er war
+sich offenbar über das nahe Ende klar. Es ist gesagt worden, daß er
+gegen Abend an Bord der »Ismailia« nach der Insel Tuti übergefahren
+sei, um eine Mißhelligkeit der dortigen Besatzung beizulegen. Dadurch
+entstand das Gerücht, daß er im letzten Augenblick an Bord seines
+Dampfers entkommen sei. Der Umstand aber, daß beide Dampfer den
+Siegern in die Hände fielen, ja daß die Ismailia vom Mahdi zu seinem
+Einzug in Khartum benutzt wurde, sowie die genaue, von verschiedenen
+Zeugen bekräftigte Nachricht von Gordons Tod machte es unmöglich,
+jenem Gerücht lange Glauben zu schenken, ganz abgesehen davon, daß
+Gordon nicht der Mann war, sich im letzten Augenblick zu retten. »Mit
+Gottes Hilfe gedenke ich nicht lebend in ihre Hand zu fallen, somit
+bleibt nur der Tod,« hatte er einige Wochen zuvor in sein Tagebuch
+geschrieben. Wenn er an jenem Abend nach Tuti überfuhr, dann kehrte er
+zu einer späten Stunde in seinen Palast nach Khartum zurück.
+
+In der Nacht vom 25. auf den 26. Januar verließen viele ausgehungerte
+Soldaten ihre Posten auf den Wällen, um Nahrung in der Stadt zu
+suchen, während andere vom langen Fasten zu schwach waren, für sie
+einzutreten. Es wurde dies in der Stadt bekannt, und eine Anzahl der
+erschreckten Einwohner bewaffnete sich und ihre Sklaven, um auf den
+Wällen Dienst zu thun. Dies war nichts ungewöhnliches, nur daß in
+dieser Nacht mehr Freiwillige als zuvor sich einfanden. So nahte der
+verhängnisvolle 26. Vor Tagesgrauen geschah der feindliche Überfall.
+Das Bourré-Thor am äußersten Ostende der Verteidigungslinie am Blauen
+Nil und das Mesalamieh-Thor auf der Westseite gegen den Weißen
+Nil waren die Hauptpunkte des Angriffs. An jenem Posten hielt die
+Besatzung stand, am Mesalamieh-Thor hingegen gelang es den Arabern
+in die Festungswerke einzudringen. Ob Verrat in dieser Stunde im
+Werk war, ist nur zu mutmaßen, sicher ist, daß es der ausgehungerten
+Mannschaft an aller Widerstandskraft gebrach. Die Feinde füllten den
+Graben mit Stroh- und Reisigbündeln u. s. w. und erstiegen den Wall.
+
+Oberst Kitchener vom Entsatzzug, ein durch langen Aufenthalt im Sudan
+mit den Arabern und der arabischen Sprache wohlvertrauter Offizier,
+dessen Zusammenstellung der spärlichen Berichte obiges entnommen ist,
+hält dafür, daß Khartum infolge des plötzlichen Angriffs fiel, als die
+hungernde Besatzung zu erschöpft war, um sich hinreichend zur Wehre
+setzen zu können.
+
+Nachdem die Araber in die Stadt eingedrungen waren, stürmten sie
+tobend und mordend durch die Straßen, jeden niedermachend, der ihnen
+in den Weg kam, was den Schrecken der Überfallenen nur erhöhte und
+den letzten Versuch Widerstand zu leisten lahmte. Als der Morgen
+gespensterbleich am fernen Horizont graute, stand die mordende
+Horde in nächster Nähe des Palastes. Jetzt waren sie siegesgewiß.
+Das gellende Geschrei, mit welchem die Streiter des Halbmonds dies
+bekundeten, weckte Gordon aus dem kurzen Schlaf, den die frühe
+Morgenstunde ihm gebracht hatte. Seit Monaten hatte er sich keine
+Nachtruhe gegönnt, er der Wächter und Hüter der ihm anvertrauten
+Stadt. Welch ein Weckruf! er wird ihm nicht unerwartet gekommen sein.
+Er erhob sich, zum letztenmal nahm er eine Waffe zur Hand, er wußte,
+daß er sie bald niederlegen werde, der lange Kampf war zu Ende. Gordon
+verließ den Regierungspalast mit etlichen seiner Leute und machte den
+Versuch, das Arsenal im katholischen Missionshaus zu erreichen; diesen
+Ort hatte er längst für den letzten Kampf ausersehen und hergerichtet.
+
+Mit großer Ruhe und den Seinen etwas voraus nahte Gordon der
+kleinen Kirche. Das kurze Zwielicht der Wüste wich dem aufdämmernden
+Tag, über den hohen Palmen am Blauen Nil erglühte der Osthimmel
+im Morgenrot. Noch hingen die Schatten der verhängnisvollen Nacht
+über der verlorenen Stadt. Verworrenes Geschrei erscholl auf allen
+Seiten von erbarmungslosen Siegern und hilflos Besiegten. Das Schwert
+des Islam war aus der Scheide. Auf dem freien Platz zwischen dem
+Regierungspalast und der kleinen Missionskirche stand Gordon mit
+seiner Schar, als eine Bande von Arabern aus der nächsten Straße
+hereinstürzte. Einen kurzen Augenblick standen beide einander
+gegenüber, dann krachte ein Musketenfeuer, der aufgehende Tag
+erzitterte, und Gordon fiel zum Tod getroffen.
+
+Die Wüste breitete ihr Schweigen über seine sterbliche Hülle, nichts
+weiter hat verlautet. Des Mahdi Horden plünderten und mordeten in
+der Stadt, das Blut der Besiegten floß in Strömen, und als der
+entsetzlichen Arbeit Einhalt geschah, und die Stadt aus hundert Wunden
+blutend, den Blick wieder erhob, war ihr Held, ihr Märtyrer, ja selbst
+sein Leichnam, ihr entrückt.
+
+Die denkwürdige Belagerung von Khartum währte 317 Tage; nie war einer
+erliegenden Besatzung die Hilfe so nahe, und kein Kriegsheld ging je
+in einen schönern Tod.
+
+
+ 8. Die Krone der Ehren.
+
+Gordon wußte, daß er in den Tod ging, er schrieb verschiedene
+Abschiedsbriefe, die ihre Bestimmung erreichten; es sind die Worte
+eines, der das dunkle Thal schon vor sich sieht. Seiner Schwester
+schrieb er:
+
+ »Gott der Herr regiert, und da Er zu Seiner Ehre und unserem Besten
+ regiert, so geschehe Sein Wille. Ich hin ganz zufrieden und kann mit
+ Lawrence[16] sagen, ich habe versucht, meine Pflicht zu thun ....
+ Wenn Gott es einem Menschen geschenkt hat, viel im Umgang mit Ihm zu
+ leben, so kann der Tod für einen solchen nichts Schmerzliches sein;
+ ja, was ist der Tod für den gläubigen Christen!«
+
+Es steht wohl auf jeder Seite der Lebensgeschichte dieses Mannes
+geschrieben, daß er seinem Gott vertraute -- in seltener Weise
+vertraute. Sollte es Leser geben, die fragen, was hat ein Mann wie
+Gordon nun vor anderen voraus, hat er nicht in schmählicher Weise, von
+Freunden verlassen, von Feindeshand fallen müssen, und der Gott, dem
+er vertraute, hat ihm ~nicht~ geholfen? so giebt Gordon selbst
+die Antwort darauf in den tiefrührenden Worten an seine Schwester:
+
+ »Du darfst nicht vergessen, daß unser Herr niemand versprochen hat,
+ ihn das Glück und den Frieden in diesem Leben finden zu lassen.
+ Er hat uns im Gegenteil Trübsal verheißen. Wenn es also ein übles
+ Ende nimmt nach dem Fleisch, so ist Er dennoch treu. Was Er thut,
+ geschieht in Liebe, und Sein Erbarmen ist über mir. Mein Teil ist
+ Ergebung in Seinen Willen, wie dunkel derselbe auch sei.«
+
+Einem fernerstehenden Freund schrieb er:
+
+ »Alles vorbei. Ich erwarte die Katastrophe innerhalb zehn Tagen. Es
+ wäre nicht so gegangen, hätten unsere Leute besser dafür gesorgt, mir
+ Nachricht zukommen zu lassen. Lebt alle wohl. -- C. G. Gordon.«
+
+Dem Sir Charles Wilson, der ihm mit einem Teil der Entsatz-Mannschaft
+die erste Hilfe bringen sollte, schrieb er, er hoffe, daß nach Gottes
+Willen die Engländer rechtzeitig kommen könnten, um ihn und andere
+zu retten, aber er fürchte, sie würden zu spät kommen; er wisse, daß
+Verrat im Anschlag sei, und er könne es nicht hindern. Noch jetzt
+stünde es in seiner Macht sich zu flüchten, aber das wolle er nicht;
+er werde auf seinem Posten bleiben und nicht zuletzt noch davonlaufen.
+Gefangen nehmen lassen werde er sich nicht; also bleibe der Tod.
+
+Und so starb der Held. Die heiße Schlacht war verloren er aber war
+dennoch ein Sieger, einer von denen, die gekrönt werden nach dem
+Kampf. Daß die unverwelkliche Krone ihm wurde, wer könnte daran
+zweifeln! Aber auch eine irdische Krone der Ehren ist ihm behalten,
+wie wenigen seines Geschlechts, in der Bewunderung, ja, in der Liebe
+von Tausenden, die um ihn trauern wie um einen nahestehenden Freund.
+Nicht nur England, die weite Welt erkannte den Verlust. Wie mit
+leuchtenden Buchstaben stand es auf einmal vor aller Augen, dieser
+Mann war ein Held in unserm Jahrhundert, wie sonst nur Sage und Sang
+aus längst vergangenen Zeiten uns von Helden berichten, und er ist
+tot! Die Kunde traf England ins Herz. Wer an jenem 5. Februar, der die
+Nachricht brachte -- den »schwarzen Donnerstag« hat man ihn seither
+genannt -- durch die Straßen von London ging, der konnte auf allen
+Gesichtern lesen, daß Trauer auf das Land gefallen war. Seit der
+indischen Meuterei hat nichts das Land in ähnlicher Weise erschüttert,
+wie der Fall von Khartum. Es war, als handelte es sich für jeden um
+einen persönlichen Verlust. Hoch und nieder, reich und arm hatten nur
+die eine Klage: Gordon ist tot! Kein König ist je so betrauert worden.
+England wußte es jetzt, was es an ihm verlor, und viele Tausende
+schlugen dabei an ihre Brust. Was einer seiner Landsleute aussprach,
+als es sich um ein Gordon-Denkmal handelte, war die Stimmung des
+Volkes seinen Führern gegenüber:
+
+ Ein Denkmal unserm Gordon -- gut!
+ So lang im Nil sich spiegelt Nacht und Tag,
+ Der in Khartum sich färbte rot mit Blut,
+ Sei nicht vergessen, wie der Held erlag.
+
+ Ja, richtet ihm ein Denkmal auf,
+ Und wenn in Marmorstein sein Ruhm erblüht,
+ Schreibt auch als Denkschrift das Bekenntnis drauf:
+ »Aus Dankbarkeit das Volk, das ihn verriet!«
+
+Nur erwähnt sei die Thatsache, daß am Abend des Tages, der ganz
+England mit Trauer erfüllte, einer am andern Morgen erschienenen
+Zeitungsnotiz zufolge Gladstone die komische Oper mit seiner
+Anwesenheit beehrte! Wie zu erwarten stand, hielt dieser Minister dem
+gefallenen Helden Englands einen glänzenden Nachruf im Parlament;
+als er aber mit einem namhaften Beitrag dem projektierten Denkmal
+beitreten wollte, da lehnten sich Stimmen aus allen Volksklassen
+in der Tagespresse dagegen auf. Was das Denkmal für eine Gestalt
+annehmen solle, ob die eines Spitals in Port Said, oder in England
+-- im Gedanken an Gordons »Prinzen« -- die eines Rettungshauses
+für verwahrloste Knaben, darüber ist viel verhandelt worden. Ein
+Ehrendenkmal von Stein ist äußerst bezeichnender Weise erst lang
+nachher zu stand gekommen. Gordon braucht keines. Am 10. Mai 1886
+wurde eine Anstalt unter dem Namen »+The ›Gordon‹ Boys Home+«
+eröffnet, in welcher verwahrloste Jungen im allgemeinen, wenn
+auch nicht ohne Ausnahme für den Soldatenstand erzogen werden.
+Schon im Herbst 1885 wurde ein Anfang dazu gemacht, die nötigen
+Mittel flossen aber nur spärlich. Wäre eine ungenannte Dame nicht
+mit der schönen Summe von hunderttausend Mark zu Hilfe gekommen,
+welche Gabe sie bei der Eröffnung verdoppelt hat, die Anstalt wäre
+vielleicht noch heute nicht eröffnet! Wie Gordons Bruder, Sir
+Henry Gordon, übrigens treffend bemerkt hat, bestehen in England
+bereits gegen fünfhundert derartige Rettungshäuser, und es hätte
+dem bescheidenen und praktischen Sinn Gordons mehr entsprochen, die
+Zinsen des eingegangenen Kapitals in unmittelbarer Weise für arme
+Kinder zu verwenden, wenn man sie in bereits bestehenden Anstalten
+untergebracht, oder sonst für ihr Fortkommen gesorgt hätte, wie Gordon
+selbst in Gravesend gethan, als eine neue Anstalt zu errichten,
+deren bloße Gründung die gezeichneten Mittel verschlingen mußte.
+-- Vom englischen Parlament sind auf Wunsch der Königin Viktoria
+vierhunderttausend Mark bewilligt worden, die Gordons verwitweten
+Schwestern und Schwägerinnen, nach deren Tod aber seinen zahlreichen
+Nichten und Neffen zu gut kommen sollen. Für diese Bestimmung diente
+sein vor der Abreise nach Khartum verfaßtes Testament als Richtschnur.
+Nicht als ob ~er~ viel zu hinterlassen gehabt hätte, nur den Wert
+seines Offizierspatents, etwa zwölftausend Mark. Er konnte ja nie
+Geld in der Hand behalten, so lang es Hilfsbedürftige gab, und wenn
+er gerade bei Kasse war, so war eine ›milde Gabe‹ von zwei oder mehr
+tausend Mark nichts ungewöhnliches bei ihm.
+
+Die Lebensgeschichte eines solchen Mannes ist ein Saatkorn im Acker
+der Zeit; es wird aufgehen und Frucht bringen, und von Gordon gilt das
+Wort: er redet noch, wiewohl er gestorben ist. Die Schönheit eines
+solchen Lebens wird von allen anerkannt, selbst von denen, die am
+wenigsten die Kraft besitzen, das darin gegebene Vorbild nachzuahmen.
+Viele aber werden sich daran aufrichten und suchen, an ihrem Teil
+etwas von der Kraft zu gewinnen, die Gordon stark machte. Im Kampf
+stehen wir alle. Helden im großen Sinn können nicht alle sein; aber
+die Selbstaufopferung, die Demut, die kerngesunde Aufrichtigkeit
+des Mannes können auch andere erreichen. Das Wunderbare bei Gordon
+war, daß der natürliche Mannesmut seines Wesens mit der christlichen
+Demut eins wurde und ihn zum idealen Menschen gestaltete. Es ist ein
+Beweis, daß das Christentum die natürliche Eigenart des Menschen
+nicht vernichtet, sondern sie veredelt und zu ihrer schönsten Blüte
+bringt. Und bei Gordon hat sich dies so völlig bewährt, daß ihm nicht
+leicht ein ebenbürtiger Charakter an die Seite zu stellen ist. Wir
+blicken auf und nieder in der Geschichte der Völker, wo finden wir
+einen, in dem jede Gestalt der Selbstsucht so völlig unterdrückt war,
+der in all seinem Denken und Thun nur um andere sorgte? wo einen,
+der es sich so ernstlich angelegen sein ließ, sein Leben nach dem
+Willen Gottes in der Nachfolge Christi zu gestalten? wo einen, der den
+seltenen Mut in solchem Maße besaß, sich um Menschenurteil nicht zu
+kümmern, wo es mit der Stimme des Gewissens oder dem Wort der Schrift
+im Widerspruch steht? Reichtum, Ehre, die Würde hoher Stellung,
+alles galt ihm nichts, oder doch nur so viel als er glaubte, dadurch
+Gelegenheit zu finden, Gutes zu vollbringen. Von dem Verlangen, sich
+einen guten Namen zu machen, das sonst auch vortrefflichen Menschen
+selbst dann noch anhängt, wenn gröbere Gebrechen überwunden sind, war
+er völlig frei. Sein einziger Ehrgeiz, wenn man es so nennen kann,
+war der Wunsch, seinem Gott zu dienen und seinen Mitmenschen Gutes
+zu thun. Und wie viel ließe sich von seinen anderen Eigenschaften
+sagen, seinem unerschöpflichen Humor, seinem frischen Sinn, seiner
+unendlichen Thatkraft, seinen Mut, seiner Tapferkeit, seiner
+Menschenfreundlichkeit, seiner hochherzigen Treue! Ja, es ließe sich
+das ganze Register menschlicher Tugenden aufzählen, und man hätte nur
+wenige Gebrechen seines Wesens dagegen zu stellen, obschon er selbst
+der erste war, sich mit Paulus unter den Sündern den vornehmsten zu
+nennen.
+
+Es war nicht möglich, die Lebensgeschichte dieses Mannes zu schreiben,
+ohne hervorzuheben, welch rückhaltlose Bewunderung er verdient.
+Gordon selbst sagte einmal, und gewiß mit voller Aufrichtigkeit:
+Lieber tot sein, als gelobt werden! Die edelsten Handlungen seines
+Lebens hat er so angesehen, als ob sie sich von selbst verstünden;
+sie waren auch nichts anderes, als die natürliche Frucht seines vom
+Christentum durchdrungenen Wesens, und in diesem Sinn allerdings
+selbstverständlich. Es ist gesagt worden, daß Gordon ein idealer
+Mensch gewesen sei, der nicht recht ins neunzehnte Jahrhundert paßte;
+wenn dem so wäre, dann müßte man das Jahrhundert bedauern und die
+Menschen, die darin leben. So viel ist sicher, Gordon war einer von
+den wenigen, die den Mut haben, ihr Ideal in allen Dingen, in jeder
+Lage zur Geltung zu bringen, d. h. so zu leben, wie er es mit seinem
+innersten und besten Wesen als gut erkannte. Gäbe es doch viele
+Idealisten in diesem Sinn!
+
+Es gehört mit zu den Rätseln des Lebens, warum Menschen wie Gordon
+oft in der Fülle ihrer Kraft abgerufen werden. Er war fast auf den
+Tag zweiundfünfzig Jahre alt; wie viel hätte er noch hier thun können
+beides zur Ehre Gottes und zum Besten seiner Mitmenschen! Aber, wie
+Staupitz einst zu Luther sagte, es braucht der Herr auch in der andern
+Welt tüchtige Leute, und wenn Er hier Arbeit für solche hat, nicht
+minder dort. Der Himmel ist nicht nur ein Land der Harfen und Kronen
+und des Ruhens von allem Jammer der Zeitlichkeit; wohl das, aber
+er ist auch ein Land des völligeren Gottdienens, wo es, um mit den
+Worten des Gleichnisses zu reden, Städte zu verwalten giebt, was diese
+nun sein mögen. Und als Gordon aus dem Kampf seines Lebens in die
+Wohnungen des Friedens einging, wird er wohl die Stimme seines Herrn
+vernommen haben, die zu ihm sagte:
+
+»=Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu
+gewesen, ich will dich über viel setzen. Gehe ein zu deines Herrn
+Freude.=«
+
+ [Illustration]
+
+
+Fußnoten:
+
+[1] englische Meilen = 45 Kilometer.
+
+[2] Die Sohnestreue des Mannes giebt sich öfter kund. Ein Missionar,
+der ihn im Sudan kennen lernte, sagt unter anderem: »Es ist seine Art,
+rasch von einem Gegenstande zum andern überzugehen. Mitten im Gespräch
+unterbrach er mich z. B. mit der Frage: Haben Sie an Ihre Mutter
+geschrieben? Und auf meine bejahende Antwort fuhr er fort: Das ist
+recht; lassen Sie nur immer Ihre Mutter wissen, wie's Ihnen geht. Wie
+lieb hat meine Mutter mich gehabt!«
+
+[3] Schon vor Sebastopol hatte Gordon hievon einen Beweis gegeben.
+Er kam einmal dazu, wie ein Korporal seine Leute zum Aufwerfen einer
+Schanze mitten in den Kugelregen schickte, während er selbst gedeckt
+stand. Gordon sprang ohne ein Wort zu sagen hinzu und legte mit den
+Soldaten selbst Hand an. »Man muß die Leute nie etwas thun heißen,
+wovor man sich selbst scheut,« belehrte er nach vollbrachter Arbeit den
+Korporal.
+
+[4] »+Soldier of fortune+« sagte die Times -- »Held von Gottes Gnaden«
+wäre richtiger.
+
+[5] Von Heinrich +IV.+ zur Belohnung für ausgezeichnete Kriegsdienste
+gestiftet und so benannt, weil die Ritter als Sinnbild ihrer geistigen
+Reinigung vor der Aufnahme ein Bad nehmen mußten.
+
+[6] »Die ihn angeschmiert haben,« sagte ein Armer, »haben's selber am
+meisten bereut, wenn sie merkten wie gut er war; und erst recht leid
+mußte es ihnen thun, als sie hörten, er sei tot!«
+
+[7] Obschon ein Kriegsheld wie wenige, so war er's doch keineswegs
+aus Liebe zum Krieg. Er selbst sagt: »Die Leute irren sich, wenn sie
+meinen, ein Krieg sei etwas Glorreiches. Es ist nichts anders als
+organisierter Totschlag, Plünderung, Grausamkeit. Und es sind nicht die
+Soldaten, auf die die schlimmste Last fällt, sondern Frauen und Kinder
+und alte Leute. Man mag's betrachten wie man will, so ist der Krieg ein
+rohes, grausames Handwerk.«
+
+[8] Diese etwas eigentümliche Begrüßungsformel beschreibt der englische
+Afrikareisende Petherick folgendermaßen: »Der Häuptling ergriff meine
+rechte Hand und spuckte herzhaft hinein; dann blickte er mir ernsthaft
+ins Gesicht und wiederholte die Zeremonie mit aller Umständlichkeit.
+Im ersten Augenblicke stand ich verblüfft, dann erfaßte mich ein
+wütendes Verlangen, den Menschen durchzuprügeln; er guckte mich aber so
+leutselig an, daß ich statt der ihm zugedachten Züchtigung mich damit
+begnügte, ihm seinen Gruß mit gleicher Münze heimzugeben, und zwar mit
+reichlichen Zinsen. Da überkam ihn eine gewaltige Freude: ich müsse ein
+großer Häuptling sein! sagte er zu seinem Hofstaat.«
+
+[9] Sir Samuel Baker erzählt in seinem Buch »Ismailia«, daß der Thron
+der Könige von Unyoro aus einem sehr kleinen und alten, aus Holz und
+Kupfer verfertigten Stuhl besteht, der seit Generationen von König auf
+König übergeht und als ein Talisman gilt. Gelänge es einem Feind, des
+Stuhles habhaft zu werden, so würde der König so lange aller Autorität
+verlustig sein, als der kostbare Sessel nicht wieder zurückerobert
+würde. Der König und sein Sitz sind deshalb fast unzertrennlich; wo er
+hingeht nimmt er ihn mit.
+
+[10] Als Streiflicht hierzu dient folgendes: Gordon schreibt auf dem
+Weg nach Kairo anläßlich der von ihm nicht gebilligten Anstellung
+eines jener europäischen ›Mitregenten‹: -- »Ich habe meinen Gehalt von
+hundertzwanzigtausend Mark auf die Hälfte herabgesetzt; ich habe genug
+mit sechzigtausend Mark, und die andern sechzigtausend können dem Land
+das wieder ersetzen, was diese Anstellung kostet. Aber ich fürchte,
+ich thue dies mehr aus Zorn als in Liebe ... Je älter man wird, um so
+besser lernt man so an seinen Nebenmenschen handeln, als wären sie
+leblose Gegenstände, d. h. für sie thun was man kann, ohne sich im
+geringsten darum zu kümmern, ob sie es einem Dank wissen oder nicht. So
+handelt Gott gegen uns. Er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.
+Dank findet er selten; im Gegenteil, er wird selbst meist vergessen.«
+
+[11] Der ungenügende Zustand des Gesetzes ergiebt sich aus folgender
+Mitteilung Gordons: »Ich besitze vier Erlasse, 1. einen persönlichen
+Befehl des Khedive, alle Sklavenhändler mit dem Tod zu bestrafen; 2.
+den Vertrag (zwischen der englischen und ägyptischen Regierung, zur
+Unterdrückung des Sklavenhandels, Alexandrien 4. August 1877), welcher
+Sklavenjagd als Raub, beziehentlich als Raubmord kennzeichnet; 3. eine
+gleichzeitige Verordnung des Khedive, welche dieses Verbrechen mit
+Gefängnis von fünf Monaten bis zu fünf Jahren bestraft haben will;
+4. ein Telegramm des Nubar Pascha folgenden Wortlauts: >Der An- und
+Verkauf von Sklaven in Ägypten ist gesetzlich gestattet‹«!
+
+[12] Mit welcher Klarheit Gordon in die Zukunft sah, ergiebt sich
+aus diesem im April 1879 geschriebenen Satz: »Wenn die Befreiung
+der Sklaven i. J. 1884 im eigentlichen Ägypten stattfindet, und die
+Regierung in ihrem gegenwärtigen System verharrt, dann ist ein Aufstand
+hier (im Sudan) zu erwarten; unsere (die englische) Neuerung aber
+schläft ruhig weiter, bis es zu spät ist, und dann handelt man +à
+l'improviste+.«
+
+[13] Die abessinische Kirche erhält seit Jahrhunderten ihren Abuna
+von der koptischen Kirche in Alexandrien; durch die Mißhelligkeiten
+zwischen den Regierungen entbehrte Abessinien zur Zeit dieses
+Würdenträgers und der König hatte niemand, der ihm seine Feinde
+exkommunizierte.
+
+[14] Leider hat in letzter Zeit der Branntweinhandel im Basutoland
+Eingang gefunden mit traurigen Folgen für die Eingebornen. Nicht
+ernstlich genug kann es den europäischen Regierungen, die in Afrika
+Einfluß gewinnen, ans Herz gelegt werden, diesem verderblichen Handel
+möglichst zu steuern. Das ist doch der geringste »Schutz,« den die
+europäischen Machthaber den unwissenden Eingebornen Afrikas angedeihen
+lassen können!
+
+[15] Gordons Aufzeichnungen, oder richtiger Stewarts Tagebuch aus
+dieser Zeit, das, wie Gordon in seinen »Tagebüchern« bemerkt, auch
+als ~sein~ Tagebuch anzusehen sei, ist, wie späterhin ersichtlich,
+dem Mahdi in die Hände gefallen, weshalb über diese fünf Monate nur
+spärliche Berichte vorliegen.
+
+[16] Sir Henry Lawrence, der in Indien vorzügliche Dienste leistete
+und während der Meuterei bei der Verteidigung von Laknau fiel -- ein
+tüchtiger Soldat und demütiger Christ. Er hatte den Wunsch geäußert,
+daß man ihm keine andere Grabschrift setzen möge als: »Hier liegt Henry
+Lawrence, der versucht hat, seine Pflicht zu thun.«
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75673 ***
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+ Gordon | Project Gutenberg
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+<body>
+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75673 ***</div>
+
+<div class="transnote">
+<p class="s3">Anmerkungen zur Transkription</p>
+<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion
+des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler sind
+stillschweigend korrigiert worden.</p>
+<p class="p0">Worte in Antiquaschrift sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p>
+</div>
+
+<figure class="figcenter illowp46" id="cover">
+ <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt="">
+</figure>
+
+<h1 class="mtop2 mbot2"><b>Gordon</b><br>
+<span class="p2 mbot2 s6">der Held von Khartum</span></h1>
+
+<figure class="figcenter illowp52" id="frontispiece" style="max-width: 37.5em;">
+ <img class="w100" src="images/frontispiece.jpg" alt="Frontispiece">
+ <figcaption class="caption">Frontispiece</figcaption>
+</figure>
+
+<hr>
+
+<figure class="figcenter illowp49" id="title" style="max-width: 56.25em;">
+ <img class="w100" src="images/title.jpg" alt="Titel">
+</figure>
+
+<p class="s4 center">Druck der Stuttgarter Vereins-Buchdruckerei.</p>
+
+<p class="s2 mtop2 center">Vorrede.</p>
+
+<p>Nachdem das vorliegende Buch in zwei Auflagen verbreitet worden ist,
+tritt es nun in etwas veränderter Gestalt seinen Weg aufs neue an. Zu
+Grunde liegen folgende Quellen:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>1) <em class="gesperrt">Die stets siegreiche Armee, eine Geschichte des chinesischen
+Feldes unter Oberstlieutenant C. G. Gordon, sowie der Unterdrückung
+des Taiping-Aufstandes, von Andrew Wilson.</em></p>
+
+<p>2) <em class="gesperrt">Die Geschichte des »Chinesen-Gordon« von A. Egmont Hake</em>,
+zwei Bände.</p>
+
+<p>3) <em class="gesperrt">Oberstlieutenant Gordon in Zentral-Afrika (1874-1879) von G.
+Birkbeck-Hill.</em> Letzteres Werk besteht hauptsächlich aus Gordons
+Briefen aus der genannten Zeit.</p>
+
+<p>4) <em class="gesperrt">Die Tagebücher von Generalmajor C. G. Gordon zu Khartum, nach
+dem Original-Manuskript gedruckt. Mit Einleitung und Noten von A.
+Egmont Hake.</em></p>
+
+<p>5) <em class="gesperrt">Betrachtungen in Palästina von Charles George Gordon.</em></p>
+</div>
+
+<p>Außer diesen Hilfsquellen ist eine ganze Reihe kleinerer Bücher
+über Gordon, sowie eine nicht geringe Anzahl von Aufsätzen und
+Zeitungsartikeln gelesen und zum Teil auch benutzt worden. Der
+vorliegenden Auflage sind außerdem nachträglich bekannt gewordene
+Charakterzüge und Streiflichter eingefügt worden. Da und dort ist
+gekürzt, anderes hingegen ist ergänzt worden, so besonders die
+Schlußzeit in Khartum. Es wurde nichts unterlassen, das Lebensbild
+des trefflichen Mannes in gegebenen Grenzen zu einem möglichst
+vollständigen und abgerundeten zu machen.</p>
+
+<p>Die neue Auflage tritt ihren Weg zu einer Zeit an, in welcher
+das Interesse am dunklen Weltteil reger ist denn je. Auch
+<em class="gesperrt">Deutschland</em> hat einen Beruf in Afrika. Männer voll Hingabe wie
+Gordon, wie Emin Pascha, sind es, die Afrika nötig hat. Emin, der
+wie bekannt s. Z. als Gordons Unterstatthalter an den Äquator ging,
+schrieb uns unterm 2. April 1890 von Bagamojo: »Daß <em class="gesperrt">meine</em>
+Kräfte bis zum Tod der Sache Afrikas und seiner schwarzen Kinder
+gewidmet sind, versteht sich von selbst.« Hat Deutschland nicht noch
+andere opferwillige Herzen und Hände, die für die große Arbeit der
+Befreiung Afrikas mit einzutreten bereit sind? »Komm herüber und hilf
+uns!« ist der Schrei des dunklen Weltteils. Hat die Christenheit kein
+Ohr? Wann wird es heißen: Die Sklavenketten sind gefallen! Gordon war
+wie Livingstone ein Stern am Nachthimmel Afrikas, und von beiden gilt
+das Wort. »sie reden noch, wiewohl sie gestorben sind.« Möchte das
+Lebensbild des Helden von Khartum laut reden, der darum ein Held war,
+weil er ein ganzer Mann und ein ganzer Christ gewesen ist.</p>
+
+<p class="mtop1"><em class="gesperrt">London</em>, im September 1890.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_1">[S. 1]</span></p>
+<h2 id="Erstes_Buch">Erstes Buch.<br>
+<span class="s5"><b>Jugendzeit und Krimkrieg.</b></span></h2>
+</div>
+
+<p>Die Gordons sind von alter schottischer Herkunft: Clan Gordon war seit
+unvordenklichen Zeiten ein kriegerisches Hochlandsgeschlecht. Wer
+mit schottischer Geschichte, oder auch nur mit Walter Scott bekannt
+ist, der weiß, daß ein Clan sozusagen die erweiterte Familie ist;
+der alte Stammverband, ob er nun nach Hunderten zählte oder nach
+Tausenden, war von den Vätern her gemeinsamen Blutes, und Gordon
+hießen im vorliegenden Fall alle vom adeligen Clanshaupt an bis zum
+streitbaren Hirten. Im Laufe der Zeit hatte der Stamm übrigens auch
+seine Ableger, die als Gordons von so und so je nach dem betreffenden
+Wohnsitz sich nannten und sich so vom älteren Zweig unterschieden.
+Lord Byron z. B. stammte mütterlicherseits von den Gordons von Gieght.
+Unter dem britischen Adel giebt es jetzt noch mehrere Familien, die
+dem alten Stamm angehören: die Grafen von Huntley, von Aberdeen u.
+a. sind »Gordons«. In den kriegerischen Annalen Schottlands stößt
+man allerwärts auf Gordons, und mancher Gordon zog als Glücksritter
+in die weite Welt. Wo immer es Schlachten zu schlagen gab, da wurde
+der Name bekannt, in Preußen, in Polen, in Schweden, in Rußland, in
+Amerika. Vier Gordons fanden Lorbeeren unter Gustav Adolf. In weniger
+rühmlicher, wenngleich eingreifender Weise findet sich ein Gordon in
+Wallensteins Lager und bei Wallensteins Tod. Peter der Große lernte
+einen Gordon in Moskau hoch schätzen, und der eiserne Zar vergoß
+Thränen am Sterbebett dieses Fremdlings, der, nebenbei bemerkt,
+Tagebücher von historischem Wert hinterlassen hat. In Schottland
+selbst ehrte die englische Regierung das alte Geschlecht,<span class="pagenum" id="Seite_2">[S. 2]</span> indem sie
+einem der neuen Regimenter, die aus dem Chaos des Thronfolgekriegs
+hervorgingen, die Benennung »Gordon Highlanders« verlieh.</p>
+
+<p>Im Jakobitischen Aufstand des Jahres 1745 gab es Gordons auf beiden
+Seiten. Lord Lewis Gordon und fünf Clanshäupter mit ihren Gordons
+kämpften für den Kronprätendenten Prinz Charley (Stuart), während
+ihr Verwandter David Gordon für die neue (hannoverische) Linie
+stritt. In der Schlacht von Preston Pans wurde dieser David von den
+Hochländern (seinen Vettern) gefangen genommen, später aber auf
+Ehrenwort freigegeben. Wie er dazu gekommen war, gegen die Tradition
+seiner Familie für die neue Königslinie einzutreten, ist jetzt nicht
+zu ermitteln, jedenfalls stand er in Gunst beim Herzog von Cumberland
+(dem zweiten Sohn des Königs Georg II.), der ihm ein Söhnchen aus der
+Taufe gehoben hatte. Nach der Schlacht von Culloden, die der Sache des
+Prätendenten den Todesstoß gab, verließ David Gordon mit seinem jungen
+Sohn die alte Heimat und suchte Grund und Boden in der neuen Welt.
+Sechs Jahre später fand er seinen Tod in Halifax, Neuschottland. Sein
+Sohn, des Prinzen Patenkind, war allem nach ein »Häkchen«, das sich
+frühzeitig in der angestammten Weise krümmte; denn kaum vierzehnjährig
+schlägt sich der Jüngling schon in der britischen Armee. In seinem
+vierundzwanzigsten Jahre, als er bereits ein erfahrener Soldat
+war, und zuletzt unter General Wolfe bei Quebec mitgekämpft hatte,
+kehrte der junge Schotte nach England zurück. In Hexham, Grafschaft
+Northumberland, wo er in Quartier lag, fand er in der Schwester des
+dortigen Geistlichen die Soldatenbraut, mit der er 1773 in die Ehe
+trat. Drei Söhne und vier Töchter entsprangen diesem Bund. Die Söhne
+verfolgten wiederum die militärische Laufbahn; der älteste fand
+seinen frühen Tod am Kap, der jüngste hingegen, Henry William, ein
+Artillerieoffizier, geb. 1786, erreichte ein hohes Alter und erlebte
+die erstaunlichen Erfolge der »stets siegreichen Armee« unter seinem
+zweitjüngsten Sohn; dieser aber, Charles George Gordon, ist unser Held.</p>
+
+<p>Henry William Gordon war s. Z. in Woolwich stationiert, und
+Charles George wurde als der vierte von fünf Söhnen am<span class="pagenum" id="Seite_3">[S. 3]</span> 28. Januar
+1833 daselbst geboren. Die Mutter stammte zwar nicht aus einer
+Soldatenfamilie, Unternehmungsgeist war aber auch mütterlicherseits
+ein ererbter Charakterzug. Ihr Vater war Samuel Enderby, ein
+angesehener Kaufherr, dessen Walfischfahrer von sich reden machten.
+Seine Schiffe befuhren ferne und unbekannte Meere; »Enderbys Land« im
+antarktischen Ozean zeugt selbst von geographischer Entdeckung. Dem
+unternehmenden Kaufherrn gehörten auch jene beiden von der englischen
+Regierung mit Thee verfrachteten Schiffe, die im Jahre 1773 im Hafen
+von Boston vor Anker lagen, als die Kolonisten erklärten: »Das Land
+muß gerettet werden!« In jener Nacht bemächtigte sich ein Haufe von
+Schein-Indianern der beiden Schiffe und leerte mit dem Thee die
+aufgezwungene Steuer ins Meer. Das war der Anfang der amerikanischen
+Freiheit.</p>
+
+<p>Gordons Mutter schildern solche, die sie gekannt haben, als eine
+tüchtige Frau, die sich selbst in der Gewalt hatte und unter den
+schwierigsten Umständen immer ihren Gleichmut bewahrte. Mit wahrhaft
+genialem Takt habe sie immer alles zum besten zu wenden verstanden. Im
+Krimkrieg waren drei ihrer Söhne und mehrere ihrer nächsten Verwandten
+vor Sebastopol; man sah sie aber nie zaghaft, sondern immer nur damit
+beschäftigt, ihren Angehörigen zu Hause, wie den fernen Kriegern Gutes
+zu thun. Gordons Vater wird als origineller Mann, als tüchtiger Soldat
+von festem Charakter und angenehmer Persönlichkeit geschildert. Er
+hatte einen unerschöpflichen Humor, und Heiterkeit war sein Element.
+Übrigens war das »Gesetzbuch der Ehre« seine Richtschnur für sich und
+für andere. Soldat war er mit Leib und Seele, und zwar britischer
+Soldat, für ihn das höchste Ideal auf der Erde; es war ihm daher trotz
+der glänzenden Erfolge eine Enttäuschung, als sein Sohn späterhin in
+fremde, nämlich in chinesische Dienste trat. Ein Gordon, meinte er,
+sollte nur seinem eigenen Volk und Glauben dienen. Wer ihn kannte,
+schätzte ihn, denn er war freundlich und großmütig in all seinem
+Thun und von großer Gerechtigkeitsliebe; fürs übrige hatte er dies
+mit seinem Sohn gemein, daß er von Natur eher dazu angethan war zu
+befehlen als zu gehorchen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span></p>
+
+<p>Über Gordons Jugend liegt nur wenig vor. Die ersten zehn Jahre seines
+Lebens verbrachte er mit seinen Eltern in Dublin, Leith und zuletzt
+in Korfu, wo der Vater Festungskommandant war. Obschon wir die
+Wahrheit des Dichterworts nicht verkennen, daß der Knabe des Mannes
+Vater ist, so trifft dies bei Gordon doch nicht auf den ersten Blick
+zu. Er soll als kleines Kind so zart und furchtsam gewesen sein, daß
+Kanonenschüsse, ein tagtägliches Ereignis in seines Vaters Beruf, ihn
+stets erzittern machten. Sehr bezeichnend ist indessen die Thatsache,
+daß der neunjährige Junge, ehe er schwimmen konnte, sich in Korfu
+öfter ins tiefe Meer warf mit der festen Zuversicht, seine größeren
+Gefährten würden ihn nicht ertrinken lassen. Ein sogenannter »braver«
+Junge war er durchaus nicht, vielmehr voller Schelmenstreiche. Sein
+Vater wurde nach der Rückkehr von Korfu im königlichen Arsenal zu
+Woolwich angestellt. Während der Schulferien geriet einst Charles
+Gordon mit einem seiner Brüder auf die undenkbarsten Einfälle. Ihres
+Vaters Wohnung lag der des Garnisonskommandanten gegenüber; es war
+ein altes Haus und voller Mäuse. Diese wurden fleißig weggefangen und
+in des Kommandanten Haus umquartiert. Viele Jahre später schreibt
+Gordon (aus dem Sudan 1879) einer seiner Nichten, welche die ersten
+zwanzig Jahre ihres Lebens im königlichen Arsenal verlebt hatte: »Es
+freut mich zu hören, daß die Rasse der echten Gordons noch nicht
+ausgestorben ist. Aber sicherlich hat keines von Euch die Arsenalleute
+so umgetrieben wie wir seiner Zeit: sie ließen alles liegen und
+stehen, wenn's galt uns zu Willen sein, sie verfertigten uns zum
+Beispiel die herrlichsten Spritzen, die nichtsahnende Menschenkinder
+bis auf die Haut durchnäßten. Und unsere Armbrüste waren einzig! Ich
+weiß noch, wie's einmal an einem Sonntag Nachmittag im Hauptmagazin
+siebenundzwanzig Scheiben gab, alle scharf durchschossen — ein
+kleines rundes Loch zur Ventilation — und der Hauptmann konnte
+von Glück sagen, daß wir ihn nicht mit unsern Bolzen an die Wand
+nagelten.« Ob nicht solch jugendliche Kraftproben mit ihrem gutmütigen
+Humor schon den spätern Mann erkennen lassen? Jedenfalls sieht man den
+werdenden Charakter in einem Beispiel von Knabenstolz. Es ereignete<span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span>
+sich einmal, daß er unverdienter Weise von seinen Mitschülern
+ausgeschlossen werden sollte, als diese nach London durften, um
+»englische Reiter« zu sehen; es ergab sich noch rechtzeitig, daß
+der Junge die Strafe nicht verdient hatte, er war aber nicht dazu
+zu bewegen, sich dem Klassenvergnügen, auf das er sich vorher doch
+so sehr gefreut hatte, anzuschließen. In der Kadettenschule zu
+Woolwich soll ein unverständiger Offizier dem Zögling einmal das Wort
+hingeworfen haben: »Aus Ihnen wird Ihr Lebtag nichts Rechtes«, was
+den jungen Hitzkopf so aufbrachte, daß er sich die Epauletten von
+den Schultern riß und sie seinem Vorgesetzten vor die Füße warf. Man
+sollte zwar denken, daß solche Insubordination den jungen Menschen
+leicht seine Laufbahn hätte kosten können, und Gordon selbst war
+im späteren Leben ein viel zu tüchtiger Soldat, als daß er diesen
+Jugendstreich gebilligt hätte. Auch ist es nichts weniger als ein
+Beweis von Unzulänglichkeit, daß er nach vollbrachter Kadettenzeit
+den Royal Engineers einverleibt wurde, einem Regiment, das für seine
+Offiziere bekanntlich eine hervorragende technische Ausbildung
+voraussetzt.</p>
+
+<p>Im Juli 1852, also in seinem zwanzigsten Lebensjahre, erhielt er sein
+Unterleutnantspatent. Er saß darnach zwei Jahre lang zu Pembroke am
+Reißbrett. Dort gab es Pläne auszuarbeiten zur Befestigung des Hafens
+(Milford), die seitdem ihre Verwirklichung gefunden haben. Diese
+Beschäftigung wurde zuletzt zur ernstlichen Geduldsprobe für den
+jungen Mann, dessen Kameraden ostwärts fuhren, gen Sebastopol. Aber
+auch für ihn kam die Zeit, und am Neujahrstag 1855 trug das »Goldene
+Vließ« ihn in den Hafen von Balaclawa. Er landete mitten im tiefsten
+Winter.</p>
+
+<p>Die Belagerung von Sebastopol dauerte elf Monate, eine schlimme Zeit
+für die britische Armee. Die Schlachten von Balaclawa und Inkerman
+waren geschlagen (Okt. und Nov. 1854), ein Winter voll namenlosen
+Elends folgte darauf. Wie mancher Soldat erfror in den Laufgräben!
+Hunger, Kälte, Krankheit waren die Verbündeten des Feindes. Innerhalb
+der russischen Festung gab's Nahrungsmittel, warme Kleidung,
+Medikamente die Fülle, während die Belagerer draußen das Allernötigste
+entbehrten.<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> Dem ausdauernden Mut der hungernden, zerlumpten Soldaten
+ist kaum ein ähnliches Beispiel an die Seite zu stellen. Englische
+Transportschiffe fuhren zwar mit ihren Ladungen von Zelten, Teppichen
+und Proviant aller Art in nächster Nähe von einem Hafen zum andern,
+aber den Kapitänen fehlten die richtigen Instruktionen, und die
+Offiziere, die's mit ansahen, wußten nicht was die Schiffe enthielten!</p>
+
+<p>Das war die Zeit, in der der junge Gordon seine Feuertaufe erhielt.
+Statt der glorreichen Erfolge sah er wochenlang nur den Jammer des
+Kriegs. Als Ingenieur war seine Arbeit in den Laufgräben. Infolge des
+Elends war da die Mannszucht nicht selten in Gefahr. Er war vielfach
+dem russischen Feuer ausgesetzt, hin und wieder auch dem planlosen
+Schießen seiner eigenen Leute. In gewisser Hinsicht war dies ein
+Vorbild seiner Laufbahn. Wie oft hat er im Feuer gestanden zwischen
+Freund und Feind, und seine wunderbarsten Leistungen waren nicht
+selten die, welche er allein vollbrachte, nachdem die Seinen ihn im
+Stich gelassen hatten.</p>
+
+<p>In seinen Briefen aus der Krim beschreibt er seine tägliche Arbeit und
+erzählt von gefallenen Kameraden. Schon damals giebt er den ernsten
+Sinn und die Ergebung in Gottes Willen zu erkennen, die ihn sein Leben
+lang kennzeichneten. Der Lauf der Jahre hat bei ihm nur das vertieft,
+was sich schon früh kund gab. Der Tod hatte keine Schrecken für ihn,
+jeden Augenblick war er zum Sterben bereit. Wie alle gottvertrauenden
+Menschen wußte er, daß der Tod nur dann kommt, wenn die dem Menschen
+zugewiesene Lebensarbeit vollbracht ist, und in dieser Zuversicht
+verfolgte er furchtlos die Bahn seiner Pflicht. Einmal sauste eine ihm
+zugedachte russische Kugel hart an seinem Ohr vorüber; in einem Briefe
+an seine Mutter erwähnte er der Sache aber nur mit der soldatischen
+Bemerkung: »Die Russen zielen gut; ihre Kugeln sind groß und spitz.«
+Einige Tage später fiel sein Hauptmann; er berichtet darüber in die
+Heimat: »Es ist mir lieb zu wissen, daß er ein ernstgesinnter Mann
+war. Die Bombe platzte über ihm, und ein Splitter traf ihn im Rücken
+— <em class="gesperrt">durch einen Zufall, wie man's nennt</em>; er war augenblicklich
+tot.«<span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span> Aus dem Sudan schreibt er zweiundzwanzig Jahre später im Blick
+auf die Unterdrückung des Sklavenhandels: »Ich kann's vollbringen
+mit Gottes Hilfe und habe die feste Überzeugung, daß er <em class="gesperrt">mich dazu
+bestimmt hat</em>, denn sehr gegen meinen eigenen Willen bin ich hieher
+gekommen ... Ich bin ein Fatalist geworden, wie's die Leute nennen,
+das heißt: ich überlasse es dem lieben Gott mir durchzuhelfen.« Ein
+andermal schreibt er: »Kein Trost kommt dem gleich, den ein Mensch
+hat, der sich allezeit auf Gott verläßt, der glaubt und es nicht nur
+mit dem Munde bekennt, sondern auch mit der That, daß <em class="gesperrt">alle</em>
+Dinge vorher bestimmt sind. Wer so denkt, der hat den Tod schon
+gekostet, und die Widerwärtigkeiten des Lebens fechten ihn nicht mehr
+an.« Gordon hat seine Führung als eine im großen wie im kleinen von
+Gott vorher bestimmte betrachtet, und das ist der Schlüssel zu seinem
+ganzen Leben; dieser Glaube ist es, der ihn zum Helden gemacht hat. Er
+that immer das Beste, was in seinen Kräften stand, dem Ausgang aber
+sah er ruhig entgegen. »Wenn wir nur immer glauben könnten,« heißt's
+in einem anderen Sudan-Brief, »daß alles von Gott bestimmt und zum
+besten bestimmt ist, so wären wir mehr denn Überwinder; die Welt läge
+zu unseren Füßen ... Unglück, das uns trifft, ist in Wirklichkeit
+nie so schlimm als in der Erwartung, und wenn wir nur stillhalten
+könnten, so trügen wir's leichter. Ich kann das Dasein Gottes von
+seiner Vorherbestimmung und Leitung aller Dinge, der guten wie der
+bösen, nicht trennen; das Böse läßt er zu, aber es bleibt unter seiner
+Fügung.«</p>
+
+<p>Nach dem Tod des Zaren, im März 1855, schritt die Belagerung stetig
+aber langsam vor. Ende April schreibt Gordon: »Wir schieben unsere
+Batterien vor, können aber nicht viel thun, ehe die Franzosen Fort
+Malakow eingenommen haben.« Bis Anfang Juni verharrten die Briten
+ziemlich unthätig. Gordon hatte nicht viel zu berichten; eine Zeile
+aber muß erwähnt werden: »Es ist sehr zu beklagen,« sagt der junge
+Leutnant, »daß wir keine rechten Feldprediger haben; ich wüßte auch
+nicht einen zu nennen, dem das Wohl der Soldaten wahrhaft am Herzen
+läge.«</p>
+
+<p>Am 6. Juni eröffneten die Engländer das Feuer aus tausend Feldstücken;
+aber obschon Gordon schreibt: »Ich glaube nicht, daß<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> sich Sebastopol
+noch zehn Tage halten kann,« so hielt die Festung sich doch noch
+zehnmal zehn Tage; und während dieser ganzen Zeit war der junge
+Ingenieur-Offizier auf seinem Posten in den Gräben.</p>
+
+<p>Am 8. September erstürmten die Franzosen den Malakow. Die Engländer
+pflanzten ihre Fahne auf Fort Redan auf, wurden aber nach einer Stunde
+wieder daraus vertrieben. Zum wiederholten Angriff am folgenden Tage
+kam es nicht, denn in der Nacht räumten die Russen die Festung. Gordon
+schreibt:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»In der Nacht auf den 9. hörten wir eine furchtbare Explosion,
+und als ich um vier Uhr morgens in die Gräben ging, sah ich ein
+gewaltiges Schauspiel. Sebastopol war in Flammen, und als die
+aufgehende Sonne die Zerstörung beleuchtete, war der Effekt in der
+That wunderbar. Die Russen verließen die Stadt; alle Dreidecker
+waren in den Grund gebohrt, nur die Dampfschiffe übrig. Viele Tonnen
+Pulvers müssen in die Luft gesprengt worden sein. Morgens acht Uhr
+erhielt ich Ordre, einen Plan der Festungswerke auszuführen, und
+begab mich nach Fort Redan; dort hatte ich einen entsetzlichen
+Anblick. Die Gefallenen wurden haufenweise beerdigt, Russen und
+Engländer mit einander.«</p>
+</div>
+
+<p>Nach dem Fall von Sebastopol war Gordon bis Februar 1856 fast
+ausschließlich damit beschäftigt, die vom Brande verschonten
+Festungswerke zu demolieren, und mit dieser wenig interessanten, aber
+harten Arbeit schließt seine Zeit in der Krim.</p>
+
+<p>Aus Gordons eigenen Berichten läßt sich wenig oder nichts über seine
+persönlichen Leistungen entnehmen; Oberst Chesney dagegen, ein
+Offizier, der vielfach Gelegenheit hatte ihn zu beobachten, stellte
+ihm nachmals folgendes Zeugnis aus: »In seiner bescheidenen Stellung
+als Ingenieur-Leutnant hat er durch seine Tapferkeit und Energie die
+Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich gezogen und überdies
+eine spezielle strategische Tüchtigkeit an den Tag gelegt, die sich
+in den Gräben vor Sebastopol in einer persönlichen Kenntnis der
+feindlichen Taktik kundgab, wie kein anderer Offizier sie erlangte.
+Wir beauftragten immer ihn damit, ausfindig zu machen, was die Russen
+vorhatten!«</p>
+
+<p>Auch General Jones hob seine Verdienste hervor, aber das<span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span> war
+vorläufig alles, was ihm von englischer Seite an Lorbeeren zu teil
+wurde, da im Ingenieur-Korps das Avancement lediglich nach dem
+Dienstalter erfolgt. Die Franzosen verliehen ihm das Kreuz der
+Ehrenlegion. So jung er war, hatte er doch bereits einen guten Anfang
+gemacht »sein Bestes zu thun«.</p>
+
+<p>Ehe wir die Krim verlassen, mag noch bemerkt werden, daß mit ihm in
+den Laufgräben zwei andere junge Offiziere sich auszeichneten, die
+berühmt geworden und neben Gordon auch im Sudan auf den Plan gekommen
+sind: General Sir Gerald Graham und General Lord Wolseley, beide seine
+lebenslänglichen Freunde.</p>
+
+<p>Im Frieden von Paris verlor Rußland, was es seither durch den Berliner
+Kongreß wieder erlangt hat, nämlich einen Streifen Land, dessen Besitz
+die Beherrschung der untern Donau bedeutet. Bis 1812 gehörte dieser
+Landstrich den Türken. Jetzt sollte die alte Grenze wiederhergestellt
+werden. Eine Kommission, bestehend aus englischen, französischen,
+russischen und österreichischen Offizieren, wurde damit beauftragt.
+Der britische Abgeordnete war Major Stanton, und unter ihm die
+Leutnants James und Gordon. Im Sommer 1856 begab sich Gordon deshalb
+nach Bessarabien.</p>
+
+<p>Diese neue Arbeit bot Abwechslung. Zwar waren die Salzsümpfe am
+Schwarzen Meer kein angenehmer Aufenthalt und Kischinew, das
+Hauptquartier der Grenzkommission, das schmutzigste Nest in
+Südrußland. Gordon und James durchritten das Sumpfland fast ein
+Jahr lang, heute als Grenzvermesser, die russische Landkarte
+untersuchend und nötigenfalls verbessernd, morgen vielleicht nur als
+Depeschenkuriere. Gordon fand diese Beschäftigung weit ansprechender
+als den Krimkrieg; nichtsdestoweniger war es ihm unwillkommen, daß er
+nach vollbrachter Grenzbestimmung zu einem ähnlichen Geschäft an die
+asiatische Grenze versetzt wurde. Er hatte Verlangen nach der Heimat
+und telegraphierte die Anfrage nach England, ob nicht ein anderer für
+ihn eintreten könne. Aber seine Tüchtigkeit war bereits notorisch und
+»Leutnant Gordon muß gehen«, lautete die Antwort.</p>
+
+<p>In Armenien kam er zum erstenmal mit unzivilisierten Völkerschaften
+in Berührung und bewies schon damals durch den Takt, mit welchem er
+mit den Kurden-Häuptlingen umging, daß<span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span> er ein besonderes Geschick
+hatte, das Vertrauen solcher Stämme zu gewinnen und sie mächtig zu
+beeinflussen. Sein Beruf führte ihn nach manchem interessanten Ort des
+berühmten Landes. Er besuchte Erzerum, Kars, Eriwan, die Ruinen von
+Arni, und bestieg auch den Ararat. In jenen Gegenden gewann er seinen
+ersten Einblick in die Art und Weise, wie die Türkei dem Sklavenhandel
+Vorschub leistet. Zwanzig Jahre später lernte er die Greuel der
+Sklaverei an der Westgrenze der muhammedanischen Welt kennen, und die
+schönste Arbeit seines Lebens war die, welche er der Unterdrückung
+jenes schändlichen Handels gewidmet hat.</p>
+
+<p>Nach einem halben Jahr in jenem Land voll reicher Erinnerungen kehrte
+er nach Konstantinopel zurück, wo die Grenzkommission tagte, um von
+da nach dreijähriger Abwesenheit den Heimweg anzutreten. Im Frühjahr
+1858 wurde er abermals nach Armenien geschickt, wo er bis zum Herbst
+damit beschäftigt war, die neue Heerstraße zwischen den russischen und
+türkischen Grenzländern zu untersuchen.</p>
+
+<p>Das folgende Jahr verbrachte er auf der englischen Militärstation
+Chatham, wo er im April 1859 nach siebenjähriger Dienstzeit zum
+Hauptmann avancierte.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<h2 id="Zweites_Buch">Zweites Buch.<br>
+<span class="s5"><b>Gordon in China.</b></span></h2>
+<h3>1. Die Taipings.</h3>
+
+
+<p>Die nächsten mit dem Juli 1860 beginnenden vier Jahre umschließen in
+dem Leben Gordons fast märchenhafte Ereignisse. Es ist die Zeit, die
+ihm den Ehrennamen »Chinesen-Gordon« brachte. Folgen wir dem Manne in
+den fernen Osten.</p>
+
+<p>In keinem Lande der Welt ist die Gegenwart so mit der Vergangenheit
+verwachsen wie in China. Das hohe Alter des chinesischen Reiches
+ist ein einzig dastehendes Beispiel in der Weltgeschichte, und
+dieselben Grundsätze, die diesen Staat in seiner Jugend regierten,
+sind noch jetzt die Haltpunkte des »schwarzhaarigen<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> Volkes«. Um eine
+revolutionäre Bewegung der Neuzeit wie den Taiping-Aufstand richtig
+zu verstehen, muß man wenigstens einen Blick gethan haben in die
+Gedankenwelt der alten chinesischen Weisen. Bei uns wäre es müßig, die
+Sachsenkriege eines Karl des Großen oder die italienischen Feldzüge
+eines Barbarossa zu betrachten, um beispielshalber die Politik
+eines Staatsmannes der Gegenwart ins richtige Licht zu setzen; in
+China aber gehören Einst und Jetzt so zusammen, daß Yao und Schün,
+die halbmythischen Kaiser, und der große Yü von vier Jahrtausenden
+her heute noch das »blumige Land« beeinflussen. Konfucius, der
+»thronlose König«, der »Lehrer von zehntausend Geschlechtern«, betont
+es wiederholt, er bringe nichts Neues: »Ich selbst bin nicht die
+Weisheit«, sagt er, »ich suche sie bei den Alten.« Und was lehrten
+oder glaubten nun diese Alten? Wenn man das Schu-King, dieses wohl
+4000 Jahre alte »Lehrbuch der Anfänge« fragt, so lautet die Antwort:
+das ganze Weltall ruht auf einer göttlichen Harmonie, die im Herzen
+des Menschen Widerhall findet. Dieser <em class="gesperrt">Gedanke des Harmonischen</em>
+zieht sich durchs Schu-King und alle anderen chinesischen Klassiker
+hin. So heißt's vom Kaiser Yao, daß, »nachdem er selbst harmonisch
+geworden, er die Unterthanen zum Einklang gebracht habe«, und der
+Kaiser Schün ist deshalb gewählt worden, weil er's verstanden hat,
+»seinen Vater, seine Mutter, seine Brüder, ja alle dummen und
+einfältigen Verwandten zu <em class="gesperrt">harmonisieren</em>«. Wenn das Land
+zerrüttet ist, so sagt man in China: »die Leute sind nicht harmonisch«.</p>
+
+<p>In der Vorstellung der Harmonie wurzelt alles in China; es ist der
+Tien oder Himmel des Konfucius, das Schang-ti oder Göttliche der
+alten Schriften; und da nur der Weise wirkliches Verständnis dafür
+hat, so ist es sein heiliges und besonderes Vorrecht, den Himmel der
+Erde, die Gottheit den Menschen zu deuten. Er allein weiß, wie die
+wahre Harmonie sich in irdischen Dingen kundgiebt, sei's nun zwischen
+Herrscher und Unterthanen, zwischen Vater und Sohn oder Gatte und
+Gattin, Freund und Freund. Der Weiseste soll Regent sein; er sei an
+Gottes Statt der Beherrscher des blumigen Landes, der schwarzhaarigen
+Menschen, ja der ganzen Welt. Er ist der Ebenbürtige des Himmels.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span></p>
+
+<p>Es ist ersichtlich, daß die chinesische Anschauung der elterlichen
+Autorität, wie auch ihre althergebrachte Theorie, nur tüchtige
+Menschen zu Amt und Herrschertum zuzulassen, lediglich Bruchteile
+jenes Hauptgedankens der Harmonie sind, woraus die weitere Vorstellung
+sich ergiebt, daß in allen Verhältnissen des Lebens, in aller
+gemeinsamen Thätigkeit, gleichviel welche verschiedenartigen Kräfte in
+derselben sich äußern, eine symmetrische Einheit das Endziel ist. Kein
+Volk hat umfassendere Begriffe von Organisation und Zentralisation als
+die Chinesen; aber die Anschauung ist lediglich die einer organischen
+Einheit, in der das Niedere naturgemäß und willig dem Höheren sich
+unterordnet, das Gegenteil also einer nur äußeren Einheit durch
+Gewalt. Die Chinesen sind daher in Wahrheit ein demokratisches Volk.
+Nichts ist irrtümlicher als anzunehmen, daß der Kaiser oder seine
+Beamten, sei es theoretisch oder praktisch, eines unumschränkten
+Herrschertums sich erfreuen. Konfucius und alle anderen Weisen Chinas
+stimmen mit Plato überein, wenn er sagt: »Niemand thut <em class="gesperrt">gern</em>
+Böses«. Daraus folgern sie, daß eine gute Regierung beim Volk willigen
+Gehorsam erzeuge. »Wer's versteht, mich zu besänftigen, der ist mein
+Fürst, wer mich unterdrückt, ist mein Feind, der Verworfene des
+Himmels und der Menschen!«</p>
+
+<p>Über schlechte Regenten ergießt sich der göttliche Zorn und beschließt
+ihren Untergang. Nach chinesischer Ansicht ist ein Unglück, welches
+das Volk trifft, immer ein Beweis von der Untüchtigkeit oder Bosheit
+des Herrschers. Der Himmel zürnt, und das Volk ist in Erwartung, daß
+einer aufstehe, um den »Ausrottungsbefehl« zu vollziehen, und zwar
+trifft dieser Befehl öfters einen »geringen« Menschen. Es ist daher
+erklärlich, daß man sich bei politischen Bewegungen in China immer
+auf einen göttlichen Auftrag bezieht, mit dem ein Rückblick auf die
+Beispiele der Vergangenheit verbunden ist.</p>
+
+<p>Ehe wir nun zur Schilderung des Taiping-Aufstands übergehen, haben
+wir noch zu beachten, in wie hohen Ehren die Chinesen alles Wissen
+halten, ihre Ehrerbietung gegen das Alter, und die Verbreitung der
+Bildung in allen Schichten des Volkes. Konfucius drückt die Meinung
+des Landes, die heute noch gang<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span> und gäbe ist, aus, wenn er sagt: »Die
+Alten, die erhabene Tugend im Reich zu verbreiten wünschten, sorgten
+zuerst für Ordnung in der eigenen Familie; zu diesem Zweck veredelten
+sie vor allen Dingen ihre eigene Person; um sich aber zu veredeln,
+suchten sie ihr Herz zu bessern; um das Herz zu bessern, erstrebten
+sie Aufrichtigkeit des Denkens; um aber aufrichtig und wahr zu denken,
+erweiterten sie ihre Kenntnisse.« In diesem Zusammenhang von Bildung
+und der so hochgeschätzten Harmonie wurzelt die Sitte der allgemeinen
+Prüfungen in China, welche die besten Examinanden zum Beamtenstand
+zulassen und selbst dem ärmsten Bauernsohn den Weg zu den höchsten
+Staatswürden offen halten. Unter den zahllosen Millionen des Reiches
+sind nur wenige, die nicht lesen und schreiben können; und selbst der
+gewöhnliche Chinese nimmt lebhaften Anteil am Regierungswesen. Die
+himmlische Regierung, vom Kaiser an durch den ganzen Beamtenstand,
+weiß sich daher unter der Aufsicht einer öffentlichen Meinung, die
+nicht zu mißachten ist.</p>
+
+<p>Der Kaiser ist der Stellvertreter des Himmels, aber nicht kraft seines
+Amtes, sondern lediglich kraft der Art und Weise, wie er seines Amtes
+waltet. »Das Volk ist die Hauptsache«, lehrt die alte chinesische
+Weisheit; »darnach kommt der Grund und Boden; der Regent folgt
+zuletzt.« Das ganze Regierungsgetriebe ist nicht sowohl das Mittel, um
+des Kaisers Willen zur Geltung zu bringen, als eine Organisation, um
+die Bedürfnisse des Volkes laut werden zu lassen. Jeder Familie, jedem
+Dorf, jedem Distrikt, jeder Provinz in China liegt die Verpflichtung
+ob, sich selbst zu »harmonisieren«, und die oberste Instanz, die
+kaiserliche Regierung, mischt sich in nichts, wenn sie nicht speziell
+von den betreffenden Weisen zur Entscheidung aufgefordert wird. Giebt
+es Streitigkeiten, ja selbst Verbrechen in einer Familie, so ist es
+Sache des Familienoberhauptes, sie zu richten. Giebt es Händel in
+einer Dorfschaft, so haben die Ältesten eine beinahe unbegrenzte
+Strafgewalt, und so weiter im Distrikt, in der Provinz. Dies erklärt
+auch die chinesische Sitte, die Eltern für die Missethaten der Kinder
+zu strafen und die Gesamtheit eines Distrikts für Verbrechen innerhalb
+seiner Grenzen verantwortlich zu machen. Die ganze<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> Wirtschaftspolitik
+beruht auf einem System gegenseitiger Verantwortlichkeit, was auch
+gegenseitige Aufsicht bedingt. Selbst der Kaiser, obgleich nominell
+unumschränkter Herrscher, hat einen heilsamen Respekt vor öffentlicher
+Censur und eventuellem Volksaufstand.</p>
+
+<p>Nun geht es aber in China wie anderwärts: die Praxis bleibt oft hinter
+der Theorie zurück, und das blumige Land ist keineswegs ein solcher
+Musterstaat, wie das Ideal ihn aufstellt. Kommt das aber dem Chinesen
+zum Bewußtsein, so ist ihm auch im voraus gewiß, daß die Regierung,
+nicht aber das Volk an allen Mißständen schuld ist, und daß es Zeit
+ist zur Revolution zu schreiten. So lange Wohlstand herrscht, ist man
+zufrieden mit der Dynastie; kommen aber böse Zeiten, dann betraut der
+Himmel einen mit dem Ausrottungsbefehl! So ist es von jeher gewesen,
+und so war es, als <em class="gesperrt">Hung Siu-tsiuen</em>, der Taiping, sich erhob.
+Seit den zwanziger Jahren unsres Jahrhunderts machten sich allerlei
+Übelstände im Land fühlbar und dazu kamen noch die Verwicklungen mit
+Europa, vorab mit England. Namentlich der sog. Opiumkrieg, den England
+zu Anfang der vierziger Jahre aus durchaus ungerechtfertigten Ursachen
+mit China führte, war von üblen Folgen für dieses Land. Die Macht der
+Regierung hatte bislang großenteils auf einem gewissen »Prestige«
+beruht. Durch die nötig gewordene Landmiliz lernte nun das Volk seine
+Wehrkraft kennen, und wo vorher ein Mandarin mit seinen Bütteln
+ausreichte, zogen jetzt bewaffnete Horden durch das Land. Die von
+England verlangte Kriegsentschädigung von 84 Mill. Mark brachte eine
+finanzielle Krisis. Verheerende Überschwemmungen des Gelben Flusses
+und des Jangtsze steigerten das Elend und verringerten die Einkünfte
+der Grundsteuer. Um allem Unglück die Krone aufzusetzen, suchte sich
+die Regierung damit zu helfen, daß Sträflinge sich mit Geld loskaufen
+konnten und die öffentlichen Ämter verkäuflich wurden. Infolge
+davon nahmen die Verbrechen überhand, und die zahlreiche Klasse der
+»Gebildeten« erachtete sich beeinträchtigt. So kam es, daß der Himmel
+voll drohender Wolken hing, als im Jahre 1850 der Kaiser Tao-Kwang
+starb und sein junger Sohn Hien-Fong an seiner Statt zu regieren
+anfing.</p>
+
+<p>Da erhob sich ein seltsamer Mensch, der bereits genannte<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span>
+<em class="gesperrt">Hung Siu-tsiuen</em>, eine Verkörperung der im Volke gärenden
+Umsturzgedanken.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Taiping</em> bedeutet »großer Friede«, und der ein neues himmlisches
+Reich unter dieser Bezeichnung gründen wollte, war ein Dorfschullehrer
+der Hakka oder Fremdlinge, eines ziemlich rohen Menschenschlags, der
+vor zwei Jahrhunderten in die Provinz Kwang-tung gekommen und von den
+Punti (d. h. Einwohnern) immer mit scheelen Augen angesehen worden
+war. Seine verachtete Herkunft mochte mit der Grund sein, daß er im
+höheren Examen durchfiel. Das machte ihn halb toll; er hatte Anfälle
+von Epilepsie mit Zeiten der Verzückung, und in solchen Verzückungen
+hatte er Gesichte. Bei alledem war er ein Chinese voll Aberglauben.
+Aus seiner Enttäuschung entwickelte sich der Gedanke, warum sollte der
+»Ausrottungsbefehl« des Himmels ihm nicht werden, wie schon so manchem
+»Geringen« vor ihm? Nach seiner ersten vierzigtägigen Verzückung hatte
+er nichts Eiligeres zu thun, als ein Manifest an seine Thorpfosten
+zu nageln, betitelt: »Die edeln Grundsätze des himmlischen Königs,
+des souveränen Königs Tsiuen.« Er wollte eine neue Religion einführen
+und das Kaisertum stürzen. Und das Merkwürdige dabei ist, daß ein
+Anflug von Christentum mit unterlief! Die Engländer bekriegten ja die
+Regierung, die er haßte; er studierte daher christliche Traktate,
+die ihm in die Hände fielen. Hung hatte in seinen Verzückungen alles
+Mögliche gesehen und warf nun seine krankhaften Gesichte mit der neuen
+Lehre zusammen. Ein alter Mann war ihm erschienen — das mußte der
+Gott der Christen sein; er selbst war in jenen vierzig Tagen im Himmel
+gewesen und nannte sich den himmlischen Sohn — Christus war deshalb
+ohne Zweifel der ältere Bruder und er selbst der jüngere. Es ist nicht
+zu vergessen, daß die Provinz weit und breit verheert war; Banditen
+plünderten und geheime Gesellschaften unterwühlten das Land, all dies
+infolge des Opiumkrieges. Das Volk war daher bereit, einen Retter
+mit offenen Armen zu empfangen, besonders einen, der sich von der
+altehrwürdigen vaterländischen Idee des »Ausrottungsbefehls« getragen
+wähnte. Hungs christlicher Firnis über seinem barocken Heidentum hatte
+den Reiz der Neuheit. Auch lag in den Ansprüchen<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> des Mannes, sowie
+in seinem ganzen Auftreten etwas von der aller Vernunft spottenden
+Gewalt und Anziehungskraft, wie sie ungewöhnlichen Menschen eigen ist.
+Massenhaft fielen ihm die Leute zu. Daß es mit seinem Christentum
+nicht weit her war, ergiebt sich aus der Thatsache, daß er sich bei
+erster Gelegenheit bei einem hochgestellten Engländer erkundigte,
+ob die Jungfrau Maria nicht eine hübsche Schwester habe, die sich
+entschließen könnte, ihn, den himmlischen König, zu heiraten! Aber
+mit mehr als gewöhnlicher Klugheit verstand er es, die neue Religion
+zu seinen Gunsten auszubeuten. Und das Ergebnis ging in der That
+weit über das Glück eines gewöhnlichen Betrügers hinaus. Daß sich
+die Hakka um ihn scharten, ist begreiflich, aber auch das übrige
+Volk rottete sich um ihn, und bald zählten die Taipings nach vielen
+Tausenden. Mit Feuer und Schwert verwüstete er das große Thal des
+Jangtsze und näherte sich der Kaiserstadt Peking. Aus seinen Gesichten
+wurden himmlische Edikte, die das Los von Millionen entschieden und
+selbst europäische Kabinette in Atem erhielten. Es kam so weit, daß
+die schwarzhaarige Nation nahe daran war, samt und sonders von der
+herrschenden Dynastie abzufallen. Und das war um so leichter möglich,
+als ja (seit 1644 schon) diese Dynastie keine einheimische, sondern
+eine mandschu-tatarische war und also im Geruch des Fremdländischen
+stand. Jahrelang lag das Reich in Trümmern, und dann kam ein Ende
+mit Schrecken. Hung Siu-tsiuen selbst beschloß seine Laufbahn als
+Selbstmörder bei der Belagerung von Nanking; man fand seinen Leichnam
+in der mit Drachen bestickten gelben Atlaskleidung, und ganz China
+rief einstimmig: »Es giebt nicht Worte genug, um das Elend zu
+beschreiben, das dieser Mensch angerichtet hat; das Maß seiner Bosheit
+war voll, und der Zorn beider, der Götter und der Menschen, erhob
+sich gegen ihn.« Sechzehn Provinzen und sechshundert Städte hatte er
+verwüstet.</p>
+
+<p>In Nanking, im Schatten des Porzellanturmes, hatte er in königlichem
+Glanze gethront. Nur Frauen durften ihn in seinem Schloß bedienen.
+Es waren seine zahlreichen Weiber und noch zahlreicheren Kebsweiber.
+Seine Verwandten machte er alle zu Wangs, d. h. zu Unterkönigen. Es
+gab einen Tschung Wang oder<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> getreuen König, einen Ostkönig und einen
+Westkönig, einen Kriegerkönig und einen Geleitskönig, das waren die
+fünf ursprünglichen; aber bei den Taipings wurde schließlich jeder
+ein Wang, der es verstand, sich geltend zu machen, und es gab ihrer
+mit der Zeit über zweitausend. Hung selbst war zwar blutdürstig und
+herrschsüchtig, aber ein Feigling; es lag daher immer für ihn die
+Gefahr vor, daß ein im Kriegswesen tüchtigerer Wang ihn überflügeln
+möchte. So verlor er im Jahre 1856 in purer Selbstverteidigung seine
+rechte Hand, den Ostkönig. Der kam eines Tages mit der Erklärung, auch
+er sehe Gesichte, und nannte sich den heiligen Geist; überdies brachte
+er die fatale Nachricht vom Himmel, Gott Vater sei sehr böse über den
+Tien Wang und zwar ganz besonders darüber, daß er seine schwangeren
+Weiber mit Füßen trete; er, der heilige Geist, habe daher den Auftrag,
+ihn mit vierzig Streichen zu züchtigen. Das war ein bißchen stark und
+selbst für einen Taiping zuviel! Es handelte sich schließlich darum,
+wer Herr sein sollte, ob der Tien Wang oder der Ostkönig, und obgleich
+Hung es für politisch hielt, sich der Prügelstrafe zu unterziehen,
+so traf er doch schleunige Maßregeln, sich des Ostkönigs und seiner
+Botschaften ein für allemal zu entledigen. Der Nordkönig wurde damit
+beauftragt, und die Folge war ein Blutbad.</p>
+
+<p>Der Bericht eines Engländers, der in jener Zeit Nanking besuchte und
+Gelegenheit hatte, das Rebellenvolk zu beobachten, wie es den »großen
+Frieden« mit sogenannten Gottesdiensten feierte, dürfte von Interesse
+sein.</p>
+
+<p>»Wir wohnten einer nächtlichen Feier bei; es war ihr Sabbatanfang,
+Freitag nachts zwölf Uhr. Die Versammlung fand in des Tschung Wang
+Audienzsaal statt. Er selbst saß inmitten seines Gefolges — Frauen
+waren nicht anwesend. Zuerst wurde gesungen; darnach wurde ein
+geschriebenes Gebet verlesen und von einem Offizier verbrannt; dann
+wurde wieder gesungen, und man ging auseinander. Der Tschung Wang
+ließ mich vortreten, ehe er seinen Sitz verließ, und fragte mich,
+ob ich ihren Gottesdienst verstünde. Ich entgegnete, daß ich einem
+solchen eben zum erstenmal angewohnt hätte. Darauf wollte er wissen,
+wie<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> wir es damit hielten. Ich sagte ihm, daß die Christen es sich
+angelegen sein ließen, ihren Gottesdienst mit der heiligen Schrift
+in Übereinstimmung zu bringen, und daß wir alles, was gegen die
+Schrift wäre, verwerfen müßten. Darauf versuchte er mir zu erklären,
+daß ihre Verschiedenheit von uns triftige Gründe habe. Der Tien
+Wang sei im Himmel gewesen und habe mit Gott Vater selbst verkehrt.
+Unsere Offenbarung sei achtzehnhundert Jahre alt; sie aber hätten
+eine neue, eine vermehrte Offenbarung, und diese verstatte es ihnen,
+ihren Gottesdienst nach einer bis jetzt noch nie dagewesenen Art
+einzurichten ....</p>
+
+<p>»Mit Tagesanbruch setzte sich der Zug in Bewegung nach dem Palast
+des Tien Wang. Der Prozession voraus wurden bunte Fahnen getragen
+und dann folgte eine Reihe Bewaffneter; darauf kam der Tschung Wang
+in einem großen Tragsessel mit gestickten gelben Atlasdecken. Ihm
+folgten die Fremdlinge zu Pferd inmitten der berittenen Offiziere.
+Unterwegs schlossen sich die anderen Könige an, jeder mit einem
+ähnlichen Aufzug. Pauken und Trompeten verursachten einen Höllenlärm,
+und neugierige Menschen standen Spalier. Einen »König« zu sehen
+mochte nachgerade etwas alltägliches sein, aber über das Gebahren
+dieser Menschen konnte sich das Volk offenbar nicht genug wundern
+.... Der Palast des Tien Wang ist ein großes Gebäude nach Art der
+Konfutsischen Tempel, nur viel umfangreicher. Wir begaben uns zuerst
+in eine Nebenhalle, die den Namen »Morgenschloß« führte. Daselbst
+wurden wir dem Tsau Wang und seinem Sohn und etlichen andern
+vorgestellt. Nachdem man eine Weile geruht und es mit angesehen
+hatte, wie zwei Bedienstete ihren Respekt vor den heiligen Räumen in
+einem Zwischenakt damit bekundeten, daß sie sich gegenseitig in die
+Haare fuhren, gings weiter nach dem Audienzsaal des Tien Wang. Hier
+wurde ich seinen beiden Söhnen, zwei Neffen und einem Schwiegersohn
+vorgestellt, die mit noch andern, welche ich bereits im Morgenschloß
+gesehen, um den Eingang eines Alkovens saßen, über dem die Inschrift
+stand: »das erhabene himmlische Thor«. Der Alkoven war tief, und ganz
+im Hintergrund desselben zeigte man uns den Sitz des »himmlischen
+Königs«, der aber vorläufig leer war .... Er<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> selbst, der Himmlische,
+war nicht erschienen; und obgleich nach Beendigung der Feier noch eine
+Zeit lang gewartet wurde, erschien er überhaupt nicht. Er mochte sich
+eines bessern besonnen haben und es für ersprießlich erachten, sein
+Antlitz vor Fremdlingen zu verbergen, auf deren guten Glauben nicht zu
+rechnen war; vielleicht hatte der Tschung Wang ihm unsere Ansicht über
+unechte Offenbarung berichtet, und er zog es vor, uns vorläufig nur
+einen Vorgeschmack seiner Herrlichkeit zu verstatten in der Hoffnung,
+unsere Einbildungskraft möchte bei dem leeren Sitze sich die abwesende
+Majestät um so erhabener denken ....</p>
+
+<p>»Im Laufe des Nachmittags ließ der Tschung Wang mich zu einem
+Privatgespräch zu sich bitten. Durch eine Reihe von Gemächern führte
+man mich in sein Zimmer, wo er in einem luftigen Gewand von weißer
+Seide in einem Armsessel lag und sich von einem hübschen Mädchen
+fächeln ließ. Um den Kopf hatte er ein rotes Tuch gewunden mit einem
+Juwel über der Stirne. Er lud mich zum Sitzen ein und fragte mich
+allerlei über Maschinen, Landkarten, Ferngläser u. s. w., indem er
+offenbar annahm, daß unser einer über alles Bescheid wisse. Er wurde
+ganz vertraulich und war von Stund an bereit, mich jederzeit zu
+sehen. Bei nächster Gelegenheit zeigte ich ihm verschiedene Stellen
+im Neuen Testament, die mit der Lehre des Tien Wang in unverkennbarem
+Widerspruch stehen. Er wies es kurzerhand von sich. Im allgemeinen
+sprach er gern davon, daß alle Menschen Brüder wären, doch war leicht
+zu sehen, daß seine Religion ihn kalt ließ. Er gab zu, daß die
+Offenbarung des Tien Wang nicht mit der Bibel übereinstimme, jene sei
+aber neuer und darum glaubwürdiger ....«</p>
+
+<p>Der Berichterstatter meldet weiter, es sei ihm im Verkehr mit
+diesen Leuten einigermaßen verständlich geworden, wie Hungs
+»Offenbarungen« von seinen Anhängern aufgefaßt wurden. Ihr Glaube an
+den Ausrottungsbefehl schien ihr Gewissen gänzlich abgestumpft zu
+haben und ihnen alle nur denkbaren Verbrechen gegen Andersgläubige
+zu verstatten. Einen Anhänger der Mandschu-Dynastie zu berauben oder
+zu ermorden, war ein gutes Werk. Wo sie hinkamen, führten sie die
+jungen Männer der Landbevölkerung gefangen mit sich und machten sie zu
+Rekruten, während<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> die vielen hübschen Mädchen und Weiber, die man bei
+ihnen sah, den thatsächlichen Beweis lieferten, daß bei den Taipings
+»großer Friede« sich recht wohl mit Weiberraub vertrug.</p>
+
+<p>Übrigens waren die Taipings bei all ihren Verkehrtheiten, um nicht
+eine stärkere Bezeichnung zu gebrauchen, doch in einigen Punkten
+zu loben. So war z. B. das Opium bei ihnen verpönt, ebenso der
+Sklavenhandel. Die Füße der Weiber durften bei ihnen nicht verkrüppelt
+werden; die Männer mußten sich das Haupthaar gleichmäßig wachsen
+lassen; der rasierte Schädel mit dem Zopf galt ja als Zeichen der
+Unterwürfigkeit gegen die Mandschu-Dynastie. Auch rühmten sich die
+Anhänger des Ex-Schulmeisters, die allgemeine Bildung zu fördern;
+aber damit war es nicht weit her. Das überall zur Schau getragene
+Zerrbild des Christentums prägte sich auch dem Unterrichtswesen
+auf, das als höchstes Wissen den Satz trieb: »Der himmlische Vater
+und der himmlische Bruder (nämlich Hung) sind über alle Pflicht und
+Sittlichkeit zu verehren.« Des Tien Wang Erlasse wurden als Lesebücher
+benutzt, damit es der Jugend schon geläufig würde, in ihm den
+Auserwählten zu erblicken, der zum Friedensherrscher über die ganze
+Welt bestimmt sei.</p>
+
+<p>In gewissen Kreisen Englands hatte sich ein merkwürdiges Vorurteil
+zu Gunsten Hungs eingeschlichen. Man fragte sich, ob die Taipings
+nicht am Ende doch Schutz verdienten, ob das Rebellentum nicht
+möglicherweise der Übergang zur Zivilisation, ja Verchristlichung des
+Landes wäre. Erst nachdem einmal britische Niederlassungen gefährdet
+waren, wurde man anderer Meinung.</p>
+
+<p>Die Briten hielten sich mit den Franzosen vorläufig neutral, und die
+Feindseligkeiten bis zum Jahr 1860 verblieben lediglich zwischen
+den Kaiserlichen und den Rotten des großen Friedens. Es war ein
+Bürgerkrieg von staunenswerter, riesiger Ausdehnung.</p>
+
+<p>Im Jahr 1859 war die Sachlage die: die Mißhelligkeiten zwischen
+England und China waren so ziemlich beigelegt, der Friede von Tientsin
+war geplant und, von Kanton abgesehen, hatte das britische Militär das
+Reich geräumt. Der Aufruhr, der nun in seinem neunten Jahre stand,
+schien seine besten<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> Tage gesehen zu haben; die Taipings verloren
+einen Ort nach dem andern und wurden wiederholt in der heiligen
+Hauptstadt, ihrem Hauptsitze, angegriffen. »Nanking war härter
+bedrängt denn je«, sagt der getreue Wang in den vor seiner Hinrichtung
+verfaßten Erinnerungen. Hung ließ sich das aber nicht im geringsten
+anfechten; mit größtem Gleichmut fuhr er fort, seinen Ministern
+himmlische Befehle zu geben und innerhalb der belagerten Stadt auf die
+Anzeichen des großen Friedens ringsum hinzuweisen. Der Tschung Wang,
+der die Stumpfheit der Majestät offenbar nicht teilte, kann nur sagen:
+»Die Zeit zur Ausrottung der himmlischen Dynastie war eben noch nicht
+gekommen.« Fürs übrige war der Getreue ein thätiger Krieger, und nicht
+weniger als sechsmal brachte er's zu stande, Nanking zu entsetzen.</p>
+
+<p>Die kaiserliche Regierung aber, anstatt nun alles aufzubieten, das
+allmählich verglimmende Feuer des Aufstandes vollends auszutreten,
+beging den großen Fehler, sich abermals mit den Engländern zu
+überwerfen. Auf dem Wege nach Peking, wo der Friede unterzeichnet
+werden sollte, sah sich der britische Gesandte an der Mündung des
+Peiho-Flusses plötzlich einer chinesischen Streitmacht gegenüber.
+Die Taku-Forts waren in aller Eile repariert worden, und man wollte
+die britischen Schiffe nicht durchlassen. Als die Engländer trotzdem
+vordrangen, erfolgte eine Salve aus verdeckten Feldstücken, und drei
+Kanonenboote wurden in den Grund geschossen. Natürlich brüllte da der
+englische Löwe ob dem chinesischen Treubruch und man stand alsbald
+wieder auf dem Kriegsfuß. Die erneuten Angriffe der verbündeten
+Engländer und Franzosen im folgenden Jahre übten selbstverständlich
+ihre Rückwirkung auf den Aufruhr, der aufs neue um sich griff. Ein
+ganz direktes Resultat war ein Angriff der Taipings auf Schanghai.
+In dieser Stadt aber sind die englischen, resp. europäischen
+Handelsinteressen mit den chinesischen verwachsen; daraus ergab sich
+die Notwendigkeit englischer Intervention, mit andern Worten ein
+direkter englischer Angriff auf die Rebellen. Auch traten britische
+Offiziere in kaiserliche Dienste, und so wurde man mit der Zeit der
+Taipings Herr. Es liegt hier ein Stück historischen Ausgleichs vor:
+wie wir gesehen haben, wurzelte der Aufstand teilweise im<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> englischen
+Opiumkrieg, und englische Waffen mußten schließlich dem zerrütteten
+Lande wieder zum Frieden verhelfen.</p>
+
+<p>Eine solche Verwicklung der Dinge ist übrigens wohl nur in China
+möglich, daß, während die zornmutigen Verbündeten noch damit
+beschäftigt waren, ihre Truppenschiffe von Singapore und Hongkong
+herauf zu bringen, um die Kaiserlichen in Peking zu züchtigen, der
+General-Gouverneur von Kiangsu in Person in Schanghai eintraf und
+die britischen und französischen Behörden daselbst um Hilfe gegen
+die Rebellen anging. Unterm 30. Mai 1860 meldet der englische
+Bevollmächtigte dem Ministerium Russell: »Ich beschloß im Einvernehmen
+mit Mr. Bourboulon, daß es sich sowohl in politischer als humaner
+Hinsicht empfiehlt, solchen Greuelscenen hier zuvorzukommen, wie sie
+anderwärts stattgefunden haben ... und wir können die Küstenstädte
+schützen, ohne anderweitig Partei zu nehmen.«</p>
+
+<p>Indessen hatten sich die reichen Kaufleute von Schanghai schon unter
+der Hand nach Schutz gegen die zu erwartenden Taipings umgesehen. Ein
+Amerikaner Namens Ward war erbötig, Truppen zu werben. Es war eine
+Belohnung ausgesetzt, das etwa dreißig Kilometer entfernte Sung-Kiang
+von den Rebellen zu säubern. Mit einer Bande von Matrosen machte Ward
+den Anfang, denen sich zusammengelaufenes Volk aus aller Herren Länder
+anschloß; auch Chinesen waren darunter, und dies war der Ursprung
+jenes merkwürdigen Söldnerhaufens, der sich in nicht allzuferner Zeit
+den Namen der »stets siegreichen Armee« erwarb und dann unter Gordon
+dieser Bezeichnung auch alle Ehre machte. Vorläufig nannten sich Wards
+Leute nach jener ersten Heldenthat das Sung-Kianger-Corps.</p>
+
+<p>Die Taipings, mittlerweile nicht müßig, unternahmen große Streifzüge
+in diesem Jahr. Wie bereits erwähnt, hatte der <em class="gesperrt">getreue Wang</em>
+Nanking zum sechstenmal entsetzt, was ihm übrigens nicht einmal ein
+billigendes Wort von Hung eintrug, auch durfte der streitbare Minister
+dem Himmlischen nicht vor die Augen kommen. Es ist kaum faßlich, wie
+dieser Mensch sich seine Unterkönige botmäßig erhielt; aber die ganze
+Bewegung ruhte ja eben auf den <em class="gesperrt">übermenschlichen</em> Ansprüchen des
+wahnsinnigen Hung.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span></p>
+
+<p>Tschung Wang, der <em class="gesperrt">Getreue</em>, und Jing Wang, der Heroische, auch
+als vieräugiger Hund bekannt, vertrieben nun die Kaiserlichen aus dem
+ganzen Jangtsze-Thal, Schrecken zog vor ihnen her; in einer Stadt
+zogen viele Einwohner es vor, ihrem Leben durch Selbstmord ein Ende zu
+machen, als es hieß: die Taipings sind wieder da! Ein Distrikt nach
+dem andern ergab sich, und »der Getreue« beschloß seinen Siegesmarsch
+in Sutschau, der Hauptstadt der Provinz Kiangsu, einer der reichsten
+Städte des blumigen Landes, die sich fast widerstandslos ergab.</p>
+
+<p>»Im Himmel ist das Paradies«, sagt ein chinesisches Sprichwort,
+»aber auf Erden sind Su und Hang.« »Um in der Welt glücklich zu
+sein«, sagt ein anderes, »muß man in Sutschau geboren sein«; denn
+die Menschen dort sind vor allem ihrer Schönheit wegen berühmt —
+nach chinesischen Begriffen vermutlich. Die Stadtmauern maßen 15
+Kilometer im Umkreis und außerhalb derselben erstreckten sich noch
+vier ansehnliche Vorstädte. Man schätzte die Einwohnerzahl auf zwei
+Millionen. In ganz China stand Sutschau in fabelhaftem Ruf wegen
+der Pracht seiner antiken und modernen Marmorbauten, seiner schönen
+Grabstätten, seiner Granitbrücken. Herrlich seien dort die Straßen,
+die Gärten, die öffentlichen Plätze; verständiger als anderwärts die
+Männer und schöner die Frauen. Auch die Handelsprodukte der Stadt
+waren berühmt, kostbare Seidenstoffe insbesondere. In dieser Stadt
+hielt der Getreue seinen Einzug, während die Kaiserlichen in heller
+Flucht sie verließen, und durch die ganze Provinz Kiangsu schien damit
+die Herrschaft des großen Friedens gesichert.</p>
+
+<p>Der Kan Wang oder Schildkönig war zu dieser Zeit Generalissimus;
+dieser hatte vier Jahre in Hongkong gelebt und urteilte richtig,
+wenn er meinte, daß es den Taipings förderlich sein dürfte, mit den
+Ausländern anzuknüpfen. Wichtiger als der Besitz von Su und Hang
+erschien es ihm, in der Richtung von Schanghai vorzudringen, um dort
+europäische Dampfer zu erlangen, die auf dem Jangtsze dienlich sein
+sollten. Er urteilte praktisch, der Schildkönig, denn die Stimmung
+unter den Engländern und Amerikanern in den Hafenstädten war selbst
+zu dieser Zeit noch eine geteilte. Überdies mochten die Taipings wohl
+auf Beihilfe rechnen, denn<span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span> die Engländer und Franzosen waren schon
+unterwegs, um in der Mandschurei ihre Streitkräfte zu vereinigen,
+von dort aus den chinesischen Kaiser aus der Ruhe seines Palastes
+aufzuschrecken und ihn für den bei den Taku-Forts erlittenen Schimpf
+zu züchtigen. In der That war auch etwas wie ein Waffenstillstand
+zwischen den Rebellen und den Verbündeten zu stande gekommen, wenn von
+einem Waffenstillstande überhaupt da die Rede sein kann, wo aktive
+Feindseligkeiten noch nicht ausgebrochen waren. Der englische Admiral
+Hope war den Jangtsze hinaufgefahren, welcher Fluß durch den Vertrag
+von Peking europäischen Schiffen zugängig war, und hatte unter den
+Mauern Nankings mit dem Tien Wang selbst unterhandelt. Das Ergebnis
+hievon war, daß die Rebellen sich verbindlich machten, Schanghai
+auf Jahresfrist in Frieden zu lassen. Die Verbündeten konnten ruhig
+nordwärts ziehen.</p>
+
+<p>Dies ist der Punkt, an welchem das Leben Gordons in den breiten Strom
+der Weltgeschichte einmündet.</p>
+
+<p>Im Sommer 1860 war er nach China beordert worden und nahm nun teil
+an der Operation gegen die Kaiserstadt. Er war dabei, als der
+Sommerpalast in Brand gesteckt wurde. Hören wir darüber seine eigenen
+Aufzeichnungen:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Am elften Oktober erhielten wir Befehl, in möglichster Eile Schanzen
+aufzuwerfen und Batterien gegen die Stadt zu richten. Die Chinesen
+verweigerten die Übergabe des Thores, und so lang dies der Fall
+war, wollten wir nicht mit ihnen unterhandeln. Auch die Gefangenen
+sollten ausgeliefert werden. Diese waren sehr mißhandelt worden,
+und zwar, wie gesagt wird, im Sommerpalast selbst in Gegenwart des
+Kaisers ... Wir waren bereit, die vierzig Fuß hohe Mauer zu stürmen;
+die Chinesen hatten Bedenkzeit bis zum 13. mittags. Um halb zwölf
+ergaben sie sich, und wir nahmen Besitz von der Stadt. Sie erhielten
+weitere Frist bis zum 23., während welcher Zeit sie für jeden ihrer
+Mißhandlung erlegenen Engländer 200000 Mk. beibringen mußten, und
+10000 für jeden Eingeborenen. Die Strafgelder wurden auch richtig
+gezahlt und der Vertrag gestern unterzeichnet.«</p>
+</div>
+
+<p>Dem englischen General, Lord Elgin, blieb nun die Entscheidung, ein
+Exempel zu statuieren. Die Stadt in Brand stecken,<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> hätte tausende
+von Unschuldigen mit den Schuldigen getroffen. Im Sommerpalast aber
+hatten sich genügende Beweise der daselbst verübten Grausamkeiten
+vorgefunden; somit sollte der stattliche Palast zerstört werden. Und
+so wurde der Juen-Ming-Juen (Garten der Gärten) in Brand gesteckt,
+und der schwarze Rauch hing wie ein Trauermantel über Peking. Gordon
+beschrieb und beklagte die Zerstörung:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Unsere Leute plünderten in fast vandalischer Weise, und was ein
+Raub der Flammen wurde, wäre nicht durch 80 Millionen Mark wieder
+herzustellen ... Die Pracht und Schönheit des Zerstörten ist kaum zu
+beschreiben ... Es that einem im Herzen weh, den furchtbaren Brand
+mit anzusehen ... es war ein entsetzlich entwürdigendes Geschäft für
+eine Armee, jedermann wollte nur plündern ...«</p>
+</div>
+
+<p>Die Franzosen hatten schon vorgesorgt mit der Verheerung und die
+kostbarsten Gegenstände einfach zusammengeschlagen.</p>
+
+<p>Die beiden Armeen verzogen sich allmählich, die Engländer ins
+Winterquartier nach Tientsin. Gordons Aufenthalt daselbst verlängerte
+sich weit über sein Erwarten, nämlich bis zum Frühjahr 1862. Er war
+damit beauftragt, die Umgegend aufzunehmen. Öfters gab's auch einen
+Ritt nach den 220 Kilometer entfernten Takuforts, und einmal einen
+beträchtlicheren Ausflug mit seinem Kameraden Cardew nach der großen
+Mauer — ein ziemlich kühnes Unternehmen, denn sie durchritten da
+weite Gegenden, die noch nie von Europäern betreten waren. Einen
+vierzehnjährigen Jungen, der etwas Englisch verstand, nahmen sie mit
+als Dolmetscher. Ein Zelt und Kochgerät führten sie auf einem Karren
+mit sich. Bei Kalgan erreichten sie die 2000 Kilometer lange Mauer des
+Schi Hoangi, die 240 Jahre älter ist als die christliche Zeitrechnung,
+zweiundzwanzig Fuß hoch, und sechzehn dick. »Es war wunderschön,«
+schreibt Gordon, »die endlose Mauerlinie sich über die Hügel hinziehen
+zu sehen.« Von Kalgan schlugen sie eine westliche Richtung ein nach
+Taitong, wo die Mauer nicht ganz so hoch ist. Daselbst sahen sie
+riesige Karawanen von Kamelen, die Thee nach Rußland trugen. In dieser
+Gegend fanden sie sich genötigt, die Achsen ihres Karrens verlängern
+zu lassen; denn die<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span> Fuhrwerke in jenem Lande laufen breitspuriger als
+anderswo, und ihre Räder paßten nicht in die ausgefahrenen Geleise der
+Landstraßen! Der Hauptzweck ihrer Reise war, zu erkunden, ob außer
+dem Tschatiau-Paß noch ein anderer vom russischen Gebiet nach Peking
+führe. Auf einem großen Umweg in südwestlicher Richtung suchten sie
+lange vergeblich die Straße übers Gebirge ostwärts; erst bei Taijuen
+fanden sie ihren Rückweg nach Peking und Tientsin.</p>
+
+<p>Im Mai 1862 erhielt Gordon Befehl, sich mit einer Abteilung Infanterie
+nach Schanghai zu werfen, weil dort die Taipings aufs neue die
+Gegend unsicher machten. Der himmlische König hatte den Engländern
+sagen lassen, er werde Schanghai angreifen, sobald das Jahr des
+Waffenstillstandes um sei. Im Januar 1862 hatte er dann auch seinen
+»Getreuen« in die Gegenden der Konsulatstadt geschickt, und von da an
+datiert die feindliche Stellung der Engländer gegen die Rebellen.</p>
+
+<p>Mit dem militärischen Oberbefehl innerhalb des Distrikts betraut,
+marschierte Gordon zuerst nach Singpu, erstürmte die Stadt und
+vertrieb die Taipings aus verschiedenen Plätzen, wo sie sich
+festgesetzt hatten. In erster Linie sollte Gordon dafür sorgen, daß
+der sogenannte »dreißig Meilen Umkreis«<a id="FNAnker_1" href="#Fussnote_1" class="fnanchor">[1]</a> um Schanghai her von
+feindlichen Überfällen gesichert bleibe.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wir hatten einen Besuch von den Taipings,« schreibt Gordon. »In
+einzelnen Haufen kamen sie bis in die nächste Nähe des Stadtgebiets,
+steckten in Brand was sie konnten und trieben die Landleute zu
+Tausenden vor sich her. Wir zogen ihnen entgegen, aber ohne
+viel Erfolg. Gräben und Sümpfe hindern allerwärts <em class="gesperrt">unser</em>
+Fortkommen, die Rebellen sind uns in dieser Hinsicht weit überlegen
+... Es ist unfaßlich, was für Haufen flüchtigen Landvolkes nach
+Schanghai kommen, sobald die Taipings in der Nähe sind; mindestens
+fünfzehntausend Flüchtlinge sind eben hier, und keineswegs nur Weiber
+und Kinder, sondern stämmige Männer, die sich wohl wehren könnten,
+aber die Angst lähmt ihnen alle Thatkraft. Weiterhin im Land haben
+die Leute Unglaubliches zu leiden und viele sterben Hungers. Dieser
+Aufruhr ist eine entsetzliche Landplage, und unsere Regierung<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> sollte
+alles Ernstes eingreifen, um ihn zu unterdrücken. Worte können
+nicht das Elend beschreiben, das überall herrscht, wo die Rebellen
+hinkommen; die reiche Provinz ist zur Wüste geworden.«</p>
+</div>
+
+<p>Für die Kaiserlichen hatte das Jahr 1861 schon einen Umschwung
+gebracht. Der Kaiser Hien-Fong war am 21. August auf seinem
+Jagdschloß in der Tartarei gestorben — im sechsundzwanzigsten
+Jahre seines Lebens und im elften seiner unglücklichen Regierung.
+Unfähig mit den großen Schwierigkeiten einer Übergangsperiode zu
+kämpfen, hatte er wie manch anderer Fürstenschwächling sich durch
+Befriedigung seiner Genußsucht zu entschädigen gesucht. Schließlich
+aber »ergriff seine Krankheit ihn mit erneuter Heftigkeit, und am
+siebzehnten Tage des Mondes schwang er sich auf mit dem Drachen als
+Gast der oberen Räume.« Wohl mochte die arme Seele des untauglichen
+Monarchen, dessen sterbliche Hülle in einem »cedernen Schloß« zur
+Ruhe gebettet wurde, auf ihrem Drachenritt den vorangegangenen
+Kaisern manches zu klagen haben. Elend und Aufruhr hatte während der
+ganzen Regierungszeit dieses Jünglings das himmlische Reich verheert,
+und Rebellen herrschten an seiner Statt; allerwärts hatte das Volk
+sich von ihm losgesagt, der kaiserlichen Gewalt Trotz bietend, und
+zur Vollstreckung der heiligen Befehle fanden sich nur schlechte
+Statthalter, denen die eigene Größe mehr galt als die Wohlfahrt des
+Volkes. Jahr um Jahr durchzogen die rebellischen Horden das Land; die
+Brandfackel nächtlicher Zerstörung kündete ihren Weg, und der Rauch
+brennender Städte und Dörfer verhüllte der Sonne Licht am hellen Tage.
+Ein wahnwitziger Usurpator hatte es nicht nur gewagt, den Drachenthron
+für sich zu begehren, sondern sich außerdem noch göttlicher Ehre
+vermessen, während kriegerische Heervölker der abendländischen
+Barbaren das Kaiserreich demütigten, ja die jungfräuliche Kaiserstadt
+Peking bezwangen, die noch nie einem Fremdling sich erschlossen, und
+den Palast des himmlischen Sohnes in Brand steckten.</p>
+
+<p>So mochte der arme Kaiserjüngling gedacht haben. Wir aber erkennen in
+der mancherlei Trübsal die Wehen einer sich neu gestaltenden Zeit.
+Des Monarchen Tod öffnete Thür und Thor für neue Dinge. Der Thronerbe
+war ein Kind, und die Regentschaft<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> neben der Kaiserin-Witwe bestand
+aus Vertretern der fremdenfeindlichen Partei. Als daher der Bruder
+des verstorbenen Kaisers, ein weitsichtiger Prinz, der die Konvention
+von Peking unterzeichnet hatte, an den Hof gerufen wurde, war die
+Hoffnung, daß er lebendig zurückkehren würde, keineswegs stark.
+Man hielt dafür, daß die Einladung nichts anderes bedeute, als die
+höfliche Erlaubnis, wie sie einem irrenden Mitglied der kaiserlichen
+Familie zukommt, sich in der Stille mittelst einer seidenen Schnur aus
+der Welt zu befördern. Zum Glück fürs Land aber war die Hauptgewalt in
+den Händen einer Frau von außergewöhnlichem Verstand und männlichem
+Charakter, nämlich der Kaiserin-Witwe, und diese erkannte alsbald, daß
+Prinz Kung sich besser auf die wahren Interessen des Landes verstehe,
+als die Ratgeber des verstorbenen Kaisers. Und während jedermann von
+seinem demnächstigen Selbstmord zu hören erwartete, griff er plötzlich
+in den Gang der Dinge ein und stürzte sofort — gleichzeitig mit
+dem Einzug des jungen Monarchen in Peking — durch den berühmten
+Staatsstreich vom 2. November 1861 die fremdenfeindliche Partei. Ihre
+Hauptvertreter wurden hingerichtet. Von da an datiert ein freundliches
+Einvernehmen zwischen den ausländischen Bevollmächtigten und der
+kaiserlichen Regierung. Die Zeit war in der That gekommen, da die
+verschiedensten Interessen in natürlicher Weise zusammenwirkten, die
+Taipings auszurotten und dem himmlischen Reich zu einem neuen besseren
+Stand der Dinge zu verhelfen.</p>
+
+<h3>2. Die stets siegreiche Armee.</h3>
+
+<p>Das Jahr 1861 war britischerseits den Rebellen gegenüber eine Zeit
+des Waffenstillstandes gewesen, in diesem Jahr aber hatten die
+Taipings ihre erste empfindliche Niederlage erlitten, ja eine Reihe
+von Niederlagen. Sie hatten versucht, sich des Jangtsze-Thales wieder
+zu bemächtigen mit besonderen Absichten auf Hangtschau. Aber obgleich
+dieses Jahr durch Hien-Fongs Tod eine innere Umwälzung der Monarchie
+mit sich brachte, so hatte die Macht der Kaiserlichen doch stetig
+gewonnen, und die Rebellen sahen sich mit Ende des Jahres wieder in
+die Gegend<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> von Schanghai zurückgeworfen. Man darf die Vernichtung der
+Taipings daher nicht ausschließlich britischen Waffen zuschreiben.</p>
+
+<p>Wie bereits erwähnt, hatten die Handelsherren von Schanghai es schon
+vorher für geraten gehalten, sich durch ein Privatsöldnerheer gegen
+Überfälle möglichst zu sichern. Der Amerikaner Ward, ein tüchtiger
+Soldat, und nach ihm Burgevine, ein weniger tüchtiger Glücksritter,
+befehligte diesen Truppenhaufen, der sich des hochtrabenden Titels der
+»stets siegreichen Armee« erfreute.</p>
+
+<p>Die Leute des blumigen Landes haben eine Vorliebe für schöne
+Redensarten. Ihre Flüsse sind alle wohllautplätschernd, ihre Berge
+voll himmlischen Weihrauchs; das geringste Dörfchen fühlt sich als
+eine Pflanzstätte süßduftenden Korns, und jeder gewöhnliche Nachen
+ist ein Wunder der kristallenen Flut. Der Chinese findet solche
+Benennungen keineswegs lächerlich, er hält im Gegenteil dafür, daß
+der pure Wortlaut der Dinge irdisches Geschick beeinfluße. In den
+chinesischen Klassikern wird nichts so sehr betont als die Thatsache,
+daß Weisheit eine richtige Benutzung der Worte sei. Es fragte einmal
+einer den alten Mencius, worin er sich auszeichne; »ich verstehe mit
+Worten umzugehen«, war die tiefsinnige Antwort. Und anderswo wird
+darauf hingewiesen, wie selbst tugend- und talentvolle Menschen durch
+übelgesetzte Rede sich oft ganz in den Schatten stellen. Konfucius
+erklärte, der erste Schritt zu einer wohlgeordneten Regierung sei,
+»die Bezeichnung der Dinge zu verbessern«, und fügte bedeutungsvoll
+hinzu: »einen unpassenden Namen haben heißt in ungünstiger Lage
+verharren, allem Übel ausgesetzt.« Derlei Ideen sind gang und gäbe in
+China, und jeder Schwarzhaarige läßt sich's daher angelegen sein, sich
+und den Seinen schöne Namen zu gewinnen. Selbst die Regierung richtet
+ihre Erlasse nach dem Geschmack des Volkes ein, ob nun vom Sohne der
+Erde und des Himmels auf dem Drachenthron die Rede ist, oder vom
+Büttel des geringsten Mandarins. Daher also die Bezeichnung Tschang
+Seng Tschiun oder stets siegreiche Armee.</p>
+
+<p>Der General-Gouverneur der Kiang-Provinzen war Li Futai oder
+Li-Hung-Tschang, ein tüchtiger Soldat und berühmter Staatsmann.
+Tseng-kwo-fan, (der Vater des kürzlich verstorbenen, bekannten<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span>
+Marquis Tseng), der kaiserliche Generalissimus, hatte ihm den
+Oberbefehl von Schanghai übertragen. Der englische General Staveley
+erklärte ihm bei seiner Ankunft, daß, obgleich die Verbündeten den
+Dreißig-Meilen-Umkreis verteidigen würden, die allgemeine Bekämpfung
+des Aufstands doch nach wie vor den Chinesen überlassen bleibe. Li
+machte sich sofort daran, die chinesischen Truppen auf europäische
+Waffen einzuüben. Wards Söldner waren bislang ihren eigenen Weg
+gegangen, erst nachdem er gefallen war und sein Nachfolger Burgevine
+sich mit Li überworfen hatte, verschmolzen die fremden Söldner mit den
+chinesischen Rekruten, und Li bat den englischen General, einem seiner
+Offiziere den Oberbefehl zu übertragen.</p>
+
+<p>Der rechte Mann war bald gefunden in Gordon, der zwar noch nie im
+Oberkommando gestanden, der aber mehr denn irgend ein anderer für den
+verantwortungsvollen Posten geeignet war. Seinen Ruf von Sebastopol
+her hatte er in Peking und Schanghai aufrecht erhalten, und es spricht
+sehr für den Mann, daß er dem ehrenvollen Antrag keineswegs in blinder
+Aufregung Folge leistete, sondern im Gegenteil den gelassenen Wunsch
+vortrug, seine Arbeit der militärischen Kenntnisnahme des Terrains
+innerhalb des Dreißig-Meilen-Umkreises zuerst zu Ende bringen zu
+können, weil das für eventuelle Operationen jedenfalls von Wert
+sei. In einem Offizier, Namens Holland, ernannte man darum einen
+zeitweiligen Ersatzmann, unter dessen Führung die »stets siegreiche
+Armee« von den Taipings bei Taitsan glänzend geschlagen wurde. Erst im
+Frühjahr 1863 übernahm Gordon den Oberbefehl. Er schreibt darüber an
+seine Eltern:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich fürchte, es wird Euch unlieb sein, daß ich das Kommando
+übernommen habe; es geschah nicht ohne reifliche Überlegung
+meinerseits. Ich halte dafür, daß es ein gutes Werk ist, diesen
+Aufstand zu unterdrücken; es ist eine einfache Pflicht der
+Menschlichkeit und kann außerdem dazu beitragen, dieses Land der
+Zivilisation zugänglich zu machen. Ich will nicht tollkühn handeln,
+und ich hoffe, bald nach England zurückkehren zu können — ich will
+nicht vergessen, daß das Euer Wunsch ist. Ich kann wohl sagen,
+daß, wenn ich mich geweigert hätte, den mir übertragenen Posten
+anzunehmen, die Truppen sich verlaufen hätten und der Aufruhr<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> allem
+Anschein nach das Land noch Jahre lang im Elend erhalten würde. Ich
+hoffe, daß das nun nicht der Fall sein wird und daß ich Euch sehr
+bald Beruhigendes werde schreiben können.<a id="FNAnker_2" href="#Fussnote_2" class="fnanchor">[2]</a> Ihr müßt es Euch nicht
+zu nahe gehen lassen; ich glaube wirklich, daß ich das Rechte thue
+.... Ihr seid mir stets gegenwärtig und dürft Euch darauf verlassen,
+daß ich nichts Unbesonnenes thun will.«</p>
+</div>
+
+<p>Gordon hatte gerade das dreißigste Jahr zurückgelegt. Sein Heer
+zählte bei der Übernahme zwischen drei- und viertausend Mann mit etwa
+hundertundfünfzig Offizieren, war aber später erheblich stärker. Die
+Uniform war eine halb-europäische, aus dunklem Wollenzeug und grünem
+Turban bestehend; die Soldaten waren anfänglich nichts weniger als
+mit ihrer Montur einverstanden, denn ihre Landsleute erblickten in
+ihnen nur »nachgemachte fremde Teufel«; unter der Bezeichnung »fremde
+Teufel« fasst nämlich der Chinese alle Ausländer zusammen. Später
+aber, als die Armee anfing, sich wirklich als die »stets siegreiche«
+zu erweisen, wurden die Leute stolz auf ihre eigenartige Kleidung und
+hätten sich dieselbe nicht wieder nehmen lassen. Ja, soweit ging die
+gute Meinung eines chinesischen Statthalters, daß er dafür hielt,
+schon ihren Fußstapfen folge der Sieg und demgemäß Entmutigung der
+Rebellen; er ließ daher viele tausend Paare europäischen Schuhwerks
+unter das Landvolk verteilen, um die Spuren von Gordons Truppen
+möglichst zu vervielfältigen! Ein Oberst dieses Korps erhielt etwa
+fünfzehnhundert Mark pro Monat, die Majore, Hauptleute, Adjutanten
+u. s. w. eine entsprechende Summe in absteigender Linie bis zum
+Leutnant, der sich auf sechshundert Mark stellte; die Unteroffiziere
+circa hundert Mark in abnehmendem Verhältnis bis zum Gemeinen, dessen
+Sold ungefähr vierzig Mark monatlich betrug. Im Feld verabfolgte man
+außerdem noch Rationen. Der Oberbefehlshaber selbst erhielt eine<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span>
+stattliche Summe — 5200 Mark monatlich, also 62400 Mark im Jahr; —
+»aber das ist sehr gleichgültig«, schreibt Gordon.</p>
+
+<p>Sämtliche Offiziere waren Ausländer. Amerikaner bildeten die Mehrzahl,
+dann Engländer, Franzosen, Spanier, Deutsche. Im allgemeinen waren
+es tapfere Leute, die sich rasch in eine gegebene Lage zu finden
+wußten, im Feuer meist großen Mut entwickelten, im übrigen aber
+leicht einander in die Haare gerieten. Die Disziplin war so scharf
+wie thunlich, doch war es nicht oft nötig, summarisch einzugreifen,
+Gordons persönlicher Einfluß machte sich bald fühlbar. Das
+Schlimmste war die Trunksucht; innerhalb eines Monats starben einmal
+elf Offiziere an <em class="antiqua">delirium tremens</em>. »Man mußte froh sein,
+überhaupt Offiziere zu kriegen«, schrieb einer, der aus Erfahrung
+reden konnte; »sie schlugen sich gut, und das war schließlich die
+Hauptsache.« Ein anderer schreibt: »Es waren sogar offenkundige
+Freunde der Rebellen unter ihnen und solche, die alle Landesgesetze
+in den Wind schlugen; aber Offiziere wie Gemeine lernten sehr bald
+einen Anführer respektieren, auf dessen Tapferkeit, Kriegsgeschick,
+Gerechtigkeitsliebe und persönliche Güte sie alle Ursache hatten sich
+jederzeit zu verlassen, einen, der sich nie selbst schonte<a id="FNAnker_3" href="#Fussnote_3" class="fnanchor">[3]</a>, wo es
+Gefahr gab, und der mit fester Hand alle Privathändel darnieder zu
+halten wußte, die bislang dem Erfolg oft hinderlich im Wege gestanden.«</p>
+
+<p>Der Kriegsschauplatz, auf welchem Gordon seine Armee innerhalb
+anderthalb Jahren dreiunddreißigmal ins Gefecht führte, war die von
+der Jangtsze-Mündung im Norden und von der Bucht von Hangtschau im
+Süden begrenzte Provinz Kiangsu, eine stumpfe Halbinsel, die von
+Hangtschau bis Nanking am Jangtsze, der Residenz des Taiping, über
+zweihundert Kilometer breit ist, während der Querdurchschnitt in
+der Mitte zwischen diesen beiden<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> Punkten bis zum Meer dreihundert
+Kilometer beträgt. Am nordöstlichen Ende, etwa vierzig Kilometer vom
+Ufer entfernt, liegt inmitten zahlloser Buchten die Stadt Schanghai.
+Das von unzähligen Flüssen, Flüßchen und Kanälen durchzogene Land ist
+von fast lagunenartigem Charakter und, abgesehen von den einzelnen
+Hügeln, flach wie Holland, fruchtbar und reich an Dörfern und Städten.
+Stellenweise liegt das Land tiefer als der Spiegel des Meeres, und
+lange Strecken erheben sich nur wenige Fuß darüber. Der Verkehr
+ist größtenteils zu Schiff. Zum Manövrieren in Kriegszeiten ist es
+daher ein schwieriges Land, und es kam Gordon gut zu statten, daß
+er sich eine so gründliche Kenntnis desselben verschafft hatte. Ja,
+er war mit dem gesamten Kriegsschauplatz weit besser vertraut als
+die Rebellen, die das Land seit zehn Jahren durchstreift hatten. Er
+wußte genau, welche Kanäle zur Zeit schiffbar waren und welche nicht;
+er wußte, wo der Boden Artillerie tragen würde und wo er versumpft
+war. Er ging auch alsbald daran, sich durch eine kleine Flotte von
+Kanonenbooten zu verstärken, die in dem wasserdurchfurchten Land
+seiner Infanterie als Bedeckung dienen konnte und die überdies durch
+rasche Truppenbeförderung seine viertausend Mann in der Meinung des
+Feindes vervielfachte. Mit Gordons Korps kooperierte eine kaiserliche
+Armee; der dieselbe befehligende General war Li Adong, ein Mann, vor
+dessen militärischer Tüchtigkeit Gordon alle Achtung hatte. Gleichwohl
+hatte sich Gordon völlige Unabhängigkeit vorbehalten, und die wurde
+ihm auch zugestanden.</p>
+
+<p>Seine »Siegreichen« brannten vor Begier, die Scharte von Taitsan
+auszuwetzen, er aber ließ nichts übereilen. Er hatte das eine
+große Ziel im Auge, den Aufruhr schnell und gründlich aufs Haupt
+zu schlagen, und wußte genug von den bisherigen Ergebnissen, um
+einzusehen, daß hitziges Scharmützeln hier und dort, oder eine
+Taktik der Defensive — wie z. B. das energische Sauberhalten des
+Dreißig-Meilen-Umkreises — oder auch wiederholtes Angreifen des
+Feindes in seinen Verschanzungen wie in Taitsan, durchaus ungenügend
+sei, wenn es sich darum handle, dem ganzen Aufstand ein Ende zu
+machen. Ihm erschienen plötzliche Überfälle an Orten, wo man ihn am
+wenigsten erwartete, der geeignetste<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> Kriegsplan; denn nicht nur
+gewannen seine Soldaten bei ziemlich sicheren Erfolgen immer mehr
+an Selbstvertrauen, sondern er zwang die Rebellen sehr bald, sich
+allerwärts seines Erscheinens gewärtig zu halten, zu einer Stellung
+der Defensive also, und ließ ihnen weder Zeit noch Mut, Schanghai oder
+die andern Hafenstädte zu beunruhigen.</p>
+
+<p>Nicht viele Tage gingen ins Land, ehe er mit zweihundert Mann
+Artillerie und so viel Infanterie, als seine beiden Dampfer tragen
+konnten, d. h. etwa tausend Mann, den Jangtsze hinaufdampfte. Etwa
+hundert Kilometer aufwärts, am südlichen Ufer, liegt Fusan, ein
+Piratennest, wo die Taipings sich befestigt und kurz zuvor einen
+kaiserlichen Angriff zurückgeschlagen hatten. Die Kaiserlichen waren
+dort verschanzt und unter ihrer Deckung brachte er seine Leute ruhig
+ans Land, obgleich die Taipings in ziemlicher Stärke seinen Bewegungen
+aus nächster Nähe zusahen. Er erreichte Fusan, und es gab eine
+dreistündige Beschießung; einen Ansturm warteten die Taipings gar
+nicht ab, sie wandten sich alsbald zurück. Fusan war der Schlüssel
+zu dem fünfzehn Kilometer südlicher gelegenen Tschanzu, wo eine
+kaiserliche Besatzung sich bisher tapfer gehalten hatte.</p>
+
+<p>Die Einwohner dieser Stadt waren selbst Rebellen gewesen, hatten sich
+aber wieder der kaiserlichen Sache zugewandt. Der getreue Wang hatte
+darauf die Stadt belagert und als Beweis, was er zu thun vermöchte,
+die Köpfe von drei bei Taitsan erschlagenen europäischen Offizieren
+über die Mauern werfen lassen; allein die Einwohnerschaft hielt aus.
+Auf dem Wege dahin fand Gordon die Leichname von fünfunddreißig von
+den Taipings gekreuzigten Kaiserlichen. Er vertrieb die Rebellen mit
+einem Verlust von nur zwei Toten und sechs Verwundeten auf seiner
+Seite. Der Feind zog sich nach Sutschau zurück; ein gut Stück Land war
+somit den Rebellen abgenommen. Die Leute von Tschanzu empfingen ihren
+Befreier mit großem Jubel und bedauerten lebhaft, ihm kein Geschenk
+machen zu können. »Das sei nicht Mode bei ihm«, entgegnete Gordon.</p>
+
+<p>Der Kaiser übrigens lohnte den glänzenden Anfang damit, daß Gordon
+den Titel Tsung-Ping erhielt, was annähernd durch<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> Brigadegeneral
+wiederzugeben ist. Eine Besatzung von dreihundert Mann in Tschanzu
+zurücklassend, kehrten die Siegreichen nach Sung-Kiang zurück.</p>
+
+<p>Nordwestlich von Schanghai liegt Taitsan, von wo in südwestlicher
+Richtung der Weg durch Kuinsan nach Sutschau führt. Das waren die
+drei Hauptorte der Rebellen, der letztere als Provinzialhauptstadt
+der bedeutendste. Die Taipings hatten diese Stadt seit 1860 inne.
+Gordon machte sich marschfertig. Es war unbekannt, welchen der drei
+Orte er zuerst angreifen würde; man vermutete, Kuinsan sei das
+Ziel. Dieser Ort, als Verbindungsglied zwischen den beiden anderen
+Städten, war strategisch von großer Wichtigkeit; überdies hatten
+die Rebellen daselbst unter einem hergelaufenen Engländer eine
+Kugelgießerei in voller Thätigkeit. Auf dem Wege dahin erfuhr Gordon,
+daß der Kommandant von Taitsan dem Gouverneur Li einen Vorschlag zur
+Übergabe gemacht habe, daß demzufolge ein kaiserlicher Truppenteil als
+Besatzung dahin abgezogen sei, daß der Taiping den Kaiserlichen aber
+damit nur eine Falle gestellt und dreihundert derselben enthauptet
+habe, deren Köpfe er als Beweis seiner Geschicklichkeit nach Sutschau
+und Kuinsan sandte. Gordon nahm alsbald die verräterische Stadt aufs
+Korn.</p>
+
+<p>Kein leichtes Unternehmen! Die feindliche Garnison war zehntausend
+Mann stark, darunter waren zweitausend auserlesene Truppen mit
+französischen, amerikanischen und englischen Überläufern bei den
+Batterien, während er nur dreitausend Mann befehligte. Aber das
+war ihm einerlei, er belagerte die Stadt sofort. Nach zwei Tagen
+war Bresche geschossen und die Stürmenden in vollem Anmarsch. Der
+erste Angriff wurde jedoch zurückgeschlagen. Darauf ließ Gordon
+seine Artillerie die Bresche über den Köpfen der Stürmenden hinweg
+beschießen. Dieser zweite Angriff war erfolgreicher; die Flagge der
+Siegreichen wehte von den erstürmten Zinnen, und die Taipings retteten
+sich in tollster Flucht. Gordon schreibt darüber an seine Mutter:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Am 24. April verließ ich Sung-Kiang mit etwa dreitausend Mann, um
+Kuinsan anzugreifen, eine große Stadt zwischen Taitsan und Sutschau.
+Ehe ich aber soweit kam, erfuhr ich, daß die Taipings<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> zu Taitsan
+vorgegeben hatten, mit den Kaiserlichen unterhandeln zu wollen, die
+abgesandte kaiserliche Besatzung aber verraten und vernichtet hatten.
+Ich änderte daher alsbald meinen Plan und marschierte nach Taitsan;
+am ersten Tag wurde die äußere Verschanzung angegriffen, am zweiten
+Tag die Stadt selbst. Die Rebellen wehrten sich tüchtig, aber es
+half nichts; die Stadt fiel. Taitsan ist ein wichtiger Ort und die
+Einnahme nach dem verübten Verrat eine verdiente; der Kommandant
+hat eine Kopfwunde davongetragen. Diese Stadt erschließt uns ein
+großes Stück Land. Die chinesischen Behörden sind voll Lobes über
+meine Leute. Ich bin jetzt ein Tsung-Ping Mandarin (die zweitoberste
+Würde) und habe viel Einfluß. Nicht daß ich das an sich schätzte,
+aber ich bin immer gewisser, daß ich recht daran that, das Kommando
+zu übernehmen. Du würdest mir ebenfalls recht geben, könntest Du Dich
+mit eigenen Augen von der Niederträchtigkeit der Rebellen überzeugen.
+Taitsan war stark befestigt, es ist eine Fu oder Hauptstadt.«</p>
+</div>
+
+<p>Die stets siegreiche Armee hatte ihrem Namen Ehre gemacht und ihr
+Anführer sich als ein Befehlshaber erwiesen, der das wahre Geheimnis
+der Kriegskunst kennt — das Wann, Wie und Wo des Draufschlagens.
+Zwanzig Jahre später, als die Araber angefangen hatten, seinen Palast
+in Khartum zu beschießen und er wußte, daß selbst etliche seiner zum
+Mahdi überlaufenden Sudanesen die feindlichen Kanonen bedienten,
+schrieb er in sein Tagebuch: »Es ist nicht das erstemal, daß meine
+eigenen Leute auf mich schießen. In der Bresche vor Taitsan waren
+zwei Engländer vom 31. Regiment unter den Rebellen. Der eine fiel,
+der andere wurde verwundet und gefangen genommen. ›Herr Gordon! Herr
+Gordon! lassen Sie mich nicht totschießen!‹ Lauter Befehl: ›Führt ihn
+weg und jagt ihm eine Kugel durch den Kopf.‹ Leiser Befehl: ›Bringt
+ihn in mein Boot, der Doktor soll nach ihm sehen; dann schickt ihn
+nach Schanghai.‹ Der Mann lebt wohl heute noch.«</p>
+
+<p>Die kaiserlichen Mandarine nahmen ihre Privatrache an einigen der
+Gefangenen, was zu Gerüchten Anlaß gab, die darauf berechnet waren,
+Gordon zu verleumden. Dieser schreibt mit Bezugnahme hierauf unterm
+15. Juli 1863 an den Herausgeber der Schanghaier Schiffszeitung:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich kann bezeugen, daß die Chinesen meines Korps nicht grausamer
+sind als die Soldaten irgend einer christlichen Nation; als Beweis
+erwähne ich die Thatsache, daß siebenhundert der bei Kuinsan
+gefangen genommenen Taipings bei uns jetzt im Dienst stehen. Sie
+haben sich freiwillig unsern Fahnen angeschlossen und sich bereits
+gut gegen die Rebellen geschlagen. Nur <em class="gesperrt">eine</em> Hinrichtung ist
+nötig gewesen; sie traf einen Rebellen, der es versuchte, seine
+Kameraden gegen die Wache aufzuhetzen, und sofort erschossen wurde.
+Es ist ein großer Irrtum, anzunehmen, daß dieses Korps aus lauter
+gewissenlosen Menschen bestehe. In der Hitze des Gefechts schlagen
+sie drauf und halten es für tapfer den Feind zu töten, wie andere
+Soldaten auch; aber nach der Schlacht heißt es gleich wieder gut
+Freund .... Wenn ein gewisser (ungenannter) »Augenzeuge« und jener
+»Freund der Barmherzigkeit« ihre beiderseitigen Behauptungen mit
+wirklichen Beweisen belegen könnten, so wäre es besser, als den
+Zeitungen Zuschriften zu schicken, wie diejenigen, die den Bischof
+von Viktoria beschäftigen. Und wenn irgend jemand der Meinung ist,
+das Volk wäre mit der Rebellenwirtschaft zufrieden, so dürfte er
+sich vom Augenschein hier leicht eines andern belehren lassen.
+Ich überschätze die Zahl gewiß nicht, wenn ich sage, daß nach der
+Einnahme von Kuinsan fünfzehnhundert der flüchtigen Rebellen von den
+sich massenhaft erhebenden Landleuten erschlagen wurden.«</p>
+</div>
+
+<p>Wir haben vorgegriffen. Daß die chinesischen Söldner in vollständiger
+Mannszucht standen, ist kaum anzunehmen; Gordon war ja noch keine zwei
+Monate im Kommando. Seine Soldaten hatten in Taitsan geplündert, was
+gegen seine Kriegsverordnung war. Er strafte sie aber damit, daß er
+ihnen keine Gelegenheit gab, ihre Beute zu verwerten; sie anderweitig
+zu züchtigen, dafür war es kaum der geeignete Moment, nachdem sie
+eben einen Sieg errungen, der, so glänzend er war, doch blutige Opfer
+gekostet hatte. Er überließ es den Mandarinen, die gefallene Stadt zu
+besetzen, und marschierte mit seinem Korps nach Sung-Kiang zurück.
+Dort erließ er eine Proklamation, dankte den Truppen für ihre tapfere
+Haltung, tadelte die Offiziere aber wegen allzu laxer Mannszucht.
+Um diese zu bessern, ernannte er an der Gefallenen Statt mehrere
+englische Offiziere aus einem in Schanghai liegenden Regiment, welche
+Erlaubnis hatten, ihm ihre Dienste anzubieten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span></p>
+
+<p>Und nun ging's nach Kuinsan. Eine drohende Unbotmäßigkeit in seinem
+Korps wich seiner Ruhe und Festigkeit. Kuinsan war nicht nur der
+Schlüssel zum größeren Sutschau, sondern überhaupt zur Hälfte des
+rebellischen Territoriums. Die Stadt hatte eine ausgezeichnete Lage;
+in ihrer Mitte erhob sich inselartig, mit einer Pagode gekrönt, ein
+Hügel. Der Angriff konnte somit genau beobachtet werden, und zwei oder
+drei richtig aufgepflanzte Geschütze hätten die Stadt zur beinahe
+unnahbaren Festung gemacht. Der Graben um die Stadt her war über
+hundert Fuß breit. Die Garnison bestand aus zwölf- bis fünfzehntausend
+Taipings unter einem Anführer Namens Moh Wang. Der kaiserliche General
+Tsching war für einen Angriff von der Ostseite her, aber Gordons
+Kriegsgenie geriet auf eine andere Taktik, und in der That fiel die
+Stadt lediglich infolge seiner Manöver mit einem kleinen Flußdampfer.</p>
+
+<p>Er hatte bald entdeckt, daß Kuinsan bei seiner ausgezeichneten Lage
+doch einen schwachen Punkt hatte, indem die Verbindung mit Sutschau in
+einer einzigen Straße bestand, die teilweise an einem See hinführte,
+teilweise zwischen einem Netz von Kanälen lag. Er brachte seinen
+Dampfer Hyson zur Stelle, und die Verbindung zwischen den beiden
+Städten war abgeschnitten. Der Hyson trug einen Zweiunddreißigpfünder
+und einen zwölfpfündigen Mörser. Der Kapitän war ein kühner
+Amerikaner, und ihm folgte eine Flottille von etwa fünfzig kleinen
+Segelboten mit Kanonen. Der Hyson that gute Arbeit und säuberte sehr
+bald die Wasserstraße von allen Taipings, als wäre er ein mächtiges
+Kriegsschiff gewesen; ja einmal dampfte das kühne Boot mit Gordon an
+Bord bis unter die Mauern von Sutschau.</p>
+
+<p>Mittlerweile fand im großen Kanal ein hitziges Gefecht statt. Die
+Besatzung hatte nach Sonnenuntergang einen Ausfall gemacht. So
+zahlreich und so verzweifelt waren die Taipings, daß sie unter
+einem tüchtigen Anführer die »stets siegreiche Armee« völlig hätten
+aufreiben können. Mitten im Getümmel erschien der Hyson mit dem
+Aufblitzen und Donner seiner Geschütze, und — was den Taipings
+offenbar einen tollen Schrecken einjagte — mit dem schrillen Pfiff
+seiner Dampfmaschine. Der Feind geriet in verworrene<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> Flucht, und
+ehe der Morgen tagte, war Kuinsan gefallen, ohne nur ein einzigesmal
+gestürmt worden zu sein. Von da an hatten die Krieger des großen
+Friedens eine heilsame Furcht vor dem Namen Gordon. Achthundert Mann
+der feindlichen Besatzung wurden gefangen genommen, und die meisten
+von diesen nahmen Dienst bei dem Sieger; doch war dies nicht der
+zehnte Teil der Mannschaft, und nur wenige Flüchtlinge erreichten
+Sutschau; der größte Teil muß unterwegs umgekommen sein. Gordon hatte
+diesen wunderbaren Erfolg fast ohne Opfer erreicht; zwei im Kampf
+Gefallene und fünf Ertrunkene war der ganze Verlust auf seiner Seite.
+Gordons Grundsatz, alle Gefangenen, die es begehrten, in seine Reihen
+aufzunehmen, bewährte sich glänzend. Feinde wurden zu Freunden.
+Auch gestattete er, so viel an ihm lag, nie, daß die Kaiserlichen
+Grausamkeiten verübten; Gefangene müßten so behandelt werden, sagte
+er, wie es Soldaten zukomme, die sich einem britischen Offizier
+ergeben. Sein eigener Bericht lautet:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Die Rebellen haben diesmal tüchtig Schläge gekriegt; ich glaube
+nicht, daß sie sich noch lange zur Wehr setzen werden, da wir ihnen
+durch unsere Dampfer so weit überlegen sind. Kuinsan ist eine große
+Stadt, über fünf Kilometer im Umkreis, ihren Mittelpunkt bildet ein
+sechshundert Fuß hoher Hügel, von dem man die Gegend stundenweit
+beherrscht. Es ist ein merkwürdiges Land, voller Wasserstraßen und
+von großem Reichtum. Durch die Eroberung dieser Stadt ist es der
+kaiserlichen Regierung nun ermöglicht, die reichen Korndistrikte
+u. s. w. zu beschützen; die Landleute sind so dankbar, daß es eine
+Freude ist, sie zu sehen. Sie waren in schlimmer Lage vorher, mitten
+zwischen den Rebellen und den Kaiserlichen; sie waren aber schlau
+genug, sich einigermaßen dadurch zu helfen, daß jedes Dorf sich zwei
+Bürgermeister hielt, einen kaiserlichen und einen, der vorgab, es mit
+den Rebellen zu halten. Auf diese Weise entrichteten sie Steuern an
+beide. Was ich nun weiter zu sagen habe, könnte für Prahlerei gelten,
+aber ich weiß, daß Ihr alles hören wollt. Der Gouverneur der Provinz,
+Prinz Kung, und alle Mandarine sind froh, daß ich die Anführerschaft
+übernommen habe. Ich bin ein Tsung-Ping, d. h. ein Mandarin zum
+roten Knopf; wie Ihr Euch denken könnt, trage ich die Kleidung aber
+nicht. Sie schreiben mir sehr schmeichelhafte Briefe und sind äußerst
+verbindlich.<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> Ich mag die Chinesen auch gut leiden, aber Takt ist
+nötig im Umgang mit ihnen, und über ihr Phlegma zornig werden nützt
+gar nichts; ich lasse es daher bleiben .... Sollten Gerüchte von
+begangenen Grausamkeiten Euch erreichen, so glaubt sie nicht! Wir
+haben an achthundert Gefangene gemacht; eine gute Anzahl derselben
+ist jetzt meiner Garde eingereiht und hat seither gegen ihre alten
+Freunde, die Rebellen, mitgefochten. Wenn ich Zeit hätte, könnte
+ich lange Geschichten erzählen, wie Leute aus entfernten Provinzen
+einander hier treffen, oder wie die Bauern unter meinen Soldaten
+Rebellen erkennen, die vor noch nicht langer Zeit ihre Dörfer
+geplündert haben — aber ich habe keine Zeit! Ich nahm einen Mandarin
+gefangen, der drei Jahre lang bei den Rebellen war; er hat jetzt eine
+Kugel in der Wange, die er sich neulich im Gefecht gegen die Taipings
+geholt hat. Die Ex-Rebellen, die ich in meine Garde aufnahm, waren
+alle Schlangenträger oder Hauptleute. Sowohl bei den Rebellen als bei
+den Kaiserlichen sind die Schlangenstandarten nämlich die Abzeichen
+der Anführer. Wo man eine sieht, ist immer ein Befehlshaber in der
+Nähe. Ihr Verschwinden bedeutet den Rückzug des Feindes. In Taitsan
+hielten die Schlangen auch bis zuletzt, das bewies, daß der Kampf
+ein hartnäckiger war. Die Wangs wußten nach der Einnahme von Fusan,
+daß ein »neuer Engländer im Kommando war, aber sie erwarteten ihn
+nicht in Taitsan.« Äußerst seltsame Gerüchte sind im Umlauf, so z. B.
+sollen die Rebellen mir vierzigtausend Mark geschenkt haben, damit
+ich Kuinsan in Ruhe lasse. Alle Mandarine hatten davon gehört, und
+wenn sie es glaubten, so mußte es sie wunder nehmen, daß wir trotzdem
+vor Kuinsan erschienen. Bu Wang und zehn andere Wangs ertranken auf
+dem Rückzug; jener war Befehlshaber von Sutschau und schrieb einen
+großthuenden Brief an General Staveley, wir wären nur ein Krämervolk,
+und er habe Soldaten wie Sand am Meer. Ich meinesteils hielt die
+Rebellen nie für so stark als man annahm; es sind nicht viel tüchtige
+Soldaten unter ihnen. Tschung Wang, der Getreue, ist anderwärts
+beschäftigt und soll nicht beabsichtigen, wieder nach Sutschau
+zurückzukehren. Die Einwohner von Sutschau haben ihre Weiber und ihre
+Habe in die Wassergegend hinter die Stadt geflüchtet. Ich fürchte,
+die Wangs werden lange Gesichter machen, wenn sie dort auf unsere
+drei Dampfer stoßen, was ihnen leicht blühen kann.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span></p>
+
+<p>Eine gründliche Kenntnis des Landes ist unschätzbar, und ich habe
+die Gegend genau studiert. Tschanzu ist etwa sechzig Kilometer von
+hier. Ich bin öfters dort gewesen; die Leute fühlen sich jetzt sicher
+dort, seit Kuinsan gefallen ist. Das Entsetzen der Rebellen über
+unsere Dampfer ist ein großes, besonders wenn Signal gepfiffen wird,
+das geht über ihr Fassungsvermögen .... Wir haben mehrere ehemalige
+Diener des Bu Wang unter den Gefangenen, und ihre Berichte sind
+ergötzlich. Die Wangs hatten beschlossen, meinen Dampfer in die Luft
+zu sprengen, und erließen eine Proklamation, daß Pulver gelegt werde;
+sie vergaßen nur die Hauptsache, nämlich <em class="gesperrt">wie</em> das geschehen
+könnte — darüber hat allem nach nichts verlautet ...</p>
+
+<p>Ich habe mehrere englische Offiziere, und wir begnügen uns mit der
+Montur, die wir auftreiben können; die Soldaten sind in hellen Lumpen
+... Ja, es ist wie Du sagst, der Bezahlung wegen bin ich nicht
+hier. Ich halte es immer mehr für ein gutes Werk, den Aufstand zu
+unterdrücken, und Du würdest ebenso denken, könntest Du es nur einmal
+mit ansehen, mit welch dankbarer Freude die Landleute ihre Freiheit
+hinnehmen; die Rebellen sind ihre Tyrannen ... Die Verlegung des
+Hauptquartiers war ein großes Stück Arbeit.«</p>
+</div>
+
+<p>Gordon hatte nämlich beschlossen, Kuinsan jetzt zum Mittelpunkt seines
+Unternehmens zu machen, und zwar ebensowohl der Lage wegen als mit
+Rücksicht auf den nicht minder wichtigen Vorteil, daß er sein Korps
+dort in strammerer Mannszucht würde halten können als in Sung-kiang,
+wo die Tradition von Ward und Burgevine noch nachwirkte. Seine Leute
+aber billigten den Beschluß keineswegs. In Sung-kiang konnten sie
+etwaige Beute besser los werden, während das Plünderungsverbot in
+Kuinsan überhaupt so leicht nicht mehr umgangen werden konnte. Die
+Unbotmäßigkeit wuchs zur Meuterei. Die Artillerie weigerte sich
+anzutreten. Sie würden die Offiziere zusammenschießen, ließen sie
+Gordon schriftlich androhen. Dieser aber war ihnen gewachsen. Er rief
+sofort sämtliche Unteroffiziere heraus, indem er nicht zweifelte, daß
+unter diesen die Rädelsführer und Schreiber des frechen Schriftstücks
+sich befänden. Wer den Brief geschrieben, verlangte er zu wissen, und
+warum das Regiment sich dem ergangenen Befehl widersetze. Störriges
+Schweigen war die Antwort.<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> Darauf erklärte Gordon mit ruhiger
+Bestimmtheit, er werde je den fünften Mann erschießen lassen, was mit
+wildem Murren aufgenommen wurde. Ein Korporal zeichnete sich hierbei
+besonders aus. Mit dem ihm eigenen Scharfblick erkannte Gordon seinen
+Mann. Mit eigener Hand zog er den Korporal aus der Reihe und ließ ihn
+von zwei dabeistehenden Infanteriesoldaten ohne weiteres erschießen.
+Die andern erhielten eine Stunde Arrest mit der Erklärung, daß, wenn
+alsdann der Antritt nicht erfolge und der Verfasser des Briefes nicht
+genannt würde, je der fünfte Mann unter ihnen erschossen werden
+solle. Das wirkte; das Regiment trat an, und als Gordon die verlangte
+Mitteilung erhielt, ergab sich's, daß der Rädelsführer eben jener
+Korporal war, dem er die verdiente Strafe hatte werden lassen.</p>
+
+<p>Die Einnahme von Sutschau war das nächste Ziel, aber erst im Dezember
+wurde es erreicht. Kuinsan war im Mai gefallen.</p>
+
+<p>Die Pagodenstadt Sutschau liegt am großen Kanal und ist von
+Wasserwegen umgeben. Gordon beschloß, sie allmählich abzuschneiden,
+indem er zu Wasser von allen Seiten näher rückte. Etwa fünfzehn
+Kilometer südlich von Sutschau liegt Kahpu am Thaihusee, wo die
+Rebellen zwei starke Forts innehatten, nicht weit davon die Stadt
+Wokong. Als Schlüssel zu dem etwa achtzig Quadratkilometer großen
+Thaihusee waren beide Orte von Wichtigkeit, außerdem beherrschten sie
+die Verbindung zwischen Sutschau und den Taiping-Städten im Süden.
+Dahin richtete Gordon deshalb seinen ersten Angriff und eroberte
+beide Orte mit etwa zweitausendzweihundert Mann Infanterie und
+Artillerie, sowie mit Hilfe zweier Kriegsboote, der »Feuerfliege« und
+dem »Heimchen«. Auch hier zeigte es sich wieder, daß rasche Bewegung
+Gordons Stärke war; so gab es z. B. einen ordentlichen Wettlauf nach
+einer Verschanzung außerhalb Wokongs, welche die Rebellen vergessen
+hatten zu besetzen. Als sie merkten, daß der Feind sich seine
+Gelegenheit ersah, wollten sie das Versäumte geschwind noch nachholen
+und machten sich kopfüber auf den Weg. Zwei Regimenter Gordons aber
+waren hinter ihnen her, so daß die Taipings eigentlich nur sozusagen
+zu einer Thür hinein und<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> zur andern wieder hinausgejagt wurden, den
+Siegreichen den Posten überlassend.</p>
+
+<p>Viertausend Rebellen kapitulierten; fünfzehnhundert derselben sollte
+Tsching unter seine Kaiserlichen aufnehmen, nachdem er sein Wort
+gegeben hatte, sie gut zu behandeln. Es dauerte aber nicht lange,
+da hörte Gordon, Tsching habe trotz seinem Versprechen etliche
+derselben enthauptet, eine Wortbrüchigkeit, welche Gordons ganzen
+Zorn herausforderte. Überdies war er unzufrieden, weil der Sold
+seiner Truppen seit einiger Zeit im Rückstande war. Er hatte ihnen
+das Plündern verwehrt mit dem Versprechen einer regelmäßigen Löhnung;
+nun entbehrten sie beides, und allgemeines Murren wurde laut. Es ist
+bezeichnend, daß nach der Einnahme von Kuinsan, einem Erfolg, der
+europäische Truppen mit flammender Begeisterung erfüllt hätte, die
+Siegreichen in ziemlicher Anzahl davonliefen! Auch hierin liegt ein
+Grund, warum Gordon nicht anders konnte, als Taiping-Überläufer zu
+Rekruten zu machen! Durch Tschings zwecklose Grausamkeit wurde das Maß
+seines Unmuts voll; er beschloß sein Kommando niederzulegen, und ritt
+in dieser Absicht nach Schanghai. Als er am dritten August dort ankam,
+fand er indessen eine Nachricht vor, die ihn alsbald umstimmte.</p>
+
+<p>Burgevine mit etwa dreihundert Mann europäischen Pöbels und einem
+kleinen Dampfer hatte eben die Stadt verlassen, um sich den Rebellen
+anzuschließen. Burgevine ein Wang! das war allerdings eine Neuigkeit,
+die den Leuten von Schanghai nicht ganz einerlei war, und Gordon sah,
+daß er der kaiserlichen Sache nicht den Rücken wenden durfte, wenn er
+es nicht riskieren wollte, daß die »stets siegreiche Armee« sich ihrem
+alten Anführer zuwenden und mit ihm zu den Taipings übergehen sollte.</p>
+
+<p>Sofort kehrte er nach Kuinsan zurück, und ernste Gedanken mochten ihn
+auf seinem einsamen Ritte begleiten. Wie viel hing von der Stimmung
+seines Korps ab! Die Leute konnten es nicht vergessen haben, wie
+Burgevine seiner Zeit den kaiserlichen Zahlmeister prügelte, weil er
+im Rückstande war, und wie er nie Anstand nahm selbst Tempelraub zu
+begehen, wenn sich's darum handelte, die Siegreichen zu löhnen. Kein
+Wunder, daß Gordon<span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span> bei seiner Rückkehr großer Aufregung begegnete;
+seine Macht über die Geister machte sich aber auch jetzt wieder
+geltend. Er schickte sich alsbald an, seine Stellung bei Kahpu zu
+verstärken, und nicht zu früh, denn die mutig gewordenen Taipings
+machten einen Überfall, wurden aber zurückgeschlagen; doch verlor
+Gordon ein Kanonenboot. Burgevine war übrigens nicht bei diesem
+Angriff; es hieß, er bilde eine Fremdenlegion in Sutschau. Gordon
+hielt sich fürs nächste auf der Defensive.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Daß Burgevine sich den Rebellen angeschlossen hat, wird den Aufstand
+ohne Zweifel verlängern, der sonst, nach menschlichem Ermessen, wohl
+noch in diesem Jahr unterdrückt worden wäre, oder doch spätestens
+im Laufe des Winters. Ich habe zu wenig Leute, um überall sein zu
+können, auch ist bei der gegenwärtigen Sachlage doppelte Vorsicht
+nötig. Die Kaiserlichen leiden an der Einbildung, daß sie die
+Rebellen im offenen Felde schlagen können, was nicht der Fall ist
+... Man sucht mich zu überreden, alsbald die Offensive zu ergreifen,
+allein das Leben der Leute ist mir anvertraut, und ich will nichts
+thun, was ich von vornherein für tollkühn halten muß. So weit sind
+wir gut weggekommen, wir hatten in all diesen Gefechten nicht mehr
+als dreißig bis vierzig Tote bei sechzig bis achtzig Verwundeten.
+Es wäre wohl ein Unternehmen, um von sich reden zu machen, wenn
+ich Sutschau eroberte ohne Verstärkung abzuwarten; aber ich will
+nichts derartiges riskieren. Wokong ist unser, damit ist schon viel
+gewonnen, und wenn ich durch die Einnahme von Wusieh Sutschau von
+aller Verbindung abschneiden kann, wird es wohl nicht nötig sein,
+die Stadt zu stürmen. Ich denke, die Taipings werden sie von selbst
+räumen. Burgevine ist ein Thor und sieht nicht, was für Elend er
+übers Land bringt ....«</p>
+</div>
+
+<p>Unterm 11. September heißt es weiter:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Burgevines kleiner Dolmetscher ist zu uns übergelaufen und sagt,
+daß sein Herr den Wangs allerlei von uns erzähle, was sie höchlich
+interessiere. Er sei in guter Gesundheit, aber träge. Seine Anhänger
+sind größtenteils Gesindel aus Schanghai .... Die Gegenwart von
+Europäern (bezw. Amerikanern) hat die Rebellen in nichts gebessert;
+sie sengen und brennen nach wie vor, wo und was sie können, und wir
+haben eine Menge ausgehungerter Leute hier ....«</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span></p>
+
+<p>Unterm 25. September schreibt er aus dem Lager bei Sutschau:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich habe nun Stellung genommen, um die Kaiserlichen zu decken,
+die sich in einer Entfernung von etwa fünftausend Fuß vor Sutschau
+verschanzt haben ... Burgevine ist in Schanghai gewesen« — nämlich
+um sich Munition zu verschaffen, bei welch tollkühnem Unterfangen er
+beinahe in Gefangenschaft geriet.</p>
+</div>
+
+<p>Am 30. September konnte Gordon bereits von Erfolg berichten:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Da die Kaiserlichen durch die Patatschau-Schanzen gehindert waren,
+so beschloß ich, dieselben einzunehmen. Die Verteidigung war schwach
+und unser Verlust bei der Erstürmung ein kaum nennenswerter —
+fünf Verwundete .... Bei Patatschau ist eine merkwürdige Brücke,
+sie besteht aus dreiundfünfzig Bogen und ist dreihundert Fuß lang.
+Ich bedaure sagen zu müssen, daß sechsundzwanzig der Bogen gestern
+zusammenfielen wie ein Kartenhaus, wobei zwei meiner Leute ums Leben
+kamen, zehn andere retteten sich nur durch schleunige Flucht. Die
+Bogen stürzten einer nach dem andern mit kolossalem Lärm zusammen,
+und mein Boot wurde schier mit zertrümmert. Es ist mir sehr leid,
+denn die Brücke war einzig in ihrer Art und sehr alt, eine wahre
+Sehenswürdigkeit. Ich fürchte, ich bin am Einsturz schuld; ich wollte
+nämlich einen Bogen wegnehmen lassen, um Raum für den Durchgang
+eines Dampfers nach dem Thaihusee zu gewinnen, da brach die ganze
+Geschichte zusammen, weil ein Bogen vom andern getragen war ... Die
+Lage der Rebellen wird immer schlimmer; ich denke, es wird nicht
+lange mehr dauern, bis ich den Fall von Sutschau melden kann. Wir
+sind hier etwa drei Kilometer davon entfernt, am großen Kanal. Die
+Dampfer legen den Taipings doch das Handwerk bedeutend.«</p>
+</div>
+
+<p>Was den Sturz der Brücke betrifft, so bedarf Gordons Bericht der
+Ergänzung. Er saß eines Abends allein auf der Brüstung jener Brücke
+und rauchte seine Zigarre, als zwei Kugeln nach einander neben ihm
+auf den Stein schlugen und abprallten. Diese Flintenschüsse, die ganz
+»zufällige« waren, kamen aus seinem eigenen Lager, wo man nicht wußte,
+daß er sich gerade daselbst aufhielt. Nach dem zweiten Schuß erhob er
+sich und schickte sich an, zurückzurudern, um zu sehen was es gäbe.
+Er war noch keinen Steinwurf von der Stelle entfernt, als der Teil
+der Brücke, auf dem er gesessen, mit großem Gekrach einstürzte und
+sein Boot in<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> nicht geringe Gefahr brachte. Die Hauptgefahr, der er
+soeben entronnen, war natürlich die gewesen, selbst mit der Brücke zu
+stürzen. Es ist charakteristisch, daß er die Sache in seinem Briefe
+mit keinem Wort erwähnt! Diese Begebenheit ist eines jener Ereignisse,
+die seine Leute auf den Glauben brachten, sein Leben sei gefeit.</p>
+
+<p>Dieser Glaube hatte bei seinen Chinesen in der That tiefe Wurzel
+gefaßt. In keinem Gefecht sah man ihn selbst Waffen tragen, obschon er
+es meist nötig fand, den Angriff persönlich zu leiten. Seine Offiziere
+waren ja im ganzen sehr tapfere Leute, aber nicht immer dazu angethan,
+dem verzweifelten Feind stand zu halten. Bei solchen Gelegenheiten
+konnte man Gordon oft sehen, wie er diesen oder jenen Offizier ruhig
+am Arm nahm und ihn mit sich in den dicksten Kugelregen führte. Er
+kannte keine Furcht; ihm galt ein Musketenfeuer nicht mehr als ein
+Hagelwetter. Die einzige »Waffe«, die er im Treffen führte, war sein
+kleines spanisches Rohr, womit er die Leute dirigierte; seine Soldaten
+aber, die ihn fast nur als Sieger kannten und ihn mit Staunen immer
+kaltblütig und unversehrt sahen, meinten, es habe mit dem Röhrchen
+eine besondere Bewandtnis. Als »Gordons Zauberstab« stand dasselbe
+denn auch in glänzendem Rufe. Und dieser Ruf war etwas wert.</p>
+
+<p>Die in der Festung eingeschlossenen Europäer fanden sich mittlerweile
+unter der Herrschaft der Taipings aufs gründlichste enttäuscht; es
+kam zu Unterhandlungen zwischen Gordon und Burgevine. Eine Brücke bei
+Patatschau war der neutrale Boden der Zusammenkünfte.</p>
+
+<p>Burgevine war ein amerikanischer Abenteurer vom reinsten Wasser,
+Sohn eines französischen Offiziers aus der Zeit des ersten Napoleon,
+in Nord-Karolina geboren. Er war nicht ohne Bildung, und der Traum
+seines Lebens scheint der gewesen zu sein, ein Kaiserreich zu
+gründen. Kalifornien, Australien, Hawaii, Indien und schließlich
+China waren der Schauplatz seiner Unternehmungen. Trunksucht soll
+ihn schließlich zu Grunde gerichtet haben. Seine Entlassung aus dem
+Sung-kiang-Corps hatte er nicht verwinden können, und er schloß sich
+den Taipings an, nur<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> um sich an den Kaiserlichen zu rächen. In
+seiner ersten Unterredung mit Gordon erklärte er, er sei der Rebellen
+überdrüssig und wolle sie mit seinem Anhang wieder verlassen, wenn
+er die Gewißheit erhalten könne, daß die Kaiserlichen ihn für seinen
+Verrat nicht zur Verantwortung ziehen würden. Gordon übernahm es, die
+Bürgschaft zu leisten, und war alsbald bereit, sowohl Burgevine als
+andere Europäer, die dazu Lust hätten, unter seiner Fahne dienen zu
+lassen. Als aber Gordon und Burgevine das zweitemal zusammenkamen,
+gab der letztere seine wahre Gesinnung kund. Er und Gordon könnten
+gemeinschaftliche Sache machen, meinte er, mit einander der Stadt
+Sutschau habhaft werden, unter Ausschluß beider, der Rebellen und
+der Kaiserlichen, sich der in dieser Stadt aufgehäuften Schätze
+versichern, eine größere Armee heranbilden, nach Peking marschieren
+und das geträumte Kaiserreich gründen. Man kann sich denken, was
+Gordon dazu wird gesagt haben.</p>
+
+<p>Übrigens desertierten die Europäer in der Stadt einige Wochen später
+massenweise, und zwar mit Gordons Hilfe. So groß war ihr Vertrauen zu
+dem feindlichen Landsmann, daß sie ihm sagen ließen, sie gedächten
+einen Ausfall zu machen in der Absicht, sich seinem Schutz zu ergeben.
+Auf ein Raketensignal hin wollten sie den Dampfer Hyson entern.
+Dies geschah denn auch mit solchem Eklat, daß Tausende von Taipings
+hinter ihnen herstürmten, in der Meinung, es handle sich um einen
+wirklichen Überfall; der Hyson aber trug die Flüchtlinge davon, deren
+Abschiedsgrüße der Zweiunddreißig-Pfünder energisch vermittelte.
+Burgevine mit etlichen anderen war indessen zurückgeblieben; der
+Moh Wang habe Verdacht geschöpft, hieß es, weshalb sie die Sache
+beschleunigt hätten, ohne auf die Säumigen zu warten.</p>
+
+<p>Die Mehrzahl dieser Überläufer waren Matrosen, die nach Sutschau
+gelockt worden waren, ohne zu wissen, wohin sie gingen. Ausgehungert
+und zerlumpt wie sie waren, wußten sie ihrer Dankbarkeit kein Ende,
+und fast alle baten um die Erlaubnis, dieselbe dadurch mit der That
+beweisen zu dürfen, daß sie sich der siegreichen Armee einreihen
+ließen. Gordon aber, sobald er hörte, daß Burgevine in der Stadt
+zurückgeblieben und somit der Rache<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> der Taipings hilflos überlassen
+war, richtete (16. Okt.) folgende Zuschrift an die beiden Haupt-Wangs
+der Belagerten:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es kann Ew. Exzellenzen nicht verborgen geblieben sein, daß ich
+bei jeder Gelegenheit, wo es in meiner Macht stand, Ihren in unsere
+Gefangenschaft geratenen Soldaten Barmherzigkeit erwiesen habe und
+es mir habe angelegen sein lassen, die kaiserlichen Behörden vor
+Grausamkeiten zurückzuhalten. Die Wahrheit dieser meiner Aussage kann
+Ihnen von solchen, die persönliche Erfahrung haben, bestätigt werden;
+denn mancher von Ihren Soldaten muß, nachdem Wokong in unsere Hände
+gefallen war, wieder nach Sutschau zurückgekehrt sein, ich habe es
+wenigstens keinem verwehrt, der es wünschte.</p>
+
+<p>»Hierauf Bezug nehmend, erlaube ich mir Ew. Exzellenzen zu ersuchen,
+die Lage der Europäer in Ihren Diensten wohlwollend zu beurteilen.
+Ein Soldat, er mag kämpfen für wen er will, muß von loyalen Gedanken
+getragen werden, wenn er seine Pflicht thun soll. Und wenn einer
+gegen seinen Willen zu irgend einer Fahne gezwungen wird, so wird
+er nicht nur ein schlechter Soldat sein, sondern außerdem auch ein
+Unruhestifter im Regiment, den man nur hüten muß. Sollten nun solche
+Europäer in Sutschau sein, so erlaube ich mir, an Ew. Exzellenzen die
+Frage zu richten, ob es nicht viel besser wäre, solche unbehindert
+ziehen zu lassen, wenn das ihr Wunsch sein sollte. Sie selbst würden
+damit eine ständige Ursache des Argwohns los werden und sich die
+Billigung fremder Mächte erwerben; während Sie außerdem die Gewißheit
+hätten, daß Ihnen nur von außen ein Feind droht und nicht auch im
+eigenen Lager. Ew. Exzellenzen denken vielleicht, daß durch ein paar
+Hinrichtungen innere Ruhe bald hergestellt wäre; Sie würden dann aber
+ein Verbrechen auf sich laden, das sich früher oder später rächen
+müßte. Bei meinen Truppen steht es den Offizieren wie den Gemeinen
+frei, zu kommen und zu gehen wie es ihnen beliebt; und obschon das
+manchmal unbequem ist, so bin ich doch andererseits dadurch vor
+innerem Verrat sicher. Ew. Exzellenzen wollen sich darauf verlassen,
+daß Sie es zu bereuen haben werden, wenn Sie den in Ihrem Dienst
+sich befindenden Europäern ans Leben gehen oder sie wider ihren
+Willen zurückhalten. Dieselben haben nichts verbrochen, sie haben
+Ihnen im Gegenteil eine Zeit lang gedient; und wenn sie nun zu
+entfliehen suchen, so ist das nichts anderes als was jeder Mensch,
+ja jedes Tier in mißlicher Lage zu<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> thun strebt .... Persönlichen
+Vorteil habe ich durchaus keinen dabei, ob die betreffenden in
+der Stadt zurückgehalten werden oder dieselbe verlassen. Wenn ich
+ihretwegen an Sie appelliere, so geschieht es lediglich aus Gründen
+der Menschlichkeit .... Daß diese Europäer mir Mitteilungen machen
+könnten, haben Ew. Exzellenzen durchaus nicht zu fürchten; Ihre
+Truppenstärke und Kriegsmittel sind mir längst bekannt, ich brauche
+mich daher nicht erst von ihnen belehren zu lassen.</p>
+
+<p>»Sollte ich hinsichtlich dieser Männer vergeblich an Sie appellieren,
+so schicken Sie mir wenigstens die Verwundeten unter ihnen und
+glauben Sie, daß Sie damit eine That thun, die Sie nie bereuen werden.</p>
+
+<p>»Ich schreibe dies eigenhändig, da ich mich nicht auf einen
+dolmetschenden Schriftführer verlassen will. In der Hoffnung, daß Sie
+meine Bitte gewähren, schließe ich</p>
+
+<p class="center">Ew. Exzellenzen gehorsamer Diener</p>
+
+<p class="right"><em class="gesperrt">C. G. Gordon</em>,<br>
+Major-Kommandant.«</p><br>
+
+</div>
+
+<p>Burgevine, der diese Teilnahme an seinem Schicksal durchaus nicht
+verdient hatte, wurde freigegeben und verschwand für immer. In einem
+Brief an die Seinen beschreibt Gordon die Sache und fährt fort:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Moh Wang fragte den Boten genau aus, u. a. ob es möglich wäre, mich
+zu bestechen, und mußte sich mit einem Nein begnügen. »Wird Gordon
+die Stadt einnehmen?« »Jedenfalls«, lautete die Antwort, und er
+schwieg nachdenklich. Ich höre, daß die Stadt in großer Verwirrung
+ist; es ist nicht sowohl die Flucht der Europäer, was die Taipings
+beunruhigt, als vielmehr das Bewußtsein, daß die Europäer die Sache
+für verloren halten. Burgevine soll gut behandelt werden; ich werde
+thun, was ich kann, ihn loszubringen, und dann, sobald sich einer
+findet, der meine Stelle einzunehmen imstande ist, werde ich mich
+zurückziehen ... an Ruhm und Ehren ist mir nicht gelegen ... Ich
+hoffe, daß die chinesische Regierung sich hinlänglich davon überzeugt
+hat, daß ich ehrlich an ihr gehandelt habe und daß nicht alle
+Engländer von Geldgier beseelt sind. Daß sie diese Überzeugung in der
+That gewonnen haben, das glaube ich; wenigstens kommen sie mir mit
+vollem Vertrauen entgegen.«</p>
+</div>
+
+<p>Die Tage von Sutschau waren gezählt. Die Kaiserlichen hatten
+südwestlich um die Stadt her feste Stellungen inne, während<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> Gordon
+mit seinem Belagerungstrain und vor allem mit dem Dampfer Hyson die
+nördliche und östliche Seite gesperrt hielt. Der Hyson erwies sich
+stets als vorzügliches Kampfmittel; bei einer Gelegenheit wurden
+dreizehnhundert Taipings gefangen genommen, und ebensoviel ertranken
+bei einem Fluchtversuch. Aber die kaiserlichen Verbündeten unter
+ihrem Anführer Tsching waren es, die durch ungeschickte Taktik Gordon
+immer wieder an der Ausführung eines umfassenden Planes hinderten. In
+Schanghai und anderwärts wurden Stimmen laut, daß, wenn Gordon nicht
+den Gesammtoberbefehl erhalte, man den Fall von Sutschau nie erleben
+würde. Aber nicht nur hat er diesen Oberbefehl nie erhalten, sondern
+sein eigenes Korps geriet wieder an den Rand der Meuterei und war
+außerdem von Krankheit heimgesucht. Aber Gordon hatte in sich die
+Kraft eines Kriegsheeres.</p>
+
+<p>Zwar wurden die Siegreichen nun mehrmals zurückgeworfen, einmal
+lediglich infolge einer zur unrechten Zeit geleisteten Hilfe. Bald
+aber kann Gordon wieder ein Gegenteil berichten.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wir mußten die Rebellen aufs neue aus Wokong verjagen, sie hatten
+trotz ihrer neulichen gründlichen Niederlage daselbst die Kühnheit,
+diesen Ort abermals zu besetzen. Ich schickte einen Dampfer hin, und
+der Erfolg war ein glänzender Sieg, fast wie der bei Kuinsan und auch
+aus ähnlicher Ursache. Die Rebellen waren nämlich genötigt, ihren
+Rückzug auf einer engen Straße zwischen dem großen Kanal und anderen
+Gewässern zu nehmen ...«</p>
+</div>
+
+<p>Es war ein Weg, der oft lange Strecken nur drei bis vier Fuß breit
+war und dann und wann kamen enge Brücken, die nur ein bis zwei Mann
+auf einmal durchließen. Auf der ganzen Strecke des Rückzugs, fünfzehn
+Kilometer weit, waren die Flüchtlinge unter dem Feuer der Dampfer und
+hatten die verfolgenden Truppen hinter sich. Der Verlust der Taipings
+war entsprechend.</p>
+
+<p>Am 1. November wurde Fort Liku erstürmt, etwa acht Kilometer nördlich
+von Sutschau. Dabei ereignete sich folgendes: Einige Tage zuvor hatte
+Gordon zufällig einen beschriebenen Zettel gefunden. Er erkannte
+die Handschrift als die eines seiner Offiziere, Namens Perry, der
+offenbar einem Rebellenfreund in Schanghai über das Korps berichtete.
+Perry leugnete auch gar<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> nicht, entschuldigte sich aber damit, daß
+seine Mitteilungen nicht aus böswilliger Absicht stammten, sondern
+nur vertraulicherweise einem Bekannten gelten sollten. »Gut«, sagte
+Gordon, »ich nehme Sie für diesmal bei Ihrem Wort und erwarte von
+Ihnen, daß Sie beim nächsten ›hoffnungslosen‹ Gefecht vorne dran
+sind.« Er selbst vergaß den Fall alsbald wieder, aber nach wenigen
+Tagen waren beide nebeneinander vorne dran beim Erstürmen einer
+Verschanzung. Eine Kugel traf Perry in den Mund, Gordon fing ihn in
+seinen Armen auf — er war tot.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wir eroberten Liku im Sturmlauf«, berichtet Gordon. »Leutnant
+Perry ist leider gefallen, er war ein guter Offizier. Sonst nur
+drei Verwundete. Die Rebellen hielten tapfer Stand, hatten vierzig
+bis sechzig Tote; wir machten sechzig Gefangene, eroberten drei
+Kanonenboote und etwa vierzig andere Boote.«</p>
+</div>
+
+<p>Zehn Tage später wurde ein anderer Ort Namens Wanti angegriffen,
+der so mit Erdwällen verschanzt war, daß das Beschießen kaum einen
+Eindruck machte; als Gordon aber den Ort eingeschlossen hatte,
+stürzten die Taipings wie toll daraus hervor, es gab ein hitziges
+Handgemenge, und nach einer Stunde war Wanti erobert. Gordon hatte
+zwanzig Tote, darunter einen Offizier; die Rebellen dreihundertfünfzig
+— sie waren nämlich unter das Feuer der Artillerie geraten — und
+außerdem gab's sechshundert Gefangene.</p>
+
+<p>So wurde ein immer engerer Kreis um Sutschau gezogen. Die Wangs fingen
+an, mutlos zu werden.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Uneinigkeit unter den Belagerten kann die Übergabe herbeiführen«,
+schreibt Gordon; »sie haben nichts mehr als für zwei Monate Reis
+... Mauding am großen Kanal beabsichtigte ich zunächst durch zwei
+Dampfer angreifen zu lassen; es ist nur eine Stunde von hier und
+die Rebellen dort haben gar keine andere Wahl als sich zu ergeben.
+Die Kaiserlichen reden davon, ihnen Garantie anzubieten, daß ihnen
+das Leben geschenkt werde; die meisten wären ohne weiteres damit
+einverstanden!«</p>
+</div>
+
+<p>Wir werden bald sehen, was es mit solchen Versprechungen
+kaiserlicherseits auf sich hatte, und daß auch in China ein Treubruch
+Böses nach sich zieht.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span></p>
+
+<h3>3. Der Fall von Sutschau und der Mord der Könige.</h3>
+
+<p>Die Belagerung war vollständig; an vierzehntausend Mann umschlossen
+die Stadt, von denen drei- bis viertausend unter Gordons Befehl
+standen. Außerdem waren noch etwa fünfundzwanzigtausend Mann
+kaiserliche Truppen in der Nähe; Fusan war ihr Zentrum. Die Taipings
+zählten vierzigtausend in der belagerten Stadt, zwanzigtausend in
+Wusieh und weitere achtzehntausend zu Matantschiao, wo Tschung Wang,
+der Getreue, den großen Kanal beherrschte.</p>
+
+<p>Gordon wußte all dies, aber er wußte auch, daß der Getreue nur auf die
+Gefahr hin näher rücken konnte, Nanking bloßzustellen und Hangtschau
+preiszugeben. Tschung selbst war sich darüber klar, daß Nanking hart
+bedrängt war und daß der Fall der Hauptstadt dem »großen Frieden«
+den Todesstoß versetzen würde. Die Außenwerke von Nanking waren zum
+Teil schon in Feindeshand. Gordon wußte dies, denn die Kaiserlichen
+hatten eine Staffette abgefangen; und er beschloß, Sutschau auf der
+Nordseite zu stürmen. Der Angriff geschah nachts, mißlang aber, denn
+die innere Reihe der Außenwerke war stark befestigt und wohl bemannt.
+Die Angreifenden trugen weiße Turbane, um sich nächtlicherweile
+untereinander zu erkennen. Es schien zuerst, als ob der Überfall
+gelingen sollte. Gordon an der Spitze seiner Vorlinien hatte den
+Wall schon erstiegen, aber ein mächtiges Feuer der plötzlich in
+Masse erscheinenden Taipings hinderte seine Unterstützungskolonnen
+am Vordringen, und so mußte auch er wieder zurückweichen. Ein Kampf
+bei Nacht mochte den Rebellen übrigens nicht behagen; wirklichen Mut
+schien nur noch der Moh Wang zu haben, der sich wie ein Löwe in den
+vordersten Reihen wehrte, ohne Schuhe und ohne Strümpfe mitten unter
+den Gemeinen kämpfend. Zwanzig Europäer hielten sich zu ihm.</p>
+
+<p>Am andern Morgen hatte General Tsching eine Unterredung mit dem
+Taiping Kong Wang und erfuhr von diesem, daß unter den Wangs
+in Sutschau große Uneinigkeit herrsche; außer dem Moh Wang und
+fünfunddreißig zu ihm haltenden Unterbefehlshabern wären die Anführer
+bereit, mit dreißigtausend Mann zu<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> kapitulieren. Denn trotz des
+zurückgeschlagenen nächtlichen Angriffs wüßten die Wangs nur zu
+gut, daß Sutschau fallen müsse; sie schlügen daher vor, daß Gordon,
+um ihnen einen gewissen Schein zu retten, einen zweiten Angriff
+aufs Ostthor mache, wobei sie dem Moh Wang den Rückweg in die
+Stadt abzuschneiden gedächten, um dann ihrerseits mit dem Feind zu
+unterhandeln.</p>
+
+<p>Am 29. November schoß Gordons Artillerie die Palissadenverschanzung
+zusammen und der Angriff erfolgte. Es war eine heiße Arbeit. Gräben
+voll Wasser mußten durchschwommen und Wälle erstiegen werden. Der
+Getreue selbst war von Wusieh her zu Hilfe gekommen und verteidigte
+die Stadt. Da ereignete es sich, daß Gordon, der mit einer Handvoll
+Leute ungestüm vordrang, plötzlich einen Haufen Taipings im Rücken
+hatte und so von den Seinen abgeschnitten war. Zurück konnte er
+nicht, wollte es auch nicht, also vorwärts! Er eroberte eine Redoute
+und hielt sich, bis Verstärkung sich zu ihm durchschlagen konnte.
+Die errungene Position, die er fast allein gewonnen, kam einem
+vollständigen Siege gleich, aber er war teuer erkauft. Neun Offiziere,
+meist Engländer, waren gefallen, dazu fünfzig Gemeine und es gab viele
+Verwundete. Aber am folgenden Tag konnte er eine Proklamation an seine
+Leute erlassen des Inhaltes, daß Sutschau faktisch erobert sei.</p>
+
+<p>Es dauerte nicht lange, so hatten Gordon und der kaiserliche General
+Tsching eine Zusammenkunft mit den Wangs. Immer noch besorgt, sich
+den Schein zu wahren, schlugen diese jetzt vor, daß ein Angriff auf
+die Stadt selbst geschähe, wobei sie versprachen, sich nicht bei der
+Abwehr zu beteiligen, vorausgesetzt, daß die Kaiserlichen ihnen bei
+der Einnahme die persönliche Sicherheit garantierten. Selbst unter
+solchen Umständen war der Angriff mit Schwierigkeiten verbunden; die
+Stürmenden konnten nicht viel über fünftausend Mann beibringen, ein
+breiter Graben umgab die Stadt und vom Ostthore hin zog sich eine
+unabsehbare Reihe von Schanzen. Als der Na Wang Gordon vorschlug,
+die Stadt im Sturm zu nehmen, erklärte dieser daher rundweg, daß es
+dann unmöglich sein würde, den Soldaten das Plündern und Brennen zu
+verbieten, und fügte hinzu, wenn es den Wangs<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> wirklich ernst sei mit
+ihren Vorschlägen, sie ihre Aufrichtigkeit damit bekunden sollten, daß
+sie dem Feinde ein Thor überließen; wollten sie das nicht, so sollten
+sie die Stadt entweder räumen oder um den Besitz fortkämpfen, so lange
+sie sich würden halten können. Daraufhin erklärten sie sich bereit,
+die Übergabe der Stadt durch Überlassen eines der Thore ins Werk
+zu setzen; und während General Tsching die Unterhandlungen zu Ende
+führte, machte Gordon sich alsbald auf den Weg, um beim Gouverneur die
+Sicherheit der Besatzung zu beantragen.</p>
+
+<p>Übrigens war die Übergabe noch nicht vollzogen. Als der tapfere
+Moh Wang erfuhr, was seine Mit-Wangs im Schild führten, erfaßte
+ihn ein gewaltiger Ingrimm, und er versammelte sie alsbald um sich
+zum Kriegsrat. Er war der Oberbefehlshaber der Stadt. Es mag eine
+seltsame Szene gewesen sein, als nach der festlichen Mahlzeit und dem
+obligatorischen Gottesdienst diese Würdenträger mit ihren Kronen und
+Königsgewändern sich im Halbkreis um den Moh Wang scharten. Sofort kam
+es zu einem Wortwechsel. »Übergabe!« schrien die Wangs durcheinander.
+»Wir halten Sutschau bis zum letzten Mann!« entschied der Moh Wang. Da
+fuhr der Kong Wang auf, den Königsmantel von sich werfend, und stieß
+seinen Dolch dem Moh Wang neunmal in den Rücken. Miteinander trugen
+sie den Gemordeten hinaus und zerstückten seinen Leichnam. Gordon
+erfuhr diese Mordthat, als er eben von seinem Liebesritt zurückkehrte
+und das Versprechen von Li mitbrachte, dem Moh Wang und seinen
+Gefährten solle kein Leids geschehen. Er hatte den Moh Wang um seiner
+mannhaften Tapferkeit willen hochgeschätzt.</p>
+
+<p>In jener Nacht ergab sich Sutschau.</p>
+
+<p>Um, wenigstens so viel an ihm lag, die Plünderung zu verhüten,
+zog Gordon sein Korps auf einige Entfernung von der Stadt zurück,
+verlangte aber in Anerkennung ihrer Leistungen doppelte Löhnung
+für die Truppen auf zwei Monate. Allein Li handelte die Belohnung
+auf einen Monat herunter, was die Soldaten so verdroß, daß ihr
+unzufriedenes Gemurre fast in offene Meuterei überging. Ein paar
+Stunden Plünderung wäre ihnen lieber gewesen als alle Löhnung. Gordon
+konnte sich nur<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> damit helfen, daß er seine Siegreichen nach Kuinsan
+zurück marschieren ließ.</p>
+
+<p>Was die nun folgenden Ereignisse betrifft, so mochte Gordon füglich
+erwarten, daß er eine Stimme im Rat habe, besonders rücksichtlich des
+Schicksals der Wangs. Ohne ihn und seine Leute hätten dieselben noch
+lange stand gehalten; und er, der sein eignes Leben nie der Gefahr
+entzog, dessen Todesverachtung die Armee mit Siegesmut erfüllte,
+mochte wohl denken, daß er vor allen das Recht habe, dem überwundenen
+Feind das Leben zu schenken. Li und Tsching wußten auch recht wohl,
+daß eine menschliche Behandlung der Überwundenen nach europäischen,
+bezw. nach christlichen Grundsätzen beobachtet werden müsse, wo Gordon
+mitzureden hatte. Li hatte es diesem bestimmt zugesagt, daß Gnade
+vor Recht ergehen solle, hatte ihm sozusagen das Leben der Wangs
+geschenkt. Wie wurde aber dieses Versprechen gehalten!</p>
+
+<p>Von Kuinsan zurückkehrend, betrat Gordon, nichts ahnend, die gefallene
+Stadt, von seinem jungen Dolmetscher begleitet. Er begab sich nach des
+Na Wang Wohnung. Dort fand er sämtliche Wangs im Begriff aufzusitzen.
+Li erwarte sie außerhalb der Stadt, um die Schlüssel der Thore von
+ihnen entgegenzunehmen. Es sei alles in Ordnung, versicherte Na Wang,
+und daraufhin sah Gordon sie ruhig ziehen, um so mehr, als Tsching ihn
+erst kürzlich versichert hatte, der Gouverneur habe eine allgemeine
+Amnestie erlassen. In aller Gemütsruhe schlenderte Gordon durch sie
+Stadt, sorgte für des Moh Wang Begräbnis und erreichte nach einiger
+Zeit das Ostthor, wo ein Haufe Kaiserlicher ihm lärmend entgegen kam.
+Er blieb stehen und forderte die Soldaten zu ruhigerem Benehmen auf,
+damit sie die Einwohner nicht unnötig alarmierten. Während er noch
+redete, betrat der General Tsching selbst die Stadt und erblaßte, als
+er Gordon sah. Dieser erkundigte sich alsbald nach den Wangs, die der
+Zeit nach längst von ihrer Audienz zurück sein mußten, worauf Tsching
+etwas hervorstotterte und sich in Ausreden verwirrte. Da schöpfte
+Gordon Verdacht und kehrte eiligst nach des Na Wang Hause zurück.
+Er fand es zerstört; die Plünderung hatte begonnen. Ein Oheim des
+Na Wang, der ratlos umherlief, bat ihn inständig, mit ihm<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> in seine
+Wohnung zu gehen, um ihm behilflich zu sein, die Frauen des Na Wang
+in Sicherheit zu bringen. Er zögerte einen Augenblick, waffenlos wie
+er war, allein das Weibervolk erbarmte ihn; er beschloß, der Bitte
+Folge zu leisten und alsdann mit Hilfe seiner Leute dem Plündern der
+Kaiserlichen wo möglich zu steuern.</p>
+
+<p>Man sollte denken, daß Li den heldenmütigen Gordon, dem er so viel
+verdankte, wenigstens vor dem Betreten der Stadt hätte warnen
+lassen; aber davon war keine Rede. So hatte sich Gordon in der That
+unwissentlich als Geisel gestellt, während der treubrüchige Futai
+die Wangs draußen enthaupten ließ. Die lärmenden Kaiserlichen, denen
+er begegnete, kamen gerade von der Hinrichtung, der Tsching selbst
+beigewohnt hatte. Gordons Lage war um so bedenklicher, als er sich
+in völliger Unwissenheit befand. Hätten die Taipings, die alsbald
+zu Tausenden das Haus umstellten, mehr gewußt als er, er wäre nicht
+lebendig aus ihren Händen gekommen. So aber betrachteten sie ihn
+als Geisel, bis sie ihre Anführer wieder sähen. Bis zum folgenden
+Morgen befand er sich völlig hilflos unter den Taipings, die von der
+vertragswidrigen Plünderung wohl auf Schlimmeres schließen mochten;
+aber es geschah ihm kein Leid. Wer weiß, ob die Leute nicht halb
+unbewußt in ihm den festen Mann erkannten, der ihnen Treue halten
+würde, wenn alle anderen sie brächen. Jedenfalls hat wohl selten ein
+Heerführer inmitten seiner geschlagenen Feinde dem Tod näher ins Auge
+geschaut als er; allein über Gordon wachte ein Höherer, dem er diente
+und der ihn zu noch Größerem brauchen wollte.</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen hatte er die Taipings soweit gebracht, daß
+sie ihm gestatteten, seinen Dolmetscher mit einem Brief an sein
+Boot zu entsenden, das vor dem Südthor vor Anker lag. Nichts kann
+bezeichnender für unsern Helden sein, als die Thatsache, daß das
+Schreiben auch nicht ein Wort über seine eigene Lage enthielt, wohl
+aber den Befehl an den Kapitän seiner Flottille, den Gouverneur
+Li gefangen zu nehmen und ihn festzuhalten, bis die Wangs in
+Sicherheit wären, ein prächtiger Plan, der aber leider mißlang.
+Der Taipingführer, der den Dolmetscher begleitete, kam allein mit
+der Nachricht zurück, die<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> Kaiserlichen hätten dem Jungen den
+Brief abgenommen und denselben zerrissen. Darauf hin gestatteten
+die Taipings ihrem Gefangenen, sich selbst auf den Weg zu machen.
+Unterwegs wurde auch er von Kaiserlichen überfallen, die ihn wohl
+nicht kannten, aber es gelang ihm von ihnen loszukommen und das
+Ostthor zu erreichen, wo seine Leibwache lag. Diese entsandte er nun
+sofort zum Schutze der Taipings, die ihn die Nacht durch festgehalten
+hatten.</p>
+
+<p>Es war immer noch sein Vorsatz, den Li gefangen zu nehmen. Während er
+zu diesem Zweck auf seinen Dampfer wartete, stellte Tsching sich zu
+einer Unterredung ein; aber Gordon weigerte ihm das Wort. Da schickte
+der General einen seiner Offiziere, aber diesem fehlte der Mut, dem
+entrüsteten Briten die Wahrheit zu sagen. Auf Gordons Frage nach den
+Wangs entgegnete er, er wisse nichts, doch sei des Na Wang junger Sohn
+in der Nähe, der werde wohl Bescheid geben können. Und von dem Sohne
+eines der Gemordeten erfuhr denn Gordon endlich, daß bei Gelegenheit
+der Audienz die Hinrichtung stattgefunden hatte. Er ließ sich sofort
+übers Wasser rudern und fand die kopflosen Leichname der Wangs
+zerhackt und zerstückt.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich fand sechs Leichen«, schrieb er, »und erkannte des Na Wang Kopf.«</p>
+</div>
+
+<p>Wohl selten in seinem Leben ist ihm etwas so nahe gegangen. Er
+vergoß Thränen vor Leid und Entrüstung, vor Scham und Zorn. Überdies
+erachtete er seine Ehre angegriffen durch die unmenschliche That.
+Er hatte den Wangs zwar nicht sein Wort gegeben — das konnte er
+nicht — aber er hatte von vornherein mit ihnen in der Voraussetzung
+verhandelt, daß der Gouverneur sie anständig behandeln werde. Und
+die Plünderung der Stadt gegen seinen Willen und Wissen war eine
+weitere Kränkung. Seinem Mut und Kriegsgeschick war's in erster
+Linie zu verdanken, daß Sutschau gefallen, und nun hatte man ihn
+einfach beiseite gesetzt, ja ihn selbst in nicht geringe Lebensgefahr
+gebracht. Diese perfide Handlungsweise der Chinesen, für die er sich
+aufgeopfert, ergrimmte ihn so sehr, daß sein Zorn keine Grenzen
+kannte, und wohl zum erstenmal in der ganzen blutigen Kriegszeit
+nahm er<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> eine Waffe zur Hand. Er steckte seinen Revolver zu sich,
+entschlossen, an des Gouverneurs eignem Leben Gericht zu üben, mochten
+die Folgen für ihn selbst sein, welche sie wollten. Tsching aber war
+ihm zuvorgekommen und hatte Li wissen lassen, daß er wohl daran thun
+werde, dem zornmütigen Engländer aus dem Weg zu gehen. Als Gordon
+das Boot des Li bestieg, fand er daher, daß dieser sich in die Stadt
+geflüchtet hatte. Gordon verfolgte ihn dort und versuchte während
+mehrerer Tage vergeblich, zuerst allein und dann mit Hilfe seiner
+Garde, des flüchtigen Gouverneurs habhaft zu werden. In bitterm Mißmut
+kehrte er nach Kuinsan zurück. Dort verlas er seinem versammelten
+Korps einen Bericht über das Geschehene mit dem Anfügen, daß ein
+britischer Offizier unter dem Gouverneur Li nicht länger dienen könne,
+es sei denn, daß dieser vom Kaiser zur verdienten Strafe gezogen werde.</p>
+
+<p>Gordon schrieb an seine Angehörigen:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ihr werdet froh sein zu erfahren, daß wir wieder zu Kuinsan im
+Quartier sind und es wohl so bald nicht wieder verlassen werden.
+Ich habe weder Zeit noch Lust, Euch von dem Kampf am Ostthor zu
+berichten, noch von dem kaiserlichen Verrat in Sutschau — die
+Zeitungen werden genug darüber melden. Des Na Wang Sohn habe ich
+bei mir. Er ist ein gescheiter junger Mensch und sehr lebhaft, etwa
+achtzehnjährig. Sein armer Vater war ein recht guter Wang, besser als
+die meisten Kaiserlichen, mit denen ich noch zu thun hatte. Ich kann
+Euch nicht sagen, wie tief ich die neuesten Ereignisse beklage und
+zwar um verschiedener Ursachen willen. Hätte man dem Feind, der sich
+ergeben, Treue gehalten, so wäre es mit dem Aufstand wohl zu Ende,
+und die anderen Städte, die noch aushalten, wären ohne Zweifel dem
+Beispiel Sutschaus gefolgt. Wir hätten uns dann rühmen können, den
+Aufruhr mit geringem, nicht zu umgehendem Blutvergießen unterdrückt
+zu haben. Wenn <em class="gesperrt">ich</em> nicht mit dem Na Wang unterhandelt hätte,
+wäre die Übergabe wohl so bald nicht erfolgt, und ich halte jetzt
+all meine Mühe für verloren. Ich kann mich nur damit trösten, daß
+<em class="gesperrt">alles</em> zum besten dienen muß! Unverständlich ist und bleibt mir
+die Handlungsweise des Li; er kennt mich hinreichend um zu wissen,
+daß ein solches Verfahren mich aufbringen muß, und er handelte mit
+nicht<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> geringem persönlichem Risiko, denn meine Truppen waren in der
+Nähe ....«</p>
+</div>
+
+<p>Während von Regierungs wegen eine Untersuchung eingeleitet wurde,
+verhielt sich Gordon völlig unthätig in seinem Quartier, — keine
+leichte Sache bei der Stimmung seines Korps. Li aber hatte sich weiß
+zu brennen gewußt; überhaupt wähnte man in Peking, das Hauptlob bei
+der Einnahme von Sutschau gebühre ihm. Gordon hatte allerdings eine
+Position nach der andern, die er mit seinen Siegreichen eroberte,
+mit Kaiserlichen besetzt. In Anerkennung dieser Thatsache erhielt Li
+mit der »gelben Jacke« die höchste militärische Auszeichnung. Doch
+erinnerte man sich auch des englischen Anführers. Ein kaiserlicher
+Erlaß bestimmte eine Medaille für den tapfern Tsung-Ping und außerdem
+ein Geschenk von siebzigtausend Mark.</p>
+
+<p>Diese Summe mit vielen andern Geschenken und der Versicherung der
+kaiserlichen Anerkennung wurde Gordon von Li übersandt, außerdem eine
+erhebliche Extra-Löhnung für seine Truppen und eine besondere Summe
+für die Verwundeten. Diese beiden letzten Beträge nahm Gordon an;
+die für ihn bestimmte Summe aber wies er mit Entrüstung zurück. Ja,
+als die buchstäblich mit Gold beladenen Schatzträger vor ihn traten,
+kommandierte er: rechts umkehrt mit seinem spanischen Röhrchen.
+Wahrlich keine schönere That läßt sich von dem »Zauberstab« berichten.
+Die Chinesen wußten sich nicht zu fassen vor Verwunderung. Wo war's
+erhört, daß einer solche Schätze von sich wies, und wer durfte es
+wagen, den kaiserlichen Gesandten mit dem Kommandostab zu begegnen!
+Der mit der Sendung betraute Mandarin brachte ihm außerdem vier
+seidene Fähnchen als Ehrengabe, zwei von Li und zwei von Wang-tetai,
+einem die Kanonenboote der Provinz befehligenden Mandarin. Li's
+Ehrengabe schickte Gordon zurück, die Fähnchen des Wang-tetai nahm
+er an, da derselbe nicht bei jenem Treubruch beteiligt war. Der
+kaiserliche Erlaß wurde auf gelbem Atlas feierlich auf einen mit zwei
+brennenden Kerzen versehenen Tisch gelegt und so zu Gordons Kenntnis
+gebracht. Eine Übersetzung war dem Schriftstück beigegeben. Auf die
+Rückseite derselben schrieb der uneigennützige Held stehenden Fußes
+folgende Antwort:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Major Gordon nimmt Sr. Majestät des Kaisers huldvolle Billigung
+mit Befriedigung entgegen, aber er kann es nur aufrichtig bedauern,
+daß nach dem, was seit der Einnahme von Sutschau vorgefallen
+ist, es nicht in seiner Macht steht, irgend welche Geschenke
+kaiserlicher Gnade anzunehmen. Er entbietet kaiserlicher Majestät
+seinen unterthänigsten Dank für die ihm zugedachte Belohnung, welche
+abzulehnen man ihm gnädigst verstatten wolle.«</p>
+</div>
+
+<p>In einem Brief an die Seinen spricht er sich so aus:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Um die Wahrheit zu sagen, begehre ich weder Lohn noch Ehre, weder
+von den Chinesen, noch von unserer Regierung. Auszeichnung habe ich
+nie gesucht. Ich habe das Bewußtsein, ein gutes Werk zu vollbringen,
+und fürs übrige gewährt mir mein Beruf an sich Befriedigung ...
+Ich würde das kaiserliche Geschenk auch dann zurückgewiesen haben,
+wenn es mit Sutschau anders gegangen wäre ... Ich weiß, daß ihr
+Verständnis habt für meine Lage, die keine leichte ist, und daß
+meine Erfolge Euch freuen. Die Rebellen sind ein grausames Volk. Der
+Tschung Wang hat zweitausend hilflose Menschen umbringen lassen,
+die nach der Ermordung der Wangs zu ihm flüchteten. Dem Li habe ich
+übrigens einen Denkzettel angehängt, den er so bald nicht vergessen
+wird.«</p>
+</div>
+
+<h3>4. Weitere Siege und das Ende des Aufstands.</h3>
+
+<p>Die Enthauptung der Wangs hatte Gordons Lage in der That zu einer
+schwierigen gemacht. Seinen Kriegs- und Siegeszug nach der Gewaltthat
+zu Ende führen, hieß den Treubruch seiner Kollegen billigen, während
+andererseits seine bisherigen Erfolge vergeblich gewesen wären, wenn
+er alles weitere den Kaiserlichen allein überlassen hätte. Im Korps
+der Siegreichen gab es durch das zeitweilige Einstellen des Kampfes
+bereits bedenkliche Unruhen. Sechzehn Offiziere hatten kassiert werden
+müssen, während den Taipings offenbar der Mut wuchs. Gordon sah ein,
+daß er jetzt nicht mit seinen Gefühlen zu Rate gehen durfte, und
+beschloß deshalb, dem Gouverneur Li behufs weiterer gemeinschaftlicher
+Arbeit die Hand der Versöhnung zu reichen.</p>
+
+<p>In den Augen chinesischer Machthaber war die Hinrichtung der Wangs ein
+notwendiges Übel, und als Gordon bei ruhigerer<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> Stimmung anhörte, was
+Li zu seiner Entschuldigung beibringen konnte, erschien ihm die That,
+wenn auch immerhin verabscheuungswürdig, doch minder ruchlos. Nach
+chinesischen Begriffen hätten die kapitulierenden Wangs sich nämlich
+alsbald wieder als Kaiserliche gebärden sollen; sie aber erschienen
+vor dem Gouverneur mit vollem Haarwuchs anstatt mit rasiertem Kopfe,
+sie kamen auch bewehrt, und ihre Haltung war die von Männern, die
+auch künftig noch zu herrschen gedachten. Das kam dem Li unerwartet.
+Die Unterhandlungen aber aus diesem Grund abbrechen, war keineswegs
+thunlich, ohne eine Katastrophe herbeizuführen. General Tsching,
+selbst ein Ex-Rebell, kannte seine Leute und hatte dem Li dringend zur
+Hinrichtung geraten. »Macht die Anführer unschädlich«, sagte er, »und
+die Hunderttausende ihrer Anhänger gelten für nichts; so allein ist
+Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.« Und so erfolgte die Hinrichtung.</p>
+
+<p>Um aber ehrlich und aufrichtig seinen Gang gehen zu können,
+machte sich nun Gordon auf den Weg zu Li und forderte ihn auf,
+eine Proklamation zu erlassen, die ihn von aller Teilnahme und
+Mitwissenschaft der Hinrichtung losspräche; alsdann wolle er den
+Kampf wieder aufnehmen. Es geschah, doch erst nachdem durch Hin-
+und Herschreiben zwischen dem englischen Bevollmächtigten und den
+chinesischen Behörden kostbare Zeit verloren gegangen war.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wenn ich meiner Neigung folgte,« schrieb Gordon damals an den
+englischen Gesandten, »so würde ich das Kommando jetzt niederlegen.
+Ich bin aus allen Gefahren unverletzt hervorgegangen, und schöne
+Erfolge sind mein Lohn; aber das zusammengelaufene Volk, das unter
+dem Namen der »stets siegreichen Armee« bekannt ist, ist eine
+gefährliche Rotte, und ich halte es für meine Pflicht, das Korps
+mit aller Vorsicht aufzulösen; so lange es aber besteht, soll es
+der kaiserlichen Sache dienen ... Übrigens bin ich mir bewußt, daß
+keinerlei persönliche Interessen mich bestimmen ....«</p>
+</div>
+
+<p>Die Proklamation des Li war eine umfangreiche Darstellung der Dinge,
+die Gordon volle Gerechtigkeit widerfahren ließ. Am 19. Februar 1864
+zog dieser abermals ins Feld.</p>
+
+<p>Die westlichen Distrikte waren noch immer in den Händen der Taipings
+und von desperaten Rotten überlaufen. Eine von<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> Sutschau durch Jesing,
+Lijang und Kintang westwärts gezogene Linie durchschneidet das
+Rebellenland in zwei Teile, mit Nanking am obern Ende und Hangtschau
+am untern. Gordon beschloß auf dieser Linie zu operieren, indem er
+Hangtschau einem französisch-chinesischen Heeresteil unter einem
+Offizier Namens d'Aiguibelle überließ, während einem Mandarin mit den
+Kaiserlichen die Belagerung von Nanking oblag.</p>
+
+<p>Strategisch war dies sehr wohl geplant, aber die Ausführung war
+mit Schwierigkeiten verbunden. Er verließ Kuinsan in Schnee und
+Hagelwetter. Bisher war Schanghai sein Proviantmagazin gewesen, jetzt
+in Feindesland war er lediglich auf sich selbst angewiesen, auch
+konnten seine Schiffe ihm nicht überall hin folgen. Überdies bestanden
+seine Truppen jetzt größtenteils aus Überläufern, die von Mannszucht
+nichts wußten.</p>
+
+<p>Über Wusieh am großen Kanal ging es zuerst nach Jesing, ein trostloser
+Zug durch Ländereien, welche die Taipings seit Jahren innegehabt und
+verwüstet hatten. Der Einwohner waren nur wenige übrig geblieben —
+ausgehungerte Skelette, die oft froh gewesen waren, an den Leichen
+Verhungerter ihren eigenen Hunger zu stillen. Jesing wurde eingenommen
+und Lijang, das nächste Ziel, ergab sich ohne Widerstand. An tausend
+Mann der Garnison wurden dem Korps einverleibt. Glücklicherweise war
+dieser Ort wohl verproviantiert, und Gordon that sein Möglichstes,
+es den ausgehungerten Landleuten zu gute kommen zu lassen. Von
+Lijang ging es nach Kintang. Hier schienen die Taipings entschlossen
+standzuhalten. Gordon traf seine Vorbereitungen zur Eröffnung einer
+Kanonade; als diese aber eben beginnen sollte, kam schlimme Kunde.
+Siebentausend Taipings aus Tschantschufu, einer Stadt nordwestlich von
+Sutschau, also in seinem Rücken, hatten die Kaiserlichen überflügelt,
+Fusan überrumpelt, bedrohten Wusieh und belagerten Tschanzu, wo Gordon
+seinen ersten Erfolg errungen hatte. Die Rebellen hatten somit wieder
+im Dreißig-Meilen-Umkreis Fuß gefaßt. Gordon beschloß aber, sich vor
+allen Dingen Kintangs zu versichern, wo eine ebenso grausame als
+hartnäckige Garnison zu überwältigen war.</p>
+
+<p>Eine dreistündige Beschießung erzielte eine Bresche und Gordon<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> ließ
+stürmen. Aber der erste und zweite Angriff wurde zurückgeworfen. Und
+hier ereignete sich das in den Augen des Korps Unglaubliche: der
+»unverwundbare« Anführer erhielt einen Schuß in die Wade. Es war seine
+erste und einzige Verwundung. Einen seiner Gardisten, der neben ihm
+stand, hieß er schweigen und fuhr fort, seine Befehle zu erteilen, bis
+er vor Blutverlust fast ohnmächtig wurde. Daß auch der dritte Anlauf
+mißlang, war ohne Zweifel eine Folge von Gordons Verwundung, die ihre
+Rückwirkung nicht verfehlte. Nach einem Verlust von etwa hundert Toten
+und Verwundeten mußte sich das Korps nach Lijang zurückziehen!</p>
+
+<p>Hier gab es eine neue Unglückspost; kein anderer als der Getreue in
+Person hatte Fusan erobert. Nun hinderte zwar Gordon seine Verwundung
+am Stehen, aber er konnte auch liegend Krieg führen, und die Zeit
+drängte. Die Taipings erließen eine Proklamation um die andere, daß
+Schanghai ihr Ziel wäre, und daß sie Sutschau auf dem Wege dahin zu
+überfallen gedächten. Waren sie doch in Wusieh, keine drei Stunden
+von Sutschau entfernt! Trotz seiner Verwundung machte Gordon sich
+alsbald auf mit vierhundert Mann Artillerie und etwa sechshundert Mann
+Infanterie, welch letztere samt und sonders nur wenige Tage zuvor noch
+Rebellen gewesen, jetzt aber bereit waren, ihm überallhin zu folgen.
+»Man weiß nicht, was das Erstaunlichere ist,« ruft hier mit Recht ein
+englischer Berichterstatter aus, »ob der Mut, oder das Vertrauen des
+verwundeten Anführers!«</p>
+
+<p>Das überall zu Tag tretende Elend aber war über alle Beschreibung
+grauenhaft — ausgehungertes Landvolk auf allen Seiten; die noch
+Lebenden hatten keine Kraft mehr, die Toten zu begraben, die überall
+die Luft verpesteten. »Es ist entsetzlich!« schreibt ein Augenzeuge,
+»von Kannibalen zu <em class="gesperrt">hören</em> ist schlimm genug, aber mit eigenen
+Augen Tote zu <em class="gesperrt">sehen</em>, denen das Fleisch von den Knochen abgenagt
+ist, das übersteigt die menschliche Kraft. Man kann hier vor Ekel kaum
+mehr daran denken, seinen Hunger zu stillen. Die abgezehrten Leute
+machen Augen wie Wölfe und laufen den Booten nach in der Hoffnung,
+einigen Abfall zu finden.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span></p>
+
+<p>Die Taipings haben das Land rein ausgeplündert und alles Eßbare mit
+fortgeschleppt.«</p>
+
+<p>Mit unglaublicher Geschwindigkeit drängte Gordon indessen weiter, und
+aufs neue wurde nun Sieg um Sieg erfochten.</p>
+
+<p>Der letzte Schlag gegen die Rebellen geschah von Waisso aus. Die
+Taipings zogen sich auf Tschantschufu zurück, allerorts aber erhob
+sich das Landvolk in verzweifelter Rache, ihrer hunderte und tausende
+erschlagend. Tschantschufu wurde von Li belagert, und Gordon zog
+ihm mit dreitausend Mann zu Hilfe. Zwanzigtausend Taipings unter
+dem Hu Wang oder Schutzkönig, gemeinhin auch »Scheel-Auge« genannt,
+verteidigten die Stadt bis aufs Blut, sich tagelang wehrend. Aber
+Li hatte eine Proklamation erlassen, in welcher er allen, welche
+die Stadt verlassen würden, Pardon verhieß, den Hu Wang selbst
+ausgenommen, und siehe da — die Überläufer kamen massenhaft.
+Schließlich erstürmte Gordon die Stadt; etwa fünfzehnhundert Taipings
+fielen, aber auch das siegreiche Korps litt große Verluste. Es war die
+letzte Kriegsthat desselben. Kurz vor der Einnahme der Stadt hatte
+Gordon an seine Mutter geschrieben:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich werde mich natürlich versichern, daß der Aufstand wirklich
+unterdrückt ist, ehe ich meine Leute heimschicke, da ich sonst eine
+große Verantwortlichkeit auf mich laden würde .... Auf Weihnachten
+hoffe ich bei Euch zu sein. Unsere Verluste innerhalb dieser
+sechzehn Monate waren doch bedeutend: von hundert Offizieren sind
+achtundvierzig tot oder verwundet, von dreitausendfünfhundert
+Gemeinen an eintausend tot oder verwundet; aber ich habe die große
+Befriedigung zu wissen, daß, soweit es in menschlicher Berechnung
+liegt, es wohl keine sechs Monate mehr dauert, bis auch die letzte
+Handbreit Erde den Rebellen unter den Füßen weggezogen sein wird,
+während der Aufruhr sonst leicht noch sechs Jahre hätte dauern
+können. Meine Beförderung und das Lob der Leute ist mir sehr
+gleichgültig, und im übrigen werde ich China so arm verlassen als
+ich es betreten habe, doch darf ich das Bewußtsein mit mir nehmen,
+daß ich als schwaches Werkzeug dazu dienen durfte, achtzig- bis
+hunderttausend Menschenleben zu erhalten. Ich brauche keinen anderen
+Lohn. Die Rebellen von Tschantschufu gehören zu den ursprünglichen
+Anstiftern, und obgleich manch Unschuldiger mit dabei<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> sein mag, so
+verdienen sie doch im allgemeinen das Los, das ihrer harrt. Hättest
+Du eine Vorstellung von den haarsträubenden Grausamkeiten, die sie
+verübten, so würdest Du wohl auch mit mir sagen: Strafe muß sein. Es
+sind meist Ausreißer von Sutschau, Kuinsan, Taisan, Wusieh, Jefing u.
+s. w., die sich hier schließlich zur Wehre setzen; sie halten täglich
+mehrere Dutzend Hinrichtungen ab, um die mit ihnen in der Stadt
+Eingeschlossenen an der Flucht zu hindern.«</p>
+</div>
+
+<p>Am 11. Mai, zwei Stunden nach der Einnahme von Tschantschufu, sandte
+er in aller Eile folgenden mit Bleistift geschriebenen Brief ab:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Liebste Mutter! Tschantschufu wurde um zwei Uhr heute von meinen
+Truppen und den Kaiserlichen erstürmt. Übermorgen kehre ich nach
+Kuinsan zurück und werde nicht mehr zu Feld ziehen. Die Rebellen sind
+jetzt geliefert; sie haben nur noch Tajan und Nanking. Tajan wird
+wohl in diesen Tagen fallen und Nanking kann sich höchstens noch zwei
+Monate halten. Es freut mich, Dir zu sagen, daß ich wohlbehalten aus
+dem Kampfe gekommen bin.</p>
+
+<p class="center">Dein treuer Sohn</p>
+<p class="right">C. G. G.«</p><br>
+</div>
+
+<p>Nach Kuinsan zurückgekehrt, fand er daselbst die Nachricht vor, daß
+die Kabinetsordre, die es einem britischen Offizier verstattete,
+unter der chinesischen Regierung zu dienen, aufgehoben war. Es war
+ein Glück für China, daß Gordons rasche Züge das Werk in der kurzen
+Zeit vollbrachten; die letzte morsche Stütze des Taipingtums konnte
+ohne ihn zusammenbrechen. Mehrere feste Plätze der Rebellen ergaben
+sich ohne weiteres auf die Kunde hin, daß Tschantschufu gefallen sei.
+Nanking allein hielt noch aus, trotz Hungersnot. Aber Gordon konnte
+dem endlichen Sieg dort nicht ohne Besorgnis entgegensehen, galt es
+doch den Bestand seiner errungenen Erfolge. Er machte sich daher
+selbst nach Nanking auf den Weg, wo Tseng Kwo-fan kommandierte. Von
+einer Anhöhe oberhalb des Porzellanturmes besichtigte er die Stadt.
+Die Mauer war vierzig Fuß hoch und dreißig Fuß breit. Er sah, wie
+einige Taipings sich an Stricken herunterließen, um außerhalb Linsen
+zu sammeln; man wehrte es ihnen nicht. Innerhalb der Stadt waren große
+leere Plätze, und an vielen Stellen waren die Wälle ganz verlassen.
+Die kaiserliche Belagerungslinie<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span> erstreckte sich weithin mit einer
+doppelten Reihe von Schanzen und einhundertvierzig Lehmforts, je
+achtzehnhundert Fuß von einander entfernt und mit je fünfhundert Mann
+Besatzung.</p>
+
+<p>Seine »stets siegreiche Armee« verabschiedete nun Gordon auf eigene
+Verantwortung, jedoch im Einverständnis mit Li. Er entledigte
+sich dieser seiner letzten Pflicht mit derselben Festigkeit und
+Selbstlosigkeit, die ihn durchweg gekennzeichnet hat. Er behielt
+sich vor, Offiziere wie Gemeine nach Verdienst zu belohnen, und die
+chinesische Regierung gestattete ihm dies um so bereitwilliger, als er
+für sich selbst auf allen Lohn verzichtete. Jeder Offizier, der eine
+Verwundung davongetragen hatte, erhielt die Summe von achtzehntausend
+Mark; die andern je nach Verhältnis. Ein Preuße, Namens Schamroffel,
+der bei Sutschau um beide Augen kam, erhielt zweiunddreißigtausend
+Mark. Die nicht verwundeten Gemeinen erhielten je einen Monat
+Löhnung und Reisegeld in ihre Heimat. So wurde die stets siegreiche
+Armee aufgelöst, die während der sechzehn Monate unter Gordons
+Oberbefehl vier Hauptfestungen und ein Dutzend befestigte Plätze
+eingenommen und in einer Reihe von Gefechten eine Anzahl von Feinden
+außer Kampf gesetzt hatte, die, gering gerechnet, fünfzehnmal ihre
+eigene Streitkraft überstieg. Und der Aufruhr, dem sie in voller
+Blüte entgegengetreten, lag nun in den letzten Zügen: die hungernde
+Hauptstadt des Usurpators konnte sich nicht mehr lange halten.</p>
+
+<p>Die kaiserliche Regierung hatte Gordon eine stattliche Belohnung
+zugedacht — zweimalhunderttausend Mark; allein er wies sie zurück wie
+vorher die siebzigtausend Mark. Und selbst von seiner während der 16
+Monate bezogenen Besoldung hatte er den größten Teil nicht für sich,
+sondern für seine Soldaten ausgegeben. Mit Recht konnte er sagen: ich
+verlasse China so arm wie ich es betreten!</p>
+
+<p>Li that was er konnte, seinem scheidenden Freunde mit Auszeichnung
+zu begegnen. Nie war ihm ein solcher Mann in seinem eigenen Volke
+vorgekommen, und die Ausländer, mit denen er zu thun gehabt, waren
+immer Leute gewesen, die sich für etwaige Dienste gut hatten bezahlen
+lassen. Nun lernte er die menschliche Natur von einer ganz neuen
+Seite kennen — daß es die vom Christentum durchdrungene, erneute
+menschliche Natur war, verstand<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> der Chinese nicht — und eine
+lebenslängliche Bewunderung und Liebe für unseren Helden war das
+Ergebnis. Li hat es bis heute nicht vergessen, daß Gordon ihn einst
+im höchsten Zorn mit der Pistole verfolgte, weil er sich durch
+Wortbrüchigkeit eine That hatte zu Schulden kommen lassen, die der
+edle Sinn des Briten nicht verwinden konnte.</p>
+
+<p>Es bereitete der kaiserlichen Regierung einen ordentlichen Kummer,
+daß Gordon sich nicht lohnen lassen wollte; ihn nach Möglichkeit zu
+ehren, war ihr deshalb ein Anliegen. Er wurde zum Range eines Ti-tu
+erhoben, d. h. zur obersten Mandarinenwürde, auch erhielt er die gelbe
+Jacke mit der Pfauenfeder, was den höchsten Orden im europäischen
+Sinne gleichkommt. »Mir liegt nichts an diesen Dingen,« schreibt er
+an seine Eltern, »aber ich weiß, daß sie Euch Freude machen,« und er
+nahm sie an, wie auch eine goldene Kette, die Prinz Kung von seinem
+eigenen Halse löste mit den Worten: »Dies wenigstens sollen Sie mir
+nicht abschlagen!« Gordon ließ sich die Kette umhängen, aber es
+erging dieser Kostbarkeit nicht besser als manchen anderen, die er
+erhalten hat. Auf der Heimreise nämlich begab es sich, daß für eine
+arme Soldatenwitwe gesammelt wurde. Gordon ging in seine Kajüte,
+und da er fand, daß seine Barschaft ihm nur eben bis in die Heimat
+reichen würde, kam er mit jener Ehrenkette zurück und legte sie
+stillschweigend auf den Teller der Witwe. Ja, selbst eine Medaille,
+welche die Kaiserin-Mutter von China ihm mit ihrem besonderen Dank
+übersandte und die er werthielt, verschwand nach einiger Zeit aus
+seinem Besitz. Nicht einmal seine nächsten Angehörigen wußten,
+was daraus geworden. Nach Jahren verriet es ein Zufall. Bei einer
+Hungersnot unter den Fabrikarbeitern in Manchester, welche infolge
+der Baumwollenkrisis während des amerikanischen Krieges ausgebrochen
+war, hatte Gordon, dessen Kasse oft durch Liebeswerke erschöpft
+war, sich seiner Medaille erinnert. Er vertilgte die Inschrift und
+sandte die schwere Goldmünze als Beitrag an einen Geistlichen jener
+Stadt. Einer, der ihn persönlich kannte, sagt von ihm, daß er sich
+stets grundsätzlich von Dingen trennte, die ihm wert waren oder die
+irgendwie der Eigenliebe Vorschub leisten konnten. »Man<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> muß sich auch
+von seinen Medaillen trennen können,« war späterhin in Freundeskreisen
+eine Redensart von ihm. In einem seiner Sudanbriefe aus dem Jahr
+1874 findet sich folgende Stelle: »Wie ist mir's gelohnt worden, daß
+ich damals die Inschrift (jener Medaille) vertilgte, tausendfältig
+gelohnt! Es giebt jetzt nichts mehr auf der Welt, woran mein Herz
+hängt. Ihre Ehren? sie sind hohl. Ihr sonstiger Tand? mir ganz
+gleichgültig. So lang ich lebe, schätze ich die Gottesgabe Gesundheit,
+das ist Reichtum genug.«</p>
+
+<p>Prinz Kung ließ Gordon nicht ziehen, ohne ein chinesisches Zeugnis
+seiner Tüchtigkeit an die englische Regierung zu senden. »Wir wissen
+uns nicht zu helfen,« sagte dieser Fürst zum britischen Botschafter,
+»er nimmt kein Geld an, und was wir an Ehren ihm verleihen können,
+ist geschehen; aber auch dies schlägt er gering an, und deshalb
+habe ich Ihnen dies Schreiben an die Königin von England gebracht,
+damit sie ihm einen Lohn gebe, der vielleicht mehr gilt in seinen
+Augen.« Des Lobes und der Dankbarkeit in diesem Schreiben war in der
+That kein Ende, und die Zuschrift an die britische Majestät schloß
+mit den Worten: »Der Titel Ti-tu verleiht ihm den höchsten Rang in
+der chinesischen Armee; der Prinz möchte aber hiermit die Hoffnung
+aussprechen, daß wenn die englische Regierung dem Heimkehrenden irgend
+welche Ehrenbeförderung kann zukommen lassen, der britische Minister
+es nicht unterlassen möge, solche zu befürworten, damit alle Welt
+erkenne, daß seine Heldenthaten und seine persönlichen Eigenschaften
+nicht hoch genug zu schätzen sind.«</p>
+
+<p>Der chinesische Brief soll irgendwo »zu den Akten« gelegt worden
+sein, ohne seine Bestimmung zu erreichen. Die Anerkennung seitens
+der englischen Regierung war jedenfalls eine sehr langsame. Dem
+damaligen Kriegsminister soll sogar der Name des Oberstleutnant
+Gordon ganz unbekannt gewesen sein! Dafür ließ die Stimme des
+Volkes sich hören, und »Chinesen-Gordon« lautet der aus jener Zeit
+stammende Ehrentitel, der unserem Helden im Volksmund noch immer
+anhängt. »Nie,« sagte die Times in jenen Tagen, »hat ein sogenannter
+Glückssoldat<a id="FNAnker_4" href="#Fussnote_4" class="fnanchor">[4]</a> ein feineres Verständnis<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> für die militärische
+Ehre an den Tag gelegt, als der Mann, der nach einer Reihe von
+glänzenden Siegen soeben sein Schwert niedergelegt hat. Sein Heldenmut
+gegenüber den Widerstandleistenden, seine Barmherzigkeit gegen die
+Überwundenen werden nur durch sein selbstloses Außerachtlassen alles
+dessen überboten, was ihm persönlichen Gewinn hätte bringen können
+... Das Ergebnis seines chinesischen Feldzugs läßt sich kurz dahin
+zusammenfassen: er fand die fruchtbarsten Distrikte Chinas verwüstet
+und in den Händen von räuberischen Rebellen. Die reichen Gegenden der
+Seidenzucht waren eine Stätte barbarischer Greuel; den altberühmten
+Städten Hangtschau und Sutschau drohte das Los Nankings, sie waren
+nahe daran, im Besitze der Rebellen zu Grunde zu gehen. Gordon hat
+den Aufstand mitten entzweigeschnitten, die Städte erobert, die
+Räuberhorden aufgelöst; und all dies nicht nur durch die Macht seines
+Schwertes, sondern vielfach durch die bloße Wirkung seines Namens.«</p>
+
+<p>Sein Tagebuch hatte er vor seiner Abreise nach Hause gesandt.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich wünsche aber keine Veröffentlichung,« schreibt er dazu, »je
+bälder diese Geschichte vergessen ist, desto besser; ich weiß
+nämlich durchaus nicht, ob wir (die Engländer) ein Recht hatten uns
+einzumischen. Meinesteils bin ich ruhig im Gedanken, ein Werk der
+Menschlichkeit vollbracht zu haben, doch kann ich nicht erwarten, daß
+Fernstehende es eben so ansehen und billigen.« —</p>
+</div>
+
+<p>Gordon war dringend nach Peking eingeladen worden, aber er lehnte die
+Aufforderung ab, wohl wissend, daß man ihn dort mit fürstlichen Ehren
+empfangen würde. In Schanghai aber hielt er sich vor der Abreise noch
+eine Zeit lang auf, um den Chinesen einigermaßen zu einer Armee nach
+europäischem Begriff zu verhelfen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich mache hübsche Fortschritte, die chinesischen Offiziere
+einzuüben,« heißt es in seinem letzten Brief aus China, »es geht
+leichter, als ich dachte!«</p>
+</div>
+
+<p>Und in eben jenen Tagen, während er als einfacher Exerziermeister
+sich bestrebte, Nützliches zu hinterlassen, fiel Nanking. Jeden Fuß
+breit, bis in den Palast des himmlischen Königs, verteidigten die
+Taipings mit verzweifeltem Mut. Hung hatte seit Monaten in seiner
+Teilnahmlosigkeit verharrt, die man nur<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> als eine Phase seines
+Wahnsinns betrachten kann. Es durfte ihm niemand sagen, daß die Stadt
+sich nicht werde halten können; und bis zuletzt bestand er auf seiner
+göttlichen Herkunft. »Ich bin der Herr von zehntausend Völkern,
+wen sollte ich fürchten?« rief er. »Ich habe Befehl von Schang-ti
+(Gott) und von Jesus selbst, dies Reich zu regieren.« Als der Getreue
+ihm einst dringend zur Flucht riet, entgegnete er: »Fürchtest du
+den Tod? Ich, der wahre Herr, kann ohne Truppen bestimmen, daß
+das Reich des großen Friedens sich bis an die äußersten Grenzen
+erstrecke.« Die Berge, die Ströme, die Völker seien sein, sagte
+er; und ließ die andern Wangs für sich kämpfen und seine Minister
+schalten und walten, wie sie wollten. Nur in <em class="gesperrt">einem</em> war er
+unerbittlich: nie durfte man ihn anders als in religiösen Phrasen
+und mit kriechender Unterwürfigkeit anreden. Einem die Haut bei
+lebendigem Körper abziehen, war von Anfang an seine Lieblingsstrafe
+gewesen; jetzt wollte er jeden dazu noch gevierteilt sehen, der es
+unterließ, von ihm anders als von dem »Himmlischen« zu reden. Die
+letzten Monate seines unglücklichen Daseins verbrachte er unter seinen
+Weibern mit religiösen Andachten. Als man ihm mitteilte, daß nur die
+allerwohlhabendsten Leute der Stadt noch zu essen hätten, erließ er
+eine Verordnung, daß die anderen sich von »duftenden Kräutern« nähren
+sollten, wozu er selbst ein gutes Beispiel zu geben wähnte, indem er
+Gemüse aus dem königlichen Garten zur Tafel befahl.</p>
+
+<p>Der getreue Wang wußte wohl, wie es stand, aber Untreue gegen seinen
+Herrn scheint ihm nie als eine Möglichkeit vorgeschwebt zu haben. Nach
+dem Fall von Sutschau war er zum letztenmal nach Nanking zurückgekehrt
+in der Hoffnung, diese Stadt abermals zu entsetzen. Ihm selbst gelang
+es, Eingang zu finden, aber seine Truppen hatte er eingebüßt, weil
+es weithin an allem Proviant gebrach. Zu Ehren dieses Mannes sei's
+gesagt, daß er sich mit Aufbietung all seiner Kräfte und Mittel nun
+bestrebte, die Eingeschlossenen vor dem Verhungern zu schützen. Er
+erzählt in seinem Tagebuch, daß man sich täglich dem Himmlischen zu
+Füßen werfe, aber dieser gestattete keinem, das Wort Übergabe auch
+nur in den Mund zu nehmen. Den Rat des Getreuen, die Weiber<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> und
+Kinder fortzulassen, verachtete er und wandte sich dem Schildkönig
+zu. Der Getreue aber that heimlich was er konnte, und zu tausenden
+verließen Weiber und Kinder die Stadt. Der kaiserliche General Tseng
+nahm alle auf und ließ ihnen Nahrung reichen. Der Schildkönig war ein
+Banditenanführer, und täglich gab es Mord und Totschlag unter den
+unglücklichen Taipings.</p>
+
+<p>Die Tage des großen Friedens waren gezählt. Ob der tolle Schulmeister
+wohl je an seine Jugend zurückdachte, da er noch von keinem anderen
+Ehrgeiz beseelt war, als im Examen zu bestehen? Ob er sich sein
+bisheriges Leben vergegenwärtigte? Ströme von Blut bezeichneten seine
+Laufbahn durch die Länge und Breite des blumigen Landes. Friedliche
+Städte hatte er in Räuberhöhlen verwandelt, fruchttragende Felder in
+Wüsteneien. Und nun das Maß voll war und er inmitten seiner wilden
+Horden dem sicheren Tod ins Auge sah, krönte er sein entsetzliches
+Leben damit, daß er eigenhändig seine Weiber aufhängte und dann Gift
+nahm.</p>
+
+<p>Nach seinem Tod bestieg sein ältester Sohn, Hung Fu-tien, als der
+»junge Herr« den angeblichen Thron; der aber war ein sechzehnjähriger
+Jüngling, in vollständiger Unwissenheit aufgewachsen. Die Belagerer
+bedrängten die Stadt mehr und mehr. Am 8. Juli wagte der Getreue einen
+Ausfall, wurde aber zurückgeschlagen; am 19. gelang es den Belagerern,
+mittelst einer Riesenmine, die vierzigtausend Pfund Pulver enthalten
+haben soll, die Mauer zu sprengen; sie drangen unaufhaltsam in die
+Stadt. Der Getreue leistete zum letztenmal Widerstand, aber die Stunde
+der Taipings war gekommen; bis Mitternacht hatte er noch den Palast
+des Tien Wang verteidigt, um den »jungen Herrn« und seine weinenden
+Angehörigen zu schützen, und als alles zu Ende ging, hatte er den
+Palast und seine eigene stattliche Wohnung in Brand gesteckt. In der
+allgemeinen Verwirrung, zwischen Feuer, Totschlag und Fluchtversuchen,
+legte er eine letzte Probe seiner seltenen Treue ab, indem er den
+»jungen Herrn«, der mit zwei seiner Geschwister ihn flehentlich um
+Rettung bat, auf sein eigenes tüchtiges Pferd setzte, während er
+selbst auf einem ausgehungerten Klepper zu entfliehen versuchte.
+»Obgleich der Tien Wang dahin<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> war und alles verloren,« heißt's
+in seinem Tagebuch, »so konnte ich doch als einer, dem er einst
+wohlwollte, nicht anders, als wenigstens den Versuch machen, seinen
+Sohn zu retten.« Daß der Tien Wang ihm schließlich nur mit Undank
+gelohnt hatte, schien dieser Edelste der Taipings in seiner schönen
+Hingabe vergessen zu haben.</p>
+
+<p>Es gelang dem »jungen Herrn« sowie auch dem Getreuen und dem
+Schildkönig, mit etwa tausend anderen zu entkommen; sie wurden aber
+bald von einander getrennt. Als der Getreue fand, daß sein Tier ihn
+nicht mehr tragen konnte, suchte er Schutz in einem Tempel; dort
+wurde er von Landleuten erkannt, die ihn knieend baten, sich den
+Kopf rasieren zu lassen und verkleidet zu entfliehen. »Ich bin der
+Diener eines Königs, der nicht mehr ist,« entgegnete er, »es wäre ein
+Unrecht an den Gefallenen, ließe ich mir das Haar scheren.« Er fiel
+in die Gefangenschaft der Kaiserlichen und wurde samt dem Schildkönig
+enthauptet. Während der letzten Tage seines Lebens schrieb er seine
+Erinnerungen, die in gedrängter, klarer und durchaus glaubhafter
+Darstellung den ganzen Aufstand schildern.</p>
+
+<p>Was den »jungen Herrn« betrifft, so brachte des Getreuen Pferd ihn
+in vorläufige Sicherheit. Aber weder seine Erziehung noch sein
+genußsüchtiges Leben in der Gesellschaft seiner jungen Königinnen
+hatten ihn dazu geschickt gemacht, mit dem Unglück zu kämpfen. Nachdem
+er sich etliche Wochen im Gebirg herumgetrieben und angefangen, im
+Hunger sich den Tod zu wünschen, fiel auch er den Kaiserlichen in die
+Hände. Trotz seiner inständigen Bitte, ihn am Leben zu lassen, »damit
+er noch etwas lernen könne und sein Examen mache,« wurde er alsbald
+hingerichtet.</p>
+
+<p>Im November des Jahres 1864 schickte sich Gordon zur Heimreise an.
+Die Kaufleute von Schanghai faßten seine Verdienste um China in einer
+äußerst anerkennenden Denkschrift zusammen, die besonders auch darauf
+Wert legt, daß seine edle Selbstlosigkeit viel dazu beitragen werde,
+die Chinesen von ihrem Mißtrauen gegen alle Ausländer zu heilen. Als
+Gordons Tod bekannt wurde, kamen Zeugnisse aus dem fernen China, daß
+man seiner dort in Liebe gedenke; und als Gordon in Khartum gefallen<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span>
+war, da schickten der Kaiser und Li und andere, die ihm ihren Dank
+bewahrt hatten, erhebliche Beiträge zu dem Gedächtnisfonds, damit ein
+würdiges Denkmal für den Helden erstehe.</p>
+
+<p>Aber das schönste Zeugnis stellt ihm ein Taipingführer aus, der nach
+dem Fall von Sutschau geschrieben hat: »Fern sei es zu behaupten, daß
+Gordon um die Greuelthaten wußte. Bei aller Kenntnis des brutalen
+Verfahrens, dessen mancher, den Namen Engländer entehrend sich
+schuldig macht, glauben wir doch keinen Augenblick, daß der ehrenwerte
+Anführer der Armee, die sich die siegreiche nennt, jene mörderischen
+Greuel guthieß ... Wir wissen, daß Gordon es stets bitter beklagte,
+wenn Grausamkeiten verübt wurden, die er nicht verhindern konnte, und
+daß in seinem Herzen der Gedanke brennen muß, wie in seinem Heimatland
+solche Greuel vielleicht ihm zur Last gelegt werden. Möge es ihm eine
+Genugthuung sein zu wissen, daß unter seinen Feinden, die lieber seine
+Freunde wären, jene Thaten ihm nicht zugerechnet werden. Gefiele es
+doch dem Himmel, daß irgend ein unwürdiger Abenteurer seine Stelle
+einnähme, einer, den man nicht betrauern müßte, wenn er erschlagen
+würde! Statt dessen kann ich es bezeugen und habe es mehrmals mit
+eigenen Augen gesehen, wie im Schlachtgetümmel einem niederträchtigen
+Engländer, den Geldgier in unsere Reihen führte, die Flinte aus der
+Hand geschlagen wurde, wenn er von gedecktem Standpunkt aus auf den
+stets furchtlos sich bloßstellenden Gordon zu zielen sich unterstand.
+Und der solchem Meuchelmord wehrte, war immer einer unserer Anführer,
+ja einmal kein anderer als der Schildkönig selbst!«</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+<div class="chapter">
+<h2 id="Drittes_Buch">Drittes Buch.<br>
+<span class="s5"><b>In der Stille.</b></span></h2>
+</div>
+
+<p>»Es ist einer auf dem Heimweg,« schreibt Gordon an seine Mutter im
+November 1864, »aber es ist ihm nicht darum zu thun, daß es bekannt
+werde.« Gefeiert zu werden war, wie wir<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> wissen, nicht nach seinem
+Geschmack; wozu auch? meinte er, er habe nur seine Pflicht gethan.
+Der Geschichtschreiber der stets siegreichen Armee sagt, daß er über
+die Persönlichkeit Gordons von ihm selbst wenig Auskunft erhalten
+und daß der Leser, in dem die Berichte von Krieg und Sieg mit der
+Verherrlichung Gordons unwillkürlich zusammenfließen, sich ohne
+Zweifel wundern würde, wenn er den jungen Mann und seine ruhige,
+zurückgezogene Art sehen könnte. Freude an energischer Thätigkeit,
+Selbstaufopferung und Pflichtbewußtsein seien offenbar die Triebfedern
+seines Wesens. Äußerlich aber habe der tief fromme Soldat nichts von
+all dem an sich, was sonst den kühnen Anführer einer irregulären
+Soldateska kennzeichne.</p>
+
+<p>Kaum war Gordon im Kreise der Seinigen in Southampton angelangt, da
+regnete es auch schon Einladungen aus der vornehmen Welt. Er hatte
+den Mut, sie alle abzulehnen. Im engen Familienkreise nur ließ er
+sich herbei, seine chinesischen Erlebnisse zu beschreiben; und die
+so glücklich waren, es mit anzuhören, fanden die Berichte fast
+märchenhaft, fast wie eine Heldensage aus vergangener Zeit. Mit
+Ingrimm konnte er da wohl die Greuel des Rebellentums beschreiben,
+aber seine Stimme wurde stets leise, wenn von Sieg die Rede war, denn
+dann gewann neben der Bescheidenheit des Erzählers Mitleid mit den
+Überwundenen die Oberhand. Niedergeschrieben wurde nichts von all dem,
+außer was bewunderndes Interesse in die Herzen der Hörer eingrub.
+Selbst das Tagebuch, das Gordon aus China nach Hause gesandt hatte,
+fiel seiner Demut zum Opfer. Er wünschte keine Veröffentlichung, wie
+er bei der Übersendung schrieb. Leihweise fand es indessen seinen Weg
+in die Hände eines der Minister, und dieser war daran, es privatim
+drucken zu lassen, damit seine Kollegen es auch lesen könnten. Eines
+Abends hörte Gordon zufällig davon und begab sich stehenden Fußes nach
+der Wohnung des betreffenden Herrn, traf ihn aber nicht zu Hause; doch
+erfuhr er den Namen des Druckers, eilte zu diesem und verlangte sein
+Manuskript zurück mit dem Befehl, das bereits Gesetzte zu zerstören.
+Was jenes Tagebuch betrifft, so hat es niemand je wieder gesehen.
+»Ich besitze wenig auf der Welt,« pflegte er zu sagen,<span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span> »meinen Namen
+könnten die Leute mir jedoch als Privateigentum lassen«. Von wie viel
+tausend Zungen ist der Name Gordon seither mit Bewunderung genannt
+worden!</p>
+
+<p>Im folgenden Jahre wurde ihm die Ernennung als königlicher
+Ingenieur-Kommandant zu Gravesend, wo in Aussicht auf einen möglichen
+Krieg mit Frankreich neue Forts an der Themse aufgeführt werden
+sollten. In Anerkennung seiner Verdienste erhielt er um diese Zeit
+den Ritterorden <em class="antiqua">of the Bath</em>.<a id="FNAnker_5" href="#Fussnote_5" class="fnanchor">[5]</a> Er war mittlerweile zum
+Oberst-Leutnant avanciert.</p>
+
+<p>In Gravesend war er sechs Jahre, die schönste Zeit seines Lebens
+— arm nach außen in den Augen der Welt, reich nach innen an den
+christlichen Früchten der Hingabe und zwar unbewußter Hingabe und der
+edelsten reinsten Menschenliebe. Er selbst hat es ausgesprochen, daß
+es die glücklichsten, friedlichsten Tage seiner Wallfahrt waren, und
+damit giebt er sich selbst ein hohes Zeugnis. Wie ergreifend, wie
+herrlich ist das Bild des Mannes, der Thaten vollbracht wie wenige und
+der nun seine ganze Freude darin findet, in der Stille an den Armen,
+den Kranken, den Verlassenen, den leiblich und geistig Darbenden Gutes
+zu thun. Als eine Art Heiliger soll der Mann keineswegs gezeichnet
+werden; das wäre eine Übertreibung, die er selbst am meisten beklagt
+hätte. Er hatte seine Gebrechen wie alle Menschen, so unterlag er z.
+B. hin und wieder seiner Heftigkeit; seine Gleichgültigkeit gegen das
+Urteil der Leute grenzte zuweilen ans Rücksichtslose, und wenn er sich
+eine Meinung in den Kopf gesetzt hatte, so war es nicht immer leicht,
+ihn eines anderen, vielleicht besseren, zu belehren; trotzdem aber
+kann der Leser aus folgenden Zügen reichlich erkennen, daß Christus in
+diesem Manne eine Gestalt gewonnen hatte, die den meisten Menschen,
+ja den meisten Christen ein beschämendes, aber andererseits auch
+aufmunterndes Beispiel sein kann.</p>
+
+<p>Gordon war ein ideal angelegter Mensch, aber das Ideale wurde in ihm
+sofort real, praktisch. Sein Christentum war kein<span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span> enges, frömmelndes,
+sondern eine große, tiefe, treue Liebe zu seinem Heiland, die alle
+Menschen als Brüder umschloß, ein rechter Israeliter, in welchem kein
+Falsch ist! Ob und wann es in seiner Lebensentwicklung einen Zeitpunkt
+gab, den man seine »Bekehrung« nennen könnte, ist nicht ersichtlich
+— ernste Eindrücke empfing er schon in Pembroke; das aber ist nicht
+zu verkennen, daß ihm Gravesend zum Patmos wurde, wo sein Glaube sich
+höher schwang und seine Liebe sich vertiefte, wo er nach dem Worte
+lebte: »Simon Johanna, hast du mich lieb? Weide meine Schafe.«</p>
+
+<p>Er lebte nur für andere. Sein Haus — und es war ein großes, viel zu
+groß für seine bescheidenen Junggesellenbedürfnisse — war Schule,
+Kranken- und Armenhaus in einem; ein zufälliger Besucher hätte es
+eher für die Behausung eines Stadtmissionars gehalten als für die
+Dienstwohnung eines Offiziers. Kein Notleidender klopfte je vergebens
+an seine Thür; alle Hilfsbedürftigen hatten ein Anrecht an ihn, aber
+am meisten zog sein Herz ihn zu den sogenannten Straßenjungen. Nie
+ging er an einem vorüber ohne ihn anzureden. Er lud sie ein, zu ihm
+zu kommen, und versammelte sie bei sich in Klassen, wozu mehr als
+ein Zimmer seines Hauses herhalten mußte. Die ganz verkommenen und
+heimatlosen behielt er eine Zeit lang bei sich, kleidete und reinigte
+sie, um sie dann, am liebsten als Schiffsjungen, unterzubringen. Er
+nannte sie seine »Könige« — als Deutscher hätte er wohl »Prinzen«
+gesagt. Einer seiner Bekannten, der ihn einmal besuchte, wunderte
+sich, warum auf der Weltkarte in seinem Arbeitszimmer so viel
+Stecknadeln mit Fähnchen angebracht waren, und erfuhr dann, daß
+Gordon auf diese Weise seine »Prinzen« auf ihren Fahrten begleite;
+und er vergaß keinen in seiner täglichen Fürbitte. Seine Prinzen
+vergalten ihm die Liebe aber auch mit begeisterter Anhänglichkeit. Sie
+vertrauten ihm und lernten von ihm mit der Wahrheit umgehen; und wenn
+einer Unrecht that, so wußten sie, daß sein Mitleid immer größer war
+als sein Mißfallen. Drei der Jungen hatten einmal das Scharlachfieber
+in seinem Hause; er pflegte sie und verbrachte mehrere Stunden der
+Nacht an ihrem Bette.</p>
+
+<p>Auch die Armenschule besuchte er; an den Sonntag-Nachmittagen konnte
+man ihn sicher daselbst antreffen, und die es mit<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> Augen gesehen
+haben, sagen, kein erhebenderes Bild lasse sich denken als den Helden
+Chinas, der den armen Kindern mit heiliger Wärme biblische Geschichten
+erzählte, ja mit einer Begeisterung, als führe er sie durch Kampf zum
+Sieg. Für jedes einzelne interessierte er sich persönlich, kannte ihre
+Lage, ihre Sorgen, suchte sie in ihrer Armut auf und ließ sie zu sich
+kommen. Der Armenschule in Gravesend hat er auch seine chinesischen
+Trophäen geschenkt, nämlich die seidenen Fahnen, die seine Siege
+bekundeten. Ein anderer hätte sie allenfalls einem Monarchen zu Füßen
+gelegt; ihn freute es, daß seine Armenschüler damit eine Auszeichnung
+gewannen. Mehr als einer jener armen Jungen, der jetzt ein gemachter
+Mann ist, und, was besser ist, ein Christ, dürfte ein schöneres
+Denkmal für den gefallenen Helden sein, als irgend eines, das seine
+Nation ihm zu errichten vermöchte.</p>
+
+<p>Einer seiner »Prinzen« schreibt unterm 12. März 1885: »Nichts freut
+mich mehr, als es bezeugen zu dürfen, was der liebe gute General
+für mich und andere gethan hat, während er in Gravesend lebte. Zu
+der Zeit, als ich in seinem Hause Aufnahme fand, traf ich dort noch
+eine Anzahl anderer Jungen, die alle gleich mir kränklich waren;
+unsere Eltern hatten nicht die Mittel, uns hinreichende Nahrung
+zu gewähren. Der General aber hatte uns fast täglich bei sich zum
+Mittag- und Abendbrot, und wir durften mit ihm am selben Tisch essen.
+Drei von uns (darunter ich), die es am nötigsten hatten, schickte
+er in das Seebad-Krankenhaus nach Margate, wo er je 16 und 18 Mark
+wöchentlich Kostgeld für uns zahlte. Ich war ein volles halbes Jahr
+dort, die beiden anderen, ein Junge und ein Mädchen, jedes drei
+Monate. Ich danke jetzt noch dem lieben Gott dafür; denn von jener
+Zeit datiert meine Gesundheit ... Später hat er mich auch auf einem
+Schiff untergebracht und die Lehre bezahlt; ich kann ihm nie genug
+danken. Ein anderer Junge, der mit mir dort war, ist jetzt Lotse, und
+das verdankt er auch dem General ... Es drängt mich, dies bekannt zu
+machen als ein Beispiel von dem, was der liebe General an vielen that.
+»Seine Jungen« nannte er uns. Kaum ein Abend verging, daß er nicht
+ein Dutzend von uns bei sich hatte, meist Fischerjungen, die nicht
+zur Schule gehen konnten;<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> er unterrichtete uns, und wenn das Lernen
+vorbei war, durften wir Domino oder Schach spielen, und im Sommer
+gab es Cricket. Wenn die Jungen alt genug waren, brachte er sie auf
+Kauffahrteischiffen unter, manchmal auch in der Marine. Keinen ließ er
+gehen, ohne ihn mit der nötigen Kleidung zu versorgen.«</p>
+
+<p>Auch später, als Gordon selbst wieder in weite Ferne zog, verlor
+er keineswegs das Interesse an seinen »Prinzen«. Mit manchen
+korrespondierte er, nach anderen erkundigte er sich, und wo Hilfe not
+that, schickte er auch Geld. Hier sind einige Sätze aus einem der
+vielen Briefe, die er an einen Freund in Gravesend richtete:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p class="right">Galatz, 27. Februar 1872.</p>
+
+<p>»Es freut mich zu hören, daß Georg P. verheiratet ist und daß Billy
+Arbeit gefunden hat ... Ich habe meinen Wagen und die Pferde verkauft
+— ganz unnötiger Luxus ... Meine Grüße an Birls und Ridley; diese
+beiden Jungen könnten manchen aus den besseren Ständen zum Muster
+dienen. Was den M. betrifft, so sollte er als Junggeselle bei 25
+Mark wöchentlichem Verdienst etwas zurücklegen können; ich lasse ihm
+weniger Trunk und mehr Fleiß empfehlen. Ich bedaure, daß Sie, wie Sie
+sagen, beinahe angeschwindelt worden sind. Weisheit in Geldsachen
+geht uns beiden ab; doch ist es ein Trost, zu wissen, daß Gott uns
+immer wieder durchhilft, und wenn wir nicht selbst manchmal Mangel
+empfänden, so wüßten wir nicht, was <em class="gesperrt">Geben</em> ist; von unserem
+Reichtum geben ist keine Kunst. Ich lasse dem Harry A. für seinen
+Brief danken, es freute mich von ihm zu hören. Auch der Frau K.
+meinen Dank — hat Karl Arbeit? Sie ist ein braves Frauchen, und es
+würde ihr wohlthun, wenn Sie sie besuchen wollten. Auch nach dem
+jungen Fordham könnten Sie sehen, erkundigen Sie sich doch, was er
+vorhat; in seiner Schule wird es zu erfragen sein. Das Kunstwerk von
+Brief ohne Unterschrift ist wohl von dem kleinen Arthur W..., sagen
+Sie ihm, er müsse vor allen Dingen wachsen, bis er über den Tisch
+sehen kann, und danken Sie ihm für den Brief. Sagen Sie der Frau M.
+ein tröstliches Wort ...; es thut mir sehr leid, zu hören, daß E..
+seine Stelle verloren hat; sagen Sie es ihm mit einem herzlichen
+Gruße ....«</p>
+</div>
+
+<p>Es erhellt schon aus diesem Briefe, daß er sich nicht nur der Jungen
+annahm. An Sonntagen hielt er regelmäßig eine<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> Bibelstunde für alle
+Armen, die kommen wollten. Gepredigt im eigentlichen Sinne hat er
+dabei nicht, aber wie er ihnen die Bibel auslegte und was er ihnen
+von der Liebe Gottes sagte, das kam vom Herzen und ging zum Herzen.
+Als er Gravesend verließ, haben die Armen, denen er auf diese Weise
+Gutes gethan, aus eigenem Antrieb ihre Scherflein zusammengelegt und
+ihm eine schöne Bibel geschenkt; es war eine Gabe dankbarer Liebe wie
+selten etwas.</p>
+
+<p>Auch der Kranken nahm er sich an. Furcht vor Ansteckung kannte er
+nicht; er besuchte Häuser in den Armenquartieren, wohin andere zu
+gehen sich scheuten. Wenigstens einmal wöchentlich erschien er im
+Armenspital, und nie kam er mit leeren Händen. Was seine Freunde
+etwa ihm zuschickten, schöne Trauben oder Erdbeeren zu früher
+Jahreszeit, das wanderte zu den Kranken. Und die Liebe, die aus seinen
+Augen strahlte, und die liebliche Art seines Wesens war den Leuten
+erquicklicher noch als seine Gaben. Da las er denn auch ein paar
+Bibelworte und betete mit ihnen und verließ sie getröstet. Und sie
+zählten die Tage bis er wieder kam, sie richteten sich auf an seiner
+wahren Teilnahme, ja manches geprüfte Herz sah da den Himmel offen und
+lernte an den Heiland glauben, der alle Schmerzen auf sich genommen
+hat.</p>
+
+<p>Seine einzelnen Samariterdienste sind nicht zu zählen. Er hatte eine
+leidenschaftliche Freude an Blumen, hatte auch einen schönen Garten
+zu Gravesend, wo er sie pflegen konnte, aber wenn sie erblüht waren,
+trug er sie in die Krankenzimmer der Armenquartiere. Er hört von
+einer kranken Frau und geht hin, findet sie in Kälte und Elend, da
+zündet er eigenhändig ein Feuer an und macht ihr eine Tasse Thee. Dann
+schickt er ihr eine Wärterin und bezahlt den Doktor. Die Frau lebt
+heute noch, voll Lobes über seine Liebesthat. Ein andermal hörte er,
+daß eine Familie in Gefahr ist, aus ihrer Wohnung gewiesen zu werden;
+er zahlt die rückständige Miete und entzieht sich dem Danke. Unter
+seinen besonderen Schützlingen war ein alter Mann, der seit Jahren
+gelähmt war: nur die linke Hand konnte er noch bewegen, auch konnte
+er liegend lesen. Gordon sorgte dafür, daß<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> ihm täglich eine Zeitung
+zukam. Derselbe gelähmte Mann klagte ihm einst, daß die Fliegen ihn so
+quälten, weil er sich ihrer nicht erwehren könne. Gordon sagte nichts,
+aber am andern Tage erschien ein den Leuten anfänglich unerklärliches,
+mit Schleierstoff überzogenes Gestell. Es war eine Vorrichtung, den
+Kopf des Mannes vor den Fliegen zu schützen, ohne ihn am Lesen zu
+hindern.</p>
+
+<p>Ja die Armen und Kranken zu Gravesend, denen er nie vorpredigte, ihr
+Elend sei der Wille Gottes, erinnern sich seiner mit lebenslänglicher
+Dankbarkeit. Ein alter Mann erzählt, seiner damals leidenden Frau
+seien kräftige Suppen und Wein verordnet worden, die er aus seinen
+Mitteln nicht bezahlen konnte, aber der gute Oberst habe, als er davon
+gehört, täglich eigenhändig Suppe oder Wein gebracht, und als es ihr
+wieder besser ging hätte er ihnen aus der Bibel vorgelesen, und das
+sei schön gewesen. Niemand beklagte seinen Tod aufrichtiger als dieser
+alte Mann, wenn es nicht jene alte Frau war, an deren Jungen er Gutes
+gethan hatte. Diese hatte schwer mit Armut zu kämpfen gehabt. Als es
+bekannt wurde, Gordon sei tot, meinte die fromme Einfalt, sicherlich
+würde er in London begraben werden, und schickte sich an, ihren ganzen
+Besitz, ein paar Fischernetze, zu verkaufen, um die Mittel zu einer
+Reise nach London aufzutreiben. »Ich muß sein liebes Gesicht noch
+einmal sehen,« sagte sie, »es mag kosten was es will, und wenn ich
+nachher Hungers sterbe.«</p>
+
+<p>Gordon war lange in Gravesend, ehe die Leute dahinter kamen, daß der
+freundliche Oberst im Forthaus und der »Chinesen-Gordon« ein und
+derselbe waren. Äußerst bezeichnend, sowohl für ihn als für gewisse
+Leute, ist folgende kleine Thatsache. Er hatte von Anfang an Sonntags
+seinen Sitz auf der Emporkirche unter den Armen genommen. Niemand
+kümmerte sich darum; als es aber nach und nach bekannt wurde, was
+für einen berühmten Mann man in der Gemeinde habe, würdigten die
+Kirchenältesten ihn einer feierlichen Aufwartung und baten ihn,
+er möge doch herunterkommen und sich eines der gepolsterten Sitze
+bedienen, die für die Vornehmeren bestimmt sind. Er dankte für die
+Rücksicht, zog es aber vor, unter den Armen auf hölzerner Bank sitzen
+zu bleiben.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span></p>
+
+<p>Es ließen sich leicht noch Dutzende von Beispielen beibringen, die
+sein Leben in der Stille kennzeichnen, doch dürfte das Vorstehende
+genügen. Was eine zu Gravesend wohnende Dame, die ihn kannte, über ihn
+schrieb, sei jedoch nicht unterdrückt:</p>
+
+<p>»Seine barmherzige Liebe umschloß alle; daß einer elend und arm
+war, war ihm genug, er erkundigte sich nie, ob man seine Hilfe auch
+verdiene. Wenn er dabei auch einmal hintergangen wurde, so war's nur
+selten<a id="FNAnker_6" href="#Fussnote_6" class="fnanchor">[6]</a>, denn er hatte ein Auge, das die Leute zu durchschauen
+schien, es schien nutzlos, ihn belügen zu wollen. Ich habe mich
+oft gefragt, ob es seinem natürlichen Scharfblick zuzuschreiben
+ist oder vielmehr der ihm eigenen Einfalt und Selbstlosigkeit, daß
+er Menschen und Dinge meist in ihrem wahren Licht sah. Im Armen-
+und Krankenhaus war er ein ständiger Gast, und Empfänger für seine
+Liebesthaten gab's unzählige in der ganzen Umgegend. Mancher Sterbende
+schickte lieber nach ihm als nach dem Pfarrer, und weder Entfernung
+noch Wetter hielten ihn je ab, einem solchen Rufe zu folgen. Einen
+Armengottesdienst zu leiten, dazu war er immer bereit, und wo man
+die Hungernden zum Sichsattessen versammelte, ließ er sich nie
+zweimal bitten, ihnen biblische Geschichten zu erzählen. Aber in
+Versammlungen religiöser oder philanthropischer Art sah man ihn nie
+als Vorsitzenden, und öffentliches Redenhalten haßte er, besonders
+wenn es dazu dienen sollte, ihn persönlich zu verherrlichen. Und
+nichts war ihm gleichgültiger, als Essen und Trinken, sofern es ihn
+selbst betraf. Wir begegneten ihm einmal gegen Abend, und er nahm
+uns mit nach Hause, wo der Tisch für ihn gedeckt stand — eine Kanne
+Thee und ein trockenes Laibchen Brot. Ich machte eine scherzende
+Bemerkung, ob er auf trockenes Brot reduziert sei; da nahm er das
+Laibchen (kein großes), drückte es in ein Schüsselchen und goß den
+Thee darüber. ›So, nun wird es bald weich sein,‹ sagte er, ›und nach
+einer halben Stunde ist es einerlei, was ich gegessen habe.‹ Um ein
+humoristisches oder witziges Wort war er nie<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> verlegen, und noch
+seh' ich ihn mit den Augen zwinkern, als er mir erzählte, was für
+enttäuschte Gesichter es manchmal unter seinen Jungen gebe, die, von
+ihm aufgenommen, sich einbildeten, künftig herrlich und in Freuden
+zu leben, und dann die Entdeckung machen mußten, daß Pöckelfleisch
+und Kartoffeln auch ein gutes Mittagessen abgebe. Zu seinem Garten
+überließ er uns freundlicher Weise den Schlüssel, damit unsere Kinder
+darin spielen könnten. Als wir zum erstenmal davon Gebrauch machten,
+bewunderten wir die frühen Erbsen und andere leckere Gemüse, die darin
+wuchsen, und da eben seine Haushälterin hinzu trat, machten wir eine
+darauf bezügliche Bemerkung. Sie erklärte uns alsbald, daß der Oberst
+nie dergleichen auf seinem Tisch hätte; er überlasse fast den ganzen
+Garten armen Leuten, die ihn anpflanzen und den Ertrag dann verkaufen
+dürften. So kam es, daß es bei uns zu einer Redensart wurde, »der
+Oberst hat kein Ich.« All sein Thun war selbstlos, und darin folgte er
+seinem Herrn. Nie oder selten konnte man ihn dazu bringen, von sich
+zu reden. In jener Zeit wurde das erste Buch über ihn geschrieben.
+Er lud den Verfasser zu sich ein und half ihm nach Kräften, sofern
+es die Einzelheiten über den Taiping-Krieg betraf, wozu er ihm seine
+eigenen Aufzeichnungen gab. Als er aber, durch irgend eine Bemerkung,
+die gemacht wurde, auf den Verdacht kam, daß in dem Buche von ihm
+selbst und seinen Thaten viel die Rede sein könne, da bat er sich
+das Manuskript aus und zerriß eine Seite nach der andern zu des
+Verfassers nicht geringem Entsetzen. Es war mir ein Anliegen, den Mann
+und seine ungewöhnliche Abneigung gegen alles Lob zu verstehen, und
+so befragte ich ihn einmal darüber, indem ich hinzufügte, er habe ja
+alles Recht, auf diese Dinge stolz zu sein. Da entgegnete er, niemand
+habe ein Recht, auf irgend etwas stolz zu sein, da wir alles empfangen
+hätten und von Natur in keinem Menschen Gutes wohne. Er setzte
+hinzu, daß jeder nur immer alle Ursache habe, sich zu demütigen,
+daß alles Medaillentragen, aller äußere Schmuck des Körpers, wie
+überhaupt alle Selbstverherrlichung ganz übel angebracht sei. Auch
+hätte keiner ein Recht, irgend etwas sein zu nennen, der sich ein
+für allemal dem Herrn als Eigentum ergeben<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> habe. Was sollte er da
+zurückbehalten? ›Des lieben Gottes Eigentum zu sein,‹ sagte er zu
+mir, ›sollte auch Sie hindern, diese goldene Kette da zu tragen; sie
+sollte für die Armen verkauft werden.' Indessen gab er zu, daß nicht
+alle Menschen je nach ihrer verschiedenen Lage es so leicht finden
+möchten wie er, irdischen Besitz in solchem Licht zu betrachten.
+<em class="gesperrt">Sein</em> Geldbeutel war immer leer infolge seiner Freigebigkeit.
+Ein silbernes Theeservice, das Geschenk seines Verwandten Sir William
+Gordon, bewahre er auf, sagte er einmal; der Wert desselben werde
+ausreichen, früher oder später seine Begräbniskosten zu bestreiten,
+ohne anderen zur Last zu fallen. So verhaßt es ihm war, von seinen
+Thaten zu reden, so freigebig war er mit seinen Gedanken, und manche
+interessante Unterhaltung führten wir mit ihm. Ein gewisser mystischer
+Zug, der ihm eigen war, verlieh seiner Rede einen eigenen Reiz; wir
+haben viel von ihm gelernt. Er besuchte uns oft, aber es war eine
+ausgemachte Sache, ohne daß je ein Wort darüber verloren worden wäre,
+daß man ihn nie auffordern dürfe, länger zu bleiben, wenn er sich zum
+Gehen anschickte. Ihn je zu Tisch zu bitten, wäre ordentlich eine
+Beleidigung gewesen: ›Ladet die Armen und Kranken ein,‹ hätte man da
+zur Antwort erhalten, ›ich kann zu Haus essen.‹«</p>
+
+<p>Daß er neben seinen Berufsarbeiten und täglicher fleißiger
+Beschäftigung mit Gottes Wort so viel Zeit fand, Gutes zu thun,
+verdankte er einerseits seiner Gewohnheit früh aufzustehen,
+andererseits seinem methodischen Fleiß, der nie auf einen andern
+Tag verschob, was sofort geschehen konnte. »Warum sollte man etwas
+hängen lassen, was man gleich erledigen kann,« pflegte er zu sagen.
+Immer beschäftigt sein, war offenbar die äußere Bedingung seiner
+Zufriedenheit. Einer Dame, die sich bei ihm über die Langeweile des
+Mode-Lebens beschwerte, gab er den guten Rat, sich doch einmal am
+Waschzuber ordentlich müde zu schaffen. Einer seiner Untergebenen, der
+über die Arbeiten seines Berufes in Gravesend berichtet hat, schreibt
+unter anderem: »Wenn Gordon an der Arbeit war, dann <em class="gesperrt">war's</em>
+Arbeit, und keiner von uns hätte es sich beikommen lassen, ihn auf
+irgend etwas einen Augenblick länger warten zu lassen als absolut
+nötig war. ›Schon<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> wieder fünf Minuten verloren, die wir nie wieder
+haben werden!‹ konnte er ausrufen. Er hielt strenge Ordnung, aber das
+hinderte keinen, mit völliger Liebe und Verehrung an ihm zu hängen.«</p>
+
+<p>Gordons äußere Erscheinung soll durchaus nichts Überwältigendes
+gehabt haben. Er war nicht groß, hatte kein stattliches Auftreten;
+man sah ihm den Soldaten nicht an. Wer ihm zum erstenmale begegnete,
+konnte aus seinem bescheidenen Äußeren nicht schließen, daß er
+es mit einem der tüchtigsten Offiziere zu thun habe. Daß er der
+»Chinesen-Gordon« war, stand ihm nicht auf der Stirn geschrieben,
+obgleich er der denkbar offenherzigste Mensch war. Ein gewisses
+jugendliches Aussehen soll er bis ins mittlere Alter bewahrt haben.
+Die ihn kannten, stimmten darin überein, daß seine Macht über die
+Menschen von seinen blauen Augen ausging — »sein Gesichtsausdruck
+hatte nichts bedeutendes, war aber von der Art, die es ›einem
+anthut,‹« sagt einer seiner Mitoffiziere, ein langjähriger Freund,
+»und im Umgang hatte er etwas unaussprechlich bezauberndes.« Man
+habe sich mit unwiderstehlichem Vertrauen zu ihm hingezogen gefühlt
+als zu einem Mann, der es gut mit einem meine; man habe ihm nur ins
+Auge zu sehen brauchen um zu wissen, daß man sich felsenfest auf ihn
+verlassen könne, selbst wenn alle andern einen im Stich ließen. Neben
+der Sanftmut und Güte seines Wesens, die alle rühmen, die je mit ihm
+zu thun hatten, konnte er aber auch herzhaft zornig werden, wie schon
+angedeutet wurde. Er kannte diese seine schwache Seite wohl, und wenn
+einer seiner Untergebenen einen Verweis verdiente, so suchte er für
+den zu erlassenden Tadel gern einen Stellvertreter, aus Furcht, von
+der Hitze mit fortgerissen zu werden.</p>
+
+<p>Wohl der schönste Zug seines Wesens war seine wunderbare Demut, die
+nie heller leuchtete als im Umgang mit den Armen und Niedrigen.
+Solchen erzählte er auch mit größter Bereitwilligkeit aus seinem
+Leben in China und anderwärts, worüber seinesgleichen ihn nie reden
+hörten. Er war höflich gegen den Geringsten und konnte einen Bettler
+um Verzeihung bitten, wenn er ihm eine Münze hastig hingeworfen. Wer
+zu jener Zeit in Gravesend wohnte, der konnte hin und wieder sehen,
+wie er auf<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> der Straße plötzlich stehen blieb, um vielleicht einem
+armen Waschweib ihre Last abzunehmen, sei's Bündel oder Korb, und ihr
+tragen zu helfen, und war einer seiner Freunde in der Nähe, vornehm
+oder gering, so konnte er gewärtig sein, auch aufgefordert zu werden,
+mit Hand anzulegen.</p>
+
+<p>Gordon war ein Christ in des Wortes vollster Bedeutung, aber einer
+besonderen Gemeinschaft im englischen Sinn hat er nicht angehört. Dies
+ist schon durch seine Lebensführung begreiflich. Auch darf man wohl
+sagen, daß einer, der so in der Allgegenwart, ja Gemeinschaft Gottes
+wandelt, über die Unterschiede hinaus ist, die uns andere, die wir
+noch Schüler sind, in Klassen abteilen. Er hat sein Leben, wie wir
+gesehen haben, nach dem Wort eingerichtet: Ein reiner und unbefleckter
+Gottesdienst vor Gott dem Vater ist der, die Waisen und Witwen in
+ihrer Trübsal besuchen und sich von der Welt unbefleckt erhalten.
+Übrigens hielt er dafür, daß das Christentum eines Menschen sich vor
+allen Dingen in der gewöhnlichen Berufs- und Pflichterfüllung des
+Lebens bethätigen müsse. Das ist's, was der seltenen Energie zu Grunde
+liegt, die ihn zum großen Manne gemacht hat; das auch, was in der
+Gerechtigkeit, Festigkeit, Milde und Umsicht seinen Ausdruck fand, die
+seine Verwaltung des Sudan so rühmlich kennzeichneten. Er war überall
+und in allen Dingen ein Christ. Sich selbst für besser halten als
+andere, war nicht seine Sache. »Wir sind alle voll Schwären,« konnte
+er sagen, »manche verdecken ihre Schäden mit seidenen Lappen, andere
+haben nur Lumpen; reißt beides weg, und die Krankheit ist dieselbe.«</p>
+
+<p>Auf sein inneres Leben und seine Stellung zur christlichen Lehre
+werden wir später zurückkommen. Die Früchte, die aus seinem Glauben
+erblühten, sind mit der kurzen Schilderung aus Gravesend wohl zur
+Genüge dargethan.</p>
+
+<p>Im Jahr 1871 wurde Gordon nach Galatz geschickt, in eine ihm nicht
+unbekannte Gegend, wo er an der Donau-Mündung eine ähnliche Arbeit
+ausführen sollte wie daheim an der Themse. Die »öffentliche Meinung«
+aber fing an sich zu wundern, warum die Kräfte eines so eminent zum
+Kriegführen geschaffenen Mannes wie Gordon an eine Arbeit verschwendet
+würden, die jeder andere<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> Ingenieuroffizier auch erledigen könne.
+Es war die Zeit der Asante-Sorgen, und die Zeitungen fingen an sich
+zu erkundigen, wo der »Chinesen-Gordon« stecke und warum man nicht
+ihn absende, um dem König Kofi das Handwerk zu legen. Unter den
+vielen Zuschriften an die öffentlichen Blätter in jener Zeit verdient
+ein »Mandarin« unterzeichneter Brief, den die Times brachte, hier
+wenigstens im Auszug wiedergegeben zu werden.</p>
+
+<p>»Es ist zum Verwundern,« sagt der Schreiber, ein ehemaliger Offizier
+der stets siegreichen Armee, »wie wenig die erstaunlichen Thaten
+des Mannes, der als »Chinesen-Gordon« öfters genannt worden ist,
+in diesem Land bekannt geworden sind. Als einer, der in der stets
+siegreichen Armee unter ihm diente — welche Bezeichnung ganz gewiß
+nicht aus seinem Munde stammt — könnte ich lange Spalten füllen mit
+den Beweisen seiner unglaublichen Thatkraft, seiner über alles Lob
+erhabenen Um- und Vorsicht, seiner anspruchslosen Bescheidenheit,
+seiner Ausdauer und Herzensgüte, seines überlegenen Mutes, ja
+Heldenmutes. Es ist die einfache Wahrheit, daß alle, die je unter ihm
+gedient haben, seine militärische Tüchtigkeit, um nicht zu sagen sein
+Kriegsgenie, in alle Himmel erheben. Es giebt nicht viele Heerführer,
+denen ein ganzes Offizierkorps solch einstimmiges, begeistertes Lob
+zollt. Und noch wunderbarer ist die völlige Hingabe, mit der die
+chinesischen Truppen ihm anhingen, das unbedingte Vertrauen, das sie
+in irgend welches Unternehmen setzten, wenn nur er es persönlich
+leitete. In ihren Augen war er einfach ein Zauberer, dem alles möglich
+war .... In ihrem Glauben an seine gefeite Unverwundbarkeit bestärkte
+sie seine Gewohnheit plötzlich zu erscheinen, wenn die Truppen unter
+Feuer waren, wo er dann im dichtesten Kugelregen ganz ruhig dastand.
+Außer seinem spanischen Rohr, das die Soldaten seinen Zauberstab
+nannten, trug er ein kurzes Fernrohr, nie Waffen; oder richtiger,
+was er an Waffen trug, war unsichtbar.... Einmal nur erinnere ich
+mich Zeuge gewesen zu sein, wie Gordon einen Revolver zog. Es war
+bei Kuinsan, nachdem die Truppen ein Vierteljahr lang während der
+Sommerhitze im Quartier gelegen hatten. Man benutzte diese Zeit,
+sie einzuexerzieren, mit dem Gedanken an die geplante Einnahme<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> von
+Sutschau. Die Hitze war entsetzlich. Ruhr und Cholera lichteten die
+Reihen, und die Disziplin war nicht ganz so stramm wie sonst..... Als
+gegen Ende September Befehl zum Abmarsch gegeben wurde — es galt
+die Forts und Schanzenwerke zwischen Kuinsan und Sutschau — war's
+besonders die Artillerie, die den Gehorsam weigerte. Eine Kompagnie
+wurde störrig und wollte sich nicht einschiffen ... da erschien Gordon
+mit seinem Dolmetscher. Er war zu Fuß, dem Anschein nach unbewaffnet
+und wie gewöhnlich sehr gefaßt. Sobald er zur Stelle war, erließ er
+durch den Dolmetscher die Ordre, daß jeder Soldat, der gesonnen sei,
+sich nicht einzuschiffen, vortreten solle. Nur einer trat vor. Da zog
+Gordon eine Pistole aus seiner Brusttasche, richtete sie gegen des
+Mannes Kopf und ließ ihm durch den Dolmetscher zurufen: »Marsch!« Der
+Mann gehorchte auf der Stelle und die ganze Kompagnie ihm nach. Sage
+einer — das hätte jeder andere kaltblütige und entschlossene Offizier
+auch erreicht! Durchaus nicht! Wenigstens gab's unter uns damals nur
+<em class="gesperrt">eine</em> Meinung, daß der Gehorsam in diesem Fall lediglich der
+grenzenlosen Achtung, ja Ehrfurcht zuzuschreiben war, mit welcher
+das ganze Korps zu Gordon aufsah. In der That war die Stimmung der
+Truppen damals eine solche, daß wenn irgend ein anderer Offizier es
+gewagt hätte, zu handeln wie Gordon handelte, offene Meuterei und
+die Ermordung der Offiziere die Folge gewesen wäre .... Die wahre
+Ursache der beispiellosen Erfolge des Korps ist einerseits wohl in
+der militärischen Tüchtigkeit des Anführers zu suchen, andererseits
+aber in seinem Charakter und seinem ganzen Wesen, welches der Art
+war, daß alle, die mit ihm in Berührung kamen, unbegrenztes Vertrauen
+in seine Fähigkeit setzten neben dem festen Glauben, daß er mit
+den besten ihm zu Gebot stehenden Mitteln die besten Resultate zu
+gewinnen der Mann war.<a id="FNAnker_7" href="#Fussnote_7" class="fnanchor">[7]</a> Wer<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> Gordon kennt mit seiner anspruchslosen
+Persönlichkeit, seiner ruhigen zurückhaltenden Art, kann von seinem
+wunderbaren Einfluß über ein Heer von unwissenden Soldaten und aus
+aller Herren Länder zusammengelaufenen Offizieren nur auf die höchsten
+Eigenschaften seines Charakters schließen. Um einen Vergleich zu
+ziehen, so möchte es scheinen, daß die unwissenden Chinesen den Mann
+besser zu würdigen verstanden, als gewisse wohl unterrichtete Leute
+hierzulande.«</p>
+
+<p>Allein die Regierung hatte taube Ohren; einer aus dem Ingenieurkorps,
+und wäre er selbst der »stets siegreiche General«, wie das Volk
+ihn neuerdings nannte, sei nicht fürs Kommando bestimmt, war die
+Entschuldigung. Als der Khedive aber nach einiger Zeit einen
+Kommandanten nötig hatte und sich dazu den Oberst Gordon ausersah,
+hatte die englische Regierung nichts dagegen einzuwenden.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+<div class="chapter">
+<h2 id="Viertes_Buch">Viertes Buch.<br>
+<span class="s5"><b>Im Lande der Schwarzen.</b></span></h2>
+</div>
+
+<p>Die Sudanländer sind insbesondere durch deutsche Reisende allgemeiner
+bekannt geworden. Der Name »Sudan« bedeutet nichts anderes als das
+<em class="gesperrt">Land der Schwarzen</em> und stimmt also mit der alten Bezeichnung
+»Äthiopien« überein, woraus sich ergiebt, daß der Sudan, heutzutage
+ein Land des Elends und der Knechtschaft, schon eine bessere
+Vergangenheit gekannt hat. Wir erblicken in ihm das Mohrenland der
+Bibel, das Land der Königin Kandaze. Im Propheten Jeremia ist zu
+lesen: Lasset die Helden ausziehen, die Mohren! Memnon, ein König von
+Äthiopien, zog mit zehntausend Mann den Trojanern zu Hilfe. Und auch
+neuerdings haben sich die Sudanesen als Soldaten bewährt, mit denen
+nicht zu spassen ist. Aber der Fluch Hams liegt auf dem Lande.</p>
+
+<p>Sudan ist ein Gemeinname, er umfaßt die ungeheuren mittelafrikanischen
+Ländergebiete zwischen Ägypten im Norden und den Seen (Njansa) im
+Süden, zwischen dem Roten Meer im Osten<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> und dem Lande Darfur im
+Westen. Khartum am Zusammenfluß des Blauen und Weißen Nils liegt
+so ziemlich in der Mitte zwischen dem Mittelländischen Meer und
+dem Viktoria Njansa, von Meer und See je sechzehnhundert Kilometer
+entfernt. Von Khartum nach der Ostgrenze des Sudans, nämlich bis
+zu den Hafenstädten Suakim und Massaua am Roten Meer, beträgt die
+Entfernung etwa sechshundert Kilometer, nach der Westgrenze bis
+Darfur sind es zwölfhundert. Die Hauptstationen zwischen Khartum und
+Ägypten sind Berber und Dongola, beide am Nil. In Berber mündet die
+Wüstenstraße von Suakim her, und zwischen diesen beiden Orten ist die
+Eisenbahnlinie projektiert, die den Sudan vom Roten Meer aus leichter
+zugänglich machen soll. Um die Entfernungen durch einen Vergleich zu
+veranschaulichen, so ist es von Kairo nicht weiter nach Petersburg
+als nach Gondokoro, der Hauptstadt der ägyptischen Äquatorialprovinz,
+während es von Khartum nach Gondokoro etwa so weit ist, als von
+Berlin nach Rom. Khartum und Gondokoro sind durch den Nil verbunden,
+durch den »Ssett« aber, eine Massenanhäufung von schwimmenden
+Wassergewächsen, sind diese Städte trotz aller Dampfer oft monatelang
+außer Verbindung.</p>
+
+<p>Ägypten hat sich während der letzten sechzig Jahre in den Sudanländern
+ausgebreitet. Mehemet Ali mochte es redlich meinen oder nicht, als
+er sich anschickte, an die Stelle der herrschenden Anarchie im
+Sudan eine geregelte Regierung zu setzen, und seinen Sohn Ismail
+mit einem Soldatenhaufen und etlichen Gelehrten hinsandte, um von
+dem Lande Besitz zu nehmen. Dieser aber wurde mit samt seinem
+Gefolge von einem Häuptling verbrannt. Man wußte sich furchtbar zu
+rächen, und die ägyptische Gewaltherrschaft wurde aufgerichtet. Die
+geregelte Regierung bekundete sich in Unterdrückung und Aufstand,
+und die eingeführte Zivilisation beschränkte sich hauptsächlich
+auf Elfenbeinhandel, wogegen nichts zu erinnern gewesen wäre, wenn
+nicht auch das »schwarze Elfenbein«, der Negerhandel, zur Goldquelle
+geworden wäre. Der Sklavenhandel nahm nach und nach so zu, daß er
+zum offenkundigen Skandal wurde. Die arabischen Händler zahlten
+eine beträchtliche Abgabe an die ägyptische Regierung, die deshalb
+ein<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> Auge zudrückte. Das Elend im Land spottete aller Beschreibung;
+ein ehrliches Gewerbe konnte neben dem Menschenraub nirgends
+aufkommen. Europäische Händler waren die Urheber des Unfugs. Um
+das Jahr 1860 mußten sich diese aber angesichts der öffentlichen
+Meinung zurückziehen. Seither haben die Araber die Negerjagd und
+den Negerhandel ins Unglaubliche getrieben. Die Einwohnerschaft der
+Sudanländer besteht nämlich aus zwei Hauptklassen, von welchen die
+eine, die eingewanderten Araberstämme, die natürliche Unterdrückerin
+der andern, der Neger, ist. <em class="gesperrt">Schweinfurth</em> beobachtete die
+Sklavenhändler mehrere Jahre lang. Vor zwanzig Jahren, schreibt
+er, gab es Hunderte von Denka-Dörfern auf der östlichen Seite des
+Flusses, jetzt ist die ganze Strecke zur Einöde geworden. Man stößt
+allenthalben auf Spuren, daß Dörfer und angebaute Gegenden da zu
+finden waren, wo jetzt alles verwüstet ist; die Bevölkerung muß
+wenigstens um zwei Drittel abgenommen haben. Sir <em class="gesperrt">Samuel Baker</em>
+ist der Ansicht, daß niemand anders als die ägyptischen Pascha an der
+Verwüstung des Denka-Landes schuld seien. »Das Land ist vollständig
+entvölkert infolge der Razzien der vom Statthalter von Faschoda
+begünstigten Sklavenjäger.« Er durchreiste das Land nach allen
+Richtungen und kam allerwärts auf Spuren zerstörter Dörfer. Im Jahre
+1864 sah er die Gegend des Viktoria-Nils zum erstenmal; das Jahr
+1872 brachte ihn wieder dahin. »Die in diesen Jahren stattgefundene
+Veränderung ist nicht zu beschreiben; damals war die Landschaft ein
+Garten, dicht bevölkert und voll reicher Produkte. Jetzt ist alles
+zur Wüstenei geworden! Niemand ist schuld daran, als die Khartumer
+Händler, welche Weiber und Kinder in die Sklaverei führen und plündern
+und zerstören, wo sie hinkommen.« »Man sieht meilenweit keine
+Menschenseele,« schreibt Gordon, als er den Sobat hinaufdampfte: »die
+Sklavenhändler haben die ganze Bevölkerung aufgerieben und die Gegend
+zur vollständigen Wildnis gemacht.«</p>
+
+<p>Während einer Reihe von Jahren geschah nichts, um dem schändlichen
+Handel zu steuern. Zwar wurden Proklamationen erlassen, aber,
+wie Schweinfurth sagt, schien eine unüberwindliche Neigung zum
+Sklavenhandel jedem Türken oder Ägypter angeboren,<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> der im Dienste
+der Regierung den Sudan verwalten half. Und als der Greuel dem
+Khedive endlich zu arg wurde, war dies nicht sowohl eine Regung von
+Mitleid mit den armen Negern, als vielmehr Furcht vor einem sich
+erhebenden Machthaber, der seine Oberherrschaft im Sudan bedrohte. Die
+Sklavenhändler zählten nach Tausenden; mit bewaffneten Horden zogen
+sie durchs Land, ja so mächtig wurden sie, daß sie die Abgaben an die
+Regierung nicht länger zu entrichten für nötig fanden. Auch das war
+ein Grund, ihnen das Handwerk zu legen. Unter den Sklavenhändlern
+war besonders einer, der durch seinen unglaublichen Reichtum, seine
+aus Sklaven rekrutierten Truppen, sowie durch die beträchtliche
+Anzahl seiner befestigten Stationen fast die Stellung eines Königs
+einnahm. Es war dies der berüchtigte Sebehr Rachama, der schwarze
+Pascha. Schweinfurth fand ihn von fürstlichem Hofstaat umgeben. Seine
+Gäste wurden von reichgekleideten Sklaven in mit kostbaren Teppichen
+behangene Vorzimmer geführt, und um den königlichen Glanz seiner
+Umgebung zu erhöhen, wurden Löwen herbeigebracht. Sein Reichtum und
+sein Aberglaube schienen einander die Waage zu halten, wenigstens wird
+erzählt, daß er einmal fünfundzwanzigtausend Maria-Theresia-Thaler
+einschmelzen ließ, um Kugeln aus Silber zu gießen, mit denen ein
+Feind beschossen werden sollte, der angeblich gegen Blei gefeit
+war. Ursprünglich ein Elfenbeinhändler, hatte er sich auf das
+»schwarze Elfenbein« verlegt. Er war Herr von nicht weniger als
+dreißig Stationen, die sich bis ins Innere von Afrika erstreckten,
+und sein Name verbreitete Schrecken durch den ganzen Sudan. Von den
+einzelnen Stationen aus wurden Streifzüge auf die Neger unternommen;
+auf den Stationen fanden sich die Kleinhändler ein, welche ihm die
+Sklaven abkauften und durch die Wüste an die Grenze schleppten. Als
+Schweinfurth im Jahre 1871 die Raubhöhle Schekka, Sebehrs Hauptstation
+an der Südgrenze Darfurs, besuchte, fand er daselbst nicht weniger
+als zweitausendsiebenhundert solcher Händler, die gekommen waren,
+um sich mit Sklaven zu versehen. Schon 1869 hatte es die ägyptische
+Regierung versucht, Sebehrs großer Macht einen Zügel anzulegen. Eine
+Truppenabteilung unter einem Anführer Namens Bellal<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> folgte dem
+Sklavenräuber in die Bahr el Ghasal. Es kam auch zu einem Gefecht,
+in welchem Bellal, sowie die meisten seiner Soldaten umkamen.
+Sebehr selbst trug eine Fußwunde davon. Der Khedive war nicht wenig
+entrüstet, mußte sich aber vorläufig damit zufrieden geben, daß nicht
+er, sondern Sebehr Herr im Sudan war, den Tausende von Sklavenhändlern
+als solchen anerkannten. Zwar dem Namen nach war Sebehr ägyptischer
+Unterthan, aber in Wirklichkeit souveräner Herr.</p>
+
+<p>Die Eroberung Darfurs war eines der mit Bellals Unternehmen in
+Aussicht genommenen Projekte. Dieses Land war damals noch frei. Es
+hatte seit vierhundert Jahren seine eigenen Sultane. Darfur ist der
+Kornspeicher für den westlichen Sudan, und der regierende Sultan hatte
+dem drohenden Überfall Bellals eine Ausfuhrsperre entgegengesetzt,
+was nicht nur seinem offenen Feinde, sondern auch den Sklavenhändlern
+ungelegen kam. Sebehr war Manns genug, einen Gegenschlag zu führen.
+Er plante seinerseits eine Einnahme Darfurs. Das konnte dem Khedive
+nicht einerlei sein. Fiel Darfur in Sebehrs Hand, dann war nichts
+wahrscheinlicher, als daß der ganze Sudan sich ihm ergeben würde. Der
+Khedive nahm zur Politik der Feigheit seine Zuflucht und beschloß,
+lieber mit als gegen Sebehr zu handeln, worauf ägyptische Truppen
+unter Ismail Pascha Jakub vom Norden her in Darfur einfielen, während
+die Sklavenhändler es im Süden bedrängten.</p>
+
+<p>In einer Schlacht wurde der Sultan von Darfur erschossen, und als
+seine beiden Söhne den Leichnam decken wollten, fielen auch sie. Ihr
+jüngerer Bruder war ein Kind, und ein entfernterer Verwandter Namens
+Harun beanspruchte die Thronfolge. Darfur aber wurde unterjocht und
+Sebehr zum Pascha gemacht. Diese Ehre war ihm keineswegs genügend; er
+und seine Horden hätten das Land erobert, sagte er, ihm komme es daher
+zu, als Generalgouverneur die neue Provinz zu verwalten. Er hatte
+sogar die Kühnheit, selbst nach Kairo zu gehen, um seine Ansprüche
+dort geltend zu machen. Zwei Millionen Mark soll er mit sich genommen
+haben, um die Pascha zu bestechen. Es nützte ihm nichts, er wurde in
+Kairo festgehalten. Soliman, Sebehrs Sohn,<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> beunruhigte an seines
+Vaters Statt das Land und war die Seele eines gewaltigen Aufstandes.
+Wie derselbe von Gordon und seinem kühnen Stellvertreter Gessi
+unterdrückt wurde, werden wir später hören.</p>
+
+<p>Der Khedive, der den Sklavenhandel geduldet, wo nicht geschützt hatte,
+so lange er ihm eine Rente abwarf, verfiel auf philanthropische
+Motive, sobald seine Oberherrschaft gefährdet war. Durch ganz Europa
+posaunte er die Nachricht, daß er gesonnen sei, den greulichen
+Handel auszurotten. Nur zu diesem Ende habe er Sir Samuel Baker an
+den Äquator geschickt und nun auch den genialen Gordon berufen. Das
+ganze Nilbecken bis zu den Seen am Äquator wurde zu einem Teile von
+Ägypten erklärt. Selbst an jenen äußersten Grenzen — so lautete das
+vielverheißende Manifest — müßten Leib, Leben und Freiheit fürderhin
+als heilige Dinge gelten. Unter dieser Maske der Menschenliebe wurde
+Gordon, der als einer der aufrichtigsten Menschenfreunde, als einer
+der kühnsten Heerführer bekannt war, für den neuen Gouverneurposten in
+Aussicht genommen. Oberägypten sollte einen Regierungsbezirk für sich
+bilden, und der Elfenbeinhandel innerhalb seiner Grenzen wurde zum
+Staatsmonopol erklärt.</p>
+
+<p>Gordon war noch in Galatz, als ihm die neue Thätigkeit angeboten
+wurde. Im Jahre 1872 war er in Konstantinopel mit dem ägyptischen
+Minister Nubar Pascha zusammengetroffen, und dieser, von seiner
+Tüchtigkeit überzeugt, hatte ihn gefragt, ob er nicht einen Nachfolger
+für Baker zu empfehlen wisse. Gordon erblickte in dem sich eröffnenden
+Wirkungskreise eine Möglichkeit, den geknechteten Schwarzen zu dienen,
+und bot im folgenden Jahr seine Dienste an, vorausgesetzt, daß der
+Khedive bei der englischen Regierung um ihn einkommen wolle und diese
+nichts dawider habe. In England schien man seiner nicht zu bedürfen,
+und so machte er sich auf den Weg zur Ausrichtung eines großen Berufs
+im Innern des schwarzen Weltteils. Es war der Tag, der die Nachricht
+vom Tode Livingstones nach England brachte, an welchem Gordon von
+London aufbrach! Jener war mit dem Gebete auf den Lippen gestorben,
+daß der Herr sich Afrikas erbarmen<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> und einen Befreier senden möge.
+War es nicht wie eine Antwort auf diese Bitte, daß Gordon sich
+rüstete, um den Kampf mit dem großen Unrecht aufzunehmen, das jener
+ans Licht gebracht hatte? Die Namen Livingstone und Gordon sind wie
+zwei Sterne an Nachthimmel Afrikas; beide sind untergegangen; wann
+wird der Tag anbrechen?</p>
+
+<p>Der Khedive setzte seinem neuen Statthalter denselben Jahresgehalt
+aus, den Baker bezogen hatte, nämlich zweimalhunderttausend Mark,
+Gordon selbst aber bestimmte nur vierzigtausend. Das war dem Khedive
+und noch andern Leuten ein Rätsel. Wer den Mann aber kannte und
+überdies wußte, auf welche Weise Ismail seine Schatzkammer füllte, dem
+war die Handlungsweise erklärlich. Gordon verabscheute einen Gewinn,
+der, wie er wohl wußte, dem Schweiß der Fellahs erpreßt wurde; es
+wäre ihm wie Blutgeld vorgekommen; er nahm daher nur so viel, als er
+durchaus nötig hatte. »Wie Mose, so verachte auch ich den Reichtum
+Ägyptens,« schreibt er. »Wir haben einen König, der mächtiger ist,
+denn diese alle, und bessere Güter in ihm, als die Welt uns bieten
+könnte. Ich beuge mich keinem Haman.«</p>
+
+<p>Gordons Auftrag bestand darin, eine fast unbekannte Provinz zu ordnen,
+in der bewaffnete Händler ihr Wesen trieben und durch Elfenbein
+und Schwarze sich bereicherten. Die eingeborenen Stämme hatten sie
+grausam unterdrückt und gezwungen, mit ihnen Handel zu treiben, ob
+sie wollten oder nicht. Einige dieser Tyrannen hatten Erlaubnis,
+im Lande zu wohnen, vorausgesetzt, daß sie sich des Sklavenhandels
+enthielten; man hatte sie dem Gouverneur vom Sudan unterstellt. Dieser
+aber war von Khartum aus nicht im stande gewesen, seine Autorität
+geltend zu machen, und aus diesem Grunde hatte der Khedive die neue
+Äquatorialprovinz gebildet. Wenn der Sklavenhandel und das Raubwesen
+erst einmal abgeschafft wäre, dann sollte aller rechtmäßige Handel
+frei sein. Gordon sollte eine Kette von Stationen errichten, sollte
+versuchen, das Vertrauen der Stämme zu gewinnen und der Sklavenjagd
+auf alle mögliche Weise entgegenarbeiten.</p>
+
+<p>Aber bei seinem kurzen Aufenthalte in Kairo hatte er mit dem ihm
+eigenen Scharfblick den Khedive und seine Pläne durchschaut.<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> »Ich
+glaube, den wahren Beweggrund entdeckt zu haben,« schreibt er,
+»man hofft, uns Engländern Sand in die Augen zu streuen.« Trotzdem
+schwankte er keinen Augenblick. Er wußte, daß er in eines Höheren
+Dienst stand, und das gab ihm Kraft. So schreibt er einmal:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wer dürfte es wagen, der nicht den allmächtigen Gott auf seiner
+Seite hat? Ich kann es und will es thun, <em class="gesperrt">denn mein Leben achte
+ich für nichts</em> — ich würde nur viel zeitlichen Verdruß mit dem
+ewigen Frieden vertauschen!« Und weiter: »<em class="gesperrt">Wer doch den Tod immer
+als Erlöser vor Augen hätte!</em> Welche Ruhe ist des Menschen Teil,
+der so denkt, und was für Thaten kann er vollbringen — nichts kann
+ihn mehr beunruhigen, in welchem Amt er auch stehe!«</p>
+</div>
+
+<p>Es war Gordons Wunsch, als gewöhnlicher Passagier sich nach Suakim zu
+begeben; allein Nubar Pascha erklärte, der Gouverneur von Oberägypten
+müsse mit Gepränge reisen. Ein Gefolge wurde ernannt, und, von einem
+Adjutanten des Khedive begleitet, sollte Gordon mit einem Extrazug
+nach Suez fahren. Aber unterwegs versagte die Lokomotive, und die
+Reise mußte mit dem gewöhnlichen Zug fortgesetzt werden — ein
+Hauptspaß für Gordon. »Wir haben groß angefangen und dürfen klein
+aufhören,« berichtet er darüber. Von Suakim ging's durch die Wüste
+nach Berber; etwa zweihundertundzwanzig Mann Militär, die mit ihm
+an Bord waren, bildeten die Eskorte für den vierzehntägigen Marsch,
+dessen Länge Gordon keineswegs beklagte, denn es war ihm vor allen
+Dingen darum zu thun, seinen Soldaten, die von Mannszucht nichts
+wußten, Gelegenheit zu geben, ihn kennen zu lernen. Was persönlicher
+Einfluß vermag, das wußte er von China her.</p>
+
+<p>Sein Generalstab bestand aus einem kühnen und in jeder Beziehung
+tüchtigen Italiener, dem nachmals so rühmlich bekannt gewordenen
+<em class="gesperrt">Romulus Gessi</em>, den er als Dolmetscher schon in der Krim kennen
+gelernt hatte; ferner aus mehreren anderen Europäern, Namens Kemp,
+Russell, Anson und zwei Brüdern Linant, dem Amerikaner Long und Abu
+Saud, einem gewesenen Sklavenhändler und niederträchtigen Menschen,
+den er in Kairo<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> als Gefangenen vorfand und dem er mit einem gewissen
+Eigensinn zutraute, daß er sich künftighin der Redlichkeit befleißigen
+und sich nützlich erweisen werde. Der Khedive wußte nicht recht, was
+mit diesem Gefangenen anfangen, der am oberen Nil als »Sultan« bekannt
+war, aber nichts weniger als einen guten Namen dort hinterlassen
+hatte. Gordons Vorschlag, sich seiner Kenntnis des Landes zu bedienen,
+hielt der Khedive für sehr gewagt; Gordon aber ließ sich in diesem
+Vertrauen nicht irre machen, und der ehemalige Sklavenjäger wurde
+seinem Stabe einverleibt. Die Gewohnheit Gordons, Feinde durch gutes
+Zutrauen zu Freunden zu machen, hat sich in seinem Leben zwar oft
+bewährt; Abu Saud aber hat die ihm entgegengebrachte gute Meinung
+<em class="gesperrt">nicht</em> gerechtfertigt und Gordon viel zu schaffen gemacht, bis
+dieser sich durch einen Machtspruch seiner wieder entledigte.</p>
+
+<p>Über Gordons Zeit im Sudan liegt ein umfangreicher Band seiner,
+hauptsächlich an seine Schwester gerichteten Briefe vor; wir folgen
+ihm ins Land der Schwarzen an der Hand dieser Briefe. Am 13. März 1874
+wurde Khartum erreicht.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Der Generalgouverneur kam in voller Uniform Deinem unter dem Donner
+der Geschütze landenden Bruder entgegen. Gestern stand dieser noch
+mit nackten Beinen im Nil und half das Boot flott machen — trotz
+der Krokodile, die einem nichts thun, so lange man in Bewegung ist
+— heute salutiert ihn die Garde, so oft er sich blicken läßt ...
+Ich habe seit meiner Ankunft schon Musterung gehalten und das Spital
+und die Schulen besucht; die kleinen Schwarzen lachten, als sie mich
+sahen. Ich wollte, die Fliegen suchten sich ein anderes Quartier, als
+die Augenwinkel dieser Kinder! Khartum ist eine schöne Stadt, was die
+Lage betrifft. Die Häuser sind von Lehm und haben flache Dächer ...
+Ich bin wohlauf bei ruhiger Zeit, trotz vieler Arbeit. Übrigens ist
+es wahr, Herr Selbst ist der beste Diener, den man haben kann.«</p>
+</div>
+
+<p>In Khartum scheint er seinen neuen Titel ausfindig gemacht zu
+haben, und zwar keinen geringeren als »Se. Exzellenz General Oberst
+Gordon, Generalgouverneur am Äquator«, ein Titel, den er mit Recht
+ein sonderbares Gemisch nennt. Von Khartum aus erging auch sein
+Erlaß an die neue Provinz, worin er den Elfenbeinhandel als Monopol
+der Regierung erklärte, die Einfuhr von<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> Waffen und Pulver, sowie
+unbefugtes Waffentragen überhaupt verbot und außerdem ankündigte, daß
+in Zukunft niemand ohne Paß die Provinz bereisen dürfe.</p>
+
+<p>Am 22. März trat er die Reise nach seiner Hauptstadt <em class="gesperrt">Gondokoro</em>
+an. Er erwähnt der großen glitzernden Krokodile, die allabendlich
+mit weitoffenem Rachen auf dem Ufersand liegen, der vielen Zugvögel,
+die sich anschickten, den brennenden Süden mit dem Norden zu
+vertauschen. Hier gab es Störche, schwarze und weiße, zu Tausenden,
+dort Pelikane und Flamingos, auch große Nilpferde — doch sieht
+er vorläufig nur ihre Nasen, denn sie stehen mitten im Fluß. Die
+Affen kommen herdenweise und tragen ihre kerzengerade in die Höhe
+gerichteten Schwänze wie Speere hinter sich; die Giraffen erscheinen
+ihm wie wandernde Türme. Offenbar hatte er seine Freude an all dem
+Neuen, Ungewohnten, und beschreibt es gern der fernen Schwester.
+Eines Abends, als er beim stillen Mondlicht die vor ihm liegenden
+Schwierigkeiten zu vergessen sucht und halb träumerisch der Heimat
+gedenkt, erschreckt ihn ein lautes Gelächter.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich war nahe daran, es für eine Beleidigung zu halten,« erklärt
+er spaßhaft, »aber es waren nur ein paar überschlaue Vögel, die
+guterdinge schienen und es gar zu lächerlich fanden, daß unsereiner
+den Weg nach Gondokoro unternimmt in der Meinung, dort etwas Gutes zu
+schaffen.«</p>
+</div>
+
+<p>Nicht weit davon, in einer Felsenhöhle auf der Insel Abba, hielt sich
+damals ein Derwisch auf, Namens Muhamed Achmet, der im Geruch der
+Heiligkeit stand. Wie ahnungslos fuhr Gordon an ihm vorüber! Zehn
+Jahre später ist dieser »Heilige«, der Mahdi, das Werkzeug seines
+Todes geworden.</p>
+
+<p>An den ersten Wilden, die Gordon sieht, bemerkt er die Folgen der
+Mißhandlung.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wir kamen an einem Dorfe der Schilluk vorüber, die sich über unsern
+Anblick wunderten und erschreckt davonliefen, wenn man ein Fernrohr
+auf sie richtete.«</p>
+</div>
+
+<p>Am 22. April lief er in den Sobat ein, der oberhalb Faschoda in den
+Weißen Nil mündet. Hier präsentierten sich ihm die ersten seiner
+Unterthanen — ein Stamm der Denka. Es waren harmlose<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> Leute, ein
+Hirtenvolk, deren Häuptling nur schwer dazu zu bringen war, an Bord zu
+kommen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Dann aber erschien er in seinem ganzen und besten Staat — einer
+Halskette von Glasperlen. Wir machten ihm einige Geschenke. Darauf
+trat er auf mich zu, nahm erst meine rechte Hand und dann meine
+linke, leckte sie tüchtig, packte mein Gesicht und that, als ob er
+mich anspeien wollte.«<a id="FNAnker_8" href="#Fussnote_8" class="fnanchor">[8]</a></p>
+</div>
+
+<p>Man trug zu essen auf; als Häuptling verzehrte er außer seinem auch
+seines Nebenmannes Teil. Zum Dank wollte er Gordon die Füße küssen,
+aber das wurde ihm nicht gestattet; er brüllte daher mit seinem
+Gefolge einen Lobgesang und trug sein Geschenk, eine Kette Glasperlen,
+vergnügt davon; d. h. der gewandlose Herrscher war viel zu erhaben, um
+sie eigenhändig zu tragen, er überließ sie einem Geringeren, der sie
+vor ihm hertrug.</p>
+
+<p>Wo der Bahr el Ghasal in den Weißen Nil einmündet, bildet das
+Gewässer einen See und Sümpfe. Gordons Dampfer drang stetig vor.
+Die Eingebornen, die er jetzt sah, hatten sich die Gesichter mit
+eingeriebener Holzasche grau gefärbt, elende Menschen, die offenbar
+kaum zu leben hatten.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es ist ein Rätsel, warum sie erschaffen sind! ... ihr Leben schwankt
+zwischen Furcht und Not. Kein Wunder, daß sie den Tod nicht fürchten
+... Ich freue mich auf meine Arbeit, denn ich glaube, ich werde
+manche Gelegenheit finden, das Elend der armen Leute zu lindern.«</p>
+</div>
+
+<p>Er fuhr an einer verlassenen österreichischen Missionsstation
+vorüber, wo innerhalb dreizehn Jahren fünfzehn Missionare dem Klima
+erlegen waren, ohne auch nur <em class="gesperrt">einen</em> Schwarzen gewonnen zu
+haben; »die Sklavenhändler hatten den Teufel hingebracht,«<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> sagt ein
+Berichterstatter. Die nächste Station war Bohr, ein Sklavenjägernest,
+»wo man uns nicht allzu höflich empfing.« Am 16. April, also nach
+einer Fahrt von dreiundzwanzig Tagen, ankerte das Boot bei Gondokoro
+zum Erstaunen der Leute, die von ihrem neuernannten Gouverneur noch
+gar nichts gehört hatten. Seine Residenzstadt fand er in verwahrlostem
+Zustand, und unbewaffnet hätte er sich anfänglich in der nächsten
+Umgebung nicht zeigen können; die Eingebornen waren durch lange
+Mißhandlung allerwärts voll Mißtrauen. Gordon aber war der Hoffnung,
+sie mit der Zeit zu gewinnen und bessere Zustände einzuführen.</p>
+
+<p>Man sieht aus seinen Briefen, wie er fleißig von Ort zu Ort zieht,
+vorab darauf bedacht, sich die Herzen seiner schwarzen Unterthanen
+geneigt zu machen. Hier schenkt er den Leuten Korn, dort bringt er sie
+dazu, selbst Mais anzupflanzen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Sie verstehen es ganz gut und thaten es nur deshalb nicht, weil der
+Ertrag ihnen gewaltsam entrissen wurde; sie pflanzen nur so viel,
+daß sie nicht geradezu Hungers sterben, und dies nur in entfernt
+liegenden versteckten Plätzen.«</p>
+</div>
+
+<p>Die Schwarzen erkannten bald einen Helfer in ihm, und einer der ersten
+Beweise des ihm entgegengebrachten Vertrauens war das Verlangen eines
+Vaters, seine Kinder, die er nicht ernähren konnte, um eine Handvoll
+Durra (eine Art Hirse) zu übernehmen! Gordon nahm die Kinder an und
+kleidete sie. Der Vater aber kümmerte sich von Stund an nicht mehr um
+dieselben und erkundigte sich nicht einmal nach ihnen, als er wieder
+in die Nähe kam. Ein anderes Beispiel von elterlicher Gleichgültigkeit
+erzählt Gordon so:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ein Mann mit seiner Frau und zwei Kindern (unsere ersten
+Kolonisten!) haben sich nahe bei der Station niedergelassen. Ich
+verabreiche ihnen täglich etwas Durra, bis das von ihnen gesäete Korn
+zur Ernte reift. Ich hoffe, ihr Vertrauen zu gewinnen« ....</p>
+</div>
+
+<p>Nach einiger Zeit lautet der weitere Bericht:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es scheint, daß der Mann, ehe er hierherkam, eine Kuh gestohlen
+hatte und deshalb seinen Wohnsitz veränderte. Allein der Eigentümer
+der Milchspenderin machte ihn ausfindig und verlangte<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> die längst
+geschlachtete und verzehrte Kuh zurück. Auf meiner Runde kam ich bei
+der Hütte vorüber und sah nur eins der Kinder. Das andere, erzählte
+mir die Mutter mit befriedigtem Lächeln, hätten sie dem Mann gegeben,
+dem sie die Kuh gestohlen hatten. Es wäre ihnen auch gar nicht leid,
+sagte sie, die Kuh wäre besser!«</p>
+</div>
+
+<p>Wenn die Mutter eine Spur von Verlangen nach ihrem Kind an den Tag
+gelegt hätte, so würde Gordon es ihr wieder verschafft haben; aber
+sie war nichts weniger als betrübt, der Verlust einer Handvoll Durra
+wäre schmerzlicher gewesen. Um dieselbe Zeit kaufte Gordon einen
+Jungen, dessen Bruder ihn um ein Körbchen voll Korn feilbot. Die
+schwarzen Jünglinge hatten es offenbar mit einander ausgemacht, denn
+der eine lächelte so vergnügt wie der andere. Gordon nennt derartige
+Vorkommnisse Experimente; er wollte vor allen Dingen Land und Leute
+kennen lernen.</p>
+
+<p>Die Sklaverei hat die Stämme so heruntergebracht, daß, wie es Gordon
+scheinen will, die Eltern- und Kindesliebe bei ihnen wie ausgestorben
+ist. »Organisierte Auswanderung wäre das Beste für dieses Land.« Aber
+so elend das Leben jener Schwarzen ist, so hält Gordon doch mit Recht
+dafür, daß es anderwärts trotz der gepriesenen Zivilisation im Grunde
+oft nicht besser ist.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Für junge Leute ist dieses Klima ein äußerst niederdrückendes; wer
+aber einmal über die Mittagshöhe hinaus ist und gelernt hat, das
+Leben lediglich als eine Prüfungszeit zu würdigen, der erträgt es
+und freut sich sogar der Einförmigkeit. Wir sind immer selbst daran
+schuld, wenn wir unglücklich sind. Wir verlieren die besten Jahre
+unseres Lebens, indem wir nach einem Glück jagen, das auf Erden
+nicht zu finden ist. Das Geheimnis des Glücklichseins liegt darin,
+daß wir lernen, mit dem zufrieden zu sein, was uns beschert ist ...
+Die Schwarzen sind mit einer Handvoll Mais zufrieden; Wohlleben ist
+ihnen ein unbekannter Zustand; sie haben kaum einen Fetzen, ihre
+Blöße zu decken, und sind trotzdem glücklicher zu nennen als Hunderte
+von unzufriedenen Menschen bei uns zu Lande mit ihrer erbärmlichen
+Vergnügungssucht, wo alles hohl ist ... Heutzutage wäre niemand
+weniger willkommen in der Welt als unser Heiland. Man würde ihn für
+altmodisch erklären ... Wahres Glück besteht darin, daß man den
+Willen Gottes annimmt, was<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> dieser auch sei. Wer so weit kommt,
+hat die Welt und ihre Trübsal überwunden ... Der stille Friede im
+Leben unseres Herrn wurzelte lediglich in seiner völligen Ergebung
+in den Willen Gottes. Allerdings giebt es Zeiten, die uns Kampf
+bringen, aber je nach der Größe des Kampfes ist dann auch das Maß der
+verliehenen Kraft ... Ich habe kürzlich ein elendes klapperdürres
+Weib aufgenommen und sie seither gefüttert; gestern hat der Tod sie
+ganz still geholt, und jetzt weiß sie alle Dinge. Sie hatte ihren
+Tabak bis zuletzt und starb sehr leicht. Welch ein Wechsel aus ihrem
+Elend! Ich denke, sie genügte ihrem Lebensberuf so gut, wie eine
+Königin Elisabeth.«</p>
+</div>
+
+<p>Ein andermal erzählt er der Schwester:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es schwankt eine Gestalt die Straße herauf — so dünn, daß der Wind
+nicht viel Mühe hat sie umzuwerfen; es ist eine Deiner schwarzen
+Schwestern, ich sehe, sie bleibt stehen und läßt den Regen über sich
+ergehen. Ich schicke ihr etwas Durra, das wird ihrem abgezehrten
+Leichnam eine Freude sein. Sie hat nicht einmal einen baumwollenen
+Rock an, ja ihre ganze Kleidung ist keinen halben Heller wert.«</p>
+</div>
+
+<p>Am folgenden Tag heißt's weiter:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich muß Dir doch schreiben, wie's der schwarzen Dame ferner erging,
+der ich gestern in Wind und Wetter zu helfen versuchte. Ich schickte
+meinen Diener hinaus, daß er sie in einer der Hütten unterbringe,
+und dachte nicht anders, als es wäre geschehen. Die Nacht war naß
+und kalt und ich hörte mehrmals ein Kind schreien, stand deshalb
+auf und ging hinaus; da lag Deine und meine Schwester tot in einer
+Pfütze. Ihre schwarzen Brüder waren hin- und hergegangen und hatten
+keine Notiz von ihr genommen. Ich ordnete an, daß sie begraben werde,
+und ging weiter; fand ein etwa einjähriges Kind im Gras, das wohl
+die ganze Nacht in der Nässe gelegen hatte, ohne Zweifel von seiner
+eigenen Mutter ausgesetzt — Kinder sind hier immer eine Last! Ich
+trug's zurück, und da die Leiche noch immer in der Pfütze lag,
+machte ich mich selber daran, sie mit Hilfe einiger meiner Leute
+zu beerdigen. Zu meiner Verwunderung fand ich das Geschöpf lebend,
+brachte ihre schwarzen Brüder aber nur mit großem Mühe dazu, mit
+Hand anzulegen, um sie aus der Pfütze aufzunehmen. Ich ließ sie in
+eine Hütte tragen, ein Feuer anzünden, gab ihr etwas Branntwein ein
+und wusch ihr den Sand aus ihren lebensmüden Augen. Nun liegt sie
+da, kaum<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> sechzehn Jahre alt! Ich kann nicht anders als hoffen, ihr
+Schiffchen schwimmt dem Hafen der Ruhe entgegen. Das Kind ist um
+eine tägliche Portion Durra von einer Familie angenommen worden.
+Ich zweifle nicht, bin sogar gewiß, daß Du Deine schwarze Schwester
+einmal finden und dann von ihr hören wirst, daß die ewige Weisheit
+alles wohl gemacht hat. Ich weiß, daß das nicht leicht zu glauben
+ist, <em class="gesperrt">aber es ist doch wahr</em>! Ich meinesteils ziehe ein Leben
+unter den Elenden einem Leben trägen Genusses vor. Und es giebt
+überall Elend. Mancher ist in seinem Reichtum ganz so beklagenswert,
+wie diese arme Sterbliche. Wie schlecht ist dieser Senf angemacht,
+sagte einer meiner Offiziere neulich, während unsere schwarzen Brüder
+um uns herumlaufen und man ihnen alle Rippen zählen kann!« ...</p>
+</div>
+
+<p>Vierundzwanzig Stunden später:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Laß Dir's nicht zu nahe gehen. Deine schwarze Schwester ist heute
+nachmittag aus diesem Leben erlöst worden, nur von mir betrauert;
+ihre schwarzen Brüder sind froh, sie los zu sein.«</p>
+</div>
+
+<p>Neben solchen Erlebnissen finden wir aber den Gouverneur alles
+Ernstes damit beschäftigt, den Sklavenhändlern hinderlich zu sein;
+bald macht er jedoch die Entdeckung, daß den Schurken durch die
+Regierungsbeamten Vorschub geleistet wird. Ein seinem Dolmetscher in
+die Hände gefallener Brief von einer Bande Menschenjäger an den Mudir
+(Bezirksstatthalter) von Faschoda lautete folgendermaßen: »Wir sind
+auf dem Weg mit zweitausend Kühen und allem anderen nach Wunsch.« Die
+Kühe waren von verschiedenen Stämmen gestohlen, und das ›alles andere‹
+bedeutete eine Anzahl Sklaven. Die ganze Sendung wurde abgefangen,
+und die Sklaven soweit es möglich war in ihre Heimat zurückgeschickt;
+einen Teil derselben behielt er. Die Sklavenhändler erhielten
+Gefängnisstrafe; nach einiger Zeit aber nahm er die brauchbaren unter
+ihnen in seine Dienste, so z. B. einen gewissen Nassar, der ein
+Haupttyrann in jener Gegend war. Diesem jagte er eine Karawane von
+mehreren hundert Sklaven ab, die derselbe mit einer Bande bewaffneter
+Schwarzer nach Faschoda zu bringen hoffte; ihn selbst setzte er
+vierzehn Tage hinter Schloß und Riegel und schrieb dann:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich habe dem Hauptsklavenhändler Nassar verziehen und ihn in meinen
+Dienst genommen; er ist nicht schlimmer als die andern, und die Leute
+sind bisher nur in ihrem Thun bestärkt worden. Er ist ein tüchtiger
+Mensch und kann was leisten.«</p>
+</div>
+
+<p>Als er nach einiger Zeit seine Station an einen gesünderen Ort
+verlegte, berichtete er:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Nicht ich hab's zu stande gebracht, sondern die gewesenen
+Sklavenhändler, die ich in meinen Dienst genommen.«</p>
+</div>
+
+<p>Wie mit den Taipings in China, so verfuhr er hier: zuerst überwältigte
+er den Feind und dann benutzte er ihn.</p>
+
+<p>Im Mai hatte er den ganzen Weg nach Berber zurückmachen müssen, um
+seine dort liegengebliebene Ausrüstung flott zu machen. Und dann
+ging's wieder zurück nach dem Sobat. Es dauerte lange, bis seine
+Dampfer ihm nachkamen. Mittlerweile aber ist er nicht müßig, gewinnt
+mehr und mehr das Vertrauen der Schilluk und weiß sich in allen
+Lagen zu helfen, von der Verfertigung einer Rattenfalle an bis zum
+eigenhändigen Nähen einer Hose für einen seiner Schwarzen, an welchem
+wohlgelungenen Kunstwerk er seinen Spaß hat. Und wenn alle anderen
+in der trostlosen Wildnis mutlos werden, so bewahrt er die gute
+Stimmung. »Ich bin längst über den Graben des Mißmuts hinaus,« kann er
+sagen, denn sein Herz hat einen festen Ankerpunkt. Als er einst nach
+viertägiger Abwesenheit auf seine Station zurückkam, umdrängten ihn
+die Schwarzen, die er den Sklavenhändlern abgejagt hatte: sie wollten
+ihm alle die Hand geben. Das freute ihn. »Ich kann jetzt allein
+umhergehen und alle grüßen mich.« Kein Araber durfte das wagen, so
+fürchteten sie die von ihnen unterdrückten Neger. Daß die Scheiks um
+Gondokoro her sich ihm zuneigten, verdankte er übrigens teilweise dem
+Einfluß Abu Sauds. Er machte ihn zu seinem Vakil oder Unterstatthalter.</p>
+
+<p>In Gondokoro geriet Gordon mit Rauf Bey in Konflikt; derselbe war
+Statthalter gewesen, aber, nur auf seinen Gewinn bedacht, hatte er
+nichts gethan, das Gordon ihm nachrühmen konnte. Zwischen ihm und
+Abu Saud entspannen sich alsbald Eifersüchteleien und Zwistigkeiten.
+Gordon fand es rätlich, ihn mit Briefen nach Kairo zu senden, d. h.
+sich seiner zu entledigen. Und mit<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> Abu Saud mußte er bald ähnlich
+verfahren. Dieser hatte sich allerlei Betrügereien zu schulden
+kommen lassen, hatte Elfenbein unterschlagen, das für die Regierung
+bestimmt war. Außerdem gebärdete er sich den andern Offizieren
+gegenüber, als ob er Statthalter wäre. Gordon sah, daß er sich in
+seinem Vertrauen getäuscht hatte. Er gab ihm den Laufpaß, nicht zu
+früh, denn es stellte sich heraus, daß Abu Saud eine Meuterei unter
+den von ihm befehligten schwarzen Truppen anzuzetteln im Begriff
+war. Diese erklärten, sie würden ohne ihn nicht nach Dufile gehen,
+wohin sie das Dampfboot in Teilen tragen sollten, damit es dort
+wieder zusammengestellt werde. Gordon, der unlängst erklärt hatte,
+daß die Losung der Provinz »Hurryat«, d. i. Freiheit, sei, erwiderte,
+sie könnten bleiben wo sie wären, aber keine Macht der Welt würde
+ihn zwingen, Abu Saud mit ihnen zu schicken, denn das würde seine
+»Hurryat« beeinträchtigen. Da sie übrigens von der Regierung Sold
+nähmen, so versähe er sich ihres Gehorsams. Seine feste Haltung
+stellte die Ruhe her, und Abu Saud ging seiner Wege, ohne jedoch
+sofort die Provinz zu verlassen. Nach einigen Wochen kamen Gessi
+und einer der anderen Offiziere um seine Begnadigung ein, weil die
+Kenntnisse des Schurken eben doch dienlich waren. Gordon gab nach;
+»braucht doch jeder selbst Gnade,« schreibt er, »und kriegt sie auch,
+so er darum einkommt.« Die Zurückberufung des Menschen war aber ein
+Fehler; bald darauf mußte er doch nach Kairo geschickt werden.</p>
+
+<p>Auch mit Krankheit hatte Gordon zu kämpfen. Er selbst, zwar zu
+einem Schatten abgemagert, war der einzige Gesunde unter all seinen
+Offizieren. Sein Zelt nannte er ein Lazaret, und Tag und Nacht wartete
+er der Siechen. Der eine der beiden Linant und zwei andere starben,
+mehrere mußten zurückgeschickt werden. »Ich bin wohl, aber sehr
+überreizt,« erklärte er, »was schlimm ist, wenn mir etwas quer kommt.«
+Damit meinte er die kleinen Widerwärtigkeiten, die immer wieder einen
+Teil seiner Last ausmachten. Er mußte sich um alles selbst kümmern.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Die Hauptsache ist, immer gerecht und gradaus zu verfahren; keinen
+Menschen zu fürchten; alle Winkelzüge zu vermeiden, selbst wenn man
+für den Augenblick dabei verlieren sollte, und allen, die<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> nicht
+parieren wollen, mit vollster Strenge zu begegnen. Es ist nicht immer
+leicht!«</p>
+</div>
+
+<p>Auf dem Wege nach Rigaf oberhalb Gondokoros wurde er von einem Scheik
+aufgefordert, bei ihm Quartier zu nehmen; er lehnte es ab und fand in
+der Nacht sein Zelt von diesem Häuptling und seiner Gruppe umstellt.
+Mit dem Gewehr in der Hand hieß er sie ihrer Wege gehen, und die
+beträchtliche Anzahl gehorchte dem »zum Schatten abgemagerten« Mann.</p>
+
+<p>Ein großer Fortschritt bei den Eingebornen war, daß er ihnen den
+Gebrauch des Geldes beibrachte. Vorher hatte nur Tauschhandel
+existiert; und wenn ein Stamm zum Lasttragen bestellt war, so
+beanspruchte der Häuptling den Lohn, Glasperlen oder Kattun, stets für
+sich. Gordon entdeckte, daß die Leute schlecht dabei wegkamen, und
+nahm sich vor, die Vorrechte des Scheiks in etwas zu verringern. Bei
+nächster Gelegenheit gab er jedem Lastträger selbst einige Glasperlen;
+am folgenden Tage lohnte er sie mit Kupfergeld ab — jeder erhielt
+einen halben Piaster. Darnach bot er ihnen Glasperlen zum Verkauf an.
+Sie merkten den Witz auch alsbald und erklärten, sie wollten erst noch
+mehr Kupfer verdienen und sich dann eine größere Anzahl Perlen dafür
+geben lassen. Er richtete einen förmlichen Laden ein, wo allerlei zu
+haben war, was den Eingebornen begehrlich erschien; wie bei allen
+Neuerungen ging es auch hier keineswegs ohne Widerspruch ab.</p>
+
+<p>Unter viel Krankheit der Stabsmannschaft ging das erste Jahr zu Ende.
+Gordon beschloß, das Hauptquartier auf die andere Seite des Flusses
+nach Lado zu verlegen, um der Sumpfluft bei Gondokoro zu entgehen.
+Um diese Zeit kam sein Ingenieur Kemp, der in Dufile, zweihundert
+Kilometer weiter oben am Nil, damit beschäftigt war, den Dampfer
+zusammenzufügen, mit dem der Albert Njansa erreicht werden sollte, mit
+der Nachricht zurück, daß von dem Unternehmen vorläufig abgestanden
+werden müsse. Die Stämme waren mit seiner moralisch ganz ungenügenden
+Mannschaft ins Treffen geraten. Doch brachte Long, der Amerikaner,
+bessere Kunde, der mittlerweile bei dem König Mtesa von Uganda gewesen
+war und sich einer guten Aufnahme bei der schwarzen Majestät erfreut<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span>
+hatte. Außerdem hatte er die Wasserverbindung zwischen Urondogani und
+Foweira entdeckt, wofür ihm Gordon großes Lob zollte.</p>
+
+<p>Die eignen Erfolge Gordons faßt ein Sachverständiger mit folgenden
+Worten zusammen: »Gordon hat Wunder vollbracht in der kurzen Zeit. Bei
+seiner Ankunft fand er siebenhundert Mann Soldaten in Gondokoro vor,
+die sich nur truppweise und bewaffnet in die nächste Umgebung wagten;
+mit diesen hat er nicht weniger als acht Stationen besetzt. Sir Samuel
+Bakers Äquatorzug hat die ägyptische Regierung über 20 Millionen Mark
+gekostet, während Gordon bereits Geld genug nach Kairo geschickt
+hat, um alle Unkosten seines Unternehmens nicht nur für dieses Jahr,
+sondern auch für das kommende zu decken.« Es war dies lediglich ein
+Resultat seiner getreuen und umsichtigen Verwaltung der rechtmäßigen
+Einkünfte, hauptsächlich des Elfenbeinmonopols. Ein schönerer Erfolg
+aber war der, daß trotz seiner Strenge gegen die Araber, oder vielmehr
+gerade wegen dieser Strenge, die Schwarzen landauf landab angefangen
+hatten, in ihm ihren einzigen Helfer gegen die Unterdrücker zu
+erblicken. Er hatte ihr Vertrauen gewonnen, so unmöglich es anfangs
+schien.</p>
+
+<p>Der Hauptplan für das Jahr 1875 war die Verbindung Gondokoros mit
+dem südlicheren Foweira, die durch eine Reihe von befestigten, je
+eine Tagereise von einander entfernten Stationen hergestellt werden
+sollte. Foweira konnte zur Zeit nur durch eine beschwerliche, sechs
+Monate in Anspruch nehmende Reise erreicht werden und eine Karawane
+mußte mindestens hundert Mann stark sein. Später waren zehn Mann
+ausreichend, um den Weg in Sicherheit zurückzulegen, und statt der
+Monate genügten Wochen. Außerdem hoffte Gordon, den Äquatorbezirk von
+einer neuen Richtung her zugänglich zu machen, hatte er doch selbst
+die Schwierigkeiten der Verbindung mit Ägypten über Khartum reichlich
+erfahren. Nach seinem Plan sollte die Mombasbay am indischen Ozean zur
+Kopfstation werden, von wo aus eine Karawanenstraße durch Mtesas Land
+an die großen Seen führen sollte. Dem Khedive war der Vorschlag nicht
+unwillkommen, denn es stand mit auf seinem Programm, die ägyptische
+Flagge auf dem Albert Njansa wehen zu lassen. Es wurde auch ein Anfang
+gemacht,<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> nämlich ein Pascha entsandt, um den Plan zu verwirklichen;
+zur Ausführung kam er aber nicht.</p>
+
+<p>Gordons nächste Briefe erzählen von einem König und einem Häuptling,
+die ihm zu schaffen machten. Von Foweira war Nachricht gekommen,
+daß Kaba Rega, der König von Unyoro, sich mit den Sklavenhändlern
+verbündet hatte und einen Überfall auf jene Stadt beabsichtigte.
+Er beschloß diesen Kaba Rega seines »Stuhls«<a id="FNAnker_9" href="#Fussnote_9" class="fnanchor">[9]</a> zu entsetzen, und
+einen gewissen Rionga zum König zu machen; es war dies aber schon
+der Entfernung wegen leichter geplant als ausgeführt und blieb
+einstweilen ein Vorhaben. Der unruhige Häuptling, Scheik Bidden, war
+näher bei der Hand; diesem hatte Gordon im Herbst einen Boten mit
+Geschenken zugeschickt. Den nächsten Boten werde er umbringen, hatte
+der schwarze Machthaber zurückmelden lassen. Bidden beherrschte einen
+Distrikt in der Nähe von Rigaf, und Gordon sah, daß er nicht weit
+würde vordringen können, ehe er sich Bidden botmäßig gemacht hätte,
+der überdies ganz kürzlich einen dem Statthalter freundlich gesinnten
+Häuptling überfallen hatte. Das einzige Mittel, ihn Respekt zu lehren,
+bestand darin, ihm sein Vieh abzujagen. Gordon beschreibt diese Razzia
+folgendermaßen:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich ließ sechzig Mann auf der Ostseite des Flusses vordringen
+und hundert Mann auf der Westseite, während ich selbst mit einem
+Offizier und zehn Mann ein Boot bestieg in der Absicht, nach den
+Inseln zu rudern, wo die Umzäunungen für das Vieh sich befanden. Um
+zehn Uhr abends stießen wir ab, es war eine wunderschöne Mondnacht.
+Die Entfernung bis zu Biddens Inseln betrug etwa fünf Wegstunden;
+und dort fangen die Stromschnellen an. Nach einiger Zeit geriet das
+Boot in eine Untiefe und mußte zurückbleiben. Der Offizier mit acht
+Soldaten marschierte voraus, mich zurücklassend ... Wir waren nicht
+weit von einer der Inseln und man<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> konnte Stimmen unterscheiden. Ich
+war allein mit nur zwei Mann und einem Dolmetscher! Wir gingen eine
+Strecke weiter und setzten uns dann nieder ...«</p>
+</div>
+
+<p>Sowohl die westliche als östliche Abteilung seiner Leute sollte hier
+mit ihm zusammenstoßen; die sudanische Mannschaft war aber nicht sehr
+zuverlässig. Es war vier Uhr, und in weniger als zwei Stunden mußte
+es tagen. Gordon sagt, militärisch sei die Lage eine ganz schlimme
+gewesen, aber sie war nicht zu ändern. Er legte sich daher ruhig hin
+und schlief eine Weile; als er aufwachte, stand das Morgenrot am
+Himmel und man hörte eine Trommel, das Signal zum Melken.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Das Vieh ist nur nachts in der Umzäunung; diese hat einen einzigen
+Eingang, und die Krieger schlafen in der Mitte. Für den Angriff
+empfiehlt sich folgende Methode; man postiert ein paar Mann am
+Eingange, die bei Tagesanbruch, ehe die Herde hinausgetrieben wird,
+mit drei Schüssen ein Zeichen geben. Wartete man, bis das Vieh im
+Freien ist, so kriegte man nicht leicht ein Stück. Die Helden von
+Herdenwächtern suchen das Weite, sobald sie schießen hören, geben
+aber den Alarm mit der Kriegstrommel, wenn die Flucht keine zu eilige
+ist. Die Umzäunung zu verteidigen, fällt ihnen nicht ein; und es
+ist immer am besten, sie laufen zu lassen, denn die Kühe sind die
+Hauptsache. Während ich also die rote Glut im Osten aufsteigen sah,
+ertönten uns gegenüber drei Signalschüsse, und alsbald wirbelte die
+Trommel. Es war aber ein schwacher Wirbel, und die anderen Trommeln
+schwiegen dazu ... Nach einiger Zeit erschienen unsere Verbündeten,
+der Scheik und seine Leute. Biddens Krieger, meldeten diese, hielten
+stand inmitten ihrer Kühe und schossen ihre Pfeile ab. Bald aber
+liefen sie doch davon, und die Herde war gewonnen. Ich entschädigte
+den Scheik mit dem, was keineswegs unser Eigentum war« ...</p>
+</div>
+
+<p>Die andere Abteilung hatte ähnlichen Erfolg, und so wurde der
+widerspenstige Bidden ohne Blutvergießen oder Dorfverbrennen durch
+einen Verlust von zweitausendsechshundert Stück Vieh gezüchtigt.</p>
+
+<p>Etwa vierzehn Tage später machte Gordon einen Ausritt und, auf einen
+Trupp Eingeborner stoßend, fragte er sie, ob sie Biddens Leute wären.
+Da wiesen sie auf einen alten Mann, der<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> unter einem Baume saß, und
+sagten bedeutungsvoll: »Bidden!« Der gefürchtete Scheik war ein
+blinder Greis! Gordon ging sofort auf ihn zu und schenkte ihm seine
+Pfeife (übrigens ein Blas-, kein Rauchwerkzeug) und eine Portion
+Tabak. Das freute den Alten, und er versprach dem Gouverneur einen
+freundschaftlichen Gegenbesuch. Als er sich einfand, gab Gordon
+ihm eine Anzahl seiner Kühe zurück, welche Großmut den günstigsten
+Eindruck auf die Stämme machte. Bidden, der Greis, war indessen nur
+dem Namen nach Scheik; der wirkliche Machthaber war sein Sohn.</p>
+
+<p>Seine Arbeit während der nächsten Monate faßt Gordon so zusammen:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Um es kurz zu sagen, ist's wenig genug — an einem Fluß hin
+befestigte Stationen errichten und Bote durchzwingen, wo die
+Schifffahrt fast unmöglich ist — das ist so ziemlich alles, und die
+Mühe ist größer als der Erfolg.«</p>
+</div>
+
+<p>Aber ob es auch wenig scheint, so weiß Gordon doch, daß durch
+anscheinend geringe Dinge oft Großes erreicht wird. Zwar weiß er
+nicht, daß er in der Vorbereitung auf Größeres steht, aber im Glauben,
+daß Gott ihn an jenen Posten gestellt hat, dringt er vorwärts, und als
+sein Motto für diese Zeit kann das Wort des Predigers gelten: »Alles,
+was dir zu thun vorkommt, das thue frisch!« Der Held von China, der
+Mann von Gravesend, thut überall sein Bestes, mag die übernommene
+Arbeit äußerlich eine glanzvolle sein oder nicht.</p>
+
+<p>Die Nilbarken, »Nuggers« genannt, durch die Stromschnellen und
+zwischen Felsen flußaufwärts zu bringen, scheint eine Riesenarbeit
+gewesen zu sein; er spricht von sechzig bis achtzig kohlschwarzen,
+atlashäutigen Eingebornen, die jedem Boot vorgespannt sind. Die Stämme
+sahen es erstaunt mit an und ließen ihre Zauberer das Wasser schlagen,
+teils freundlich, teils feindlich gesinnt. Und wenn die Lage oft eine
+verzweifelte zu sein schien, so war sie doch so, daß Gordon in seiner
+eigentümlichen Weise schreiben konnte:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich wußte mir selbst oft nur damit zu helfen, daß ich mir die
+Nuggers herbetete, wie einst die Truppen in China, wenn sie nicht mir
+nach in die Bresche wollten.«</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span></p>
+
+<p>Thatkraft und Glaube waren bei ihm eng verschwistert! Er hat in
+jenen Tagen und Wochen lange Briefe geschrieben, die eine Kette von
+Schwierigkeiten berichten, aber er bewältigte sie, und nacheinander
+wurden die Stationen Kirri, Muggi, Labore und Dufile erreicht. Ob der
+Khedive mit ihm zufrieden ist oder nicht, darnach fragt er nicht.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich danke Gott, daß ich's längst aufgegeben habe, mich um die Gunst
+oder Ungunst von Menschen zu kümmern. Ich kann ehrlich sagen, ich
+weiß keinen, der die Verbannung und Quälerei meines gegenwärtigen
+Lebens ertrüge ... Ich thue mein Bestes, soweit mein Verstand mir's
+zeigt, und suche gegen alle gerecht zu sein ... Was würde ich hier
+zurücklassen, wenn es Gottes Wille wäre, daß man mich zurückriefe —
+ein Zelt, Hitze bei Tag und feuchte Kälte bei Nacht, die geringste
+Nahrung, die sich denken läßt: trockenen Zwieback, gedörrtes Fleisch,
+etwas Maccaroni, das ist alles. Mit Tagesanbruch an die Arbeit
+und früh zu Bett (ich lege mich schon um sieben oder acht Uhr der
+Moskitos wegen, und wollte: sich legen hieße schlafen!) Nichts zu
+lesen, <em class="gesperrt">ein</em> Buch ausgenommen, und dieses nicht so oft als
+man wünschte, weil die Ruhe fehlt, die zu andächtiger Betrachtung
+der göttlichen Geheimnisse nötig ist; den lieben langen Tag nichts
+als Plackerei, an alles selbst denken, alles selbst thun, wenn's
+geschehen soll, das ist zur Zeit mein Leben ... Die arme Exzellenz
+ist der Hauptsklave.«</p>
+</div>
+
+<p>Und während der ganzen Zeit lassen seine von Khartum ihm folgenden
+Dampfer auf sich warten. Zuletzt kann er aber doch schreiben:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wie froh bin ich, daß die Verbindung hergestellt ist! Gestern kam
+ein Mann allein von Bidden her; vor einiger Zeit wagten die Leute nur
+zu zwanzig und dreißig den Weg. Die Schwarzen würden sich im hohen
+Gras versteckt haben und hätten den Hintermann angespießt. Jetzt
+sind sie ganz freundlich. Ein Bari in meinem Dienst hat dieser Tage
+ein Schaf gestohlen, und alsbald kamen die Beschädigten zu mir, um
+Recht und Gerechtigkeit zu erlangen, und sie kamen nicht umsonst.
+Ist das nicht schön? Auch unter meinen Leuten hat eine Veränderung
+stattgefunden; sie fürchten die Schwarzen nicht mehr wie früher,
+es herrscht ein besseres Einverständnis ... Die Stämme haben viel
+Verkehr miteinander, und auch solche, die uns nicht kennen, wissen es
+jetzt, daß sie uns nicht zu fürchten brauchen.«</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span></p>
+
+<p>Allerdings hatte er die Eingebornen auch von der feindlichen Seite
+kennen zu lernen, so z. B. schreibt er zwischen Muggi und Labore:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es herrscht große Aufregung auf der anderen Seite des Flusses; ein
+Scheik in einem roten Hemd mit zwanzig Bewaffneten läuft hin und her
+und Zauberfeuer sind zu sehen. Sonderbar, daß all dies Entsetzen
+dadurch hervorgerufen scheint, daß ich in einem Nachen überfuhr. So
+viel Vorstellung mußte der Anblick der Nuggers ihnen doch geben, daß
+wir überfahren können, wenn wir wollen ... Mein Fernglas zeigte mir
+eine Anzahl Eingeborne, die unter einem Baume saßen. Nach einiger
+Zeit stand einer auf und wandte sich gegen Norden, pflückte einige
+Kräuter und schwenkte sie fortwährend gegen unser Lager; darnach
+lief er südwärts und machte eine ähnliche Bewegung, als ob er Hilfe
+herbeiwinke. Ohne Zweifel war er ein Prophet, der Israel verfluchen
+sollte. Sie waren etwa dritthalbtausend Fuß von uns entfernt. Um
+ihnen ein bißchen Schrecken einzujagen, schoß ich eine Kugel so ab,
+daß sie etwa fünfzig Schritte zu ihrer Rechten in den Boden schlug.
+Da hörte das Zaubern sofort auf, und sie wunderten sich offenbar,
+dabei ertappt zu sein.«</p>
+</div>
+
+<p>Linant, der Bruder des in Gondokoro dem Fieber Erlegenen, kam um
+diese Zeit von einem Streifzug nach Makade zurück. Vorher war er bei
+Mtesa gewesen und hatte Stanley, den bekannten Afrikareisenden, dort
+getroffen. Gordon sollte nun abermals erfahren, was seine Araber
+wert waren. Er hatte an vierzig Mann über den Fluß geschickt, weil
+Nachricht eingetroffen war, daß einer der längst erwarteten Dampfer
+in einiger Entfernung fest säße. Kaum waren aber die Leute gelandet,
+als sie von einem Trupp Eingeborner, die sich im hohen Grase verborgen
+gehalten hatten, überfallen und zurückgeworfen wurden. Gordon fuhr
+alsbald selbst über und versuchte, durch seinen Dolmetscher eine
+Unterhandlung anzuknüpfen. Die Schwarzen wollten aber nichts davon
+wissen. Als den »Häuptling« glaubten sie ihn an seinem Schirm zu
+erkennen und suchten ihn zu umringen. Er ließ sie ruhig näher kommen
+und schickte dann eine Ladung Kugeln unter sie. Zu treffen waren sie
+übrigens nicht leicht, denn sobald sie den Feind schußfertig sahen,
+lagen sie auch schon auf dem Leib. Am folgenden Morgen schlug Linant
+vor, mit einem Teil<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> der Mannschaft überzusetzen und den Eingebornen
+ein paar Häuser in Brand zu stecken. Gordon gab es zu, denn es war zu
+fürchten, die kampflustigen Gesellen möchten den Dampfer überfallen.
+Er selbst blieb zurück. Gegen Mittag hörte er schießen und erblickte
+Linant, den er an seinem roten Hemd erkannte. Er konnte auch seine
+Mannschaft beobachten, es waren gegen vierzig Mann. Mit einemmale
+aber waren sie verschwunden, und sein Fernrohr zeigte ihm ungefähr
+dreißig Schwarze, die eiligst flußabwärts liefen. Er vermutete, sie
+suchten den Dampfer, und schickte einige Kugeln unter sie. Nach
+einiger Zeit erblickt er einen einzelnen Mann von seinen Leuten, der
+ohne Waffen daherkam; er sandte alsbald einen Nachen über den Fluß
+und ließ ihn holen. Die Eingebornen hätten ihn entwaffnet, erklärte
+er, und die andern wären alle tot. Gordon hatte nur noch dreißig Mann
+bei sich, und diese waren hilflos vor Angst. Trotzdem beschloß er zu
+handeln. Die Station war unbefestigt und es galt Weiber und Kinder
+in Sicherheit zu bringen; er mußte sich nach der nächsten Station
+durchschlagen. Dies ließen die Eingebornen ruhig geschehen, nur daß
+ihr Zauberer von einem Felsen herunterschrie: »Ha ha! ta ta a!« soviel
+als »Geschieht euch recht!« Gordon belehrte aber den Hexenmeister
+mit einer Kugel, daß es unklug sei, den Feind in Schußweite zu
+verwünschen. Leider stellte es sich heraus, daß nicht nur fast die
+ganze Mannschaft, sondern Linant selbst dem Überfall erlegen war; und
+zwar war dieser offenbar ein Opfer seines roten Hemdes geworden, das
+den Schwarzen als begehrenswerte Beute erschien. Er fiel zuerst, von
+seiner Mannschaft verlassen, die vor Schrecken zu schießen vergaß;
+und als einer dahin und ein anderer dorthin lief, wurden die meisten
+durchspeert. Gordon betrauerte Linant um so mehr, als er ihm das
+unselige Hemd selbst geschenkt hatte. Aber trotz des empfindlichen
+Verlustes kann er die Eingebornen nicht verdammen; er kann es
+vielmehr begreifen, wenn sie sagen: »Wir brauchen eure Glasperlen und
+euren Kattun nicht — laßt uns in Frieden.« Und er denkt daran, wie
+ernsthaft sie zauberten, ehe sie den Überfall wagten; er sagt sogar,
+er hätte eine Ahnung gehabt, daß der Sieg diesmal nicht auf seiner
+Seite sein würde.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es war ihnen offenbar ernst mit ihrem Beten,« schreibt er, »sie
+wußten, daß sie Hilfe nötig hatten, und wendeten sich an den
+unbekannten Gott. Denn wenn der Schwarze auch den wahren Gott nicht
+kennt, so kennt Gott doch ihn; und Gott ließ sie merken, daß sie
+beten müssen, und erhörte ihr Gebet. Rosse werden zum Streittag
+bereitet, aber der Sieg kommt vom Herrn.«</p>
+</div>
+
+<p>Trotzdem er aber so denkt, weiß er, daß die Schwarzen gezüchtigt
+werden müssen, was dadurch geschieht, daß er ihnen zweihundert Kühe
+und fünfzehnhundert Schafe entführt. Da auch des Häuptlings Tochter
+eingefangen wurde, ließ er dem Vater sagen, wenn er versprechen wolle,
+sich künftig ruhig zu verhalten, könne er sie wieder haben. Die
+Köpfe Linants und seiner Gefährten hatten die Schwarzen an Pfählen
+aufgesteckt, die Leiber aber aus Furcht vor Gespenstern begraben.
+Es blieb bei diesem einen Überfall, aber noch eine gute Strecke
+begleiteten sie Gordon in gehöriger Entfernung am Ufer hin; und mehr
+wie einmal konnte er »Balak und Bileam« auf den Anhöhen beobachten,
+wie sie ihm von Herzen alles Böse wünschten.</p>
+
+<p>Im September endlich wurde Dufile erreicht, wo der Nil in einem engen
+Thal zwischen Hügelreihen fließt; der Fluß, dessen Wassermassen an
+mehreren Stellen einem See gleichen, ist dort nur etwa hundert Fuß
+breit. <em class="gesperrt">Alles umsonst!</em> war Gordons erster Eindruck, als er nach
+unsäglichen Mühen so weit gekommen war. Es hieß: bis hierher und nicht
+weiter, die Folafälle waren die Grenze. Doch konnte er sich damit
+trösten, daß er die Schifffahrt wenigstens bis dahin als möglich
+nachgewiesen hatte, und die errichteten Stationen von bleibendem Wert
+waren. Nachdem er sich vierzehn Tage in Dufile aufgehalten hatte,
+das er als eine Insel in einem Meer von Riedgras beschreibt, zog er
+landeinwärts nach Faschelie, wo er eine Bande Sklavenjäger aushob.
+An diesem Ort erreichte ihn ein »kühler« Brief des Khedive. Gordon,
+den es ohnehin verlangte, eine Statthalterschaft niederzulegen, die
+ihn lediglich zum Entdeckungsreisenden machte, gab alsbald Befehl zu
+packen und schickte sich an, eine Depesche abzufertigen, die seine
+Rückkehr melden sollte. Als nach wenig Tagen aber ein Brief in anderer
+Tonart von Kairo den ersten zu vernichten<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> schien, hatte er nicht
+das Herz, sein Amt Knall und Fall niederzulegen. Dahin aber hatte er
+sich entschlossen, daß er es einem seiner Untergebenen überlassen
+wollte, zum erstenmal den <em class="gesperrt">Albert Njansa</em> zu befahren. Dieses
+Zurücktreten von der Ehre, die sein Werk krönte, ist so bezeichnend
+für den Mann, daß man ihn selbst darüber hören muß:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich wünsche einen Beweis zu liefern, wie wenig von den Lobhudeleien
+zu halten ist, die man dem Führer einer Expedition zollt. Hat nicht
+mein Schiffszimmermann das Seine gethan, daß wir die Nuggers so weit
+gebracht haben? Es ist keine Kunst den Njansa zu befahren, wenn
+die Boote zur Stelle sind. Es ist die Arbeit vieler und einer hat
+die Ehre. N. N. schrieb mir neulich und gratulierte mir zu meinen
+Lorbeeren. Da <em class="gesperrt">muß</em> ich ja zeigen, daß es nichts damit ist!«</p>
+</div>
+
+<p>Am letzten Tag des Jahres kann er schreiben:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Endlich ist der Dampfer in Sicht, d. h. die Lastträger, welche die
+einzelnen Teile daherschleppen. Die Arbeit war eine entsetzliche, und
+das ganze Jahr ist eine Last gewesen, die manch sauren Schweißtropfen
+gekostet hat.«</p>
+</div>
+
+<p>Und Gordon erklärt seiner Schwester, die schönste Entdeckungsreise,
+die er sich noch denken könne, wäre der Rückweg in die Heimat.</p>
+
+<p>Ein Ergebnis seines Fleißes in jener Zeit sind seine Nilkarten.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wir haben den Fluß (im halben Zollmaßstab per Meile) von Khartum bis
+Dufile und wieder von Foweira bis Mruli, und ich hoffe, entweder ich
+oder einer meiner Offiziere wird die Strecke von Dufile bis zu den
+Murchisonfällen auch noch aufs Papier bringen.«</p>
+</div>
+
+<p>Somit blieben drei Lücken: 1) von Kositza nach Mruli, 2) von Foweira
+nach den Murchisonfällen und 3) der Albertsee. Trotz seinem Vorhaben,
+nicht selbst den See zu befahren, füllte er diese Lücken noch aus. Die
+Folafälle bei Dufile, wo der Fluß etwa eine Stunde lang durch tiefe
+Schluchten sich stürzt, sind die einzige Strecke des ganzen Nils, die
+er nicht zu durchschiffen vermochte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span></p>
+
+<figure class="figcenter illowp46" id="p115_map" style="max-width: 56.25em;">
+ <img class="w100" src="images/p115_map.jpg" alt="">
+</figure>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span></p>
+
+<p>Ende Januar 1876 erreichte er Fatiko und Foweira im Lande Unyoro;
+dort hörte er, daß Kaba Rega mitsamt seinem Sessel sich nach Massindi
+davongemacht hatte. Foweira wurde nach einem</p>
+
+<p>fünftägigen Marsche durch dornenbewachsenes Land erreicht. Von dort
+ging er nach Mruli, um dann nach Urondogani vorzudringen. Die kurze
+Strecke von diesem Ort bis zum Viktoriasee ist das »einzige Stückchen«
+Nil, das Gordon schließlich nicht selbst bereiste.</p>
+
+<p>Im Februar traf er mit seinem Unterbefehlshaber Gessi in Dufile
+zusammen. Letzterer machte sich von dort mit zwei Booten nach den Seen
+auf den Weg. Er umschiffte den Albert Njansa in neun Tagen und fand
+ihn etwa zweihundert Kilometer lang und achtzig breit. Durch einen
+Sturm wurde er an eine Insel verschlagen, die voll von Kaba Regas
+Truppen war; diese weigerten sich aber mit seinen Leuten anzubinden,
+weil sie den weißen Mann für einen Teufel hielten. Gessi errichtete
+des Khedive Flagge am See, und die Stämme ergaben sich nacheinander.
+Die Schwarzen in jener Gegend waren gekleidet, während in den vorher
+durchreisten Nilstrecken die Menschen nackt gingen.</p>
+
+<p>Die nächsten Monate bis zum August waren für Gordon eine Zeit
+verhältnismäßiger Ruhe; er reiste zwischen den gewonnenen Stationen
+hin und her, und seine Briefe bezeugen es, daß seine Gedanken in
+stillen Tagen sich am liebsten den ewigen Dingen zuwenden.</p>
+
+<p>Im September war er wieder auf dem Marsche nach Massindi. Kaba Rega
+hatte die meisten seiner Anhänger verloren, während Rionga und ein
+anderer Häuptling sich um die Herrschaft stritten. Längere Zeit vorher
+hatte Gordon Mannschaft nach Massindi abgefertigt und aus erhaltener
+Botschaft konnte er nur schließen, daß dieser Ort von den betreffenden
+Truppen besetzt sei. Als er aber in die Nähe kam, fand er, daß seine
+Araber ihn betrogen hatten und nie dort waren, obschon der Anführer
+seine Meldungen von dorther datierte. Er selbst kam mit einer kleinen
+Anzahl und geriet durch diesen Verrat der nichtswürdigen Mannschaft
+förmlich in eine Falle.</p>
+
+<p>Die Stämme lauerten ihm von allen Seiten her auf.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich danke Gott nicht nur mit Worten, sondern aus tiefster Seele,«
+schrieb er, »daß er uns glücklich durchbrachte.«</p>
+</div>
+
+<p>Er hatte nicht hundert Leute bei sich, und von diesen war ein Drittel
+kaum sechzehnjährig. Die Mannschaft, die er nach seinem<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> Befehl in
+Massindi wähnte, lag die ganze Zeit auf der faulen Haut in Keroto,
+eine Tagereise davon entfernt. Als er hinkam, brach er in einen
+»wütenden« Zorn aus, dann aber beruhigte er sich.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Als einer, dem selbst Erbarmung widerfahren ist, konnte ich nur
+Gnade vor Recht ergehen lassen,« sagte er. »Sie sind ein erbärmliches
+Volk, was kann man von ihnen erwarten!«</p>
+</div>
+
+<p>Während der nächsten Wochen errichtete er noch verschiedene Stationen,
+von welchen aus der ägyptische Einfluß sich geltend machen sollte. Es
+blieb den Besatzungen überlassen, den Kaba Rega in Ordnung zu halten.</p>
+
+<p>Die drei Jahre seiner persönlichen Statthalterschaft am Äquator waren
+eine Zeit der Pionierarbeit und der Vorbereitung für weitere drei
+Jahre, die nun folgten. Er sollte erst zu dem Kampf gestählt werden,
+der ihm bevorstand. Nur durch innerliches Wachstum geht ein Mann wie
+Gordon »von Kraft zu Kraft«.</p>
+
+<p>Am 29. Oktober schrieb er von Khartum aus: »Es giebt englische Spatzen
+hier; was für eine Freude, sie zu sehen!« Anfangs Dezember war er in
+Kairo, und am heiligen Abend des Jahres 1876 begrüßten ihn die Seinen
+in der Heimat.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h2 id="Fuenftes_Buch">Fünftes Buch.<br>
+<span class="s5"><b>Der General-Gouverneur des Sudan.</b></span></h2>
+</div>
+
+<h3>1. Als Ritter ohne Furcht.</h3>
+
+<p>»Man wirft mir vor, den Engländern nicht zu trauen,« sagte der
+alte Khedive Ismail, als es sich um seine Absetzung handelte,
+»habe ich nicht noch immer dem Gordon Pascha vertraut? Der ist ein
+ehrlicher Mann, ein guter Landverwalter und kein Diplomat!« Ismail
+war darum auch keineswegs damit einverstanden, einen so tüchtigen
+Mann zu verlieren. Gordon aber hatte erklärt, daß er nur dann
+zurückkehren werde, wenn ihm die gesamte Statthalterschaft der
+Sudanländer übertragen würde. Seine drei Jahre am Äquator waren
+ja keineswegs verlorene Zeit gewesen, er hatte<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> die Sklavenjagd
+in seinem Bezirk geschwächt, wenn nicht unterdrückt, aber von der
+Hauptstadt Khartum aus hatte der General-Gouverneur Ismail Jakub
+Pascha seinen Bestrebungen stets entgegengearbeitet. Er mußte in
+Zukunft ganz freie Hand haben. Daß man ihm so weit entgegenkommen
+werde, erwartete er keineswegs, als er sich zu einer Besprechung
+nach Kairo begab; der Khedive aber war zu allem bereit. Jakub wurde
+beseitigt, und Gordon verließ die Residenz als Oberstatthalter einer
+von Südägypten bis zum Äquator, und vom Roten Meer bis Darfur sich
+erstreckenden Provinz. Er sollte drei Vakile oder Unterstatthalter
+haben, einen im eigentlichen Sudan, einen in Darfur, und einen am
+Roten Meere. Als die beiden Hauptzwecke seiner Verwaltung war »die
+Vervollkommnung der Verkehrsmittel und eine völlige Unterdrückung
+des Sklavenhandels« in Aussicht genommen. Außerdem hieß es im neuen
+königlichen Bestallungsschreiben: »An der abessinischen Grenze giebt
+es Streitigkeiten; ich trage Ihnen auf, dieselben zu schlichten«.</p>
+
+<p>Am 18. Februar 1877 machte sich Gordon zum zweitenmal nach dem Sudan
+auf den Weg, nicht auf sich selbst vertrauend, wohl aber stark in der
+Kraft seines Herrn.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich ziehe allein hinauf mit dem allmächtigen Gott, der mich führen
+und leiten wird; wie gut ist's, sich so völlig auf Ihn zu verlassen
+und nichts zu fürchten, ja und des Gelingens gewiß zu sein!«</p>
+</div>
+
+<p>Nach des Khedive Erklärung gab es Grenzstreitigkeiten mit
+<em class="gesperrt">Abessinien</em>. Die Lage war kurz die: nach König Theodors Tod
+hatte ein gewisser Kasa, unter dem Namen Johannes, sich zum Herrscher
+aufgeworfen, allein Johannes war, wie Gordon treffend bemerkte, nur
+da König, wo er sich gerade befand, anderwärts galt er nichts. Im
+Trüben fischend hatten die Ägypter darauf Bogos annektiert, während
+der rechtmäßige Regent, Walad el Michael, von Johannes gefangen
+gehalten, aber aus Furcht vor dem allzunah heranrückenden Nachbar
+unter der Bedingung freigelassen wurde, daß auch er sich gegen den
+gemeinsamen Feind zur Wehre setzen werde. Die Abessinier hatten
+zuerst die Oberhand. Walad aber ersah seine Gelegenheit, den Ägyptern
+sich anzuschließen<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> und andere abessinische Häuptlinge aufzuwiegeln.
+Als nun Johannes sich von Anarchie umgeben sah, schickte er einen
+Gesandten nach Kairo und bot das südlich von Bogos gelegene Hamasen
+als Friedensopfer an. In Kairo aber nahm man gar keine Notiz von
+diesem Botschafter, ja man gestattete dem Pöbel, ihn auf offener
+Straße zu beleidigen, dann schickte man ihn zurück! Natürlich war
+Johannes voll Ingrimm, und im Bewußtsein, nicht zum besten gehandelt
+zu haben, sandte der Khedive nun Gordon als Bevollmächtigten, die
+Mißhelligkeiten beizulegen.</p>
+
+<p>In der Wüste zwischen Massaua am Roten Meer und Keren (Senheit)
+spricht sich Gordon über seine Lage so aus:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Nun ich wieder in dieser weiten Einsamkeit auf meinem Kamel
+bin, überdenke ich meine Lage. Dem Johannes habe ich annehmbare
+Bedingungen geschickt und hoffe, mit seinem einflußreichen General
+Alula in Senheit zusammenzutreffen. Gelingt es mir, die Sache
+abzuwickeln, dann gehe ich alsbald nach Khartum und von dort nach
+kurzem Aufenthalt nach Darfur, das in Aufruhr sein soll, doch glaube
+ich das nicht recht ... Die Wohlgeneigtheit des Khedive ist über
+alle Begriffe. Er hat Zeila, Berbera und Harrar meiner Provinz
+beigefügt. »Was du wirst von mir bitten, will ich dir geben, bis
+an die Hälfte meines Königreichs.« Was aber ist die Kehrseite? Das
+Opfer eines Lebens, das man erst selbst durchkämpfen muß. Sein Leben
+zu sofortigem Tod hingeben, ist nicht das schwerste! Aber ich habe
+den Kampf übernommen und will mein Leben nicht in Anschlag bringen.
+Und es ist mir dabei, als ob ich mit dem Khedive nichts mehr zu
+thun hätte. Gott der Herr muß den Kampf selbst unternehmen, ich
+bin zur Zeit sein Werkzeug. Die Ehre, die der Khedive mir erzeigt,
+hat mich gar nicht, oder richtiger nur sehr wenig bewegt; ich bin
+doch wohl ein bißchen stolz auf das Vertrauen, das er mir schenkt.
+Mancher möchte die große Verantwortung scheuen, aus Furcht, ihr nicht
+gewachsen zu sein; ich habe nicht daran gedacht. Ich weiß gewiß, daß
+mir's gelingen wird, denn ich verlasse mich nicht auf meinen Verstand
+— Er leitet meine Wege. Sind doch alle zukünftigen Ereignisse für
+einen jeden von uns vorherbestimmt. Des Negers, des Arabers, des
+Beduinen Laufbahn, ihr Zusammentreffen mit mir u. s. w. ist längst
+beschlossen. Wie kann da einer sich viel darauf einbilden, wenn er
+etwas zu stande bringt!« ...</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span></p>
+
+<p>Er hatte eine Zusammenkunft mit Walad, und kam durch Alula zu einem
+Einverständnis mit Johannes, der mittlerweile von Menelek, dem König
+von Schoa, im Süden bedrängt war; eigentliche Erfolge konnte er aber
+nicht abwarten. Seine Anwesenheit in Khartum war dringend notwendig,
+denn die Sklavenjäger im Sudan thaten ihr möglichstes, die noch
+verstattete Frist auszunützen. Er beeilte sich daher. Schon auf dem
+Wege verschaffte er den Leuten Recht, wo er konnte. Die Thatsache,
+daß der neue Gouverneur einen jeden anhöre, der etwas zu klagen habe,
+ging wie ein Lauffeuer durchs Land. Er mußte zuletzt einen wandernden
+Briefkasten einführen, in welchen die Bittsteller ihr Anliegen an ihn
+sozusagen zur Post geben konnten. Auch das Unangenehme der Würde eines
+»großen Herrn« erfuhr er.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wenn ich absteigen will, so sind gleich acht oder zehn Mann bei der
+Hand, mich vom Kamel zu heben, als ob ich ein Todkranker wäre. Und
+wenn ich eine Zeit lang zu Fuß gehen möchte, so steigt die ganze
+Karawane ab; dann werde ich ärgerlich und sitze wieder auf!«</p>
+</div>
+
+<p>In <em class="gesperrt">Khartum</em> wurde er gleich einem Könige mit Kanonenschüssen
+empfangen und eine feierliche Installierung fand statt. Anstatt aber
+eine Thronrede zu halten, sagte er nur: »Mit Gottes Hilfe will ich
+die Waage gerecht halten!« und das gefiel den Leuten besser als die
+glänzendste Rede, war doch Gerechtigkeit das, was dem armen Lande am
+meisten not that. Nach der Feier ließ er Geld an die Armen austeilen:
+in drei Tagen hatte er an zwanzigtausend Mark aus seiner eigenen Kasse
+verschenkt.</p>
+
+<p>Als Stellvertreter des Khedive hatte er einen überaus stattlichen
+Palast mit einem Schwarm von Dienern, die ihn »hüteten wie einen
+Klumpen Gold«; das verdroß ihn. Auch hier war es den Leuten etwas
+ganz Neues, daß man den Statthalter sprechen konnte, ohne erst eine
+Menge von Schranzen zu bestechen. Bald war er so von Hilfesuchenden
+belagert, daß er auch hier einen Briefkasten einführen mußte, und
+zwar an seiner eigenen Hausthüre, wo jeder sein Begehren schriftlich
+einreichen konnte. Das erste, was er abschaffte, war die Peitsche
+(Karbatsche), mittels welcher seine Vorgänger regiert hatten.
+Gewaltherrschaft war nicht seine Sache. Übrigens war er nicht
+allgemein populär; sein Vorgänger<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> Ismail Jakub hatte Verwandte in
+Khartum, auch eine zornmütige Schwester, die zur Begrüßung des ihr
+verhaßten neuen Statthalters an den Fenstern des Regierungspalastes
+die Scheiben einschlug und in den Gemächern die Diwane durchlöcherte!
+Auch sein Vakil, Halid Pascha, war von Anfang an widerspenstig. Mit
+dem machte Gordon aber kurzen Prozeß, er telegraphierte nach Kairo und
+verlangte, daß er entfernt werde; der Wunsch wurde gewährt.</p>
+
+<p>Die Aufgabe, den Sklavenhandel in einem Lande zu unterdrücken,
+wo Menschenware seit Jahrhunderten als ein erlaubtes Mittel zum
+Reichwerden galt, war in der That eine große; Gordon weiß das und
+setzt hinzu:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wie Salomo bitte ich Gott um Weisheit, dies Land zu regieren; und
+nicht nur sie wird er mir geben, sondern alles übrige dazu. Und
+warum? Weil mir an dem übrigen nichts gelegen ist.«</p>
+</div>
+
+<p>Aber er weiß auch, daß er die Sache nicht übers Knie abbrechen
+läßt. Selbst Sklaven sind Besitz, der sich nicht ohne weiteres
+antasten läßt. Ihre Freiheit soll mit der Zeit gesichert werden,
+und mittlerweile sind's die Sklavenjäger, welche immer neue Zufuhr
+bringen, denen er Krieg auf Tod und Leben ankündigt, er, der eine
+Mann, kann man sagen, denn sein Militär ist fast wertlos. Sechstausend
+türkische Baschi-Bosuks, seine Grenzwächter, beschließt er abzudanken;
+denn er sieht, daß sie mit den Händlern unter <em class="gesperrt">einer</em> Decke
+stecken. Sechstausend Soldaten aber den Laufpaß geben, in einem Lande,
+wo sie sich alsbald wieder als Banditen zusammenrotten können —</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wer dürfte es wagen, der nicht den Allmächtigen auf seiner Seite
+hat? Ich will es thun, denn mein Leben achte ich für nichts, ich
+würde nur eine große Last mit der ewigen Ruhe vertauschen ... Ich
+bin an des Khedive Statt hier, mit unumschränkter Gewalt, und weiß
+es jetzt, wie machtlos er in Kairo dem Sklavenhandel gegenüber ist.
+Aber mit Gottes Hilfe will ich's vollbringen und habe das Bewußtsein,
+daß er mich dazu bestimmt hat ... Die Arbeit ist riesengroß, aber das
+ficht mich nicht an ... ich kenne meine Schwäche und verlasse mich
+auf Den, der stark ist. Ich kann nur gradaus meinen Weg gehen, den
+Erfolg überlasse ich Ihm ... Es<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> ist in der That eine Riesenprovinz,
+die ich zu verwalten habe; wie froh bin ich zu wissen, daß Gott
+der Herr Verwalter ist; es ist sein Geschäft, nicht meines. Wenn
+ich unterliege, so ist's sein Wille; gelingt es mir, so gebührt
+Ihm die Ehre. Jedenfalls hat Er mir's gegeben, die Ehre der Welt
+für nichts zu achten, und die Gemeinschaft mit Ihm über alle Dinge
+hochzuschätzen. Möge mir alles mißlingen und ich in den Staub
+gedemütigt werden, wenn nur Er verherrlicht wird. Die hohe Stellung,
+die ich bekleide, will mich manchmal drücken, und ich kann mich nach
+der Zeit sehnen, wo Er mich beiseite legen wird und einen andern Wurm
+dies Werk thun läßt. Ich wollte, die Kampfhitze meines Lebens wäre
+vorüber; aber Er hält mich aufrecht und wird mich davor bewahren, je
+wieder an Irdisches mein Herz zu hängen.«</p>
+</div>
+
+<p>Wer so denkt, wie kann der anders als große Thaten thun! Ein an Gott
+sich haltender Mensch ist immer ein Held.</p>
+
+<p>Wir haben Gordon den Ritter ohne Furcht genannt. Wie ein Recke in
+den alten Heldensagen zieht er aus, mit dem starken Arm seines
+Gottvertrauens ein Beschützer seiner Herde zu werden, und das Los der
+Armen in diesem traurigen Land zu mildern. Eine Armee hat er nicht, er
+muß sie sich erst schaffen, und zwar aus erbärmlichem Material, und
+einen Hauptsieg erringt er, wie wir sehen werden, ohne Armee. Er soll
+die Bahr el Ghasal der Macht Sebehrs, des schwarzen Pascha, entreißen;
+er soll einem Lande Frieden bringen und ehrlichen Handel einführen, wo
+die Menschen durch Unterdrückung fast vertiert sind und die Religion
+in Fanatismus besteht.</p>
+
+<p>Er war noch keine drei Wochen in Khartum, da konnte er bereits seiner
+Schwester schreiben:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich glaube, die Leute haben mich gern; es ist auch schön, daß, wo
+früher täglich zehn bis fünfzehn Menschen durchgepeitscht wurden,
+jetzt dies nicht bei einem mehr vorkommt.«</p>
+</div>
+
+<p>Damit ist nicht gesagt, daß er nicht strenge Ordnung hielt und Herr
+war im Amt. Die erste äußere Wohlthat, die er der Stadt erwies, war
+die Errichtung einer Wasserleitung; vorher mußte das Wasser aus
+dem Fluß herauf getragen werden. Dabei geriet er mit katholischen
+Missionaren in Konflikt, die flüchtigen Sklaven Versteck gewährten.
+Als Gordon ihnen sagte, er brauche<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> dieselben zur Arbeit, begegneten
+sie ihm mit Anmaßung. Da schrieb er einen Brief an den Papst mit
+der Bitte, dieser möge seinen Dienern begreiflich machen, daß
+Angelegenheiten der vizeköniglichen Regierung außerhalb ihres
+Bereiches lägen. Als der Brief fort war, sagte er den Missionaren, er
+habe nach Rom geschrieben, was sie zwar aufbrachte, die gewünschte
+Wirkung aber nicht verfehlte.</p>
+
+<p>Ende Mai verließ er Khartum. Es war der Anfang eines fünfmonatlichen
+Kamelrittes. Seine Anwesenheit in Darfur war dringend notwendig.
+<em class="gesperrt">Darfur</em> hat eine in die graue Vorzeit zurückreichende
+Geschichte. Es gab längst Sultane von Darfur, ehe es Kurfürsten
+von Brandenburg gab. Auch einen alten Handel hat das Land —
+Sklavenhandel. Jetzt aber war Darfur in Aufruhr, und die ägyptischen
+Besatzungen der Städte Fascher, Darra, Kolkol u. a. von den Rebellen
+eingeschlossen. Eine Heeresabteilung war schon im März nach Fascher
+geschickt worden, von Erfolgen hatte aber noch nichts verlautet.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich rechne darauf, im Lauf dieses Jahres meine achttausend Kilometer
+zu reiten,« schreibt Gordon. »Ich bin ganz allein, und das ist mir
+lieb. Ich bin ein Fatalist geworden, wie die Leute es nennen; d. h.
+ich überlasse es dem lieben Gott mir durchzuhelfen. <em class="gesperrt">Die großartige
+Einsamkeit der Wüste läßt einen fühlen, wie schwach der Mensch ist.
+Alles Gott anheimzustellen giebt allein Kraft</em>, und ich kann den
+Tod als eine Erlösung erwarten, wenn es sein Wille ist. In meiner
+gegenwärtigen Lage, auf manch langem, heißem Ritt kann ich meine
+Gedanken um so besser ausdenken, weil ich allein bin. Ich gewöhne
+mich nach und nach ans Kamel, es ist ein wunderbares Tier, das weich
+und still geht wie auf Teppichen, recht angenehm.«</p>
+</div>
+
+<p>Natürlich folgte ihm die statthalterliche Leibgarde von zweihundert
+Berittenen. Sein Kamel, ein besonders schnelllaufendes Tier, trug ihn
+aber öfters weit voraus, so z. B. ganz gegen seinen Willen wie im
+Sturmlauf in die Grenzstadt Fodja, was ihn auf die Vermutung bringt,
+daß die Kamele und die Gordons als eigensinnige Geschöpfe verwandter
+Rasse sein möchten.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich habe ein prächtiges Tier, so giebt's keines mehr; es fliegt nur
+so dahin, selbst zur Verwunderung der Araber. Wie ein Blitz<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> fuhr
+ich in die Stadt hinein, und ehe die Besatzung sich recht besinnen
+konnte, wie ich zu empfangen sei, war ich da. Nur ein Araber hatte
+Schritt mit mir gehalten, und der sagte, es wäre der Telegraph! Die
+andern kamen anderthalb Stunden später.«</p>
+</div>
+
+<p>Gordon hatte im Gedanken an einen der Erwartung der Leute
+entsprechenden Einzug seine Marschallsuniform angelegt.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Welch tolles Bild,« ruft er scherzend aus, »wenn die goldbetreßte
+Exzellenz so im Sturm anlangt, als wären alle Feinde hinter ihr her!
+Der Mudir war sprachlos!«</p>
+</div>
+
+<p>Das Land nennt er eine elende, sandige, strauchbewachsene Wüste. Den
+Aufruhr schreibt er lediglich schlechter Verwaltung zu. Wo vorher
+<em class="gesperrt">ein</em> Mann den Weg nach Fascher allein zurücklegen konnte,
+genügten bei der jetzigen Unsicherheit kaum zweitausend Mann Militär
+von der Art, wie es ihm zu Gebot stand. In Omschanga findet er die
+erste Nachricht von der Heeresabteilung vor, mit der er das Land
+erobern soll. Die Truppen lagen hier und dort zerstreut, alles in
+allem keine dreitausend Mann — Soldaten von der »unbeschreiblichen«
+Sorte, mit denen er schließlich auch nichts ausrichten konnte. Doch
+tröstet er sich.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich denke, <em class="gesperrt">Gott</em> wird mir's ermöglichen, die Stämme zu
+gewinnen, und mit <em class="gesperrt">seiner</em> Hilfe werde ich dann mit den
+Häuptlingen nach Fascher ziehen, die jetzt noch Rebellen sind.«</p>
+</div>
+
+<p>Wo in der ganzen Weltgeschichte findet sich ein ähnliches Beispiel,
+daß ein Feldherr auf seine Feinde rechnet, um mit ihnen Thaten zu
+thun! Bei ihm ist das von jeher so gewesen; es ist der Sieg des
+Rechts über das Unrecht, des Guten über das Böse. Und wie er in China
+öfters mit überwundenen Taipings die Taipings besiegte, so verläßt er
+sich mit seinem großartigen Vertrauen auch in Darfur auf die erst zu
+überwältigenden aufrührerischen Stämme.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Nichts giebt mir größere Kraft,« sagt er, »als für die Leute zu
+beten; und es ist wunderbar: <em class="gesperrt">wenn ich dann mit einem Häuptling
+zusammenkomme, für den ich vorher gebetet habe, so ist es immer,
+als ob er schon gewonnen wäre</em>. <em class="gesperrt">Darauf</em> gründe ich meine
+Hoffnung auf einen siegreichen Zug nach Fascher. Truppen habe ich
+lediglich keine, aber der Allerhöchste<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> geht mit mir, und ich
+verlasse mich so viel lieber auf Ihn allein. Solches Vertrauen könnte
+ich ja nicht haben, wenn er mir's nicht gäbe und mich nicht dazu
+ermutigte; ich erachte daher, daß gerade dieses Vertrauen eine Art
+Angeld auf Sieg ist.«</p>
+</div>
+
+<p>Und bezüglich seines Vorhabens, mit gewonnenen Rebellen nach Fascher
+zu ziehen, sagt er weiter:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Vielleicht läßt Er's auch nicht gelingen, und Kampf mag bevorstehen.
+Die Herzen der Menschen sind in seiner Hand, und er lenkt sie wie
+er will. Er <em class="gesperrt">kann</em> es aber thun, so es ihm wohlgefällt; und
+wer möchte etwas anderes wünschen, als daß er nach Seiner Weisheit
+alles leite. Die Gefahr für mich dabei ist die, daß es mich aufblasen
+möchte, so er's thut. Aber auch das kann und wird er verhindern.
+Ich mag meine Laufbahn überdenken wie ich will, so finde ich
+nirgends besonderen Verstand, oder Geschicklichkeit, oder Weisheit
+meinerseits. Meine Erfolge bisher waren eigentlich immer, was man
+im gewöhnlichen Leben Glücksschüsse nennt ... Ich bin nichts, gar
+nichts, als einer, der von Gott Almosen empfängt. Ein Sack voll Reis,
+den ein Kamel durch die Wüste schleppt, kann soviel vollbringen als
+ich oft meine, daß ich vollbringe. Aber wie verschieden urteilt die
+Welt!! Ich meinesteils danke Gott, daß Er mich als ein Werkzeug
+benutzt, und freue mich auf die vorbehaltene Ruhe. Und ich kann mich
+freuen mit seiner Freude, wenn den armen Menschen Hilfe wird — durch
+Ihn, nicht durch mich, obwohl Er sich meiner bedient.«</p>
+</div>
+
+<p>Und so zog er durch die Wüste als ein unverwundbarer Glaubensheld, der
+wie David mit seinem Gott über Mauern springt, der Völker besiegt und
+Städte einnimmt und dabei meint, er vollbringe gar nichts, das ihm
+selbst zur Ehre gereiche! Er war noch in Fodja, als ihn ein Telegramm
+erreichte: man brauche in Kairo sofort eine halbe Million Mark
+Einkünfte aus seiner Provinz! Über diese Erwartung seines irdischen
+Oberherrn schreibt er in die Heimat:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Soviel ist sicher, daß ich vor der Hand in einem Sumpfe bin mit
+dem Sudan, aber wenn ich bedenke, wer als mein Oberschatzmeister,
+mein Heerführer, mein Landverwalter im Regiment sitzt, so wäre
+es merkwürdig, wenn ich darin stecken bliebe. Ja, hätte ich den
+Allmächtigen nicht zur Seite mit seiner Weisheit, ich wüßte mir
+wahrlich keinen Rat!«</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span></p>
+
+<p>Dabei legt er aber nicht die Hände in den Schoß, sondern gürtet auch
+in dieser Hinsicht seine Lenden zu dem ungleichen Kampfe.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Mit unsäglicher Anstrengung kann es mir gelingen, in zwei bis drei
+Jahren aus diesem Lande eine ordentliche Provinz zu schaffen mit
+einer tüchtigen Armee und regelmäßigen Einkünften, mit hergestelltem
+Frieden und aufblühendem Handel, und vor allem mit unterdrückter
+Sklavenjagd; und dann — ja dann gehe ich heim und lege mich ins Bett
+und stehe nie auf bis Mittag, und marschiere nie mehr als höchstens
+eine Meile per Tag. Und esse Austern zu Mittag!«</p>
+</div>
+
+<p>Diese scherzenden Zeilen an seine Schwester beweisen nur, daß er eine
+fast unübersteigliche Arbeitslast vor sich sieht.</p>
+
+<p>Während er noch in Omschanga durch seine »Unbeschreiblichen«
+hingehalten war — keine geringe Geduldsprobe für den energischen Mann
+— hatte er Zeit, sich die endlose Schwierigkeit der Sklavenbefreiung
+weiter zu überdenken. Die Wüstenstrecken von Darfur und Kordofan
+sind von Beduinenstämmen durchzogen, von denen mancher mehrere
+tausend Krieger ins Feld stellen kann, die unter ihren kampfgeübten
+Scheiks keine verächtliche Macht bilden. Diese Stämme haben von jeher
+Streifzüge auf die Neger im Süden unternommen, oder sich Sklaven im
+Tauschhandel mit anderen Stämmen verschafft. Zu Gordons Zeit wurden
+die Sklaven selten in großen Karawanen, wohl aber von den Händlern in
+vielen kleinen Trupps durchs Land getrieben. So begegnete er eines
+Tages einem Manne, der sieben schwarze Weiber vor sich hertrieb und
+sie samt und sonders für seine Eheweiber ausgab; die Kinder, die
+nebenherliefen, nannte er seine Nachkommenschaft. Wer sollte ihm
+das widerlegen! Vor der Hand aber war's fast noch mehr das von den
+türkischen Grenzsoldaten übers Land gebrachte Elend, das Gordon
+Tag und Nacht beschäftigte. Und als die unterdrückten Landbewohner
+kamen und ihm demütig ihre Unterwerfung zu Füßen legten, sagte er
+ihnen, wie's ihm ums Herz war, daß sie vielmehr erwarten könnten,
+er, als Statthalter des Khedive, bäte sie um Verzeihung. Des Khedive
+Grenzwächter, die Baschi-Bosuks, dankte er seinem Vorhaben gemäß ab.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich habe mich auf einen Felsen gestellt und thue was recht ist, ohne
+mich um die Folgen zu kümmern ... Wenn Angestellte ihre Pflicht nicht
+thun, so besinne ich mich keinen Augenblick, sie ihrer Wege gehen zu
+heißen, mag man in Kairo denken was man will. Es ist jedenfalls ein
+großer Vorteil, ganz furchtlos zu sein. Und wenn ich selbst abgesetzt
+würde, so wäre es ja keine Strafe, denn ich opfere mein Leben in
+diesem Land.«</p>
+</div>
+
+<p>An vierzehn Tagen wartet er auf seine saumselige Mannschaft, ohne nur
+zu wissen, wo die Helden sind. Er nennt's ein trostloses Geschäft,
+und bei der furchtbaren Hitze in dem jammervollen Land ist's kein
+Wunder, wenn er ausruft: »Wollte Gott, ich wäre in der andern Welt!«
+Er meint, mehr als andere Menschen hätte er immer wieder durch die
+Mangelhaftigkeit seiner Streit- und Arbeitskräfte zu leiden; so sei's
+in China gewesen, und so sei's hier. Das unnötige Wartenmüssen ist es,
+was dem thatkräftigen Mann so schwer fällt.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Aber es ist nicht recht, es hat jeder sein Kreuz zu tragen. Wir
+sind alle Knechte; heute giebt der Herr uns Arbeit, und morgen will
+er, daß wir warten können. Dieses Hinliegen ist mir aber sehr gegen
+die Natur. Und ich kann auch gar nicht sehen, was in diesem Lande
+schließlich zu gewinnen ist!«</p>
+</div>
+
+<p>Endlich kamen fünfhundert seiner Helden. Fascher hatte er aber bereits
+auf seine Weise ohne Schwertstreich gewonnen; die Stämme hatten sich
+ihm einer nach dem andern ergeben. Nun machte er sich nach Tuescha
+auf den Weg, von wo er eine Garnison von dreihundert mitnehmen will.
+In Darra warten weitere zwölfhundert. Auf diese Art kann er ein Heer
+von zweitausend Mann zusammenbringen. Unterwegs findet er allerwärts
+Arbeit, das aufrührerische Banditenvolk aus seinen Schlupfwinkeln
+zu vertreiben. Zuletzt beabsichtigt er, sich auf Schekka zu werfen,
+das er die »Höhle von Adullam« nennt, wo Räuber und Mörder hausen,
+nämlich die Horden Sebehr Paschas, des großen Sklavenhändlers, unter
+dessen Sohn Soliman. Auch diesem gegenüber, der ihm mit elftausend
+Mann begegnen kann, rechnet er auf keinen andern, als einen
+<em class="gesperrt">innerlichen</em> Sieg.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich bin gar nicht unruhig,« schreibt er, »und hoffe, es wird ohne
+Blutvergießen abgehen.«</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span></p>
+
+<p>Ins Gefecht geriet er nun allerdings; aber nicht sowohl seinen Waffen,
+als seinem gewaltigen Geist und seiner demutstarken Seele wurde der
+Sieg.</p>
+
+<p>In Tuescha fand er die dreihundertfünfzig Mann Garnison, welchen
+seit drei Jahren kein Sold bezahlt worden, beinahe ausgehungert.
+Das war nicht sehr ermutigend, aber Gordon war dergleichen gewohnt.
+War's ihm doch gegeben, seine glänzendsten Thaten einem Chaos von
+Unmöglichkeiten abzugewinnen. Der Aberglaube der Chinesen erblickte
+in seiner Hand einen Zauberstab und nannte seine Erfolge Wunder. Wohl
+hatte er einen Zauberstab: es war derselbe, mit dem einst Moses aus
+dem Felsen Wasser schlug. Die Besatzung von Tuescha war in der That
+so erbärmlich, daß er beschloß, ihrer Beihilfe zu entbehren, sie nach
+Kordofan zu schicken und mit seinen ursprünglichen Fünfhundert samt
+ihren schlechten Steinschloßgewehren weiterzuziehen. Ein Scheik, der
+versprochen hatte zu ihm zu stoßen, ließ ihn im Stich, während die
+Umgegend voll von kampflustigen Schwarzen war, die recht gut wußten,
+daß der General-Gouverneur nur mit einer Handvoll Leute des Weges
+komme, und ihn ernstlich bedrohten. Aber zu einem Angriff kam es
+nicht. »Gottlob, die Gefahr ist vorüber,« kann er schreiben. Wie groß
+sie war, weiß er nicht einmal; aber das weiß er, daß nur wenige es
+begreifen können, was es heißt Truppen anführen, in die man keine Spur
+von Vertrauen setzt.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich habe von ganzer Seele um einen Ausweg gebetet; es gab mir
+ordentlich einen Stich ins Herz, wie damals, als ich mich bei
+Massindi (S. 116 f.) verraten fand. Nicht, daß ich den Tod fürchte,
+aber aus Kleinglauben fürchte ich die Folgen meines Todes; das ganze
+Land stünde wieder in Aufruhr. In solcher Lage zu sein, kommt einem
+wirklichen Schmerz gleich, es macht mich in einer Stunde um ein Jahr
+älter ... Auch ist es eine Demütigung. Aber gottlob! es ist vorüber
+... wohl sage ich mir, daß alles zum guten Ende führen wird, aber
+das macht dergleichen nicht weniger peinlich. Ich glaube, ich habe
+in dieser Hinsicht in meinem Leben mehr gelitten als die meisten
+Menschen. Heute morgen z. B. (nach der überstandenen Gefahr) kam mir
+ein Wild schußgerecht und ich ließ mir meine Flinte reichen. Der
+Kerl, der sie trug, hatte sie mittlerweile<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> zerbrochen; also hätte
+ich in einem Überfall nicht einmal meine Waffe gehabt!«</p>
+</div>
+
+<p>Die Charakterzeichnung Gordons wäre eine unvollständige, wenn man zu
+bemerken vergäße, wie er oft gerade in der schwierigsten Lage auch
+eine komische Lichtseite erblickte, deren er gerne Erwähnung that. So
+schließt der Brief, der von der vorübergegangenen Gefahr berichtet,
+mit folgenden Worten:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wir hatten auch dreißig oder vierzig Esel bei uns. Und wenn einer
+anfing, dann wußte ich, daß sie alle schreien mußten; es war
+ordentlich eine Wohlthat, den vierzigsten endlich zu hören. Da fing
+der erste die Reihe wieder an, und so ging's die Nacht durch! Der
+Darfur-Esel brummt aber nur ganz tief in der Tonleiter; die hohen
+Töne, die sein englischer Bruder aus frohem Herzen ausstößt, kennt er
+offenbar nicht.«</p>
+</div>
+
+<p>Als Gordon nach Darra kam, gab's auch dort Enttäuschung. Die
+Hilfstruppe, auf die er gerechnet hatte, war ihm entgegen gezogen und
+hatte den Weg verfehlt!</p>
+
+
+<h3>2. In der Räuberhöhle.</h3>
+
+<p>Die Leute von Darra waren nicht wenig erstaunt, den Generalgouverneur
+in ihrer Mitte zu erblicken; sie wußten sich seit einem halben Jahre
+von der Außenwelt abgeschnitten. Die Stämme umher waren im Aufstand;
+Harun, der als Anverwandter des gefallenen Sultans von Darfur die
+Herrschaft beanspruchte, bedrohte die Stadt, und in Schekka saß
+der Sohn Sebehrs mit sechstausend bewaffneten Sklaven. Gegen Harun
+schickte Gordon eine ziemlich starke Truppenabteilung, die auch
+ins Gefecht geriet und Beute machte, sonst aber keine Heldenthaten
+verrichtete. Ein Offizier war damit beauftragt, eine zweite Abteilung
+gegen die Stämme zu führen, und Gordon selbst blieb vorläufig in
+Darra, um den schlimmsten der Feinde, Soliman, im Auge zu behalten.
+Den Einwohnern der Stadt war seine Anwesenheit eine Schutzmauer,
+aber sie fanden auch sonst noch Ursache, derselben froh zu sein.
+So gab er ihnen z. B. ihre Moschee zurück, die von den Ägyptern in
+ein Pulvermagazin verwandelt worden war;<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> freute es ihn doch, wenn
+die Muselmänner Gottesdienst hielten, sofern sie es nur redlich
+meinten. Das Land weithin war nach dreijähriger Anarchie im Elend der
+Hungersnot. Er beschreibt die Kinder als »nur Bäuche mit Gliedmaßen
+wie Fühlfäden« — eine Folge des Grasessens.</p>
+
+<p>Um Solimans habhaft zu werden, tauchten verschiedene Vorschläge auf.
+Gordons schwarzer Schreiber z. B. ersann einen Plan, wie man ihn nach
+Darra locken könne, um ihn daselbst, sofern er sich nicht ergeben
+wolle, zu ermorden. Statt dieses »asiatischen« Einfalls, wie Gordon
+sich ausdrückt, kam ihm selbst ein anderer, wie nur <em class="gesperrt">seine</em>
+Großmut ihn ersinnen konnte: er wollte den Sohn Sebehrs durch
+Vertrauen entwaffnen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es ist mir der gute Gedanke gekommen, den Soliman zum Statthalter
+von Darra zu machen und ihn damit von dem Räubernest Schekka zu
+entfernen. Das wird ihn auch an fernerer Sklavenjagd hindern, denn
+seine sechstausend werden genug zu thun haben, das Land gegen die
+Stämme zu halten.«</p>
+</div>
+
+<p>Der Plan war nicht ausführbar; dennoch hoffte er Soliman ohne Waffen
+zu besiegen. Aus der »Höhle Adullam« erhielt er mittlerweile durch
+die Häuptlinge El Nur, Awad und Idris Kenntnis, die zwar Sebehrs
+Herrschaft anerkannten, sich aber die Regierung geneigt zu machen
+suchten, indem sie dem Statthalter verrieten, was dort vorging. So
+wußte er z. B., daß Soliman beständige Verbindung mit seinem Vater
+in Kairo unterhielt und daß der Aufruhr in Darfur aus Gehorsam gegen
+Sebehr ins Werk gesetzt wurde, als dieser seinen Anhängern sagen ließ,
+sie sollten »das jetzt ausführen, was unter dem Baum beschlossen
+worden sei.« Der schwarze Pascha regierte selbst als Gefangener noch
+das unglückliche Land.</p>
+
+<p>Ehe Sebehr nämlich mit seinen zwei Millionen »Bakschisch« (Trinkgeld)
+nach Kairo ging, um die Pascha zu bestechen, hatte er alle
+sklavenhandeltreibenden Häuptlinge seines Gebietes unter einem großen
+Baum an der Straße zwischen Schekka und Obeid versammelt und ihnen
+einen Eid auf den Koran abgenommen, daß sie sich allerorts gegen
+die Regierung erheben sollten, wenn er ihnen das Wort sende. Als
+nun Gordon nach seiner Arbeit<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> am Äquator die Statthalterschaft des
+Sudan übernahm und sich nach kurzem Aufenthalt in Khartum aufmachte,
+um die Sklavenhändler in ihrem bis jetzt sichersten Schlupfwinkel zu
+bekämpfen, wo die Bande sich um Soliman geschart hatte, da wußte der
+alte Menschenräuber, daß es damit seiner Hoffnung ans Leben ging, den
+Handel, von dem er seine Macht und seinen Reichtum hatte, je wieder
+zur alten Blüte zu bringen. So erging sein Mandat an die Raubgesellen
+in Schekka.</p>
+
+<p>El Nur und Idris hatten sich beide mit Hinterlegung einer Strafsumme
+aus Schekka fortgemacht. Von ihnen erfuhr Gordon, daß Soliman festsäße
+bis nach der Regenzeit und sich in seiner »Höhle« vor einem Überfall
+gesichert erachte. Daraus ergab sich indessen keine Ruhezeit für
+unseren Helden. Er war noch nicht vierzehn Tage in Darra, als er
+schrieb:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Heute haben sich sechshundert der Nazagats mit ihrem Scheik zu mir
+geflüchtet.«</p>
+</div>
+
+<p>Dieser Stamm hatte seinen Wohnsitz in der Nähe von Schekka und war
+einer der gewaltigsten im Land, der siebentausend Krieger ins Feld
+bringen konnte. Aber infolge der fortwährenden Plünderungen von
+Sebehrs Bande fingen sie an, sich zu Gordon zu schlagen; und er hörte,
+daß es nur der Anfang einer Einwanderung sei, indem noch andere Stämme
+ähnliches beabsichtigten. Sie konnten über Nacht kommen, denn »Gepäck
+haben sie keines und reiten wie der Blitz, ohne Bügel.« Der Vorteil
+einer solchen Verstärkung war aber ein zweifelhafter — wo Nahrung
+hernehmen für so viele in dem ausgeplünderten Land?</p>
+
+<p>Eine weitere Schwierigkeit, die sich ihm um diese Zeit darbot,
+verstattet einen Einblick in die Ratlosigkeit, die ihn angesichts des
+von ihm bekämpften Greuelwesens mehr wie einmal befiel. Eine seiner
+Streifkolonnen hatte ihm zweihundertundzehn Sklaven in die Stadt
+gebracht, ausgehungerte Menschen, die ihn so flehentlich anblickten,
+daß ihm die Augen übergingen. Was soll er mit ihnen anfangen? wem
+soll er sie überlassen? Selber behalten kann er sie nicht und füttern
+kann er sie auch nicht. Selbstverständlich läßt er ihnen für den
+Augenblick etwas Durra reichen, denn sie haben seit sechsunddreißig
+Stunden nichts gegessen. »Ich wollte<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> heute mein Leben hinlegen,« ruft
+er aus, »um das Elend dieser Menschen zu lindern; wie viel mehr muß
+Gott sich ihrer erbarmen!« Und immer mehr wird es ihm zur Klarheit,
+daß das Schwerste des von ihm unternommenen Kampfes nicht sowohl die
+Unterdrückung der Händler selbst sei, als die Versorgung der hilflosen
+Sklaven.</p>
+
+<p>Es ist ihm öfters zur Last gelegt worden, daß er selbst Sklaven, als
+solche, seinen Truppen einverleibe, ja sie gegebenenfalls sogar kaufe.
+Er, der sein Leben für nichts achtete in dem großen Kampf gegen das
+Unrecht, konnte es ruhig der Zeit überlassen, sein Thun ins rechte
+Licht zu setzen. Er braucht Truppen gegen die Sklavenhändler; woher
+soll er sie nehmen? Wenn er es unterläßt, Sklaven zu nehmen und
+ihre Eigentümer zu entschädigen, so gehören sie nach wie vor, d. h.
+vertragsmäßig noch zwölf Jahre lang ihren jeweiligen Herren. Sie mit
+Gewalt frei machen, hieß den Aufruhr verallgemeinern. Es schien ihm
+der beste Weg, die Banden bewaffneter Sklaven im Land möglichst unter
+seine Disziplin zu bringen. Das Urteil der Leute hatte ihn nie viel
+angefochten. Seiner Schwester formuliert er Anklage und Entschuldigung
+mit den kurzen Worten:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich möchte, daß Du es richtig verstehst — ›Oberst Gordon kauft
+Sklaven an von Regierungs wegen und läßt die Gellaba nach wie vor
+ihr Wesen treiben‹, heißt's in den Zeitungen. Ja, er thut's, denn
+nur mit Hilfe von Sklaven kann er die Sklavenhändler bekämpfen
+und die bewaffneten Banden unter sich bringen. Die Sklaven, die
+ich kaufe, sind längst ihrer Heimat entrissen, ich kann sie nicht
+zurückschicken, selbst wenn ich wollte. Es ist nicht, als ob ich dem
+Handel dadurch Vorschub leistete, nicht einmal indirekt, denn gerade
+dadurch gewinne ich ein Mittel, ihn zu unterdrücken.«</p>
+</div>
+
+<p>Die Gellaba — er nennt sie selbst Geier — sind die kleinen Händler,
+welche die Ware im einzelnen den Jägern abkaufen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wenn wir mit Rußland im Krieg sind,« sagt er, »benutzen wir diesen
+Zeitpunkt nicht, um in Indien Mißstände zu unterdrücken? Ich wäre
+tollkühn, wollte ich mir die kleinen Leute verfeinden, ehe ich mit
+den Hauptsündern fertig bin.«</p>
+</div>
+
+<p>Er weiß, daß in Schekka an viertausend Sklaven liegen, die ihm in die
+Hände fallen werden, sobald er jenes Nest aushebt.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Was soll ich mit ihnen anfangen, mit Weibern und Kindern? Ich
+kann sie nicht in ihre Heimat zurückschicken (weithin ins Innere
+von Afrika, selbst wenn er im einzelnen Fall immer wüßte, wo die
+Geraubten zu Hause sind!) ich kann sie nicht erhalten. Ich muß sie
+entweder den Stämmen überlassen, oder meinen Truppen, oder den
+kleinen Händlern. Ich habe keine andere Wahl. Wenn ich sie freigebe,
+so überlaufen sie das Land, und ein herrenloser Sklave ist wie ein
+verlorenes Schaf — das Eigentum dessen, der ihn findet. Ich muß
+suchen den Ausweg zu ergreifen, der für die armen Sklaven der beste
+ist. Was Europa dazu sagt, ist nicht die Hauptsache: es ist der
+Sklave, der leidet, nicht der Europäer. Das weiß ich wohl, daß wenn
+ich jene viertausend Sklaven den Stämmen oder den Gellaba, oder auch
+meinen Truppen überlasse, man in den nächsten Monaten um so viel mehr
+von Sklaventransport hören wird; aber dann ist wenigstens das damit
+gewonnen, daß die Ärmsten auf die beste Art ihre Bestimmung erreichen
+und nicht hier Hungers sterben.«</p>
+</div>
+
+<p>Als ihre Bestimmung kann man neben dem Orient überhaupt auch Ägypten
+betrachten, wo merkwürdigerweise der Ankauf von Sklaven auch dann noch
+gestattet war, als der Handel im Sudan unterdrückt werden sollte.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich könnte die Verantwortung von mir abwälzen, und die Sache sich
+selbst überlassen — das hieße die Sklaven dem sichern Elend und dem
+Hungerstod preisgeben. Soll ich ein solcher Feigling sein, aus Furcht
+vor der Meinung des besser unterrichteten Europa? Nein, ich werde
+dem Transport fürs nächste Vorschub leisten. Die Leute sollen in die
+Zeitungen schreiben, was sie wollen. Hier sind die Sklaven, um sie
+her die Geier, und hier bin ich, der eine Mann, der keine Nahrung für
+sie hat und keine Möglichkeit, sie in ihre Heimat zurückzuschicken.
+Hätte ich einen tüchtigen Mann mit starkem Arm, der mir helfen
+könnte, jeden einzelnen Sklaven nach seinem Wunsche zu behandeln —
+es wäre mir lieber. Denn merkwürdigerweise haben selbst diese elenden
+Sklaven noch Wünsche in dieser Hinsicht — manche vertrauen sich
+lieber den Gellaba an, manche den Stämmen, manche meinen Truppen;
+nach ihrer verwüsteten Heimat verlangen sie indessen nicht zurück,
+denn sie wissen, daß sie dann nur anderen Stämmen zum Opfer fallen
+und wieder Sklaven werden. Ihre Dörfer sind zerstört; es würde
+lange dauern, ehe sie nur wieder auf eine Ernte hoffen könnten....
+Angesichts dieser Thatsachen steht man hilflos dem Erlaß gegenüber,
+daß alle<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> Sklaven nach zwölf Jahren frei sein sollen. Wer will sie
+frei machen? Man könnte gerade so gut erwarten, daß Steine und Bäume
+das Gesetz erfüllen, als daß die Stämme unter sich ihre Sklaven
+aufgeben. Man kann lediglich nichts thun, als sie an der Jagd auf
+neue Sklaven hindern ... Ich habe so wenig Korn hier, daß ich nicht
+weiß, was anfangen. Bei solcher Sorge vergeht einem der hohe Mut.
+Aber das weiß ich, daß ich um keinen Gewinn der Welt die übernommene
+Arbeit jetzt aufgebe; es wäre eine Feigheit ... Ich höre von Fascher,
+daß nach einem Ausfall auf Harun das Volk zu Hunderten Hungers starb
+oder den Pocken erlag — arme Kinder und Weiber, deren jedes sein
+Leben lieb hat wie wir! Schön war, daß meine Araber ihre Gefangenen
+freiließen — es seien ihrer zweihundertfünfunddreißig gewesen, die
+Arm in Arm in einer langen Kette davonwankten. Es geschah in der
+Hoffnung, sie vor den Gellabas zu retten, was hoffentlich gelungen
+ist ...</p>
+
+<p>»Eine Truppe ausgehungerter Menschen ist in meinen Hof eingebrochen,
+ich habe sie fortschicken müssen bis morgen, in der Hoffnung, bis
+dahin etwas Durra aufzutreiben.«</p>
+</div>
+
+<p>Mittlerweile verhielt sich der von Darra abgesandte Offizier ganz
+unthätig, ja Gordon hörte, daß er sich vom Feind habe bestechen
+lassen. Kein Wunder, daß Gordon allen Mut verlor, sich auf seine
+Truppen zu verlassen. Er beugt sich unter diese Thatsache als unter
+eine Fügung Gottes. Dies hindert ihn aber nicht, sich vorzunehmen,
+den Mann im Betretungsfalle kriegsrechtlich erschießen zu lassen. Wie
+seine Truppen sich ferner verhielten, ergiebt sich aus folgendem.
+Die <em class="gesperrt">Leparden</em>, ein zahlreicher Stamm, hatten sich gegen
+ihn aufgeworfen und die Verbindung zwischen Darra und Tuescha
+abgeschnitten. Er beschloß daher, seinen Besuch in der Räuberhöhle
+Schekka noch hinauszuschieben und mit einer Abteilung seiner
+»Unbeschreiblichen« und einer Anzahl verbündeter Mascharins den
+Leparden entgegenzuziehen. Es war eine schlimme Nacht, voll Sturm und
+Regen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich zog meinen Mantel an und setzte mich unter meinen Schirm und
+wünschte, es wäre Tag. Angenehm war die Lage nicht, aber ich wickelte
+mich ein und konnte schlafen.«</p>
+</div>
+
+<p>Es war ein Regen, der einem die halbe Kraft aus dem Körper spülte,
+sagt Gordon, aber nichtsdestoweniger führt er seine<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> Leute am
+folgenden Tage in den Kampf — den Teil wenigstens, der bei der Hand
+war, und das waren <em class="gesperrt">nicht</em> seine »Unbeschreiblichen«, die langsam
+hinterdrein kamen. Seine Verbündeten, die Mascharins, waren es, die,
+obgleich geringzählig, sich nicht halten ließen und die Leparden, d.
+h. ihre einhundertsechzig Mann starke Vorhut, gänzlich aufrieben.
+Als seine Truppen herankamen, besetzten sie das gewonnene Lager
+des feindlichen Stammes, und während Gordon mit dem Häuptling der
+Mascharins Kriegsrat hielt, stürmten die Leparden in zwei Abteilungen
+von je dreihundertfünfzig Mann daher. Sie wurden zurückgeworfen, aber
+wieder nicht von seinen Truppen, sondern von den tapfern Mascharins,
+deren Anführer Ahmed Nurra tödlich verwundet wurde. Seine Helden
+hielten das Palissadenwerk von der sichern Seite! Gordon befand sich
+in einem Zustand der peinlichsten Entrüstung. Das Einzige, was ihn
+zurückhielt, sich selbst unter die anstürmenden Leparden zu werfen,
+war der Gedanke, daß seine elenden Truppen dann gar nicht mehr wüßten,
+was thun. Aber gründlich verhaßt wurden ihm die Baschi-Bosuks mit
+ihrem Waffengeklirr, wenn der Feind nicht da war, und ihrer maßlosen
+Feigheit, wo's Ernst galt.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Kein Mensch hat eine Vorstellung davon, was meine Offiziere und
+Soldaten für Kerle sind — ihr bloßer Anblick regt mir die Galle auf!«</p>
+</div>
+
+<p>Der kurze Feldzug endete damit, daß er die Leparden von drei
+Wasserstationen abschnitt, so daß nur eine einzige, vierte Quelle
+ihnen blieb. Den Feind in jenen Wüstenländern vom Wasser abschneiden,
+heißt ihn besiegen. Die Brunnen liegen stundenweit auseinander.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Gern hätte ich's den Frauen und Kindern und dem armen Vieh erspart,
+aber ich habe keine andere Wahl, wenn ich den Stamm bewältigen will.«</p>
+</div>
+
+<p>In der glühenden Hitze kamen sie denn auch bald mit hängenden Zungen
+und verdorrten Lippen und baten um Gnade. Gordon nahm ihnen die Speere
+ab, ließ sie auf den Koran Treue schwören und schickte sie dann
+allesamt an die nächste Quelle.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Sie waren einen Tag ohne Wasser, ich kann's nicht ändern. Der Krieg
+ist ein grausames brutales Geschäft. Wie oft lesen wir in den Kriegen
+Israels, dass das Volk ohne Wasser war. Es ging damals nicht anders
+zu als jetzt.... Meine Berittenen fingen einen Scheik ein, er war
+über die Maßen durstig; wie gern hab ich ihm Pardon gewährt und
+ihn mit seinen Leuten ans Wasser geschickt ... er sagte, der Stamm
+sei auseinandergesprengt. Auch des Häuptlings Sohn war dabei, ein
+fünfzehnjähriger Junge, und wie sie gebunden in meinem Zelt hockten,
+sah ich, wie der arme Bursche nach Wasser lechzte. Was für eine
+Freude war's, ihn sich satt trinken zu lassen!«</p>
+</div>
+
+<p>Aber auch Streitigkeiten mußte er beilegen. Der Zankapfel war oft nur
+eine Handvoll Korn, oder ein irdener Topf. Ob solcher Beute gerieten
+zwei hintereinander, die verschiedenen Stämmen angehörten, und der
+eine erschoß den andern!</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich ließ die Stammesangehörigen des Getöteten vortreten und auch den
+Gefangenen; und dann fragte ich sie, ob ich ihn erschießen sollte,
+oder ob sie ihn haben wollten, damit er für die Hinterbliebenen des
+Ermordeten arbeite. Und ich war froh, zu finden, daß sie auf den
+letztgenannten Vorschlag eingingen. Der Mann war vorher schon der
+Sklave eines der Soldaten (das Wort ist mir entschlüpft, ich wollte
+ihn nicht so nennen!) ich habe ihn daher nur einem andern Herrn
+gegeben. Das Entsetzen der Leute war unbeschreiblich, als ich mich
+mit meinem Gewehr vor den schwarzen Mörder stellte und den Hahn
+spannte — es war gar nicht geladen. Ich wußte auch, daß sie seinen
+Tod nicht verlangen würden, denn selbst in diesen armen wilden
+Menschenherzen wohnt Gutes. Sie glaubten aber fest, ich würde ihn
+erschießen, wenn sie nicht um sein Leben einkämen, und so thaten
+sie's einstimmig.«</p>
+</div>
+
+<p>Die Leparden hielten nicht lange Frieden, kaum länger als bis ihr
+Durst gestillt war, und dann entführten sie Gordons Verbündeten eine
+Anzahl Sklaven, wofür er ihnen tausend Stück Vieh wegnahm und einen
+weiteren Teil des Stammes entwaffnete. Er rückte durchs Lepardenland
+nach Duggam vor, wo ein Gemisch von Stämmen hauste. Die Leparden
+gingen nach Gebel Heres zurück; er zog ihnen nach und hörte, daß
+Harun sie unterstützte, indem er ihnen vierzig Berittene nach Gebel
+Heres zur Verstärkung<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> geschickt habe, während er selbst das Land
+weiter nördlich verwüstete. Seinem Truppenteil, den er in jener
+Gegend vorfand, kann Gordon das gewohnte Lob gänzlicher Untüchtigkeit
+ausstellen. Eine ganze Menge Fragen hinsichtlich eingebrachter Sklaven
+harrten seiner Erledigung.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich wollte, die Gesellschaft zur Unterdrückung der Sklaverei wäre
+hier,« ruft er nicht ohne Ironie, »und sagte mir, was ich thun soll!«</p>
+</div>
+
+<p>Während er seine erbärmlichen Streitkräfte beklagt, gab's Meuterei;
+sein Leben war nicht sicher in ihrer Mitte. Fascher war so nahe,
+daß man seine Wachtfeuer von der Stadt aus sehen mußte; dort waren
+achttausend Mann ihm dienstpflichtiger Truppen eingesperrt — oder
+sollten doch dort sein. Er machte sich auf den Weg, um ihnen das
+Gewehr zu visitieren, und erreichte mit etlichen hundert Mann die
+Stadt gegen Abend nach einem »schmählichen Ritt« durch Sumpfland. Man
+hatte keine Ahnung von seinem Kommen und war »angenehm überrascht«.
+In der Stadt selbst waren viermal so viel Truppen, als er bei sich
+hatte, und zehnmal so viel kampierten unter Hassan Pascha Helmi
+drei Tagmärsche entfernt; aber von diesem Militär war nicht der
+geringste Versuch gemacht worden, sich nach Darra oder sonst wohin
+durchzuschlagen, während der Feind noch vor kurzem bis in die Nähe von
+Fascher Streifzüge unternommen hatte. Hassan Pascha, der die Besatzung
+befehligte, hatte sich schon vor Wochen in aller Gemütsruhe mit dem
+Hauptteil der Truppen davon gemacht. Gordon verschrieb sich den Mann.
+Mittlerweile konnte er von einem anderen seiner Offiziere folgenden
+Streich erzählen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ein Muezzin oder Gebetsrufer in der Stadt war gewohnt, die
+Gebetsstunde nah bei der Stelle auszurufen, wo jetzt mein Zelt steht.
+Mein Oberstlieutenant hieß ihn schweigen, weil es mich störte; zum
+Glück erfuhr mein schwarzer Schreiber die Sache. Es lag nichts
+anderes zu Grunde als der Wunsch, den Fanatismus der Leute gegen mich
+aufzustacheln. Ich schenkte dem Ausrufer 40 Mark, meinen gefälligen
+Freund, den Oberstlieutenant, aber schickte ich nach Kedaref in die
+Verbannung, wo er Zeit finden wird, ähnliche Pläne auszuhecken. Ich
+besinne mich nie einen Augenblick,<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> solche Kerle zu züchtigen. Der
+Gebetsrufer schreit jetzt noch einmal so laut, eben während ich dies
+schreibe.... Ich gebe mir alle Mühe, jenen anderen Tapfern, der sich
+bestechen ließ, um den Feind nicht anzugreifen, und mich neunzehn
+Tage in Darra hinhielt, seiner Thaten zu überführen; aber die Zeugen
+sind nicht besser als er selber, so wird mir nichts übrig bleiben,
+als meine despotische Gewalt in Anwendung zu bringen. Er nahm
+viertausend Mark in Geld, den Wert von tausend Mark in Straußenfedern
+und zehn Kamelladungen Durra als Geschenk hin, um den Stamm nicht
+anzugreifen.... Sebehrs Sohn ist jetzt bereit, sich mir anzuschließen
+in der Hoffnung, das Land um so besser zu plündern; und Harun
+plündert auf seine Rechnung im Norden. Ich sitze mitten zwischen
+diesen beiden, und um mich her sind die Stämme, die jenem feindlich
+sind und teilweise auch mir feindlich, während sie dem Harun günstig
+sind und von mir erwarten, daß ich ihnen gegen Sebehrs Sohn beistehe
+— das nennt man einen dreiseitigen Zweikampf.«</p>
+</div>
+
+<p>Es war in der That eine unerquickliche Lage, die täglich schwieriger
+wurde. Von den drei Feinden, mit denen er im Zweikampf stand, wäre
+der selbstgekrönte Sultan ohne Zweifel am leichtesten zu unterwerfen
+gewesen, wenn er ihn nur im offenen Felde hätte stellen können; aber
+abgesehen von seinem Mangel an tüchtiger Mannschaft, war er anderwärts
+zu sehr in Anspruch genommen, und Hassan Pascha mit seinen fünftausend
+Unthätigen hatte nicht den Mut, ohne die Gegenwart Gordons den Angriff
+zu wagen.</p>
+
+<p>Es waren die eingebornen Stämme, die dem Feldherrn so hinderlich
+waren. Manche in nächster Nähe verhielten sich noch feindlich, und
+die entfernteren thaten ihr Bestes, die von ihm zur Ruhe gebrachten
+wieder aufzustacheln. Außerdem wurde sein Schreiber krank und für
+alle Einzelheiten der Verwaltung mußte er selbst einstehen. Wegen
+jeder Kleinigkeit drängten sich die Leute unangemeldet in des
+Generalgouverneurs Zelt und meinten, er könne sich ihrer nicht schnell
+genug annehmen. Erteilte er aber einen Befehl, so erfüllte man
+denselben im Leichenschritt. Seine Diener waren nicht besser als seine
+Soldaten. »Ich erledige täglich einen Berg von Geschäften,« schreibt
+er, trotz der furchtbaren Hitze, die so sengt und brennt, daß er »alle
+vierzehn Tage eine neue Haut<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> im Gesicht hat.« Und wenn er von einem
+Ausritt müde heimkommt, so findet er Skorpione in seinem Zelt, oder
+dasselbe von einem Sturmwind umgeblasen, während seine Diener dabei
+sitzen, als ob es sich von selbst wieder aufrichten müsse. Dann ist er
+wohl manchmal niedergeschlagen und meint, es helfe alles nichts, er
+müsse dieses verzweifelte Land sich selbst überlassen, aber sein hoher
+Mut gewinnt auch in solcher Lage die Oberhand und er sieht durch den
+Wolkenhimmel doch wieder die Sonne scheinen.</p>
+
+<p>Er hatte sein Hauptaugenmerk zur Zeit auf Harun gerichtet, denn
+der Verdacht war ihm gekommen, ob Hassan mit seinen fünftausend
+nicht ähnlichen Verrat treibe, wie jener andere, der sich hatte
+bestechen lassen. Und obschon es fast täglich Unternehmungen gegen
+die feindlichen Stämme oder Streifzüge auf höchstnötigen Proviant zu
+leiten gab, so traf er doch energische Vorbereitungen, einer etwaigen
+Krisis zuvorzukommen. Da hieß es mit einemmal, der »Sultan« sei
+verschwunden und niemand wisse wohin. Somit hatte er neben verlorener
+Mühe vorläufig das Nachsehen.</p>
+
+<p>Während er so sein Bestes thut, der kleinen wie der großen
+Mühseligkeiten Herr zu werden, kommt ihm die Nachricht, daß sein
+schlimmster Feind ausgebrochen ist und sich anschickt, Darra zu
+belagern. Gordon weiß, daß Soliman sechstausend bewaffnete Sklaven mit
+sich führt, während er selbst zwar seine »unbeschreiblichen« Helden
+hat, sich aber nicht im geringsten auf sie verlassen kann, — eine
+Wendung der Dinge, vor der alle bisherigen Schwierigkeiten erblaßten.
+Gordons Genie aber erweist sich nie glänzender als in einer Lage, die
+völlig hilflos erscheint. Da gürtet sich der Held zum Einzelkampf und
+erringt einen Sieg, der durch Waffen allein nicht zu gewinnen wäre.
+Schrieben wir einen Roman, es ließe sich nichts Romantischeres denken,
+als solche Siege über große Bedrängnis; da es sich aber um Thatsachen
+handelt, so ist es eben die großartige Kindeseinfalt des heroischen
+Mannes, die stets mitten ins Feuer geht, den Umstand vergessend, daß
+er einer ist gegen viele. Gordon verlor keinen Augenblick. Seine
+Armee und alles zurücklassend, bestieg er sein Kamel und ritt allein
+und unbewaffnet nach Darra. Von diesem gewaltigen<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> Ritt, eine der
+wunderbarsten Leistungen in seiner ganzen wunderbaren Laufbahn, lassen
+wir ihn selbst an seine Schwester berichten. Es ist hierbei nur zu
+bemerken, was übrigens von allen seinen Briefen gilt, daß er stets
+frisch nach der That schrieb und nicht im entfernteren daran dachte,
+daß je ein größerer Leserkreis an seinen Berichten sich erfreuen würde.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Etwa um vier Uhr nachmittags erreichte ich Darra, lang vor meinem
+Gefolge, nachdem ich in anderthalb Tagen 140 Kilometer zurückgelegt
+hatte. Etwa zwei Stunden vor Darra geriet ich in einen Schwarm von
+Fliegen, die mich und mein Kamel so quälten, daß wir mit immer
+größerer Eile vorwärts drängten. Ich denke mir, die Königin des
+Geschmeißes muß darunter gewesen sein. Wenigstens dreihundert
+umschwärmten den Kopf des Kamels und ich ritt einfach in einer
+Wolke. So hatte ich doch wenigstens ein Gefolge von Fliegen, wenn
+sonst keines. Die Leute in Darra waren sprachlos, ich überfiel
+sie wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Als sie sich erholt hatten,
+feuerten sie eine Salve ab. Mein armes Gefolge! wo das war, wußte
+kein Mensch. Denke Dir Deinen Bruder, einen einzelnen, staubigen,
+sonnverbrannten Menschen auf seinem Kamel und über und über mit
+Fliegen bedeckt, wie er so ganz unerwartet im Divan erscheint. Die
+Leute starrten mich an wie gelähmt. Zu essen gab's nicht viel nach
+meinem langen Ritt, aber eine ruhige Nacht, in der ich alles Elend
+vergessen konnte. Bei Tagesgrauen stand ich auf, zog die goldene
+Uniform an, die der Khedive mir geschenkt hatte, und ging hinaus, um
+meine Truppen zu besichtigen. Darnach bestieg ich mein Pferd, und
+mit einem Geleit von <em class="gesperrt">meinen</em> Räubern von Baschi-Bosuks ritt
+ich hinaus in das Lager der anderen Räuber, das ich in einer halben
+Stunde erreichte. Der Sohn Sebehrs kam mir entgegen — ein ganz
+hübscher Junge, etwa zwanzigjährig — und ich ritt mit ihm durch das
+Räuberlager. Ich schätzte, es waren ihrer dreitausend, Männer und
+Burschen, die er bei sich hatte. Ich ritt mit ihm bis an sein Zelt;
+dort waren die Häuptlinge versammelt und nicht wenig überrascht,
+mich in ihrer Mitte zu sehen. Ich ließ mir ein Glas Wasser geben
+und kehrte dann zurück, indem ich den Sohn Sebehrs einlud, mich mit
+seinen Angehörigen in meinem Divan zu besuchen. Sie kamen denn auch
+richtig und hockten im Halbkreis um mich her, während ich ihnen in
+gewähltem Arabisch meine Meinung beibrachte: erstens, daß ich wohl
+wüßte, daß sie neuen Aufruhr gegen die Regierung<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> im Schild führten,
+und zweitens, daß sie mir glauben dürften, daß ich lediglich dazu
+gekommen sei, sie zu entwaffnen und zu vernichten. Diesen Bescheid
+nahmen sie stillschweigend entgegen und entfernten sich dann, um
+sich's zu überlegen. Es dauerte nicht lange, so erhielt ich ein
+Schreiben mit der Zusicherung ihrer Unterwerfung und dankte Gott
+dafür! Rings umher haben sie das Land verwüstet, und ich konnte es
+nicht ändern. Mich dauern nur die armen Leute, die es traf, darunter
+die mir Verbündeten, die mit mir nach Wadar (gegen die Leparden)
+zogen und ihr Eigentum unbeschützt zurückließen. Was für Jammer
+überall! Aber der Allerhöchste sieht es, und er kann helfen. Ich
+kann's nicht. Die verblümten Gesichter der Schurken, als sie meine
+Anklagen vernahmen, und die merkwürdige Gebärdensprache bei meinem
+ungenügenden Arabisch hättest Du mit ansehen sollen! Es ist noch
+keine drei Tage her, daß Sebehrs Sohn seine Pistole dreimal auf
+meinen Kavaß (eine Art Polizeisoldat) abfeuerte, weil der Ärmste
+krank war und ihm nicht entgegenkommen konnte ... Du hättest sein
+Gesicht sehen sollen und seine Versicherungen der Treue mit anhören,
+als ich ihm dies vorrückte. Schließlich habe ich ihm verziehen.
+Maduppa Bey hat mir seither erzählt, daß der Sohn Sebehrs sich nach
+der Unterredung mit mir hingelegt und kein Wort gesprochen hätte,
+so daß die Araber meinten, ich hätte ihn mit Kaffee vergiftet! ...
+Man sieht ihm an, daß er ein verwöhntes Kind ist, dem die Rute nicht
+schaden würde. Ich habe mir Mühe gegeben, freundlich mit ihm zu
+reden, aber er wirft mir nur wütende Blicke zu. Armer Junge! er wird
+noch manch bittere Erfahrung machen müssen, ehe er die Nichtigkeit
+des Irdischen erkennt; bisher war er Herr inmitten einer kriechenden
+Schar von Sklaven, konnte thun was er wollte, Leute umbringen, wann
+es ihm einfiel, und soll nun auf einmal <em class="gesperrt">nichts</em> sein! Indessen
+— ›fahret mir säuberlich mit dem Knaben Absalom‹ — ich will suchen,
+nach diesem Wort zu handeln. Es ist ein zierlicher Bursche in einer
+Jockei-Jacke von blauem Sammet. Die ganze Sippschaft kam bis an die
+Zähne bewaffnet, als sie sich in meinem Divan einstellten.«</p>
+</div>
+
+<p>Nachdem Gordon Soliman und seiner Horde den Standpunkt klargemacht,
+beschloß er, die »Höhle Adullam« auszufegen, und sandte eine Abteilung
+seiner Truppen ab, um Schekka zu besetzen. Im feindlichen Lager
+war man übrigens keineswegs <em class="gesperrt">einer</em> Meinung: ein Teil der
+Sklavenjäger war für Unterwerfung, der<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> andere für Krieg. Soliman
+selber war in einem Zustand unbändigster Wut, und wenn er nur die
+Scheiks zu gemeinsamem Handeln hätte bringen können, so wäre ein neuer
+Aufstand erfolgt. Die Leute waren aber moralisch überwältigt: einer
+nach dem andern erklärte dem Generalgouverneur seine Unterwerfung, und
+dem Sohne Sebehrs blieb zuletzt nichts übrig, als sich Gordons Befehl
+zu fügen, der ihn nach Schekka zurückkehren hieß. Er wolle das thun,
+sagte der Bursche, wenn Gordon ihm zuerst Feierkleider schenke nach
+dem herkömmlichen Brauch und als Beweis, daß er mit ihm zufrieden sei.
+»Ich habe keine Feierkleider,« erwiderte jener und fügte hinzu, daß
+sein Betragen ein viel zu anmaßendes sei; er wisse ja nicht einmal,
+was sich des Khedive Statthalter gegenüber schicke, der ihn — einen
+eingebildeten Jungen — mit ganz unverdienter Milde behandle. Das war
+dem Sohne Sebehrs eine bittere Pille, aber er mußte sie schlucken.
+Von Schekka aus sandte er dann einen Brief, in dem er sich Gordons
+getreuen Sohn nannte und eine Statthalterschaft begehrte. Darauf wurde
+ihm die Antwort, daß ehe er in Kairo gewesen sei, um sich dem Khedive
+persönlich zu unterwerfen oder sonst eine nicht mißzuverstehende Probe
+der Treue abgelegt habe, der General-Gouverneur ihm keinen Posten
+anvertrauen werde, und wenn es ihn sein Leben koste. Diesen Bescheid
+schickte ihm Gordon durch die Scheiks. Ehe diese sich verabschiedeten,
+fragte Gordon einen derselben, ob er Kinder habe; der Mann bejahte
+es. »Nun,« rief Gordon, »sagen Sie selber, ob eine Tracht Schläge dem
+Burschen nicht heilsam wäre!« Und der Scheik gab es zu.</p>
+
+<p>Während er so mit den Sklavenhändlern fertig wurde, hörte er, daß
+sein schwarzer Schreiber, dem er bis dahin vollkommen getraut hatte,
+ebensowenig »bakschischfest« war, als die meisten seiner Untergebenen:
+er hatte sechstausend Mark Bestechungsgelder angenommen. Dergleichen
+Erfahrungen waren Gordon ein wahrer Schmerz. Dann kam ein Eilbote
+von Fascher, wo er doch über fünftausend Mann Militär wußte, mit der
+Nachricht, daß ein panischer Schrecken die Stadt befallen habe; Harun
+hatte nämlich von weither von sich hören lassen. Da verlor Gordon ob
+solcher bodenloser Feigheit die Geduld. Er ließ ihnen zurücksagen,<span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span>
+sie sollten nicht sterben vor Angst, die Sklavenhändler würden ihnen
+demnächst zu Hilfe kommen.</p>
+
+<p>In der zweiten Septemberwoche machte er sich selber nach Schekka auf
+den Weg. Als Soliman von seinem Kommen hörte, lud er ihn ein, in
+seinem Hause abzusteigen, was Gordon auch ohne weiteres annahm. Er und
+die anderen Raubgesellen empfingen ihn mit aller Unterwürfigkeit, ja
+sie kamen ihm wie ihrem König entgegen. Sebehrs Sohn war sogar ganz
+bescheiden und trug diesmal keine Sammetjacke; seinen Wunsch nach
+einer Statthalterschaft konnte er jedoch nicht unterdrücken. Gordon
+ließ sich aber nicht durch Unterthänigkeit bestechen, sondern erklärte
+dem Bittsteller, er müsse vor allen Dingen Vertrauen zu verdienen
+suchen. Doch war er persönlich freundlich gegen diesen »Absalom«, wie
+er ihn nannte, und schenkte ihm sogar sein eigenes Gewehr.</p>
+
+<p>Übrigens blieb er nur zwei Tage in dem Räubernest, und das war gut,
+denn er hatte keine Schutzwache bei sich, und, wie sich später
+herausstellte, wurde während seiner Anwesenheit Kriegsrat gehalten, ob
+es thunlich und ratsam sei, sich an ihm zu vergreifen! Daß es nicht
+geschah, ist ein Wunder, das sich nur damit erklären läßt, daß seine
+vollständige Gleichgültigkeit gegen persönliche Gefahr wie lähmend auf
+seine Feinde wirkte; es war die Großartigkeit seines Wesens, die sie
+entwaffnete. Und wie Daniel aus der Löwengrube, so ging er aus dem
+Nest der Sklavenräuber hervor.</p>
+
+<p>Es war auf dem Weg nach Schekka, daß er folgenden Brief schrieb:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Weiterhin im Land hausen noch an sechstausend Sklavenhändler,
+die sich wohl ergeben werden, nun ich den Sohn Sebehrs und seine
+Häuptlinge überwältigt habe. Es ist nicht zu sagen, wie groß die
+Schwierigkeit ist, mit all diesen bewaffneten Horden das Rechte zu
+treffen. Ich trenne sie in einzelne Haufen und hoffe sie so mit der
+Zeit zu bewältigen. Man kann sie doch nicht alle totschießen! Haben
+sie nicht auch ihre Rechte, die man berücksichtigen muß? Hatten die
+Pflanzer (in Amerika) keine Rechte? Hat nicht selbst unsere Regierung
+einst Sklavenhandel gestattet? Ich hätte viel darum gegeben, Sie und
+die Herren von der Gesellschaft zur<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> Unterdrückung des Sklavenhandels
+in jenen drei Tagen in Darra zu haben, als man nicht wußte, ob
+die Sklavenhändler sich zur Wehre setzen würden oder nicht. Eine
+schlechtbefestigte Stadt, eine feige Besatzung, unter der nicht einer
+war, der nicht vor Angst zitterte; und auf der andern Seite eine
+handfeste entschlossene Bande, die sich aufs Kriegshandwerk versteht,
+gut schießen kann und zwei Feldstücke bei sich hat. Ich hätte gern
+gehört, was Sie und die anderen dazu gesagt hätten! Ich sage dies
+nicht, um mich zu rühmen, denn Gott weiß, wie groß meine Sorge war
+— nicht um <em class="gesperrt">mein</em> Leben, denn ich bin längst dem abgestorben,
+was einem das Leben lieb macht, den Annehmlichkeiten und der Ehre
+und Pracht dieser Welt — sondern meiner armen Schafe wegen hier
+in Darfur und anderwärts. Ihr sagt dies und das und handelt nicht
+darnach; ihr gebt Beiträge und meint, ihr habt eure Pflicht gethan;
+ihr lobt einander u. s. w. Es ist auch natürlich. Gott hat euch Dinge
+gegeben, die euch an diese Welt binden, ihr habt Frauen und Kinder.
+Ich habe keine und bin frei — gottlob. Verstehen Sie mich recht:
+wo es mir nötig erscheint, da kaufe ich Sklaven und ich hindere es
+nicht, wenn gefangene Sklaven nach Ägypten verbracht werden; und
+im Punkte der dienstpflichtigen Sklaven will ich Freiheit haben,
+das zu thun, was mir recht scheint und was Gott selbst in seiner
+Barmherzigkeit mir nahe legt; aber den Sklavenjägern will ich das
+Genick brechen, und wenn es mich mein Leben kostet. Ich kaufe Sklaven
+für meine Armee und mache sie zu Soldaten gegen ihren Willen, damit
+sie mir helfen die Sklavenjagd unterdrücken. Ich thue dies am hellen
+Tag aller Welt gegenüber, und trotz all euren Beschlüssen. Meint ihr,
+es würde mir das Herz brechen, meiner Würden entsetzt zu werden? ich
+würde mich zurücksehnen nach der entsetzlichen Ermüdung des ewigen
+Kamelreitens, nach all dem Elend, das ich mit ansehen muß, nach der
+Hitze, und nach der Plackerei meines persönlichen Lebens? Stellt
+euch einmal meine Reisen vor in diesen sieben Monaten! Tausende von
+Kilometer zu Kamel, und es wird so fortgehen, wenigstens noch ein
+Jahr lang. Sie finden es nur hie und da nötig, sich auf Gott zu
+verlassen — ich fortwährend, Tag und Nacht. Ich will damit sagen,
+daß Sie nur hie und da eine schwere Prüfung haben — etwa wenn Ihnen
+ein Kind krank ist — die Sie erkennen läßt, wie völlig schwach und
+hilflos Sie sind. Ich bin fortwährend in solcher Lage. Der Körper
+lehnt sich dagegen auf — es ist oft mehr als man tragen kann.</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>Zeigen Sie mir den Mann — und ich will mir von ihm helfen lassen
+— der Geld, Ruhm, Ehre verachtet, dem es einerlei ist, ob er je
+seine Heimat wieder sieht, der sich allein auf Gott verläßt als die
+Quelle alles Guten und den Machthaber über alles Böse, einen, der bei
+gesundem Körper und mit thatkräftigem Geist dem Tod entgegensieht,
+der ihn einst von allem erlösen wird. — Sie sagen, Sie wissen
+keinen? nun dann lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe wahrlich genug an
+meinem Leben zu tragen und brauche keine weitere Last.</p>
+
+<p>»Auf einen Unterschied zwischen hier und Amerika muß ich Sie
+aufmerksam machen: man hört hier nie davon, daß Eigentümer ihre
+Sklaven zu harter Feldarbeit benutzen. Sie sind entweder Dienstboten
+oder im Truppendienst der Händler; es sind meist muntere flinke
+Kerle, gewandt wie Antilopen, auch wieder wild und schonungslos,
+ein Schrecken dieser Länder, und mit einem Prestige weit über das
+Militär der Regierung hinaus. Sie sind die Stärke der Sklavenhändler.
+— In Kedaref sollen sich ein paar Griechen niedergelassen haben,
+die eine Menge Sklaven auf Plantagen beschäftigen. Ich habe vor, sie
+aufzugreifen. Kurz, der Zustand der Neger hier ist weit besser, als
+er je in Westindien war, und ich behaupte, daß die Leute hier nicht
+so herzlos sind, als einst die Pflanzer mit all ihrer Bildung und
+ihrem Christentum.</p>
+
+<p>»Ihre Ansicht über den Mohammedanismus teile ich nicht. Nach meiner
+Ansicht giebt es Muselmänner, die christlicher sind als manche
+Christen. Wir alle sind mehr oder weniger Heiden. Haben Sie je das
+Buch gelesen »Das moderne Christentum ein zivilisiertes Heidentum«?
+Ich war dieser Ansicht lange, ehe ich es las. Ich mag einen rechten
+Muselmann wohl leiden; er schämt sich seines Gottes nicht und sein
+Privatleben ist ein ziemlich reines; allerdings erlaubt er sich
+viele Weiber, auf der anderen Seite aber begnügt er sich mit seinen
+eigenen. Kann man das immer von den Christen sagen?</p>
+
+<p>»Was geht mich das Ministerium des Äußeren an, oder ich das
+Ministerium? Ich brauche seine Hilfe nicht; es wäre unrecht gegen
+den Khedive, wollte ich sie annehmen. Außerdem »derer ist mehr, die
+bei mir sind, denn derer, die bei ihnen sind.« Ich brauche keine
+Helfer außer dem Allmächtigen ... Nein, mein Lieber — richten Sie
+Ihr Leben in Wahrheit nach dem Christentum ein, dann erst wird es
+Sie befriedigen. Das Christentum der meisten<span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span> Leute ist ein schales,
+kraftloses Ding und führt zu gar nichts. Ein gutes Mittagessen ist
+ihnen wichtiger; es giebt nur einige wenige, die Gott dazu antreibt,
+sich wirklich um ihre schwarzen Brüder zu kümmern. ›Ach die armen
+Sklaven!‹ und ›darf ich Ihnen noch ein Stückchen Salm anbieten?‹
+heißt es da in einem Atem.«</p>
+</div>
+
+<p>Mitte September zog er nach Obeid, weil sein Diener das feuchte Klima
+bei Schekka nicht ertragen konnte. Da kam es ihm vor, als erhielte
+seine Karawane einen ungewöhnlichen Zuwachs und es dauerte nicht
+lange, so entdeckte er den Sachverhalt — etwa achtzig Männer und
+Weiber und Kinder in Ketten. Natürlich packte er den Sklavenhändler;
+es war einer jener Geier. Und da hieß es denn, es sei dessen eigene
+Familie! Hätte Gordon sie befreit, so wären sie liegen geblieben und
+Hungers gestorben. So blieb nichts übrig, als einem Sklaventransport
+den oberstatthalterlichen Schutz zu gewähren! nur daß den armen
+Geschöpfen die Ketten abgenommen wurden.</p>
+
+<p>Diese Reise scheint besonders ermüdend gewesen zu sein.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Keine Sonntage für mich,« schreibt er, »es ist Last und Hitze jeden
+Tag, ob ich auf meinem Kamel bin oder im Zelt.«</p>
+</div>
+
+<p>Und überall Sklaven; manche kauft er, andere, die in der Glut fast
+verdursten, schickt er ans Wasser. Ihr Elend bekümmert ihn, und er
+hätte sein Leben gelassen, nicht <em class="gesperrt">einmal</em>, sondern wieder und
+wieder, um den Handel mit Menschenware von der Erde zu vertilgen. Und
+doch weiß es niemand besser als er, daß er nichts thun kann, als neue
+Einfuhr möglichst verhindern. Daß er mit dem Räubernest in Schekka
+fertig geworden war, leuchtete wie ein Stern am Horizont seines Lebens
+und gab ihm die Hoffnung, daß bessere Tage kommen würden.</p>
+
+<p>Ende September gelangte er nach Obeid und war vierzehn Tage später in
+Khartum. Der Ruhm seines Siegeszugs war vor ihm hergegangen. Die Leute
+konnten sich nicht genug über seine Kühnheit wundern; solcher Mut,
+solche Willenskraft, solche unwiderstehliche Energie war den schlaffen
+Menschen in diesem schlaffen Land unfaßlich. Und die Geschwindigkeit,
+mit der er seine riesengroße Provinz bereiste, wäre jedem andern als
+eine Unmöglichkeit erschienen. Seine Beamten fühlten sich ordentlich
+ihrer Trägheit<span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span> nicht mehr sicher. »Der Pascha kommt!« war ihnen ein
+Schreckschuß, der besser wirkte, als Aussicht auf die Peitsche. So
+beherrschte der freundliche, wohlwollende Mann mit seinem felsenfesten
+Willen das Land.</p>
+
+
+<h3>3. Weitere Kämpfe und der Aufstand in der Bahr el Ghasal.</h3>
+
+<p>Am 14. Oktober 1877 war Gordon nach Khartum zurückgekehrt und schon
+am 23. begab er sich auf eine neue Reise. Die Arbeitslast, die er
+vorfand, hatte er in einer Woche bewältigt. Er sei nur noch ein
+Schatten seiner selbst, schreibt er; und jene Woche nennt sogar er
+eine harte Zeit. Auf Schritt und Tritt belagerten ihn die Leute mit
+Bittschriften, ihn mit Geschrei verfolgend. Sich ihrer mit Gewalt
+entledigen, das brachte er nicht über sich.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich lasse sie eben schreien, denn wie kann ich jedem seinen
+Willen thun oder jeden Gefangenen frei geben? Hätte ich nicht
+meinen Gott zum Trost,« fährt er fort, »und das Bewußtsein, daß Er
+Generalgouverneur ist, wie sollte ich's weiter führen?«</p>
+</div>
+
+<p>Nachdem er seine Regierungsgeschäfte in Khartum erledigt und einen
+Mörder hatte hinrichten lassen, machte er sich über Berber nach Hellal
+auf den Weg, um daselbst mit Walad el Michael zu verhandeln. Die Reise
+den Nil hinunter war die erste wirkliche Ruhezeit, die ihm seit dem
+Vorfrühling 1874 im Sudan zu teil wurde. Und während er so mit stillem
+Gemüt den Nil hinabsegelt, spricht er sich brieflich über seinen
+Beruf aus. Sein englischer Biograph bemerkt hierzu, man höre da zum
+erstenmal ein Wort von ihm, das für Selbstüberhebung gelten könnte.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wie köstlich war die Ruhe heute auf dem Nilboot. Voriges Jahr um
+diese Zeit war ich auf meiner Heimreise vom Äquator her. Wieviel
+ist seither geschehen, bei Dir, bei mir, und in Europa! Mir ist so
+wohl zu Mut. Wenn ein Stern seine Höhe erreicht, so sagt man: er
+kulminiert; nun, mir ist auch, als ob ich kulminiert hätte — ich
+möchte weiter und höher hinauf. Doch weiß ich, daß ich hier bin, so
+lange es Gottes Wille ist; mit diesem Bewußtsein fuße ich wie auf
+einem Felsen und bin zufrieden. Mancher andere<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> möchte wohl auch hoch
+steigen, aber ohne die damit verbundene Last; mir macht umgekehrt die
+Last die Ehre lieb und ich danke Gott dafür. Er hat mir's gelingen
+lassen, und wenn's auch kein sehr glänzender Erfolg ist, so ist's ein
+handgreiflicher, der bleibenden Wert hat. <em class="gesperrt">Jene Stelle im Propheten
+Jesaia habe ich mir zugeeignet, und soweit es in meiner Macht steht,
+suche ich sie zu bewahrheiten.</em>«</p>
+</div>
+
+<p>Er meinte die Stelle Jesaia 19, 20:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Welcher wird ein Zeichen und Zeugnis sein dem Herrn Zebaoth in
+Ägyptenland. Denn sie werden zum Herrn schreien vor den Beleidigern;
+so wird er ihnen senden einen Heiland und Meister, der sie errette.«</p>
+</div>
+
+<p>Warum aber soll das Selbstüberhebung sein? Ist es nicht vielmehr
+die Rede eines Menschen, der mit Paulus sagen kann: »Ich habe mehr
+gearbeitet denn sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die
+mit mir ist?«</p>
+
+<p>In Berber wurde zu seiner Ankunft die Stadt festlich erleuchtet,
+und der Generalgouverneur, »der Beklagenswerte, mußte zwei Stunden
+umherlaufen und den Leuten zulieb ihre trüb brennenden Ampeln
+bewundern — ein wahres Opfer!« Darein fügte er sich, die acht oder
+zehn Hofschranzen aber, mit denen man ihn umgab, hieß er ihrer Wege
+gehen. Sich bewachen lassen, war nicht seine Art. Auch in Berber
+war an Arbeit kein Mangel — Bittschriften, Briefe, Telegramme zu
+Dutzenden. Im ganzen Land meinten die Leute, er sei nur dazu da,
+ihre Privatangelegenheiten zu erledigen. Von fünfzig Stunden her
+telegraphiert einer, es sei ihm ein Sklave entlaufen; ein anderer, er
+habe Händel mit seiner Frau und ein Nachbar hätte sich drein gelegt
+— als ob es nirgends Bezirksgouverneure gäbe. Jenem flüchtigen
+Sklaven wird der Generalgouverneur nicht nachgegangen sein, auch jene
+Ehehändel nicht geschlichtet haben; Spital und Gefängnis aber ließ er
+nicht unbesucht.</p>
+
+<p>Auf der Weiterreise nach Dongola mußte er sich über schlechte
+Kamele beklagen, die Ruhe und Stille der Wüste mit ihren klaren
+taulosen Nächten war ihm indessen eine wahre Erquickung nach der
+langen Kampfzeit und nach der feuchten Hitze in Darfur.<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> In Meraui,
+dem angeblich südlichsten Grenzpunkt altägyptischer Zivilisation,
+erreichte er den Fluß wieder. Hier hatten die Leute seit Jahren keinen
+Statthalter zu Gesicht bekommen und verfolgten ihn mit Klaggeschrei.
+In Dongola hörte er, daß Walad el Michael Senheit bedrohe, und Gordon
+hatte keine Truppen. Auch ein Telegramm vom Khedive fand er vor, in
+welchem seine Anwesenheit in Kairo begehrt wurde. Er machte sich daher
+nach Ägypten auf den Weg, aber schon nach einer Tagreise bestürmten
+ihn Telegramme vom Sudan mit der Nachricht eines abessinischen
+Einfalls. Ras Arya, ein Heerführer des Johannes, bedrohte Sennaar
+und Fazolie, südlich von Khartum. Es schien ihm unglaublich; aber
+in Khartum war auch nicht ein Mensch, auf den er sich nötigenfalls
+hätte verlassen können; so eilte er denn nach Dongola zurück und von
+dort durch die Bajuda-Wüste in fünftägigem Ritt nach Khartum. Es war
+blinder Lärm gewesen; man hatte ein paar abessinische Grenzmänner
+gesehen und sie auch zurückgeworfen.</p>
+
+<p>Drei Tage hielt er sich in Khartum auf, dann bestieg er abermals
+sein Kamel, um über Abu Haras, Kedaref und Kassala nun doch erst den
+Walad el Michael aufzusuchen, ehe er nach Kairo ging. Gordon hätte
+gewünscht, den König Johannes zu einem Einverständnis mit Walad zu
+bringen, wonach der König dem unruhigen Häuptling Hamasen überließe,
+das überdies sein angestammtes Erbe war, allein Johannes war ein
+Starrkopf. Walad war für die Ägypter ein böser Grenznachbar; man war
+seiner nie sicher. Das einfachste wäre gewesen, ihn dem abessinischen
+König in die Hände zu liefern, aber selbst ägyptische Politik hätte
+nach dem Vorausgegangenen dies für schmählich gehalten. Man hoffte,
+Gordon würde es zu stande bringen, die ägyptische Ehre mit möglichstem
+Gewinn zu retten. Somit war er denn auf dem Wege nach Senheit, wo
+Walad lag.</p>
+
+<p>Unterwegs fand er wie gewöhnlich Ursache, sich über sein Gefolge zu
+beschweren; er hatte es zu eilig für seine gemächlichen Araber, und wo
+sie konnten, erwiesen sie sich hinderlich.</p>
+
+<p>In Kassala sah er den Heiligen, Scherief Seid Hakim, einen Abkömmling
+Mohammeds, mit dem er schon einmal zusammengetroffen<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> war, und der
+sich damals in seiner Würde verletzt fand, weil sein unwissender
+europäischer Gast sich neben ihn auf den Ehrendivan setzte. Diesmal
+war der Heilige etwas herablassender und ließ sich sogar eine
+Zwanzigpfundnote (400 Mark) schenken. Als Gegengeschenk that er Gordon
+die Ehre an, ihn zu bitten, sich zum Turban zu bekehren und ein
+Muselmann zu werden. Er war nicht der erste, der dem Generalgouverneur
+diese Bitte vortrug!</p>
+
+<p>Als er Senheit erreichte, fand er, daß Walad sich in seinem Lager zu
+Hellal befand, und mußte zwei hohe Berge übersteigen, um dasselbe zu
+erreichen. Es war ein ähnliches Unternehmen wie sein Besuch in der
+Räuberhöhle zu Schekka.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Die Leute in Senheit waren so furchtsam, daß ich beschloß, mich
+in Gottes Hand zu stellen und hierher zu reiten. Der Weg über zwei
+Berge war über alle Beschreibung; den zweiten zu übersteigen war eine
+entsetzliche Arbeit. Walad el Michael und seine Banditen lagen auf
+einem hohen Berg. Er hat volle siebentausend Mann bei sich, die alle
+bewehrt sind. Sie standen in Reih und Glied, um mich zu empfangen,
+und sein Sohn kam mir entgegen. Michael, hieß es, sei krank, oder gab
+vor es zu sein. Darnach begrüßte mich ein Trupp Priester mit heiligen
+Bildern. Michael empfing mich liegend — er habe ein böses Knie;
+aber die Leute zu Senheit sagen, es wäre nicht wahr. Dann führte man
+mich in mein Zelt, und ich muß sagen, ich gedachte der Löwengrube.
+Wir waren miteinander in einer zehn Fuß hohen Umzäunung eingesperrt.
+Ich wurde zornig, denn ich sah wohl, was meine Leute (zehn Soldaten)
+davon hielten. Ich wandte mich an den Dolmetscher und sagte ihm, daß
+wenn Michael vorhabe, mich als Gefangenen zu betrachten, es ihm frei
+stünde, daß er es aber würde büßen müssen. Das war Kleinglaube von
+mir, dies zu sagen! Der Dolmetscher und Michaels Sohn waren indessen
+so überaus höflich und voller Entschuldigungen, daß ich vorläufig
+wohl noch kein Gefangener bin. Ich erläuterte meine Bemerkung dahin,
+daß wenn es in Senheit bekannt würde, wie man mich hier logiere,
+man dort allerdings für meine Sicherheit fürchten müßte, und der
+Telegraph würde solches nach Kairo melden.«</p>
+</div>
+
+<p>Die Nacht verlief ungestört, abgesehen von quälenden Flöhen, welches
+Ungeziefer in jenen Himmelsstrichen nur in hoher Bergluft gedeiht. In
+der Morgenfrühe sammelten sich die Priester<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> um des Gastes Gefängnis
+her und sangen ihre Hymnen — »wahrscheinlich um den bösen Geist zu
+bannen,« meinte Gordon. In einem späteren Brief heißt es übrigens:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Die Priester (in Abessinien) versammeln sich morgens um drei Uhr und
+singen eine Stunde lang in eigentümlich melodischer Weise davidische
+Psalmen. Es hat für den aus dem Schlaf erwachenden Hörer etwas tief
+Ergreifendes.«</p>
+</div>
+
+<p>Am folgenden Tag hatte er eine Unterredung mit Walad und machte ihm
+den Vorschlag, beim König von Abessinien um Pardon einzukommen. Der
+»Patient« wies dies energisch von sich und meinte im Gegenteil,
+die ägyptische Regierung thäte wohl daran, ihm weitere Distrikte
+(zum Plündern) zu überlassen; auch erklärte er sich bereit, die
+abessinische Stadt Adowa zu überfallen. Zwar wußte Gordon, daß er den
+listigen Verbündeten auf diese Weise leicht dem Johannes in die Hände
+spielen könnte, aber Verrat war nicht seine Sache, und er brachte
+Walad durch eine beträchtliche Geldsumme fürs nächste zur Ruhe.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wie verhaßt mir diese Abessinier sind,« schreibt er, »den Walad
+mitgerechnet; sie haben auch gar nichts Anziehendes. Ihr Christentum
+ist ein totes; und was ihre Zivilisation betrifft, so sind sie nicht
+viel besser als die Stämme am Äquator. Wäre es nicht der europäischen
+Regierungen wegen, ich kümmerte mich nicht um diesen Johannes.
+Meine Beduinen von Darfur und hier herum sind andere Leute. Manche
+der jüngeren Leute haben eine Haltung, die man ordentlich beneiden
+möchte. Ich könnte nie durch mein Äußeres imponieren, aber diese
+jungen Ismaels sind lauter Prinzen.«</p>
+</div>
+
+<p>Den König Johannes nennt er anderswo »einen richtigen Pharisäer«,
+und sagt von ihm, er führe eine Sprache wie das alte Testament,
+abends betrinke er sich und am frühen Morgen singe er Psalmen; wenn
+er in England wäre, ginge er zu den Methodisten und hätte eine
+Bibel so groß wie ein Handkoffer. Gordon war offenbar froh, den
+Abessiniern den Rücken kehren zu können und begab sich nach Massaua
+am Roten Meer, um dort eine Antwort von Ras Barin, dem abessinischen
+Grenzgeneral, abzuwarten. Er hatte nämlich dem Könige den Vorschlag
+gemacht, wenigstens Walad el Michaels Truppen Pardon zu gewähren,<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span>
+damit sie sich nach Abessinien flüchten könnten, wenn er sich etwa
+zu einem Angriff genötigt sehen sollte. Die Antwort aber blieb aus.
+Johannes lag zu Feld gegen Menelek, den König von Schoa, und so wenig
+umfangreich das Land ist, wußte niemand genau zu sagen, wo das wäre.
+Gordon wartete eine Zeit lang und trat dann über Suakim und Berber
+den Rückweg nach Khartum an. Unterwegs erhielt er einen zweiten
+Befehl vom Khedive, sich in Kairo einzufinden, um an Finanzberatungen
+teilzunehmen. Der bloße Gedanke daran war ihm verhaßt; überdies meinte
+er, nach seinem Nomadenleben im Sudan sei er weniger als je dazu
+geeignet, an höfischem Leben Gefallen zu finden. Es war Ende Dezember;
+über sechstausend Kilometer Wüstenritt lagen hinter ihm in diesem
+Jahr, und leider hatte er unterlassen, die Binde um Brust und Hüfte
+zu tragen, die beim Kamelreiten der fortwährenden Erschütterung wegen
+nötig ist. Die schlimmen Folgen zeigten sich nun.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich habe mir das Herz oder die Lungen verrüttelt und habe ein
+Gefühl in der Brust als ob alles verrenkt wäre ... Wahrlich, obwohl
+ich lieber hier bin, als sonstwo auf der Welt, es wäre besser tot
+sein, als dies Leben führen. Ich habe meinem Schreiber mit der Bitte
+Entsetzen verursacht, mich zu begraben wo ich sterbe und jeden Araber
+einen Stein auf mein Grab werfen zu lassen, damit ich doch auch
+ein Denkmal hätte. Es ist sonderbar, so gute Fatalisten die Leute
+hier sind, eine solche Anspielung ist ihnen doch ein Greuel; sie
+meinen, es hieße den Tod mit Namen rufen, obschon sie zugeben, daß es
+vorherbestimmt ist, wann einer sterben soll.«</p>
+</div>
+
+<p>Gordon begab sich nach Kairo. Mit Dampf und Segel ging's nilabwärts
+und die Residenz wurde anfangs März erreicht. Der Khedive hatte seinem
+Oberstatthalter eine Aufforderung zur Hoftafel entgegentelegraphiert,
+aber der Zug hatte Verspätung, und als Gordon den vizeköniglichen
+Palast erreichte, fand sich's, daß die Hoheit anderthalb Stunden auf
+ihren Gast gewartet hatte. Staubig wie er war, mußte Gordon sich
+zu Tisch setzen, und alle Auszeichnung wurde ihm zu teil. Er wurde
+aufgefordert, als Präsident der Finanzkommission zu figurieren. Sein
+Platz bei der Tafel war zur Rechten des Khedive, und sein Quartier<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span>
+war ein Palast, in dem sonst nur fürstliche Gäste untergebracht
+werden. Aber die Pracht seiner Umgebung und die glänzende Bedienung
+waren für Gordon verlorene Liebesmüh.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Meine Leute wissen sich nicht zu helfen vor Verwunderung, und ich
+auch nicht. Ich wollte, ich wäre wieder glücklich auf meinem Kamel.«</p>
+</div>
+
+<p>Einem Engländer, der ihn besuchte, erklärte er, er komme sich vor
+wie eine Fliege in diesem großen Haus. Und seiner Schwester schrieb
+er, es sei die helle Quälerei; er lege sich um acht Uhr schlafen,
+das sei noch das beste, denn er gehe abends nicht in Gesellschaft.
+Ismail hoffte, Gordon werde ihm aus seiner bedrängten Lage helfen.
+»Ich kenne keinen, zu dem ich größeres Vertrauen hätte,« schrieb
+der Khedive, allein die Geldangelegenheiten Ägyptens sind in den
+Händen europäischer Kapitalisten; englische und französische
+Koupon-Abschneider hatten mitzureden; wie hätte der ehrliche Gordon
+da mit seinem Rat durchdringen können, der kurz und gut der war, die
+Zinsen der europäischen Anleihen von 7 auf 4 Prozent herabzusetzen!?
+Kein Wunder, daß er die ganze Bande von Diplomaten und Juden
+gegen sich hatte, die in Kairo mitregieren. Nein, Gordon war kein
+Finanzrat<a id="FNAnker_10" href="#Fussnote_10" class="fnanchor">[10]</a> und war froh, wieder seine Wege zu gehen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich verließ Kairo wie ein gewöhnlicher Sterblicher, ohne Extrazug,
+und bezahlte mein Billet. Die Sonne, die so glanzvoll aufging, hatte
+einen ganz bescheidenen Untergang ... Die Last ist groß — ich
+wünsche, die Zeit der Ruhe wäre da; aber die kommt nicht, bis ich
+<em class="gesperrt">sein</em> Werk vollbracht habe. Hier bin ich — sende mich!«</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p>
+
+<p>Die Reise ging über Suez, Aden, Zeila nach Harrar; er wollte den Raouf
+Pascha, der als grausamer Tyrann dort schaltete, abermals seines Amtes
+entsetzen; es war derselbe, dem er vier Jahre vorher eine Züchtigung
+hatte zu teil werden lassen. In Harrar blieb er nur so lang als nötig
+war, um Ordnung zu schaffen; dann kehrte er nach Zeila zurück, wo er
+nach »achttägigem fürchterlichem Marsch« am 9. Mai 1878 anlangte.
+Müde wie er war, ging's alsbald weiter nach Massaua und Berber. Ihn
+verlangte nach Khartum zurück, wo ein Berg von Arbeit seiner harrte.
+Das Volk freute sich seiner Rückkehr und treulose Beamte zitterten;
+nicht weniger als acht seiner hochgestellten Untergebenen entsetzte
+er ihren Würden. Aber nur zu gut wußte er, daß er mit eingefleischter
+Veruntreuung im ungleichen Kampf stand, weil Ägypten wie die Türkei
+im Regierungswesen von oben bis unten durch und durch faul ist; und
+Menschenkraft, selbst die eines Gordon, reicht da nicht aus, auf die
+Dauer zu bessern.</p>
+
+<p>Die erste Nachricht von außen, die ihn in Khartum erreichte, war die,
+daß Walad el Michael in Abessinien eingefallen sei und sich des Ras
+Bariu bemächtigt habe. Somit waren Gordons Briefe an Johannes jetzt in
+Walads Hand, was dem Schreiber übrigens kein großer Kummer war. Walad
+wußte nun, wessen er sich zu versehen hatte, und daß Gordon, obschon
+er sich von ihm lossagte, bei Johannes um sein Leben eingekommen war.</p>
+
+<p>Die zweite ungleich bedenklichere Nachricht war ein erneuter und
+verstärkter Aufstand der Sklavenjäger. Soliman hatte sich in die Bahr
+el Ghasal zurückgezogen, wo die ganze Bande der aus ihren Nestern
+verjagten Sklavenhändler sich zur letzten verzweifelten Gegenwehr um
+ihn scharte. Während Gordon den Menschenhandel im Norden im Schach
+hielt und die Verbindungen der Räuber mit ihren Märkten abschnitt,
+erhob sich Soliman im Süden, und seine Horden überfluteten die Bahr el
+Ghasal.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich habe den ganzen Besitz der Sebehrfamilie konfisziert,« schrieb
+Gordon, als er dies vernommen, »und sende eine Truppenabteilung gegen
+den Sohn.«</p>
+</div>
+
+<p>Diese Unterwerfung persönlich zu leiten war ihm schon deshalb nicht
+möglich, weil durch Anhäufung des Ssett in den<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> Flüssen und Seen die
+Verbindung der Bahr el Ghasal mit Khartum oft monatelang abgeschnitten
+ist. Der Generalgouverneur durfte seine Provinz auf eine solche
+Möglichkeit hin nicht verlassen. Aber außerdem war eine Zeit der
+Schwierigkeiten angebrochen, der selbst seine Energie oft manchmal
+erliegen wollte. Die Paschas in Ägypten arbeiteten ihm geradezu
+entgegen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich stehe so ziemlich mit ganz Kairo auf dem Kriegsfuß, und Dornen
+sind mein Teil. Aber diese Arbeit ist mir nun einmal übertragen, ich
+will sie durchführen, und Gott wird mich von allem Übel erlösen. Wenn
+man sich von den irdischen Dingen nur immer innerlich frei halten und
+sie dem göttlichen Walten überlassen könnte, wie viel leichter wäre
+dann alles! Ich verzweifle nicht, aber wenn ich sehe, daß trotz aller
+Anstrengung kein wirklicher Fortschritt erreicht wird, dann überfällt
+mich ein Überdruß und ich wollte ich wäre daheim ... Seit die
+einsamen Kamelritte hinter mir liegen, habe ich keine erquicklichen
+Gedanken mehr ... Die fortwährenden Händel sind sehr niederdrückend
+und täglich möchte ich rufen: Wie lang, Herr, wie lang! Ich habe nie
+einen ruhigen Tag ... Aber so schwer es auf mir liegt, so ist es doch
+besser hier arbeiten, als anderwärts ein nutzloses Leben führen.«</p>
+</div>
+
+<p>Man sieht hieraus und aus ähnlichen Stellen, daß selbst ein
+Glaubensheld wie Gordon seine Stunden hat, wo er innerlich gebrochen
+ist und wie David und Hiob und andere Gottesknechte zu Zeiten meint,
+daß das Böse siegen werde. Auch körperlich hatte er zu leiden.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich war mehrere Tage recht unwohl und so allein in meinem großen
+einsamen Haus. Und dann schleppte ich mich von einem Zimmer ins
+andere, weil die Gedanken mir keine Ruhe ließen. Bei all dem habe
+ich den großen Trost, mich nie vor dem Tod zu fürchten.« Und einige
+Wochen später: »Gottlob ich bin fast wieder wohl, aber ich war zwei
+Tage recht elend. Die ganze Stadt ist krank dieses Jahr. Aber so
+krank ich war (und zwar gleichzeitig mit meiner Dienerschaft —
+alles lag darnieder), war es mir doch lieb, in meinem großen Haus
+allein zu sein und niemand zur Last zu fallen ... Ich glaube, mein
+armer Kopf hat nie mehr nutzlose Arbeit vollbracht als in jenen
+beiden Nächten. Bittschriften verfolgten mich und wenn ich meinte sie
+erledigt zu haben, so waren sie von neuem da; es war entsetzlich.«
+Und hieran knüpft er die nicht leicht zu<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> beantwortende Frage an
+seine Schwester: »Was möchtest du lieber, nach einem kampflosen
+Leben die ewige Seligkeit in geringerem Maße erreichen, oder durch
+ein Heer von Prüfungen hier durch müssen, um die ewige Seligkeit in
+größerem Umfang zu gewinnen? Merke, die ewige Seligkeit, als eine
+vollständige, in beiden Fällen! Ich weiß nicht, was ich wählen würde,
+ich möchte lieber nicht wählen, obschon ich ein abgehärteter Mann
+bin, denn dies Leben ist eine <em class="gesperrt">fürchterliche</em> Schule.«</p>
+</div>
+
+<p>Unter den äußeren Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, war
+der trostlose Zustand der Finanzen nicht die geringste: das Volk war
+über und über besteuert, aber mehr als zwei Drittel der Schatzung
+ging nie ein. Die Steuereinnehmer waren wie die weiland römischen
+Zöllner, die nebenher ihre eigenen Geschäfte machten. Gebt uns ein
+Sechstel als »Bakschisch«, sagten sie den Leuten, dann stellen wir
+euch ein Zeugnis aus, daß ihr nicht mehr zahlen könnt. Als Gordon
+die Verwaltung antrat, fand er, daß es vorher allgemein üblich war,
+den Gouverneur zu bestechen, um z.B. eine Stelle zu erhalten, und
+zwar so, daß ein Bewerber zwölftausend Mark »Bakschisch« für eine
+Anstellung zahlte, die ihm kaum mehr als ein Drittel dieser Summe
+an Jahresgehalt eintrug. Natürlich lag der Schluß nahe, daß die
+Beamten auf ganz andere Einkünfte als ihren Gehalt ihr Augenmerk
+richteten. Gordons Wachsamkeit legte manchem das Handwerk; das System
+war aber so eingerissen, daß er sich anfänglich der ihm zukommenden
+»Bakschisch«-Gelder gar nicht erwehren konnte; er legte sie in die
+Verwaltungskasse. Aber Ägypten selber betrachtete das abhängige
+Land nur als eine Geldquelle, und nicht zufrieden mit rechtmäßigen
+Einkünften, wie z. B. dem Ertrag des Elfenbeins, war es unter den
+ägyptischen Paschas ganz üblich, ihr eigenes Defizit aus dem Sudan zu
+decken. Selbst der Khedive telegraphierte seinem Statthalter Gordon,
+so oft er sich in Geldverlegenheit befand.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich bin hinter den Büchern gewesen,« schreibt dieser, »und habe
+einen guten Streich geführt. Die Finanzverwaltung von Kairo
+telegraphierte um eine halbe Million Mark, die der Sudan dorthin
+schulde. Ich habe die (alten) Abrechnungen nachgesehen und finde, das
+umgekehrt Kairo dem Sudan hundertachtzigtausend Mark schuldet!«</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span></p>
+
+<p>Er ließ sich nie dran kriegen, von keinem Vizekönig und keinem
+Minister. Im ersten Jahr seiner Verwaltung fand er ein Defizit von
+über fünf Millionen Mark in seinen Finanzen, im zweiten Jahr hatte
+er's auf eine Million heruntergebracht, und mit der Zeit hoffte er der
+Schulden ganz Herr zu werden und rechtmäßige Überschüsse nach Kairo zu
+schicken. Er hatte oft Ebbe in der Kasse und dabei die fortwährenden
+Schwierigkeiten mit dem Sklavenhandel — »wahrlich, man ist hier nicht
+auf Rosen gebettet!« rief er aus.</p>
+
+<p>Denn bei aller übrigen Not hatte er ein wachsames Auge auf die
+Sklavenwirtschaft. Im Juli z. B. meldete er:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wir haben in diesen zwei Monaten zwölf Sklaventransporte abgefangen;
+auch ist mir ein Brief von einem Händler in der Bahr el Ghasal in die
+Hände gefallen, worin dieser seinen Abnehmern schreibt, er habe eine
+Menge Sklaven bereit, wisse aber nicht, wie sie landabwärts bringen.
+Er wird sich wundern, die Antwort von <em class="gesperrt">mir</em> zu erhalten ... So
+weit es in meiner Macht steht, soll dieser Handel aufhören.«</p>
+</div>
+
+<p>Einige Wochen später wurde von seinen Leuten eine Karawane von
+neunzig Sklaven aufgefangen, die Überbleibsel von einer viermal
+größeren Anzahl, die über achthundert Kilometer weit durch die Wüste
+hergeschleppt worden waren; die wenigsten davon waren über sechzehn
+Jahre alt, die meisten ganz junge Kinder.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es fällt mir schwer, die Händler nicht nach Verdienst zu züchtigen
+(ihm selbst waren ja die Hände über ein gewisses Maß hinaus
+gebunden); aber ich darf nicht vergessen, daß Gott es zuläßt, und ich
+muß nach dem Gesetz handeln. Ich thue mein Bestes, und fürs übrige
+ist Er Generalgouverneur.«</p>
+</div>
+
+<p>In der Bahr el Ghasal waren, wie bereits gemeldet, die Sklavenjäger in
+erneutem Aufstand, und zwar abermals infolge eines geheimen Aufruhrs
+Sebehrs, jener Geißel Zentral-Afrikas, von welchem der ganze Greuel
+ausging. Der schwarze Pascha hoffte seiner Gefangenschaft in Kairo
+dadurch ledig zu werden, daß man ihn als den einen Mann, der die Bahr
+el Ghasal zu beschwichtigen vermöchte, nach dem Sitz des von ihm
+selbst hervorgerufenen Aufruhrs schicken würde. Sein Sohn Soliman
+war<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> sein Stellvertreter. Und daß er so rechnete, war keineswegs
+weit vom Ziel geschossen; Gordon erlebte es in den nächsten Monaten,
+daß rücksichtlich des Sudaner Budgets Nubar Pascha ihm von Kairo
+aus den Vorschlag machte, ihm den Sebehr als eine Art Finanzbeirat
+zu schicken. Derselbe hoffte den Sudan so zur Blüte zu bringen, daß
+Ägypten in kurzer Zeit auf eine halbe Million Mark Einkünfte von
+dorther werde rechnen können. Gordon meldete zurück: ja, eine halbe
+Million aus Sklaventransporten, er begehre solcher Hilfe nicht.</p>
+
+<p>Der Umfang des Aufstandes war anfänglich weder in Kairo noch
+in Khartum bekannt; später stellte es sich heraus, daß die
+Hauptsklavenhändler die Provinzen des Sudan von vornherein unter
+sich verlost hatten und sich mit der Hoffnung trugen, ihre Fahnen
+auf den Mauern Kairos wehen zu lassen. Keineswegs ein unmöglicher
+Traum! Auch als jener Aufstand unterdrückt war, erklärte es Gordon
+als seine Meinung, daß irgend ein entschlossener Anführer den Sudan
+gegen Ägypten aufwiegeln könne, wie das ja auch durch den Mahdi
+seither geschehen ist. Es sind nicht nur die Sklavenjäger, die das
+Brandmaterial in jenen unglücklichen Ländereien ausmachen, obschon
+diese an sich zu jener Zeit mächtig genug waren, um Ägypten in Atem
+zu erhalten, ein weiterer Zündstoff ist in den arabischen Stämmen
+vorhanden, die vor Hunderten von Jahren übers Rote Meer herüberkamen
+und sich im Innern von Afrika festsetzten. Diese Araber sind
+kriegstüchtige Leute, stolz auf ihre Abkunft und nach moslemischen
+Begriffen von sittlicher Lebensart. Diese sind es hauptsächlich, die
+sich dem Mahdi anschlossen, um die verhaßten Ägypter zu vertreiben,
+und sie waren es, die in jenem Aufstand Solimans Horden verdoppelten
+und verdreifachten. Fürs übrige stehen sie den Negern näher als den
+Ägyptern; sie selbst aber treiben Sklavenhandel, und Solimans Banditen
+waren zum Teil Angehörige dieser Stämme. »Unser ist das Land,« war der
+Schlachtruf jener Araber, »wir brauchen keinen Effendina (Khedive)
+hier!« »Wären Sebehr und seine Leute nicht so verruchte Sklavenjäger,«
+schrieb Gordon, »und hätten sie sich nicht solch furchtbare
+Grausamkeiten zu schulden kommen lassen, es wäre für den Sudan
+vielleicht<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> besser gewesen, die Aufrührer hätten ihren Zweck erreicht.
+Und — fügte er fernsichtig bei, — wenn England und Frankreich sich
+nicht besser vorsehen und für eine gerechte Verwaltung sorgen, so ist
+ein Sichlosreißen des Sudan von Ägypten nur noch eine Frage der Zeit.«</p>
+
+<p>Gordon verlor keinen Augenblick, den Aufruhr zu dämpfen, und da
+er nicht selbst den Rebellen entgegenziehen konnte, so entsandte
+er <em class="gesperrt">Gessi</em>, seine rechte Hand, einen tüchtigen Soldaten, der
+uns schon vom Äquator her bekannt ist und den Gordon bei dieser
+Gelegenheit folgendermaßen beschreibt:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Romulus Gessi, Italiener, neunundvierzig Jahre alt; kurz, von
+gedrungener Gestalt; ein kaltblütiger, entschlossener Mann, und in
+praktischen Dingen ein geborenes Genie.«</p>
+</div>
+
+<p>Auf seinem Wege nilaufwärts stieß dieser tapfere Soldat auf reichliche
+Beweise, daß die ägyptischen Beamten eigenen Gewinnes halber mit den
+Händlern unter <em class="gesperrt">einer</em> Decke steckten. Nicht nur begegneten ihm
+bei jeder Wendung mit Menschenware beladene Boote, sondern sogar
+Dampfer, die unter der Flagge der Regierung dem Sklaventransport
+Vorschub leisteten. Auf einem der Boote fand er an dreihundert
+Schwarze und unter diesen einige Lastträger, die als freie Menschen
+mit Ladungen von Elfenbein und Getreide nach Lado gekommen waren.
+Ibrahim Fansi aber, der dortige Statthalter, bemächtigte sich ihrer
+und verschiffte sie auf seine Rechnung in die Sklaverei. Zum Glück
+begegneten sie einem handfesten Befreier. Gessi war auf dem Wege nach
+den Äquatorialdistrikten, um auf den verschiedenen Stationen seine
+Streitmacht zu vervollständigen. Auf dem Rückwege landete er seine
+Mannschaft in Gaba Schambil, aber erst mit Anfang September konnte
+er durch das überschwemmte Land westwärts ziehen und infolge der
+Regenzeit mußte er wochenlang in Rumbehk am Bahr el Rohl bleiben. Dort
+erreichte ihn die Nachricht, daß der Sohn Sebehrs sich zum Herrn der
+Bahr el Ghasal aufgeworfen habe, daß er in Dem Idris die ägyptische
+Besatzung überfallen und vernichtet habe, wodurch ein beträchtlicher
+Vorrat von Kriegsbedarf in seine Hände gefallen sei. Die Häuptlinge
+der Araber in der Umgegend wandten sich ihm auf diesen Erfolg hin
+massenweise<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> zu, und solche, die es nicht thaten, metzelte er nieder.
+Weiber und Kinder erlagen entweder seiner Grausamkeit oder wurden
+in die Sklaverei geschickt. Rings umher hatte er die Leute ihrer
+Kornvorräte beraubt, so daß sie zu Hunderten Hungers starben.</p>
+
+<p>Soliman hatte sechstausend Mann, und es verlautete, er beabsichtige
+einen Überfall auf Rumbehk; Gessi hatte nur dreihundert reguläre
+Truppen mit zwei Feldstücken und etwa siebenhundert schlechtbewaffnete
+Irreguläre. Er erwartete noch bis dreihundert Mann Verstärkung
+und machte sich alsbald daran, Rumbehk zu befestigen. Seine von
+Gordon erwartete Hilfe blieb aber aus, weil sein Schreiben an den
+Generalgouverneur fünf Monate lang nach Khartum unterwegs war!
+Hilfe von den benachbarten Bezirksstatthaltern erhielt er nicht.
+An Beamten scheint die Provinz keinen Mangel gelitten zu haben.
+In Dem Idris hatte sich eine »fabelhafte Anzahl« derselben die
+Langeweile mit Tricktrackspielen vertrieben, während Jussuf Bey,
+der Bezirksgouverneur, ein ruchloses Leben führte, worin seine
+Untergebenen, sämtlich seine Neffen und Vettern, ihn nach Kräften
+unterstützten. Ägyptische Wirtschaft! Am 17. November verließ Gessi
+seine feste Stellung, und das war der Anfang eines Kriegs- und
+Siegesmarsches, das Ergebnis einer Energie, wie sie nur aus Gordons
+Schule hervorgehen konnte. Unaufhaltsam durch das Land der Ströme
+vorwärtsdringend und auf Flößen übersetzend — einmal inmitten von
+Krokodilen — verschanzte er sich in dem am gleichnamigen Fluß
+gelegenen Dorfe Wau. Dort kamen ihm die Eingebornen Hilfe suchend von
+allen Seiten entgegen. Über zehntausend Menschen hatte Soliman aus
+den Dörfern der Bahr el Ghasal geraubt. Ein Araberhäuptling schloß
+sich ihm mit siebenhundert Bewaffneten an und nun warf er sich auf
+Dem Idris, welche Stadt er befestigte, eines Überfalls von Soliman
+gewärtig.</p>
+
+<p>Der Sohn Sebehrs aber hatte sich überraschen lassen; bei dem
+überschwemmten Lande wähnte er Gessi noch in weiter Ferne und war
+selbst im Begriff, in seine Höhle zu Schekka zurückzukehren. Als
+ihm aber die Nachricht von der Nähe des Feindes kam, sammelte er
+rasch seine Streitkräfte, über zehntausend Mann, und warf sich auf
+Dem Idris. So sicher war er seiner Sache,<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> daß er schon die Stricke
+in Bereitschaft hielt, um Gessi und seine Handvoll Leute zu binden.
+Viermal kam es zum Angriff, und viermal wurde er zurückgeschlagen, das
+erstemal am 27. Dezember, wobei er tausend Tote und fünf Standarten
+zurückließ. Aus Mangel an Munition konnte Gessi den zurückgeworfenen
+Feind nicht verfolgen. Dieser machte vierzehn Tage später einen
+neuen Angriff und wurde abermals zurückgeschlagen. Soliman und seine
+Häuptlinge hatten sich vorher im Kriegsrat mit einem Eidschwur auf
+den Koran zu Sieg oder Tod verbündet. Durch Überläufer wußte Gessi
+davon und verband sich seinerseits mit seinen Leuten, ihr Leben so
+teuer als möglich zu verkaufen. So wenig Kriegsbedarf hatte Gessi,
+daß er nach dem ersten Angriff die Kugeln des Feindes sammeln und
+wieder gießen lassen mußte. Er sah aber, daß den schwarzen Soldaten
+der Sklavenhändler der Mut gebrach, daß die Araber mit gezückten
+Schwertern hinter ihnen standen und den Zagenden den Garaus machten.
+Am folgenden Morgen kam es zum dritten Angriff und sieben Stunden
+lang wütete der Kampf. Endlich wichen die Horden Solimans. Dieser
+war in verzweifelter Wut von seinem Pferd gesprungen und weigerte
+sich zu fliehen; wenn der Tod ihn nicht finde, wolle er ihn suchen,
+schrie er, aber seine Leute schleppten ihn mit Gewalt davon. Abermals
+nach vierzehn Tagen, in der Nacht des 28. Januar 1879, stürmte der
+Feind heran. Eine von Solimans Bomben setzte ein Strohdach in Brand,
+und das Lager stand in Flammen. Gessi war dadurch gezwungen, den
+Kampf im offenen Feld zu wagen, aber nach drei Stunden hatte er die
+Sklavenhändler in die Flucht geschlagen.</p>
+
+<p>Im März erhielt er Zufuhr von Pulver und Blei und konnte es wagen, den
+Feind in seiner Verschanzung anzugreifen. Solimans Lager bestand aus
+einem Verhau von Baumstämmen, im Zentrum war eine feste Verschanzung,
+die sechs- bis achttausend Mann deckte, und darum her standen statt
+der Zelte Reisighütten. Eine Rakete der Angreifenden fiel ins Lager,
+und im Augenblick brannte alles lichterloh. Die Rebellen suchten mit
+verzweifelten Anstrengungen des Feuers Herr zu werden, aber bald
+stand auch die äußere Einpfählung in Flammen, und den<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> Banditen blieb
+keine Wahl als einen Ausfall zu machen. Sie wurden auf ihr brennendes
+Lager zurückgeworfen und retteten sich zuletzt in wilder Flucht. Ihr
+Verlust war ein beträchtlicher. Die Nacht senkte sich auf Gessis müde
+Schar, die seit dreizehn Stunden der Nahrung ermangelte. Am andern
+Morgen bemächtigten sie sich des halbverbrannten Lagers; verkohlte
+Leichen bedeckten die Stätte und weithin lagen die auf der Flucht
+Umgekommenen. Mangel an Schießbedarf verhinderte Gessi abermals,
+seinen Sieg auszubeuten. Der Statthalter von Schekka, als der nächste,
+der Zufuhr hätte verschaffen können, ließ ihn im Stich, und als die
+Pocken in Dem Idris ausbrachen, war seine Lage in der That eine
+traurige.</p>
+
+<p>Während der tapfere Italiener den Sohn Sebehrs auf diese Weise im
+Schach hielt, war Gordon, wie wir gesehen haben, an der Arbeit
+in Khartum. Der Anfang 1879 brachte ihm nicht weniger als drei
+Einladungen nach Kairo; er umging sie mit der Antwort, daß der
+Zeitpunkt ein kritischer und eine Folgeleistung für ihn mit der
+Niederlegung seines Amtes gleichbedeutend sei. Während er täglich
+seine wirkliche Rückberufung erwartete, erhielt er die Nachricht vom
+Fall seines Gegners, des Nubar Pascha selbst. Gordon hatte dem Gessi
+deshalb keine Verstärkung schicken können, weil Nubar ihm das Militär
+verweigert hatte. Es war bei dieser Gelegenheit, daß dieser ihm statt
+eines dringend nötigen Regiments Soldaten den Sebehr anbot! Gordons
+Sorge um Gessi nahm täglich zu, und wiederholt telegraphierte er dem
+Khedive um Genehmigung eines Zuges seinerseits nach Kordofan und
+Darfur. Mitte März machte er sich dann nach Schekka auf den Weg.</p>
+
+<p>Den Zweck seines die Unterstützung Gessis bezweckenden Unternehmens
+beschreibt Gordon folgendermaßen:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Erstens galt es, die Anhänger des Sohnes Sebehrs in Kordofan zu
+verhindern, den Sklavenhändlern Hilfe zuzuführen; zweitens, dem
+Feind den Rückzug abzuschneiden und Sebehrs Horden zu verhindern, in
+Darfur einzufallen und sich daselbst mit dem angeblichen Sultan zu
+vereinigen, der im Hügelland noch sein aufrührerisches Wesen trieb;
+und drittens, Gessi moralischen Beistand zu gewähren sowie ihm den
+nötigen Kriegsbedarf zukommen zu lassen.«</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span></p>
+
+<p>In größter Eile drang Gordon vorwärts nach Schekka. Durch Gluthitze
+bei Tag und empfindliche Kälte bei Nacht, über sandige Strecken und
+verdorrtes Gras trug sein Kamel ihn durch die wasserlose Wüste. Der
+Weg ging über Obeid, wo die Leute »sauer sahen, weil er Handel und
+Gewerbe durch Unterdrückung der Sklavenjagd beeinträchtigte.« Da und
+dort faßte er unterwegs Sklavenkarawanen ab, konnte die Händler aber
+nur durchpeitschen und ihnen die verbotene Ware abnehmen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>Persönlich hatte er »keinen sehnlicheren Wunsch, als sie zu
+erschießen,« — es war lediglich das Gesetz,<a id="FNAnker_11" href="#Fussnote_11" class="fnanchor">[11]</a> das ihn daran
+verhinderte.</p>
+</div>
+
+<p>Auf einem nächtlichen Ritt in jener Zeit aber sah er einen Ausweg, den
+Greuel besser als bisher zu unterdrücken.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Von gestern abend halb sieben bis halb vier diesen Morgen habe ich
+auf meinem Kamel gesessen. Und auf diesem langen Ritt zeigte sich mir
+eine Möglichkeit den Sklavenhandel zu vernichten, dadurch nämlich: 1)
+<em class="gesperrt">wer im Lande Darfur wohnt, muß eine Aufenthaltskarte haben</em>; 2)
+<em class="gesperrt">niemand darf das Land betreten oder es verlassen ohne Paß für sich
+und sein Gefolge</em>. Auf diese Weise kann niemand im Land verweilen,
+ohne seine Erwerbsquelle nachzuweisen, und niemand kann ohne
+Kenntnisnahme der Regierung darin umherreisen. Ein Zuwiderhandeln
+dieser Verordnung wird mit Gefängnis oder durch Beschlagnahme des
+Besitzes der Schuldigen bestraft.«</p>
+</div>
+
+<p>Er berichtete dies der Schwester als einen guten Nachtgedanken, den
+er aber nicht seinem eigenen klugen Kopf zuschrieb, denn es steht
+in Klammern daneben: »So aber jemand unter euch Weisheit mangelt,
+der bitte von Gott, der da giebt einfältiglich<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> jedermann, und
+rückt es niemand auf.« Allerdings sieht er nur zu bald ein, daß
+sein Nachtgedanke zwar theoretisch gut, aber praktisch unausführbar
+ist; denn wer sollte der Paßanwendung Nachdruck verleihen? Am 8.
+April erreichte er Schekka, »diese Sündenhöhle.« »Das Entsetzen der
+Sklavenhändler« — es waren ihrer mehrere hundert beisammen — »war
+groß«.</p>
+
+<p>Am Tage vorher hatte ihn die Nachricht von Gessis Erfolgen erreicht,
+dem um diese Zeit auch die ersehnte Verstärkung geworden war. Während
+Gordon in Schekka dem Greuel den Boden sozusagen unter den Füßen
+wegzog, errang Gessi in der Bahr el Ghasal neue Siege. Die armen
+Schwarzen wußten sich nicht zu fassen vor Glück! Ein Dorf ums andere
+wurde ihnen zurückerobert, und ihre grausamen Unterdrücker fanden die
+verdiente Strafe. Mehr als zehntausend jener Unglücklichen schenkte er
+ihre Heimat wieder. Einmal brachten seine Späher ihm acht Sklavenjäger
+ins Lager und mit ihnen achtundzwanzig zusammengekoppelte Kinder. Er
+ließ die Schurken sofort erschießen. Ein paar Tage später hängte er
+eine ganze Reihe derselben im Wald auf. Kein Tag verging, daß nicht
+ein Negerhäuptling kam und sich ihm mit Dankesthränen zu Füßen warf;
+jetzt endlich konnten sie's glauben, daß es eine Regierung gebe, der
+es obliege, sie zu schützen.</p>
+
+<p>Am 1. Mai verließ er Dem Idris und suchte den Sohn Sebehrs in seinem
+eigenen Nest auf, das seinen Namen trug — Dem (d. h. Stadt) Soliman.
+Der Überfall war in Plan und Ausführung ein so glänzender, daß der
+junge Bandit ums Haar in seine Hände gefallen wäre. Die Stadt wurde
+erobert, und die reichen Vorräte kamen Gessis Truppen sehr zu statten.
+Der Sohn Sebehrs aber war zu einem andern Sklavenjäger, einem der
+mächtigsten Rebellen, Namens Rabi, entkommen. Mit sechshundert Mann
+machte sich Gessi auf den Weg, ihn zu verfolgen. Durch das verwüstete
+Land, das nach Rache gegen den Feind schrie, drängte der Rächer.
+Der Hunger folgte ihm auf den Fersen, zog vor ihm her, er achtete
+es nicht. Er erreichte ein Dorf, das noch die Spuren der vor kurzem
+verschwundenen Einwohner trug; es war spät am Abend, er fand Obdach
+vor dem<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> strömenden Regen, aber nicht eine Handvoll Durra. Da ging
+seinen Leuten der Mut aus. Mit Tagesanbruch rief er sie zusammen
+und sagte ihnen, daß er keine Nahrung für sie habe, daß aber der
+Feind nicht weit sei, und was sie ihm abjagen könnten, gehöre
+ihnen. Da feuerte der Hunger die Mannschaft an und weiter ging's im
+Sturmschritt. Sie kamen an Gräbern vorüber und scheuchten Raubvögel
+von ihrem Fraß auf, fanden unbeerdigte Leichen und frische Fußstapfen,
+dann Häuser und ein ausgestorbenes Dorf. Da stürzte ihnen ein weißes
+Weib mit aufgelöstem Haar und fast ohne Kleidung entgegen, sie
+trug ein Kind an der Brust, und ihr abgehärmtes Gesicht sprach von
+Schrecken und Jammer. Mit strömenden Thränen sank sie dem Anführer zu
+Füßen. Ihr Mann, ein ägyptischer Offizier, war bei dem Überfall von
+Dem Idris niedergemetzelt und sie als Beute entführt worden. Von ihr
+erfuhr Gessi auch, daß der Feind nicht weit war.</p>
+
+<p>In den Häusern gab's wenigstens genug Durra, die ausgehungerten
+Soldaten zu sättigen. In der folgenden Nacht lagerten sie in einem
+dichten Wald; Kundschafter wurden ausgeschickt. Die brachten nach
+zwei Stunden Nachricht von weithin leuchtenden Wachtfeuern. Gessi
+hielt dafür, daß er auf eine Sklavenkarawane gestoßen sei, denn die
+Hauptbande vermutete er in einem noch entfernteren Dorfe. Er teilte
+seine Mannschaft in der Absicht, die Karawane zu umgehen und sich
+zuerst der Rebellen zu versichern; aber die eine Abteilung verfehlte
+ihren Weg und kam mit Sklavenhändlern ins Gemenge. Schüsse fielen,
+und in wenig Augenblicken war die Bande auseinandergesprengt. Einige
+Händler fielen ihnen in die Hände, und diesen wurden nun dieselben
+Ketten angelegt, unter denen eben noch ihre Opfer geseufzt hatten.
+Ihr Anführer war Abu Snep, einer der berüchtigtsten Sklavenhändler in
+der ganzen Bahr el Ghasal. Aber der Rebellenhaufe hatte die Schüsse
+vernommen, und plötzlich — es war noch dunkle Nacht — erleuchtete
+eine Feuersbrunst den Himmel; die flüchtigen Banditen hatten das Dorf
+angezündet, und als Gessi es in der Morgenfrühe erreichte, fand er
+einen rauchenden Trümmerhaufen. Nirgends eine Menschenseele, nur ein
+kleines Sklavenbübchen, das<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> sich in der Verwirrung versteckt hatte.
+Das Kind berichtete, daß Soliman selbst keine vierundzwanzig Stunden
+vorher im Dorf gelagert hatte.</p>
+
+<p>In der folgenden Nacht stellten sich sieben Männer in Gessis
+absichtlich nicht erleuchtetem Verhau ein, seine Truppen für die Bande
+Rabis haltend, die sie in der Nähe wußten; sie sagten, sie seien vom
+<em class="gesperrt">Sultan Idris</em> entsandt, der alsbald hinterdrein käme und Rabi
+möchte ihn zum Anschluß erwarten. Gessi schickte durch einen der
+sieben die Antwort, daß er den Sultan da und da zu sehen hoffe. Die
+anderen sechs wurden zu Gast gebeten und sahen sich in kurzem als
+Gefangene.</p>
+
+<p>Gessis Plan war alsbald entworfen; er beabsichtigte sich Rabis zu
+versichern und dann den nachkommenden Sultan Idris zu empfangen. In
+größter Eile ging's vorwärts. Mit Tagesanbruch überfiel er jenen in
+seinem Lager, vernichtete seine Horde, bemächtigte sich aller seiner
+Vorräte und seiner Flagge, und nur der Häuptling selber entkam durch
+die Schnelligkeit seines Pferdes. Dann, in der Richtung zurückfallend,
+wo er seinen »Verbündeten« wußte, ließ er sein Zelt aufschlagen und
+Rabis Standarte daneben pflanzen. Seine Leute legte er im Umkreis in
+Hinterhalt; darnach schickte er ein halb Dutzend Schwarzer aus, die
+wie von ungefähr dem Sultan in die Hände gerieten. Wem sie gehörten?
+war die Frage. Dem Rabi, lautete die Antwort, und sie wären auf der
+Jagd. Da sandte Idris sie zurück, um seine Ankunft binnen einer Stunde
+zu melden. Ein plötzlicher Sturmwind und Regenguß trieb ihn und seine
+Leute vorwärts, und Schutz suchend, lief die Bande im Durcheinander in
+die Falle. Da krachte ein Signalschuß und Musketenfeuer knatterte um
+sie her. So groß war ihre Verwirrung, daß nicht einer die Gegenwehr
+versuchte. Idris und etliche seiner Araber waren die einzigen, die
+entkamen, und das nur, weil sie sich im Wetter unter einen Baum
+geflüchtet hatten und dadurch etwas zurückgeblieben waren. Reiche
+Beute fiel in Gessis Hand. Er kehrte nach Dem Soliman zurück, das er
+vor neun Tagen verlassen hatte, seine Rückkehr glich einem Triumphzug.
+Die Sklavenhändler in der Umgegend schienen in alle Winde zerstreut.
+Das Volk hatte sich erhoben und die<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> Flüchtigen mit Pfeil und Speer
+verfolgt. Die gefangenen Anführer brachte Gessi in Ketten mit sich,
+während die besiegte Mannschaft Lasten von erbeutetem Elfenbein hinter
+ihm herschleppte. In Dem Soliman fanden die Rächer eine wohlverdiente
+Ruhe.</p>
+
+<p>Indessen hatte Gordon in Schekka mit den fast unbezwingbaren
+Schwierigkeiten seiner Verwaltung ritterlich weiter gekämpft.
+Auch um diese Zeit schrieb man ihm wieder von Kairo und begehrte
+zweihundertundvierzigtausend Mark aus dem Sudan. Er meldete zurück:
+»Wenn die zerlumpten Truppen hier Kleidung und Löhnung haben, dann
+kann man wieder davon reden.«</p>
+
+<p>In Darfur fand er die alte Mißwirtschaft: »Ich verzweifle am
+ägyptischen Regiment!«<a id="FNAnker_12" href="#Fussnote_12" class="fnanchor">[12]</a> Immer wieder ist's ihm sonnenklar, daß das
+Hauptelend des Landes von der Gewinnsucht der Beamten ausgeht.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich habe dem Khedive telegraphiert, den Sohn des Sultans Ibrahim
+herzuschicken (der in Kairo festgehalten wurde) und mit ihm die
+rechtmäßige Sultansfamilie hier wieder einzusetzen, denn mit diesem
+Diebspersonal von Beamten ist eine gerechte Regierung unmöglich....
+Mich kennen die Leute von Darfur und haben Vertrauen zu mir ... ich
+werde dann dem Harun, der noch immer seine Ansprüche behauptet,
+schreiben, daß es ihn nichts nützt, länger gegen Ägypten und den
+rechtmäßigen Sultan aufkommen zu wollen, daß ich ihn angreifen
+könnte, daß das aber nur neues Elend übers Land bringen würde und ich
+ihn deshalb auffordere, mir zu helfen, Land und Leute für den jungen
+Sultan zu gewinnen.«</p>
+</div>
+
+<p>Es war immer wieder Gordons Politik, mit Großmut den Feind zu
+gewinnen, dem geschlagenen Feinde voran zum nächsten Siege zu eilen
+und den noch gegen ihn ankämpfenden aufzufordern, <em class="gesperrt">ihm zu helfen, zu
+thun, was recht ist</em>! Oft ist ihm diese wunderbare Taktik gelungen,
+manchmal auch nicht. Harun wollte nichts davon wissen. Wir werden
+später sehen,<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> wie gerade an dieser hochherzigen Gewohnheit Gordons,
+Feinde zu seinen Mitarbeitern zu machen, die ihm entgegentretende
+Politik ihre Handhabe fand, ihn dem Verderben zu überlassen. Seine
+Großmut war oft zu gut für die Welt und darum ihr unverständlich;
+Krämerseelen nannten ihn einen Enthusiasten. Ja, es war der göttliche
+Enthusiasmus, der den Sünder für seine Sünde züchtigt, ihn selbst aber
+wieder aufrichtet, der den Saulus zu Boden schlägt und im Paulus sein
+Rüstzeug gewinnt.</p>
+
+<p>Und wieder der Sklavenhandel:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Gott ist mein Zeuge, wenn ich diesen Greuel vernichten könnte, ich
+ließe mich heute nacht noch erschießen; dies beweist wenigstens mein
+heißes Verlangen, aber ich mag kämpfen wie ich will, ich sehe wenig
+Hoffnung, dieses Übel zu bewältigen.«</p>
+</div>
+
+<p>In Stunden des Kleinmuts war ihm in dieser Zeit der erste Gedanke
+gekommen, sein Amt als Generalgouverneur niederzulegen, weil er
+fühlte, daß er das Land nicht so regieren konnte, wie es seinem
+eigenen Herzen genügte. Daran knüpfte sich für ihn die Frage: soll
+er, wenn er die glänzendere Würde niederlegt, sich nach Darfur
+zurückziehen und sein Leben dort opfern? Durch dauernde Anwesenheit in
+jenem Land, in dem das ganze Greuelwesen wurzelt, könnte er vielleicht
+das ersehnte Ziel erreichen. Manch einer (besonders wenn die Frage ihm
+nicht selbst gilt) möchte hier sagen, das ist ja ein schöner Beruf,
+für den man gern sterben könnte! Es ist auch nicht der Tod, den Gordon
+fürchtet, sondern die »lange Kreuzigung in diesem fürchterlichen
+Land.« Seine Körperkräfte sind geschwächt und der physische Mut
+gebricht ihm, solch ein Kreuz auf sich zu nehmen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»In den Tod gehen, ja, aber ach! es wäre ein langes, langes
+Hinsterben, und ich vermag es nicht!«</p>
+</div>
+
+<p>Mittlerweile ist er rüstig wie immer, wenigstens das Beste zu thun,
+was in seiner Kraft steht.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Diesen Abend wurden sieben eingefangene Händler mit dreiundzwanzig
+Sklaven vor mich gebracht; das Elend dieser letzteren war unsäglich
+— es waren Kinder von kaum drei Jahren darunter, die durch diese
+Wüste hergetrieben worden sind, vor der es mir auf meinem Kamel
+bangt ... Ich höre, daß andere auf dem Weg sind,<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> und manche von den
+armen Weibern haben nicht einen Fetzen, um sich zu decken. Wir haben
+in diesen neun Monaten wenigstens zweitausend abgefangen, und das
+ist wohl nicht der fünfte Teil der Karawanen, die hier durch sind.
+Und wie viele sind unterwegs umgekommen? ... Ich habe mit einigen
+Häuptlingen gesprochen, es ist trostlos zu hören, daß mehr als ein
+Drittel der Bewohner dieses Landes in die Sklaverei geschleppt worden
+ist ... Ich höre, daß Kalaka in großer Aufregung ist, seit mein
+Kommen in Aussicht steht. Ein Sklavenhändler dort soll einen Mann
+erschossen haben; ich werde ihn dafür erschießen lassen, wenn ich
+hinkomme. Ich werde wohl eine beträchtliche Anzahl dort wegfangen.
+Sie wissen sich nicht zu helfen, kein Schlupfwinkel ist mehr übrig,
+denn die Beduinen helfen mit.«</p>
+</div>
+
+<p>Diese notgedrungenen Freunde fingen eine Menge Händler weg, und
+die Sklaven liefen umher wie herrenlose Schafe, wurden auch immer
+wieder von Händlern aufgeschnappt, die sie gern als ihr Eigentum
+betrachteten. Die aufgegriffenen Sklavenhändler züchtigte Gordon stets
+nach dem — zwar ungenügenden — Gesetz; er ließ sie durchpeitschen
+und setzte sie, wo er konnte, hinter Schloß und Riegel.</p>
+
+<p>Ehe er Schekka verließ, um nach Kalaka weiter zu ziehen, hörte er
+noch von Gessis namhaften Erfolgen. Die Straße nach Kalaka trug
+überall Spuren, daß die Händler des Weges gezogen waren. An manchen
+Orten bleichten Schädel und Menschenskelette zu Hunderten; hier
+und dort lagen die Schädel aufgehäuft, ein grauenhaftes Denkmal
+des entsetzlichen Handels. Wie viele Tausende von armen Schwarzen
+mochten da vorbeigetrieben worden sein! Man fragt sich, wohin
+sie nur alle geschleppt werden? Ein Teil wird als Dienstsklaven
+verwendet, besonders in den Küstenländern des Roten Meeres; die
+ganze mohammedanische Welt aber ist, teils offenkundig, teils
+heimlich, eine Empfangsstätte für Sklaven, meist Weiber und Kinder.
+Das Haremswesen verschlingt alljährlich eine große Anzahl. Im Blick
+auf dieses Endziel des schändlichen Handels möchte man fast sagen:
+es ist ein Glück, daß die meisten unterwegs erliegen! In Kalaka hob
+er ein ganzes Nest von Händlern aus und wenigstens tausend Sklaven,
+welch letztere er den eingebornen Stämmen überlassen mußte. Und<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span>
+weiter ging's durch die Wüste nach Darra, nach Fascher und Kobeh an
+der obersten Grenze des Landes. Was für Reisen! Er sagte einmal in
+jener Zeit: nur kraft seines Kamels sei er einigermaßen Herr im Land.
+Auf dem Weg nach Kolkol an der äußersten Nordwestgrenze wurde er
+mit seiner Schar von etwa hundertundfünfzig Banditen überfallen und
+mehrere Stunden lang ging es ihm mit seinen Leuten »hinderlich«, wie
+er sagte; aber schließlich zogen die Räuber, die »seine Kamele und
+seine Sachen« wollten, den kürzeren. In Kolkol angekommen, hatte er
+die Länge und Breite der ägyptischen Herrschaft durchreist. Er faßt
+seine Eindrücke in die Worte zusammen: »Das Elend dieser verkommenen
+Länder ist unsäglich — die Regierung selbst hat sie in eine Wüstenei
+verwandelt.« Kolkol nannte er ein Gefängnis; es hatte seit zwei Jahren
+niemand den Weg dahin gefunden. Die Garnison war in entsetzlichem
+Zustand. Aus diesem verlassenen Nest sandte er eine ganze Bande
+hilfloser Besatzung nach Khartum, vierhundert Araber mit Weibern und
+Kindern. Von dieser äußersten Grenze des Elends trat er den Rückweg
+nach Khartum an, zunächst über Fascher, Omschanga und Tuescha. Während
+seiner kurzen Abwesenheit hatten sich die Banditen wieder in Schekka
+gesammelt und von dort sich ins Innere des Landes geschlagen. Obschon
+er auf diesem Zuge mehrere tausend Sklaven weggefangen und viele
+Händler bestraft hatte, so stand der greuliche Betrieb doch alsbald
+wieder in Blüte.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es ist anzunehmen, daß in diesen zwei Jahren allwöchentlich etwa 600
+Sklaven hier durch sind! Während meiner Amtszeit! Habe ich da Ursache
+stolz zu sein?«</p>
+</div>
+
+<p>Bei dem vorhandenen Wassermangel war das Elend der Ärmsten oft über
+alle Beschreibung; und meist konnte er mit den Befreiten nichts
+anfangen, als sie den Eingebornen überlassen. So ging's auch mit ein
+paar hundert Sklaven, die er in und um Tuescha aufgegriffen hatte. Er
+ließ sie vor sich kommen und sagte ihnen, daß er keine Möglichkeit
+hätte, sie in ihre Heimat zurückzuschaffen, daß sie aber jetzt frei
+wären. Sie waren alle damit einverstanden, sich den Leuten dort
+anzuschließen. Drei schwarze Weiber wurden vor ihn gebracht, um über
+die Händler<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> ausgefragt zu werden, und als Beweis, daß selbst im
+größten Elend die Eitelkeit oft oben auf ist, erzählt er, daß eine
+derselben sorgfältig eine Ecke des schmutzigen Fetzens aufknöpfte, den
+sie als Kleidungsstück um sich gewickelt hatte, und etliche Glasperlen
+daraus zum Vorschein brachte; die hing sie sich um den Hals und guckte
+dann um so zufriedener in die Welt. Aber von anderen, besonders von
+einem kaum vierjährigen Bübchen sagt er, daß das Lachen ein Ding sei,
+das ihn nie ankäme, die Bitterkeit seines jungen Lebens sei zu groß!</p>
+
+<p>In Tuescha sah er Gessi wieder, der ihm um Jahre gealtert schien;
+vielleicht konnte Gessi dasselbe von ihm sagen. Wie wir gesehen
+haben, hatte Gessi dem Räubervolk in der Bahr el Ghasal tüchtige
+Schläge versetzt und nebenbei reiche Ladungen an Elfenbein erobert.
+Nur Soliman selbst war ihm bis jetzt noch immer entkommen; doch waren
+seine Tage gezählt! Gordon belohnte den heldenmütigen Italiener,
+indem er ihn zum Pascha der Osmanlie zweiter Klasse ernannte und
+ihm vierzigtausend Mark dazu schenkte. Während er selbst nach
+Khartum zurückkehrte, wandte sich der neue Pascha wieder seinem
+Kampfgebiet zu. Schon nach wenigen Tagen brachte ein Überläufer
+ihm die Nachricht, daß Soliman im Schild führe, sich mit Harun zu
+vereinigen. Alsbald machte er sich auf, dies zu verhindern. Der Sohn
+Sebehrs versuchte sein Heil in der Flucht in der Richtung von Gebel
+Marah, einem schwierigen und wenig bekannten Hügelland. Neunhundert
+seines Gesindels waren mit ihm: Rabi mit siebenhundert entrann auf
+andern Wegen. Gessi, der seine Streitkräfte noch nicht zusammengezogen
+hatte, konnte mit nur zweihundertundneunzig Mann zur Verfolgung sich
+aufmachen; aber diese waren wohlbewaffnet und durch die unlängst
+errungenen Siege innerlich gehoben. Durch einen mit bewundernswerter
+Kühnheit ausgeführten Eilmarsch überraschte er Soliman und die Seinen
+in einem Dorf Namens Gara zu früher Morgenstunde im Schlaf. Drei Tage
+und drei Nächte hatte der unaufhaltsame Pascha sich und seiner Schar
+kaum Ruhe gegönnt und dem Feind auf Querpfaden den Weg abgeschnitten.
+Wie manches friedliche Dorf hatte die ruchlose Horde Solimans auf
+ähnliche Weise zur Nachtzeit überfallen!<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> Wie manche Wohnstätte hatten
+sie mit Feuer verwüstet und die nichts ahnenden Bewohner mit sich
+geschleppt! Das Blut war in Strömen geflossen, und viele Tausende von
+Menschen waren durch sie dem Elend der Sklaverei verfallen. Jetzt war
+die Stunde der Rache gekommen.</p>
+
+<p>Mit seiner geringen Streitmacht wagte Gessi es nicht, das Dorf zu
+umstellen. Er wagte es nicht einmal, sie dem Feind zu zeigen, sondern
+hielt sie im Wald zurück, um jenen über die Anzahl zu täuschen. Dem
+Soliman gab er zehn Minuten Bedenkzeit, die Waffen zu strecken; ergebe
+er sich in der kurzen Frist nicht, so habe er keine Gnade zu erwarten.
+Die schlaftrunkene Bande glaubte sich von Gessis ganzer Streitkraft
+umringt und ergab sich im Schrecken der Überraschung. Einige der
+Sklavenhändler hatten sich beim ersten Alarm in den Wald geflüchtet,
+die meisten aber, unter ihnen Soliman selbst, gehorchten dem Befehl
+und legten ihre Waffen nieder. Als der Sohn Sebehrs entdeckte, mit
+wie wenig Leuten Gessi ihn überwältigt hatte, erfaßte ihn ein wilder
+Ingrimm. »War das eure ganze Anzahl?« schrie er. »Sie genügte!«
+entgegnete ihm Gessi kaltblütig. Da brach jener in Zornesthränen aus
+— »wäre mein Vater hier gewesen, wir wären nie erlegen! Es sind
+ihrer nur dreihundert, und ihr (seine Häuptlinge) meintet, es wären
+dreitausend!«</p>
+
+<p>Den Tag über ließ Gessi sie im Dorf bewachen und sie verhielten sich
+ruhig; als es aber dunkel wurde, schien Leben über sie zu kommen,
+und er vermutete, daß Botschaft zwischen ihnen und ihren entlaufenen
+Gefährten hin- und hergehe. Sie planten ein Entkommen in der Nacht,
+in der Hoffnung, ihren Verbündeten Abdulgassin zu erreichen, der mit
+seiner Bande nicht allzuweit entfernt war. Gessi entdeckte die Pferde
+seiner Gefangenen, die gesattelt bereit standen. »Nun,« schrieb er,
+»sah ich, daß die Zeit gekommen war, diese Schurken ein für allemal
+unschädlich zu machen.« Er traf eine Auswahl. Ihren bewaffneten
+Sklaven war er erbötig Leben und Freiheit zu schenken, wenn sie zu
+ihren Stämmen zurückkehren wollten. Dazu waren sie mehr als bereit
+und er ließ sie unter dem Geleite seiner Mannschaft ziehen. Die
+kleineren Sklavenhändler, etwa hundertfünfzig an der Zahl, machte<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span>
+er zu Gefangenen. Die Haupträdelsführer aber, d. h. Soliman und zehn
+andere, wurden erschossen. Dazu hatte er Gordons Vollmacht. Zwei Jahre
+vorher in der »Höhle Adullam« hatte dieser sie gewarnt, daß sie die
+Sklavenjagd mit ihrem Leben würden büßen müssen, sofern sie nicht
+davon abließen. Sie hatten die Warnung in den Wind geschlagen, und nun
+war das Maß ihrer Bosheit voll. Keiner zeigte Reue. Dem Sohn Sebehrs
+schien der Mut zu entfallen, denn er sank vor dem Schuß zu Boden; ein
+anderer vergoß Thränen; die übrigen aber gingen ohne Spur von Rührung
+in den Tod. Auf diese Nachricht versprengte der Schrecken Abdulgassins
+Horde und auch Rabi mit den Seinen floh.</p>
+
+<p>Damit war der Sklavenhandel für den Augenblick aufs Haupt geschlagen,
+und da die Eingebornen sich nun auch allerwärts gegen ihre
+Bedrücker erhoben, so fanden die flüchtigen Händler nirgends einen
+Schlupfwinkel. Abdulgassin, die Hyäne dieses Landes, der ganze Dörfer
+entvölkert hatte, wurde später eingefangen und erschossen. Rabi entkam
+— wohin wußte niemand. Nun war Friede und eine Zeit der Ruhe kam über
+die gequälten Neger, die sich in ihren Heimstätten wieder ansiedeln
+konnten; sie wußten ihrer Freude kein Ende, schrieb Gessi.</p>
+
+<p>So wurde die Macht Sebehrs in seinem Sohne gebrochen, aber noch war
+er selber unbestraft. Der schwarze Pascha war ein König gewesen, der
+mächtigste aller Sklavenhändler in der Welt. Weithin, bis ins Innere
+von Afrika hinein, hatte er seine festen Plätze und Raubhöhlen;
+ganze Länder hatte er verwüstet, wo vorher die schwarzen Stämme in
+verhältnismäßigem Wohlstand ihr Naturleben führten. Mit fürstlichem
+Glanz hatte der greuliche Menschenräuber im Lande geherrscht; aus
+einem Strom von Thränen und Blut war sein Reichtum gewonnen worden,
+und nun war der Strom versiegt. Ihm selbst schien der verdiente Lohn
+zu werden; denn unter dem Nachlaß seines Sohnes fanden sich Briefe
+von seiner Hand, die ihn als den Anstifter des ganzen Aufstandes
+verrieten. Er wurde in Kairo vor Gericht gestellt und zum Tode
+verurteilt. »Es wird ihm nichts geschehen,« sagte Gordon, als er's
+vernahm; und so war es! Er blieb nicht nur<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> am Leben, sondern wurde
+sogar eines Gnadengehaltes für würdig erachtet. Warum? muß ein Rätsel
+bleiben. Der abgesetzte König der Sklavenhändler wurde nach wie
+vor in Kairo festgehalten und hat seine zweitausend Mark monatlich
+aus der vizeköniglichen Kasse bezogen! Die verkehrte Schwäche, die
+ihm das Leben schenkte, hat viel dazu beigetragen, daß Gordons und
+Gessis glänzende Erfolge den greulichen Menschenhandel im Sudan zwar
+zu unterdrücken, aber nicht auszurotten vermochten. Sebehr war und
+blieb eine Macht der Finsternis, und die Schlußszene von Gordons
+Lebensdrama, die tieftragische, ist zweifelsohne mit sein Werk.</p>
+
+
+<h3>4. Als Gesandter in Abessinien.</h3>
+
+<p>Auf dem Rückweg nach Khartum erfuhr Gordon in Fodja, daß Gessi den
+Soliman und seine Genossen überwältigt und erschossen hatte. Er
+selbst hatte dem Sklavenhandel in Darfur mehr wie einen empfindlichen
+Schlag versetzt. Zwar war er zu der Überzeugung gekommen, daß eine
+völlige Vernichtung des Unwesens ein Ding der Unmöglichkeit war,
+insolange nämlich als die ägyptische Regierung nicht von Grund aus
+eine andere würde; aber für den Augenblick lag der Greuel am Boden
+und das gequälte Land atmete auf. In Fodja erreichte ihn auch die
+zweite Nachricht, daß die seit Monaten drohende Umwälzung in Kairo
+stattgefunden und daß Ismail zu Gunsten seines Sohnes Thewfik
+abgedankt hatte. Es lag ihm ob, den Regierungsantritt des neuen
+Khedive in den Sudanländern zu verkündigen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es ließ mich kühl,« sagte Gordon, »ich telegraphierte an die
+verschiedenen Unterstatthalter und quittierte dem Cherif Pascha den
+Empfang der Anzeige — damit begnügte ich mich.«</p>
+</div>
+
+<p>Ismails Glückswechsel ließ ihn übrigens nicht kalt, er nahm
+aufrichtigen Anteil an seiner Demütigung, obschon er seine Politik
+öfters beklagt, ja getadelt hatte. Die Veränderungen in Kairo, welche
+mit dem neuen Khedive die dem Sklavenhandel freundlichen Pascha wieder
+ans Ruder brachten, bestärkten ihn aber ohne Zweifel in seinem bereits
+gefaßten Vorsatz, sein Amt niederzulegen. Er hatte das übernommene
+Werk vollbracht, so weit es ihm möglich schien;<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> die Würde an sich
+hatte keinen Reiz für ihn. Mit diesen Gedanken kehrte er nach Khartum
+zurück.</p>
+
+<p>Um diese Zeit erhielt er einen Brief von seinem alten Freunde, dem
+Gouverneur Li in China, folgenden Inhalts:</p>
+
+<p>»Sehr freute es mich von Ihnen zu hören. Es sind vierzehn Jahre, seit
+wir uns trennten, und wenn ich Ihnen auch bisher nicht geschrieben
+habe, so spreche ich doch oft von Ihnen und gedenke Ihrer mit
+großer Teilnahme. Die Wohlthaten, die Sie China erwiesen haben,
+verschwanden nicht mit Ihrer Person, sondern sind jetzt noch in den
+Gegenden fühlbar, in denen Sie eine so wichtige und thatkräftige
+Rolle spielten. Das Volk segnet Sie um des Friedens und des Gedeihens
+willen, dessen es sich seither erfreute. Ihre Erfolge in Ägypten
+sind durch die Welt erschollen; ich lese oft in den Zeitungen von
+Ihrem edlen Werk am obern Nil. Sie sind ein Mann, der sich stets zu
+helfen weiß, in was für Lagen Sie sich auch befinden. Ich hoffe, daß
+Ihnen ein langes Leben geschenkt werde, denn Sie verbreiten Segen
+um sich her, wohin auch immer Ihr Beruf Sie führt. Ich lasse es mir
+ernstlich angelegen sein, mein Volk auf eine höhere Stufe zu bringen
+und dieses Land mit andern Ländern innerhalb der »vier Meere« in einem
+Bruderbündnis zu vereinigen. Ich beantworte Ihre Fragen: — Kwoh Sung
+Ling hat sich vom öffentlichen Leben zurückgezogen und erfreut sich
+der Ruhe. Jang Ta Jen ist schon lang gestorben. Dem Sohn des Na Wang
+geht es gut, er ist Regimentsoberst mit fünfhundert Leuten unter ihm.
+Die Pataschau-Brücke, die Sie teilweise zerstörten, ist bald nach
+Ihrer Abreise wieder aufgebaut worden und ist in recht gutem Zustand.
+— Kwoh Ta Jen, der chinesische Minister, schrieb mir, daß er die
+Freude hatte, Sie in London zu sehen. Ich wollte, ich wäre auch dabei
+gewesen; aber die Pflichten dieses Lebens führen die verschiedenen
+Menschen in verschiedene Teile der Welt und es ist eine weise
+Einrichtung der Vorsehung, daß wir nicht alle am selben Orte sind.
+Ihnen Glück und Segen wünschend meinen Gruß.«</p>
+
+<p>An diesem Brief des alten Chinesen kann man nur seine Freude haben;
+steht es doch nicht bloß <em class="gesperrt">zwischen</em> den Zeilen zu lesen, daß
+Gordons Werk dort ein bleibendes war.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span></p>
+
+<p>Gordon verließ Khartum Ende Juli und erreichte Kairo am 23. August.
+Acht Tage später begab er sich als außerordentlicher Gesandter zum
+König von Abessinien. Thewfik setzte offenbar Vertrauen in ihn,
+obschon er halb und halb gefürchtet hatte, daß Gordon beabsichtige,
+sich als Sultan im Sudan aufzuwerfen. »Das würde unser einem aber doch
+nicht passen,« meinte Gordon. Seine abessinische Reise bezog sich auf
+die alten Wirren. Mit ihm ging sein schwarzer Schreiber Berzati Bey,
+der in seinem Dienst stand seit er jenen anderen der Bestechlichkeit
+wegen entlassen hatte und dem er nachrühmte, daß er die unschätzbare
+Eigenschaft besessen habe, es ihn wissen zu lassen, wenn er
+anderer Meinung war als er. Dieser Berzati stammte aus einer alten
+muselmännischen, in Khartum ansässigen Familie. Als Schüler eines
+namhaften Gelehrten dieser Stadt erlangte er eine tüchtige Bildung.
+Die Geschichte des Landes kannte er von Grund aus und verstand sich
+auf verschiedene Geheimschriften. »Er war in diesen drei Jahren mein
+bester Freund,« sagt Gordon, »obwohl wir manchmal hintereinander
+gerieten. Ich verdanke ihm viel; denn ob er zwar ein guter Patriot und
+fester Muselman war, riet er mir doch stets ehrlich zum Besten des
+Volkes .... Er hat übrigens seine Last — vier Weiber; hat mancher
+doch an <em class="gesperrt">einer</em> genug. Ein paar Männer wie Berzati Bey könnten
+Ägypten aufhelfen; aber solche sind selten. Spötter nennen ihn den
+›schwarzen Gnomen.‹«</p>
+
+<p>Die Abessinier hatten das Grenzland Bogos inne. Am 11. September 1879
+machte sich Gordon von Massaua zu einer Zusammenkunft mit dem in Gura
+lagernden Alula auf den Weg. Unterwegs schrieb Gordon:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wir sind einer Karawane begegnet, die von Gura kommt ... Sie brachte
+die Bestätigung der Nachricht, daß Alula auf des Königs Befehl den
+Walad el Michael und alle seine Offiziere gefangen genommen habe, und
+daß Walads Sohn, Metfin, erschlagen sei. In Massaua traf mich die
+Kunde, daß Abdulgassin, der letzte der Anführer von Sebehrs Banditen,
+eingefangen und auf meinen Befehl erschossen worden sei. Er war
+jener Schurke, der einen Negerknaben umbrachte und in dessen Blut
+seine Flagge tauchte. (Bei der Einnahme von Dem Idris, um den Himmel
+günstig zu stimmen!) So<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> giebt's immer mehr Lücken in meiner Fürbitte
+für die Feinde. Sebehrs Anführer und Walads Sohn, sie waren alle in
+mein Gebet eingeschlossen. Ich gestehe, ich bin dieses Leben müde, es
+wäre mir kein Kummer, wenn Walads Bande mir unterwegs auflauerte.«</p>
+</div>
+
+<p>Wie charakteristisch ist dieser Brief für den Schreiber! Als Soldat
+giebt er den Schurken ihren verdienten Lohn, er läßt sie erschießen;
+als Christ hat er es nie unterlassen, sie mit Namen in seiner Fürbitte
+vor Gott zu bringen!</p>
+
+<p>Gordon litt auf dieser Reise viel von der Hitze. Er nennt sich einen
+Hiob voll Schwären. Aber wenn auch der Körper schwach ist, seine
+Aufgabe führt er durch und entwirft sich seine Pläne auf dem Ritt
+durch die Wüste.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich bin entschlossen, entweder mit oder ohne des Königs Hilfe mit
+Walad und seinen Leuten fertig zu werden und dann mit Johannes selbst
+ins reine zu kommen.«</p>
+</div>
+
+<p>Unter Hilfe verstand er nicht Waffen, sondern ein Versprechen, daß
+Walads Truppen, wenn sie Bogos räumten, eine Zuflucht gewährt werde.
+Wo Barmherzigkeit am Platze war, unterließ er es gewiß nicht, darauf
+hinzuarbeiten! Er erreichte Gura halbtot von seinem Wüstenritt und
+vernahm, daß Alulas Lager auf einem steilen Berg sich befand, und weil
+sein Lasttier erschöpft war, so erstieg er die Höhe mühsam zu Fuß. Er
+fand den abessinischen Befehlshaber in einem niedern, langen Gezelt
+von Baumzweigen, an dessen oberem Ende Alula auf einem Diwan saß, wie
+eine Mumie in weiße Tücher gewickelt, die nur die Nase sichtbar ließen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Feierliche Stille herrschte; und alle Anwesenden waren gleich ihm
+vermummt, als ob meine Nähe sie vergiften könnte. Die Figur auf dem
+Diwan regte sich nicht, und war wirklich so eingewickelt, daß mich
+ein Verlangen ankam, dem Mann nach dem Puls zu fühlen. Der Mensch muß
+krank sein, dachte ich. Durchaus nicht — es war Freund Alula!«</p>
+</div>
+
+<p>Und Gordon sah, als Alula nach einiger Zeit die weiße Hülle etwas
+fallen ließ, daß er ein ganz kräftiger, sogar hübscher junger Mann
+von etwa dreißig Jahren war. Auch den andern schien nach und nach die
+Furcht vor Gift zu vergehen. Gordon fand die Audienz aber tödlich
+langweilig, denn Alula schien ihm durch<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> Schweigen imponieren zu
+wollen. Nach langer Pause gestattete er ihm zu rauchen, was eine
+besondere Vergünstigung war, indem der König einen Befehl erlassen
+hatte, allen Rauchern die Nase abzuschneiden. Gordon lehnte es ab
+und betrachtete sich einstweilen die Priester, die den Hofstaat
+vervollständigten. Viel erreicht wurde bei dieser Gelegenheit darum
+nicht, weil Alula vorläufig nur den einen Zweck verfolgte, dem
+Gesandten mit wenig Höflichkeit zu begegnen. Ägypten hatte Abessinien
+schlecht behandelt, Gordon wußte sich daher über den unmanierlichen
+Empfang zu trösten.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Bei der nächsten Audienz aber werde ich meinen sudanischen
+Thronsessel mitbringen, sowie einen geeigneten Sitz für den schwarzen
+Gnomen.«</p>
+</div>
+
+<p>Als Alula jedoch verlangte, daß der Gesandte am Fuße des Berges
+kampiere und täglich zu ihm hinaufklettere, schlug ihm Gordon dies
+rundweg ab; das wisse er im voraus, daß er in diesem Falle dann stets
+schlechter Laune zur Audienz kommen würde, was den Verhandlungen
+gewiß schädlich wäre. Alula gab dies zu und ließ ihm ein Zelt neben
+sich aufschlagen. Als ägyptischer Gesandter war Gordon in der
+Feldmarschallsuniform. Die Audienzen führten zu dem Beschluß, daß
+Gordon zum König Johannes selbst reisen sollte und daß Alula bis auf
+weiteres sich der Feindseligkeiten zu enthalten versprach.</p>
+
+<p>Der König befand sich in Debra Tabor bei Gondar, zwölf Tagereisen von
+Gura entfernt. Aber geduldig wie immer, wenn's Arbeit gab, machte
+Gordon sich auf den Weg durch ein entsetzliches Land und über die
+steilsten Berge »über die Kruste des Erdballs hinschleichend.« Bei
+Adowa kam er an der Bergeinöde vorüber, in der Walad el Michael
+festgehalten wurde.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Die Abessinier setzen ihre Staatsgefangenen nämlich auf
+unzugängliche Berge, die Amba genannt werden. Es giebt deren drei
+verschiedene Arten: erstens solche, die so steil sind, daß der
+Gefangene in einem Korb durch einen Flaschenzug hinaufgeschafft wird;
+zweitens, andere, die durch einen einzigen Fußweg zugänglich sind;
+und drittens solche, deren Höhe auf zwei oder drei Wegen erreicht
+werden kann. Auf diesen Amba befindet sich kultivierbares Feld<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> und
+auch Wasser. Ein Gefangener kann da existieren und in Vergessenheit
+seine Sünden bereuen, bis eine neue Revolution ihn vielleicht auf den
+Thron setzt.«</p>
+</div>
+
+<p>Unterwegs vernahm Gordon, daß ein aufrührerischer Häuptling ihn zu
+überfallen gedenke, aber trotzdem gelangte er ungefährdet nach Debra
+Tabor. Der König selbst gab zu, daß er auf den denkbar schlechtesten
+Wegen zu ihm geführt worden war. Gordon schloß daraus, daß Alula
+den Gesandten auf diese liebenswürdige Weise von der Unwegsamkeit
+des Landes zu überzeugen hoffte, damit dieser Ägypten von etwaigen
+Kriegsgedanken zu heilen vermöchte.</p>
+
+<p>Als er den abessinischen Hof erreichte, wurde er alsbald vorgelassen.
+Der König saß auf seinem Thron, neben ihm stand Ras Arya, sein Vater,
+der Itagé oder Hohepriester, und ein Stuhl war für den Gesandten
+hingestellt. Da ertönten Kanonenschüsse, »das ist Ihnen zu Ehren,«
+erklärte der König und bedeutete ihm alsbald, er sei entlassen. Ein
+paar erbärmliche, halbfertige Hütten waren das Gesandtschaftsquartier.
+Bei Tagesanbruch erscholl das Psalmensingen, das Gordon in Alulas
+Lager früher schon vernommen hatte.</p>
+
+<p>Von dieser Audienz hat außerdem folgendes verlautet. Der König saß auf
+seinem Thronsessel, und der für den Gesandten bestimmte Stuhl stand
+auf niederer Stufe in ziemlicher Entfernung; Gordon hatte den Stuhl
+genommen und sich in die Nähe des Königs gesetzt, um ihm begreiflich
+zu machen, daß er als Ägyptens Vertreter von der abessinischen
+Majestät nicht allzu geringschätzig zu behandeln sei. Da fuhr der
+König ihn an: »Wissen Sie nicht, Gordon Pascha, daß ich Sie dafür auf
+der Stelle hinrichten lassen kann?« »Gewiß,« sagte Gordon, »ich bin
+auch bereit dazu, wenn es des Königs Wille ist.« »Was — bereit zu
+sterben?« rief Johannes entsetzt. »Ich bin immer bereit,« entgegnete
+der Pascha ruhig; »der König würde mir durch einen gewaltsamen Tod
+sogar einen Dienst erweisen, den meine Religion mir selbst nicht
+gestattet, indem ich dadurch von aller Not erlöst würde, welche die
+Zukunft mir noch bringen kann.« Da erblaßte Johannes vor Entsetzen.
+»Dann hat meine Gewalt keine Schrecken für Sie?!« stammelte<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> er.
+»Durchaus keine,« war die kurze Antwort. Worauf der König: »Sie sind
+entlassen!«</p>
+
+<p>Die Verhandlungen waren ganz unbefriedigender Natur und mitten darin
+erklärte Johannes, er müsse sie abbrechen und Gesundbrunnen trinken,
+»ganz <em class="antiqua">à la mode</em>,« sagt Gordon; »der Brunnen sprudelt durch
+ein Bambusrohr in einer alten Hütte.« Auch dort wurde nichts weiter
+erreicht. Johannes hatte vielerlei Begehren: Bogos, Massaua und andere
+Städte, dann einen Abuna<a id="FNAnker_13" href="#Fussnote_13" class="fnanchor">[13]</a> (Erzbischof) und zwanzig bis vierzig
+Millionen Mark, wollte aber seinerseits lediglich nichts einräumen.
+Gordon versprach den Abuna, indem er seinen Privateinfluß geltend
+machen wolle, aber Bogos und sonstige Ländereien werde Ägypten nicht
+abtreten. Er wahrte die ihm anvertrauten Interessen und betrachtete
+sich lediglich als des Khedive Sendboten. Johannes glaubte ihm in
+persönlicher Weise beikommen zu können. »Sie sind ein Engländer und
+ein Christ,« sagte er, worauf ihm Gordon rasch entgegnete: »Hier
+bin ich ein Ägypter und Muselmann.« Als der Gesandte seine Bitten
+zu Gunsten der Soldaten vorbrachte, wurde Johannes zornig und hieß
+ihn seiner Wege gehen. Einen Brief an den Khedive werde er ihm
+nachschicken.</p>
+
+<p>Und so begab sich Gordon auf den Rückweg. Der Brief wurde ihm auch
+nachgesandt; er lautete folgendermaßen: »Ich habe das Schreiben
+erhalten, das Sie mir durch <em class="gesperrt">jenen Menschen</em> sandten; ich will
+keinen geheimen Frieden mit Ihnen schließen. Wollen Sie Frieden, so
+wenden Sie sich an die Sultane von Europa.« Auf dem Rückweg wurde
+Gordon, sei es mit, sei es ohne des Königs besonderen Befehl, von
+dessen Vater mit hundert und zwanzig Abessiniern überfallen und
+gefangen genommen. Mehrere Tage lang wurde er im Lande hin- und
+hergeschleppt und mußte sich viel Widerwärtigkeiten gefallen lassen.
+Geld erwies<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> sich als den Schlüssel, der ihn schließlich durchließ; es
+kostete ihn achtundzwanzigtausend Mark, Massaua zu erreichen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Das durchgemachte Elend lasse ich unbeschrieben,« sagt Gordon,
+»Gottlob, es ist vorüber. Zwischen zwei Abessiniern zu schlafen, ist
+kein Vergnügen, und so verbrachte ich meine letzte Nacht in diesem
+Land.«</p>
+</div>
+
+<p>Den König Johannes schildert Gordon als einen grausamen,
+halbverrückten Menschen.</p>
+
+<p>So endete diese ganz nutzlose Mission, und Gordon kehrte nach
+Ägypten zurück. Auch in diesem Jahre (1879) lagen über dreitausend
+Kilometer Kamelritt hinter ihm und zwölfhundert hatte er in
+Abessinien auf Maultieren zurückgelegt. In den drei Jahren seiner
+Oberstatthalterschaft beliefen sich seine Kamelreisen auf etwa
+vierzehntausend Kilometer. Abgesehen von den Schwierigkeiten, dem
+neuen Khedive zu dienen, war es Zeit, daß er sein Amt niederlegte; der
+britische Konsulatsarzt in Kairo fand seine Nervenkraft erschöpft und
+ihn auch sonst leidend; die körperliche Übermüdung, die vielen Sorgen
+und die ungenügende Nahrung der letzten drei Jahre hatten selbst
+einer eisernen Gesundheit, wie der seinigen zugesetzt. Er sollte
+nach England zurückkehren und ruhen. Der Abschied von Kairo war kein
+angenehmer; es gab noch Verhandlungen mit den Pascha, denen er stets
+die Wahrheit sagte. Aber er konnte Ägypten nicht anders machen als es
+war; einem der Pascha schickte er zu guterletzt noch telegraphisch
+das Wort: »Mene Mene Tekel Upharsin«, und dann schiffte er sich nach
+England ein. Mochten die Pascha denken was sie wollten, die Wünsche
+von Tausenden geleiteten ihn. Im Sudan blieb er dem Volk in dankbarer
+Erinnerung als <em class="gesperrt">der gute</em> Pascha. So lang er da war, waltete
+Gerechtigkeit im Land; als er fort war, wußten es die Unterdrückten
+nur zu gut, was sie an ihm verloren hatten.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span></p>
+
+<h2 id="Sechstes_Buch">Sechstes Buch.<br>
+<span class="s5"><b>Zwischenzeit.</b></span></h2>
+</div>
+
+<p>Gordon sollte in England der Ruhe pflegen. Das war leichter gesagt,
+als gethan. Energischen Naturen ist oft nichts eine größere Last als
+das Nichtsthun. Gordons Erholungszeit war eine kurze. England empfing
+seinen Helden mit Genugthuung, die Presse sprach von ihm als dem
+»ungekrönten König«. Man wußte von seinem heroischen Kampf gegen den
+Sklavenhandel, man bewunderte den unscheinbaren bescheidenen Mann,
+der waffenlos das Werk einer Armee vollbracht, den Held von Gottes
+Gnaden; man ärgerte sich über den Khedive, der seinen besten Diener
+so wenig zu schätzen wußte, und man sagte sich, daß wenn ausländische
+Einflüsse sich nicht geltend machten, der Sklavenhandel alsbald aufs
+neue erblühen werde, da Gordon Afrika den Rücken gewandt habe. Daß
+nicht viele Jahre vergingen, ehe das Land in schlimmerer Lage war als
+vorher, ist eine bekannte Thatsache.</p>
+
+<p>Im Grunde aber kannte England seinen Helden doch nicht; erst seit
+es ihn verloren, hat das Land ihn wirklich schätzen lernen. Daß
+man seiner in englischen Diensten nicht zu bedürfen schien, ist
+erklärlich, wenn man bedenkt, was für ein Mann er war. Seine Stärke
+lag in dem Glauben, der Berge versetzt; höheren Orts mochte er als
+eine Art Fanatiker gelten, der nicht überall zu brauchen war: Paule,
+du rasest! Auch bei seiner diesmaligen Anwesenheit in England ging
+Gordon geflissentlich allen Ehren aus dem Wege; mit wahrer Kriegslist
+soll er die Leute umgangen haben, die ihn gern eingeladen und zum
+großen Mann gemacht hätten. Er verbrachte mehrere Wochen mit den
+Seinen und zog sich dann (im Winter 1880) nach Lausanne zurück. Einen
+Sohn seines kurz vorher verstorbenen Bruders nahm er mit sich.</p>
+
+<p>Ein englischer Geistlicher, der ihn daselbst kennen lernte, beschreibt
+ihn folgendermaßen: »Der Fremde war von nur mittlerer Größe und
+wohl gebaut; sein Gesicht von tiefen Linien durchfurcht; seine
+schöne breite Stirn und ein sehr entschlossener Mund<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> schienen auf
+ungewöhnlichen Ernst des Denkens, sowie auf praktischen Verstand zu
+deuten. Er schien beides, sanft und stark; eine gewisse Weichheit
+lag in seiner wohllautenden kraftvollen Stimme und sprach aus seinen
+ausdrucksvollen blauen Augen. Nach einiger Zeit redete er mich an,
+und da ich leidend war, so erbot er sich mir zur Begleitung auf
+kurzen Spaziergängen. Unsere Unterhaltung wandte sich bald auf Dinge
+des Glaubens, und die Unmittelbarkeit, die Einfachheit und der tiefe
+Ernst, mit dem er sich darüber aussprach, machte einen großen Eindruck
+auf mich.« Mehrere Tage vergingen und sein neuer Freund erfuhr zwar
+seinen Namen, hatte aber keine Ahnung, daß er es mit dem Gordon Chinas
+und des Sudans zu thun habe. Weder sein Gespräch, noch sein Aussehen
+verriet es. Als der Geistliche eines Tages in sein Zimmer trat, fand
+er ihn über arabischen Dokumenten. »Das sind Todesurteile,« sagte
+Gordon aufsehend. »Todesurteile! ei, wer sind Sie denn?« rief der
+Geistliche fast entsetzt. »Wissen Sie das nicht?« entgegnete er ruhig;
+»ich war Generalgouverneur vom Sudan, und bin es noch dem Namen nach;
+indem ich nun diese Schriftstücke unterzeichne, ist's damit zu Ende.«
+Gordon stand damals in seinem achtundvierzigsten Jahr.</p>
+
+<p>Nach London zurückgekehrt bot sich ihm neue Arbeit an. Die
+Leute trauten ihren Ohren nicht, als sie hörten, der gewesene
+Generalgouverneur vom Sudan hätte die Stelle eines Privatsekretärs
+unter dem neuernannten Generalgouverneur von Indien, Lord Ripon,
+angenommen. Daß er damit sozusagen vom Herrn zum Diener wurde, das
+war, sofern es Gordon betraf, nicht das Erstaunliche, denn er schätzte
+eine Stellung überhaupt nur, insoweit sie ihm einen Wirkungskreis bot,
+Gutes zu schaffen; aber es war ein verfehlter Schritt, und bald genug
+sollte er das selbst einsehen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»In einer schwachen Stunde,« schrieb er, »hatte ich die Stelle
+angenommen. Aber kaum war ich in Bombay gelandet, so sah ich auch,
+daß ich auf einem solchen unverantwortlichen Posten nicht hoffen
+konnte, einen guten Zweck zu erreichen. Überdies war es mir alsbald
+klar, daß meine Ansichten mit denen der übrigen Beamten durchaus
+nicht harmonierten, und so legte ich die Stelle nieder ... Es war
+besser, die Sache rasch vom Zaun zu brechen, noch ehe ich<span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span> von
+Staatsgeheimnissen Kenntnis erhielt, die mich unter diesen Umständen
+nichts angingen. Ich hätte ja freilich ein paar Monate bleiben können
+und dann einen bösen Finger oder sonst was kriegen, was meinen
+Abschied motiviert hätte. Aber die übernommene Arbeit war mir eine so
+verhaßte, daß es besser war, sie sofort niederzulegen, um so mehr,
+als das Urteil der Welt mir ganz gleichgültig ist ... Es gehört mit
+zu den Geheimnissen der Vorsehung, daß wir Menschen manchmal (in
+gutem Glauben) Schritte thun und sie alsbald bereuen; so ging es mir,
+indem ich diese Stelle annahm.«</p>
+</div>
+
+<p>Die wahre Erklärung ist die, daß ihm klar wurde, er werde sich nie mit
+einer Verwaltung einigen können, die dem reichen Indien große Schätze
+entzieht, ja fürstliche Gehälter für englische Beamten, während über
+Millionen Hindu ein übers anderemal Hungersnot hereinbricht. Mit
+derlei Regierungsresultaten konnte er »durchaus nicht harmonieren«.
+Er hat übrigens mit dem ihm eigenen Humor folgendes als Grund seines
+Rücktritts angegeben: »Wie kann ich einen Posten bekleiden, auf dem
+fortwährend Toilette zu machen ist — Frack zu Festessen, Frack zu
+Soireen, Frack zu Bällen, Frack und Orden, Orden und Frack — kein
+Wunder, daß ich davonlief!«</p>
+
+<p>Er beschäftigte sich als nächstes mit dem Gedanken, sich nach Sansibar
+einzuschiffen, um den dortigen Sultan zu einem Unternehmen gegen die
+Sklavenhändler zu bewegen, als ihm eine Aufforderung von seinen alten
+Freunden in China zuging, sie zu besuchen. Das Telegramm lautete:
+»Bitte, kommen Sie und urteilen Sie selbst. Es ist eine Gelegenheit
+Gutes zu thun, die benutzt werden sollte. Arbeit, Stellung,
+Bedingungen lassen sich gewiß zu Ihrer Befriedigung ordnen, wenn Sie
+hier sind. Nehmen Sie sechs Monate Urlaub und kommen Sie!« Die Antwort
+des »ungekrönten Königs« war seiner würdig:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Gordon kommt mit erster Gelegenheit nach Shanghai — Bedingungen ihm
+gleichgültig.«</p>
+</div>
+
+<p>Seine Regierung zögerte mit dem Urlaub, da man nicht recht wußte,
+was zu Grunde lag. Hierauf erklärte er dem Kriegsministerium seinen
+Wunsch, aus englischen Diensten entlassen<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> zu werden, und schiffte
+sich nach Hongkong ein. Er wußte selbst nicht, was er in China etwa
+für Arbeit finden würde — es war eine Zeit drohender Feindseligkeiten
+zwischen den Chinesen und Russen — das aber wußte er und hatte
+es auch seiner Eingabe beigefügt, daß er Friede und nicht Krieg
+zu befürworten gedachte. Endlich gewährte man ihm den gewünschten
+Urlaub und gab ihm sein Entlassungsgesuch zurück. In Petersburg
+war die Aufregung nicht gering, als es bekannt wurde, daß der
+»Chinesen-Gordon« nach China unterwegs sei. <em class="gesperrt">Der</em> Mann war ja
+eine bedenkliche Verstärkung des Feindes.</p>
+
+<p>In China traf Gordon mit seinem alten Kampfgenossen, dem Staatsmann
+Li, zusammen und ließ sich die Sachlage von ihm erklären. Da schien
+es ihm abermals das allein Richtige, seine Stellung als englischer
+Offizier niederzulegen, um zu Rat und That freie Hand zu haben. Er
+telegraphierte nach London:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Nach Unterredung mit Li-Hung-Tschang wünscht derselbe mein
+Hierbleiben. Ich kann China in dieser Krisis nicht im Stich lassen
+und wünsche Freiheit, nach Gutdünken zu handeln. Ich bitte daher mein
+Abschiedsgesuch zu gewähren.«</p>
+</div>
+
+<p>Sein Aufenthalt in China war zwar ein kurzer, aber lang genug,
+um nicht nur jenem Land, sondern einem ganzen Weltteil einen
+unschätzbaren Dienst zu leisten; denn ihm ist es zu verdanken, daß
+ein Völkerkrieg zwischen Rußland und China nicht zum Ausbruch kam. Er
+war ein Militärgenie, wie es wenige giebt; er hatte es aber längst
+gelernt, kriegerische Ehren für nichts zu achten, und freute sich,
+einen Einfluß zu besitzen, der einem großen Land den Frieden erhielt.
+Er hinterließ außerdem den Chinesen allerlei guten Rat; man hatte dort
+nicht vergessen, was man diesem Manne verdankte, und hörte ihn gern.
+An Li hatte er jetzt seine Freude. Dieser hatte seit der Taipingszeit
+Gordons gute Meinung gerechtfertigt und sich als einen der tüchtigsten
+Berater der Regierung im blumigen Land erwiesen. Und was China seither
+an Fortschritt erreicht hat, ist sein Werk. Als er den Mann wieder
+sah, von dem er so viel gelernt hatte, fiel er ihm um den Hals und
+küßte ihn. Der stets siegreiche General ist seither aus dem Kampf
+dieser Welt in den »großen Frieden«<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> hinübergegangen, in China aber
+ist sein Einfluß, wie Li in jenem Brief sagte, mit seiner Person nicht
+verschwunden.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h2 id="Siebentes_Buch">Siebentes Buch.<br>
+<span class="s5"><b>Bei den Basuto.</b></span></h2>
+</div>
+
+<p>Im Winter 1881 finden wir Gordon wieder in England. Die
+Zeitungsschreiber fingen an sich zu wundern, was man wohl als nächstes
+von ihm hören werde. Das Kriegsministerium hatte auch sein zweites
+Entlassungsgesuch nicht angenommen. Er hätte am liebsten schon damals
+einen langgehegten Plan ausgeführt und sich im heiligen Lande eine
+Zeit der Ruhe gegönnt, aber noch lagen andere Dinge dazwischen. Es
+war das Jahr der irischen Wirren. Er machte einen Besuch auf der
+Schwesterinsel und fand, daß die niederen Volksschichten daselbst —
+aus was für Ursache war ihm gleichgültig — elender und verkommener
+sind als die Armen irgend eines andern ihm bekannten Landes. Der
+hoffnungslose Zustand Irlands schnitt ihm ins Herz. Mit seiner
+gewohnten Freimütigkeit veröffentlichte er seine Ansichten in der
+Times, die von dem Gedanken ausgingen, daß eine Nation, die s. Z.
+vierhundert Millionen Mark für die westindischen Neger erübrigen
+konnte, ein ähnliches für die Irländer zu thun im stande sein dürfte.
+Seine an sich höchst beachtenswerten Vorschläge waren aber viel zu
+opferwillig, als daß sie den maßgebenden Kreisen eingeleuchtet hätten.
+In gewohnter Weise leerte er seinen eigenen Beutel in Irland und mußte
+sich von einem Bekannten in Dublin zur Rückreise nach London aushelfen
+lassen.</p>
+
+<p>Um diese Zeit erreichte eine Todesnachricht England, die ihn tief
+betrübte: am 30. April 1881 war Romulus <em class="gesperrt">Gessi</em> im französischen
+Spital zu Suez nach längerem Leiden gestorben. Der tapfere Italiener
+war ein Opfer des Landes geworden, für das er mit Gordon sein Leben
+eingesetzt hatte. Kehren wir für einen Augenblick in die Bahr el
+Ghasal zurück. Nachdem Gessi dort<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> den Sklavenhändlern den Garaus
+gemacht hatte, blieb er daselbst als Statthalter. Nun das Greuelwesen
+unterdrückt war, konnte er das fruchtbare Land einen Garten nennen.
+Die Schwarzen hielten sich zu ihm und Land und Leute schienen sich
+von dem Jammer zu erholen. Gordons Nachfolger in Khartum aber, kein
+anderer als jener berüchtigte Rauf, den Gordon früher wegen Tyrannei
+zweimal gezüchtigt hatte und in welchem die ägyptische Regierung
+ihren Ersatzmann zu erblicken schien, als sie Gordon verlor, machte
+es ihm unmöglich, in seiner Stellung zu verbleiben. Am 25. September
+1880 legte er sie nieder, als gerade ein Dampfer die Reise nilabwärts
+unternahm. Lassen wir ihn das entsetzliche Ende selbst erzählen:</p>
+
+<p>»Zu spät sah ich meine Thorheit ein. Die Grasverstopfungen im Nil
+hatten sich aufs neue angehäuft, und das Boot war der schweren Arbeit,
+sich durch den Ssett zu ringen, nicht gewachsen. Die Maschine war
+eine schwache, nur vierzig Pferdekraft, und durch die Nachlässigkeit
+des Kapitäns war sowohl der Holzvorrat als die Zahl der Matrosen
+viel zu gering. Die vorhandene Nahrung war für fünfundzwanzig Tage
+berechnet, wir waren drei Monate unterwegs; fünfhundertsechzig Seelen
+waren an Bord, und obgleich wir Tag und Nacht arbeiteten, war an kein
+Vorwärtskommen zu denken. Die Nahrung ging zu Ende. Meine Soldaten
+wurden mutlos; weithin nichts als Sümpfe, und Hungersnot in der
+schrecklichsten Lage war unser Los. Es waren einige Sklavenhändler
+an Bord, die ich sehr gegen ihren Willen nach Khartum mitnahm; diese
+verbreiteten die Nachricht, daß ich sechzig Säcke voll Korn versteckt
+hielte; ich konnte die Soldaten nur heißen, das Schiff durchsuchen
+und essen was sie fänden. Dann behaupteten die Händler, ich hätte
+das Korn (vor der Abfahrt) verkauft; Drohungen wurden laut, und von
+da an ging ich nur mit geladener Pistole umher. Die Hungersnot nahm
+zu. Zuerst wurden die Lederüberzüge der Betten gegessen und dann
+das Schuhwerk. Im Fluß fand sich hie und da eine nahrungshaltige
+Pflanze, aber leider in geringer Menge. Und zuletzt nährten sich die
+Lebendigen von den Toten. Was mich am Leben erhielt, war zuweilen
+ein Fisch, den meine Diener mit einem gebogenen Draht<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> fingen. Ein
+Nugger begleitete uns, und so lange der Besitzer desselben Nahrung
+hatte, teilte er sie großmütig mit mir. Gern wären wir zurückgekehrt,
+aber vor uns und hinter uns hatte der Wind die entsetzlichen Massen
+zusammengetrieben, und weithin war durch heftigen Regen das Land ein
+See. Das Holz gebrach und wir verbrannten ein Boot. Der Tod lichtete
+unsere Reihen täglich; zuerst starben die Kinder, dann die Weiber. Der
+Truppenbefehlshaber schloß sich in seine Kajüte ein und erwartete sein
+Schicksal. Niemand wollte mehr arbeiten; nur der Kapitän, zwei Heizer,
+vier Matrosen und der Steuermann unterstützten mich noch. Langsam
+brachten wir das Schiff vorwärts, aber es war wenig genug, was wir mit
+ausgehungertem Körper leisten konnten. Soweit das Auge reichte, saß
+das Boot wie in einer dichten Wiese fest. Überall um uns her lagen die
+Toten; niemand rührte einen Finger, die Leichen zu entfernen. Die Luft
+war verpestet und das Wasser auch. Aasvögel waren unsere Gäste. Von
+den fünfhundertfünfzig Seelen, welche die Reise antraten, waren nach
+zwei Monaten noch hundert übrig — hundert Skelette, nicht menschliche
+Körper. Am letzten Tag des Jahres machte ich mein Testament und
+legte es auf den Tisch in meiner Kajüte. Nach zwei Tagen hörte ich
+Schüsse, es war ein Signal des Dampfers »Bordeen« von Khartum.
+Unsere Abreise dorthin war telegraphisch gemeldet worden; aber der
+Generalgouverneur besann sich lang, bis er uns Hilfe entgegenschickte.
+Der »Bordeen« hatte eine tüchtige Maschine und schleppte uns bald
+durch den Ssett. Auf dem uns erlösenden Dampfer fanden wir eine Bande
+von Sklavenhändlern, die landaufwärts wollten, um aufs neue ihre
+Menschenjagd zu beginnen: neues Elend, Raub, Mord und Qualen jeder Art
+erwartete die armen Stämme, die kaum angefangen hatten, aufzuatmen.
+Um ein bißchen Elfenbein zu erlangen, sollte wieder Blut in Strömen
+fließen. An einer Station fanden wir eine Herde gestohlener Ochsen
+und tausend Sklaven. Die Händler, die sich wie Heuschrecken von allen
+Seiten her einfanden, kauften die Armen und trieben sie vor sich her.«</p>
+
+<p>Gordon wußte nur zu gut, daß menschlich geredet sowohl er als Gessi
+vergeblich gearbeitet hatte. Auf seinem Weg nach<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> Mauritius kehrte er
+in Suez ein und besuchte das Grab seines Kampfgenossen.</p>
+
+<p>Gordons nächster Aufenthaltsort nämlich war die Insel Mauritius; er
+begab sich dahin als Ingenieur-Kommandant. Einer seiner Mitoffiziere
+war zu dem Posten ausersehen, fand sich aber aus Familienrücksichten
+bewogen, einen Ersatzmann zu suchen, was nicht gegen die englische
+Militäreinrichtung verstößt. Jeder andere hätte sich mit der auf diese
+Weise übernommenen Stelle einer schönen Geldentschädigung erfreut.
+Gordon machte hiervon eine Ausnahme; ihm genügte es, einem andern
+einen Gefallen zu erweisen. Die zehn Monate, die er auf der schönen
+Insel verbrachte, waren äußerlich eine stille und friedliche Zeit für
+ihn. Berufsmäßig machte er verschiedene Vorlagen zur Beherrschung des
+indischen Ozeans. Er besuchte die Seyschellen, deren Schönheit ihn so
+entzückte, daß er schrieb: »Ich habe den Ort gefunden, wo einst der
+Paradiesgarten war!« Seines Erachtens sind diese Inseln die Überreste
+eines versunkenen Landes. Im März 1882 wurde er Generalmajor, und im
+folgenden Monat begab er sich ans Kap.</p>
+
+<p>Die Verbindung zwischen der Insel Mauritius und der Kapstadt ist
+keine sehr rege, aufs nächste Passagierboot hätte er wochenlang
+warten müssen, das paßte nicht in Gordons Plan, er benutzte deshalb
+ein kleines Frachtsegelschiff, das zufällig in Mauritius vor Anker
+lag. Von dieser Reise, die einen vollen Monat in Anspruch nahm,
+liegt ein hübscher Bericht vor. Der Kapitän, ein Schotte, führte ein
+Tagebuch, in welchem allerlei Charakteristisches über Gordon seine
+Stelle fand. So z. B. war Gordon, der sich auf vier Uhr nachmittags
+angesagt hatte, erst um Mitternacht erschienen; er habe erfahren,
+sagte er, daß man ihm in der Stadt ein Abschiedsfest zugedacht
+hatte, er hasse dergleichen, habe daher am Morgen einen heimlichen
+Ausflug aufs Land unternommen und sei erst bei Nacht und Nebel
+zurückgekehrt. Am andern Vormittag war der zur Abfahrt sich richtende
+Schoner nichtsdestoweniger von Gordons Freunden umlagert, die ihn
+nicht fortließen, ohne ihm Lebewohl zu wünschen, und zwar waren diese
+»Freunde« keineswegs nur seine Mitoffiziere oder Notabilitäten<span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span>
+der Stadt, vielmehr Arme, denen er gewohntermaßen Gutes gethan,
+und Kinder! Unter den Kleinen, die ihm da ihre Anhänglichkeit
+bekundeten, war ein Büblein, das Gordon der Schiffsmannschaft
+als »mein Lieblingsschäfchen« vorführte. Das Bübchen brachte dem
+berühmten Mann als Abschiedsgabe zwei Flaschen Wein, die Gordon mit
+dem freundlichsten Lächeln von der Welt annahm, aber nicht selbst
+trank; er soll selten ein Glas Wein getrunken haben. Kindern und
+großen Kindern, d. h. Eingebornen, hat er allem nach seine beste Liebe
+zugewandt. Der Generalgouverneur von Sudan hat sich mehr denn einmal
+unter seine Schwarzen auf den Boden gesetzt und mit Thränen in den
+Augen angehört, was sie ihm aus ihrem Leben erzählten. Kein Wunder,
+hatte er solche Macht über sie! Einer englischen Dame, die er einst
+in ihrer Kinderstube traf, sagte er: »Sie können wohl nichts im Leben
+schwer nehmen mit diesen kleinen Geschöpfen um Sie her.« Man fragt
+unwillkürlich, warum ging dieser Mann <em class="gesperrt">allein</em> durchs Leben? Die
+Gattin des Kapitäns auf jener Reise, die ihren Mann auf seinen Fahrten
+begleitete, wagte eines Tages die Frage an ihren Gast, warum er sich
+denn nicht verheiratet habe. Gordon schwieg ein paar Augenblicke,
+dann sagte er langsam: »Ich habe nie eine kennen gelernt, die aus
+Liebe zu mir bereit gewesen wäre, die Annehmlichkeiten des heimischen
+Herdes und vielleicht liebe Verwandte zu verlassen, um mich dahin
+zu begleiten, wohin die Pflicht mich ruft, vielleicht mit raschem
+Entschluß ans Ende der Welt, eine, die bereit gewesen wäre, Gefahren
+und Schwierigkeiten mit mir zu teilen, vielleicht mich zu stärken in
+Stunden der Not. Solch eine habe ich nie kennen gelernt, und nur eine
+solche könnte mein Weib sein!«</p>
+
+<p>Darauf ist nichts weiter zu sagen.</p>
+
+<p>Gordon litt sehr an Seekrankheit auf dieser Reise, und wollte
+mehrmals ans Land gesetzt sein. Der Kapitän schreibt darüber in sein
+Tagebuch: »Wie viel verschiedene Arten von Mut muß es doch geben!«
+Ihn wunderte, daß den tapfern Gordon, doch gewiß ein mutvoller Mann
+sondergleichen, die Seekrankheit so anfocht. Nach überstandenem Jammer
+war es aber wieder Gordon, welcher aller Herzen auf dem Schiff gewann,
+der kranken Matrosen wartete<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> (es gab allerlei Krankheit an Bord)
+ihnen vorlas und Stückchen aus seinem Leben erzählte. Dem Kapitän
+gestand er eines Tags, tausend Mark sei zur Zeit sein ganzer irdischer
+Besitz, und diese Summe hatte er dem Schotten angeboten, wenn er den
+Kurs ändere und ihn ans Land setze. Unter seiner »fahrenden Habe«
+befand sich eine Kiste, über deren Inhalt der Kapitän und seine Frau
+vergeblich sich den Kopf zerbrachen: sie war voll Holz »vom Baum der
+Erkenntnis des Guten und Bösen«, wie Gordon gelegentlich versicherte;
+auf den Seychellen-Inseln wachse nämlich ein merkwürdiger Baum,
+der sonst auf der ganzen Welt nicht anzutreffen sei, das müsse der
+Baum des Paradieses sein. Die Stücke Holz, die er mit sich führte,
+schätzte Gordon darum über alles! Diese zuversichtliche Idee wird
+seinem »wahren Gottesdienst« keinen Eintrag gethan haben. Die
+Schiffsmannschaft, die an jener Kiste ungläubig vorüberging, sah
+Gordon auch mit seiner Bibel auf Deck, oft stundenlang in Gedanken
+versunken, den Blick wie träumend aufs weite Meer geheftet. In solchen
+Stunden wird das in ihm gewachsen sein, was ihn zum mutvollen Mann und
+Helden von Khartum gemacht hat.</p>
+
+<p>Das südafrikanische Stück seiner Laufbahn ist als ein fruchtloses
+bezeichnet worden, aber mit Unrecht; es sind nicht immer die äußeren
+Erfolge, die den Wert einer Sache ausmachen. Der selbständige und
+selten großmütige Charakter des Mannes tritt nie klarer zu Tag, als in
+diesen kurzen Monaten seines sogenannten Mißlingens.</p>
+
+<p>Es ist bekannt, daß die Engländer seit einer Reihe von Jahren sich
+sowohl mit den Boeren als auch mit den Eingebornen von Südafrika
+überworfen hatten; verschiedene Kriege sind die Folge gewesen. Es
+war besonders einer derselben, der Gordons Interesse erregte. Schon
+im Frühjahr 1881 telegraphierte er an den Minister des Kaplandes:
+»Der ›Chinesen-Gordon‹ bietet seine Dienste auf zwei Jahre an, um
+Basutoland zu beruhigen,« d. h. den Krieg zu beendigen und die Basuto
+im Wege der Verwaltung zu friedlichen Verhältnissen zurückzubringen.
+Dieses Anerbieten blieb vorläufig unbeantwortet. Ein Jahr vorher
+hatte die Regierung ihm die Befehlshaberschaft der Kaptruppen mit
+einem<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span> Gehalt von dreißigtausend Mark angeboten, welchen Posten er
+als einen rein militärischen abgelehnt hatte. Im Frühjahr 1882 nun,
+als die Lage im Basutoland zu einer ernsten sich gestaltet hatte,
+sprach man ihm telegraphisch den Wunsch aus, sein Anerbieten annehmen
+zu wollen. Lediglich im Gedanken, daß er Gutes wirken könnte,
+war er alsbald bereit, sich den Basuto zu widmen, und setzte mit
+charakteristischer Selbstlosigkeit seinen Gehalt auf etwa die Hälfte
+der angebotenen Summe herunter, »weil die Verhältnisse des Kaplandes
+mehr nicht rechtfertigten!« Als er aber nach seiner unerquicklichen
+Segelschiffreise die Kapstadt betrat, übertrug man ihm gerade jenen
+Oberbefehlshaberposten über die Kolonialtruppen, den er zwei Jahre
+vorher von England aus abgelehnt hatte, während er doch gekommen war,
+sich der Basutofrage anzunehmen. Es scheint, daß ein anderer damit
+beschäftigt war, die Angelegenheiten der Basuto zu verwalten oder
+mißzuverwalten, und daß die Regierung den Mut nicht hatte, jenen
+andern zu entfernen. Gordon ließ sich's in der Hoffnung gefallen, daß
+die Umstände ihm den Weg bahnen würden. Es dauerte auch nicht lange,
+so gestaltete sich die Grenzlage zu einer so drohenden, daß man ihn
+beauftragte, sich durch eigene Anschauung hinsichtlich der Überfälle
+der Boeren und der Unruhen im Basutoland zu orientieren. Das war im
+Juni.</p>
+
+<p>Die Basuto sind ein interessanter Zweig der Kafferrasse, und zwar
+der volkreichste und vorgeschrittenste, letzteres aus dem einfachen
+Grund, weil das Christentum bei ihnen Eingang gefunden hat. Vor etwa
+fünfzig Jahren hatte der Stamm einen Oberhäuptling Namens Moschesch,
+auch »Herr des Berges« genannt, weil er einen Berg mit einer kleinen
+Festung versehen hatte, die ihm und seinen Getreuen als Zuflucht
+im Krieg dienen sollte. Die andern Stämme und selbst seine eigenen
+Häuptlinge verwickelten ihn oft in Kämpfe; er selbst aber, obschon
+tapfer und furchtlos, war ein friedliebender Mann. Er hatte von
+<em class="antiqua">Dr.</em> Moffat und anderen Missionaren gehört, die in benachbarten
+Gegenden und besonders unter den Korannas arbeiteten, welcher Stamm,
+von Natur ein kriegerischer, sich neuerdings friedlich verhielt.
+Da schickte er dem Häuptling der Korannas eine Anzahl Ochsen zum<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span>
+Geschenk mit der Bitte, ihm dafür »einen Beter zu senden, der die
+Basuto in der Religion unterrichten könne, welche die Leute friedlich
+stimme.« Evangelische Missionare aus Paris, die nicht lange vorher in
+Südafrika angekommen waren und einen Wirkungskreis suchten, hörten
+davon und besetzten das neue Arbeitsfeld. Moschesch empfing sie mit
+Freuden und bestimmte selbst den Platz für ihre erste Station, am Fuß
+seines Festungsberges. Moschesch lebte bis 1870. Vor seinem Scheiden
+glaubte er Anzeichen einer besseren Zukunft für sein Land und Volk zu
+erblicken. Eins seiner letzten Worte an die Missionare war: »Lasset
+mich zu meinem Vater gehen, ich bin schon ganz bereit dazu!« Sein
+letzter Wille lautete: »Laßt die Missionare nicht müde werden, mein
+Volk zu unterrichten, besonders aber meine Söhne.«<a id="FNAnker_14" href="#Fussnote_14" class="fnanchor">[14]</a></p>
+
+<p>Schon vorher hatten sich die Basuto im Pitso (jährliche
+Volksversammlung) mit Begeisterung für »unsere Mutter die Königin
+von England erklärt.« Man kann es nur bedauern, daß die britische
+Kolonialpolitik dieses Volk gegen seinen Willen von der Kapstadt
+aus regiert haben will. Sie hatten sich freiwillig der englischen
+Regierung unterstellt unter Vorbehalt ihrer Rechte. Sie entrichteten
+eine Kraalsteuer und waren es zufrieden, daß britische Beamten im
+Land weilten. Indem aber ihr Wohlstand wuchs und ihre Zahl zunahm,
+verdoppelte und verdreifachte sich die Steuer; anstatt nun den
+Ertrag derselben zum Besten des Landes zu verwenden, bereicherte
+derselbe vertragswidrig den Säckel der Kapregierung. Aber das allein
+war's nicht, was die Basuto aufbrachte. Bekanntlich sind vor etwa
+zwanzig Jahren ergiebige Diamantenfelder in Südafrika entdeckt
+worden. Die Basuto strömten herzu, um als Taglöhner in den Gruben
+zu arbeiten; statt in Geld bestand ihre Löhnung aber in Flinten
+und Schießbedarf,<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> ohne Zweifel ausgediente Militärwaffen, welche
+die Eigentümer der Felder billig gekauft hatten. Die Kapregierung
+wußte um diese Waffenverbreitung, ja sie hatte dieselbe genehmigt.
+Auf diese Weise erlangten die Basuto beträchtlichen Kriegsbedarf.
+Nach zehn oder zwölf Jahren entdeckte die Kapregierung das Mißliche
+dieser Sache und erließ ein Entwaffnungsgesetz, die Basuto sollten
+die Waffen ausliefern, welche sie durch ihrer Hände Arbeit und mit
+dem Vorwissen der Regierung redlich erworben hatten! Es war eine
+Ungerechtigkeit sondergleichen, und die Basuto verweigerten den
+Gehorsam. So verwickelte sich die Kapregierung in einen Krieg, an
+dem sie allein die Schuld trug und in welchem sie einen Vorteil
+fürs nächste nicht erringen konnte. Das war die Sachlage, als sie
+Gordon berief, der wie überall so auch hier mit seinem gerechten Sinn
+alsbald auf den Grund sah. Er verfaßte einen Bericht, in welchem er
+es unumwunden als seine Meinung erklärte, daß die Basuto weniger zu
+tadeln wären als die Kapregierung; diese habe vor allen Dingen ihr
+Unrecht gut zu machen und dann erst könne sie die Basuto zum Frieden
+mahnen; übrigens liege der Hauptfehler darin, daß man die Basuto gegen
+ihren Willen der unmittelbaren Regierung Englands entzogen und sie
+der mittelbaren der Kapregierung unterstellt habe. Er schlug vor,
+diesen Fehler dadurch gut zu machen, daß man die Basuto-Häuptlinge
+zusammenberufe und die Bedingungen ihrer Unterwerfung unter die
+Kapregierung mit ihnen berate. Außerdem riet er dringend, die loyale
+Gesinnung der Basuto dadurch zu ehren, daß man ihnen das Bewußtsein
+der unmittelbaren Verbindung mit England zu erhalten suche, indem
+man einen Bevollmächtigten der britischen Krone in Basutoland wohnen
+lasse. Man gab ihm keine Antwort.</p>
+
+<p>Die Mißhelligkeiten zogen sich hin, aber Gordons wärmste Teilnahme war
+auf Seite der »feindlichen« Eingebornen, wie aus folgender Depesche
+ersichtlich ist:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es ist mir unmöglich, gegen Stämme zu kämpfen, gegen die
+meines Erachtens ungerecht verfahren wird. Der Sekretär für die
+Angelegenheiten der Eingebornen hat das Unrecht zugestanden, aber ein
+solches Zugeständnis allein genügt meinem Gewissen nicht.«</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span></p>
+
+<p>Es kann hiernach nicht wunder nehmen, daß Gordon nach wenigen
+Monaten seine Stelle niederlegte. Ehe er jedoch vollständig mit der
+Kapregierung brach, wurde er aufgefordert, als <em class="gesperrt">Privatmann</em> nach
+Basutoland zu gehen und mit dem Häuptling Masupha zu verhandeln. Er
+nahm die Sendung an und ging allein und unbewaffnet. Daß er unversehrt
+zurückkam, ist ein Wunder; denn während Gordon als Friedensbote bei
+den Basuto verweilte, benutzte ein Kapminister die Gelegenheit,
+einen andern Häuptling gegen Masupha aufzuhetzen. Es ist lediglich
+Gordons persönlichem Einfluß zuzuschreiben, mit dem er stets das volle
+Vertrauen der Eingebornen zu gewinnen wußte, daß er aus dieser Lage
+unversehrt hervorging. Masupha sah, daß sein Gast an diesem Verrat
+keinen Anteil hatte, und ließ es ihn nur mit verdoppelter Hochachtung
+entgelten. Wenn solche Dinge in Südafrika seitens der Regierung
+vorfallen, dann kann man sich nur mit Gordon auf Seite der Eingebornen
+schlagen. Daß er daraufhin seinen Abschied einsandte und bei seiner
+Abreise nach England die Kapstadt links liegen ließ, ist nicht mehr,
+als von ihm zu erwarten war.</p>
+
+<p>Als Beweis, wie wichtig es ihm erschien, die Basuto auf
+freundschaftlichem Wege bei ihrer Loyalität zu erhalten, bot er sich
+selbst an und war willens, sich zwei Jahre lang um den geringen Gehalt
+von sechstausend Mark bei dem Häuptling Masupha niederzulassen. Es war
+ein Opfer der Uneigennützigkeit, dessen man jedoch entbehren zu können
+glaubte. Zum Schluß noch seine Abschiedsrede an die Basuto, die ihn
+durchaus als den gebornen Beherrscher von Eingebornen, ja als einen
+Hirten der schwarzen Herde kennzeichnet:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Als ein Freund der Basuto bin ich hier; ich habe mich als ihr Freund
+erwiesen, denn als man mich als Feind schicken wollte, um sie zu
+bekämpfen, weigerte ich mich zu kommen. Nun ich aber hier bin, möchte
+ich den Basuto Gutes thun. Die Basuto sind zum Rechten geneigt. Ich
+frage den Häuptling und sein Volk: Wie kann Basutoland für die Basuto
+erhalten bleiben? Und ich sage, daß die (britische) Regierung es
+wohl meint mit dem Land. Die Königin wünscht nicht, daß die Kolonie
+den Basuto ihr Land<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> nehme; aber sowohl die Kolonie, als die Königin
+fürchten, daß die Basuto von den Boeren aufgegessen werden, wenn sie
+sich von ihnen zurückzieht. Ich mag die Boeren gut leiden, sie sind
+tapfer und wollen unabhängig sein; als sie kämpften, war es für ihre
+Freiheit. England hätte sie schlagen können, aber es wäre unrecht
+gewesen. Was aber glauben die Basuto, daß den Boeren lieber ist —
+die Basuto oder ihr Land? Ihr Land meine ich wohl. Wenn nun die
+Kolonie dieses Land sich selbst überließe, so hätten die Basuto bald
+Not mit den Boeren und es gäbe Krieg. Ich blicke zehn Jahre voraus
+und sehe boerische Anpflanzungen hier: das gefällt mir nicht, es
+gefällt der Kolonie nicht, und der Königin nicht, und dem Basuto gar
+nicht. Deshalb sage ich zu den Basuto: haltet euch an die Regierung.
+Sagen die Basuto: Wir sind stark und können uns wehren und brauchen
+niemand über uns, und wollen keine Steuern zahlen, so antworte ich:
+mir persönlich ist es einerlei, ob sie Steuern zahlen oder nicht. Ich
+kann sie nicht dazu zwingen. Aber mein Herz ist betrübt, wenn ich
+an die Basuto denke. Ich sehe die Boeren hier, wie sie das Land an
+sich reißen. Ich versetze mich in Masuphas Lage und frage mich: was
+ist das Beste für mein Land und mein Volk. Ich weiß wohl, daß es in
+Basutoland Leute giebt mit zwei Zungen. Ich aber denke, daß einer mit
+<em class="gesperrt">einer</em> Zunge die Wahrheit spricht. Ich glaube, daß Gott euch
+zu Christen gemacht hat. Ihr seid Schafe unseres Herrn Jesu und Er
+hat euch lieb. Wenn die Boeren euch aus eurem Lande verdrängen, so
+ist es mir kein Verlust und kann uns allen gleichgültig sein, sobald
+wir einmal begraben sind. Darin aber wünsche ich, daß die Basuto mir
+folgen. Habt alle nur <em class="gesperrt">eine</em> Zunge. Ich kann mich nicht schwarz
+machen; ich kann den Masupha und sein Volk nicht zwingen zu thun,
+was mir gut scheint, ich überlasse es dem Herrn Jesus, der alles
+recht macht. Das ist's, was ich euch sagen wollte: thut, was euch gut
+dünkt, aber überlegt es wohl, und bittet Jesus um Rat.«</p>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+<div class="chapter">
+<h2 id="Achtes_Buch">Achtes Buch.<br>
+<span class="s5"><b>Gordons Christentum.</b></span></h2>
+</div>
+
+<p>Eine Zeit der Ruhe war endlich für Gordon gekommen: er verbrachte sie
+nicht »im Bett bis Mittag« und dann mit »Austernessen«,<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> wie er's im
+Sudan einmal scherzweise als sein Ideal hingestellt hatte, sondern er
+nahm seine Bibel und seine Meßinstrumente und ging nach Jerusalem, um
+die Topographie der heiligen Stätten zu erforschen. Und zwar that er
+dies ebenso sehr mit dem geschulten Auge des Ingenieurs, als mit dem
+gläubigen Herzen des Christen. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen
+waren originell, wie alles an diesem Mann. Seinen eigentümlichen
+Ideen über Dinge, die er in Jerusalem gesehen, kann zwar nicht jeder
+folgen; sie sind zum Teil absonderlich; der lebendige Glaube aber, der
+dabei sein Herz erfüllt, ist ein leuchtendes Vorbild für uns alle.
+Der Bischof von Derry sagt schön: »Gordon ist zwar kein berufsmäßiger
+Theologe, aber er ist etwas viel Besseres; und ich meinesteils würde
+mich scheuen, einen zu kritisieren, an dem ich in jeder Hinsicht nur
+hinaufsehen kann, selbst wenn ich seiner Beweisführung nicht immer
+vernunftmäßig beizutreten im stande bin. Er ist uns allen ein Vorbild
+des Glaubens an den lebendigen Gott.«</p>
+
+<p>Vier Punkte waren es hauptsächlich, die Gordon beschäftigten; erstens
+der wirkliche Ort der Kreuzigung; zweitens die Grenzlinie zwischen
+den Stämmen Benjamin und Juda; drittens die Frage, wo die Hebroniter
+wohnten, und viertens die Lage des Gartens Eden. Wie einer von Gordons
+englischen Biographen treffend bemerkt, ist's der gläubige Christ
+und der Mann vom Sappeur-Korps, den wir hier in einer eigentümlichen
+Verschmelzung von Mystizismus und mathematischem Vermessungstrieb
+begegnen; für den einsichtsvollen Kritiker ist es interessant, Gordons
+originellen, wenn gleich etwas seltsamen Gedanken zu folgen. Wir
+begnügen uns mit nachgehendem von mehr allgemeinem Wert.</p>
+
+<p>Gordon hat in Palästina fleißig mit der Feder hantiert und im Laufe
+eines Jahres mehrere Tausend Briefseiten nach England geschickt.
+Etliche seiner Freunde, insbesondere jener Geistliche, den er in
+Lausanne kennen gelernt hatte, stellten dann aus diesen Briefen ein
+Büchlein: »Betrachtungen in Palästina« (London 1884) zusammen, das
+mit seinem Wissen und Willen bald nach seiner Abreise nach Khartum
+veröffentlicht wurde. Die Herausgabe des kleinen Buches war eine Art
+Vermächtnis, denn es ist bekannt<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> geworden, daß Gordon die letzte
+Reise nach Khartum mit dem bestimmten Vorgefühl antrat, er werde
+England nicht wieder sehen. Von dem Büchlein hoffte er, es möchte
+»manchen Gläubigen zu neuen Gedanken anregen und dazu beitragen,
+daß Gottes Wohnungmachen in uns mit mehr Klarheit erfaßt werde.
+Das ist das große Geheimnis (Ps. 25). Er schuf uns, um ein Haus —
+einen Tempel — zu haben, in dem Er wohnen kann. Ohne uns ist er
+wohnungslos. Er bedarf unser, und wie sehr bedürfen wir seiner! Es ist
+mir ein Trost in meiner Schwachheit hier (in Khartum 3. März 1884)
+zu wissen, daß Er alles leitet, und es ist die reinste Meuterei, im
+Herzen oder gar mit der That gegen Seine Führung sich aufzulehnen.
+Möge Sein Name verherrlicht werden; möge dieses arme Volk hier
+gesegnet und getröstet werden; möge ich selbst gedemütigt werden,
+damit ich die Gegenwart Seines Geistes in meinem Herzen um so gewisser
+erfahren darf! Das ist mein ernstliches Gebet.«</p>
+
+<p>Gordon ging weiter als die meisten Christen, die sozusagen damit
+zufrieden sind, daß Christus für sie genug gethan hat. Er suchte
+Wachstum und fand die Heiligung in der Gemeinschaft mit Gott in
+und durch Jesus. Daher erkannte er in den Sakramenten den von Gott
+verordneten Weg, dieses große Ziel zu erreichen. Nicht, daß er in
+der heiligen Taufe und im heiligen Abendmahl den <em class="gesperrt">einzigen</em> Weg
+erblickte, auf dem Gottes Gnade dem Sünder zu teil werden kann, aber
+er verkündet ihren hohen Wert als wesentliche Bestandteile des Heiles
+und des christlichen Glaubenslebens. Ihm steht es fest, daß jeder
+Christ, Mann, Weib oder Kind, zur Priesterschaft Gottes berufen ist,
+und daß die Glieder der wahren Gemeinde selbst vor den Engeln durch
+die Gegenwart des heiligen Geistes ausgezeichnet sind, ja, daß sie wie
+beim Pfingstfeste des heiligen Geistes voll werden können.</p>
+
+<p>Was die nachfolgende Übersetzung von Gordons Ansicht über die
+Sakramente anlangt, so machen wir nochmals darauf aufmerksam, daß
+wir es mit einem Teil der aus seinen Briefen zusammengestellten
+»Betrachtungen« zu thun haben, also mit seinen eigenen von Freunden
+zusammengetragenen Worten. Er ist daher nicht gerade für die
+Zusammenstellung verantwortlich, doch hat<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> er von Khartum aus die
+ihm mitgeteilten Korrekturbogen gebilligt. Aus diesem Grund ist das
+Nachstehende auch nicht als eine erschöpfende Betrachtung anzusehen,
+wohl aber sind es tiefe Gedanken, die für den deutschen Leser um so
+merkwürdiger sind, als weder die Wiedergeburt in der heiligen Taufe,
+noch die wirkliche Gegenwart des Leibes und Blutes Jesu Christi im
+heiligen Abendmahl im allgemeinen von den englischen Christen geglaubt
+wird.</p>
+
+<h3>Die heilige Taufe.</h3>
+
+<p>Die Taufe geht dem heiligen Abendmahl voraus; ihr Vorbild muß daher
+auch in der Geschichte der ersten Menschen dem Essen der verbotenen
+Frucht voraus gehen.</p>
+
+<p>Das Essen des Leibes und Blutes (Brot und Wein) im Sakrament dient
+zur Ernährung und Belebung des neuen Menschen. Es bedingt sichtbare
+Gestalt und äußerliche Handlung. Es schließt ein die Handlung eines
+Wiedergeborenen. Die Taufe wird Wiedergeburt genannt. Sie ist das
+Siegel der Einverleibung in den Leib Christi, die Kirche; sie wird
+auch ein Begrabenwerden und Auferstehen genannt, ein Ablegen des
+fleischlichen Leibes (Kol. 2, 11-12).</p>
+
+<p>Adams Geschichte besteht aus Geschaffenwerden, Essen, Tod. Die
+heilenden Sakramente, Taufe und Abendmahl, sind die Fortsetzung dieser
+Geschichte. Nach dem Genuß der verbotenen Frucht war der Mensch tot in
+Übertretung und Sünde, von Gott getrennt und daher der innewohnenden
+Gegenwart des heiligen Geistes verlustig. Die Taufe ist das Sakrament,
+das den toten Menschen belebt — seine Auferweckung; der Genuß des
+Abendmahls erhält ihn am Leben.</p>
+
+<p>Durch das verbotene Essen verfiel der Mensch dem Tode; die Taufe
+erweckt ihn aus dem Tode und das heilige Abendmahl nährt ihn vom Baum
+des Lebens.</p>
+
+<p>In der Taufe wird ein Element — Wasser — eine materielle Substanz
+mit des Menschen Leib in äußerliche Berührung gebracht; im Abendmahl
+werden die Elemente, Brot und Wein, in des Menschen Leib aufgenommen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span></p>
+
+<p>Im Essen liegt die Verbindung des heiligen Abendmahls mit dem Baum der
+Erkenntnis des Guten und Bösen.</p>
+
+<p>Im Wasser liegt die Verbindung der Taufe mit einem vorsündlichen
+Ereignis, und dieses Ereignis ist die Schöpfung. Die Geschichte
+des Menschen ist Geschaffenwerden, Essen, Tod; Auferstehung oder
+Neuschaffung oder Wiedergeburt, Essen und ewiges Leben. In der
+Schöpfung müssen wir daher die Erklärung der Taufe suchen. »Im Anfang
+schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer und der
+Geist Gottes schwebete auf den Wassern.«</p>
+
+<p>Durch das Wort Gottes wurde die Erde aus den Wassern gerufen. Das ist
+die Schöpfung, und wie des Menschen Leib aus Erde gemacht ist, so darf
+man sagen, daß er aus den Wassern hervorgerufen worden ist durch das
+Wort Gottes, durch den heiligen Geist.</p>
+
+<p>Hierin liegt die Analogie zwischen der Schöpfung, dem Ruf ins Leben,
+und der Taufe. Die Erde war tot sozusagen bis sie ins Leben gerufen
+wurde. So ist der Mensch tot sozusagen bis er wiedergeboren wird.
+Der Zustand der Erde vor der Schöpfung war ein <em class="gesperrt">toter</em>. Der
+fleischliche Mensch ist <em class="gesperrt">tot</em>. Der Zustand der Erde vor der
+Schöpfung war gleich dem Zustand des Menschen, als der Engel ihn aus
+dem Garten trieb.</p>
+
+<p>Was Gottes Wort durch den heiligen Geist an der Erde vollbrachte, als
+es wüste, leer und finster auf der Tiefe war, das muß am fleischlichen
+Menschen vollbracht werden, ehe er leben kann. Durch den Ruf Christi
+und die Arbeit des Geistes kommt er zur Erkenntnis, daß er in einem
+Zustand der Sünde und Finsternis tot ist; und das äußere Zeichen
+solcher Erkenntnis ist, daß er getauft, bildlich untergetaucht wird
+ins Wasser, das seine Rückkehr ins Nichtssein bedeutet und somit die
+Neuschaffung ermöglicht.</p>
+
+<p>Und wie die Erde einst mit Wasser bedeckt und tot war, so bedeckt die
+Taufe den Menschen bildlich mit Wasser, um seinen Tod anzudeuten, um
+öffentlich zu bezeugen, daß er den Tod als seinen Lohn anerkennt; und
+wie die Erde als eine neue Schöpfung aus dem Wasser hervorging, so ist
+der Mensch nach der Taufe<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> eine neue Kreatur und dazu geschickt, vom
+Baum des Lebens im heiligen Abendmahl sich zu nähren.</p>
+
+<p>Ich sage damit nicht, daß die Taufe als äußerliche Handlung den
+Menschen vom Tod errettet, wie ich auch nicht sage, daß das Abendmahl
+einem andern als dem gläubigen Empfänger ein Genuß zum Leben ist. Die
+Taufe ist ein Auferstehen vom Tod, und das Abendmahl ist ein Genuß
+zum ewigen Leben. Die Taufe an sich macht den Menschen nicht zum
+Christen. Wer nicht vorher ein Christ ist, der wird es nicht durch
+die Taufhandlung. Nach Röm. 4, 10. 11 war die Beschneidung das Siegel
+eines Bundes, dem Abraham durch den Glauben schon angehörte; ebenso
+ist die Taufe das Siegel eines bereits bestehenden Bundes, welcher ist
+ein Bund des Glaubens und des Innewohnens des heiligen Geistes.</p>
+
+<p>Und wie der Gläubige im Abendmahl des Leibes und Blutes Christi
+teilhaftig wird, so wird der Gläubige in der Taufe aus dem Tod
+erweckt, er empfängt im Wasserbad die Vergebung der Sünde und die
+Einwohnung des heiligen Geistes, der schon an ihm gearbeitet hat; denn
+wie könnte er glauben, wenn der heilige Geist seine Seele nicht in den
+Stand setzte, zu bekennen, daß Jesus der Herr ist!</p>
+
+<p>Ich hebe es noch einmal hervor, daß 1) in der heiligen Taufe das
+Element des Wassers mit dem Körper in äußerliche Berührung gebracht
+wird; daß 2) im heiligen Abendmahl Brot und Wein in den Körper
+aufgenommen werden; daß 3) das heilige Abendmahl in dem ersten Essen
+(der verbotenen Frucht) sein Gegen- und Vorbild hat und daß es 4)
+höchst wahrscheinlich ist, daß das andere Sakrament, die Taufe, in
+analoger Weise auf ein vorsündliches Ereignis sich bezieht. Mir ist
+schon lange der Gedanke gegeben worden, daß das dritte Kapitel des
+Evangeliums Johannes so zu verstehen ist, daß zwischen der natürlichen
+und der neuen Geburt ein Sterben liegt. Nikodemus verstand das nicht
+(V. 4), so klar es scheint. Er meinte, daß das Fleisch geheilt und für
+den Himmel geschickt gemacht werden könnte. Es war ihm unverständlich,
+daß der natürliche Mensch, weil getrennt von Gott, wirklich tot ist.
+Die Taufe ist also ein<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> offenes Bekenntnis, daß der natürliche Mensch
+hoffnungslos schlecht und tot ist und nichts Gutes zu thun vermag; und
+daß sie bildlich ein Begrabenwerden des natürlichen Menschen und eine
+Neuschaffung oder Auferstehung vom Tod enthält. Im Abendmahl verkünden
+wir Christi Tod; die Taufe verkündet, daß der Mensch im natürlichen
+Zustand tot ist und vom Tod erstehen muß. Ein neugeborenes Kind ist
+tot in Gottes Augen, die Eltern aber, die es im Glauben zur Taufe
+bringen, empfangen (an seiner Statt) die Verheißung.</p>
+
+<p>Ich kann nicht umhin, dafür zu halten, daß beide, die Taufe und
+das heilige Abendmahl, mit des Menschen Leib zu thun haben, denn
+die Elemente in beiden Fällen sind von dem Leib nicht zu trennen.
+Die Elemente werden in der Taufe äußerlich, im Abendmahl innerlich
+angewandt.</p>
+
+<p>Der aber ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das
+nicht eine Beschneidung, die auswendig im Fleische geschieht (Röm.
+2, 28. 29). Und ebenso bei der Taufe: der Mensch ist nicht darum ein
+Christ, weil er getauft ist. Kann einer nicht glauben ohne getauft
+zu sein, und kann in diesem Fall sein Nichtgetauftsein nicht als
+Getauftsein angesehen werden? Es giebt viele Stellen in der Schrift,
+die es klar zeigen, daß die Taufe an sich ohne Glaube kein nütze ist;
+und daraus erkennen wir, warum viele, die getauft sind, den heiligen
+Geist nicht haben.</p>
+
+<p>Meiner Meinung nach hätten sich die Ausleger, welche über Taufe und
+Abendmahl geschrieben haben, manchen Irrweg gespart, wenn sie die
+drei ersten Kapitel des ersten Buches Mose besser erwogen hätten. Mir
+hat es seit Jahren Gedanken gemacht, was von der Taufe zu halten ist,
+doch ist es mir schon vor etlichen Jahren klar geworden, daß zwischen
+zwei Geburten ein Tod liegen muß (Joh. 3). Ich halte dafür, daß im
+Taufwasser die Sündenschuld zurückbleibt, so wie natürliches Wasser
+die Unreinigkeit der Gegenstände zurückbehält, die darin gewaschen
+werden. Es scheint mir aber nicht, daß der heilige Geist das Wasser
+in anderer Weise als Träger benutzt, als indem er es wirksam macht,
+die Sünde abzuwaschen. Als Jesus<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> (der, obgleich ohne Sünde, sich
+als Mensch der Taufe unterzog) aus dem Wasser heraufstieg, kam der
+heilige Geist über ihn. Gott ist aber nicht an die Taufe gebunden,
+denn Johannes war voll des heiligen Geistes von Mutterleibe an, und
+Kornelius hatte den heiligen Geist empfangen vor der Taufe. Die
+Gläubigen gehen als Kinder Adams ins Taufwasser und gehen als Kinder
+Gottes daraus hervor.</p>
+
+<p>Die Unterlassung der Taufe in gewissen Fällen anlangend, so fiel
+der heilige Geist auf Kornelius, ehe er getauft war (Apostelgesch.
+10, 44). Mag auch jemand das Wasser wehren, daß dieser nicht
+getauft werde? Als Petrus und Johannes hinunter nach Samaria gingen
+(Apostelgesch. 8, 15-16), fanden sie, daß auf des Philippus Predigt
+hin die Leute glaubten und sich taufen ließen, sie empfingen den
+heiligen Geist aber erst durch der Apostel Handauflegung.</p>
+
+<p>Aus diesen beiden Stellen ersehen wir, daß der heilige Geist nicht
+notwendigerweise mit der Taufe dem Täufling gegeben wurde, daß er aber
+auch nicht dem gläubigen Ungetauften versagt war. Paulus beschnitt
+Timotheus um der Juden willen (Apostelgesch. 16, 3). Die Beschneidung
+ist nichts und die Vorhaut ist nichts, sondern Gottes Gebot halten
+(1 Kor. 7, 19). Um der Juden willen beschneidet Paulus zwar den
+Timotheus, den Titus aber (Gal. 2, 3) will er nicht beschneiden.
+Dies zeigt, daß er nach der jedesmal von Gott ihm gegebenen Einsicht
+handelte. Indem er den Timotheus beschnitt, fügte er sich dem Urteil
+der Juden, gegen welches zu verstoßen er sich gewissermaßen fürchtete;
+oder warum hätte er sonst diesen jüdischen Gebrauch vollzogen? Wenn
+ich sage, daß er fürchtete, den Juden Anstoß zu geben, so meine ich
+damit, daß Gott ihm die Einsicht verlieh, daß es, um weiser Absichten
+willen und zur Vermeidung der Uneinigkeit recht sei, sich zu fügen.
+Ich glaube daher, daß wir z. B. gerechtfertigt wären, die Taufe bis
+auf weiteres zu unterlassen, wo der öffentliche Fanatismus sich
+dagegen auflehnt. Denn die Taufe macht einen nicht zum Christen,
+so wenig wie die Beschneidung einen zum Juden macht. Das bildliche
+Ausziehen des Fleisches durch die äußerliche Taufe ist nicht mehr
+nütze,<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> als das bildliche Abthun der Unreinigkeit des Fleisches durch
+die äußerliche Beschneidung.</p>
+
+<p>Wie bereitwillig gewährte Paulus dem Kerkermeister die Taufe
+(Apostelgesch. 16, 33). In derselben Stunde der Nacht, als dieser
+ihm die Striemen abwusch, verkündete ihm Paulus das Wort des Herrn
+und taufte ihn alsbald. Der Kerkermeister wusch des Apostels
+Striemen, und der Apostel wäscht ihm im Wasserbad die Sünden ab. Die
+Apostelgeschichte ist in erster Linie ein Missionslehrbuch; warum
+sind wir denn so vorsichtig mit der Taufe unter den Heiden? Fehlt uns
+selber der rechte Glaube? Paulus taufte in jener Nacht nicht nur den
+Kerkermeister, sondern alle, die in seinem Hause waren. Zu Philippi,
+der Hauptstadt des Landes (Apostelgesch. 16, 12), war das Gefängnis
+gewiß groß und es waren ohne Zweifel viel Leute in des Kerkermeisters
+Haus. Da drängt sich einem wohl die Frage auf, ob der Kerkermeister
+und alle, die in seinem Hause waren, alle die Katechismusfragen
+unserer heutigen Missionare hätten beantworten können!</p>
+
+<p>Was hat der Mensch durch jenes erste verbotene Essen verloren? (Ich
+brauche nicht gern das Wort »Sündenfall« — die Schrift nennt es
+nicht so.) Er verlor den heiligen Geist. Was gewinnt der Mensch im
+andern Essen? Er gewinnt den heiligen Geist. Es ist von Wert hierüber
+nachzudenken.</p>
+
+<p>Der Verlust des heiligen Geistes ist Trennung von Gott, Tod; so sind
+wir in Gottes Augen von Natur tot, und wenn wir in das Taufwasser
+untergetaucht werden, so bekennen wir uns bildlich tot bei dem
+Begräbnis im Wasser.</p>
+
+<p>Adam, der erste Mensch, entstieg dem Wasser der ersten Schöpfung. Er
+sündigte, das ganze menschliche Geschlecht war in ihm und starb in
+ihm, somit sind wir alle tot in den Augen Christi und verfallen damit
+der Gemeinstatt aller, dem Grab, dem Orte der Toten. Wir bekennen, daß
+wir beim Hineingehen ins Wasser der Taufe dasselbe sind, was Adam war.
+Wir gehen mit dem neuen Adam, Christus, als neue Kreatur aus der Taufe
+hervor. In ihm sind wir nicht länger tot; wir leben. Unser Hervorgehen
+aus der Taufe ist unser Auferstehen, und in Ihm<span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span> erhalten wir (was wir
+vorher verloren hatten) den heiligen Geist, welcher unser Leben ist.</p>
+
+<p>In Adam sind alle Menschen geschaffen, sie sterben mit ihm, werden
+zu Staub und gelangen an einen Ort, aus welchem sie alle kamen. Was
+ist der Sammelplatz aller Menschen? — Das Grab. Christus aber, der
+zweite Adam, versammelt uns aus dem Grab in ihm selber, in der neuen
+Geburt. Indem wir im Taufwasser untertauchen, verbildlichen wir
+unsern Zustand; und indem wir uns so bildlich ins Grab des Wassers
+legen, können wir daraus als neuer Mensch zu Christus gesammelt
+werden. (Im Griechischen steht das Wort [Greek: synagôgê] [Sammlung],
+gebraucht von dem Sammeln der Wasser ebenso wie [Joh. 11, 52] für das
+<em class="gesperrt">Zusammenbringen</em> der Kinder Gottes, die zerstreut waren.) Die
+Taufe besagt im Bild, daß wir im Taufwasser in den ersten Zustand 1
+Mos. 1 zurückkehren, und im neuen Adam, Christus, gehen wir daraus
+hervor. Wir kosten vom Baum des Lebens. Wir gelangen zur Auferstehung,
+die sich im 22. Kapitel der Offenbarung abspiegelt, wo von einem Strom
+die Rede ist und vom Baum (Holz) des Lebens, von Gott und dem Lamme.</p>
+
+<p>Ehe der heilige Geist in uns erneut wird (es ist auf dieses Wort zu
+achten, denn es deutet an, daß der Mensch ihn einmal besessen und dann
+verloren hat), müssen wir im Bild begraben werden, müssen unsern Tod
+und unsern hoffnungslosen Zustand erkennen. Denn wie das Salböl nicht
+aus das Fleisch gegossen werden kann, so kann der Fleischlichgesinnte
+den heiligen Geist nicht empfangen. Fleischlichgesinntsein ist eine
+Feindschaft wider Gott und kann den heiligen Geist nicht empfangen
+(Röm. 8, 7 und 9, ein gar ernstes Wort!).</p>
+
+<p>In der Taufe wird der natürliche Leib in der Erwartung gesäet, daß
+der geistliche Leib auferstehe. In der Taufe bekennen wir uns zur
+Notwendigkeit solchen Säens; wir bekennen, daß wir in natürlichem
+Zustand zu nichts nütze sind als (mit dem verweslichen Körper) gesäet
+und begraben zu werden.</p>
+
+<p>Der erste Adam wurde ins Leben gerufen und starb und ist bildlich
+in der Taufe begraben. Der zweite oder letzte Adam,<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> Christus, ist
+der lebendigmachende Geist (der Herr vom Himmel), der von den Toten
+auferweckt.</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent0">Die Taufe ist eine Auferstehung aus der Verwesung.</div>
+ <div class="verse indent0">Die Taufe ist eine Auferstehung aus der Unehre.</div>
+ <div class="verse indent0">Die Taufe ist eine Auferstehung aus der Schwachheit.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<p class="right mright8">(1 Kor. 15.)</p><br>
+
+<p>Wir ersehen hieraus, daß die Taufe eine wichtige Sache ist. Denn die
+wahre Taufe, sei es bei unmündigen Kindern durch ihre Stellvertreter,
+die Paten, so diese gläubig sind, sei es bei Erwachsenen, ist der
+Bedeutung nach <em class="gesperrt">nichts anderes als ein Bekenntnis, daß das Fleisch
+nichts Gutes zu vollbringen vermag</em>. Und mir scheint, daß diese
+Ansicht eine Stütze für die Kindertaufe ist, denn es handelt sich
+darum, etwas das tot ist und das sich nicht selbst helfen kann zu
+begraben. Ein kleines Kind ist tot hinsichtlich des eigenen Willens u.
+s. w.; indem es nun bildlich durch seine gläubigen Stellvertreter in
+der Taufe begraben wird, ergiebt sich hieraus die Hoffnung, daß es in
+Christo auferstehen wird — ja unser Glaube an Gott kann nicht anders
+als dies glauben.</p>
+
+<p>Wenn es sich um einen Erwachsenen handelt, der von seiner
+fleischlichen Natur frei werden möchte, an Christus glaubt und
+getauft wird, so glaube ich, daß ein solcher den heiligen Geist in
+seinem <em class="gesperrt">Leibe</em> empfängt. Die Elemente des Segens, dessen er in
+seinem <em class="gesperrt">Leibe</em> teilhaftig wird, sind in dem einen Falle Brot und
+Wein, in dem andern ist es Wasser, in welchem er den fleischlichen
+<em class="gesperrt">Leib</em> ablegt. In beiden Sakramenten sind die Elemente stofflich,
+und beide sind geheiligt für den Leib durch den heiligen Geist:
+das eine zur Erhaltung des neuen Lebens in Christo, das andere zur
+Auferstehung von den Toten in Christo, welcher ist der neue Adam.</p>
+
+<p>War nicht das Essen der verbotenen Frucht ein Zerreißen der Einheit
+mit Gott und, infolge davon, die Bildung einer Einheit mit dem Satan?
+Und was ist der Glaube anderes als eine Fähigkeit, die unmittelbar
+aus der Gegenwart des heiligen Geistes kommt? »Niemand kann Christus
+einen Herrn heißen, ohne durch den heiligen Geist,« auch andere
+Stellen beweisen dies. Der<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> Glaube ist eine unmittelbare Wirkung der
+Einwohnung des heiligen Geistes. Da kann kein Glaube sein, wo der
+heilige Geist nicht seine Wohnung hat. Einer der sagt, er glaube an
+Christus, aber nicht an die Gegenwart des heiligen Geistes in ihm
+selber, ist entweder ein Lügner und Ungläubiger, oder er macht Gott
+zum Lügner.</p>
+
+<p>Daraus folgere ich, daß jedes Wort, jede That, jeder Gedanke, der
+nicht aus der Gemeinschaft mit Christus durch den heiligen Geist
+entspringt, genau dasselbe ist, was das Essen der verbotenen Frucht
+war. Andererseits ist jedes Wort, jede That, jeder Gedanke, der durch
+den heiligen Geist in der Gemeinschaft mit Christus wurzelt, ein Essen
+vom Baum des Lebens.</p>
+
+<p>Ferner, gleichwie das Essen der verbotenen Frucht sowohl durch Wort
+oder Gedanken, als durch die That geschehen kann (im verbotenen Essen
+im Paradies gipfelten Gedanke und Wort in der That), so kann das
+Essen von dem Baum des Lebens, Christus, auch durch Wort und Gedanke
+geschehen, ist aber wesentlich eine That. Das Einssein mit Christus
+durch die Einwohnung des heiligen Geistes ist das A und O alles
+Lebens, und diese Anschauung empfiehlt sich selbst unserer Vernunft.
+Das Ergebnis dieses Einsseins ist ein Fruchtbringen. Es bedarf keiner
+Anstrengung; wenn wir das Einssein suchen und pflegen, so müssen die
+Früchte des heiligen Geistes die natürliche Folge sein.</p>
+
+<p>Nur durch den heiligen Geist ist Leben oder Gemeinschaft mit Christo
+möglich. Die Erlösung oder die Wohlthat des Sühnopfers unseres Herrn
+kann nur dann von uns erfaßt werden oder uns zu gute kommen, wenn der
+heilige Geist in uns wohnt. »Wer aber Christi Geist nicht hat, der
+ist nicht sein.« Röm. 8, 9. Wer das nicht hat, was die Gemeinschaft
+ausmacht, kann nicht mit Christo vereinigt sein. Und es ist klar, daß
+die Ausgießung des heiligen Geistes erst die Folge von Christi Leiden
+war; er konnte nicht eher herkommen, als bis Christus aufgefahren war.
+Nach Christi Himmelfahrt kam der heilige Geist hernieder, nicht vorher.</p>
+
+<p>Wie mancher bekümmerten Seele wäre es ein unaussprechlicher Segen
+zu wissen, daß der einzige Weg, um heilig oder<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> Christus ähnlich zu
+werden, der ist, die Gegenwart des heiligen Geistes in uns zu suchen
+und zu pflegen. Die Früchte leugnen, welche der heilige Geist bringt,
+hieße die Gottheit des heiligen Geistes leugnen. Wenn ich daran denke,
+wie lange ich in der Irre ging und wie nutzlos ich mich abmühte am
+alten Menschen zu flicken, so kann ich nicht genug Nachdruck hierauf
+legen. Menschlich geredet, was für ein Segen wäre es für mich gewesen,
+wenn einer mir mit dem Wort zu Hilfe gekommen wäre (es steht übrigens
+deutlich genug in der Bibel): ›<em class="gesperrt">Suche du des heiligen Geistes in
+dir selbst gewiß zu werden und kümmere dich sonst um nichts!</em>‹ Wer
+an Christum glaubt, der hat Gott den heiligen Geist lebendig in sich.
+Diese Wahrheit im täglichen Leben zu pflegen ist alles was wir nötig
+haben, und Er nährt uns durch die Schrift. Alles übrige kommt dann von
+selbst.</p>
+
+<h3>Über die Verbindung zwischen dem Sündenfall und dem heiligen Abendmahl.</h3>
+
+<p>In einem jüdischen Schulbuch fand ich die Geschichte des sog.
+Sündenfalles ausgelassen, und als ich einen Rabbiner darüber
+fragte, sagte er mir, daß die Juden dieselbe nicht als etwas
+Wirkliches anerkennen, sondern alle ihre Gebrechen aufs goldene
+Kalb zurückführen. Das ist begreiflich, denn sie meinen, sie können
+durchs Gesetz gerecht werden, indem sie aber das goldene Kalb als
+den Grund ihres Sündenfalles ansehen, ist ihnen der Sündenfall ein
+jüdisch-nationales Ereignis.</p>
+
+<p>Betrachten wir den Sündenfall.</p>
+
+<p>Der Baum des Erkenntnisses des Guten und Bösen war ein Baum, an dem
+man lernen konnte, was gut und was böse ist. Indem der Mensch von
+diesem Baum aß, wurde er wie Gott, denn Gott der Herr sprach: Siehe
+Adam ist geworden wie unser einer und weiß, was gut und böse ist.</p>
+
+<p>Auch ist zu bemerken, daß das Verbot, von dem Baum zu essen, gegeben
+wurde, <em class="gesperrt">ehe</em> das Weib aus Adams Rippe gebaut war; so daß Eva
+<em class="gesperrt">im</em> Garten erschaffen wurde und Adam <em class="gesperrt">außerhalb</em> desselben.
+Und <em class="gesperrt">Adam</em> wurde aus dem Garten getrieben;<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> der Eva geschieht
+dabei keine besondere Erwähnung. Dem Weib wurde kein Grund angegeben.
+Zu Adam sprach Gott: »dieweil du gegessen hast.« Die Strafe des
+Essens, der Tod, »du mußt sterben,« muß in Beziehung gebracht werden
+zu dem Worte »weil du gegessen hast, verflucht ist der Acker, bis daß
+du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde
+und sollst zu Erde werden.«</p>
+
+<p>Eph. 2, 2. »In welchen (Sünden) ihr weiland gehandelt habt, nach dem
+Lauf dieser Welt, nach dem Fürsten, der in der Luft herrschet, nämlich
+nach dem Geist, der zu dieser Zeit sein Werk hat in den Kindern des
+Unglaubens.« Der Fürst, der in der Luft herrschet, der Satan, hat also
+sein Werk in den Kindern des Unglaubens (Ungehorsams), und er begann
+dieses Werk im Menschen, als der Mensch im Ungehorsam gegen Gott von
+der verbotenen Frucht aß.</p>
+
+<p>Wir dürfen annehmen, daß wenn Gott dem Menschen mit einer einzigen
+Ausnahme alles gewährte, eben diese Ausnahme ihren Grund in dem
+dem Menschen drohenden Schaden hatte. Hätte Eva nicht von dem, was
+verboten war, gegessen, dann hätte der Geist des Ungehorsams, Satan,
+sein Werk in ihr nicht beginnen können. Und wir mögen es betrachten
+wie wir wollen, so viel ist klar, daß sie durch die Thatsache ihres
+Essens dem Satan die Thür öffnete und er in ihrem Herzen Eingang fand.</p>
+
+<p>1 Kor. 10, 20 zeigt, daß den Götzen opfern einer Gemeinschaft mit
+den Teufeln gleichkommt: »was die Heiden opfern, das opfern sie den
+Teufeln und nicht Gott. Nun will ich nicht, daß ihr in der Teufel
+Gemeinschaft sein sollt«.</p>
+
+<p>Der gesegnete Kelch aber ist die Gemeinschaft oder das
+Teilhaftigwerden des Blutes Christi. Das Brot, das wir brechen, ist
+die Gemeinschaft oder das Teilhaftigwerden des Leibes Christi, 1 Kor.
+10, 16.</p>
+
+<p>Das Trinken vom Kelch des Herrn ist die Anteilnahme an des Herrn
+Tisch; und das Trinken von der Teufel Kelch ist die Anteilnahme
+an der Teufel Tisch. Durch dieses ganze Kapitel zieht sich die
+Gegenüberstellung von zweierlei Essen, von zweierlei Opfern, und von
+zweierlei Folgen solchen Essens (d. i. solcher<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> Anteilnahme), von
+zwei Genossenschaften, zwei Gemeinschaften, welche in der Thatsache
+von zweierlei Essen und den Folgen solchen Essens gipfeln, nämlich
+die Gemeinschaft mit dem Wesen, an dessen Tisch der Mensch sozusagen
+sich setzt, welche Gemeinschaft ein Teilhaftigwerden der Eigenschaften
+dieses Wesens bedeutet.</p>
+
+<p>Mögen wir nun über die Bedeutung der Worte streiten wie wir wollen,
+so läßt sich's nicht hinwegerklären, daß nach Joh. 6, 56 Christus in
+<em class="gesperrt">dem</em> Menschen wohnet, der sein Fleisch ißt und sein Blut trinkt;
+und nach dem 53. Vers dieses Kapitels haben wir kein Leben in uns,
+so wir das nicht thun. Darnach ist es klar, daß dieses Essen sein
+Wohnungmachen in uns bedeutet; während nach 1 Kor. 10 ebenfalls klar
+ist, daß solche, die den Teufeln opfern (oder mit ihnen Gemeinschaft
+haben, was nach V. 20 dasselbe ist), auch den Teufeln in sich Wohnung
+verstatten. Nun kann darüber kein Zweifel sein, daß Evas Essen
+vom verbotenen Baum eine Gemeinschaft mit dem Teufel war, erstens
+darum, weil der Satan wirklich mit ihr verkehrte, zweitens weil es
+nicht eine Gemeinschaft mit Gott war, und drittens weil es im Geist
+des Ungehorsams geschah. Dabei lasse ich alle Opfer des mosaischen
+Ceremonialgesetzes außer Frage und beschäftige mich nur mit dem
+Sündenfall und der Wiederherstellung des Zustandes vor dem Fall, in
+welcher der Hauptpunkt das Sakrament ist, durch welches wir des Herrn
+Tod verkünden, bis daß Er kommt.</p>
+
+<p>Wir glauben, daß Brot und Wein kraft göttlicher Einsetzung die
+werkzeugliche Ursache des geheimnisvollen Teilhaftigwerdens Christi
+ist, wodurch Er ganz unser wird und wir so eng mit ihm verbunden
+werden, als sein Fleisch <em class="gesperrt">sein</em> Fleisch und sein Blut <em class="gesperrt">sein</em>
+Blut ist. Durch Brot und Wein, durch das Essen und Trinken seines
+Leibes und Blutes, d. h. durch die thatsächliche Handlung solcher
+Nießung wird das feste Band geknüpft. Dabei glauben wir nicht, daß das
+Brot Fleisch wird und der Wein Blut, so wenig als die verbotene Frucht
+verwandelt worden ist.</p>
+
+<p>Ich denke, es steht fest, daß der Fürst, der in der Luft herrschet,
+darum Eingang in uns fand und in den Kindern des Unglaubens sein Werk
+hat, weil Eva und Adam von der verbotenen Frucht aßen. Sie traten
+aus der Gemeinschaft mit Gott<span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span> und wurden der Gegenwart des heiligen
+Geistes verlustig, durch den wir Gemeinschaft mit Gott haben. Dies
+führt zur Wiederherstellung in Christo, wenn er uns die Gemeinschaft
+mit dem heiligen Geist wiederherstellt, »die Verheißung des Vaters«
+und ein Unterpfand des Erbes. Nach Rom. 8, 11 wird der Geist des,
+der Jesum von den Toten auferwecket hat, unsere sterblichen Leiber
+lebendig machen durch den Geist, der in uns wohnet. Ich denke mir, daß
+der heilige Geist zuerst mit der Seele in Gemeinschaft ist, und daß
+Er dann durch die erweckte Seele den sterblichen Leib auferweckt. Da
+der heilige Geist nur in geistiger Weise an der Seele arbeiten kann,
+die geistiger Natur ist, so fragen wir, auf welche Weise kann der Leib
+erfaßt werden, der durch eine thatsächliche Handlung (durch Essen)
+der Gewalt des Bösen anheimfiel? Ich beantworte diese Frage mit aller
+Vorsicht, aber es erscheint mir sowohl vernunft- als schriftgemäß,
+daß er durch dasselbe Mittel auch wieder geheilt wird, das den Fall
+bewirkte und dem Teufel den Zugang verstattete, nämlich <em class="gesperrt">durch
+Essen</em>.</p>
+
+<p>Das Sakrament von des Herrn Nachtmahl steht in enger Verbindung mit
+der Auferstehung des Leibes. »Wer mein Fleisch isset und trinket mein
+Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am jüngsten Tage
+auferwecken.« Und wir wissen, daß, so wir würdig zu seinem Sakrament
+kommen, wir seinen Leib in unsern Leib und sein Blut in unser Blut
+empfangen zur Reinigung von aller Sünde. Wäre es denkbar, daß unsere
+Leiber je umkommen könnten, nachdem sie einer so engen Gemeinschaft
+mit der Gottheit teilhaftig geworden sind, als das Essen seines Leibes
+und das Trinken seines Blutes in sich schließt?</p>
+
+<p>Wir müssen annehmen, daß der Leib beim Sündenfall in vorzüglichem Maße
+thätig war, denn er genoß thatsächlich, was verboten war, und hier bei
+diesem zweiten Essen ist ebenfalls der Leib in demselben Maße thätig.
+Beim ersten Essen brachte der Leib die Seele zum Opfer (denn der Seele
+konnte es an sich nichts verschlagen, ob gegessen wurde oder nicht);
+beim zweiten Essen bringt die Seele den Leib zum Opfer. Beim ersten
+Essen trug der Leib den Sieg davon; beim zweiten Essen bleibt der
+Seele der Sieg.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span></p>
+
+<p>Warum sind wir alle so tot? Warum wird unser Fleisch nicht belebt?
+Viele unter uns sind wahre, ernste Christen. Warum sind sie so
+trübselig? Sie haben die Barmherzigkeit Gottes in Christo erfahren,
+aber es ist, als ob die Seele bei ihnen an einen Leichnam gefesselt
+wäre — an ihren Leib. Sie glauben oder hoffen, daß sie ihrer
+Seligkeit gewiß sind, aber sie werden dieser Gewißheit nicht froh.
+Warum schleppen sie den toten Leib mit sich herum? Er atmet den Geruch
+des Verderbens aus, er ist träge und beschwerlich. Kann er nicht zum
+Leben gebracht werden? Wahrlich ich glaube, <em class="gesperrt">der Grund des Übels
+liegt in der Mißachtung des heiligen Abendmahls</em>. Wenn er auch
+ein toter Leib ist, so kann er doch essen; und wenn die Seele durch
+den heiligen Geist zum Leben erweckt ist, warum sollte sie den toten
+Leichnam nicht zu bewegen suchen, den Leib und das Blut Christi in
+sich aufzunehmen, woraus ihm Leben zu teil werden wird. Es mag zuerst
+nur ein schwaches Fünklein sein, ja es mag scheinen, als ob er nur um
+so mehr Verwesung von sich ausscheide, aber er wird bald voll Leben
+sein und dieses Leben wird das ewige Leben sein. Er wird den Tod nicht
+schauen, sondern die Auferstehung des Lebens.</p>
+
+<p>Was für Vorbereitung ist nötig um zu essen? Ich meine, wenn <em class="gesperrt">ein</em>
+Baum mit einem Zaun zu umgeben ist, so ist es der Baum der Erkenntnis
+des Guten und Bösen, denn dieser Baum existiert noch immer. Aber
+hüten wir uns, den Baum des Lebens einhegen zu wollen! Gott selbst
+hat uns den Weg dazu in Christo bereitet. Es ist gar nichts nötig
+als das eine: »Ich bin krank; ich möchte gesund werden; ich hasse
+und verabscheue mich selbst; ich habe nur schwache Hoffnung, daß es
+mir Segen bringen wird, aber ich will Ihm vertrauen, und zu seinem
+Gedächtnis will ich thun, was Er mich thun heißt.« Kann jemand am
+Erfolg zweifeln? In Summa — nichts ist nötig als erstens Kranksein,
+zweitens Verlangen nach Gesundheit und drittens Gehorsam gegen des
+Herrn Gebot.</p>
+
+<p>Ich glaube, die meisten geben das erste und das zweite zu. Warum nicht
+auch das dritte? Es ist so gar wenig, und wie unendlich ist der Segen.
+Zweifelst du, so laß mich dich an die<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> verbotene Frucht erinnern; wie
+gering schien die Übertretung, und die Folgen waren derartige, daß der
+allmächtige Gott selbst ins Fleisch kommen und den Tod leiden mußte,
+um den Schaden zu heilen.</p>
+
+
+<h3>Du solltst nicht davon essen. — Nehmet, esset.</h3>
+
+<p>Was für Anstrengungen machen die Menschen, um körperliche Leiden
+zu heilen, was für Summen läßt man es sich kosten. Welche
+Krankheitsdiagnosen werden gemacht und doch — selbst die wirksamsten
+Arzneien können das sichere unausbleibliche Ende nur um ein kurzes
+hinausschieben. Wahrlich, wenn man es sich so angelegen sein läßt,
+körperliche Leiden zu untersuchen, wie viel mehr sollte man die
+Ursache und das Heilmittel der geistlichen Krankheit erforschen. Denn
+daß wir geistlich krank und nicht so sind, wie wir sein sollten, daran
+zweifelt wohl keiner.</p>
+
+<p>Wenn im natürlichen Leben ein Gift in den menschlichen Körper geraten
+ist und ihn mit seiner schädlichen Wirkung durchdringt, so muß in
+denselben Körper ein Gegengift aufgenommen werden, um mit seinen
+heilenden Kräften jene bösen Folgen zu vernichten.</p>
+
+<p>Einer, der vergiftet ist, fragt nicht lange, auf welche Weise das
+Gegengift wirkt; er versteht die gute Wirkung des Gegengiftes
+vielleicht so wenig, als er die schädliche Wirkung des Giftes zu
+erklären weiß; er weiß nur, daß er leidet und geheilt werden möchte.
+Er nimmt das Gegengift in gutem Glauben; vielleicht hat er auch das
+Gift sozusagen in gutem Glauben genommen, denn im allgemeinen sucht
+der Mensch sich nicht selbst zu vergiften. Der Mensch sucht auch nie
+das Böse, weil es böse ist; er sucht vielmehr etwas (vermeintlich)
+Gutes im Bösen. Es genügt dem Menschen also zu wissen, daß er
+geistlich vergiftet ist, um Heilung zu begehren.</p>
+
+<p>Ist es ein Zufall, daß das erste Gebot Gottes, das Er dem Menschen
+gab, und eines der letzten Gebote Christi an seine Jünger, und durch
+sie an die ganze Welt, beides von einem Essen handelt? Gott sprach:
+»<em class="gesperrt">Du sollst nicht davon essen</em>« — Jesus spricht: »<em class="gesperrt">Nehmet,
+esset, das ist mein Leib!</em>«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span></p>
+
+<p>Eine wirkliche Substanz (Brot) soll in den vergifteten Körper
+aufgenommen werden, und zwar nach dem <em class="gesperrt">Gebot</em> des Herrn, und sie
+ist der Träger, durch welchen Christus dem vergifteten Körper seine
+göttlichen Eigenschaften mitteilt; gerade so, wie die <em class="gesperrt">verbotene</em>
+Frucht der Träger war, durch welchen der Teufel dem Körper seine bösen
+Eigenschaften mitteilte und ihn vergiftete.</p>
+
+<p>Der Mensch aß in völliger Unwissenheit hinsichtlich der Folgen des
+Essens von der verbotenen Frucht, denn er konnte nicht wissen,
+<em class="gesperrt">was</em> der Tod sei; ebenso kann der Mensch in völliger
+Unwissenheit hinsichtlich der Folgen vom Brot des Sakraments essen.</p>
+
+<p>In jenem Fall aß er im Vertrauen auf sich selbst und im Mißtrauen
+gegen Gott und in Gemeinschaft mit dem Teufel.</p>
+
+<p>In diesem Fall soll er im Vertrauen auf Gott und im Mißtrauen gegen
+sich selbst essen und in Gemeinschaft mit Gott.</p>
+
+<p>Der Welt ist dieses wie jenes eine Thorheit, aber es ist Weisheit bei
+Gott.</p>
+
+<p>Wir sagten vorhin, der Mensch sucht nie Böses, weil er böse ist,
+sondern er sucht (vermeintlich) Gutes im Bösen. Eva suchte Gutes in
+der verbotenen Frucht, aber sie suchte es im Vertrauen auf sich selbst
+und im Mißtrauen gegen Gott.</p>
+
+<p>Ein kleines Kind kann verstehen, daß es ein Heilmittel braucht,
+wenn es krank ist, und nimmt selbst eine widrige Arznei von seiner
+Mutter, weil es ihr vertraut. Der Mensch kann deshalb das sakramentale
+Gegengift verstehen, wenn er weiß, daß er geistlich vergiftet ist;
+aber der höchste Verstand kann weder ergründen die Tiefe des ersten
+Bundes mit Satan, noch die des zweiten Bundes mit Christus.</p>
+
+<p>Ich frage nun, <em class="gesperrt">was ist nötig, damit der Mensch esse von diesem
+Sakrament</em>? Nichts, als daß er seine geistliche Krankheit erkenne
+und geheilt werden möchte. Die meisten Menschen wissen es auch wohl,
+daß sie krank sind, und wären auch gern gesund.</p>
+
+<p>Warum wird das Gegengift im Sakrament so vernachlässigt? weil es so
+einfach ist, darum hält es die Welt für Thorheit und des Herrn Tisch
+ist verachtet. (Mal. 1, 7.)</p>
+
+<p>Zum Schluß noch die Frage: ist nicht das Abendmahl des<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Herrn das
+einzige aus der sichtbaren Kirche, was auch im Himmel bleiben wird?
+(Luk. 22, 18.) Es ist wesentlich das Hochzeitsmahl der Kirche; es ist
+das äußerliche Pfand des gegenseitigen Einwohnens des Menschen in Gott
+und Gottes im Menschen. (Offenb. 3, 20.)</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Mit solchen Gedanken beschäftigte sich Gordon während jenes Ruhejahres
+im heiligen Land. Im Juli schrieb er seinem Freund: »Es ist ein Gefühl
+der Ermattung über mich gekommen, <em class="gesperrt">nicht der Unzufriedenheit</em>,
+aber ein Verlangen, die Bürde abzuwerfen. Ich glaube, daß es gut für
+mich ist, hier zu sein, sonst wäre ich ja nicht hier, und Gott schenkt
+mir tröstliche Gedanken, aber der Körper ermattet, und es scheint
+mir ein selbstsüchtiges Leben. Doch sind alle Forschungen, die ich
+hier mache, interessant, und mein gottgeschenkter Glaube verhindert
+mich, es für ein nutzloses Leben zu halten.« Es ist die Energie des
+Mannes, die hier zum Vorschein kommt; er will nicht nur glauben, er
+will seinen Glauben auch bethätigen. Bei den Londoner Maiversammlungen
+1885 hat Missionar Hall aus Jaffa einer großen Versammlung unter
+atemloser Stille von seinem acht Monate langen Umgang mit Gordon
+erzählt. In den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft sagte Gordon zu ihm:
+»Ich habe keine rechte Ruhe, ich bin in dieses Land gekommen, um eine
+Zeit lang in der Stille zu sein, mich mehr mit dem Wort Gottes zu
+beschädigen und nebenher die heiligen Stätten zu untersuchen. Aber
+es befriedigt mich nicht; ich bin unruhig, ich muß etwas für Gott
+thun. Glauben Sie, wenn ich nach Jaffa käme, daß ich dort Arbeit
+finden könnte?« Die Folge der bejahenden Antwort des Missionars
+war, daß Gordon sich in Jaffa einmietete. »Eines Tages,« erzählte
+Hall, »erhielt ich ein Schreiben von dem Komitee des Inhalts, daß
+ein Missionshaus in Nablus (Sichem) errichtet werden sollte und daß
+Baupläne einzusenden seien. Ich schrieb an den Missionar Fallscheer
+in Nablus, worauf dieser mich in Jaffa besuchte und es beklagte, daß
+er nichts vom Baufach verstehe. In Jaffa gebe es keinen Baumeister,
+und sich bei einem Baumeister in Jerusalem Rats zu holen, sei eine
+kostspielige Sache. Ich gab das zu und<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> entgegnete: »Es ist eben ein
+Mann hier, der sich aufs Planzeichnen versteht; ich weiß zwar nicht,
+ob man ihn damit belästigen darf — wir wollen es aber versuchen.«
+Und so begaben wir uns in Gordons Wohnung. Wir hatten uns nicht den
+günstigsten Augenblick gewählt, denn es war vormittags, welche Zeit
+Gordon der Betrachtung des Wortes Gottes widmete. Wir fanden ihn in
+Hemdärmeln an seinem Tisch sitzen. Er erkundigte sich nach unserm
+Begehren. »Wir möchten Ihren Rat holen wegen eines Missionshauses,
+das in Nablus gebaut werden soll,« sagte ich, und um unserm Bedürfnis
+nach Bauplänen näher zu kommen, fügte ich dies und jenes hinzu. Da
+unterbrach er mich: ›Ich weiß, was Sie wollen — Sie brauchen nicht so
+vorsichtig mit mir zu reden; Sie möchten einen Beitrag haben.‹ Darauf
+erwiderte ich, daß wir keinen Beitrag von ihm wollten, wohl aber etwas
+Besseres als Geld, nämlich die Baupläne, wenn er sie uns entwerfen
+wolle. ›Baupläne,‹ rief er, ›ei gern!‹ und nahm sofort Papier und
+Bleistift zur Hand, notierte sich wie viel Zimmer nötig seien, was
+für Fenster und Thüren, was die Lage des Bauplatzes sei u. s. w. Noch
+am Abend desselben Tages brachte er uns die schönsten Pläne, die man
+sich denken konnte. Am andern Tage bestellten wir Handwerksleute,
+und Gordon machte einen Kostenüberschlag für jeden. Das Missionshaus
+steht jetzt in Nablus. Einige Zeit später sagte ich ihm, daß ich
+mich fast gefürchtet hätte, ihn um die Baupläne zu bitten. ›Meinen
+Sie, ich hätte Ihre Bitte übel genommen,‹ sagte er. ›Wozu bin ich
+denn nach Jaffa gekommen, habe ich Ihnen nicht gesagt, daß, wenn Sie
+mir etwas für das Reich Gottes zu thun geben könnten, Sie mir einen
+Dienst erweisen würden? Ich war nicht recht mit mir zufrieden, weil
+ich mich ins heilige Land zurückgezogen hatte, anstatt mit meinen
+Kräften mich in Gottes Arbeit zu stellen.‹ In diesem Sinn hatte er
+die Pläne entworfen.« Missionar Hall fügte dem bei, daß er von Gordon
+mehr Aufschluß über geistliche Dinge erhalten habe, als sonst von
+irgend einem Menschen, mit dem er je in seinem Leben zu thun gehabt.
+Gordon fand auch sonst in Jaffa Arbeit von der Art, wie er sie in
+Gravesend gefunden hatte. Ein bekannter schottischer Geistlicher, der
+kürzlich in Palästina<span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span> reiste, kam mit einem armen Dragoman zusammen,
+der ihm nicht genug davon sagen konnte, wie Gordon ihn und seine Frau
+in Krankheit besucht und in Ermangelung eines Stuhles sich mit seinem
+neuen Testament auf den Boden gesetzt habe, um ihnen von Christus
+zu erzählen. Dabei hatte er ausfindig gemacht, daß sie eine große
+Doktorrechnung hätten, und diese in aller Stille bezahlt. In Jerusalem
+und den Dörfern umher habe er den Armen viel Gutes gethan, und diese
+trauerten um ihn, wie um ihren Vater.</p>
+
+<p>Überall wo Gordon hinkam, dasselbe Urteil über ihn! Er aber sagt: »Wie
+wenig Christus-ähnliche Menschen giebt es doch — wer unter uns ist
+Ihm gleich? Keiner, bis alles von uns genommen ist; dann erst können
+wir werden wie Er und eins sein mit Ihm. ›Selig sind die geistlich
+Armen, denn das Himmelreich ist ihr,‹ heißt es; und nur die Armen ohne
+Geld und ohne Ansehen im vollen Sinne des Wortes können durch die
+dunkle Grabesthüre zu der Ruhe eingehen, die uns behalten ist .... Ich
+wollte, daß alle die Gewißheit des ewigen Lebens hätten! Es ist ja
+gerade, <em class="gesperrt">weil</em> wir arm und unwert sind, daß wir Eingang finden.
+So lange wir uns für besser halten als andere, sind wir weit vom
+Himmelreich entfernt. Wir müssen den Gedanken fahren lassen, daß wir
+im geringsten bei Gott etwas zu gut haben könnten, wir sind ja <em class="gesperrt">alle
+und nur</em> seine Schuldner. Nach Ephes. 2, 10 sind wir zu guten
+Werken geschaffen, in denen wir wandeln sollen. Wenn uns Gott also
+vorher dazu bereitet hat, daß wir dies oder jenes Gute vollbringen,
+wo bleibt da noch Ehre für uns?« Nicht genug kann er es betonen, daß
+man alles, im großen wie im kleinen, Gott anheimstellen soll; es gäbe
+nicht so viel unzufriedene Gesichter in der Welt, meint er, wenn die
+Leute das lernten. Der Glaube, daß Gott im Regiment sitzt, sei ihm
+sein lebenlang eine unversiegbare Quelle der Kraft gewesen, die ihn
+nicht nur für die Gegenwart und Zukunft stark mache, sondern die ihm
+selbst das Vergangene zurecht bringe. Das sei es ja, was der Herr
+von uns haben möchte, daß wir ›seine Freunde‹ seien, und nicht seine
+Knechte. Und wenn Er uns in eine schmerzliche Lage geraten lasse, so
+geschehe dies darum, damit<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> wir Ihn um so besser kennen lernten und
+an uns selber erführen, wie stark Er ist, zu helfen. Gordons völlige
+Gleichgültigkeit gegen das Urteil der Menschen ist die Kehrseite
+dieser Gotteszuversicht, und Menschenlob nennt er eine Trennungswand
+zwischen der Seele und ihrem Gott (Joh. 12, 43).</p>
+
+<p>Aus einem Briefe vom 4. Juli 1876:</p>
+
+<p>»Das menschliche Leben ist eine Rückreise zu unserm Urquell, Gott,
+der sich uns als die ewige Wahrheit, Liebe, Weisheit und Allmacht
+offenbart hat. Als Begriffe erkennen wir diese seine Eigenschaften
+bereitwillig an; das ist aber kein Herzensglaube. Wir stoßen auf
+Widersprüche, wir sind blind. Er öffnet uns die Augen nach und nach,
+und hilft uns durch manches sogenannte Unglück ihn immer besser kennen
+lernen. Er offenbart sich verschiedenen Menschen in verschiedener
+Weise, aber das Endziel aller ist, <em class="gesperrt">Ihn zu erkennen</em>. So wie der
+Mensch in diese Welt geboren ist, hängt ein Schleier vor seinen Augen,
+der ihm Gott verhüllt. Dem in der Christenheit aufwachsenden Menschen
+tritt Gott in beidem, im geschriebenen und im Mensch gewordenen Wort
+nahe, aber wenn er dies auch mit seinem Verstand erfaßt, so ist in
+diesem Leben doch vieles unverständlich, und der Schleier bleibt. Jede
+schmerzliche Erfahrung aber und jede Prüfung macht einen Riß in die
+Hülle und er <em class="gesperrt">sieht</em> dann, was er vorher nur als toten Buchstaben
+geglaubt hatte ... Ein Samenkorn göttlichen Wesens ist in unser Herz
+gelegt; und dieses Gottgeborene in uns sollte dem Ausgang des Kampfes
+zwischen Fleisch und Geist ruhig entgegensehen können. So oft der
+Geist über das Fleisch Herr wird, so oft giebt es einen weiteren Riß
+in der Hülle und wir erkennen Gott immer besser. Wenn dem Fleisch der
+Sieg bleibt, so verdichtet sich der Schleier. Zuletzt aber, wenn das
+Unausbleibliche, der Tod eintritt, dann reißt der Schleier mitten
+entzwei und das völlige Schauen beginnt. Das Fleisch ist überwunden,
+der Geist aber lebt.«</p>
+
+<p>Geben wir noch ein Schlußwort Gordons. Es ist ein Wort, das er vor
+einer Reihe von Jahren geschrieben hat, er hätte es in jenen letzten
+Monaten schreiben können, als er von seinem Volk verlassen, mit seinem
+nie wankenden Heldenmut in Khartum eingeschlossen war:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span></p>
+
+<p>»Die Welt ist ein weites Gefängnis mit grausamen Hütern. Einsam und
+verlassen sitzen wir in unseren Zellen und warten auf Erlösung. An den
+Wassern der irdischen Freude und vollen Genüge weilen wir — so denkt
+das Fleisch und der Irdischgesinnte; aber es sind die Wasser zu Babel
+voll Jammer für unsere Seele, und wir sitzen und weinen, wenn wir der
+Heimat gedenken, von der ein so schmaler Strom, der Tod, uns trennt.</p>
+
+<p>»Unsere Harfen hängen an den Weiden, und unsere Widersacher heißen uns
+fröhlich sein, wir sollen ihnen ein Lied singen, als wären wir daheim.
+Wie aber sollen wir des Lammes Lied singen im fremden Lande, die wir
+in der Wildnis sind, wo niemand uns kennt?</p>
+
+<p>»O wären wir doch daheim, wo die Gottlosen aufhören mit ihrem Toben,
+und <em class="gesperrt">die</em> ruhen, die viele Mühe gehabt haben; wo der Kampf zu
+Ende ist und die heiße Arbeit vorüber, wo die Krone des Lebens uns
+werden wird; wo wir Ihn schauen werden, der all unsere Not kannte,
+der unser Elend mit uns trug, der unserer müden Seele Trost gab. Und
+siehe, es ist kein neuer Freund, es ist der alte!</p>
+
+<p>»Bist du müde? Er war es auch. Bist du betrübt? Er war es auch.
+Findest du dich in deiner Liebe unverstanden und begegnet man dir mit
+Kälte? Ihm ging es nicht besser.</p>
+
+<p>»In Seinem großen Erbarmen hat Er sich unter all Seine Brüder
+erniedrigt. Wie müde, wie einsam, wie betrübt war Er auf dieser Erde;
+ein Mann der Schmerzen, der Leid trug mit Geschrei und Thränen. Und
+sollten wir über unser Elend murren, das doch bald vorüber ist? Bringt
+nicht jeder Tag uns der Heimat näher? Kein dunkler Fluß, sondern
+zerteilte Wasser liegen vor uns; und der Welt bleibt ihr Lohn. Sie ist
+Erde, und wir schütteln ihren Staub von den Füßen.</p>
+
+<p>»Ich hörte eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Schreibe, selig sind
+die Toten, die in dem Herrn sterben. Ja der Geist spricht, daß sie
+ruhen von ihrer Arbeit — ruhen von Trübsal, von Mühe und Last, von
+Herzweh, Thränen, Hunger, von all dem Jammer seufzender Seelen, die
+hier im Gefängnis, ohne Frieden sind, von Krieg und Kriegsgeschrei und
+allem Hader.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span></p>
+
+<p>»Es ist eine lange, mühselige Reise, aber schon sehen wir das Ziel.
+Die Meilenzeiger unserer Jahre fliegen dahin, und für die Last jedes
+Tages wird uns die Kraft gegeben, die uns not ist (5 Mos. 33, 25.
+englische Übersetzung). Wer weiß wie nahe das Ende, wie bald der
+Pilger daheim sein wird im schönen Lande, wo Ströme lebendigen Wassers
+fließen, wo keine Not mehr sein wird, noch Leid, noch Schmerzen, und
+wo er ewig ruhen darf bei seinem himmlischen Freund.</p>
+
+<p>»Der Sand verrinnt — Tag und Nacht, Nacht und Tag — schüttle du
+nicht das Glas. Trage deine Last, leide wie Er litt.«</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h2 id="Neuntes_Buch">Neuntes Buch.<br>
+<span class="s5"><b>Khartum.</b></span></h2>
+</div>
+
+<h3>1. Der Mahdi.</h3>
+
+<p>Während Gordon sein stilles Jahr in Palästina verlebte, gelangte man
+daheim zur Erkenntnis, daß der Zustand in den Armenquartieren der
+reichen »City« ein Schandfleck für England sei. Es war das Jahr,
+in dem »der bittere Notschrei Londons« in allen Ohren wiederklang.
+Es wurden Untersuchungen eingeleitet, und die Enthüllungen, die
+es gab, entsetzten die feine Welt. Wohl war es teilweise ein
+Sensationsinteresse, es lag ein gewisser Kitzel darin, die sogenannten
+untersten Schichten aufzuwühlen, aber man fing doch ernstlich an, auf
+Besserung der Zustände zu drängen. Es wurden Komitees ernannt und
+Sitzungen gehalten, auch in der Folge mancherlei gethan. Ob das Los
+der Armen seither ein merklich gebessertes ist, bleibe dahingestellt;
+dergleichen wird wohl weniger durch Komitees, als durch einzelne
+Menschen erreicht, denen die Liebe gegeben ist, unter den Elenden zu
+leben. Es giebt solche, aber ihrer sind wenig. Der Notschrei drang
+bis ins heilige Land, und Gordon lieh ihm ein williges Ohr; ja er
+fing an, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob es in Whitechapel<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span>
+und Spitalfields nicht eine ähnliche Arbeit für ihn gebe, wie s. Z.
+zu Gravesend, ob ein Leben der Samariterliebe im Herzen von London
+nicht die Lösung für seine Zukunft wäre, die ihn nur um so völliger in
+Anspruch nehmen würde, als der Jammer in jenen Höhlen der krassesten
+Armut und Verkommenheit weit über dem steht, was in der kleinen
+Themsestadt zu finden ist, deren Gassenjungen seine »Prinzen« waren.</p>
+
+<p>Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Während Gordon sich in Gedanken
+mit seinen armen Brüdern und Schwestern in der englischen Hauptstadt
+beschäftigte und die Aussicht ihm eine liebe wurde, sich dieser
+»Innern Mission« zu widmen, brachte anderswo ein König ganz andere
+Pläne zu Papier und versah sich des Träumers in Palästina, als des
+Mannes, der sie ihm verwirklichen sollte.</p>
+
+<p>Es war der König von Belgien, der in Gordon den Mann erblickte,
+welcher als Stanleys Nachfolger die Hoffnungen des »freien
+Kongostaats« ihrem Ziel entgegen führen sollte. Wahrscheinlich
+hat Stanley selbst auf Gordon hingewiesen; und dieser war zu
+allem bereit, was dazu dienen konnte, dem Sklavenhandel im Innern
+von Afrika entgegen zu arbeiten und den umnachteten Weltteil den
+Einflüssen christlicher Zivilisation zu erschließen. Der Plan war kein
+geringerer, als vom Kongo aus dem Njamnjamlande und den Gebieten
+der Rituellen beizukommen und auf diese Weise die verschiedensten
+Negerstämme zu einem Bund gegen die Sklavenwirtschaft im Sudan zu
+vereinigen. Es war gegen Ende des Jahres 1883, daß die belgische
+Aufforderung Gordon erreichte. Schon drei Jahre vorher, als er sein
+Amt im Sudan niederlegte, hatte er bei Gelegenheit einer Audienz in
+Brüssel seine Bereitwilligkeit ausgesprochen, dem König in dieser
+Sache zu dienen, wenn es sich so fügen sollte, daß man seiner
+bedürfe. Und als dieser ihn nun an sein Versprechen mit dem Bemerken
+erinnerte, daß der Zeitpunkt gekommen sei, der unter Gordons Leitung
+zu den schönsten Hoffnungen am Kongo berechtige, war es die gewohnte
+Schlagfertigkeit des Mannes, die stehenden Fußes die palästinischen
+Studien abbrach und die Pläne hinsichtlich der Armen Londons auf
+eine künftige Zeit verschob. Er wartete<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> nicht einmal ein richtiges
+Passagierboot ab, sondern verließ Jaffa bei erster bester Gelegenheit
+mit einem Frachtschiff, das ihn um ein kleines mit samt der Ladung
+auf den Meeresboden gebettet hätte. Am letzten Abend des Jahres 1883
+erreichte er Genua und nahm den Schnellzug durch die Neujahrsnacht
+nach Brüssel. Es war der Anfang des für ihn so verhängnisvollen Jahres
+1884, aber noch ahnte er nicht, daß Khartum sein Ziel war. Er gedachte
+der Kongo-Arbeit, die seiner harrte, und seine Seele war stille zu
+Gott.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich war allein in meinem Koupé,« schrieb er den Freunden in Jaffa,
+»und habe auch <em class="gesperrt">an euch alle gedacht</em>!«</p>
+</div>
+
+<p>Und die Freunde in Jaffa wußten, was er damit sagen wollte. Sie
+gehörten mit zu der Liste von etlichen hundert ihm Nahestehender,
+deren er vor Gott gedachte. Wer diese Liste hätte durchsehen können
+— ein König hier, ein alter Netzstricker dort, die seine Fürbitte
+brauchten!</p>
+
+<p>Der belgische König war entzückt, einen so trefflichen
+Bevollmächtigten gewonnen zu haben, und Gordon ging nach England, um
+sich von den Seinen zu verabschieden. Sein Entlassungsgesuch aus dem
+englischen Dienst hatte er eingesandt. Noch vor Ende Januar wollte
+er wieder in Brüssel sein, um von dort die Reise nach dem Kongo
+anzutreten. Wie ganz anders sollte es kommen!</p>
+
+<p>Daß im Sudan alles drunter und drüber ging, wußte er. Kein Jahr war
+vergangen, nachdem er seine Statthalterschaft niedergelegt hatte,
+da kamen Hilferufe genug von Khartum her, welche den guten Pascha
+zurückverlangten, der allein im stande war, dem geknechteten Volk
+eine Schutzmauer gegen seine Unterdrücker zu sein. Der Sklavenhandel
+war neu aufgeblüht und von Ägypten war keine Rettung zu erwarten. Die
+englische Bevormundung der ägyptischen Frage, die sich kurzer Hand als
+eine Koupon-Politik bezeichnen läßt, hatte nicht viel Gutes erreicht;
+und sowohl die englischen als die ägyptischen Minister waren viel zu
+sehr von dem Arabi-Aufstand in Anspruch genommen, als daß man Zeit
+gehabt hätte, im Sudan zum Rechten zu sehen. Dort war unter Gordons
+Nachfolger in der Statthalterschaft, jenem<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> berüchtigten Rauf Pascha,
+eine böse Zeit angebrochen. Die Erpressung seitens der Beamten war
+ärger denn je, und als im Mahdi ein angeblicher Befreier sich erhob,
+war der Zündstoff im Lande in einer Weise angehäuft, daß der Aufruhr
+wild empor loderte.</p>
+
+<p>Wie es mit der Gelderpressung durch übermäßige Besteuerung aussah,
+beschrieb der Times-Korrespondent Power, den Gordon in Khartum
+vorfand, und der einer der drei Engländer war (Gordon und Stewart die
+beiden andern), die des Landes Märtyrer wurden.</p>
+
+<p>»Wenn die Leute hier ihre Acker bebauen wollen,« lautete der Bericht,
+»so müssen sie eine Steuer zahlen; und um Wasser aus dem Nil auf
+ihre Äcker zu leiten, ohne welches das Land nutzlos ist, müssen sie
+eine zweite Steuer zahlen. Wenn das Korn dann geerntet ist, kommt
+die dritte Steuer, ehe sie es verkaufen dürfen. Ist die Ernte gut,
+so wird die Steuer verdoppelt, damit neben der Regierungskasse
+der Privatbeutel des Pascha nicht zu kurz komme. Lassen die Leute
+unter diesen Umständen den Ackerbau liegen, dann kriegen sie die
+Karbatsche aus guter Rhinozeroshaut. Wenn der Bauer für Weib oder
+Kind ein armseliges Kleidungsstück kauft oder seine Lotterfalle von
+Haus wetterfest zu machen sich getraut, dann heißt's, er müsse Geld
+versteckt haben, das noch nicht besteuert sei. Kurz, die Leute müssen
+zahlen und zahlen und wieder zahlen, ob sie wollen oder nicht, ob sie
+können oder nicht; und wer nicht arbeitet, wird bis aufs Blut gequält,
+bis er mithilft, die Beamten zu bereichern. Wer ein Boot auf dem Nil
+hat, muß achtzig Mark zahlen, wenn er nicht unter ägyptischer Flagge
+fährt, und die Erlaubnis, die Flagge zu führen, kostet ebenfalls
+achtzig Mark. Dies ist's, was in erster Linie am Aufruhr schuld ist,
+nicht der Mahdi; und ich wünsche aus tiefster Seele, daß jeder Ägypter
+aus dem Land gejagt werde. Die Zustände der Sklavenwirtschaft, so
+beklagenswert sie sind, sind immerhin noch besser, als solch ein
+Regiment ägyptischer Blutsauger.«</p>
+
+<p>Zwischen dem Mahdi des Sudan und jenem Schulmeisterkönig des großen
+Friedens in China ist eine gewisse Ähnlichkeit<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span> unverkennbar; der
+Aufstand war beidemal der eines falschen Propheten, welcher eine
+himmlische Sendung vorgiebt, um ein im Elend verkommenes Volk für
+seine Zwecke zu gewinnen. Beiden gelang es in erstaunlicher Weise, mit
+ihren Horden das Land zu verheeren und Träume einer goldenen Zukunft
+auszustreuen.</p>
+
+<p>Der Mahdi wollte nichts Geringeres sein, als der Messias der
+moslemitischen Völker.</p>
+
+<p>Die zum Islam »Bekehrten« sind in Zentral-Afrika nach Millionen zu
+rechnen, und mit der Lehre Mohammeds hatte sich in jenen Ländern
+auch die Erwartung verbreitet, daß in der Fülle der Zeit ein Mahdi,
+d. h. Führer, erscheinen werde, dem es vorbehalten sei, das Werk des
+Propheten mit Schwerteskraft zu vollenden, um die Gottlosigkeit von
+der Erde zu vertilgen, das unschuldig vergossene Blut der Imams zu
+rächen und ein Reich der Gerechtigkeit aufzurichten.</p>
+
+<p>Es hat zu verschiedenen Zeiten Mahdi gegeben, und der, dem es
+neuerdings gelang, die Messiashoffnungen seiner Glaubensgenossen zu
+seinen Gunsten auszubeuten und die unterdrückten Stämme bis zu seinem
+im Sommer 1885 erfolgten Tode um sich zu scharen, war ein Eingeborner
+der Provinz Dongola, ein noch nicht vierzigjähriger Mann von hoher
+geschmeidiger Gestalt, schwarzem Bart und hellbrauner Gesichtsfarbe.
+Er hieß Mohammed Achmet und war der Sohn eines Schiffszimmermanns
+Namens Abdallah. Mohammed war der jüngere von mehreren Brüdern
+und wurde in seiner Jugend gleich diesen zum väterlichen Handwerk
+angehalten. Eine Abneigung dagegen machte sich jedoch früh bei ihm
+bemerkbar; er zog sich gern von den Menschen zurück und beschäftigte
+sich stundenlang mit dem Koran. Als junger Mensch entlief er der
+Heimat infolge einer Tracht Prügel; ging nach Khartum und schloß sich
+der »Medressu« oder freien Schule eines Fakir an, der zu Hoghali,
+einem Dorfe östlich von Khartum, dem Lehrwesen oblag. Diese Schule
+gehörte zum Grab des Scheik Hoghali, des hochverehrten Schutzheiligen
+von Khartum; und der Hüter des Schreins, obschon er für die freie
+Schule aufkommt und die Armen speist, erfreut sich einer schönen
+Einnahme seitens der andächtigen Wallfahrer. Er giebt vor, ein<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span>
+Abkömmling des ursprünglichen Hoghali und durch diesen Mohammeds
+selbst zu sein. Hier also ließ Mohammed Achmet sich nieder und
+befleißigte sich des Studiums der Religion. Nach einiger Zeit begab
+er sich nach Berber und besuchte die Schule des Scheik Ghubusch,
+der ebenfalls eines Heiligenschreins wartete. Im Jahr 1870 schloß
+er sich einem andern Fakir an, dem Scheik Nur el Daim (das ewige
+Licht). Dieser fand ihn soweit vorgerückt in der Religion, daß er ihn
+selbst zum Scheik oder Fakir bestellte, worauf der neue Lehrer sich
+auf die Insel Abba im Weißen Nil zurückzog. Dort lebte er eine Zeit
+lang in beschaulicher Stille, indem er sich in einer Höhle verbarg
+und stundenlang den Namen Gottes hersagte, viel fastete und Weihrauch
+verbrannte. Bald stand er im Geruch absonderlicher Heiligkeit; es
+sammelten sich Derwische um ihn, er wurde reich und heiratete eine
+Menge Weiber, die er sich umsichtigerweise unter den Töchtern der
+angesehensten Scheiks erwählte. Allerdings soll der wahre Moslem mit
+vier Weibern sich begnügen, und der kluge Heilige that dies auch,
+indem er, so oft er aufs neue Hochzeit hielt, eine der überzähligen
+älteren Gattinnen der Ehre seines Harems verlustig erklärte.</p>
+
+<p>Im Frühjahr 1881 schrieb er an alle übrigen Fakire und offenbarte sich
+ihnen als den vom Propheten verheißenen Mahdi: er habe göttlichen
+Befehl erhalten, den Islam zu erneuern, derselbe müsse die Religion
+der Welt werden, <em class="gesperrt">ein</em> Gesetz, <em class="gesperrt">eine</em> Freiheit müsse die
+Gläubigen verbinden, und wer nicht gesonnen sei ihn anzuerkennen,
+sei er Christ, Heide oder Mohammedaner, müsse von der Erde vertilgt
+werden. Dieses Manifest richtete er u. a. auch an Mohammed Saleh,
+den gelehrten und einflußreichen Fakir von Dongola, indem er ihn
+aufforderte, mit seinen Derwischen in Abba zu ihm zu stoßen. Dieser
+aber benachrichtigte die Regierung von dem Vorhaben Mohammed Achmets
+und fügte als sein Privaturteil die Anmerkung bei, der Mensch müsse
+geistig gestört sein. Auch die Ulema von Khartum erklärten sich gegen
+ihn, ebenso wurde er in Kairo und Konstantinopel verworfen und als
+falscher Prophet gebrandmarkt. Gleichwohl fand der Mahdi Anhänger
+genug; ihm schlossen sich alle an, die das ägyptische<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> Regiment
+haßten, vorab die Sklavenhändler, die wohl wußten, daß sie unter einem
+Aufruhrregiment ihr Raubwesen nur um so besser würden treiben können.
+Ja Gordon war der Ansicht, daß Sebehr von Anfang an die Hand mit im
+Spiel hatte, daß er den Mahdi, wenn er ihn nicht förmlich anstiftete,
+so doch jedenfalls bestärkte, alles, um durch Aufruhr und Anarchie
+in den Sudanländern seine Freilassung und Rücksendung zu erzwingen.
+Jedenfalls gehörte ein Verwandter Sebehrs von Anfang an zu des Mahdi
+Helfershelfern.</p>
+
+<p>So viel ist sicher, daß der Glaube an die wahre Mission des Mahdi
+rasch um sich griff. Rauf Pascha konnte das bedenkliche Wachstum
+seiner Macht kaum unbeachtet lassen und schickte einen Botschafter
+nach der Insel Abba. »Als ich dieselbe erreichte,« berichtete dieser,
+»empfing mich Mohammed Achmet inmitten von mehreren Hunderten seiner
+Getreuen; in der Rechten hielt jeder ein Schwert. Der Mahdi saß auf
+einem erhöhten Thron, mit dem Stab des Propheten in der Hand. Auf
+meine Frage, was er beabsichtige, beschrieb er mir seine angebliche
+Sendung. Ich erwiderte ihm, daß wir alle so gut Muselmänner wären,
+als er selber. Das bestritt er, weil wir den Christen gestatteten,
+auf ihre Weise Gottesdienst zu halten, und weil unsere Regierung
+Steuern erhebe. Ich riet ihm, seine Pläne ruhen zu lassen, denn er
+könne doch nichts gegen eine Regierung ausrichten, die über Truppen
+und Schießbedarf und Dampfer verfüge. Darauf entgegnete er: ›Wenn eure
+Soldaten auf uns schießen, so werden ihre Kugeln uns nicht treffen;
+und wenn ihr mit euren Dampfern kommt, so werden diese untergehen.‹«</p>
+
+<p>Die Kriegs- und Eroberungszüge des Mahdi während der Jahre 1881-83 zu
+verfolgen würde zu weit führen. Es genüge zu sagen, daß eine Provinz
+nach der andern, eine Stadt nach der andern ihm zufiel. Es war die
+Zeit der Arabi-Wirren in Ägypten; man war dort kaum in der Lage, sich
+viel um den Mahdi zu kümmern. Die wichtige Stadt Obeid ergab sich ihm
+im Anfang des Jahres 1883.</p>
+
+<p>Erst nachdem Arabi mit Hilfe der Engländer nach Ceylon verschifft war,
+konnte man sich ägyptischerseits gegen den Mahdi<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> wenden. Derselbe
+hatte verkündigt, daß er mit der Zeit auch berufen sei, Kairo und
+Konstantinopel zu seiner Sendung zu bekehren. Was die Statthalter
+im Sudan bisher gegen ihn unternommen hatten, war meist mißglückt
+und schon im August 1882 hatte Khartum in Belagerungszustand erklärt
+werden müssen. In diesem Jahr wurde das ägyptische Militär der Provinz
+unter die Anführerschaft des englischen Obersten Hicks gestellt,
+der mit noch andern Briten und verschiedenen sonstigen Europäern,
+darunter auch ein Deutscher, Major von Seckendorff, in des Khedive
+Dienste trat; denn da der Mahdi an alle wahren Moslemin appellierte,
+so hielt man es für geraten, ihm mit nichtmohammedanischen Kräften
+entgegenzutreten. Hicks Pascha war ein tüchtiger Offizier, der in
+Indien gedient hatte. Nach verschiedenen erfolgreichen Voroperationen
+verließ Hicks Khartum im September 1883 an der Spitze von zehntausend
+Mann mit der Absicht, den Mahdi aus Obeid zu vertreiben. Es war der
+unglücklichste Kriegszug, der je unternommen wurde. Ob und inwieweit
+Hicks der Unvorsichtigkeit zu beschuldigen war, ist nicht zu sagen,
+denn die näheren Einzelheiten der furchtbaren Katastrophe werden wohl
+nie ans Tageslicht treten. Das einzige, was verlautete, waren die
+Worte eines Zeitungskorrespondenten: »Wir wagen kein Geringes, indem
+wir unsere Verbindungslinien verlassen und über dreihundert Kilometer
+weit in ein unbekanntes Land vordringen. Die Brücke hinter uns ist
+sozusagen abgebrochen. Der Feind zieht sich vor uns zurück und das
+Land ist ausgeplündert. Wassermangel ist unsere große Sorge; die
+Kamele halten's nicht aus.« Und Schweigen umhüllte die Unternehmung,
+bis nach Wochen die Schreckensnachricht in Khartum einlief, daß Hicks
+Pascha mit seinen Zehntausend bis auf den letzten Mann aufgerieben
+sei. Der Mahdi hatte sie in eine wasserlose Wüste gelockt. Es soll
+eine dreitägige Schlacht stattgefunden, Hicks selber, als einer der
+letzten, seinen Tod gefunden haben. Gordon war der Ansicht, daß die
+Armee großenteils verdurstet sei. So viel ist sicher, daß nicht
+<em class="gesperrt">ein</em> Europäer entkam und daß die ägyptischen Truppen bis auf
+wenige Mann aufgerieben wurden; oder wahrscheinlich richtiger — denn
+es war ägyptisches Militär von der »unbeschreiblichen«<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> Sorte — was
+von den Truppen überblieb, schloß sich dem Mahdi an. Es war eine
+Niederlage wie im Teutoburger Wald, und ein Schrei des Entsetzens
+hallte durch England. Der 1., 2. und 3. November 1883 ist das
+mutmaßliche Datum der verhängnisvollen Schlacht.</p>
+
+<p>Nach dieser Unglückspost waren noch zwei Engländer im Sudan: der
+bereits erwähnte Times-Korrespondent Power und Oberst Coëtlogon,
+der krank in Khartum zurückgeblieben war, als Hicks den unseligen
+Marsch unternahm. Die Folgen des Sieges für den Mahdi waren kaum zu
+überschätzen. Darfur war für den Khedive verloren; was an Provinzen
+oder Stämmen bis jetzt noch loyal war, ging zu den Rebellen über. Ein
+panischer Schrecken hatte das Land befallen; er machte sich in Kairo
+geltend, und im fernen England erlitten die ägyptischen Papiere aufs
+neue eine bedenkliche Baisse.</p>
+
+<p>Ägypten wird nicht in Kairo, sondern in London regiert. Das Kabinet
+Gladstone hatte sich bis jetzt geweigert, dem Mahdi mit englischer
+Macht zu begegnen, und als nach Hicks Niederlage der Sudan einem
+unentwirrbaren Knäuel von Schwierigkeiten glich, erging seitens des
+britischen Ministeriums der einem Befehl gleichkommende gute Rat nach
+Kairo, die Sudan-Provinzen fahren zu lassen. Sir Evelyn Baring, der
+englische Agent in Ägypten, sollte den Khedive dahin beeinflussen, daß
+eine feste Stellung auf der Suakimlinie vorläufig das Beste wäre. Wenn
+der Mahdi erst einmal diese Linie überschritten hätte, dann wäre es
+den Friedensministern an der Themse immerhin noch früh genug gewesen,
+ihm mit Heeresmacht zu begegnen. Die englischen Interessen in Ägypten
+freilich mußten sicher gestellt werden; der Kontre-Admiral Hewett im
+Roten Meer und Baker Pascha zu Land sollten dieselben wahren.</p>
+
+<p>Die Macht des Mahdi wuchs unterdessen lawinenartig, und nicht nur
+in Ägypten wurde die Meinung laut, daß eine Räumungspolitik nicht
+das Beste wäre. Daß des Khedive Grenztruppen den fanatischen Horden
+des falschen Propheten gewachsen sein würden, glaubte niemand;
+englisches oder türkisches Militär allein konnte sein Vordringen
+hindern. Aber auf englische Truppen sollte nicht<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> gerechnet werden,
+und was die Türken beträfe, meinten die Ratgeber, wie sollte man es
+dem Beherrscher der Gläubigen selbst zumuten, einen heiligen Krieg
+mit Waffen zu unterdrücken? Denn daß es ein heiliger Krieg sei, das
+glaubten Tausende; und die Begeisterung in den Sudanländern nahm
+überhand, nun der längstverheißene Befreier gekommen schien. Die
+plötzliche Machtentfaltung des Mahdi hatte den Unterdrückten Thür
+und Thor geöffnet; er sprach von Freiheit und das seufzende Land
+erhob sich gegen das Joch der verhaßten Ägypter. Gordon hatte dies
+vorausgesehen. Hatte er nicht vor Jahren gesagt, daß ein beherzter
+Anführer jederzeit die Sudan-Völker zu einem gewaltigen Aufstand
+würde vereinigen können? Er hatte damals auch gesagt, daß gewisse
+Leute schlafen würden, bis es zu spät sei. Es waren nicht nur die
+Sklavenhändler, sondern vielmehr noch die zahllosen bewaffneten
+Araberstämme, in denen Gordon das Brandmaterial erblickte. Ein
+Anführer war erschienen, und allem nach einer, dem es an Mut nicht
+fehlte.</p>
+
+<p>In England also war beschlossen worden, die Sudan-Provinzen zu räumen;
+welche Anarchie alsdann daselbst herrschen würde, das fragte man sich
+vorläufig nicht. Ein lebhafter Depeschen-Wechsel zwischen London
+und Kairo fand statt. In Ägypten nämlich stieß die Räumungspolitik
+auf Widerstand. Das Ministerium Cherif erklärte, die Verwaltung des
+Sudan sei ihnen von der Pforte anvertraut, und die Räumung lasse
+sich deshalb nicht so ohne weiteres vollziehen. Cherif Pascha fügte
+seinerseits hinzu: »Wir haben Tausende von getreuen Unterthanen im
+Sudan, und nichts auf der Welt soll mich dazu bringen, diese Leute dem
+Mahdi zu überantworten. Ich bin überzeugt, daß ich recht habe; die
+Zukunft wird zwischen mir und dem Kabinet Gladstone in dieser Sache
+richten.«</p>
+
+<p>Damit legte das Ministerium Cherif sein Amt nieder und ein
+neues Kabinet unter Nubar Pascha trat ans Ruder. Als man diesem
+glückwünschend die Meinung aussprach, daß das neue Ministerium
+im Hinblick auf die vorhandene Krisis ein von der Klugheit
+zusammengerufenes zu sein scheine, entgegnete er trocken, dem sei
+ohne Zweifel so, das Wort Minister werde in<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> Ägypten zur Zeit nur
+leider von dem lateinischen Wort <em class="antiqua">minus</em> hergeleitet, das weniger
+als nichts bedeute. So viel war aber sicher, daß, obschon das neue
+Ministerium bereit war, sich seine Aufgabe von England diktieren zu
+lassen, damit noch keineswegs Mittel und Wege gefunden waren, die
+ägyptischen Besatzungen, um die es sich handelte, aus den dem Aufruhr
+überladenen Sudanländern zurückzuziehen. An Vorschlägen fehlte es
+nicht, aber der eine war so unausführbar wie der andere.</p>
+
+<p>Zwischen Dongola und Gondokoro standen etwa zwanzigtausend Mann
+ägyptischer Truppen mit Weib und Kind, und in allen Bezirken gab's
+Beamte, die das Brot der Regierung aßen und deren Lage täglich
+kritischer wurde. Unter den verschiedenen Garnisonsplätzen war Khartum
+selbst der Hauptort, dessen elftausend ägyptische Unterthanen einen
+Hilferuf nach dem andern ergehen ließen — inständige Bitten, einen
+Rückzug ins Werk zu setzen. Khartum war damals schon wie eine von
+allem Verkehr abgeschnittene Insel; jene elftausend Menschen hätten
+sich unmöglich selbst nach Ägypten durchschlagen können. Das Land
+umher war dem Mahdi zugefallen, und fürs übrige benutzten die zum
+Feind sich schlagenden Stämme gern die Gelegenheit, den Ägyptern alle
+bisherige Unterdrückung mit Zinsen heimzugeben. Daß damit manchem sein
+verdienter Lohn geworden, unterliegt keinem Zweifel; aber, wie es
+immer geht, leiden mit einem Schuldigen zehn Unschuldige.</p>
+
+<p>Übrigens war nicht einmal das Nubar-Ministerium bereit, Khartum ohne
+weiteres fahren zu lassen; man hoffte diese Stadt für den Khedive
+halten zu können, selbst wenn man das Land dem Mahdi überließe —
+eine thörichte Hoffnung, welche die Schritte für den Rückzug der
+Besatzungen so lange verzögerte, bis es zu spät war.</p>
+
+<p>Daß England eine Verantwortung in der Sache hatte, liegt auf der
+Hand; die Räumungspolitik war britischer guter Rat; und es gab in
+England Leute genug, die sich für die Besatzungen ereiferten und es
+für schmählich erklärten, diese im Stich zu lassen. In jenen Tagen
+sprach Gladstone selbst das Wort aus: »Darin sind wir alle einig,
+daß Maßregeln getroffen werden müssen, um<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> den sichern Rückzug der
+Besatzungen zu ermöglichen.« Die einzige Maßregel, zu welcher das
+britische Kabinet sich bis dahin aber verstehen konnte, war die
+Grenzverteidigung unter Baker Pascha, ein klägliches Auskunftsmittel
+angesichts der Sachlage. Denn auch im östlichen Sudan griff der
+Aufruhr mit Riesenschritten um sich. Die Küstendistrikte des Roten
+Meeres fielen nacheinander der Rebellion anheim, während die
+Besatzungen von Suakim, Tokar, Trinkitat und Sinkat täglich in
+schlimmere Not gerieten. Jede Post brachte bedenklichere Nachrichten.
+Das englische Volk wurde ungeduldig und erklärte, die britische Ehre
+stehe auf dem Spiel. Da fiel wie ein Blitzstrahl eines Morgens die
+Nachricht ins Land — <em class="gesperrt">Gordon geht nach Khartum</em>!</p>
+
+
+<h3>2. Der Kriegsheld als Friedensbote.</h3>
+
+<p>Noch während Gordon in Jaffa weilte, waren Stimmen in England laut
+geworden, daß er der Mann sei, der allein im stande wäre, der Lage im
+Sudan Herr zu werden. Auf Engelrat könne man zwar heutzutage nicht
+warten, meinte eine dieser Stimmen, allein es wäre wünschenswert,
+daß die öffentliche Meinung zu Gladstone spreche: »So sende nun
+hin gen Joppen und laß herrufen einen Gordon, mit dem Zunamen der
+Chinese; der wird dir sagen, was du thun sollst.« Und als Gordon nach
+seiner Brüsseler Audienz in der ersten Januarwoche 1884 in England
+eintraf und es bestimmt schien, daß er nach wenigen Tagen nach dem
+Kongo abreisen werde, da ging ein Sturm durch die Zeitungen, daß man
+diesen Mann verlieren könne; er habe sich zwar dem König von Belgien
+verbindlich gemacht, allein das sei kein Hindernis, König Leopold
+werde jedenfalls zurücktreten, wenn England seines Sohnes bedürfe. Auf
+diesen Wink der Presse hin antwortete die Regierung vorläufig damit,
+daß sie es nicht für nötig fand, Gordon aus dem englischen Dienste
+zu entlassen, wenn er als Bevollmächtigter des Königs von Belgien an
+den Kongo gehen sollte; fürs übrige ließ man ihn am 16. Januar nach
+Brüssel abreisen. Keine zwölf Stunden aber vergingen, da berief man
+ihn telegraphisch zurück, und frühmorgens am 18. war er wieder in
+London. Außer den<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span> Ministern wußte kein Mensch davon. Nachmittags um 3
+Uhr hatte er Audienz, die er selbst folgendermaßen beschrieb:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wolseley (der bekannte General) brachte mich ins Ministerium und
+ließ mich im Vorzimmer warten; dann kam er zurück und sagte: ›Es ist
+beschlossen, den Sudan zu räumen, und England will für die künftige
+Regierung der Sudanländer keinerlei Gewähr leisten. Wollen Sie
+gehen?‹ ›Ja,‹ sagte ich. Da hieß er mich eintreten, und ich sah die
+Minister. ›Hat Wolseley Ihnen unsere Wünsche mitgeteilt?‹ fragten
+sie. ›Ja,‹ entgegnete ich, ›England will für die künftige Regierung
+des Sudans keine Gewähr bieten, und ich soll gehen und das Land
+räumen.‹ — ›Das ist's,‹ sagten sie; ›wie bald können Sie gehen?‹ —
+›Sofort,‹ entgegnete ich und reiste am selben Abend ab.«</p>
+</div>
+
+<p>Das war eine frohe Stunde am andern Morgen, als es hieß: »Gordon
+ist nach Khartum abgereist!« Die Zeitungen überboten einander mit
+Glückwünschen, und wie die Times sagte, war es unmöglich, das Gefühl
+der Erleichterung zu beschreiben, welches das Land auf und nieder
+bei der Nachricht erfüllte, daß Gordon es übernommen habe, als
+Friedensbote nach dem Sudan zu gehen. Mit diesen Worten ist auch
+die diesem übertragene eigenartige Mission charakterisiert. Die
+englische Regierung, die keine Truppen senden wollte, um dem Mahdi
+zu begegnen, war wissentlich oder unwissentlich von dem allgemeinen
+Glauben angesteckt, daß Gordon an sich ein Heer sei, und so schickte
+man ihn, um durch seinen persönlichen Einfluß ein Ziel zu erreichen,
+wozu man sonst Armeen und Millionen braucht. Nicht um einen Krieg zu
+führen, zog der Held aus, sondern um auf seine Weise den Sudan aus dem
+Aufruhr zu retten; er sollte den ägyptischen Unterthanen den Rückzug
+ermöglichen, mit dem Mahdi unterhandeln und das Land sozusagen an
+die Sudanesen zurückgeben. Es lag etwas so Romantisches in diesem
+Ausziehen eines für viele, daß das Herz des Volkes davon ergriffen
+wurde und die Wünsche aller ihn begleiteten. Gordon selbst soll gesagt
+haben: »Ich soll dem Hund den Schwanz abschneiden, und ich will es
+thun, es mag kosten was es will.« Einen einzigen Kampfgenossen hatte
+er, Oberst Stewart, den er sich zum Begleiter ausgebeten hatte,
+derselbe, der früher schon von Regierungswegen im Sudan gewesen war.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span></p>
+
+<p>Nur wer Gordon nicht kannte, mochte sich wundern, wie er so schnell
+zur Abreise bereit sein konnte; der Leser aber versteht es wohl jetzt,
+daß dieser Mann allezeit und in allen Lagen reisefertig war. Auf Erden
+angewachsen war er nirgend und seine persönliche Ausrüstung kümmerte
+ihn wenig. Es hat ihn an jenem Nachmittag des 18. Januar einer
+gefragt: »Haben Sie denn auch alles, was Sie brauchen?« Die Antwort
+lautete: »Ich habe, was ich immer habe, dieser Anzug ist gut genug.
+Ich gehe wie ich bin.« »Ja, aber haben Sie auch Reisegeld?« »Das hätte
+ich beinahe vergessen. Der König von Belgien hat mir vierhundert Mark
+geliehen; die muß er wieder haben, und ohne Geld kann ich natürlich
+nicht fort.« Als man ihm aber vierzigtausend Mark mitgeben wollte,
+meinte er, das brauche er nicht, viertausend thäten es auch.</p>
+
+<p>Daß es keine leichte Mission war, die er übernommen, daß Gefahren
+aller Art vor ihm lagen, wußte niemand besser als Gordon selbst, aber
+das focht ihn nicht an. Sein letztes Wort auf englischer Erde war ein
+Telegramm an seinen Freund, jenen Geistlichen, welchen er in Lausanne
+kennen gelernt hatte:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich gehe nach Khartum; wenn er mit mir geht, ist alles wohl.«</p>
+</div>
+
+<p>Der Telegraphist hatte er und nicht Er gesetzt; aber der Empfänger
+dieser Botschaft sagte mit Recht, daß in diesen kurzen Worten Gordons
+Lebensgeschichte niedergelegt sei. Gordon ging allein und nicht
+allein; »der Herr der Heerscharen geht mit mir,« schrieb er unterwegs.</p>
+
+<p>Unterwegs, an Bord der Tanjore, zwischen Brindisi und Port Said,
+brachte er den Zweck seiner Sendung im Licht des ministeriellen
+Auftrags zu Papier, in welchem Schriftstücke er betonte, daß es
+seitens des englischen Kabinets ausgemacht sei, für die künftige
+Regierung des Sudan keinerlei Gewähr zu leisten, daß England es
+aber unternommen habe, dem Land seine Unabhängigkeit zurückzugeben
+und ägyptische Unterdrückung nicht länger zu dulden; daß bei dieser
+Absicht sein Auftrag darin bestehe, einen sicheren Rückzug der
+Garnisonen und anderer ägyptischen Unterthanen zu bewerkstelligen und
+daß die Art und Weise dieses<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> Rückzuges von den Umständen abhängen
+werde. Nachdem er damit seine Mission gekennzeichnet hatte, zeigte
+er weiter, wie sich dieselbe am besten ausführen lasse. Er schlug
+vor, daß man das Land den Erben der verschiedenen Sultane übergeben
+könne, die vor der ägyptischen Eroberung die Sudan-Provinzen
+beherrschten, und daß es diesen überlassen bleiben müsse, den Mahdi
+anzuerkennen oder nicht. Ferner machte er darauf aufmerksam, daß die
+Rückzugskolonnen eines Angriffs seitens des Mahdi wohl gewärtig sein
+müßten, in welchem Fall er voraussetzte, daß die Regierung es billigen
+würde, wenn er zu den Waffen griffe.</p>
+
+<p>Es war Gordons Absicht, sich direkt durch den Suezkanal nach Suakim
+zu begeben und von dort durch die Wüste und über Berber nach Khartum
+zu gelangen. Er glaubte seiner Sendung als Friedensbote an das
+unglückliche Land besser genügen zu können, wenn er direkt hinkomme,
+ohne sich erst mit Ägypten ins Einvernehmen zu setzen. Als er aber
+in Port Said eintraf, war Sir E. Baring mit noch anderen von Kairo
+gekommen, um ihn aufzufordern, sich dahin zu begeben. Auch war die
+Nachricht angelangt, daß die Suakim-Route nun vollständig in den
+Händen der Rebellen und somit abgeschnitten sei. Er fügte sich den
+Umständen und hielt sich zwei Tage in Kairo auf. Großer Freundlichkeit
+seitens des Khedive hatte er sich nicht versehen, denn mit seiner
+Meinung über dessen Politik hatte er nie und nirgend hinter dem Berg
+gehalten; trotzdem sprach jener ihm seine volle Befriedigung darüber
+aus, daß er die Beruhigung des Sudan übernommen habe, und verlieh ihm
+zu diesem Zweck seine alte Oberstatthalterwürde. Allerdings war dies
+unter den vorliegenden Umständen mehr Form als Inhalt; des Khedive
+Firman aber beauftragte ihn nicht nur mit der Räumung des Landes,
+sondern mit der Reorganisation desselben, wenn es möglich wäre, die
+Provinzen der Anarchie zu entreißen. Gordon ging also einerseits als
+englischer Friedensbote nach Khartum, andererseits aber kehrte er in
+diese Hauptstadt als der Generalgouverneur der Provinz zurück, um sie
+so lange zu halten, bis man den Sudan sich selbst überlassen könne.
+Es lag kein Widerspruch in dieser doppelten Sendung, war doch der
+Zweck beider derselbe. Die englische<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> Regierung billigte die Haltung
+des Khedive, und Sir E. Baring versicherte Gordon, daß der völlige
+Beistand beider, der englischen wie der ägyptischen, Behörden zu Kairo
+ihm gewiß sei.</p>
+
+<p>Ehe Gordon die ägyptische Hauptstadt verließ, empfahl er die
+Wiederernennung eines Sultans von Darfur als ein Stück richtiger
+Taktik gegenüber dem Mahdi. Infolge dieses Rates wurde Emir Abdel
+Schakur, der rechtmäßige Erbe, vom Khedive als Beherrscher der Provinz
+anerkannt, die seinem Vater vor Jahren entrissen worden war. Der junge
+in Ägypten aufgewachsene Sultan verließ Kairo unter Gordons Schutz,
+entpuppte sich unterwegs aber als ein unfähiger Weichling. Am 26.
+Januar wurde die Reise nach Khartum angetreten. Der Weg sollte über
+Assuan nach Wady Halfa gehen, von wo aus Gordon durch die nubische
+Wüste nach Abu Hamed zu ziehen gedachte, um von da aus Khartum mit
+einem Nilboot zu erreichen.</p>
+
+<p>Ob Gordon aber die bedrängte Stadt je sehen werde, das wurde nicht
+nur in England, sondern alsbald durch die ganze Welt zur Tagesfrage;
+der Held auf seinem Ritt durch die Wüste war ein Gegenstand der
+lebhafteren Teilnahme. Wußte man doch, daß der Feind in allen
+Richtungen streifte, daß aufrührerische Scheiks mit ihren Stämmen den
+Friedensboten stündlich überfallen konnten. Es war eine Wüstenstrecke
+von vierhundert Kilometer, die der furchtlose Gordon mit seinem
+Geleitsmann Stewart und einem geringen Gefolge von nicht zehn Mann
+auf raschen Kamelen zu durcheilen gedachte. Khartum war von Kairo aus
+benachrichtigt worden, daß Gordon in drei Wochen daselbst einzutreffen
+gedenke. »Es ist erstaunlich,« rief der junge Power, der ihn dort
+sehnlichst erwartete; »es hat noch nie einer diese Reise unter einem
+Monat gemacht. Gordon aber mit Schwert und Bibel fährt wie ein Wirbel
+durchs Land.«</p>
+
+<p>Kein Feind belästigte ihn, der alte Zauber zog vor ihm her, oder wie
+er es nannte, ihn geleitete die Wolke bei Tag, die Feuersäule bei
+Nacht, und er war sicher in Feindesland. Eine friedliche Begegnung
+hatte er auf dem halben Wege, nämlich den letzten Flüchtling von
+Khartum, dem es gelang Kairo zu erreichen; es war dies ein Deutscher,
+Namens Bohndorff, der mit <em class="antiqua">Dr.</em> Junker<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> im Njamnjamlande
+wissenschaftliches Forschungen obgelegen hatte, bis es fast zu spät
+war zu entkommen. Sie waren alte Bekannte; Gordon hatte mit diesem
+Deutschen früher schon am Weißen Nil verkehrt. Bohndorff beschrieb
+die Begegnung: eine Staubwolke am Horizont und ein sich daraus
+loslösender Reitertrupp, der Anführer voraus, und man erkannte von
+weitem den ernsten Eifer, der ihn seinem Ziele entgegentrug. Von
+Bohndorff erfuhr Gordon, wie es in Khartum stehe, daß außer den beiden
+Engländern Power und Coëtlogon nur ein Europäer noch dort sei, nämlich
+der österreichische Konsul Hansal, welche Bemerkung übrigens eine
+Anzahl ansässiger Griechen außer acht ließ. An sechzigtausend Seelen,
+worunter zahlreiche Flüchtlinge aus der Umgegend, wären in der Stadt
+— ein Bild der Sorge und Niedergeschlagenheit — doch werde die Ruhe
+aufrecht erhalten, und Oberst Coëtlogon lasse sich die Befestigung
+angelegen sein.</p>
+
+<p>Wenn man in England und anderwärts um Gordon sorgte, so war dies
+nicht ohne Grund, denn die Nachrichten aus dem östlichen Sudan
+waren nichts weniger als beruhigend. Am 4. Februar erlitt Baker
+Pascha mit seinen vierthalbtausend Ägyptern und etlichen englischen
+Offizieren eine gründliche Niederlage bei Trinkitat, als er einen
+Versuch machte, Tokar und Sinkat zu entsetzen. Er hatte sein Bestes
+gethan, die erbärmliche Mannschaft, welche ihm zu Gebote stand,
+einen zusammengeworfenen Haufen ägyptischer Gendarmerie, türkischer
+Baschi-Bosuks und Schwarzer aus dem Sudan, annähernd kriegstüchtig zu
+machen; aber gleich beim ersten Zusammenstoß mit des Mahdi Heerführer,
+Osman Digna, überfiel die Helden eine Todesangst, und sie machten
+nicht einmal den Versuch Stand zu halten. Die einen schossen ihre
+Flinten ab und schrieen um Gnade, während die anderen ihre Waffen von
+sich warfen und in wilder Flucht davon stürzten. An hundert Offiziere,
+darunter die Mehrzahl der englischen Offiziere, kamen um, und nur ein
+kleiner Teil der Truppen gelangte nach der Uferstadt Trinkitat zurück,
+von wo sie ausgezogen waren. Baker selbst kam nur wie durch ein Wunder
+davon, nachdem er sich vergeblich bemüht hatte, seine flüchtigen
+Helden zum Stehen zu bringen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span></p>
+
+<p>Osman Digna war der Mann, diesen Sieg auszubeuten. Man erwartete,
+daß er sich auf Suakim werfen werde. Ringsumher hatte er die Stämme
+gewonnen, und selbst in dieser Hafenstadt brachte der Schrecken viele
+dazu, sich für den Mahdi zu erklären. Sinkat fiel; die Besatzung hatte
+sich gehalten, bis der letzte Hund verzehrt war. Man schlachtete die
+Pferde; noch ein Sack voll Korn war übrig, und der tapfere Kommandant
+Thewsik Bey hatte erklärt, daß wenn bis zum achten Februar keine Hilfe
+komme, er den letzten verzweifelten Ausfall machen müsse, um einen
+besseren Tod zu finden, als das Verhungern innerhalb der Mauern. Er
+erfuhr nichts von Baker Paschas Niederlage, und nachdem auch sein
+letzter Hilferuf ungehört verhallt war, vernahm die Welt, daß die
+Belagerung von Sinkat mit einem todesmutigen Ausfall der Besatzung
+geendet habe, der ägyptischen Truppen ein weit rühmlicheres Zeugnis
+ausstellte, als man seither zu hören gewohnt war.</p>
+
+<p>Das war Wasser auf die Mühle der Opposition in England; es gab eine
+heiße Debatte im Parlament. Gladstone erklärte, man sei deshalb der
+Besatzung von Sinkat nicht zu Hilfe gekommen, weil man nichts thun
+wolle, was irgendwie von Folgen für jene anderen Besatzungen sein
+könne, die Gordon zu retten versuche. Es sei geboten, sich ruhig zu
+verhalten. Angesichts dieser Erklärung jedoch und unter dem Drucke der
+öffentlichen Meinung wurde der britische General Graham, zur Zeit in
+Kairo, damit beauftragt, Tokar zu entsetzen. Noch ehe derselbe aber
+mit seiner Mannschaft in Trinkitat gelandet war, hatte Tokar sich
+ergeben, und die Besatzung war zum Feind übergegangen. Der Fall von
+Kassala wurde als das nächste erwartet, und auch die Ufer-Distrikte
+um Massaua her schienen dem Mahdi zuzufallen; es blieb nichts übrig,
+als die Araber unter Osman Digna bei Suakim zu erwarten und von dort
+zurückzuwerfen.</p>
+
+<p>Osman Digna war ein tüchtiger Soldat; er war Sklavenhändler gewesen
+und jetzt die rechte Hand des falschen Propheten. Dieser hatte ihn auf
+dem Sklavenmarkt zu Obeid kennen gelernt und mit großem Scharfblick
+seine Brauchbarkeit erkannt; er hatte ihn für seine Pläne gewonnen,
+worauf er ihm den Ost-Sudan<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> übertrug, damit er dort Land und Leute
+für seine angebliche Mission gewinne. Mit siegreichen Waffen hatte
+Osman Digna des Propheten Werk seither ausgerichtet; jetzt aber galt
+es einem englischen General und englischen Linientruppen stand zu
+halten; er erlitt seine erste Niederlage und wurde ins Innere des
+Landes zurückgeworfen. Keineswegs aber streckte er die Waffen, und so
+spann sich ein englischer Separatkrieg im Ost-Sudan hin, während die
+Räumung des Landes auf friedlichem Weg ins Werk gesetzt werden sollte!
+Osman Digna bekämpfte man, den Mahdi wollte man nicht bekämpfen, und
+die Parteien stritten sich im Parlament.</p>
+
+<p>Und Gordon? Er wußte von all dem nichts. In felsenfestem Vertrauen
+eilte er durch die Wüste, unbesorgt um seine eigene Sicherheit,
+während man auf Kanzeln und Rednerbühnen seiner gedachte, während viel
+tausend Herzen ihm ein Engelgeleit in den Gefahren wünschten, die ihn
+umgaben. Gefahren? Er sah sie nicht! Einem Scheik, der ihm quer kam,
+sagte er: »Wenn ihr Frieden wollt, ich bringe ihn; sucht ihr Krieg,
+so bin ich bereit.« Und der verzagenden Khartumer Garnison meldete er
+telegraphisch seine Nähe mit den Worten: »Ihr seid Männer und nicht
+Weiber. Seid guten Muts, ich komme.«</p>
+
+
+<h3>3. Gordon im Land.</h3>
+
+<p>War schon in England die Befriedigung eine allgemeine gewesen, als
+Gordon nach Khartum sich auf den Weg machte, so war's noch ein
+anderes in Ägypten. Eine Begeisterung sondergleichen erfüllte Land
+und Leute bei seinem Kommen. Man wußte dort ungleich besser, was
+man an ihm hatte, als daheim in England. Die Thaten seiner früheren
+Statthalterschaft waren auf aller Lippen; man sprach von ihm als einem
+Unüberwindlichen, dessen bloße Gegenwart Wunder wirken werde in dem
+zerrütteten Land. Des Mahdi Kriegsheer werde in nichts zerstieben wie
+Dunst vor der Sonne, rief das Volk, und des guten Pascha feste Hand
+werde alle Wunden heilen, die jener geschlagen. »Ich gehe, um die
+Ehre Ägyptens zu retten,« war Gordons letztes Wort an Nubar; daß er
+Englands Ehre in seiner Hand trug, wußte<span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span> er nicht minder. Auf jenem
+Wüstenritt nach Abu Hamed durchstritt er im Geist die Kämpfe, die es
+zu liefern geben würde, und hätte er nur verwirklichen können, was
+sein hoher Sinn und sein unbefangenes Auge als das richtige erkannten,
+hätte man ihm nur freie Hand gelassen, es ließe sich wohl ein anderes
+Lied singen von der Heldenzeit in Khartum. Als die glitzernde
+Sandwüste hinter ihm lag, wußte er, was er zu thun habe, und stand
+gegürtet zur Schlacht.</p>
+
+<p>Er brauchte nicht weit vorzudringen, um Beweise zu finden, daß
+ägyptische Beamtenwirtschaft des Mahdi Handlangerin war; diesen
+hielt er übrigens für weniger stark als die Sage ging. So fand er
+die Eisenbahnarbeiter zu Assuan in größter Armut, weil ihre Löhnung
+seit Monaten im Rückstand blieb; der Hunger hatte da dem Propheten
+Glauben verschafft, und Gordon telegraphierte alsbald an Sir E.
+Baring, er solle den Leuten ohne weiteren Verzug ihr Geld schicken.
+Ebenso entdeckte er, daß der Aufstand zwischen Suakim und Kassala
+lediglich der Habsucht zweier Paschas zuzuschreiben war. Diese
+waren mit den Scheiks des Hadendoa-Stammes eins geworden, ihnen für
+Truppentransporte sieben Thaler für jedes Kamel zu geben; als die
+Hadendoas aber etwa zehntausend Mann durch die Wüste befördert hatten,
+erhielten sie je einen Thaler, während die übrigen sechs ganz ohne
+Zweifel im Privatbeutel der Pascha stecken blieben. Da erhob sich
+der Stamm, schloß sich Osman Digna an, und das Resultat war Bakers
+Niederlage.</p>
+
+<p>Als erste Abschlagszahlung in der Räumungspolitik hatte Gordon schon
+von Korosko aus an Nubar Pascha telegraphiert:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Eine Anzahl Weiber und Kinder sind nach Ägypten auf dem Weg; suchen
+Sie einen menschenfreundlichen Mann, daß er sich ihrer annehme.«</p>
+</div>
+
+<p>Und nachdem er in Abu Hamed an die englische Regierung berichtet und
+darauf hingewiesen hatte, daß es so unpraktisch wie unrecht wäre, den
+Sudan sich selbst zu überlassen, ehe man von geordneten Verhältnissen
+daselbst reden könne, bestieg er ein Nilboot und erreichte Berber am
+11. Februar.</p>
+
+<p>Hier erließ er seine Proklamationen. Den Einwohnern der<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span> Stadt Berber
+sagte er, daß er gekommen sei, Frieden zu bringen, ja Freiheit von
+aller Unterdrückung, daß er bereit sei ihnen zu helfen, Ruhe und
+Ordnung herzustellen, und daß er ihnen zeigen wolle, wie das Land sich
+künftighin selber regieren könne. Alle vorenthaltenen Rechte sollten
+ihnen wieder werden; er habe nur den einen Wunsch, Gerechtigkeit
+walten zu lassen und Blutvergießen zu verhindern. Alle rückständigen
+Steuern bis zum Ende des Jahres 1883 seien gestrichen und alle Steuern
+des laufenden Jahres auf die Hälfte reduziert. Der Sudan gehörte nicht
+fremden Erpressern, sondern von jetzt ab den Kindern des Landes. Der
+beste Beweis, daß man ihm glaubte, liegt wohl darin, daß etliche
+hundert Leute sich um Ämter bei ihm meldeten; von großer Freude
+erfüllt illuminierten sie ihm zu Ehren ihre Stadt. Der englischen
+Regierung, die ihn gewarnt hatte, sich ja nicht in unnötige Gefahr
+zu begeben, konnte er hierauf erwidern, es habe keine Not, die Leute
+wären im Gegenteil froh und dankbar, von einer Oberherrschaft befreit
+zu werden, die ihnen nur Elend gebracht habe. Er hielt sich nur wenige
+Tage in Berber auf, aber es genügte, um seinen alten Einfluß geltend
+zu machen und ihm das volle Vertrauen der Stadt zu sichern. Und nun
+gar die Weiterreise nach Khartum! In englischen Zeitungen war die
+Besorgnis oben auf, wie sich Gordon durch die aufrührerischen Stämme
+durchschlagen werde; der Weg durch die Wüste sei nichts gewesen gegen
+die weit größere Gefahr der Nilreise, lägen doch die schwarzbraunen
+Feinde im Hinterhalt an beiden Ufern des Flusses, ihre Speere seien
+lang und ihre Hinterlist groß. Nichts dergleichen! Sie bildeten
+Spalier am Fluß hin für den Befreier des Landes, der sich auch gar
+nicht scheute, unter ihnen umher zu gehen. Sie kannten ihn alle. Und
+je weiter er vordrang, um so größer die Begeisterung; das Volk empfing
+seinen Retter mit Frohlocken, gleich einem Schutzengel, der eine Weile
+entschwunden war und nun zurückkommt aus der unbekannten Welt des
+Friedens, nach der man sich sehnt.</p>
+
+<p>Auch in Khartum wußte man, wessen man sich zu ihm zu versehen habe.
+Sein Manifest war ihm vorausgeeilt. Es lautete folgendermaßen:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Vernehmet, daß ich gekommen bin, das Land aus der Not zu befreien,
+in die es geraten ist, Ruhe herzustellen und Blutvergießen der
+Moslems zu verhindern, den Einwohnern einen geordneten Wohlstand zu
+sichern, Weib und Kind ihnen zu schützen und all der Ungerechtigkeit
+und Unterdrückung zu steuern, die an diesem Aufruhr schuld sind.</p>
+
+<p>»Ich habe aus diesem Grund alle rückständigen Steuern vergangener
+Jahre erlassen und habe die Steuern des laufenden Jahres, sowie
+alle unter Rauf Pascha eingeführte Besteuerung auf die Hälfte
+herabgesetzt. Ich will euch vor Ungerechtigkeit schützen, damit der
+Ackerbau und Handel erblühe und Wohlstand gedeihe. Ich gebe euch das
+Recht zurück, die Sklaven, die in eurem Dienste sind, zu behalten,
+und weder die Regierung noch sonst jemand wird es euch künftighin
+wehren. Haltet Frieden; gebt euch nicht dem Verderben hin und bleibt
+fern von des Teufels Weg. Benachrichtigt alle Einwohner von der guten
+Kunde, auf daß sie den Weg der Gerechtigkeit betreten und vom Bösen
+sich abwenden.</p>
+
+<p class="center">»Wer mich sehen will, der komme und fürchte nichts.</p>
+
+<p class="mright8"><em class="gesperrt">Gordon</em></p>
+<p class="mright4">Generalgouverneur des Sudan.«</p>
+
+</div>
+
+<p>In Khartum herrschte nur Freude, in England aber gab's böses Blut, als
+diese Proklamation bekannt wurde. Was, der will den Leuten im Sudan
+erlauben ihre Sklaven zu behalten, anstatt ihnen von der Freiheit der
+christlichen Zivilisation zu sagen, die alle frei macht! Der Sturm,
+der bei dieser Erklärung in gewissen Kreisen losbrach, lieferte den
+ersten Beweis davon, daß England seinen Gordon noch nicht kannte.
+Unbegreiflicher Mensch dieser Gordon, glaubt der, mit schlechten
+Mitteln könne man Gutes thun? England, das in aller Welt sich als den
+Befreier von Sklavenketten rühme, sei durch solche Haltung geschändet.
+Die wenigsten Leute hatten die kühle Überlegung, Gordons Urteil zu
+verstehen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Was für tolles Zeug!« rief er aus, als ihm die Nachricht von dem
+Entsetzen kam, das sein Manifest in England hervorgerufen. »Ist es
+nicht offenkundig erklärt worden, daß der Sudan geräumt werde und die
+Sudanesen sich selbst überlassen bleiben sollten? Wenn das Volk aber
+hier seinen Willen hat, so hält es Sklaven. Was hätte es genutzt,
+die Leute an den kraftlosen Vertrag von 1877<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> zu erinnern, wenn man
+sie sich selbst überlassen will? Und ist nicht der <em class="gesperrt">eine</em> Zweck
+meiner Sendung der, die Garnisonen und andere ägyptische Flüchtlinge
+womöglich ohne Blutvergießen aus dem Land zu bringen? Was ich den
+Leuten über die Sklaven gesagt habe, war nicht mehr und nicht weniger
+als eine Plattheit!«</p>
+</div>
+
+<p>Und anderswo erinnert er seine Ankläger daran, daß er während
+der Jahre seiner Kämpfe mit den Sklavenjägern nicht einen Finger
+geregt habe, die Sklaven im Hausstand, d. h. die <em class="gesperrt">leibeigenen
+Dienstboten</em>, zu befreien, während er doch mehr wie einmal sein
+Leben einsetzte, der Sklaven<em class="gesperrt">jagd</em> das Genick zu brechen. Gordon
+hat immer dafür gehalten, daß es ein Unrecht an den Leuten wäre,
+ihnen zwangsweise und ohne Vergütung die hergebrachten Dienstsklaven
+zu nehmen, und es war ein zu klar denkender Kopf, um sich über die
+Zukunft des Landes, das er räumen sollte, auch nur einen Augenblick
+einer Täuschung hinzugeben. Die harmlose Ansicht, daß der sich
+selbst überlassene Sudanese keine Sklaven halten werde, konnte ihn
+nicht beeinflussen, und nur ein Fanatiker hätte nach Khartum gehen
+können und sagen: »Hier bin ich und bringe euch im Namen zweier
+Nationen eure Unabhängigkeit zurück. Das Land sei künftighin euch
+überlassen, lebt darin nach eurem herkömmlichen Brauch. Haltet Frieden
+miteinander und Gott schenke euch Gedeihen, aber daß ihr euch nicht
+untersteht, eure Dienstboten als Sklaven zu betrachten« — wenn doch
+der altherkömmliche Brauch den dienenden Stand leibeigen macht! Der
+bemittelte Sudanese hält Sklaven wie die Juden und Römer im Altertum.
+Gordon wußte das; vielleicht dachte er auch daran, daß Paulus dem
+Philemon seinen entlaufenen Sklaven zurückschickte. Hoffentlich denkt
+niemand, man wolle hiermit der Sklaverei das Wort reden; es soll nur
+der sentimentale Eifer damit ins Licht gestellt werden, der sich
+berufen fand, Gordon unbesehen zu verdammen.</p>
+
+<p>Am 18. Februar erreichte er Khartum. Als er durch die Straßen ging,
+drängten sich die Leute zu Hunderten um ihn; alle wollten ihm die Hand
+küssen. Einige freudetolle Weiber gingen so weit, ihm die Füße küssen
+zu wollen, und zweimal lag der Generalgouverneur am Boden, ehe er
+sich's versah. Er hatte<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> nur wenige Worte gesprochen, aber es waren
+Worte voll goldener Hoffnung: »Ich bin ohne Soldaten, aber mit Gott zu
+euch gekommen, um der Not dieses Landes zu steuern,« sagte er. »Ich
+will nicht mit Waffen, sondern durch Gerechtigkeit hier kämpfen. Die
+Zeit der Baschi-Bosuks ist vorüber.«</p>
+
+<p>Das war ein Jubel! Kein Wunder, daß Power schon nach wenig Tagen
+schreiben konnte: »Gordon hat aller Herzen gewonnen. Er ist Diktator
+hier; der Mahdi gilt nichts mehr. Es ist erstaunlich, den Einfluß
+dieses einen Mannes über Tausende zu sehen. Mütter bringen ihm ihre
+kranken Kinder, daß er sie anrühre.« Wo er sich blicken ließ, rief
+das Volk: Sultan! Vater! Retter! und wer etwas zu klagen hatte, dem
+lieh er sein Ohr. Noch ehe die Sonne unterging, die seinen Einzug
+beleuchtete, ließ er alle Rechnungsbücher der ägyptischen Regierung,
+alle Peitschen und Marterwerkzeuge auf dem freien Platz vor seinem
+Palast aufhäufen und anzünden; es war das Autodafé der Unterdrückung,
+lachend und weinend tanzten die Leute um dasselbe her. Er besuchte
+das Gefängnis und ließ alle Ketten fallen; Hunderte schmachteten
+da, Männer, Weiber und Kinder, Schuldige und Unschuldige — er gab
+ihnen allen die Freiheit. Ein alter Scheik wurde aus einem Tragbett
+vor ihn gebracht; der Ex-Statthalter Hussein Pascha Cherif hatte den
+Ärmsten bastonnieren lassen, bis seine Füße nur noch unförmliche
+Massen blutenden Fleisches waren. Gordon sagte nicht viel, aber er
+telegraphierte alsbald nach Kairo und forderte, daß jenem Hussein
+tausend Mark von seinem Gehalt abgezogen würden, die dem Opfer
+seiner Grausamkeit zu gut kommen sollten. Dann ließ er das Gefängnis
+anzünden, und weit in die Nacht hinein verkündeten die Flammen, daß es
+mit solcher Tyrannei auf immer vorbei sei.</p>
+
+<p>So that der weise Mann was er konnte, um die Mithilfe des Volkes für
+die große Arbeit zu gewinnen, die er übernommen hatte. Er öffnete die
+Thore der Stadt und erklärte den Markt frei, der bisher nur durch
+»Bakschisch« den Händlern offen stand. Und gleich vom ersten Tag an
+sahen die Leute die ihnen von früher in angenehmer Erinnerung stehende
+Brieflade wieder, welche an der Hauptthüre des Regierungspalastes zu
+dem Zweck angebracht<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> war, daß jeder, auch der geringste, mit dem
+Oberstatthalter verkehren könne, so er es begehre. Als nach einiger
+Zeit Oberst Coëtlogon Khartum verließ, um seinen Weg nach Ägypten und
+England zurückzufinden, gab Gordon ihm die Versicherung mit, daß die
+Zurückbleibenden in der Stadt so sicher wären wie ein Spaziergänger
+im Kensington Park. Was den jungen Power betrifft, so hat sich dieser
+so für Gordon begeistert, daß er sich für Khartum entschied, so lang
+Gordon bleibe. »Er vollbringt Wunder hier,« meldete er der Times.</p>
+
+<p>Militärische Änderungen anlangend, so hatte Gordon bestimmt, daß
+die eingeborenen Truppen in Khartum verbleiben, während die weiße
+Mannschaft nach Fort Omderman auf der anderen Seite des Weißen Nils
+sich zurückziehen sollte, wo sie mit ihren Familien und den andern
+auf »Reisegelegenheit« wartenden Ägyptern bleiben würden, bis man
+sie nilabwärts schaffen könnte. Einen Neger, der sich unter Bazaine
+in Mexiko das Kreuz der Ehrenlegion erworben hatte, ernannte er zum
+Truppenbefehlshaber, was allgemeine Befriedigung hervorrief. Seinen
+Geleitsmann, den Oberst Stewart, ließ er den Weißen Nil hinauf
+dampfen, damit er rekognosziere und Gordons Proklamation auch dort
+bekannt mache. Auf der ersten Strecke, etwa sieben Stunden weit,
+schien das Land ruhig; dann erreichte er ein aufrührerisches Dorf,
+wo die Leute übrigens froh waren zu hören, daß er Frieden bringe.
+Es lagen etwa fünfhundert Mann bewaffnete Rebellen in demselben. In
+einem Dorf weiterhin fand sich ein Scheik, der kurz zuvor vom Mahdi
+zum Bezirksstatthalter ernannt worden war, damit er die Gegend für
+den Propheten gewinne. Andere Scheiks, mit denen Stewart verkehrte,
+erklärten ihm, daß ihnen nichts übrig bleibe, als sich dem Mahdi
+anzuschließen, wenn ihnen nicht von einer tüchtigen Regierung Schutz
+würde. Ganz Gordons Ansicht, die er bis zuletzt festhielt; den Sudan
+sich selbst überlassen, ehe der Mahdi aufs Haupt geschlagen ist, heißt
+nichts anders, als die Leute zwingen, ihn anzuerkennen.</p>
+
+<p>Der Mahdi saß zur Zeit noch in Obeid, etwa dreihundert Kilometer von
+Khartum entfernt. Dort hingen ihm die Araberstämme an, deren jeder
+sechs- bis achttausend Berittene ins Feld<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> bringen konnte. Seine Macht
+war zwar allem nach überschätzt worden, aber Gordon verlor keine Zeit,
+es der englischen Regierung nahe zu legen, daß sein Einfluß, oder
+vielmehr die Furcht vor ihm, das Land regiere, und daß es dringend
+geboten sei, ihm entgegenzutreten; eine geringe Abteilung indischer
+Truppen nach Wady Halfa zu beordern, würde vorläufig genügen. Man nahm
+seinen Rat nicht an!</p>
+
+<p>Gordons Friedensbotschaft war nun allerdings von bester Wirkung
+gewesen, allein diese Wirkung erstreckte sich nicht weit über Khartum
+hinaus, und selbst in dieser Stadt wurde ein Nachlassen der guten
+Stimmung fühlbar, wie aus einer Proklamation hervorgeht, die Gordon
+schon Ende Februar erließ, worin er strengere Maßregeln ankündigte
+und solchen, die im geheimen die Rebellen begünstigten, anzeigte, daß
+er ein Auge auf sie habe. Viele Stämme um Khartum her, und wiederum
+zwischen dieser Stadt und Berber und Dongola, waren aufrührerisch und
+mehr oder weniger eine wachsende Quelle der Sorge für ihn; während die
+Bevölkerung zwischen Suakim und Kassala teils in offenem Aufruhr war,
+teils den Lauf der Dinge abwartete, um an den Sieger sich zu halten.
+Es war ihm klar, daß Khartum selber früher oder später keine andere
+Wahl haben würde. Khartum würde sich halten, so lange er dort sei,
+was aber, wenn er die Besatzungen zurückgezogen und das Land geräumt
+habe? Er würde die Anarchie zurücklassen und nichts würde dem Volk
+übrig bleiben, als den Mahdi anzuerkennen. Er betonte es in seinen
+Depeschen immer schärfer, daß England die Verpflichtung obliege, dem
+Volk die Möglichkeit einer Regierung an die Hand zu geben, die sich
+werde behaupten können; es müsse dies ein Mann sein, der dem falschen
+Propheten gewachsen sei, einer der Einfluß im Land habe, der die
+persönliche Macht besäße, sich als Herrscher geltend zu machen, der
+das Volk zusammenhalten würde, selbst wenn er es durch Furcht regiere.
+Es galt zwischen zwei Übeln zu wählen, und der Mahdi war für das Land
+von zwei Machthabern weitaus der schlimmere. In der Art und Weise,
+wie das Volk ihm selber zugefallen war, hatte Gordon erkannt, daß es
+sich nach einem kraftvollen Herrscher sehne und einem solchen sich<span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span>
+mit Freuden ergeben würde; er sah sich vergebens nach einem solchen
+um, unter den Scheiks und kleinen Sultanen war keiner, der Manns genug
+gewesen wäre, sich nur einen Tag zu halten. Er blickte weiter und sah
+nur einen, der im stande wäre in die Bresche zu treten, und Gordon
+schlug ihn vor — <em class="gesperrt">es war sein Todfeind Sebehr Rachama</em>.</p>
+
+
+<h3>4. Im Stich gelassen.</h3>
+
+<p>Wenn eine Bombe aus blauem Himmel in die englische Welt gefallen
+wäre, es hätte kein größeres Erstaunen verursacht, als die über Kairo
+in London eingelaufene Nachricht, daß Gordon als beste Lösung der
+Frage, wie der Sudan zu Ruhe und Ordnung zurückzubringen sei, der
+britischen Regierung vorgeschlagen habe, den alten Sklavenhändler
+Sebehr ins Land zu setzen, damit er es gegen den Mahdi halte. Gordons
+Rat, dessen Ausführung er bis zuletzt für den richtigen, weil einzig
+möglichen Ausweg hielt, ging dahin, daß England dem schwarzen Pascha
+einen moralischen Halt gewähren sollte — wie es beim Amir von
+Afghanistan geschieht — und dazu auf zwei Jahre einen jährlichen
+Beitrag von zwei Millionen Mark. Zwar könne man den Türken das Land
+überlassen, aber diese müßten dann noch ganz anders unterstützt
+werden, abgesehen davon, daß man damit wieder eine Fremdherrschaft
+aufrichte. Sebehr sei der eine Mann aus den Sudanländern selbst, der
+dem Mahdi gewachsen sei; dieser könne dann immerhin als »Papst« sich
+geltend machen, wenn jener als Sultan die weltliche Herrschaft in
+fester Hand halte. Die Sudanesen würden ihn als ihren Landsmann mit
+Freuden anerkennen und seiner Überlegenheit sich fügen, wodurch eine
+einigermaßen ordnungsmäßige Regierung möglich werde, während sonst
+alles in Anarchie versinke. Was die Sklavenjagd betreffe, so sei sie
+einst schlimm genug unter dem schwarzen Pascha gewesen, sie würde aber
+zehnmal schlimmer werden unter dem Mahdi; Sebehr sei also auch in
+diesem Stück das geringere Übel von zweien. Fürs übrige wollte Gordon
+den Sebehr teilweise durch Vertrauen gewonnen haben. Sebehr sollte
+die ihm zugedachte<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> Würde unter der Bedingung annehmen, daß er als
+Beherrscher des Sudans kein Sklavenjäger sein werde, und Gordon wollte
+es selbst übernehmen, daß diese Bedingung darum jenem nicht allzuviel
+freie Wahl ließe, weil er, Gordon, die eigentlichen Jagdreviere
+am Äquator seine eigene Sorge hätte sein lassen, indem er dort im
+Auftrag des Königs von Belgien den Kongostaat weiter ausgestaltet und
+die hilflosen Negerstämme um sich gesammelt hätte. Es war die alte
+Politik Gordons, wo anderes fehlschlug, durch seine Feinde selbst das
+gesteckte Ziel zu erreichen; diese Politik mag den wenigsten Leuten
+einleuchten, man kann aber nur daran erinnern, daß es in Gordons
+Leben an Belegen nicht fehlt, wie gerade diese Taktik zu glänzenden
+Erfolgen geführt hat. Gordon war der letzte, der Sebehrs früheres
+Leben guthieß, und besser als sonst jemand kannte er die Geschichte
+verübter Greuel, die dieser zu verantworten hatte, ja, die er durch
+den Tod seines Sohnes und seine eigene zehnjährige Gefangenschaft
+hatte büßen müssen; dies aber hinderte ihn nicht, die politische
+Tüchtigkeit des Mannes anzuerkennen, und da seine Energie, seine
+Umsicht und sein Organisationsvermögen jetzt zu Besserem zu gebrauchen
+waren als zu Aufwiegelungen und Sklavenrazzien, so riet er, diese
+Eigenschaften zum Besten des Landes zu verwenden. Daß Sebehr ihn als
+seinen Züchtiger haßte und unter Umständen mit eigener Hand erstochen
+hätte, das kümmerte ihn keinen Augenblick, ja er ging so weit, den
+Vorschlag zu machen, er und Sebehr miteinander wollten die gewünschte
+Ordnung im Sudan aufrichten und miteinander würde es ihnen gelingen.
+Nur ein Mann wie Gordon konnte auf solche Pläne geraten, und hätte
+man ihm freie Hand gelassen, er hätte sie sicherlich ausgeführt! Daß
+die überklugen Diplomaten, die seinen Antrag im Kabinettsrat mit der
+Lupe der Staatswissenschaft untersuchten, sich nicht mit ihm einigen
+konnten, ist begreiflich; man kann sie auch aus Gründen der Theorie
+nicht tadeln, man kann aber darauf hinweisen, daß ihre Klugheit in
+der Folge zu Schanden geworden ist. Freilich hätte auch Gordon eine
+Täuschung erleben können, wenn man ihm Sebehr bewilligt haben würde,
+aber selbst dann hätten die Resultate kaum so sein können, wie sie
+jetzt geworden<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span> sind. Welche Ströme Blutes sind nicht geflossen, seit
+die staatsmännische Vorsicht ihr Verdikt gesprochen hat, und wie sehr
+ist der Sudan zur Zeit ein Chaos der Anarchie und Sklavenräuberei!</p>
+
+<p>Der schwarze Pascha war hiernach der Punkt, wo die Meinungen
+auseinandergingen, und von da ab entwickelte sich die Haltung der
+englischen Politik, welche Gordon im Stich ließ.</p>
+
+<p>Wie wenig Gordon bei seinen Ratschlägen der Blindheit beschuldigt
+werden kann, geht aus seinem Hinweis hervor, daß die von ihm
+befürwortete Ernennung Sebehrs zum Beherrscher des Sudan die reinste
+Ironie des Schicksals wäre. Hatte doch Sebehr von jeher gegen die
+ägyptische Regierung agiert und Aufstände angezettelt, um seine
+Rücksendung zu erzwingen.</p>
+
+<p>In Gordons Tagebüchern vom September und Oktober heißt es:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Hätte man uns den Sebehr Pascha geschickt, als ich es beantragte,
+so wäre Berber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gefallen, und man
+stünde jetzt mit einer Regierung im Sudan dem Mahdi gegenüber. Man
+hielt für gut, es wegen seiner Vorgeschichte als Sklavenhändler zu
+verweigern. Angenommen, der Grund sei ein triftiger, so ist er in
+solange trotzdem ein ganz thörichter, als wir keine Schritte thun,
+den Sklavenhandel künftighin in diesen Ländern zu hindern. Es kommt
+einfach darauf hinaus: Ich schicke den A. nicht hin, weil er das
+und das thun könnte, aber ich lasse den B. dort, der ebenfalls so
+handelt.«</p>
+
+<p>»Ich bin nicht dafür, den Sudan zu halten, es ist ein ganz nutzloses
+Land, das wir nicht verwalten könnten, und die Ägypter nach den
+neuesten Ereignissen noch weniger. Ich suche nur den Weg, <em class="gesperrt">wie
+man sich mit Ehren und mit möglichst geringen Unkosten daraus
+zurückziehen kann</em> (wir dürfen nicht vergessen, daß wir an all
+diesem Wirrsal schuld sind) ... es ist für mich lediglich die Frage,
+sich mit <em class="gesperrt">Anstand zurückzuziehen</em>. Sebehr würde die Schaggyeh
+(einen Beduinen-Stamm) und die Khartumer beruhigen und er würde mit
+dem Mahdi ins reine kommen. Dann könnten wir das Land verlassen ...
+Soviel ist sicher, daß ihr nur mit Hilfe Sebehrs (oder der Türken)
+vor dem November 85 auf Rückzug rechnen könnt!! Die Türken wären<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span>
+unter den jetzigen Umständen die beste, wenn auch kostspieligste
+Lösung. <em class="gesperrt">Die könnten den Sudan halten</em>; gebt ihnen vierzig
+Millionen. Nach den Türken ist Sebehr mit zehn Millionen das Beste;
+er würde den Sudan <em class="gesperrt">eine Zeit lang</em> halten. In beiden Fällen
+giebt's hier Sklavenhandel. Aber Ägypten wäre gesichert und ihr
+könntet bis Januar 85 hier fertig sein. Ist euch keiner dieser
+Auswege recht, dann seid darauf gefaßt, daß es hier noch gerade genug
+Plackerei geben und euer Feldzug schließlich <em class="gesperrt">ein völlig zweck- und
+glanzloser sein wird</em>.«</p>
+</div>
+
+<p>Hat je ein Prophet den Ausgang eines Unternehmens bestimmter
+vorhergesagt?</p>
+
+<p>Unterm 8. November heißt es in dem Tagebuch weiter:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es liegt auf der Hand, daß wenn Sebehr mit euch käme und in quasi
+unabhängiger Stellung zum Regenten ernannt würde ... ihm die Leute
+massenhaft zufielen, die den Mahdi und seine Derwische herzlich satt
+haben, sich aber an ihn halten müssen, weil ihr das Land räumen
+wollt; sogar unsere Anhänger werfen wir dem Mahdi in die Arme.
+Sebehrs Einsetzung würde euch auch die Arbeit in der Sennar-Gegend
+sparen ... Mit den Booten, die ihr habt, hätte er die Nil-Verbindung
+bald hergestellt. Und was den Sklavenhandel betrifft, so ist der
+Mahdi zehnmal schlimmer als Sebehr, auf den man durch Hilfsgelder
+einwirken könnte, daß er in Schranken bliebe. Sebehr wäre für uns
+eine Art Vermittelung zwischen dem Davonlaufen und der fortwährenden
+Gegenwart von Truppen im Land. Der Mahdi wäre nie im stand, das Volk
+gegen Sebehr aufzuhetzen. Nur weil man den Leuten keinen Mittelpunkt
+bietet, <em class="gesperrt">müssen</em> sie sich an jenen halten. Hätte man den Sebehr
+kommen lassen, der Mahdi hätte lange nicht so viel Anhang; und wäre
+er hier gewesen, so wäre Berber nicht gefallen.«</p>
+</div>
+
+<p>Wir haben vorgegriffen, doch ist aus diesen Mitteilungen ersichtlich,
+daß Gordons Vorschlag keine plötzliche Eingebung, keine Unüberlegtheit
+war; es war vielmehr ein Gedanke, der durch jede neue Erfahrung bei
+ihm sich vertiefte. Es folgt hier eine frühere Depesche an Sir E.
+Baring, den Vertreter Englands in Kairo, die in gedrängten Sätzen
+Gordons Ansicht in der Sebehrfrage klar und eingehend darlegt.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span></p>
+
+
+<div class="blockquot">
+<p>
+Khartum, den 8. März 1884.<br>
+</p>
+
+<p>»Die Ernennung Sebehrs ist gleichbedeutend mit der Möglichkeit
+des Rückzugs der ägyptischen Angestellten von Khartum, sowie der
+Besatzungen von Sennar und Kassala.</p>
+
+<p>Ich sehe keine andere Möglichkeit, dies ins Werk zu setzen, als eben
+durch ihn, der als ein Eingeborner dieses Landes ein Mittelpunkt für
+die Bessergesinnten werden wird, die sich um so eher ihm anschließen
+werden, weil sie wissen, daß er sich hier in seiner Heimat
+niederlassen wird.</p>
+
+<p>Ich bin nicht der Ansicht, daß die Thatsache, dem Sebehr auf
+zwei Jahre Hilfsgelder zu bewilligen, mit der Räumungspolitik
+unverträglich wäre.</p>
+
+<p>Was das Halten von Sklaven betrifft, so könnten wir es auch dann
+nicht unterdrücken, wenn wir selbst im Sudan blieben. Ich habe immer
+gesagt, daß der Vertrag vom Jahre 1877 unausführbar ist, also würde
+Sebehrs Ernennung in dieser Hinsicht durchaus keinen Unterschied
+machen.</p>
+
+<p>Mit der Sklavenjagd hätte es nach Räumung der Bahr el Ghasal und der
+Äquator-Provinzen von selbst ein Ende.</p>
+
+<p>Sollte Sebehr nach Ablauf von zwei Jahren und nachdem er Hilfsgelder
+eingesteckt hat, sich jener Gegenden zu bemächtigen suchen, so
+könnten wir leicht von Suakim her einen Druck auf ihn ausüben,
+welcher Ort nach wie vor in unserer Hand bliebe.</p>
+
+<p>Ich halte dafür, daß Sebehr mit dem Sudan selbst und mit der
+Befestigung seiner Stellung zu viel zu thun haben wird, als daß ihm
+Zeit bliebe, sich um jene Gegenden zu kümmern.</p>
+
+<p>Was die Sicherheit Ägyptens betrifft, so war Sebehr lange genug in
+Kairo, um unsere Macht kennen gelernt zu haben; er würde es sich
+nicht leicht beikommen lassen, etwas gegen Ägypten zu unternehmen.
+Ich glaube im Gegenteil, daß er Handelsvorteile in einem Bündnis
+suchen würde, denn er ist ein geborener Krämer.</p>
+
+<p>Das Zurückziehen der Besatzungen anlangend, so habe ich bis jetzt
+nur das erreicht, daß die Invaliden, die Witwen und Kinder der in
+Kordofan Gebliebenen flußabwärts geschickt werden.</p>
+
+<p>Nach heutigem Bericht ist Sennar ruhig.</p>
+
+<p>Auch Kassala wird sich infolge von Grahams Sieg ohne Mühe halten,
+aber die Verbindung ist abgeschnitten, sowie auch die Verbindung mit
+Sennar.</p>
+
+<p>Es wird unmöglich sein, der Straße nach Kassala und Sennar<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> Herr zu
+werden oder die ägyptischen Truppen von hier weg zu befördern, wenn
+Sebehr nicht kommt. Sein Kommen würde die ganze Sachlage ändern.</p>
+
+<p>Die Äquator-Provinzen und die Bahr el Ghasal sind soweit sicher, aber
+ich kann die dortigen Besatzungen nicht zurückziehen, ehe der Nil
+steigt, was in zwei Monaten zu erwarten ist.</p>
+
+<p>Dongola und Berber sind ruhig, aber ich fürchte, daß der Weg zwischen
+Berber und Khartum nicht lange mehr offen sein wird, denn auf der
+ganzen Strecke treiben des Mahdi Anhänger ihr Wesen.</p>
+
+<p>Am Blauen Nil ist eine Besatzung von tausend Mann von den Rebellen
+eingeschlossen, doch fehlt es ihnen nicht an Proviant; ehe der Nil
+steigt, kann ich ihnen nicht zu Hilfe kommen.</p>
+
+<p>Auch Darfur, soweit ich Nachricht habe, ist ruhig; der neueingesetzte
+Sultan läßt sich hoffentlich angelegen sein, Anhang unter den Stämmen
+zu gewinnen.</p>
+
+<p>Es ist ganz unmöglich, einen andern Mann als Sebehr mit Erfolg hier
+einsetzen zu wollen. Kein anderer hat soviel Einfluß wie er. Hussein
+Pascha Khalifa könnte nur mit Dongola und Berber fertig werden.</p>
+
+<p>Wird Sebehr nicht hierher geschickt, dann fehlt alle Aussicht, die
+Besatzung zu retten; das fällt schwer ins Gewicht zu seinen Gunsten.</p>
+
+<p>Auch ist es unmöglich, das Land zwischen Sebehr und anderen
+Häuptlingen zu teilen; keiner der andern könnte sich auch nur einen
+Tag gegen die Helfershelfer des Mahdi halten; auch Hussein Pascha
+Khalifa würde fallen.</p>
+
+<p>Die Häuptlinge weigern sich, gemeinsame Sache zu machen; Loyale und
+Rebellen stehen einander gegenüber.</p>
+
+<p>Es ist durchaus nicht zu fürchten, daß Sebehr sich je mit dem Mahdi
+unter eine Decke stecken werde. Sebehr wird hier weit größere
+Macht besitzen als der Mahdi und wird sich nicht scheuen, ihm dies
+begreiflich zu machen.</p>
+
+<p>Der Mahdi ist mit dem Papst zu vergleichen, Sebehr aber würde Sultan
+sein; da ist keine Gefahr, daß die zwei sich einigen.</p>
+
+<p>Sebehr ist dem Mahdi fünfzigmal gewachsen. Er ist auch aus guter
+Familie (ein direkter Abkömmling der Abassiden), genießt Ansehen und
+würde die Sultanwürde gut bekleiden; der Mahdi ist von all dem das
+Gegenteil und ein Fanatiker dazu.</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>Ich zweifle gar nicht, daß Sebehr, dem die Stämme verhaßt sind, die
+Aufruhrsaat gesäet hat und zwar in der Hoffnung, daß man ihn dann
+hier nötig haben würde, um Ordnung zu schaffen.</p>
+
+<p>Es ist die Ironie des Schicksals, die ihm seinen Wunsch erfüllt, wenn
+er hierher geschickt wird.«</p>
+</div>
+
+<p>Gordon predigte mit dieser klaren Auseinandersetzung tauben Ohren, die
+Minister im fernen England und außer Zusammenhang mit Land und Leuten,
+erklärten Sebehrs Ernennung für eine Unmöglichkeit; die öffentliche
+Meinung würde sich dagegen auflehnen, hieß es. Und als Berber von
+den Rebellen bedroht wurde, zog man sich auf den Standpunkt der
+Friedenspolitik zurück und verweigerte eine Truppensendung.</p>
+
+<p>Schon im März 1884 war die Lage Khartums eine bedenkliche geworden.
+Etliche Kilometer nördlich von der Stadt befindet sich das kleine
+Halfaja, woselbst eine Truppenabteilung von achthundert Mann,
+welche Gordon mit Waffen versehen hatte, von viertausend Rebellen
+eingeschlossen war. Der Ort liegt am Fluß, aber neuerdings war auch
+die Schiffahrt abgeschnitten. Die Besatzung hielt mutig aus und
+Gordon beschloß, ihr zu Hilfe zu kommen. Die Rebellen wurden täglich
+kühner und waren der Stadt selbst schon so nahe gerückt, daß ihre
+Kugeln den Palast erreichten. Es schien, als ob man sich auf die
+Verteidigung Khartums beschränken müsse, allein der Versuch, jene
+Getreuen zu entsetzen, sollte gemacht werden. Gordon hatte drei
+Dampfer kriegstüchtig gemacht und mit Geschütz versehen; mit diesen
+und zwölftausend Mann zog er aus. Nach zwei Tagen hatte er mit
+Verlust von zwei Mann die Belagerten entsetzt, und mit der Besatzung
+von Halfaja, ihren Kamelen und Pferden und einem beträchtlichen
+Vorrat von Kriegsbedarf kehrte er nach Khartum zurück. Der Jubel in
+der Stadt soll keine Grenzen gekannt haben, aber nur zu bald stand
+der öffentlichen Freude die Unglückspost gegenüber, daß Schendi den
+Rebellen erlegen und Berber bedroht sei. Die Khartumer selbst erlebten
+auf ihren Sieg eine böse Niederlage. Denn als die Rebellen fortfuhren,
+sich in der Nähe der Stadt zu postieren und den Palast zu beschießen,
+beschloß Gordon einen zweiten Ausfall, den er den ägyptischen Truppen
+unter ihren eigenen Offizieren übertrug.<span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span> Er selbst beobachtete die
+Bewegungen vom Dach des Palastes aus. Die feindliche Linie erstreckte
+sich mehrere Kilometer weit am Blauen Nil hin. Die Ägypter drangen
+stetig vor und der Feind zog sich hinter die Dünen zurück, die,
+teilweise mit Bäumen und Strauchwerk bewachsen, eine natürliche
+Schutzwehr bilden. Es schien, als ob die Rebellen den Kampf weigern
+wollten, und die andern rückten ihnen nach, ihre Anführer voraus,
+bis diese wie von einem plötzlichen Schrecken ergriffen unversehens
+kehrt machten und auf ihre eigene Mannschaft eindrangen. Es entstand
+Unordnung; in die gebrochenen Reihen stürzten sich die berittenen
+Rebellen und die Flucht der Ägypter war die Folge. Ein Rebell
+durchrannte mit seinem Speere sieben Flüchtlinge in sieben Minunten.
+Das fürchterlichste Gemetzel zog sich bis in die Nähe von Khartum. Es
+war in jeder Hinsicht eine schimpfliche Niederlage. Die überbleibende
+Mannschaft aber war laut in der Anklage gegen ihre beiden Anführer,
+welche den ganzen Reißaus ins Werk gesetzt hatten. Es wurden sogar
+Beweise beigebracht, daß einer derselben einen Kanonier zu Boden
+schlug, der sein Geschütz gegen den Feind richten wollte. Sieben
+Stunden nach dem Gefecht lagen noch Verwundete umher; zum Glück waren
+es nur zwanzig, denn die Araber machten den Verwundeten den Garaus wo
+sie konnten. Oberst Stewart holte sie heim mit einem der Dampfer und
+brachte sie ins Lazaret. Weithin lagen die Erschlagenen, zweihundert
+an der Zahl, während der Feind nur vier Mann eingebüßt hatte.</p>
+
+<p>Den beiden Anführern wurde übrigens ihr Lohn zu teil; die Leute
+brandmarkten sie einstimmig als Verräter, welche absichtlich
+gegen ihre Mannschaft kehrt gemacht hatten, um für den Feind eine
+Öffnung zu gewinnen. Beide Pascha, Said und Hassan, wurden vor ein
+Kriegsgericht gestellt und erschossen. In Hassans Wohnung fand sich
+ein beträchtlicher Waffenvorrat vor, und es ergab sich überdies, daß
+beide den Truppen ihre Löhnung vorenthalten und selbst eingesteckt
+hatten. Sie hatten es offenbar darauf abgesehen, früher oder später
+zum Feinde überzugehen. Die Stimmung Khartums litt übrigens nicht
+durch diese Niederlage. Die Bevölkerung war voll guter Zuversicht zu
+ihrem Statthalter und es fehlte nicht an handgreiflichen Beweisen
+der Opferwilligkeit.<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> Ein wohlhabender Araber bot Gordon ein
+unverzinsliches Darlehen von siebentausend Thaler an, ein anderer war
+erbötig, zweihundert Mann auf eigene Kosten zu bewaffnen. Die Stadt
+war bereit, sich an Gordon zu halten, der sie seinerseits nicht im
+Stich lassen würde. Die Rebellen schickten täglich ihre Grüße über die
+Mauern und schienen es besonders auf den Regierungspalast abgesehen zu
+haben, der nach kurzer Zeit mit Kugeln gespickt war. Den Statthalter
+selbst, der viele Stunden auf seinem Dach verbrachte, traf keine;
+sie fielen zu seiner Rechten, sie fielen zu seiner Linken, er selbst
+schien gefeit wie früher.</p>
+
+<p>Dem falschen Propheten hatte Gordon anbieten lassen, er wolle ihn zum
+Sultan von Kordofan ernennen, wenn er zu unterhandeln bereit sei.
+»Ich bin der Mahdi,« lautete die großartige Antwort. Drei bewaffnete
+Derwische erschienen eines Tages vor Khartum und begehrten Audienz.
+Sie wurden vor Gordon gebracht. Ihr Auftrag war, die Feierkleider
+zurückzubringen, die dieser dem Mahdi als Friedensgeschenk übersandt
+hatte. Darauf produzierte sie ein Derwischgewand, das Gordon anlegen
+sollte, um sich damit als Muselman und Anhänger des Propheten Mohammed
+Achmet, des Mahdi, zu bekennen. Es läßt sich denken, daß jener mit
+nicht allzuviel Zeremonie für die zugedachte Ehre sich bedankt hat.
+Von Stund an war es klar, daß von einer Räumung des Landes keine
+Rede sein konnte, wenn nicht der Mahdi wie einst Pharao mit Gewalt,
+im gegenwärtigen Falle mit Waffengewalt, belehrt wurde, daß er diese
+Leute müsse ziehen lassen. Auf britische Truppen aber war nicht
+zu rechnen und Gordon sah, daß ihm nichts weiter übrig blieb, als
+selbst zu handeln; auch war er rasch entschlossen und erließ an alle
+ägyptischen Truppen, welche durch die Wüste nordwärts zogen, den
+telegraphischen Befehl zurückzukehren.</p>
+
+<p>Es läßt sich hier passender Weise Gordons Ansicht über den Abfall vom
+Glauben einschalten. Vorausgeschickt sei die Bemerkung, daß der Mahdi
+nicht alle Europäer in diesem Stück so fest fand wie unsern Helden.
+Als Obeid in die Hände des falschen Propheten fiel, soll nur einer
+der dortigen römischen Missionspriester Treue gehalten haben, alle
+andern mitsamt den Nonnen trieb die Angst<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> dem Mohammedanismus in die
+Arme. Die letzteren gingen sogar noch weiter, und traten mit dortigen
+Griechen in ein nominelles Ehebündnis, um sich vor Gewalt zu schützen.
+Da wird der Papst einen schönen Lärm schlagen, meinte Gordon, das ist
+ja eine Union der katholischen Kirchen. Es ist übrigens nicht dieser
+Scherz, worauf wir hinweisen wollten, sondern auf folgende Stelle in
+seinem Septembertagebuch:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Was die an den Mahdi und an verschiedene Araber-Häuptlinge
+geschriebenen Briefe anlangt, so gebe ich zu, daß sie scharf waren,
+aber es ist keine Kleinigkeit, wenn ein Europäer aus Furcht vor dem
+Tod seinem Glauben abschwört; es war nicht so vor alters, und sollte
+auch heute nicht so leicht von statten gehen, wie das Vertauschen
+eines Rockes mit einem andern. Wenn der christliche Glaube auf
+Einbildung beruht, dann werft ihn immerhin ab; aber es ist niedrig
+und ehrlos das zu thun, um sein Leben zu retten, wenn man ihn für
+den wahren Glauben hält. Was kann stärker sein als diese Worte: ›Wer
+mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen
+vor meinem himmlischen Vater!‹ Die alten Märtyrer betrachteten solche
+als ihre Feinde, die sie davon abzuhalten suchten, ihren Glauben frei
+zu bekennen. Und was für Männer hatten wir in England zur Zeit der
+Glaubensverfolgungen, als die Reformation sich Bahn brach, und damals
+galt es nicht um das, um was es hier gilt; es handelte sich dort nur
+um die Messe, während es sich hier um unsern Herrn und sein Leiden
+handelt.... In politischer wie moralischer Hinsicht ist es besser für
+uns, nichts mit den abtrünnigen Europäern im arabischen Feldlager zu
+thun zu haben. Verrat führt nie zu gutem Ende, und mag es uns gehen
+wie es will, so ist es besser wir fallen mit reinen Händen ..... Mit
+Ehren zu erliegen, ist besser als ein Sieg mit Unehren, und auch die
+Ulema in der Stadt sind dieser Meinung. Sie wollen nichts mit Verrat
+zu thun haben.«</p>
+</div>
+
+<p>Wo im obigen Punkte stehen, hatte Gordon angemerkt, wenn die
+Tagebücher je gedruckt würden, sei es vielleicht gut, die ganze Stelle
+zu unterdrücken, denn kein Mensch habe das Recht, einen andern zu
+richten.</p>
+
+<p>Es mag eine schwere Zeit inneren Kampfes für Gordon gewesen sein, als
+es ihm aus den englischen Depeschen immer klarer wurde, daß man ihm
+nicht nur die Hilfe Sebehrs verweigerte,<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> sondern überhaupt gesonnen
+war, ihn sich selbst zu überlassen — Krieg sollte vermieden werden;
+und das Schlimmste war noch, daß die Hälfte der abgesandten Depeschen
+ihn gar nicht erreichte. Es fehlte nicht an dringenden Vorstellungen
+seinerseits, und wochenlang schien Schweigen die Antwort zu sein. Wohl
+war er mit dem Gedanken ausgezogen, daß er als ein Friedensapostel
+kraft seines persönlichen Einflusses die ihm übertragene Mission
+erfüllen solle. Daß seine Regierung ihm aber gegebenen Falls unter die
+Arme greifen, daß sie ihn mindestens nicht im Stich lassen würde, das
+sollte keiner Vorversprechungen bedurft haben! Gordon hatte wieder und
+wieder erklärt, daß es ganz unmöglich wäre, die ägyptische Besatzung
+von Khartum zurückzuziehen, ohne die Stadt dem Mahdi zu überantworten
+und, was noch schlimmer wäre, die ägyptischen Besatzungen von Kassala,
+Sennar, Berber, Dongola und weiterhin in der Bahr el Ghasal ihrem
+Schicksal zu überlassen; dies aber erschien ihm als eine Feigheit,
+zu der er die Hand nicht bieten wollte. Was den Aufstand an sich
+betrifft, so war Gordon der Ansicht, daß es zu jener Zeit noch
+nicht tausend Mann englischer Truppen bedurft hätte, um gründlich
+aufzuräumen. Und als es klar war, daß englisches Militär zu diesem
+Zweck nicht vorhanden sei, kam er um die Erlaubnis ein, an die Türken
+zu appellieren; auch dies wurde ihm verweigert. Es war um diese Zeit,
+im März, daß der verlassene Held in einer eigentümlichen Depesche der
+englischen Regierung wie den ägyptischen Behörden seinen Dank für
+alle bisherige Beihilfe aussprach und die Erklärung beifügte, die
+betreffenden Machthaber hätten alles gethan, was von ihnen zu erwarten
+sei. Gordons englischer Biograph, Hake, macht darauf aufmerksam, daß
+diese Worte, so satirisch sie auf den ersten Blick erscheinen, auch
+nicht die Spur von Hohn enthalten, daß sich vielmehr die einfache
+und männliche Haltung des Mannes darin auspräge, von Stund an die
+Verantwortung der Lage auf <em class="gesperrt">seine</em> Schultern zu nehmen als einer,
+der sich gezwungen sieht, der Übermacht der Umstände nach bestem
+Ermessen in eigener Kraft entgegen zu treten. In der Freiheit des
+Handelns aber lag die eine Hoffnung, die Tausende zu retten, deren
+Ankerpunkt er war. Es liegt etwas unendlich<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span> Rührendes darin, daß
+Gordon sich, abgesehen von seinem Pflichtgefühl überhaupt, für die
+ägyptischen Besatzungen aufopferte, für Menschen, die er im besten
+Fall immer nur als »Schafe« kennen gelernt hatte und von denen er
+nie viel Gutes sagen konnte. Diese Thatsache ist nicht der geringste
+Edelstein in der Krone des unvergleichlichen Mannes. Ein schönes
+Streiflicht hiezu giebt uns sein Tagebuch unterm 27. Oktober:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Nicht weil ich dieses Volk hochachte, befürworte ich es, ihnen
+zu helfen, sondern weil sie ein so kraftloses, selbstsüchtiges
+Geschlecht sind, und weil dies die Frage unserer Pflicht ihnen
+gegenüber nicht beeinflussen kann. Die Erlösung der Menschen hätte
+nicht stattgefunden, käme unser Verdienst dabei in Betracht.« Und
+anderswo: »es ist ja gerade, <em class="gesperrt">weil</em> wir so unwert sind, daß der
+Herr uns erlöst hat.«</p>
+</div>
+
+<p>Selbst im eigenen Lager war Gordon vor Verrat nicht sicher, und die
+Wohlgesinnten waren ein verzagtes Volk. Hake vergleicht ihn treffend
+mit dem kühnen Schiffsführer, der mit fester Hand ans Steuer tritt,
+um, so es möglich ist, die ihm anvertrauten Seelen in der Sturmnot
+zu retten. Ein Segel am Horizont war in Sicht gewesen, ja die eigene
+englische Flagge, aber trotz seiner Notsignale beharrte der ferne
+Segler auf seiner Bahn. Man hatte ihm nur zurücksignalisiert: »Ihr
+habt Boote und könnt euch davonmachen; laßt das Schiff sinken, es
+ist doch nicht zu retten.« Nicht so der Tapfere; trug sein Schiff
+doch kostbare Dinge, Schätze, die er nicht gering achtete, als da
+sind die Ehre des Mannes und die des Volkes, dem er angehört, und
+Gerechtigkeit, ja Erbarmung gegen die Hilflosen, die an ihn sich
+halten. Ist sein Schiff anderen nicht so viel wert, daß sie es retten,
+so will er thun was er kann, und lieber mit versinken, als ehrlos
+davongehen. Er ruft sein Schiffsvolk zusammen und sagt ihnen: »Selbst
+ist der Mann!« Er heißt sie die nutzlose Notflagge einziehen und zeigt
+ihnen, wie das lecke Schiff noch flott zu halten ist. Er beseelt sie
+mit einem Heldenmut und die Verzagenden legen Hand an, seiner Führung
+vertrauend. Wohl hätten sie Rettungsboote, sagt er ihnen, aber nicht
+für alle, und wer die eigene Haut retten wolle, der könne es immerhin
+versuchen. Die Sturmflut steigt, Wellen türmen sich auf Wellen,<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> und
+zwischen den Wogen gähnt das Grab. Das ferne Segel, die ihm teure
+Flagge verschwindet am Horizont. Wohl kostet es ihn bitteren Schmerz,
+doch wächst der Mut ihm mit der Not. Noch ist es Tag, er will thun,
+was er kann als Schiffsherr und Steuermann; und kommt die Nacht, so
+ist Gott über ihm und ist auch dann noch da, wenn kein Polarstern mehr
+leuchtet.</p>
+
+<p>Und Gordon blieb in Khartum, als englische Saumseligkeit sich
+zurückzog. Wer will es ihm verargen, daß die Haltung der Regierung,
+auf die er sich verlassen hatte, ihn mit Entrüstung erfüllte? Mit
+nackten Worten meldete er derselben, daß, möchten sie thun, was sie
+verantworten könnten, er nie und nimmer eine Besatzung verlassen
+werde, die an ihn sich klammere, daß er allen und jeden Versuch machen
+werde sie zu retten, ob solche Versuche auf den Leisten der Diplomatie
+paßten oder nicht. Die Khartumer hätten ihm ihr Geld geliehen, er
+hätte sie veranlaßt ihr Getreide billig zu verkaufen, er könne sein
+Schicksal von dem ihren nicht trennen.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Soweit ich die Lage beurteilen kann,« telegraphierte er am 5. Mai
+an Sir E. Baring, der für ihn die englische Regierung vertrat, »ist
+sie einfach die: Sie erklären es als Ihre Absicht, weder Khartum
+noch Berber mit Truppen zu Hilfe zu kommen, und Sie verweigern mir
+Sebehr. Ich betrachte mich unter diesen Umständen frei, zu handeln
+wie die Lage gebietet. So lange es möglich ist, werde ich hier
+feststehen, und wenn ich den Aufruhr unterdrücken kann, werde ich
+es thun. Vermag ich es nicht, dann ziehe ich mich an den Äquator
+zurück und <em class="gesperrt">überlasse Ihnen den unauslöschlichen Schimpf, die
+Besatzungen von Sennar, Kassala, Berber und Dongola im Stich gelassen
+zu haben, mit der Gewißheit obendrein, daß Sie den Mahdi früher oder
+später doch noch werden vernichten müssen — und dann unter größeren
+Schwierigkeiten als jetzt — wenn Sie anders Ägypten nicht auch
+fahren lassen wollen.</em>«</p>
+</div>
+
+<p>Dieses Telegramm war sozusagen Gordons letzter Hilferuf an die
+englischen Minister; er verhallte ungehört. Die Stimme des Volkes
+zwar erhob sich und wollte den Helden nicht verlassen sehen. Auch im
+Parlament kam die Sache wieder und wieder zur Sprache. Lord Granville
+erklärte, daß wenn Gordon sich verlassen fühle, es nur deshalb
+sein könne, weil die englischen<span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span> Telegramme ihn nicht erreichten;
+und Gladstone gab die keiner Auslegung bedürfende Erklärung ab,
+daß es Gordon jederzeit frei stünde, seinen Auftrag niederzulegen
+und nach England zurückzukehren! Die öffentliche Meinung in jenen
+Tagen glich einer wogenden See; Gordons Telegramm konnte nichts
+anderes als Teilnahme hervorrufen. In einer Versammlung englischer
+Bürger wurde einstimmig erklärt: »Wir verwerfen die Politik, die im
+Begriff ist, Gordon im Stich zu lassen, als eine unwürdige und das
+Land entehrende.« Und sowohl in dieser Versammlung als anderwärts
+wurde darauf hingewiesen, daß Gordons eigenartige Mission selbst den
+Ministern gegenüber von der Voraussetzung nicht zu trennen wäre, daß
+er nach seiner Einsicht handeln müsse, und daß man ihm, als er die
+Sendung übernahm, zu verstehen gegeben hätte, Unterstützung würde
+ihm nötigenfalls werden. Es seien leere Versprechungen gewesen; er
+habe um Geldmittel telegraphiert, man habe sie ihm verweigert; er
+habe nachgewiesen, daß Sebehr die beste Lösung der Frage sei, man sei
+ihm entgegengetreten; er habe um Truppen nachgesucht, man habe ihn
+benachrichtigt: er dürfe nicht darauf rechnen.</p>
+
+<p>Selbst Privatpersonen erklärten sich bereit, für die Regierung
+in die Bresche zu treten. Eine wohlhabende Dame bot in der Times
+hunderttausend Mark an, in der Hoffnung, daß durch freiwillige
+Beiträge eine genügende Summe zusammenkommen würde; anderthalb
+Millionen Mark wurden gezeichnet, eine Schar Freiwilliger sollte
+ausziehen, um England die Schande zu ersparen, den Helden und seine
+beiden opferwilligen Gefährten umkommen zu lassen, es wurde nicht
+genehmigt. Der Horizont wurde täglich dunkler. Dringende Mahnrufe
+ergingen an die Regierung von dem belagerten Berber; man könne nicht
+helfen, hieß es. Hilfe thue dort in sechzehn Stunden not, und ein
+Zuzug brauche ebenso viele Wochen. Daher unterblieb er. Das letzte,
+was man von Berber hörte, war die Botschaft, daß Hussein Khalifa
+die Stadt nur noch mit der Hoffnung halte, daß englischer Entsatz
+auf dem Wege sei; und als sich die Hoffnung als eine leere erwies,
+hieß es auch dort: Wir sind verlassen, wenn Gott uns nicht hilft.
+Von Kairo war Nachricht nach London gekommen, daß in Berber<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> ein
+panischer Schrecken den Rebellen in die Hände arbeite, und wenn die
+telegraphische Verbindung nach Khartum noch einmal benutzt werden
+solle, dann sei keine Zeit zu verlieren.</p>
+
+<p>Und Berber fiel, unter Greuelszenen, wie sie den Sudan-Krieg
+kennzeichnen. Es war das Vorspiel für Khartum. Es war die Brandglocke.
+Noch wäre es Zeit gewesen, um dort zu löschen, allein man schlief
+ruhig weiter, ob nicht ein Regenguß vom Himmel, oder sonst was zu
+Hilfe käme und eigene Anstrengung ersparte. Und Schweigen fiel auf
+die verlassene Stadt. Depeschen blieben aus, man wußte nicht mehr
+wie es dort ging. Fünf Monate lang keine Nachricht oder doch nur
+unzuverlässige Gerüchte. Doch das wußte, wer es wissen wollte — sein
+vergangenes Leben bürgte dafür — daß Gordon die Pflicht für sein Volk
+wie ein Held erfüllte. Hatten die Seinen ihn verlassen, so war Gott
+mit ihm, und er wagte den Kampf.</p>
+
+
+<h3>5. Mannhaft auf dem Posten.</h3>
+
+<p>Gordon verlor keine Zeit, die Verteidigung Khartums ins Werk zu
+setzen. Seine erste Sorge war der Proviant. Es ergab sich, daß die
+Stadt eine fünfmonatliche Belagerung würde aushalten können. Den Armen
+wurde eine tägliche Ration bewilligt. Der leeren Kasse half er durch
+Papiergeld auf, und es beweist das Vertrauen der Leute, daß ihnen sein
+Wort für Zahlung galt. Auf diese Weise hielt er sein unzuverlässiges
+Militär zusammen und verhinderte wenigstens um jene Zeit das
+Desertieren. Um die Stadt her legte er Sprengminen, und in Erwartung
+der unbeschuhten Füße etwaiger Sturmläufer war der Boden weithin mit
+Glasscherben und zu ähnlichen Zwecken angefertigten Stachelnüssen
+bestreut, nämlich mit eisernen Nüssen, die, wie sie auch fallen, eine
+oder mehrere ihrer Spitzen nach oben kehren. Zwischen den Minen waren
+Drahtangeln angebracht, um den anlaufenden Feind zu Fall zu bringen.
+Gordon war entschlossen, sich und die Stadt so teuer als möglich zu
+verkaufen. An Schießbedarf fehlte es glücklicherweise nicht. Auch ließ
+die Gesundheit der Stadt nichts zu wünschen übrig, und der Nil war im
+Steigen;<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> letzteres war ein Hauptfaktor in Gordons Berechnung, welcher
+sich bei dem Angriff auf die Rebellen hauptsächlich auf seine Dampfer
+verließ.</p>
+
+<p>Keine Woche verging, ehe er die Scharte der Dünen-Niederlage
+auswetzte, und zwar eben durch einen der Dampfer, der mit einer
+Kruppkanone unter den Rebellen aufräumte. Es war Gordons Genie,
+das aus gewöhnlichen Nilbooten Kriegsschiffe schuf, die ihrem
+Zweck vollkommen genügten. Manchen heißen Arbeitstag verwandte
+er selbst darauf, diese Schiffe mit Eisenplatten und mehrfach
+übereinandergelegten Holzdielen zu panzern und zum Spießrutenlaufen
+zwischen den von den Rebellen besetzten Ufern kugelfest zu machen.
+Seine Dampfer begleiteten sechs Barken, auf denen er zwanzig Fuß hohe
+Türme errichtete, die seine Schützen trugen. Die Flotte muß einen
+seltsamen Anblick gewährt haben, Gordon war aber offenbar stolz auf
+ihre Tüchtigkeit.</p>
+
+<p>Saati Bey war Flottenführer. Fast täglich wagte das kleine Geschwader
+den Ausfall aus der blockierten Stadt und kehrte öfters mit Beute
+— Vieh und Getreide — zurück, was nicht mit Geld aufzuwiegen war.
+Überhaupt konnte Gordon nur auf die Schiffe rechnen, wie aus seiner
+nicht ohne bitteren Humor abgefaßten Notiz hervorgeht:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Unsere Dampfer halten sich prächtig; das ist ein Vorteil zu Wasser,
+daß die Mannschaft nicht davonlaufen kann, sondern wohl oder übel
+stand halten muß!«</p>
+</div>
+
+<p>Es fehlte auch nicht an kleinen Gefechten, wodurch wenigstens das
+erreicht wurde, daß man sich die Rebellen auf Armslänge vom Leibe
+hielt; einen Angriff auf die Stadt selbst wagten dieselben nicht
+mehr, nachdem sie mit den Sprengminen Bekanntschaft gemacht hatten.
+Als Berber gefallen war, schlossen sich an den Mahdi auch die
+Schaggyeh-Beduinen an, die das Land nordwärts von Khartum inne hatten.
+Damit war die Isolierung der Stadt eine vollständige.</p>
+
+<p>Die Spannung in England nahm mit den Sommermonaten zu. Bei dem
+Ausbleiben aller glaubwürdigen Nachrichten malte man sich die Lage der
+Stadt noch schlimmer aus, als sie damals in Wirklichkeit war; man sah
+sie dem hohläugigen Hunger einerseits,<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> den fanatischen Horden des
+Mahdi andererseits in die Arme fallen, man sah den heroischen Gordon
+mit seinen tapferen Gefährten, wie sie, von aller Welt verlassen,
+den sinkenden Mut von Tausenden aufrecht erhielten, obschon ihnen
+selbst kein Hoffnungsstern leuchtete. Und als endlich verlautete, der
+Regierung habe das Gewissen geschlagen und Entsatzungstruppen würden
+abgehen, da hielt mancher dafür, wie es sich ja leider auch als wahr
+erwiesen hat, daß das Ministerium der Verspätungsmaßregeln auch hier
+wieder mit dem guten Willen hinterdrein kommen werde.</p>
+
+<p>Am 29. September, nach fünfmonatelangem Schweigen brachte die Times
+Nachrichten von Khartum. Die Aufzeichnungen Powers<a id="FNAnker_15" href="#Fussnote_15" class="fnanchor">[15]</a> waren am Abend
+vorher angelangt, und das englische Volk las mit klopfendem Herzen,
+wie es den drei Söhnen Englands in der belagerten Nilstadt erging;
+hatte man doch die Hoffnung aufgegeben, je wieder Beruhigendes von
+ihnen zu vernehmen. Die hier folgenden Notizen zeigen mit der Kürze
+von Depeschen, wie Gordon, Stewart und Power zwischen dem ersten Mai
+und letzten Juli mannhaft auf ihrem Posten standen und Khartum bis
+dahin gehalten hatten.</p>
+
+<p>»1. Mai. — Der befehlende Offizier der Sappeurs legte eine Sprengmine
+mit achtundsiebzig Pfund Pulver, trat aber unglücklicherweise selbst
+darauf und wurde mit sechs seiner Leute zerschmettert.</p>
+
+<p>»3. Mai. — Ein Mann berichtet von einer englischen Armee in Berber.</p>
+
+<p>»6. Mai. — Energischer Angriff seitens der Araber auf die
+Befestigungen am Blauen Nil; die Minen, die wir bei Buri legten,
+brachten ihnen große Verluste.</p>
+
+<p>»7. Mai. — Starker Angriff von einem gegenüberliegenden Dorf;
+neun Minen explodierten und wir hörten nachher, daß es die
+Rebellen einhundertundfünfzehn Tote kostete. Die Araber<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> schossen
+ununterbrochen. Oberst Stewart vertrieb sie mit zwei prächtigen Salven
+aus einem vor dem Palast aufgestellten Kruppschen Zwanzigpfünder
+aus ihrer wichtigsten Stellung. Während der Nacht brachen sie
+Schießscharten in die Mauern, aber am 9. verjagten wir sie, nachdem
+sie das Dorf drei Tage innegehabt hatten.</p>
+
+<p>»25. Mai. — Oberst Stewart, durch eine feindliche Kugel verwundet,
+während er eine Mitrailleuse vor dem Palast leitete, ist jetzt wieder
+hergestellt.</p>
+
+<p>»26. Mai. — Bei einem Manöver auf dem Weißen Nil schoß Saati Bey eine
+Bombe in ein arabisches Pulvermagazin. Gewaltige Explosion, an sechzig
+Bomben platzten.</p>
+
+<p>»Während der Monate Mai und Juni tägliche Dampferexpeditionen unter
+Saati Bey. Unsere Verluste unerheblich. Viel Vieh eingebracht.</p>
+
+<p>»25. Juni. — Cuzzi, der englische Konsul von Berber, der bei den
+Rebellen ist, brachte unsern Linien Bericht vom Fall Berbers. Er ist
+auf dem Weg nach Kordofan.</p>
+
+<p>»30. Juni. — Saati Bey hat den Rebellen vierzig Ardeb Korn abgejagt,
+und zweihundert Araber sind dabei gefallen.</p>
+
+<p>»10. Juli. — Saati Bey machte einen Angriff auf Gatareeb, nachdem er
+Kalkala und drei andere Dörfer in Brand gesteckt hatte; er und drei
+seiner Offiziere fielen. Saatis Verlust ist keine Kleinigkeit.</p>
+
+<p>»29. Juli. — Wir haben die Rebellen aus Buri am Blauen Nil verjagt;
+es hat sie viel Tote gekostet, uns ziemlich Munition und achtzig
+Gewehre eingetragen. Die Dampfer rückten bis El-Efan vor, säuberten
+dreizehn Schanzen und zerschmetterten zwei Kanonen. Die ganze
+Belagerung bisher hat uns keine siebenhundert Mann gekostet.</p>
+
+<p>»31. Juli. — Mit dem heutigen schließt der fünfte Monat der
+Belagerung. Gestern schickte ich über Kassala einen übersichtlichen
+Bericht über unsere Lage und die hauptsächlichsten Ereignisse seit dem
+25. März. Bis 23. April ging wöchentlich mehrmals Nachricht ab; nach
+diesem Datum war's unmöglich Botschaft nach Berber zu bringen. Wir
+sind jetzt seit fünf Monaten<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> eng belagert, die arabischen Geschosse
+erreichen den Palast von allen Seiten.</p>
+
+<p>»Seit 17. März ist kein Tag ohne Beschießung vergangen, trotzdem
+berechnen sich unsere Toten von Anfang an höchstens auf siebenhundert.
+Verwundungen, die im ganzen leicht sind, gab's viele. Seit die Stadt
+eingeschlossen ist, läßt General Gordon den Armen Zwieback und Korn
+verabreichen, und bis jetzt hat niemand ernstlich Not gelitten. Aber
+Teuerung herrscht, und die Lebensmittel sind enorm im Preis gestiegen;
+Fleisch, wenn man's überhaupt kriegen kann, kostet acht oder neun
+Schilling per Ober. Die Klassen, die sich nicht unterstützen lassen
+können, leiden am meisten.</p>
+
+<p>»Mit der Nachricht, die uns vorgestern erreichte, ist unsere letzte
+Hoffnung dahin, daß unsere Regierung uns zu Hilfe kommen werde. Wir
+haben noch Mundvorrat auf zwei Monate, und dann bleibt uns nicht
+übrig als zu fallen. Mit den Truppen, die uns zu Gebot stehen, und
+den vielen Weibern und Kindern ist es ganz unmöglich daran zu denken,
+sich durch die Araber durchzuschlagen. Wir haben nicht genug Dampfer,
+um alle fortzuschaffen, und nur mit Hilfe der Dampfer können wir den
+Rebellen begegnen.</p>
+
+<p>»Ein berittener Araber genügt, um zweihundert von unserer Mannschaft
+in die Flucht zu schlagen. Als Saati Bey fiel, hatten ihrer acht mit
+Speeren zweihundert der unsern angegriffen, deren jeder sein Gewehr
+trug. Die Kerle nahmen sofort Reißaus und kümmerten sich nicht darum,
+daß Saati und sein Vakil erschlagen wurde. Ein schwarzer Offizier hieb
+drei jener Araber zusammen, und die anderen fünf genügten, die ganze
+Truppe der unsern davonzujagen. Ein Berittener, der dazu kam, sprengte
+durch die flüchtige Schar und schlug sieben zu Boden. Oberst Stewart,
+der keine Waffen trug, kam wie durch ein Wunder davon; die Araber
+hatten ihn nicht gesehen. Was kann man mit solchen Truppen anfangen?
+Die Neger sind die einzigen, auf die wir uns verlassen können.</p>
+
+<p>»Der Ausfall der schwarzen Mannschaft unter Mehemet Ali Pascha am
+28. dieses war glänzend; die Araber müssen schwere Verluste gehabt
+haben. General Gordon hat es den Soldaten<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> verboten, die Köpfe der
+erschlagenen Rebellen einzubringen, die Zahl läßt sich daher nur
+mutmaßen. Wir eroberten bei dieser Gelegenheit sechzehn Bomben,
+ziemlich viel Kartätschen und Patronen, eine schöne Anzahl Gewehre, an
+zweihundert Lanzen, sechzig Schwerter und einige Pferde. Wir hatten
+vier Tote und etliche Leichtverwundete. Dieser Sieg hat uns die
+Rebellen eine Zeit lang vom Hals geschafft, die unsere Linien bei Buri
+am Blauen Nil unablässig, selbst nachts, beschossen.</p>
+
+<p>»Den folgenden Tag, am 29. dieses, rückte unser Geschwader, d. h. fünf
+Kriegsdampfer und vier mit Türmchen und Geschütz versehene Barken,
+nach Giraffa am Blauen Nil vor. Ich ging mit. Wir säuberten dreizehn
+kleine Forts, stießen aber bei Giraffa auf zwei beträchtlichere
+Verschanzungen — Erdwälle mit starken Palissaden aus Palmstämmen.
+Die eine trug zwei Kanonen. Wir beschossen diese Verschanzungen acht
+Stunden lang, bis wir die beiden Kanonen mit unserem Kruppschen
+Zwanzigpfünder endlich zum Schweigen brachten. Die Gewehre der
+Araber knatterten unaufhörlich; unsere Panzerboote aber können einen
+Kugelregen aushalten, und so hatten wir nur drei Tote bei zwölf oder
+dreizehn Verwundeten. Gegen Abend verjagten wir die Rebellen, die
+ziemlich zahlreich waren.</p>
+
+<p>»In etwa drei Tagen beabsichtigt General Gordon zwei Dampfer gegen
+Sennar zu schicken. Wir hoffen, daß sie den Dampfer »Mehemet Ali«
+wieder kapern, den die Rebellen dem Saleh Bey neulich abjagten.
+General Gordon ist wohl auf, und Oberst Stewarts Wunde ist wieder
+heil. Auch ich bin wohl und guter Dinge.«</p>
+
+<p>Man atmete auf in England bei dieser Nachricht und war stolz auf
+die drei Tapferen, die sich so rühmlich hielten. Und ob der Freude
+vergaß man im ersten Augenblick, wie lange die Botschaft unterwegs
+war! »<em class="gesperrt">Wir haben noch Mundvorrat auf zwei Monate und dann bleibt
+uns nichts übrig, als zu fallen</em>,« so schrieb man am 31. Juli in
+Khartum, und am 29. September wiederhallten diese Worte in England.
+Noch ein Tag fehlte an der gesteckten Frist. Wie stand es jetzt um
+Khartum?</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span></p>
+
+
+<p>Am 30. Juli schrieb Gordon an Sir E. Baring:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Besten Dank für Ihre guten Wünsche. Der Nil ist jetzt hoch, und wir
+hoffen, in wenigen Tagen offene Route nach Sennar zu haben. Unsere
+Verluste bis jetzt sind nicht ernstlicher Art. Stewart war leicht
+verwundet, ist aber wieder hergestellt. Seien Sie überzeugt, daß
+wir diese Gefechte nicht suchen, aber wir haben keine andere Wahl,
+denn der Rückzug wäre nur dann möglich, wenn wir die Zivilbeamten
+und ihre Familien im Stich ließen, wogegen die allgemeine Stimmung
+der Truppen sich auflehnt. Ich habe keinen Rat zu geben. Wenn wir
+Sennar entsetzen und den Blauen Nil säubern können, wären wir stark
+genug, Berber zurückzuerobern, d. h. wenn Dongola sich halten kann.
+Nicht ein Pfund von Ihren Hilfsgeldern ist hier angelangt; es ist
+dem Feind in Berber in die Hände gefallen. Und ich mißgönne es
+den Arabern nicht, denn es ist doch nur ein Teil von dem, was die
+ägyptischen Pascha dem Land erpreßt haben. Es sollten vier Millionen
+Mark nach Kassala geschickt werden; man muß diesen Besatzungen
+wenigstens mit Geld zu Hilfe kommen. Khartum kostet zehntausend Mark
+per Tag. Wenn der Weg nach Berber frei wird, werde ich Stewart mit
+dem Tagebuch hinschicken, d. h. wenn er einwilligt. Das dürfen Sie
+glauben, wenn es irgend eine Möglichkeit gäbe, dieses erbärmliche
+Scharmützeln einzustellen, so würde ich sie ergreifen, denn mir ist
+der ganze Krieg verhaßt. Die Leute sind dagegen, daß ich die Stadt
+verlasse, aus Furcht, daß alles noch schlimmer würde, wenn mir
+etwas zustieße; so sitze ich immer auf Sohlen, wenn die Mannschaft
+draußen ist. Wenn ich irgend jemand hier ans Ruder stellen könnte,
+so würde ich es thun, aber es ist niemand da; alle tüchtigen Kräfte
+zogen mit Hicks aus und sind geblieben. Als Beweis, wie gut die
+Araber schießen, hat der eine Dampfer neunhundertundsiebzig und der
+andere achthundertundsechzig Verletzungen im Rumpf. Seit unserer
+Niederlage am 16. März haben wir nur etwa dreißig Tote und fünfzig
+oder sechzig Verwundete gehabt, was sehr wenig ist. Wir haben wohl
+eine halbe Million Patronen verschossen. Die Leute halten sich
+im ganzen gut ... Es mag taktlos klingen, aber wenn wir je davon
+kommen, so geben Sie dem Stewart einen Orden, aber nur mir nicht.
+Ersparen Sie mir die Unannehmlichkeit es abzulehnen, aber ich hasse
+solches Zeug. <em class="gesperrt">Wenn</em> wir davonkommen, so ist es lediglich durch
+Gebetserhörung und nicht aus eigener Kraft; fürs übrige ist's dann
+eine Genugthuung, hier gewesen<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> zu sein, so trostlos es manchmal ist.
+Stewarts Tagebuch ist sehr ausführlich. Ich will nur hoffen, daß es
+Sie erreicht, wenn ich's schicken kann. Landminen werden künftig
+unsere beste Verteidigung sein; wir haben die Außenwerke damit
+bedeckt, bis jetzt haben sie allen Angriff abgehalten und tüchtig
+aufgeräumt ... Wir haben einen Khartum-Orden von drei Graden —
+Silber mit Vergoldung, Silber und Zinn — eingeführt, eine Granate
+mit der Umschrift »die Belagerung von Khartum«. Sogar Frauen und
+Schulkinder haben ihn schon erhalten; ich bin daher sehr populär bei
+den schwarzen Damen. Wir haben Papiergeld im Wert von einer halben
+Million Mark in Umlauf gesetzt, und von Kaufleuten habe ich eine
+Million geliehen, beides auf <em class="gesperrt">Ihren</em> Kredit hin! Auch habe ich
+einhundertundsechzigtausend Mark Papiergeld nach Sennar geschickt.
+Was die Steuern betrifft, so zahlt man uns nur in Blei, woraus Sie
+abnehmen mögen, daß Sie eine schöne Rechnung hier zusammenkriegen.
+Die Truppen und die Leute im ganzen sind gutes Muts ... Ich glaube,
+daß eine schreckliche Hungersnot durchs ganze Land das Finale sein
+wird. Ein Spion brachte gestern die Nachricht, die ›Königin von
+England‹ sei in Korosko — vielleicht ist es ein Schiff. Sieben Mann,
+ich mitgerechnet, sind die ganze Verstärkung, deren der Sudan seit
+der Hicks-Niederlage sich rühmen kann! während wir euch sechshundert
+Mann Militär und zweitausend Mann Zivil zugeschickt haben — wir
+lachen manchmal darüber. Ich werde Khartum nicht verlassen, ehe ich
+jemand an meine Stelle setzen kann. Wenn die Europäer, die hier sind,
+suchen wollen, den Äquator zu erreichen, so will ich ihnen mit den
+Dampfern dazu behilflich sein; aber nach all dem, was hinter uns
+liegt, kann ich die Leute nicht im Stich lassen. — Ich habe Ihnen ja
+gesagt, daß der Weg über Wady Halfa am rechten Nilufer hin der beste
+wäre; hätte Berber sich gehalten, so wäre es eine Vergnügungsfahrt.
+Eine andere Möglichkeit wäre, von Senheit nach Kassala und von da
+nach Abu Haraz am Blauen Nil; jedenfalls sicher bis Kassala, aber ich
+fürchte, es ist <em class="gesperrt">zu spät</em>. Wir müssen uns selber durchhelfen, so
+gut wir können. Wenn Gott uns seinen Segen dazu giebt, so wird uns
+der Sieg; wenn es nicht sein Wille ist, so ist es auch recht ...</p>
+
+<p>»Warum benutzen Sie die Geheimschrift? Ist ganz unnötig, die Araber
+haben ja keine Dolmetscher. Sie sagen, es sei Ihr Ziel, den Sudan zu
+räumen; gut, aber die Araber haben auch ein Wort<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span> dreinzureden, ehe
+sie die Ägypter ziehen lassen. Es wird alles zum besten dienen. Ich
+wiederhole zum Schluß, wir verteidigen uns so lang wir können, und
+ich lasse Khartum nicht im Stich. Noch hoffe ich, wenn ich auch bis
+jetzt kein Wie sehe, daß Gott uns einen Ausweg zeigen wird.«</p>
+</div>
+
+<p>In einer Nachschrift heißt es:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Sie fragen in Ihrem Telegramm vom 5. Mai: warum ich darauf bestehe,
+hier zu bleiben, wenn doch England sich zurückziehe? Antwort: ich
+bleibe hier, weil die Araber uns eingeschlossen haben und niemand
+durchlassen. Überdies würden mich die Leute festhalten, wenn ich
+ihnen nicht vorher zu einer Regierung verhälfe oder sie mitnähme, was
+nicht möglich ist. Niemand verließe das Land lieber als ich, wenn es
+sein könnte.«</p>
+</div>
+
+<p>Im Laufe des August schreibt er an einen Offizier der königlichen
+Marine zu Massaua:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>».... Eine ganze Reihe kleiner Gefechte mit den Arabern, die wir
+gottlob zurückgeschlagen haben. Der Weg nach Sennar ist jetzt offen,
+und wir haben im Augenblick nichts von den Arabern zu befürchten.
+Wir beabsichtigen morgen einen Angriff und wollen einen Ausfall auf
+Berber machen; Stewart und die beiden Konsuln (der Engländer Power
+und der Franzose Herbin) wollen den Versuch wagen, nach Dongola
+zu entkommen. Wir würden Berber zerstören und wieder auf unser
+Piratennest zurückfallen ... Ich denke, wir halten Khartum in alle
+Ewigkeit, wir sind dem Mahdi gewachsen. Hat er Reiterei, so haben wir
+Dampfer. Wir sind sehr bös auf euch zu sprechen, denn seit dem 29.
+März hat kein Sterbenswort von der Außenwelt uns erreicht. Ich habe
+schon zweitausendachthundert Mark für einen Spion hingelegt, und ihr
+habt dem armen Teufel zwanzig Thaler gegeben (wenigstens behauptet
+er das), um von Massaua nach Khartum zurückzugelangen. Ich habe ihm
+vierhundert Mark draufgelegt ... Wir haben wieder Mundvorrat auf fünf
+Monate und hoffen noch mehr wegzufangen ... Unser Vaterland spielt
+keine sehr edle Rolle, weder Ägypten noch dem Sudan gegenüber. Ich
+wollte, ich hätte ein paar von euren Artilleristen hier, denn unsere
+Kanonade ist erbärmlich. Meine Empfehlung an die Offiziere.«</p>
+
+<p>Und weiter am 26.: »Ich schrieb Ihnen vorgestern, daß wir einen
+Ausfall auf die Araber machen wollten. Es ist uns gottlob<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> gelungen,
+das feindliche Lager einzunehmen. Der arabische Befehlshaber ist
+gefallen (<em class="antiqua">R. I. P.</em>). Unsere Verluste noch unbekannt. Der
+Sieg hat uns auf drei Seiten, wenigstens in nächster Nähe, Luft
+verschafft. Übrigens können die Araber ihre Niederlage teilweise den
+Deserteuren zuschreiben, die im Augenblick des Angriffs in ziemlich
+großer Anzahl zu uns überliefen. Meine Flotte hat sich glänzend
+gehalten, worauf meine Freunde von der königl. britischen Marine
+stolz sein können ... Wir und die hiesigen Truppen haben wenigstens
+<em class="gesperrt">ein</em> Band, das uns zusammenhält; sie wissen, daß sie in die
+Sklaverei verkauft werden, wenn die Stadt fällt, und wir wissen,
+daß wir nur durch eine Verleugnung unseres Herrn unser Leben retten
+könnten. Und ich glaube, uns ist diese Alternative noch verhaßter
+als den Soldaten jene. So Gott will, wollen wir den Sieg erringen
+ohne Hilfe von außen. Spione von Kordofan melden, daß der Mahdi mit
+sechsundzwanzig Kanonen auf Khartum loszieht. Das ist nicht mehr
+als ich erwartete; ich habe von Anfang an gedacht, daß es hier zur
+Entscheidung kommen wird. Will's Gott, ist der Erfolg nicht auf
+seiner Seite; wir haben gethan, was wir konnten, um Khartum wohl zu
+befestigen. Mißglückt es ihm, dann ist es auch mit ihm zu Ende.«</p>
+</div>
+
+<p>Daß Gordons tapferer Mut aufrecht blieb, ergiebt sich aus diesen
+Briefen. Sie zeigen auch, daß er sich entschlossen hatte, seine
+beiden Gefährten Stewart und Power ziehen zu lassen und allein
+zurückzubleiben; es hatte dies einen doppelten Grund. Zum ersten war
+Gordon wohl schon damals zur Gewißheit gelangt, daß es einen harten
+Kampf ums Leben gelten würde, und er wollte seinen Waffengefährten
+Gelegenheit geben, dem fast sichern Tod zu entgehen; zum andern aber
+hoffte er, durch ihre Berichte die saumselige Regierung zum Handeln zu
+bringen. Denn daß man in London zu einem Entschluß in dieser Richtung
+gekommen war, davon hatte er damals noch keine Kenntnis. Warum er sich
+seinen Gefährten nicht anschloß, bedarf keiner weiteren Erklärung.
+Er blieb zurück in reinster Selbstaufopferung. Daß er sich solchen
+Edelsinn nicht selbst beimaß, erhöht nur die Größe seines Handelns. Er
+selbst spricht sich in seiner Weise so darüber aus:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Was man auch sagen mag über unser hiesiges Aushalten, es ist bares
+Geschwätz, wir hatten ja keine andere Wahl; und wenn<span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span> man wissen
+will, warum ich mich nicht mit Stewart aus dem Staub gemacht habe, so
+ist die Antwort einfach die, daß die Leute hier nicht so dumm gewesen
+wären, mich gehen zu lassen, also was hat sich's da mit Großthaten
+und Selbstaufopferung!«</p>
+</div>
+
+<p>Dennoch war's ein vollkommenes Opfer in jeder Hinsicht, ja ein
+Opfer im eigentlichsten Sinn, und Gordon wußte das! Während seines
+Aufenthaltes in Jerusalem hatte er hinsichtlich der englischen
+Beamtenwirtschaft in Ägypten geschrieben: »Mir ist, als ob dies
+Unrecht nur mit Blut zu sühnen wäre.« Und im März schrieb er von
+Khartum: »Wolle Gott diese Sünde nicht an unserem Volk heimsuchen,
+möge die Strafe auf mich fallen, geborgen in Christo. Das ist meine
+Bitte! Und möge Er sich des Volkes hier erbarmen, ihnen Friede
+schenken.« Übrigens konnte Gordon nur <em class="gesperrt">hoffen</em>, daß der Dampfer
+»Abbas« die kleine Schar sicher durch die feindlichen Linien tragen
+würde, er weigerte sich daher ihre Abreise anzubefehlen; er setzte
+ihnen auseinander, daß sie durch ihr Bleiben die Lage von Khartum
+nicht zu bessern vermöchten, während sie möglicherweise durch ihr
+Gehen der belagerten Stadt einen großen Dienst erweisen könnten. Beide
+Genossen entschlossen sich unter der Bedingung zu gehen, daß Gordon
+ihnen nicht nachsagen würde, sie hätten ihn in der Not verlassen. Es
+war ein Wettstreit der Großmut. Stewart wollte absolut nicht ohne den
+direkten Befehl seines Vorgesetzten gehen. »Nein,« sagte dieser, »zwar
+fürchte ich die Verantwortlichkeit nicht, aber ich will Sie nicht in
+eine mögliche Gefahr schicken, die ich nicht mit Ihnen teile.« Bei
+der Abreise von London hatte er den ihn an den Bahnhof begleitenden
+Freunden gesagt:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»So viel ist sicher, daß wo er in Gefahr sein wird, ich sie teilen
+werde; und wo ich in Gefahr gerate, wird er nicht weit davon sein.«</p>
+</div>
+
+<p>Aber alles war so ganz anders gegangen, als man es damals hoffte
+und erwartete, und die Kampfgenossen trennten sich. Gordon that zu
+ihrer Sicherheit, was er konnte, indem sein Geschwader ihnen über
+Berber hinaus das Geleite gab; auch ermahnte er sie, sich in der
+Mitte des Stromes zu halten und wegen Holzbedarf nur an einsamen
+Orten zu landen. Am<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> 10. September verließ seine Mannschaft die Stadt
+und kehrte nach einem Siege über die Rebellen dahin zurück, während
+der Dampfer »Abbas« Stewart und Power mit noch etwa vierzig anderen
+stromabwärts trug.</p>
+
+<p>Schon anfangs Oktober gelangte die Unglückspost nach England, daß
+der »Abbas« im Nil gestrandet und seine Mannschaft dem Feind in die
+Hände gefallen sei. Man hoffte eine Zeit lang, Stewart sei mit dem
+Leben davon gekommen, aber nach wenigen Wochen war's auch mit dieser
+Hoffnung zu Ende. Monate vergingen jedoch, ehe man die Einzelheiten
+mit Gewißheit erfuhr, und zwar durch den Heizer des Dampfers, der aus
+der arabischen Gefangenschaft entkam und folgendes berichtete:</p>
+
+<p>Nachdem das Geschwader Berber bombardiert hatte, kehrte die kleine
+Flotte nach Khartum zurück, und der »Abbas« setzte seine Reise fort,
+gelangte auch sicher bis über Abu Hamed. Am 18. September aber stieß
+der Dampfer auf den Grund. Es war in des Scheik Wad Gamrs Land,
+und man hatte seit einiger Zeit bemerkt, daß die Leute auf beiden
+Seiten landeinwärts den Hügeln zu liefen. Als es sich ergab, daß der
+»Abbas« festsaß, wurde ein Rettungsboot mit dem Nötigsten beladen
+und als Landungsplatz eine nahe Insel in Aussicht genommen; das Boot
+ging viermal hin und her. Darnach vernagelte Oberst Stewart selbst
+die Kanonen und ließ sie über Bord werfen; ebenso die Kisten mit
+Schießbedarf. Die Eingeborenen hatten sich mittlerweile in großer
+Anzahl auf dem rechten Ufer versammelt und schrieen: »Gebt uns Frieden
+und Korn!« »Friede,« riefen die Gestrandeten zurück. Soliman Wad Gamr,
+der Scheik, war in einem kleinen Haus in der Nähe; auch er fand sich
+am Ufer ein und rief den Schiffbrüchigen zu, sie sollten nur furchtlos
+herüber kommen, die Soldaten müßten aber ihre Waffen niederlegen,
+sonst würden seine Leute sich fürchten. Und nachdem Oberst Stewart
+mit seinen Gefährten beraten hatte, setzte er mit den beiden Konsuln
+(Power und Herbin) und einigen andern über und betrat das Haus eines
+blinden Fakirs Namens Etman, um daselbst mit dem Scheik über den
+Ankauf von Kamelen zu unterhandeln. Er gedachte den Weg nach Dongola
+durch die Wüste<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> fortzusetzen. Außer Stewart, der einen Revolver trug,
+hatte niemand Waffen. Und während er und seine Begleiter mit dem
+Scheik verhandelten, beschäftigten sich die übrigen mit der Landung.
+Es dauerte nicht lange, da bemerkten diese, daß Soliman aus dem Hause
+stürzte und seinen Stammesangehörigen, die in einem Haufen beisammen
+standen, mit einem Wassereimer, den er hin und her schwenkte, ein
+Zeichen gab. Da warfen sich diese mit ihren Speeren teils auf die
+Mannschaft am Ufer, teils auf das Haus. Der Heizer versteckte sich mit
+einigen anderen und wurde später gefangen genommen. Oberst Stewart
+und seine Gefährten aber wurden unbarmherzig niedergemacht und ihre
+Leichen in den Fluß geworfen. Dann teilten sich die Mörder in die
+Beute. Es war selbst nach arabischen Begriffen ein schändlicher
+Verrat. Stewarts Tagebuch über den bisherigen Verlauf der Belagerung
+Khartums, das Gordon als einen Schatz bezeichnete, wurde mit allen
+übrigen Schriftstücken, Briefen u. s. w., die der »Abbas« trug, dem
+Mahdi ausgeliefert.</p>
+
+<p>Gordons »Tagebücher« beginnen mit dem Tag, an dem er sich von seinen
+Gefährten trennte. Die vier ersten sind an Stewart gerichtet, die
+beiden letzten an den befehlenden General des Entsatzheeres. Es
+sind diese Tagebücher einfach die niedergeschriebenen Gedanken
+eines Menschen, der niemand mehr hat, gegen den er sich aussprechen
+kann. Er bespricht darin die Sachlage von allen Seiten, keinen
+möglichen Einwurf läßt er unbeantwortet; er bringt die militärische
+Stellung zu Papier und arbeitet die zu verfolgende Taktik aus. Er
+macht Aufzeichnungen der täglichen Nebendinge, die nicht selten
+humoristischer Art sind — z. B. seine Gewohnheit, schwarze Überläufer
+mit den Spiegeln im Palast Bekanntschaft machen zu lassen, damit die
+Leute sich doch auch einmal selbst zu Gesicht bekämen. Die Tagebücher
+sind daher umfangreich, obschon sie nur einen Zeitraum von drei
+Monaten umschließen. Er stellt darin auch das Verfahren der Regierung
+in ein helles Licht, aber er thut es mit der Ruhe eines Menschen,
+der sich in einer höheren Hand weiß, als in der der irdischen
+Machthaber und dem Ausgang, so oder so, ohne viel Aufregung entgegen
+sieht. Nichts steht deutlicher in diesen Aufzeichnungen, als daß der
+Schreiber<span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span> bis zuletzt an dem seltenen Gottvertrauen festhielt, das
+manche nur als Fatalismus zu belächeln wissen, das er selbst aber
+treffend dahin kennzeichnet:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wenn das Buch unseres Geschickes einmal aufgeschlagen ist, dann ist
+Ergebung unsere Pflicht, in der Zuversicht, daß uns alles zum besten
+dienen soll. So lang dieses Buch noch mit Siegeln versiegelt ist,
+ist es etwas anderes. Und es kann mir niemand nachsagen, daß ich
+mit diesem Glauben die Hände in den Schoß legte und alles über mich
+ergehen ließ.«</p>
+</div>
+
+<p>Es war sein Gottvertrauen und nichts anderes, das ihn dazu befähigte,
+die Gefährten ziehen zu lassen und allein weiterzukämpfen, und wie
+er überhaupt immer mehr an alles andere als sich selbst dachte,
+so erwähnte er dieses Alleinseins mit keinem Wort. Wohl mag er's
+empfunden haben! Wenn er aber schreibt: »Eine Maus hat jetzt bei Tisch
+Stewarts Platz eingenommen, sie scheint sich nicht zu fürchten, denn
+sie holt sich kecklich aus meinem Teller, was ihr gefällt,« so meinen
+wir, er hätte nicht leicht mit wenig Worten mehr sagen können.</p>
+
+<p>Ja, Gordon war allein, aber die Stadt will er halten, ob Hilfe noch
+komme.</p>
+
+
+<h3>6. Menschenhilfe.</h3>
+
+<p>Es war in der ersten Augustwoche 1884, als Gladstone, dem Drängen des
+Volkes nachgebend, sich anschickte, eine Entsatz-Expedition ins Werk
+zu setzen; bisher war standhaft erklärt worden, die Notwendigkeit
+zu militärischen Operationen liege nicht vor. Das Kriegsministerium
+that sein Möglichstes, die verlorene Zeit nachzuholen. Am letzten
+August verließ der erwählte Heerführer, Lord Wolseley, London unter
+den Zurufen und Glückwünschen einer Menge Volks, die sich am Bahnhof
+versammelt hatte.</p>
+
+<p>Wolseleys Instruktionen sind beachtenswert. Es gelte, Gordon zu
+retten, sagte die Regierung, ihrer Politik getreu bleibend, daß der
+Sudan England nichts angehe. Das Entsatzheer solle sich daher aller
+und jeder offensiven Operationen enthalten. Der Auftrag erstreckte
+sich nicht auf die Besatzungen von Kassala und<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> Sennar, noch weniger
+auf die Bahr el Ghasal oder die Äquator-Provinzen. Die Regierung
+setzte sogar Zweifel darein, daß es sich als nötig erweisen werde, bis
+Khartum vorzurücken; jedenfalls sollten die britischen Operationen
+möglichst beschränkt werden. Einigermaßen in Widerspruch mit dieser
+Vorschrift folgte die weitere Anordnung, daß, nachdem ein sicherer
+Rückzug für General Gordon und Oberst Stewart, sowie für die
+ägyptischen Truppen und Zivilbeamten in Khartum gewonnen sei, General
+Wolseley Vorkehrungen treffen solle, um dem Sudan, insbesondere
+aber der Stadt Khartum, eine geordnete Regierung für die Zukunft zu
+sichern. Bezeichnender Weise erhielt dieser Sudan-Entsatzzug den Namen
+»Expedition zur Rettung Gordons«.</p>
+
+<p>Der Held in Khartum erfuhr davon auf eigentümliche Weise. Er erzählt
+in seinem Novembertagebuch, daß eine Post ihn erreicht habe. Die
+Briefe waren in alte Zeitungen gewickelt, darunter war der »Standard«
+vom 1. September, und »nicht mit Gold aufzuwiegen,« sagt Gordon,
+»waren wir doch seit dem 24. Februar ohne alle und jede Nachricht!«
+Dieses Zeitungsblatt aber beschreibt die Abreise Lord Wolseleys, um
+Gordon zu befreien. »Nichts dergleichen,« erklärt Gordon, »sondern um
+die eingeschlossenen Truppen zu entsetzen!« Anderswo spricht er sich
+so aus:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Nicht energisch genug kann ich es ablehnen, daß dieser Zug
+meinetwegen ins Werk gesetzt wird. Es geschieht lediglich, <em class="gesperrt">um
+die Ehre Englands zu retten</em>, um die Besatzungen und andere aus
+einer Lage zu befreien, in welche die englische Politik in Ägypten
+sie gebracht hat. Ich unternahm den ersten Zug zum Entsatz, was
+jetzt kommt, ist der zweite. Was mich betrifft, so könnte ich mich
+ja jederzeit davon machen, wenn das alles wäre. Überlegt euch aber
+einmal, was es auf sich hätte, wenn die erste Expedition davon liefe
+und ihre Dampfer in des Mahdi Hände fallen ließe, wäre das nicht eine
+böse Vorarbeit für die zweite Expedition, welche Englands Ehre retten
+will, indem sie die Besatzungen befreit? <em class="gesperrt">Beide</em> Expeditionen
+gelten der Ehre Englands, das liegt auf der Hand. Ich bin gekommen,
+um die Besatzungen zu retten und es ist mir nicht gelungen. Nun
+kommt Earle (der mit Wolseley kam); hoffen wir, es gelingt ihm. Zu
+<em class="gesperrt">meiner</em> Befreiung kommt er aber nicht! Mit dem Entsatz der
+Garnison, das gab von Anfang an jeder zu, stand<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> unsere nationale
+Ehre auf dem Spiel. Wenn Earle nun das gewünschte Resultat erreicht,
+so verpflichtet er sich die »nationale Ehre«, die ihn hoffentlich
+auch belohnen wird; mich geht das nichts an, ich bin höchstens zu
+tadeln, daß es mir nicht gelungen ist. Jedenfalls bin ich nicht das
+<em class="gesperrt">gerettete Lamm</em> und wills's nicht sein.«</p>
+</div>
+
+<p>Gordon baute überhaupt nicht auf die Erfolge des Feldzugs, der vier
+Monate früher hätte unternommen werden sollen. Es ist auch nicht
+leicht zu erklären, warum man sich im April nicht zu den Maßregeln
+verstehen konnte, die man im August doch ergriff!</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Die Möglichkeit liegt natürlich auf der Hand,« schrieb Gordon, »daß
+Khartum der Expedition noch vor der Nase weggeschnappt wird; man wird
+gerade noch dazu kommen, d. h. zu spät. Vielleicht hält man es dann
+für nötig, die Stadt zurückzuerobern, aber das wäre ganz nutzlose
+Mühe und würde auf beiden Seiten nur unnötig viel Blut kosten. Wenn
+es so weit kommt, dann kann das Entsatzheer nichts besseres thun,
+als den Schwanz einziehen und ganz still wieder umkehren. Denn wenn
+Khartum einmal gefallen ist, dann ist die Sonne untergegangen und
+die Leute werden sich nicht viel um die Planeten (d. h. die andern
+Garnisonsstädte) kümmern.«</p>
+</div>
+
+<p>Der Leser weiß, daß, wie Gordon ahnte, Wolseleys Truppen »gerade noch
+dazu kamen«; man weiß auch, daß sie unverrichteter Dinge umgekehrt
+sind. Und zwar trifft Offiziere und Mannschaft kein Tadel; manch
+Tapferer hat sein Leben gelassen, und die Geldopfer berechnen sich
+nach Millionen. Der Fehler war der, daß es von Anfang an <em class="gesperrt">zu
+spät</em> war.</p>
+
+<p>Von Kairo nach Assiut wurden die Truppen per Bahn befördert und von
+dort per Nildampfer nach Assuan, wo die Schwierigkeiten der Expedition
+ihren Anfang nahmen. Ende September trafen die Flußboote von England
+dort ein, mit welchen man die Mannschaft und den Kriegsbedarf nach
+Dongola zu verbringen beabsichtigte, und vierhundert kanadische
+Bootsleute waren ihrer besonderen Tüchtigkeit halber auf Wolseleys
+Wunsch dazu verschrieben worden. Die Boote durch die Nilschnellen
+oberhalb Wady Halfa zu bringen, bot fast unübersteigliche Hindernisse
+und die Beförderung durch die Wüste mit Kamelen nicht minder;<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span> und
+als die Truppen endlich in Dongola angelangt waren, lag schon eine
+Riesenarbeit hinter ihnen, obgleich sie vom Feinde selbst noch nichts
+gesehen hatten.</p>
+
+<p>Dongola wurde anfangs November erreicht, und am 14. dieses Monats
+erhielt Wolseley Nachricht von Gordon vom 4., die ihm abermals zu
+wissen that, daß keine Zeit zu verlieren sei. Er benachrichtigt den
+britischen Heerführer, daß in Metammeh fünf Dampfer mit neun Kanonen
+seiner Befehle harren. Mit andern Worten, sobald er hört, daß der
+Hilfszug im Anmarsch ist, kommt er selbst seinen angeblichen Rettern
+zu Hilfe!</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»<em class="gesperrt">Noch vierzig Tage können wir aushalten</em>,« berichtet er,
+»darnach wird's schwer sein ... Der Mahdi ist etwa acht Meilen von
+hier ... Sennar ist ruhig, und man weiß dort, daß Ihr kommt ...«</p>
+</div>
+
+<p>Wolseley that sein möglichstes, das Vorrücken zu beschleunigen,
+auch bedurfte es kaum seiner packenden Proklamation, die Truppen
+anzufeuern. Daß Gordon die Stadt bis zu ihrem Kommen halte, das war
+Offizieren wie Gemeinen genug. Durch den Mudir von Dongola hörte man
+ferner aus der belagerten Stadt, daß, als der Bote Khartum verließ,
+dreißig Barken voll Korn vom Blauen Nil eingebracht worden seien,
+und daß die Leute all ihre Hoffnung auf Gordon setzten; daß sogar
+aus des Mahdi Lager Überläufer zu ihm kämen; daß er seinen Bedarf
+an Schießpulver selbst fabriziere, daß er zwölf Dampfer auf dem
+Fluß habe, und daß das Volk anfange, sein Regiment dem des Mahdi
+vorzuziehen. Was letztere Behauptung und die Nachricht von Überläufern
+aus des Mahdis Lager betrifft, so erklärt Gordon in seinem Tagebuch
+dies damit, daß es überall an Nahrung gebreche und der Glaube im
+Umlauf sei, in Khartum leide man nicht Mangel; der Bauch regiere die
+Welt.</p>
+
+<p>So viel war sicher, daß der Mahdi Obeid verlassen und bei Omderman
+angesichts der belagerten Stadt seine Stellung genommen hatte. Es war
+der 21. Oktober, das Neujahr der Moslem, als Gordon das Geschick der
+Abbas, den Tod Stewarts und Powers erfuhr; es bekümmerte ihn tief.
+Nach Omderman aber, woher ihm die Nachricht gekommen, telegraphierte
+er: »Ich<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> lasse dem Mahdi sagen, daß es mir nichts ausmacht und wenn
+er mir den Untergang von zwanzigtausend Dampfern wie die Abbas, den
+Tod von zwanzigtausend Offizieren wie Stewart Pascha meldet. Ich hoffe
+den englischen Entsatzzug bald hier zu sehen, wenn der Mahdi mir aber
+zu wissen thut, daß die Engländer den Schwierigkeiten erlegen sind, so
+ist mir auch das einerlei. <em class="gesperrt">Ich</em> bin hier wie Eisen!«</p>
+
+<p>Der Mahdi machte einen Angriff auf die Stadt. Gordon begegnete
+ihm mit seinen Dampfern und achthundert Schwarzen; es kostete
+einen achtstündigen heißen Kampf, aber es gelang ihm, die Araber
+zurückzuwerfen und sie durch seine Sprengminen aus ihrer Stellung
+zu vertreiben. Der geschlagene Mahdi hat hierauf für gut gehalten,
+sein Angesicht eine Zeit lang zu verbergen und sich in eine Höhle
+zurückzuziehen. In dieser weissagte er, man werde sich sechzig Tage
+lang ruhig verhalten, darnach aber werde das Blut in Strömen fließen.
+Diese »Weissagung« ist so ziemlich auf den Tag in Erfüllung gegangen.</p>
+
+<p>Weihnachten und Neujahr ging vorüber, da schien es endlich Ernst
+werden zu wollen. Das englische Heer rückte in zwei Kolonnen, die
+eine unter Earle, die andere unter Sir Herbert Stewart durch die
+Bajuda-Wüste vor. Das Ziel Stewarts waren die Gakdul-Brunnen, die
+auch erreicht wurden; hier wurde eine feste Stellung gewonnen. Am 15.
+Januar 1885 bewegte sich der Zug weiter nach den Abu Klea-Quellen,
+etwa hundertundzwanzig Kilometer von Metammeh und Shendi am Nil. Dort
+kam es zur Schlacht. Hoffnungsvoll waren die Truppen vorgerückt;
+einzelne Araber, auf die sie unterwegs stießen, rissen des Mahdi
+Abzeichen von ihren Gewändern und erklärten, sie würden den falschen
+Propheten nie anerkannt haben, hätten sie gewußt, daß die Engländer
+kämen. Bei Abu Klea war der Feind zehntausend Mann stark. Die
+englische Kolonne zählte nicht viel über tausend. Es gab eine heiße
+Arbeit, aber den Briten blieb der Sieg; doch kostete er schwere
+Opfer. Sir Herbert Stewart selbst wurde tödlich verwundet; neun
+andere Offiziere fielen, darunter etliche der tapfersten, die England
+aufzuweisen hatte, außerdem gab es an Toten fünfundsechzig Gemeine,
+und fünfundachtzig Verwundete.<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span> Über tausend Araber bedeckten das
+Schlachtfeld. Unter Sir Charles Wilson, dem nach Stewarts Verwundung
+der Oberbefehl zufiel, erreichte die britische Abteilung den Nil,
+wo Gordons Dampfer der Befreier mit der frappanten Meldung harrten:
+»Alles wohl in Khartum; wir können uns noch jahrelang halten! — C.
+G. G. 29. Dez. 84.« Hart auf die Siegesbotschaft von Abu Klea trug
+der Telegraph diese Kunde nach England, und alle Welt jubelte, daß
+die Hilfe doch nicht zu spät gekommen sei, daß der tapfere Held sich
+gehalten habe, und daß seine eigenen Dampfer in wenigen Tagen die
+englischen Landsleute ihm zuführen würden. Daß Gordons Meldung darauf
+abgesehen war, den Feind zu täuschen, daß sie das gerade Gegenteil
+von dem bedeuteten, was ihr Wortlaut besagte, das mutmaßte man vor
+übergroßer Freude nicht.</p>
+
+<p>Und doch war es so! Schon am 14. Dezember hatte ein Geheimbote die
+(ebenfalls für den Feind bestimmte) Nachricht gebracht: »Alles
+wohl in Khartum.« Aber eben derselbe Bote brachte dem britischen
+Oberbefehlshaber eine Privatmeldung ganz anderer Art:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wir sind auf drei Seiten belagert — bei Omderman, Halfaja und Hoggi
+Ali droht Angriff. Kampf ununterbrochen Tag und Nacht. Der Feind
+kann uns nur aushungern. Haltet eure Truppen zusammen, der Feind ist
+zahlreich. Bringt möglichst viel Truppen. Noch halten wir Omderman
+und die Verschanzung gegenüber.</p>
+
+<p>Der Mahdi hat Erdwälle in Schußweite von Omderman aufwerfen lassen;
+er selbst aber bleibt außerhalb der Schußweite.</p>
+
+<p>Vor ungefähr vier Wochen haben des Mahdi Truppen Omderman angegriffen
+und einen Dampfer außer stand gesetzt. Wir haben dafür eine der
+feindlichen Kanonen demontiert.</p>
+
+<p>Drei Tage später haben sie uns wieder auf der Südseite angegriffen;
+wir haben sie zurückgeworfen.</p>
+
+<p>Saleh Bey und Slaten Bey sind gefangen in des Mahdi Lager.</p>
+
+<p>Unsere Truppen hier leiden Mangel. Was noch an Proviant da ist, ist
+wenig; etwas Korn und Zwieback.</p>
+
+<p>Kommt sobald wie möglich; am besten über Metammeh oder Berber. Rückt
+auf diesen beiden Linien vor. Versichert euch der Stadt Berber, ehe
+ihr vorrückt. Hütet euch, den Feind euch im Rücken zu lassen, und
+wenn ihr Berber habt, dann laßt mich's wissen.</p>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>Haltet den Feind möglichst in Unwissenheit über eure Bewegungen.</p>
+
+<p>In Khartum giebt's weder Butter noch Datteln und sehr wenig Fleisch,
+alle Lebensmittel sehr teuer.«</p>
+</div>
+
+<p>Das klang anders, als »wir können noch jahrelang aushalten!«
+Aber diese Meldung wurde nicht nach England telegraphiert;
+oder, wahrscheinlich richtiger, man hielt für gut, sie in den
+Regierungsbureaus zurückzuhalten. Wie ein Donnerschlag aus klarem
+Himmel fiel daher am 5. Februar 1885 die Botschaft ins Land: Khartum
+ist gefallen!</p>
+
+<p>Sir Charles Wilson war in guter Zuversicht mit zwei von Gordons
+eigenen Dampfern von Metammeh abgefahren. Er erreichte das Ziel am 28.
+Januar, zwei Tage zu spät; des Mahdi Geschütze begrüßten ihn bei der
+Ankunft, er konnte sich nur wieder zurückziehen — am 26. war Khartum
+gefallen!</p>
+
+
+<h3>7. Getreu bis in den Tod.</h3>
+
+<p>Wer vermag es, die letzten drei Monate in ihrem ganzen Ernst sich
+zu vergegenwärtigen, der nicht selbst als Augenzeuge mit in der
+eingeschlossenen Stadt war! Das Bild wird sich erst dann völlig
+entrollen, die Schlußszene von Gordons Leben wird erst dann mit voller
+Klarheit beleuchtet sein, wenn die Bücher aufgethan werden, in denen
+aller Menschen Thun verzeichnet steht. Einigermaßen aber sind wir,
+weil im Besitz seiner Aufzeichnungen, dennoch wie Augenzeugen.</p>
+
+<p>Kehren wir zu der Zeit zurück, da er mit einem Heldensinn und einer
+Großmut, die ihresgleichen sucht, die Gefährten ziehen ließ, um, wenn
+möglich, ihr Leben zu retten und allein, der einzige seines Volkes, in
+der unseligen Stadt zurückzubleiben. Wie oft hatte Gordon es früher
+ausgesprochen, daß er bereit wäre, sein Leben hinzugeben für seine
+»armen Schafe«, die Schwarzen im Sudan. Es war nicht bloße Redensart.
+Er hat es gethan, sofern ein Mensch für andere sich opfern kann. Es
+liegt ein merkwürdiger Brief von ihm vor, den er an die Freunde in
+Jaffa richtete, als Khartum ernstlich bedroht war und er nicht wußte,<span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span>
+wie bald die Übermacht von außen, oder der Verrat von innen die Stadt
+dem Feind überliefern würde.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Es ist eine Lage, in des man seine Hoffnung nur noch auf Gott setzen
+kann,« schreibt er. »Zwar sollte dies uns genügen, aber wer nicht
+selbst in der Lage war, kann kaum verstehen was es heißt: ›Wir wissen
+nicht, was wir thun sollen, unsere Augen sehen nach dir‹ (2 Chron.
+20, 12). Der Aufruhr an sich wäre nichts, wenn wir nur ordentliche
+Truppen hätten, aber die haben wir nicht, und ich muß mich daher ganz
+auf Gott verlassen. Es klingt sonderbar, so zu schreiben, als ob Er
+nicht genug wäre! Es ist meine Menschennatur, die so schwach ist,
+daß der Mangel mich — zwar nicht immer, aber manchmal — bedrückt.
+Was für veränderliche Geschöpfe sind wir doch und voll Widerspruch;
+halb Fleisch, halb Geist. Und doch arbeitet Gott an uns und will uns
+zu Bausteinen machen für seinen Tempel. Ich kann Ihnen nicht sagen,
+wie ich zwischen zwei Seiten hin und herschwanke. ›Ist meine Hand
+verkürzt?‹ heißt's auf der einen, und ›schlechterdings kein Ausweg
+aus dieser Lage!‹ auf der andern. Es ist ein fortwährender Kampf.
+Ich werde Ruhe finden im Grab. Denkt nicht, daß ich Euer vergesse;
+denn als Hiob für seine Freunde bat, da wandte der Herr sein
+Gefängnis (Hiob 42, 10). Lassen Sie Ihre Kinder für mich beten, denn
+bei Menschen ist keine Hilfe. Wie wunderbar ist das Zurichten der
+Bausteine, und wie ungern lassen wir uns behauen! Aber dennoch habe
+ich es gewagt, vor Ihn zu treten, und habe es von Ihm begehrt, die
+Sünden dieser auf mich zu legen, in Christo. Gott mit Euch. Habt Dank
+für Eure Fürbitte.«</p>
+</div>
+
+<p>Von allem, was wir über Gordon wissen — und wie reich sind die
+Zeugnisse — ist dieser Brief wohl das Wunderbarste, etwas, das uns
+tief ins Herz greift. Wie treu ist der Mann, der sein Leben einsetzt,
+der mit der ganzen Bürde eines hilflosen Volkes auf seinen Schultern,
+mit der Bitte vor seinen Herrn tritt, ihre Sünden auf ihn zu legen!
+Wenn es wahr ist, daß er schließlich durch Verrat fiel, so fehlt nur,
+daß er hinzugesetzt hätte: <em class="gesperrt">sie wissen nicht, was sie thun</em>!</p>
+
+<p>Noch hatte er das Volk auf seiner Seite, das in ihm seine Schutzmauer
+erblickte; aber der Hunger kam, und der Zweifel that sein Werk, wie
+aus seinen Worten hervorgeht: »die Leute<span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span> mußten uns für Lügner
+halten.« Die Engländer kommen, war lange der Trost; aber sie verzogen
+und kamen nicht. Und dem Volk sank der Mut.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Während ihr eßt und trinkt und sicher in euren Betten schlaft,«
+schreibt er, »wache ich mit meinen Leuten Tag und Nacht, ob es uns
+gelingen möchte, uns gegen den falschen Propheten zu halten.«</p>
+</div>
+
+<p>Und wenn selbst seine Leute schliefen, so wachte er. In der Mitte der
+Stadt hatte er sich einen Turm errichtet, von dem er das Land weithin
+übersah. Wenn der Tag graute und andere wachen konnten, dann ruhte
+er. Den Tag über kämpfte er den Kampf mit dem Nahrungsmangel und dem
+Kleinmut in der Stadt; und wenn die Nacht sich senkte, bestieg er
+seinen Turm und hielt die Wache, allein unter dem Sternenhimmel mit
+seinem Gott um den Sieg ringend, die Hilfe erflehend, die versagt
+schien. Wer kann es ermessen, wie die Heldenseele in mancher langen
+Nacht im Kampf für »dies Volk« sich erschöpfte und immer wieder zum
+Anlauf bereit stand, wie oft auch ein neuer Tag heraufstieg und keine
+Rettung brachte!</p>
+
+<p>Nichts tritt in den Tagebüchern klarer zu Tag, als daß Gordon, so
+völlig er auch das Ende in eine höhere Hand legte, alles that, was
+in seiner Macht stand, daß er die ihm anvertraute Stadt Schritt
+um Schritt verteidigte. Nichts unterließ er, was er thun konnte;
+sein Auge war überall, und sein heroischer Mut war sozusagen
+täglich neu. Es war eine Zähigkeit in der Natur dieses Mannes, die
+um so erstaunlicher ist, als er's nicht genug betonen kann, daß
+Menschenhilfe kein nütze ist. Bis auf den letzten Blutstropfen ringt
+er um das Geschick der Stadt, und doch geht sein Glaube von dem
+Gedanken aus, daß eben dieses Geschick vorherbestimmt ist. Für den
+einsichtsvollen Leser liegt hier durchaus kein Widerspruch vor. Er
+erkennt es als seine Pflicht zu ringen, bis das ihm noch verborgene
+Geschick sich erfüllt. Oder um abermals an sein Wort zu erinnern:
+»<em class="gesperrt">Wenn das Buch der Dinge, die sich ereignen sollen, einmal
+aufgeschlagen ist, dann ist Ergebung für uns das Richtige; vorher
+ist es etwas anderes. Und es kann<span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span> niemand sagen, daß ich bei diesem
+Glauben die Hände in den Schoß gelegt habe.</em>«</p>
+
+<p>Seine Ergebung in den Willen Gottes, wenn die Ereignisse einmal
+erfüllt sind, hindert ihn z. B. auch durchaus nicht daran, in seinen
+Aufzeichnungen der englischen Regierung ihren Anteil an der Schuld
+recht gründlich unter die Augen zu halten.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wenn ich nicht dächte, daß alles vorherbestimmt und zwar zum besten
+bestimmt ist, so könnte ich ganze Oktavbände voll Zorn loslassen, so
+oft ich auf dieses Thema komme. Ich sehe gar nicht ein, warum ich die
+Stadt auf halbe Rationen setzen soll, nur um die Belagerung um so
+viel zu verlängern; wenn ich es thäte, so hätten wir eine Katastrophe
+noch vor der Zeit, wo eine solche bei ganzen Rationen zu erwarten
+ist. Ich wäre ja ein Engel (unnötig zu bemerken, daß ich das nicht
+bin), wenn ich nicht bitterbös auf unsere Regierung zu sprechen
+wäre. Ich will suchen mich über diese Sudan-Wirtschaft und all diese
+unentschlossene Politik zu beruhigen; aber wenn mir meine schönen
+schwarzen Soldaten draufgehen, so möchte ich doch den sehen, der beim
+Gedanken an unsere Machthaber den hellen Zorn unterdrücken könnte!«</p>
+</div>
+
+<p>Der gutmütige Ausfall auf seine Schaf-Soldaten thut seiner Gesinnung
+in diesem Stücke jedenfalls keinen Eintrag. Die Politik der Engländer,
+sagte er, lasse sich kurz dahin zusammenfassen: sie weigerten sich,
+den Ägyptern in der Sudan-Frage zu helfen, sie verboten den Ägyptern,
+sich selbst zu helfen, und sie wollten nichts davon hören, daß
+andere ihnen helfen. Er bestritt keineswegs das Recht der englischen
+Regierung nach ihrer Einsicht zu handeln, das aber warf er ihr vor,
+daß sie selber nicht wußte, was sie wollte, als es an der Zeit war, ja
+oder nein zu sagen. Hören wir ihn in seinem Oktober-Tagebuch:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Was der gegenwärtige Hilfszug an Menschenleben und Geldopfern kosten
+kann, ist nicht zu ermessen und wird vollständig zwecklos sein; die
+Unschlüssigkeit unserer Regierung ist an allem schuld. Hätte man von
+Anfang an gesagt: ›Es geht uns nichts an und wir regen keinen Finger,
+wenn die Besatzungen im Sudan umkommen‹, hätte man nichts gethan um
+Tokar zu entsetzen, hätte man mir nichts von Entsatz telegraphiert
+(s. Telegramm vom 5. Mai, Suakim, und vom 29. April, Massaua), statt
+dessen vielmehr die drei Worte:<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> <em class="gesperrt">Hilf dir selber!</em> dann könnte
+kein Mensch sich beschweren. (Gordon fügt in Parenthese bei, daß,
+während einerseits Baring im Namen der Regierung telegraphierte,
+daß britische Truppen zum Entsatz Berbers <em class="gesperrt">nicht</em> bewilligt
+würden, der englische General Graham andererseits Befehl erhielt,
+den Osman Digna anzugreifen.) Aber die Regierung wollte das nicht
+sagen, daß sie die Besatzungen im Stich zu lassen gesonnen sei, und
+darum unterblieb das ›Hilf dir selber‹. Das ist's, was uns die Hände
+gebunden hat. Hätte ich die Flucht ergriffen, so wäre ich selbst
+unserer Regierung gegenüber ein Deserteur gewesen; andererseits
+freilich hat mein Bleiben den gegenwärtigen Hilfszug nötig gemacht.
+Baring meldete mir klar und deutlich den Befehl, nicht ohne spezielle
+Erlaubnis der Regierung an den Äquator zu gehen. (Wenn Gordon sich
+nämlich hatte retten wollen, so wäre das sein Ausweg gewesen.) Ich
+rechte durchaus nicht darüber mit der Regierung, daß sie den Sudan
+hat fahren lassen. Es ist ein erbärmliches Land und nicht wert, daß
+man es halte; aber das sage ich: die Regierung hätte im März den Mut
+haben sollen zu sagen: ›Hilf dir selber!‹ Damals hätte ich es thun
+können; jetzt bin ich Ehren halber an dies Volk gebunden, nachdem
+sechs Monate in unnützem Widerstand hingegangen sind ... Ich sage
+dies, weil niemand die Geld- und Menschenopfer dieses Hilfszugs
+mehr beklagt als ich, und niemand kann die Schwierigkeiten besser
+ermessen als ich; nach allem aber was hinter uns liegt und dank der
+Unschlüssigkeit unserer Regierung haben wir keine andere Wahl. Es
+handelt sich für uns jetzt darum, wie wir mit unserer Ehre und mit
+möglichst geringen Opfern am besten davon kommen. Gebt das Land den
+Türken, das ist die einzige Lösung der Frage. Hoffentlich denkt
+niemand, daß ich aus Eigensinn Schwierigkeiten mache; wollte Gott,
+ich wäre glücklich fort von hier, wo ich seit Februar keine ruhige
+Stunde gehabt habe! ... Bis vor kurzem waren wir völlig im dunkeln,
+ob die Regierung die Besatzungen im Stich lassen will oder nicht.
+Hätte ich meinen Posten verlassen, so hätte man mich als Deserteur
+darum zur Verantwortung ziehen können, weil ich die Dampfer und
+Kriegsvorräte in des Mahdi Hand hätte fallen lassen. Denn wenn ich
+Reißaus nehme, so dauerte es keine fünf Tage und der Mahdi wäre hier
+... Ich wiederhole, die englische Regierung wäre, sofern es mich
+betrifft, aller Verantwortung ledig, hätte man mir nur den Entschluß
+übermittelt: ›Hilf dir selber, wir lassen die Besatzungen im Stich.‹
+Dann hätte ich<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> gewußt, woran ich bin, hätte den Leuten sagen können,
+daß auf Hilfe nicht zu rechnen ist, und hätte keine sechs Wochen
+gebraucht, um den Äquator zu erreichen. Und ich hätte das in Ehren
+thun können; denn sobald es einmal feststand, daß man uns im Stich
+ließ, mußte mein Hierbleiben darauf hinauslaufen, daß ich mit den
+Khartumern eingeschlossen würde, was ihre Lage nicht bessern konnte,
+im Gegenteil den Mahdi nur um so mehr aufbringen mußte.«</p>
+</div>
+
+<p>Wir geben diese Stellen gern ausführlich, weil die Anklage damit am
+besten widerlegt ist, die hin und wieder gegen Gordon laut geworden,
+er habe sich die Folgen seines Bleibens selbst zuzuschreiben.</p>
+
+<p>Weiter sagt er:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Hätte ich einen Versuch gemacht mich zu retten, so hätten die Leute
+hier etwa so geurteilt: ›Sie sind zu uns gekommen, und wir vertrauten
+Ihnen; wären Sie nicht gekommen, so hätte wohl mancher von uns sein
+Heil in der Flucht versucht, so aber verließen wir uns darauf,
+was Sie für uns thun würden. Wir haben seit Monaten Entbehrung
+über Entbehrung gelitten, um die Stadt zu halten. Wären Sie nicht
+gekommen, so hätten wir uns dem Mahdi ergeben; jetzt aber, nach
+unserm langen Widerstand, haben wir keine Barmherzigkeit von ihm zu
+erwarten, und er wird das vergossene Blut bitter an uns rächen. Sie
+haben unser Geld entlehnt und uns versprochen, es solle uns sicher
+wieder gegeben werden; wenn Sie uns verlassen, so ist alles verloren.
+Es ist Ihre Pflicht und Schuldigkeit, bei uns zu verharren und unser
+Los zu teilen. Wenn die englische Regierung uns im Stich läßt, so
+ist das kein Grund, daß Sie uns im Stich lassen, nachdem wir uns
+all die Zeit her an Sie gehalten haben.‹ ›Und darum,‹ fügt Gordon
+mit Nachdruck hinzu, ›<em class="gesperrt">erkläre ich ein für allemal, daß ich den
+Sudan nicht verlasse, bis jeder sich hat retten können, der's nötig
+hat</em>, bis eine Regierung hier aufgerichtet ist, die mich meiner
+Pflicht entbindet. Und wenn jetzt ein Befehl kommt, der mich gehen
+heißt, <em class="gesperrt">so werde ich nicht gehorchen, sondern bleibe hier und falle
+mit der Stadt und teile ihre Not</em>.‹«</p>
+</div>
+
+<p>Er giebt anderswo zu:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich fürchte, ich bin ein allzu selbständiger Offizier, aber so bin
+ich und kann's nicht ändern. Ich habe nicht einmal Verstecken mit
+meinen Vorgesetzten gespielt! Wenn ich die Regierung wäre,<span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span> würde ich
+so einen, wie ich bin, nie anstellen; denn ich bin unverbesserlich.«</p>
+</div>
+
+<p>Aber er sagt auch:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich bin mit dem Auftrag abgesandt worden, den Sudan zu räumen, und
+nicht um Reißaus zu nehmen und die Besatzungen im Stich zu lassen.«</p>
+</div>
+
+<p>Mit andern Worten, zu einem ehrlosen Auftrag hätte er sich nicht
+bereit finden lassen, und nachdem er einmal abgesandt war, will er
+die Hand zu einer Ehrlosigkeit nicht bieten. Sehr richtig macht er
+auch darauf aufmerksam, daß, wenn die Regierung mit ihrer langen
+Saumseligkeit recht hatte, es dann auch recht gewesen wäre, dabei zu
+verharren.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Das ist mir ein Rätsel,« sagt er, »wenn es jetzt wohl gethan ist,
+uns zu Hilfe zu kommen: warum war's nicht recht, das früher zu thun?
+Es ist ganz schön von den Schwierigkeiten der Regierung zu reden,
+aber das läßt sich nicht leicht wegerklären, daß eine stille Hoffnung
+im Hintergrund war, ein Zuhilfekommen könnte durch unsern Fall
+erspart werden! Was mich persönlich angeht, so will ich niemanden
+Vorwürfe machen; aber es ist mir nicht sehr darum zu thun, mit
+Verehrung von Leuten zu reden, seien sie wer sie wollen, die sich
+mit solchen Hintergedanken abgeben können ... Ich weiß in der ganzen
+Weltgeschichte kein Beispiel von ähnlicher Handlungsweise, wenn ich
+nicht etwa auf David mit Uria dem Hethiter Bezug nehmen will, und da
+war eine Eva im Spiel — eine Entschuldigung, die im vorliegenden
+Fall meines Wissens nicht existiert. Ich wiederhole, ich habe nichts
+dagegen einzuwenden, wenn man den Besatzungen nicht helfen will, ich
+verdamme nur die Unschlüssigkeit. Man hatte nicht den Mut ehrlich zu
+sagen: wir lassen euch im Stich; man verhinderte es, daß ich an den
+Äquator ging, mit dem stillen Vorsatz, mir nicht zu Hilfe zu kommen,
+und — soll ich sagen mit der Hoffnung? ... (›März, April u. s. w.
+<em class="gesperrt">sechs Monate</em>! hält er noch immer aus?‹) ja, das ist's, was ich
+der Regierung vorwerfe.«</p>
+</div>
+
+<p>Es ist schwer, den Machthaber in London ein gerechteres Zeugnis über
+ihr Verhalten zum Sudan auszustellen, als Gordon es hier thut, und der
+Leser hat hoffentlich genug Beweise davon in diesem Buch, daß Gordon
+nicht aus persönlichen Rücksichten<span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span> so redet; für sich selbst begehrt
+er nichts; er will heute sein Leben hingeben, wenn es sein muß, aber
+schwarz will er nicht weiß nennen und Unehre nicht für Ehre gelten
+lassen, und er wird nur gegen die bitter, die solches von ihm zu
+erwarten scheinen. Er ist sich selbst treu geblieben, und das kostete
+ihn sein Leben. Daß er nie wieder nach England zurückkehren und keinen
+Heller Entschädigung annehmen werde, spricht er mehr denn einmal in
+seinen Tagebüchern aus. Er hätte diesen Entschluß ohne Zweifel auch
+ausgeführt.</p>
+
+<p>Daß des Mahdi Machtentfaltung auf den Fanatismus des Volks
+zurückzuführen sei, giebt Gordon nicht zu; er sagt vielmehr, seiner
+Erfahrung nach gebe es selbst in jenen fanatischen Ländern heutzutage
+nicht viel reinen Fanatismus mehr. Es handle sich bei den meisten
+Leuten vielmehr lediglich um den irdischen Besitz; es sei eher eine
+Art Kommunismus unter der Flagge der Religion. Und Gordons alter Humor
+macht sich geltend, als er erfährt, daß nicht einmal der Mahdi ein
+ehrlicher Fanatiker, sondern ein »Humbug« sei. Ein aus dem feindlichen
+Lager entronnener Grieche erzählte ihm nämlich, daß der Mahdi Pfeffer
+unter den Fingernägeln habe, damit ihm Thränen zu Gebot stünden, wenn
+er Audienz gebe. Auch begnüge er sich, wo er gesehen werde, mit ein
+paar Körnlein Durra, in den verborgenen Räumen seiner Wohnung aber
+lebe er herrlich und in Freuden und versage sich selbst geistige
+Getränke nicht.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich muß gestehen,« sagt Gordon, »seit ich das weiß, habe ich
+allen Geschmack am Mahdi verloren; bis jetzt konnte man sich doch
+wenigstens damit trösten, daß man es mit einem anständigen Fanatiker
+zu thun habe, der an seine Sendung glaubt. Wenn einer sich aber
+mit Pfeffer unter den Fingernägeln abgiebt, so ist's wirklich eine
+Demütigung, sich ihm ergeben zu sollen! ...«</p>
+</div>
+
+<p>Da übrigens Thränen doch im allgemeinen als ein Beweis der
+Aufrichtigkeit gelten, so setzte Gordon hinzu, das Rezept lasse sich
+vielleicht auch Staatsministern empfehlen.</p>
+
+<p>Unter den Mohammedanern seiner nächsten Umgebung, nämlich seinen
+Dienstboten, machte er ähnliche Entdeckungen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Wenn sie nicht mit Essen beschäftigt sind, dann sind sie am Beten;
+und wenn sie nicht beten, dann schlafen sie oder sind krank. Man
+hat wirklich Mühe, sie in den Zwischenpausen zu kriegen; es ist
+schlechterdings nichts mit ihnen anzufangen, wenn sie auf eine dieser
+vier Festungen sich zurückziehen, essen, beten, schlafen oder krank
+sein, und sie wissen es. Man wäre ja ein Bengel, wenn man sie daraus
+verjagen wollte (was ich übrigens doch manchmal thue). Es gilt einen
+Befehl abzufertigen, man sieht sich nach seinem Diener um, und der
+Mensch hält seine Andacht. Ich muß sagen, es ist ein prächtiges
+Land, um einen Geduld zu lehren! Es ist auch höchst seltsam, aber so
+oft ich Ursache habe aufgebracht zu sein, was wohl täglich mehrmals
+vorkommt, ist die ganze Dienerschaft mit ihren Gebetsverrichtungen
+beschäftigt. Ihre Religion folgt sozusagen der Tonleiter meiner
+Stimmungen. Sowie ich guter Laune bin, sind sie Heiden.«</p>
+</div>
+
+<p>Gordons natürliches hitziges Temperament machte sich bis zuletzt
+geltend; aber seine Zornausbrüche sind von so viel Gutmütigkeit
+erfüllt, daß ihnen der Stachel genommen ist. Wie er selbst einmal
+bemerkte, schienen ihn die Leute gerade dann am liebsten zu haben,
+wenn ihm, wie das Sprichwort sagt, der Gaul durchging. So ereignete
+es sich zwei Monate vor dem Ende, daß eines Abends spät durch drei
+Sklaven die Nachricht nach Omderman gebracht wurde, die Araber
+gedächten am folgenden Morgen einen Angriff zu machen. Es wurde
+nach Khartum gemeldet, aber der Telegraphist meinte, es wäre auch
+am andern Morgen noch Zeit, dem Generalgouverneur die Depesche
+vorzulegen. In der Frühe wurde Gordon durch ein heftiges Schießen bei
+Omderman geweckt, die Araber hatten in der That einen bedeutenden
+Angriff gemacht, und Gordons Dampfer mußten erst noch geheizt werden.
+Es folgten mehrere Stunden, die, wie er sagte, ihn um Jahre älter
+machten — es war das heißeste Gefecht, das die Belagerten bis
+dahin ausgehalten hatten. Als Gordon vernahm, daß der Telegraphist
+eine Hauptschuld trug, dem es oft genug eingeschärft worden war, zu
+jeder Stunde Gordon nötigenfalls zu wecken, bestrafte ihn dieser mit
+ein paar tüchtigen Ohrfeigen, die ihn aber alsbald reuten und ihn
+veranlaßten, dem Geohrfeigten fünf Thaler zu schenken. Er dürfe<span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span> ihn
+totschlagen, erwiderte der Telegraphist, ein schwarzbrauner Jüngling,
+denn er sei ja sein Vater! Ein andermal handelte es sich darum, einen
+neugebauten Dampfer zu taufen. Die Leute wollten ihn »Gordon« nennen,
+was er mit dem Bemerken ablehnte, es sei keine Gefahr vorhanden, daß
+die Stadt ihn je vergessen werde, habe er doch die meisten von ihnen
+auf alle mögliche Weise seinen Zorn schon fühlen lassen; sie sollten
+den Dampfer lieber »Sebehr« heißen!</p>
+
+<p>Daß Gordon durch die ganze schwere Belagerungszeit dem Ausgange
+ruhig entgegen sah, wissen wir; daß es nicht ohne viel innerliches
+Leiden abging, spiegelt sich wieder und wieder in den Tagebüchern ab.
+Merkwürdig ist folgende Stelle:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Oft, seit wir eingeschlossen sind, haben wir die Frage aufgeworfen,
+ob es wirklich unmännlich ist, sich zu fürchten, wie die Welt sagt.
+Ich sage offen, daß ich fortwährend in Furcht schwebe und zwar recht
+gründlich. Ich fürchte die möglichen Folgen der Gefechte. Todesfurcht
+ist's nicht, die habe ich gottlob ja längst überwunden; aber ich
+fürchte Niederlagen und was sie bringen. Man spricht von ruhigen
+Leuten, die sich durch nichts anfechten lassen — es giebt keine, d.
+h. es giebt Leute, die es äußerlich nicht zeigen, was sie innerlich
+fühlen. Daraus folgere ich, daß ein Heerführer nicht in vertrautem
+Umgang mit seinen Offizieren leben soll, denn sie beobachten ihn mit
+Luchsaugen und nichts ist ansteckender als Furcht. Mich hat es schon
+fuchswild gemacht, wenn ich etwa vor Besorgnis nicht essen konnte und
+dann merkte, daß es meinen Tischgenossen ebenso ging.«</p>
+</div>
+
+<p>Wenn Gordon auch nicht Furcht im gewöhnlichen Sinn, so doch Besorgnis
+in reichlichem Maße kannte, so ist's kein Wunder. Er hat es öfters
+ausgesprochen, daß es eine Art Verhängnis in seinem Leben war, in all
+seinen Kriegsunternehmungen es mit mehr oder weniger wertlosen Truppen
+zu thun zu haben. Das Jahr in Khartum setzte auch in dieser Hinsicht
+seinem Leben die Krone auf; und was die Zivilverwaltung betrifft, so
+stand es damit nicht besser. Wenn etwas geschehen sollte, so mußte er
+selbst darnach sehen, und die Last eines jeden Departements lag auf
+seiner Schulter.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Einen jeden Befehl, und wo sich's doch um das Interesse der Leute
+selbst handelt, muß ich zwei-, dreimal wiederholen. Ich kann wahrlich
+sagen, ich bin des Lebens müde; Tag und Nacht, Nacht und Tag ist's
+<em class="gesperrt">eine</em> fortdauernde Plage.«</p>
+</div>
+
+<p>Von den Baschi-Bosuks, die ihm ja von jeher ein Dorn im Auge waren,
+kann er zuletzt nur noch sagen, er werde sie in Watte einwickeln und
+aufheben; all seine übrigen Ägypter, die Offiziere nicht ausgenommen,
+ist er bereit, den heranziehenden Engländern zu schenken in der
+Hoffnung, daß er sie dann nie wieder sehen möchte. Nachdem der
+»Abbas« seine Gefährten davon getragen hatte, war nicht ein Mensch
+in der Stadt, auf den er sich verlassen konnte; er nennt es eine
+peinliche Lage. Der österreichische Konsul Hansal war zwar noch da;
+als Gordon aber hörte, derselbe beabsichtige sich mit seinen sieben
+Frauenspersonen zum Mahdi zu schlagen, hatte er nur die eine Antwort:
+»Ich hoffe, er wird es thun!«</p>
+
+<p>Noch am 3. Dezember entwirft Gordon ein Programm, wie zu helfen
+sei, und wenn auch von zweifelhafter Moral, so wäre es doch für die
+Engländer der kürzeste Weg aus der Patsche:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Die britische Entsatz-Expedition kommt, um britische Unterthanen aus
+der Not zu retten, <em class="gesperrt">lediglich aus diesem Grunde</em>; man findet,
+daß einer dieser Unterthanen hier Befehlshaber ist; man rettet ihn,
+und ehe er sich retten läßt, setzt er, an der Genehmigung des Khedive
+nicht zweifelnd, Sebehr als seinen Nachfolger ein, dem es zufällig
+verstattet worden war, sich als Privatmann in Familienangelegenheiten
+nach Khartum zu begeben. Wer kann da der britischen Regierung einen
+Vorwurf machen — kein Mensch. Sie hat den Sebehr nicht eingesetzt,
+und des Thewfik Regierung geht sie nichts an; man ist nur gekommen,
+um die eigenen Unterthanen zu retten, und Gordon ist der Mann, der
+die Ernennung Sebehrs zu verantworten hat! Nicht einmal Thewfik
+hat eine Verantwortung in der Sache, denn Gordon hat es auf seine
+eigene Verantwortung hin gethan! Ist das nicht ein prächtiger Plan?
+Denn erstens reinigt er die britische Regierung von aller Schuld,
+zweitens legt er mir die Schuld auf, und in dem Wetter, das über
+mich ergehen wird, werde ich so gründlich übergossen werden, daß
+man — ich will nicht schimpfen, noch die Monate zählen — sagen<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span>
+wir, daß man den bisherigen Verzug dabei ganz übersehen wird. Ja man
+wird am Ende gar die Regierung noch tadeln, einem solchen Subjekt
+von britischem Unterthan überhaupt zu Hilfe gekommen zu sein. Das
+Ministerium kann sich dann ins Fäustchen lachen, und die Fabel bleibt
+aufrecht erhalten, daß der Sudan oder Ägypten uns nichts angeht.
+Der Gegenpartei wird's der reine Verdruß sein, wenn die Regierung
+auf eine so anständige Weise aus ihrer Patsche kommt, während
+die Gesellschaft zur Unterdrückung des Sklavenhandels und alle
+Tugendhelden in Europa die Schalen ihres Zorns über mich ausgießen.
+Und ich entgehe auf diese Weise allen Ehren und Belohnungen, denn man
+wird höhern Orts nur zu gern die Gelegenheit ergreifen und sagen:
+›Nach solch niederträchtiger Handlungsweise kann man den Mann ja
+nimmer anstellen,‹ als ob sie nicht wüßten, daß er »Belohnungen«
+so wie so nicht annähme! Es kann mir überhaupt gleichgültig sein,
+was über mich gesagt wird, denn da ich nicht wieder nach England
+zurückkehren will, so kann viel in die Zeitungen geschrieben werden,
+was ich nicht sehe. Es ist in jeder Hinsicht ein vorzügliches
+Programm!«</p>
+</div>
+
+<p>Und weiter meint er, er wisse wohl, was über ihn gesagt werden würde,
+jedenfalls <em class="gesperrt">einen</em> wisse er, der ausrufen werde:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Mein lieber Gordon, wie kann man so handeln — <em class="gesperrt">wären</em> Sie doch
+lieber gestorben, ehe Sie sich so weit vom Pfad der Rechtlichkeit
+verirrten!«</p>
+</div>
+
+<p>»Vergnügte Weihnachten!« setzte er trocken hinzu.</p>
+
+<p>Am Tag, da er dies schreibt, berichtet er von drei Schlachten, während
+die Stadt fortwährend beschossen wird; und abends nach sieben fingen
+die Araber noch einmal an, weil die Zinkenisten in der Stadt das
+›Salaam Effendina‹ (das ägyptische ›Heil unserm Fürsten, Heil!‹)
+aufspielten. Am 5. Dezember beschließt er einen Ausfall, um dem Fort
+Omderman zu Hilfe zu kommen, das in bedrohter Lage war.</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich habe nun fast alle Hoffnung aufgegeben, die Stadt zu retten,«
+sagte er, »dieser Ausfall ist ein letzter Versuch, um die Verbindung
+mit Fort Omderman wieder herzustellen.« Am folgenden Tage schrieb
+er: »Ich habe den Gedanken aufgegeben, eine Landung bei Omderman
+zu bewerkstelligen, wir haben keine Möglichkeit es zu thun.« Am
+7. Dezember: »Heute der zweihundertundsiebzigste<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span> Tag unseres
+Eingeschlossenseins. Die Araber haben von ihren Kanonen bei Guba acht
+Bomben abgeschossen, eine fiel in der Nähe des Palastes, richtete
+aber keinen Schaden an.«</p>
+</div>
+
+<p>Daß Gordon am zweihundertundsiebzigsten Tag seiner hoffnungslosen
+Verteidigung der Stadt nicht leichten Herzens sein konnte, bedarf
+gewiß nicht des Nachweises; dennoch kann er seine Belagerungsnotizen
+an jenem Tag mit dem Satz unterbrechen:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Mein Truthahn hat eines seiner Weiber umgebracht, Grund unbekannt;
+wahrscheinlich geheime Korrespondenz mit dem Mahdi, oder sonst eine
+Haremstreulosigkeit.«</p>
+</div>
+
+<p>Es war Gordons Art und Weise, einen unliebsamen Gegenstand mit einem
+Gewaltsprung zu verlassen, als ob er einen Scherz machen müßte, um der
+Sorge Herr zu werden. Gold aber wird durchs Feuer bewährt; auch Gordon
+mußte hindurch. Was mag er innerlich gelitten haben im Blick auf die
+ihn umgebende Not einerseits, in Gedanken an seine Landsleute und ihr
+Verhalten andererseits! »<em class="gesperrt">Der Allmächtige hilft mir durch!</em>«
+schreibt Gordon. Hätte dies tapfere Herz nur gewußt, wie England, ja,
+wie die ganze weite Welt in jenen Tagen um ihn sorgte — aber es war
+ihm versagt. Er stand im Feuer in großer Einsamkeit, der Allmächtige
+allein war bei ihm.</p>
+
+<p>Die Belagerung stand nun im zehnten Monat, und nicht nur sah man
+der Erschöpfung der Lebensmittel entgegen, sondern, was fast noch
+schlimmer war, auch der Schießbedarf ging auf die Neige. Zwar wurde
+unter Gordons Aufsicht Pulver bereitet und sein Arsenal lieferte
+täglich mehrere tausend Patronen — der Verbrauch aber war zu groß. Am
+11. Dezember bringt sein Tagebuch die Notiz:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Ich habe der ganzen Besatzung Extralöhnung für einen Monat gegeben,
+nachdem sie bereits solche für drei Monate erhalten hat; ja ich würde
+nicht zögern, ihnen zwei Millionen Mark zu bewilligen, wenn ich
+dächte, es hielte die Stadt.«</p>
+</div>
+
+<p>Das sind inhaltsschwere Worte, nur noch mit Geld oder
+Geldversprechungen war seine Mannschaft bei der Fahne zu halten!</p>
+
+<p>Am 14. Dezember schließen die Tagebücher folgendermaßen — es ist
+Gordons letzte Botschaft an seine Landsleute:</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span></p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Die Araber haben heute früh zwei Bomben auf den Palast abgefeuert.
+Vorrat: 546 Ardeb Durra und 83525 Oke Zwieback! Halb elf Uhr — die
+Dampfer sind bei Omderman mit den Arabern im Gefecht, und ich sitze
+auf Kohlen. Halb zwölf Uhr — die Dampfer sind zurück; den Bordeen
+traf eine Bombe in die Batterie; nur ein Mann der Unsrigen verwundet.
+Morgen soll der Bordeen mit diesem Tagebuch abgehen. Hätte <em class="gesperrt">ich</em>
+zweihundert Mann vom Entsatzzug zu befehligen, mehr sind nicht nötig,
+so würde ich gerade unterhalb Halfaja die Araber angreifen und dann
+nach Khartum vorrücken. Ich würde mich dann mit dem Nord-Fort in
+Verbindung setzen und weiteres Handeln von den Umständen bestimmen
+lassen. <em class="gesperrt">Das merkt euch</em>, wenn der Entsatz, und ich verlange
+nicht mehr als zweihundert Mann, nicht in zehn Tagen hier ist, kann
+<em class="gesperrt">die Stadt fallen</em>; und ich habe gethan, was ich konnte, für die
+Ehre unseres Landes. Lebt wohl.</p>
+
+<p>
+C. G. Gordon.«<br>
+</p>
+</div>
+
+<p>Er hat die Stadt nicht zehn, sondern noch dreimal zehn Tage gehalten;
+aber was nach dem 14. Dezember geschehen, wird schwerlich je in
+völlig authentischer Weise bekannt werden. Ohne Zweifel hat er bis
+zum letzten Tag seine Notizen niedergeschrieben, aber sein siebentes
+Tagebuch ist entweder in die Hand des Mahdi geraten oder in der
+allgemeinen Zerstörung zu Grunde gegangen.</p>
+
+<p>Gordon wußte wohl, daß die Besatzung zum äußersten gebracht war.
+Allerlei Anzettelungen in der Stadt und geheime Unterhandlungen mit
+dem Mahdi nahmen überhand. Es ist bemerkenswert, daß Gordon, selbst
+eine redliche Seele wie wenige, sein Leben lang immer wieder die
+Erfahrung machen mußte, daß andere ihn im Stich ließen oder gar
+mit Treubruch ihm begegneten. Es bringt ihn zu dem Geständnis, daß
+der Mensch von Natur ein trügerisches Geschöpf sei. Psalm 116, 11
+lautet in der englischen Übersetzung: ›Ich sprach in meiner Eile
+(Übereilung): alle Menschen sind Lügner‹; das hätte der Psalmist auch
+mit Bedacht sagen können, schrieb Gordon im September 1884. Ob die
+Stadt durch direkten Verrat fiel, wie man in der ersten Zeit nach
+der Katastrophe allgemein annahm, ist nicht klar erwiesen, so viel
+nur ist gewiß, daß die ausgehungerte Besatzung zur Übergabe bereit
+war, daß Gordon also allein stand in der großen<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span> Not. Der Mahdi war
+durch Überläufer aufs genaueste von allem unterrichtet, und es war
+seine Absicht, die Stadt zuletzt ohne Schwertstreich durch Hunger zu
+bezwingen.</p>
+
+<p>Gordons Tagebuch unterm 14. Dezember enthielt die letzte bestimmte
+Nachricht über Khartum. Die Lage der Stadt war schon damals eine
+äußerst kritische, »sie kann in zehn Tagen fallen,« schrieb er. Den
+noch vorhandenen Mundvorrat giebt er an jenem Tage auf 83525 Oke
+Zwieback und 546 Ardeb Durra an. Nach seinen fast wöchentlichen
+Angaben der Vorräte läßt sich berechnen, daß bei Einschränkung der
+Durra-Rationen die Verabreichung des Zwiebacks an die Truppen bis zum
+14. Dezember nicht geschmälert worden war, und daß der an diesem Tag
+erwähnte Vorrat allein durch den Bedarf der Truppen in etwa achtzehn
+Tagen erschöpft sein würde. Aber schon am 22. November hatte Gordon
+den Armen der Stadt 9600 Pfund Zwieback verabreichen müssen. Er
+bemerkte dabei: »Ich bin entschlossen, daß wenn die Stadt fällt, der
+Mahdi blitzwenig hier zu essen finden soll.« Es unterliegt kaum einem
+Zweifel, daß es von da ab nötig war, den ärmeren Einwohnern Rationen
+zu bewilligen, und selbst bei größter Sparsamkeit mußte der Vorrat mit
+dem 1. Januar 1885 so ziemlich auf der Neige sein.</p>
+
+<p>Man versetze sich in die Lage der von allen Seiten eingeschlossenen
+Stadt an jenem 14. Dezember, dem 277sten Tag ihrer Not! Es war
+fast auf die Stunde zu berechnen, wie lang die letzten ärmlichen
+Nahrungsmittel noch ausreichen konnten, schon jetzt ist Hunger die
+tägliche Losung, Entkräftung der Mannschaft und drohender Verrat
+sein Gefolge. Keine Nachricht vom Entsatzheer, wie ängstlich man
+desselben auch harrt, und täglich schwächer wird die Hoffnung, daß es
+rechtzeitig eintreffe, täglich geringer wird der Mut der Mannschaft
+und täglich giebt's Überläufer zum Feind.</p>
+
+<p>In all dieser Not, wie ein Fels in der Brandung, steht <em class="gesperrt">ein</em>
+Mann, äußerlich wohl auch geschwächt, aber innerlich mit stets
+wachsendem Mut, mit seinem alten Gottvertrauen, seinem kindlichen
+Glauben, die <em class="gesperrt">eine</em> Zuversicht des erliegenden Volks —
+<em class="gesperrt">ein</em> Mann voll unbesiegbarer Widerstandskraft, allezeit
+wachsam,<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span> allezeit erfinderisch, voll Hingabe seiner selbst, voll
+Mitleid für ›dies Volk‹. »Ich halte aus,« kann er sagen, »aber die
+Haare sind mir grau geworden vor übergroßer Sorge und Anstrengung.«
+Wie nah ist die Hilfe — er weiß es nicht. Bis fast zuletzt konnte er
+sich retten — er thut es nicht. Er steht auf seinem Posten, getreu
+bis in den Tod.</p>
+
+<p>Etwa am 6. Januar erließ Gordon eine Verkündigung, in welcher er es
+den Einwohnern freistellte, zum Mahdi zu gehen. Dieser Erlaubnis wurde
+massenhaft Folge geleistet. Der hochherzige Gordon schrieb selbst an
+den Mahdi und forderte ihn auf, diesen armen Moslem Schutz und Nahrung
+zu gewähren, wie er selbst es seit neun Monaten gethan habe. Es ist
+berechnet worden, daß von den im September gezählten 34000 Einwohnern
+nur etwa 14000 zurückblieben. Den sinkenden Mut der Besatzung suchte
+Gordon durch tägliche Ansprachen zu beleben, er verwies immer wieder
+auf den nahenden Entsatzzug, er lobte seine Truppen, daß sie bisher
+ausgehalten, und selbst diese armen Menschen mußten sich an seinem
+eigenen unerschütterlichen Entschluß aufrichten, die Stadt nicht zu
+übergeben.</p>
+
+<p>Am 13. Januar fiel Fort Omderman, ein schwerer Schlag für die
+eingeschlossene Besatzung, die ihres Außenwerks auf der Westseite
+des Weißen Nils damit verlustig ging; auch konnten die Araber durch
+Errichten von Batterien den Weißen Nil jetzt gänzlich für Gordons
+Dampfer schließen, während ihre eigene Position durch die gewonnene
+Flußverbindung zwischen dem Dorf und Lager Omderman ungleich verstärkt
+war. Am 18. Januar, nachdem die feindlichen Außenwerke bist fast an
+die Stadt vorgeschoben waren, machten die Belagerten einen Ausfall
+und ein verzweifelter Kampf fand statt. Von der Besatzung fielen etwa
+zweihundert, und obgleich des Mahdi Verluste beträchtlich gewesen
+sein sollen, so ist doch nicht ersichtlich, daß ein Vorteil für die
+Belagerten errungen wurde. Nach der Rückkehr der Besatzung in die
+Stadt hielt Gordon eine Anrede an die erschöpfte Mannschaft. Er lobte
+ihren tapfern Widerstand und redete ihnen eindringlich zu, den Mut
+nicht fallen zu lassen, Hilfe sei nahe, die Engländer könnten täglich
+kommen und dann sei alles gut! Wie erschöpft mag er selbst gewesen<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span>
+sein, der große Held, von dem gesagt wurde, daß er um diese Zeit nie
+mehr schlief!</p>
+
+<p>Die Zustände innerhalb Khartums waren verzweifelte; alle Esel, Hunde,
+Katzen, Ratten waren aufgezehrt, eine kleine Quantität Gummi wurde
+täglich an die Truppen verabreicht, und aus der zerriebenen Holzfaser
+einer Palmenart wurde Brot bereitet. Gordon berief die namhaftesten
+Einwohner mehrmals zum Kriegsrat und ordnete an, daß die Stadt aufs
+gründlichste nach Nahrung durchsucht wurde; das Ergebnis war aber ein
+geringes, nur vier Ardeb Durra in der ganzen Stadt, und diese wurden
+für die Truppen beschlagnahmt.</p>
+
+<p>Mittlerweile gelangte die Nachricht von der Niederlage der Kerntruppen
+des Mahdi bei Abu Klea ins feindliche Lager und rief Bestürzung und
+Zorn unter den Arabern hervor; auch ist gesagt worden, daß bei dieser
+Gelegenheit Unzufriedenheit mit des Mahdi Regiment laut geworden sei.
+Die Rebellen verlangten stürmisch einen Angriff auf die Stadt. Das
+war am 20. Januar. Am 22. folgte die weitere Nachricht, daß die von
+Abu Klea vordringenden Engländer den Nil bei Metammeh erreicht hätten
+(wo Gordons Dampfer auf sie warteten), man schloß hieraus, daß dieser
+Ort in ihren Händen sei, daß somit nichts am Vorrücken sie hindere,
+und dies bestimmte den Mahdi zu einem sofortigen Angriff, ehe die
+englische Hilfe Khartum erreichen könne. In Khartum selbst war ein
+unklares Gerücht von der Schlacht bei Abu Klea und der Ankunft der
+Engländer bei Metammeh laut geworden. Wie nah war die Erlösung, der
+Lohn für alle Treue, die ruhmvolle Rechtfertigung des ausharrenden
+Heldenmuts!</p>
+
+<p>Es sollte anders kommen. Gordons schwarze Truppen standen unter dem
+Befehl von Farragh Pascha, einem freigelassenen Sklaven, der seine
+Erhebung Gordon verdankte, und dieser ist's, den die Anklage traf, die
+Stadt durch Verrat dem Mahdi überliefert zu haben. Wohl möglich, daß
+es sich so verhält, nachgewiesen ist es nicht; nur so viel ist gewiß,
+daß der Mahdi mit ihm unterhandelte, ihm Bedingungen zur Übergabe
+machte. Es ist bekannt geworden, daß Gordon am 23. einen stürmischen
+Auftritt mit Farragh Pascha hatte; ein den Fall Khartums überlebender
+Augenzeuge<span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span> erklärte als die Ursache desselben, daß Gordon ein Fort
+am Weißen Nil, das unter Farraghs Befehl stand, ungenügend besetzt
+gefunden habe. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Farragh bei dieser
+Gelegenheit einen Vorschlag fallen ließ, die Stadt zu übergeben.
+Gordon soll ihm mit einer Ohrfeige geantwortet und Farragh den Palast
+in hohem Zorn verlassen haben.</p>
+
+<p>Am folgenden Tag berief Gordon abermals einen Kriegsrat. Höchst
+wahrscheinlich kamen Farraghs Vorschläge bei dieser Gelegenheit
+zur Sprache, und die Meinung, daß die Stadt nicht länger zu halten
+sei, scheint die Oberhand gewonnen zu haben. Gordon aber erklärte,
+<em class="gesperrt">er</em> werde sie halten. Am 25. war Gordon leicht erkrankt, es
+war ein Sonntag, er zeigte sich nicht öffentlich, doch hatte er
+verschiedene Unterredungen mit namhaften Leuten der Stadt. Er war
+sich offenbar über das nahe Ende klar. Es ist gesagt worden, daß er
+gegen Abend an Bord der »Ismailia« nach der Insel Tuti übergefahren
+sei, um eine Mißhelligkeit der dortigen Besatzung beizulegen. Dadurch
+entstand das Gerücht, daß er im letzten Augenblick an Bord seines
+Dampfers entkommen sei. Der Umstand aber, daß beide Dampfer den
+Siegern in die Hände fielen, ja daß die Ismailia vom Mahdi zu seinem
+Einzug in Khartum benutzt wurde, sowie die genaue, von verschiedenen
+Zeugen bekräftigte Nachricht von Gordons Tod machte es unmöglich,
+jenem Gerücht lange Glauben zu schenken, ganz abgesehen davon, daß
+Gordon nicht der Mann war, sich im letzten Augenblick zu retten. »Mit
+Gottes Hilfe gedenke ich nicht lebend in ihre Hand zu fallen, somit
+bleibt nur der Tod,« hatte er einige Wochen zuvor in sein Tagebuch
+geschrieben. Wenn er an jenem Abend nach Tuti überfuhr, dann kehrte er
+zu einer späten Stunde in seinen Palast nach Khartum zurück.</p>
+
+<p>In der Nacht vom 25. auf den 26. Januar verließen viele ausgehungerte
+Soldaten ihre Posten auf den Wällen, um Nahrung in der Stadt zu
+suchen, während andere vom langen Fasten zu schwach waren, für sie
+einzutreten. Es wurde dies in der Stadt bekannt, und eine Anzahl der
+erschreckten Einwohner bewaffnete sich und ihre Sklaven, um auf den
+Wällen Dienst zu thun. Dies war nichts ungewöhnliches, nur daß in
+dieser Nacht mehr Freiwillige<span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span> als zuvor sich einfanden. So nahte der
+verhängnisvolle 26. Vor Tagesgrauen geschah der feindliche Überfall.
+Das Bourré-Thor am äußersten Ostende der Verteidigungslinie am Blauen
+Nil und das Mesalamieh-Thor auf der Westseite gegen den Weißen
+Nil waren die Hauptpunkte des Angriffs. An jenem Posten hielt die
+Besatzung stand, am Mesalamieh-Thor hingegen gelang es den Arabern
+in die Festungswerke einzudringen. Ob Verrat in dieser Stunde im
+Werk war, ist nur zu mutmaßen, sicher ist, daß es der ausgehungerten
+Mannschaft an aller Widerstandskraft gebrach. Die Feinde füllten den
+Graben mit Stroh- und Reisigbündeln u. s. w. und erstiegen den Wall.</p>
+
+<p>Oberst Kitchener vom Entsatzzug, ein durch langen Aufenthalt im Sudan
+mit den Arabern und der arabischen Sprache wohlvertrauter Offizier,
+dessen Zusammenstellung der spärlichen Berichte obiges entnommen ist,
+hält dafür, daß Khartum infolge des plötzlichen Angriffs fiel, als die
+hungernde Besatzung zu erschöpft war, um sich hinreichend zur Wehre
+setzen zu können.</p>
+
+<p>Nachdem die Araber in die Stadt eingedrungen waren, stürmten sie
+tobend und mordend durch die Straßen, jeden niedermachend, der ihnen
+in den Weg kam, was den Schrecken der Überfallenen nur erhöhte und
+den letzten Versuch Widerstand zu leisten lahmte. Als der Morgen
+gespensterbleich am fernen Horizont graute, stand die mordende
+Horde in nächster Nähe des Palastes. Jetzt waren sie siegesgewiß.
+Das gellende Geschrei, mit welchem die Streiter des Halbmonds dies
+bekundeten, weckte Gordon aus dem kurzen Schlaf, den die frühe
+Morgenstunde ihm gebracht hatte. Seit Monaten hatte er sich keine
+Nachtruhe gegönnt, er der Wächter und Hüter der ihm anvertrauten
+Stadt. Welch ein Weckruf! er wird ihm nicht unerwartet gekommen sein.
+Er erhob sich, zum letztenmal nahm er eine Waffe zur Hand, er wußte,
+daß er sie bald niederlegen werde, der lange Kampf war zu Ende. Gordon
+verließ den Regierungspalast mit etlichen seiner Leute und machte den
+Versuch, das Arsenal im katholischen Missionshaus zu erreichen; diesen
+Ort hatte er längst für den letzten Kampf ausersehen und hergerichtet.</p>
+
+<p>Mit großer Ruhe und den Seinen etwas voraus nahte<span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span> Gordon der
+kleinen Kirche. Das kurze Zwielicht der Wüste wich dem aufdämmernden
+Tag, über den hohen Palmen am Blauen Nil erglühte der Osthimmel
+im Morgenrot. Noch hingen die Schatten der verhängnisvollen Nacht
+über der verlorenen Stadt. Verworrenes Geschrei erscholl auf allen
+Seiten von erbarmungslosen Siegern und hilflos Besiegten. Das Schwert
+des Islam war aus der Scheide. Auf dem freien Platz zwischen dem
+Regierungspalast und der kleinen Missionskirche stand Gordon mit
+seiner Schar, als eine Bande von Arabern aus der nächsten Straße
+hereinstürzte. Einen kurzen Augenblick standen beide einander
+gegenüber, dann krachte ein Musketenfeuer, der aufgehende Tag
+erzitterte, und Gordon fiel zum Tod getroffen.</p>
+
+<p>Die Wüste breitete ihr Schweigen über seine sterbliche Hülle, nichts
+weiter hat verlautet. Des Mahdi Horden plünderten und mordeten in
+der Stadt, das Blut der Besiegten floß in Strömen, und als der
+entsetzlichen Arbeit Einhalt geschah, und die Stadt aus hundert Wunden
+blutend, den Blick wieder erhob, war ihr Held, ihr Märtyrer, ja selbst
+sein Leichnam, ihr entrückt.</p>
+
+<p>Die denkwürdige Belagerung von Khartum währte 317 Tage; nie war einer
+erliegenden Besatzung die Hilfe so nahe, und kein Kriegsheld ging je
+in einen schönern Tod.</p>
+
+
+<h3>8. Die Krone der Ehren.</h3>
+
+<p>Gordon wußte, daß er in den Tod ging, er schrieb verschiedene
+Abschiedsbriefe, die ihre Bestimmung erreichten; es sind die Worte
+eines, der das dunkle Thal schon vor sich sieht. Seiner Schwester
+schrieb er:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Gott der Herr regiert, und da Er zu Seiner Ehre und unserem Besten
+regiert, so geschehe Sein Wille. Ich hin ganz zufrieden und kann mit
+Lawrence<a id="FNAnker_16" href="#Fussnote_16" class="fnanchor">[16]</a> sagen, ich habe versucht, meine Pflicht zu<span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span> thun ....
+Wenn Gott es einem Menschen geschenkt hat, viel im Umgang mit Ihm zu
+leben, so kann der Tod für einen solchen nichts Schmerzliches sein;
+ja, was ist der Tod für den gläubigen Christen!«</p>
+</div>
+
+<p>Es steht wohl auf jeder Seite der Lebensgeschichte dieses Mannes
+geschrieben, daß er seinem Gott vertraute — in seltener Weise
+vertraute. Sollte es Leser geben, die fragen, was hat ein Mann wie
+Gordon nun vor anderen voraus, hat er nicht in schmählicher Weise, von
+Freunden verlassen, von Feindeshand fallen müssen, und der Gott, dem
+er vertraute, hat ihm <em class="gesperrt">nicht</em> geholfen? so giebt Gordon selbst
+die Antwort darauf in den tiefrührenden Worten an seine Schwester:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Du darfst nicht vergessen, daß unser Herr niemand versprochen hat,
+ihn das Glück und den Frieden in diesem Leben finden zu lassen.
+Er hat uns im Gegenteil Trübsal verheißen. Wenn es also ein übles
+Ende nimmt nach dem Fleisch, so ist Er dennoch treu. Was Er thut,
+geschieht in Liebe, und Sein Erbarmen ist über mir. Mein Teil ist
+Ergebung in Seinen Willen, wie dunkel derselbe auch sei.«</p>
+</div>
+
+<p>Einem fernerstehenden Freund schrieb er:</p>
+
+<div class="blockquot">
+
+<p>»Alles vorbei. Ich erwarte die Katastrophe innerhalb zehn Tagen. Es
+wäre nicht so gegangen, hätten unsere Leute besser dafür gesorgt, mir
+Nachricht zukommen zu lassen. Lebt alle wohl. — C. G. Gordon.«</p>
+</div>
+
+<p>Dem Sir Charles Wilson, der ihm mit einem Teil der Entsatz-Mannschaft
+die erste Hilfe bringen sollte, schrieb er, er hoffe, daß nach Gottes
+Willen die Engländer rechtzeitig kommen könnten, um ihn und andere
+zu retten, aber er fürchte, sie würden zu spät kommen; er wisse, daß
+Verrat im Anschlag sei, und er könne es nicht hindern. Noch jetzt
+stünde es in seiner Macht sich zu flüchten, aber das wolle er nicht;
+er werde auf seinem Posten bleiben und nicht zuletzt noch davonlaufen.
+Gefangen nehmen lassen werde er sich nicht; also bleibe der Tod.</p>
+
+<p>Und so starb der Held. Die heiße Schlacht war verloren<span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span> er aber war
+dennoch ein Sieger, einer von denen, die gekrönt werden nach dem
+Kampf. Daß die unverwelkliche Krone ihm wurde, wer könnte daran
+zweifeln! Aber auch eine irdische Krone der Ehren ist ihm behalten,
+wie wenigen seines Geschlechts, in der Bewunderung, ja, in der Liebe
+von Tausenden, die um ihn trauern wie um einen nahestehenden Freund.
+Nicht nur England, die weite Welt erkannte den Verlust. Wie mit
+leuchtenden Buchstaben stand es auf einmal vor aller Augen, dieser
+Mann war ein Held in unserm Jahrhundert, wie sonst nur Sage und Sang
+aus längst vergangenen Zeiten uns von Helden berichten, und er ist
+tot! Die Kunde traf England ins Herz. Wer an jenem 5. Februar, der die
+Nachricht brachte — den »schwarzen Donnerstag« hat man ihn seither
+genannt — durch die Straßen von London ging, der konnte auf allen
+Gesichtern lesen, daß Trauer auf das Land gefallen war. Seit der
+indischen Meuterei hat nichts das Land in ähnlicher Weise erschüttert,
+wie der Fall von Khartum. Es war, als handelte es sich für jeden um
+einen persönlichen Verlust. Hoch und nieder, reich und arm hatten nur
+die eine Klage: Gordon ist tot! Kein König ist je so betrauert worden.
+England wußte es jetzt, was es an ihm verlor, und viele Tausende
+schlugen dabei an ihre Brust. Was einer seiner Landsleute aussprach,
+als es sich um ein Gordon-Denkmal handelte, war die Stimmung des
+Volkes seinen Führern gegenüber:</p>
+
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Ein Denkmal unserm Gordon — gut! </div>
+ <div class="verse indent0">So lang im Nil sich spiegelt Nacht und Tag, </div>
+ <div class="verse indent0">Der in Khartum sich färbte rot mit Blut, </div>
+ <div class="verse indent0">Sei nicht vergessen, wie der Held erlag. </div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Ja, richtet ihm ein Denkmal auf, </div>
+ <div class="verse indent0">Und wenn in Marmorstein sein Ruhm erblüht, </div>
+ <div class="verse indent0">Schreibt auch als Denkschrift das Bekenntnis drauf: </div>
+ <div class="verse indent0">»Aus Dankbarkeit das Volk, das ihn verriet!«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+
+<p>Nur erwähnt sei die Thatsache, daß am Abend des Tages, der ganz
+England mit Trauer erfüllte, einer am andern Morgen erschienenen
+Zeitungsnotiz zufolge Gladstone die komische Oper<span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span> mit seiner
+Anwesenheit beehrte! Wie zu erwarten stand, hielt dieser Minister dem
+gefallenen Helden Englands einen glänzenden Nachruf im Parlament;
+als er aber mit einem namhaften Beitrag dem projektierten Denkmal
+beitreten wollte, da lehnten sich Stimmen aus allen Volksklassen
+in der Tagespresse dagegen auf. Was das Denkmal für eine Gestalt
+annehmen solle, ob die eines Spitals in Port Said, oder in England
+— im Gedanken an Gordons »Prinzen« — die eines Rettungshauses
+für verwahrloste Knaben, darüber ist viel verhandelt worden. Ein
+Ehrendenkmal von Stein ist äußerst bezeichnender Weise erst lang
+nachher zu stand gekommen. Gordon braucht keines. Am 10. Mai 1886
+wurde eine Anstalt unter dem Namen »<em class="antiqua">The ›Gordon‹ Boys Home</em>«
+eröffnet, in welcher verwahrloste Jungen im allgemeinen, wenn
+auch nicht ohne Ausnahme für den Soldatenstand erzogen werden.
+Schon im Herbst 1885 wurde ein Anfang dazu gemacht, die nötigen
+Mittel flossen aber nur spärlich. Wäre eine ungenannte Dame nicht
+mit der schönen Summe von hunderttausend Mark zu Hilfe gekommen,
+welche Gabe sie bei der Eröffnung verdoppelt hat, die Anstalt wäre
+vielleicht noch heute nicht eröffnet! Wie Gordons Bruder, Sir
+Henry Gordon, übrigens treffend bemerkt hat, bestehen in England
+bereits gegen fünfhundert derartige Rettungshäuser, und es hätte
+dem bescheidenen und praktischen Sinn Gordons mehr entsprochen, die
+Zinsen des eingegangenen Kapitals in unmittelbarer Weise für arme
+Kinder zu verwenden, wenn man sie in bereits bestehenden Anstalten
+untergebracht, oder sonst für ihr Fortkommen gesorgt hätte, wie Gordon
+selbst in Gravesend gethan, als eine neue Anstalt zu errichten,
+deren bloße Gründung die gezeichneten Mittel verschlingen mußte.
+— Vom englischen Parlament sind auf Wunsch der Königin Viktoria
+vierhunderttausend Mark bewilligt worden, die Gordons verwitweten
+Schwestern und Schwägerinnen, nach deren Tod aber seinen zahlreichen
+Nichten und Neffen zu gut kommen sollen. Für diese Bestimmung diente
+sein vor der Abreise nach Khartum verfaßtes Testament als Richtschnur.
+Nicht als ob <em class="gesperrt">er</em> viel zu hinterlassen gehabt hätte, nur den Wert
+seines Offizierspatents, etwa zwölftausend Mark. Er konnte ja nie
+Geld in der Hand behalten, so<span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span> lang es Hilfsbedürftige gab, und wenn
+er gerade bei Kasse war, so war eine ›milde Gabe‹ von zwei oder mehr
+tausend Mark nichts ungewöhnliches bei ihm.</p>
+
+<p>Die Lebensgeschichte eines solchen Mannes ist ein Saatkorn im Acker
+der Zeit; es wird aufgehen und Frucht bringen, und von Gordon gilt das
+Wort: er redet noch, wiewohl er gestorben ist. Die Schönheit eines
+solchen Lebens wird von allen anerkannt, selbst von denen, die am
+wenigsten die Kraft besitzen, das darin gegebene Vorbild nachzuahmen.
+Viele aber werden sich daran aufrichten und suchen, an ihrem Teil
+etwas von der Kraft zu gewinnen, die Gordon stark machte. Im Kampf
+stehen wir alle. Helden im großen Sinn können nicht alle sein; aber
+die Selbstaufopferung, die Demut, die kerngesunde Aufrichtigkeit
+des Mannes können auch andere erreichen. Das Wunderbare bei Gordon
+war, daß der natürliche Mannesmut seines Wesens mit der christlichen
+Demut eins wurde und ihn zum idealen Menschen gestaltete. Es ist ein
+Beweis, daß das Christentum die natürliche Eigenart des Menschen
+nicht vernichtet, sondern sie veredelt und zu ihrer schönsten Blüte
+bringt. Und bei Gordon hat sich dies so völlig bewährt, daß ihm nicht
+leicht ein ebenbürtiger Charakter an die Seite zu stellen ist. Wir
+blicken auf und nieder in der Geschichte der Völker, wo finden wir
+einen, in dem jede Gestalt der Selbstsucht so völlig unterdrückt war,
+der in all seinem Denken und Thun nur um andere sorgte? wo einen,
+der es sich so ernstlich angelegen sein ließ, sein Leben nach dem
+Willen Gottes in der Nachfolge Christi zu gestalten? wo einen, der den
+seltenen Mut in solchem Maße besaß, sich um Menschenurteil nicht zu
+kümmern, wo es mit der Stimme des Gewissens oder dem Wort der Schrift
+im Widerspruch steht? Reichtum, Ehre, die Würde hoher Stellung,
+alles galt ihm nichts, oder doch nur so viel als er glaubte, dadurch
+Gelegenheit zu finden, Gutes zu vollbringen. Von dem Verlangen, sich
+einen guten Namen zu machen, das sonst auch vortrefflichen Menschen
+selbst dann noch anhängt, wenn gröbere Gebrechen überwunden sind, war
+er völlig frei. Sein einziger Ehrgeiz, wenn man es so nennen kann,
+war der Wunsch, seinem Gott zu dienen und seinen Mitmenschen Gutes
+zu thun. Und<span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span> wie viel ließe sich von seinen anderen Eigenschaften
+sagen, seinem unerschöpflichen Humor, seinem frischen Sinn, seiner
+unendlichen Thatkraft, seinen Mut, seiner Tapferkeit, seiner
+Menschenfreundlichkeit, seiner hochherzigen Treue! Ja, es ließe sich
+das ganze Register menschlicher Tugenden aufzählen, und man hätte nur
+wenige Gebrechen seines Wesens dagegen zu stellen, obschon er selbst
+der erste war, sich mit Paulus unter den Sündern den vornehmsten zu
+nennen.</p>
+
+<p>Es war nicht möglich, die Lebensgeschichte dieses Mannes zu schreiben,
+ohne hervorzuheben, welch rückhaltlose Bewunderung er verdient.
+Gordon selbst sagte einmal, und gewiß mit voller Aufrichtigkeit:
+Lieber tot sein, als gelobt werden! Die edelsten Handlungen seines
+Lebens hat er so angesehen, als ob sie sich von selbst verstünden;
+sie waren auch nichts anderes, als die natürliche Frucht seines vom
+Christentum durchdrungenen Wesens, und in diesem Sinn allerdings
+selbstverständlich. Es ist gesagt worden, daß Gordon ein idealer
+Mensch gewesen sei, der nicht recht ins neunzehnte Jahrhundert paßte;
+wenn dem so wäre, dann müßte man das Jahrhundert bedauern und die
+Menschen, die darin leben. So viel ist sicher, Gordon war einer von
+den wenigen, die den Mut haben, ihr Ideal in allen Dingen, in jeder
+Lage zur Geltung zu bringen, d. h. so zu leben, wie er es mit seinem
+innersten und besten Wesen als gut erkannte. Gäbe es doch viele
+Idealisten in diesem Sinn!</p>
+
+<p>Es gehört mit zu den Rätseln des Lebens, warum Menschen wie Gordon
+oft in der Fülle ihrer Kraft abgerufen werden. Er war fast auf den
+Tag zweiundfünfzig Jahre alt; wie viel hätte er noch hier thun können
+beides zur Ehre Gottes und zum Besten seiner Mitmenschen! Aber, wie
+Staupitz einst zu Luther sagte, es braucht der Herr auch in der andern
+Welt tüchtige Leute, und wenn Er hier Arbeit für solche hat, nicht
+minder dort. Der Himmel ist nicht nur ein Land der Harfen und Kronen
+und des Ruhens von allem Jammer der Zeitlichkeit; wohl das, aber
+er ist auch ein Land des völligeren Gottdienens, wo es, um mit den
+Worten des Gleichnisses zu reden, Städte zu verwalten giebt, was diese
+nun sein mögen. Und als Gordon aus dem Kampf<span class="pagenum" id="Seite_304">[S. 304]</span> seines Lebens in die
+Wohnungen des Friedens einging, wird er wohl die Stimme seines Herrn
+vernommen haben, die zu ihm sagte:</p>
+
+<p>»<b>Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu
+gewesen, ich will dich über viel setzen. Gehe ein zu deines Herrn
+Freude.</b>«</p><br>
+
+<figure class="figcenter illowe18" id="p304_deco">
+ <img class="w100" src="images/p304_deco.jpg" alt="" title="deko">
+</figure>
+
+
+<div class="footnotes"><h3>Fußnoten:</h3>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_1" href="#FNAnker_1" class="label">[1]</a> englische Meilen = 45 Kilometer.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_2" href="#FNAnker_2" class="label">[2]</a> Die Sohnestreue des Mannes giebt sich öfter kund. Ein
+Missionar, der ihn im Sudan kennen lernte, sagt unter anderem: »Es ist
+seine Art, rasch von einem Gegenstande zum andern überzugehen. Mitten
+im Gespräch unterbrach er mich z. B. mit der Frage: Haben Sie an Ihre
+Mutter geschrieben? Und auf meine bejahende Antwort fuhr er fort: Das
+ist recht; lassen Sie nur immer Ihre Mutter wissen, wie's Ihnen geht.
+Wie lieb hat meine Mutter mich gehabt!«</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_3" href="#FNAnker_3" class="label">[3]</a> Schon vor Sebastopol hatte Gordon hievon einen Beweis
+gegeben. Er kam einmal dazu, wie ein Korporal seine Leute zum
+Aufwerfen einer Schanze mitten in den Kugelregen schickte, während
+er selbst gedeckt stand. Gordon sprang ohne ein Wort zu sagen hinzu
+und legte mit den Soldaten selbst Hand an. »Man muß die Leute nie
+etwas thun heißen, wovor man sich selbst scheut,« belehrte er nach
+vollbrachter Arbeit den Korporal.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_4" href="#FNAnker_4" class="label">[4]</a> »<em class="antiqua">Soldier of fortune</em>« sagte die Times — »Held von
+Gottes Gnaden« wäre richtiger.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_5" href="#FNAnker_5" class="label">[5]</a> Von Heinrich <em class="antiqua">IV.</em> zur Belohnung für ausgezeichnete
+Kriegsdienste gestiftet und so benannt, weil die Ritter als Sinnbild
+ihrer geistigen Reinigung vor der Aufnahme ein Bad nehmen mußten.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_6" href="#FNAnker_6" class="label">[6]</a> »Die ihn angeschmiert haben,« sagte ein Armer, »haben's
+selber am meisten bereut, wenn sie merkten wie gut er war; und erst
+recht leid mußte es ihnen thun, als sie hörten, er sei tot!«</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_7" href="#FNAnker_7" class="label">[7]</a> Obschon ein Kriegsheld wie wenige, so war er's doch
+keineswegs aus Liebe zum Krieg. Er selbst sagt: »Die Leute irren sich,
+wenn sie meinen, ein Krieg sei etwas Glorreiches. Es ist nichts anders
+als organisierter Totschlag, Plünderung, Grausamkeit. Und es sind
+nicht die Soldaten, auf die die schlimmste Last fällt, sondern Frauen
+und Kinder und alte Leute. Man mag's betrachten wie man will, so ist
+der Krieg ein rohes, grausames Handwerk.«</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_8" href="#FNAnker_8" class="label">[8]</a> Diese etwas eigentümliche Begrüßungsformel beschreibt
+der englische Afrikareisende Petherick folgendermaßen: »Der Häuptling
+ergriff meine rechte Hand und spuckte herzhaft hinein; dann blickte
+er mir ernsthaft ins Gesicht und wiederholte die Zeremonie mit aller
+Umständlichkeit. Im ersten Augenblicke stand ich verblüfft, dann
+erfaßte mich ein wütendes Verlangen, den Menschen durchzuprügeln; er
+guckte mich aber so leutselig an, daß ich statt der ihm zugedachten
+Züchtigung mich damit begnügte, ihm seinen Gruß mit gleicher Münze
+heimzugeben, und zwar mit reichlichen Zinsen. Da überkam ihn eine
+gewaltige Freude: ich müsse ein großer Häuptling sein! sagte er zu
+seinem Hofstaat.«</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_9" href="#FNAnker_9" class="label">[9]</a> Sir Samuel Baker erzählt in seinem Buch »Ismailia«, daß
+der Thron der Könige von Unyoro aus einem sehr kleinen und alten, aus
+Holz und Kupfer verfertigten Stuhl besteht, der seit Generationen
+von König auf König übergeht und als ein Talisman gilt. Gelänge es
+einem Feind, des Stuhles habhaft zu werden, so würde der König so
+lange aller Autorität verlustig sein, als der kostbare Sessel nicht
+wieder zurückerobert würde. Der König und sein Sitz sind deshalb fast
+unzertrennlich; wo er hingeht nimmt er ihn mit.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_10" href="#FNAnker_10" class="label">[10]</a> Als Streiflicht hierzu dient folgendes: Gordon schreibt
+auf dem Weg nach Kairo anläßlich der von ihm nicht gebilligten
+Anstellung eines jener europäischen ›Mitregenten‹: — »Ich habe meinen
+Gehalt von hundertzwanzigtausend Mark auf die Hälfte herabgesetzt;
+ich habe genug mit sechzigtausend Mark, und die andern sechzigtausend
+können dem Land das wieder ersetzen, was diese Anstellung kostet. Aber
+ich fürchte, ich thue dies mehr aus Zorn als in Liebe ... Je älter man
+wird, um so besser lernt man so an seinen Nebenmenschen handeln, als
+wären sie leblose Gegenstände, d. h. für sie thun was man kann, ohne
+sich im geringsten darum zu kümmern, ob sie es einem Dank wissen oder
+nicht. So handelt Gott gegen uns. Er läßt regnen über Gerechte und
+Ungerechte. Dank findet er selten; im Gegenteil, er wird selbst meist
+vergessen.«</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_11" href="#FNAnker_11" class="label">[11]</a> Der ungenügende Zustand des Gesetzes ergiebt sich aus
+folgender Mitteilung Gordons: »Ich besitze vier Erlasse, 1. einen
+persönlichen Befehl des Khedive, alle Sklavenhändler mit dem Tod zu
+bestrafen; 2. den Vertrag (zwischen der englischen und ägyptischen
+Regierung, zur Unterdrückung des Sklavenhandels, Alexandrien 4. August
+1877), welcher Sklavenjagd als Raub, beziehentlich als Raubmord
+kennzeichnet; 3. eine gleichzeitige Verordnung des Khedive, welche
+dieses Verbrechen mit Gefängnis von fünf Monaten bis zu fünf Jahren
+bestraft haben will; 4. ein Telegramm des Nubar Pascha folgenden
+Wortlauts: &gt;Der An- und Verkauf von Sklaven in Ägypten ist gesetzlich
+gestattet‹«!</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_12" href="#FNAnker_12" class="label">[12]</a> Mit welcher Klarheit Gordon in die Zukunft sah, ergiebt
+sich aus diesem im April 1879 geschriebenen Satz: »Wenn die Befreiung
+der Sklaven i. J. 1884 im eigentlichen Ägypten stattfindet, und
+die Regierung in ihrem gegenwärtigen System verharrt, dann ist ein
+Aufstand hier (im Sudan) zu erwarten; unsere (die englische) Neuerung
+aber schläft ruhig weiter, bis es zu spät ist, und dann handelt man
+<em class="antiqua">à l'improviste</em>.«</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_13" href="#FNAnker_13" class="label">[13]</a> Die abessinische Kirche erhält seit Jahrhunderten
+ihren Abuna von der koptischen Kirche in Alexandrien; durch die
+Mißhelligkeiten zwischen den Regierungen entbehrte Abessinien zur Zeit
+dieses Würdenträgers und der König hatte niemand, der ihm seine Feinde
+exkommunizierte.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_14" href="#FNAnker_14" class="label">[14]</a> Leider hat in letzter Zeit der Branntweinhandel im
+Basutoland Eingang gefunden mit traurigen Folgen für die Eingebornen.
+Nicht ernstlich genug kann es den europäischen Regierungen, die in
+Afrika Einfluß gewinnen, ans Herz gelegt werden, diesem verderblichen
+Handel möglichst zu steuern. Das ist doch der geringste »Schutz,«
+den die europäischen Machthaber den unwissenden Eingebornen Afrikas
+angedeihen lassen können!</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_15" href="#FNAnker_15" class="label">[15]</a> Gordons Aufzeichnungen, oder richtiger Stewarts Tagebuch
+aus dieser Zeit, das, wie Gordon in seinen »Tagebüchern« bemerkt,
+auch als <em class="gesperrt">sein</em> Tagebuch anzusehen sei, ist, wie späterhin
+ersichtlich, dem Mahdi in die Hände gefallen, weshalb über diese fünf
+Monate nur spärliche Berichte vorliegen.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_16" href="#FNAnker_16" class="label">[16]</a> Sir Henry Lawrence, der in Indien vorzügliche Dienste
+leistete und während der Meuterei bei der Verteidigung von Laknau fiel
+— ein tüchtiger Soldat und demütiger Christ. Er hatte den Wunsch
+geäußert, daß man ihm keine andere Grabschrift setzen möge als: »Hier
+liegt Henry Lawrence, der versucht hat, seine Pflicht zu thun.«</p>
+
+</div>
+</div>
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75673 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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+++ b/LICENSE.txt
@@ -0,0 +1,11 @@
+This book, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
+
+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
+
+No investigation has been made concerning possible copyrights in
+jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize
+this book outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
diff --git a/README.md b/README.md
new file mode 100644
index 0000000..cc04fc6
--- /dev/null
+++ b/README.md
@@ -0,0 +1,2 @@
+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
+book #75673 (https://www.gutenberg.org/ebooks/75673)