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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-03-20 11:21:03 -0700 |
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Folgende Zeichen sind für die +verschiedenen Schriftformen benutzt worden: + + ~gesperrt gedruckter Text~, =antiqua gedruckter Text= + +======================================================================= + + + + + Gordon + + der Held von Khartum. + + + + + Ein Lebensbild. + + [Illustration] + + + + + Neue Volks-Ausgabe. + + Mit Bildnis und Kartenskizze. + + + [Illustration] + + + Calw & Stuttgart. + + Verlag der Vereinsbuchhandlung. + + 1891. + + + + + Druck der Stuttgarter Vereins-Buchdruckerei. + + + + + ~Vorrede~. + + +Nachdem das vorliegende Buch in zwei Auflagen verbreitet worden ist, +tritt es nun in etwas veränderter Gestalt seinen Weg aufs neue an. Zu +Grunde liegen folgende Quellen: + + + 1) ~Die stets siegreiche Armee, eine Geschichte des chinesischen + Feldes unter Oberstlieutenant C. G. Gordon, sowie der Unterdrückung + des Taiping-Aufstandes, von Andrew Wilson.~ + + 2) ~Die Geschichte des »Chinesen-Gordon« von A. Egmont Hake~, + zwei Bände. + + 3) ~Oberstlieutenant Gordon in Zentral-Afrika (1874-1879) von G. + Birkbeck-Hill.~ Letzteres Werk besteht hauptsächlich aus Gordons + Briefen aus der genannten Zeit. + + 4) ~Die Tagebücher von Generalmajor C. G. Gordon zu Khartum, nach + dem Original-Manuskript gedruckt. Mit Einleitung und Noten von A. + Egmont Hake.~ + + 5) ~Betrachtungen in Palästina von Charles George Gordon.~ + + +Außer diesen Hilfsquellen ist eine ganze Reihe kleinerer Bücher +über Gordon, sowie eine nicht geringe Anzahl von Aufsätzen und +Zeitungsartikeln gelesen und zum Teil auch benutzt worden. Der +vorliegenden Auflage sind außerdem nachträglich bekannt gewordene +Charakterzüge und Streiflichter eingefügt worden. Da und dort ist +gekürzt, anderes hingegen ist ergänzt worden, so besonders die +Schlußzeit in Khartum. Es wurde nichts unterlassen, das Lebensbild +des trefflichen Mannes in gegebenen Grenzen zu einem möglichst +vollständigen und abgerundeten zu machen. + +Die neue Auflage tritt ihren Weg zu einer Zeit an, in welcher +das Interesse am dunklen Weltteil reger ist denn je. Auch +~Deutschland~ hat einen Beruf in Afrika. Männer voll Hingabe wie +Gordon, wie Emin Pascha, sind es, die Afrika nötig hat. Emin, der +wie bekannt s. Z. als Gordons Unterstatthalter an den Äquator ging, +schrieb uns unterm 2. April 1890 von Bagamojo: »Daß ~meine~ +Kräfte bis zum Tod der Sache Afrikas und seiner schwarzen Kinder +gewidmet sind, versteht sich von selbst.« Hat Deutschland nicht noch +andere opferwillige Herzen und Hände, die für die große Arbeit der +Befreiung Afrikas mit einzutreten bereit sind? »Komm herüber und hilf +uns!« ist der Schrei des dunklen Weltteils. Hat die Christenheit kein +Ohr? Wann wird es heißen: Die Sklavenketten sind gefallen! Gordon war +wie Livingstone ein Stern am Nachthimmel Afrikas, und von beiden gilt +das Wort. »sie reden noch, wiewohl sie gestorben sind.« Möchte das +Lebensbild des Helden von Khartum laut reden, der darum ein Held war, +weil er ein ganzer Mann und ein ganzer Christ gewesen ist. + + ~London~, im September 1890. + + + + + Erstes Buch. + + Jugendzeit und Krimkrieg. + + +Die Gordons sind von alter schottischer Herkunft: Clan Gordon war seit +unvordenklichen Zeiten ein kriegerisches Hochlandsgeschlecht. Wer +mit schottischer Geschichte, oder auch nur mit Walter Scott bekannt +ist, der weiß, daß ein Clan sozusagen die erweiterte Familie ist; +der alte Stammverband, ob er nun nach Hunderten zählte oder nach +Tausenden, war von den Vätern her gemeinsamen Blutes, und Gordon +hießen im vorliegenden Fall alle vom adeligen Clanshaupt an bis zum +streitbaren Hirten. Im Laufe der Zeit hatte der Stamm übrigens auch +seine Ableger, die als Gordons von so und so je nach dem betreffenden +Wohnsitz sich nannten und sich so vom älteren Zweig unterschieden. +Lord Byron z. B. stammte mütterlicherseits von den Gordons von Gieght. +Unter dem britischen Adel giebt es jetzt noch mehrere Familien, die +dem alten Stamm angehören: die Grafen von Huntley, von Aberdeen u. +a. sind »Gordons«. In den kriegerischen Annalen Schottlands stößt +man allerwärts auf Gordons, und mancher Gordon zog als Glücksritter +in die weite Welt. Wo immer es Schlachten zu schlagen gab, da wurde +der Name bekannt, in Preußen, in Polen, in Schweden, in Rußland, in +Amerika. Vier Gordons fanden Lorbeeren unter Gustav Adolf. In weniger +rühmlicher, wenngleich eingreifender Weise findet sich ein Gordon in +Wallensteins Lager und bei Wallensteins Tod. Peter der Große lernte +einen Gordon in Moskau hoch schätzen, und der eiserne Zar vergoß +Thränen am Sterbebett dieses Fremdlings, der, nebenbei bemerkt, +Tagebücher von historischem Wert hinterlassen hat. In Schottland +selbst ehrte die englische Regierung das alte Geschlecht, indem sie +einem der neuen Regimenter, die aus dem Chaos des Thronfolgekriegs +hervorgingen, die Benennung »Gordon Highlanders« verlieh. + +Im Jakobitischen Aufstand des Jahres 1745 gab es Gordons auf beiden +Seiten. Lord Lewis Gordon und fünf Clanshäupter mit ihren Gordons +kämpften für den Kronprätendenten Prinz Charley (Stuart), während +ihr Verwandter David Gordon für die neue (hannoverische) Linie +stritt. In der Schlacht von Preston Pans wurde dieser David von den +Hochländern (seinen Vettern) gefangen genommen, später aber auf +Ehrenwort freigegeben. Wie er dazu gekommen war, gegen die Tradition +seiner Familie für die neue Königslinie einzutreten, ist jetzt nicht +zu ermitteln, jedenfalls stand er in Gunst beim Herzog von Cumberland +(dem zweiten Sohn des Königs Georg II.), der ihm ein Söhnchen aus der +Taufe gehoben hatte. Nach der Schlacht von Culloden, die der Sache des +Prätendenten den Todesstoß gab, verließ David Gordon mit seinem jungen +Sohn die alte Heimat und suchte Grund und Boden in der neuen Welt. +Sechs Jahre später fand er seinen Tod in Halifax, Neuschottland. Sein +Sohn, des Prinzen Patenkind, war allem nach ein »Häkchen«, das sich +frühzeitig in der angestammten Weise krümmte; denn kaum vierzehnjährig +schlägt sich der Jüngling schon in der britischen Armee. In seinem +vierundzwanzigsten Jahre, als er bereits ein erfahrener Soldat +war, und zuletzt unter General Wolfe bei Quebec mitgekämpft hatte, +kehrte der junge Schotte nach England zurück. In Hexham, Grafschaft +Northumberland, wo er in Quartier lag, fand er in der Schwester des +dortigen Geistlichen die Soldatenbraut, mit der er 1773 in die Ehe +trat. Drei Söhne und vier Töchter entsprangen diesem Bund. Die Söhne +verfolgten wiederum die militärische Laufbahn; der älteste fand +seinen frühen Tod am Kap, der jüngste hingegen, Henry William, ein +Artillerieoffizier, geb. 1786, erreichte ein hohes Alter und erlebte +die erstaunlichen Erfolge der »stets siegreichen Armee« unter seinem +zweitjüngsten Sohn; dieser aber, Charles George Gordon, ist unser Held. + +Henry William Gordon war s. Z. in Woolwich stationiert, und +Charles George wurde als der vierte von fünf Söhnen am 28. Januar +1833 daselbst geboren. Die Mutter stammte zwar nicht aus einer +Soldatenfamilie, Unternehmungsgeist war aber auch mütterlicherseits +ein ererbter Charakterzug. Ihr Vater war Samuel Enderby, ein +angesehener Kaufherr, dessen Walfischfahrer von sich reden machten. +Seine Schiffe befuhren ferne und unbekannte Meere; »Enderbys Land« im +antarktischen Ozean zeugt selbst von geographischer Entdeckung. Dem +unternehmenden Kaufherrn gehörten auch jene beiden von der englischen +Regierung mit Thee verfrachteten Schiffe, die im Jahre 1773 im Hafen +von Boston vor Anker lagen, als die Kolonisten erklärten: »Das Land +muß gerettet werden!« In jener Nacht bemächtigte sich ein Haufe von +Schein-Indianern der beiden Schiffe und leerte mit dem Thee die +aufgezwungene Steuer ins Meer. Das war der Anfang der amerikanischen +Freiheit. + +Gordons Mutter schildern solche, die sie gekannt haben, als eine +tüchtige Frau, die sich selbst in der Gewalt hatte und unter den +schwierigsten Umständen immer ihren Gleichmut bewahrte. Mit wahrhaft +genialem Takt habe sie immer alles zum besten zu wenden verstanden. Im +Krimkrieg waren drei ihrer Söhne und mehrere ihrer nächsten Verwandten +vor Sebastopol; man sah sie aber nie zaghaft, sondern immer nur damit +beschäftigt, ihren Angehörigen zu Hause, wie den fernen Kriegern Gutes +zu thun. Gordons Vater wird als origineller Mann, als tüchtiger Soldat +von festem Charakter und angenehmer Persönlichkeit geschildert. Er +hatte einen unerschöpflichen Humor, und Heiterkeit war sein Element. +Übrigens war das »Gesetzbuch der Ehre« seine Richtschnur für sich und +für andere. Soldat war er mit Leib und Seele, und zwar britischer +Soldat, für ihn das höchste Ideal auf der Erde; es war ihm daher trotz +der glänzenden Erfolge eine Enttäuschung, als sein Sohn späterhin in +fremde, nämlich in chinesische Dienste trat. Ein Gordon, meinte er, +sollte nur seinem eigenen Volk und Glauben dienen. Wer ihn kannte, +schätzte ihn, denn er war freundlich und großmütig in all seinem +Thun und von großer Gerechtigkeitsliebe; fürs übrige hatte er dies +mit seinem Sohn gemein, daß er von Natur eher dazu angethan war zu +befehlen als zu gehorchen. + +Über Gordons Jugend liegt nur wenig vor. Die ersten zehn Jahre seines +Lebens verbrachte er mit seinen Eltern in Dublin, Leith und zuletzt +in Korfu, wo der Vater Festungskommandant war. Obschon wir die +Wahrheit des Dichterworts nicht verkennen, daß der Knabe des Mannes +Vater ist, so trifft dies bei Gordon doch nicht auf den ersten Blick +zu. Er soll als kleines Kind so zart und furchtsam gewesen sein, daß +Kanonenschüsse, ein tagtägliches Ereignis in seines Vaters Beruf, ihn +stets erzittern machten. Sehr bezeichnend ist indessen die Thatsache, +daß der neunjährige Junge, ehe er schwimmen konnte, sich in Korfu +öfter ins tiefe Meer warf mit der festen Zuversicht, seine größeren +Gefährten würden ihn nicht ertrinken lassen. Ein sogenannter »braver« +Junge war er durchaus nicht, vielmehr voller Schelmenstreiche. Sein +Vater wurde nach der Rückkehr von Korfu im königlichen Arsenal zu +Woolwich angestellt. Während der Schulferien geriet einst Charles +Gordon mit einem seiner Brüder auf die undenkbarsten Einfälle. Ihres +Vaters Wohnung lag der des Garnisonskommandanten gegenüber; es war +ein altes Haus und voller Mäuse. Diese wurden fleißig weggefangen und +in des Kommandanten Haus umquartiert. Viele Jahre später schreibt +Gordon (aus dem Sudan 1879) einer seiner Nichten, welche die ersten +zwanzig Jahre ihres Lebens im königlichen Arsenal verlebt hatte: »Es +freut mich zu hören, daß die Rasse der echten Gordons noch nicht +ausgestorben ist. Aber sicherlich hat keines von Euch die Arsenalleute +so umgetrieben wie wir seiner Zeit: sie ließen alles liegen und +stehen, wenn's galt uns zu Willen sein, sie verfertigten uns zum +Beispiel die herrlichsten Spritzen, die nichtsahnende Menschenkinder +bis auf die Haut durchnäßten. Und unsere Armbrüste waren einzig! Ich +weiß noch, wie's einmal an einem Sonntag Nachmittag im Hauptmagazin +siebenundzwanzig Scheiben gab, alle scharf durchschossen -- ein +kleines rundes Loch zur Ventilation -- und der Hauptmann konnte +von Glück sagen, daß wir ihn nicht mit unsern Bolzen an die Wand +nagelten.« Ob nicht solch jugendliche Kraftproben mit ihrem gutmütigen +Humor schon den spätern Mann erkennen lassen? Jedenfalls sieht man den +werdenden Charakter in einem Beispiel von Knabenstolz. Es ereignete +sich einmal, daß er unverdienter Weise von seinen Mitschülern +ausgeschlossen werden sollte, als diese nach London durften, um +»englische Reiter« zu sehen; es ergab sich noch rechtzeitig, daß +der Junge die Strafe nicht verdient hatte, er war aber nicht dazu +zu bewegen, sich dem Klassenvergnügen, auf das er sich vorher doch +so sehr gefreut hatte, anzuschließen. In der Kadettenschule zu +Woolwich soll ein unverständiger Offizier dem Zögling einmal das Wort +hingeworfen haben: »Aus Ihnen wird Ihr Lebtag nichts Rechtes«, was +den jungen Hitzkopf so aufbrachte, daß er sich die Epauletten von +den Schultern riß und sie seinem Vorgesetzten vor die Füße warf. Man +sollte zwar denken, daß solche Insubordination den jungen Menschen +leicht seine Laufbahn hätte kosten können, und Gordon selbst war +im späteren Leben ein viel zu tüchtiger Soldat, als daß er diesen +Jugendstreich gebilligt hätte. Auch ist es nichts weniger als ein +Beweis von Unzulänglichkeit, daß er nach vollbrachter Kadettenzeit +den Royal Engineers einverleibt wurde, einem Regiment, das für seine +Offiziere bekanntlich eine hervorragende technische Ausbildung +voraussetzt. + +Im Juli 1852, also in seinem zwanzigsten Lebensjahre, erhielt er sein +Unterleutnantspatent. Er saß darnach zwei Jahre lang zu Pembroke am +Reißbrett. Dort gab es Pläne auszuarbeiten zur Befestigung des Hafens +(Milford), die seitdem ihre Verwirklichung gefunden haben. Diese +Beschäftigung wurde zuletzt zur ernstlichen Geduldsprobe für den +jungen Mann, dessen Kameraden ostwärts fuhren, gen Sebastopol. Aber +auch für ihn kam die Zeit, und am Neujahrstag 1855 trug das »Goldene +Vließ« ihn in den Hafen von Balaclawa. Er landete mitten im tiefsten +Winter. + +Die Belagerung von Sebastopol dauerte elf Monate, eine schlimme Zeit +für die britische Armee. Die Schlachten von Balaclawa und Inkerman +waren geschlagen (Okt. und Nov. 1854), ein Winter voll namenlosen +Elends folgte darauf. Wie mancher Soldat erfror in den Laufgräben! +Hunger, Kälte, Krankheit waren die Verbündeten des Feindes. Innerhalb +der russischen Festung gab's Nahrungsmittel, warme Kleidung, +Medikamente die Fülle, während die Belagerer draußen das Allernötigste +entbehrten. Dem ausdauernden Mut der hungernden, zerlumpten Soldaten +ist kaum ein ähnliches Beispiel an die Seite zu stellen. Englische +Transportschiffe fuhren zwar mit ihren Ladungen von Zelten, Teppichen +und Proviant aller Art in nächster Nähe von einem Hafen zum andern, +aber den Kapitänen fehlten die richtigen Instruktionen, und die +Offiziere, die's mit ansahen, wußten nicht was die Schiffe enthielten! + +Das war die Zeit, in der der junge Gordon seine Feuertaufe erhielt. +Statt der glorreichen Erfolge sah er wochenlang nur den Jammer des +Kriegs. Als Ingenieur war seine Arbeit in den Laufgräben. Infolge des +Elends war da die Mannszucht nicht selten in Gefahr. Er war vielfach +dem russischen Feuer ausgesetzt, hin und wieder auch dem planlosen +Schießen seiner eigenen Leute. In gewisser Hinsicht war dies ein +Vorbild seiner Laufbahn. Wie oft hat er im Feuer gestanden zwischen +Freund und Feind, und seine wunderbarsten Leistungen waren nicht +selten die, welche er allein vollbrachte, nachdem die Seinen ihn im +Stich gelassen hatten. + +In seinen Briefen aus der Krim beschreibt er seine tägliche Arbeit und +erzählt von gefallenen Kameraden. Schon damals giebt er den ernsten +Sinn und die Ergebung in Gottes Willen zu erkennen, die ihn sein Leben +lang kennzeichneten. Der Lauf der Jahre hat bei ihm nur das vertieft, +was sich schon früh kund gab. Der Tod hatte keine Schrecken für ihn, +jeden Augenblick war er zum Sterben bereit. Wie alle gottvertrauenden +Menschen wußte er, daß der Tod nur dann kommt, wenn die dem Menschen +zugewiesene Lebensarbeit vollbracht ist, und in dieser Zuversicht +verfolgte er furchtlos die Bahn seiner Pflicht. Einmal sauste eine ihm +zugedachte russische Kugel hart an seinem Ohr vorüber; in einem Briefe +an seine Mutter erwähnte er der Sache aber nur mit der soldatischen +Bemerkung: »Die Russen zielen gut; ihre Kugeln sind groß und spitz.« +Einige Tage später fiel sein Hauptmann; er berichtet darüber in die +Heimat: »Es ist mir lieb zu wissen, daß er ein ernstgesinnter Mann +war. Die Bombe platzte über ihm, und ein Splitter traf ihn im Rücken +-- ~durch einen Zufall, wie man's nennt~; er war augenblicklich +tot.« Aus dem Sudan schreibt er zweiundzwanzig Jahre später im Blick +auf die Unterdrückung des Sklavenhandels: »Ich kann's vollbringen +mit Gottes Hilfe und habe die feste Überzeugung, daß er ~mich dazu +bestimmt hat~, denn sehr gegen meinen eigenen Willen bin ich hieher +gekommen ... Ich bin ein Fatalist geworden, wie's die Leute nennen, +das heißt: ich überlasse es dem lieben Gott mir durchzuhelfen.« Ein +andermal schreibt er: »Kein Trost kommt dem gleich, den ein Mensch +hat, der sich allezeit auf Gott verläßt, der glaubt und es nicht nur +mit dem Munde bekennt, sondern auch mit der That, daß ~alle~ +Dinge vorher bestimmt sind. Wer so denkt, der hat den Tod schon +gekostet, und die Widerwärtigkeiten des Lebens fechten ihn nicht mehr +an.« Gordon hat seine Führung als eine im großen wie im kleinen von +Gott vorher bestimmte betrachtet, und das ist der Schlüssel zu seinem +ganzen Leben; dieser Glaube ist es, der ihn zum Helden gemacht hat. Er +that immer das Beste, was in seinen Kräften stand, dem Ausgang aber +sah er ruhig entgegen. »Wenn wir nur immer glauben könnten,« heißt's +in einem anderen Sudan-Brief, »daß alles von Gott bestimmt und zum +besten bestimmt ist, so wären wir mehr denn Überwinder; die Welt läge +zu unseren Füßen ... Unglück, das uns trifft, ist in Wirklichkeit +nie so schlimm als in der Erwartung, und wenn wir nur stillhalten +könnten, so trügen wir's leichter. Ich kann das Dasein Gottes von +seiner Vorherbestimmung und Leitung aller Dinge, der guten wie der +bösen, nicht trennen; das Böse läßt er zu, aber es bleibt unter seiner +Fügung.« + +Nach dem Tod des Zaren, im März 1855, schritt die Belagerung stetig +aber langsam vor. Ende April schreibt Gordon: »Wir schieben unsere +Batterien vor, können aber nicht viel thun, ehe die Franzosen Fort +Malakow eingenommen haben.« Bis Anfang Juni verharrten die Briten +ziemlich unthätig. Gordon hatte nicht viel zu berichten; eine Zeile +aber muß erwähnt werden: »Es ist sehr zu beklagen,« sagt der junge +Leutnant, »daß wir keine rechten Feldprediger haben; ich wüßte auch +nicht einen zu nennen, dem das Wohl der Soldaten wahrhaft am Herzen +läge.« + +Am 6. Juni eröffneten die Engländer das Feuer aus tausend Feldstücken; +aber obschon Gordon schreibt: »Ich glaube nicht, daß sich Sebastopol +noch zehn Tage halten kann,« so hielt die Festung sich doch noch +zehnmal zehn Tage; und während dieser ganzen Zeit war der junge +Ingenieur-Offizier auf seinem Posten in den Gräben. + +Am 8. September erstürmten die Franzosen den Malakow. Die Engländer +pflanzten ihre Fahne auf Fort Redan auf, wurden aber nach einer Stunde +wieder daraus vertrieben. Zum wiederholten Angriff am folgenden Tage +kam es nicht, denn in der Nacht räumten die Russen die Festung. Gordon +schreibt: + + »In der Nacht auf den 9. hörten wir eine furchtbare Explosion, + und als ich um vier Uhr morgens in die Gräben ging, sah ich ein + gewaltiges Schauspiel. Sebastopol war in Flammen, und als die + aufgehende Sonne die Zerstörung beleuchtete, war der Effekt in der + That wunderbar. Die Russen verließen die Stadt; alle Dreidecker + waren in den Grund gebohrt, nur die Dampfschiffe übrig. Viele Tonnen + Pulvers müssen in die Luft gesprengt worden sein. Morgens acht Uhr + erhielt ich Ordre, einen Plan der Festungswerke auszuführen, und + begab mich nach Fort Redan; dort hatte ich einen entsetzlichen + Anblick. Die Gefallenen wurden haufenweise beerdigt, Russen und + Engländer mit einander.« + +Nach dem Fall von Sebastopol war Gordon bis Februar 1856 fast +ausschließlich damit beschäftigt, die vom Brande verschonten +Festungswerke zu demolieren, und mit dieser wenig interessanten, aber +harten Arbeit schließt seine Zeit in der Krim. + +Aus Gordons eigenen Berichten läßt sich wenig oder nichts über seine +persönlichen Leistungen entnehmen; Oberst Chesney dagegen, ein +Offizier, der vielfach Gelegenheit hatte ihn zu beobachten, stellte +ihm nachmals folgendes Zeugnis aus: »In seiner bescheidenen Stellung +als Ingenieur-Leutnant hat er durch seine Tapferkeit und Energie die +Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich gezogen und überdies +eine spezielle strategische Tüchtigkeit an den Tag gelegt, die sich +in den Gräben vor Sebastopol in einer persönlichen Kenntnis der +feindlichen Taktik kundgab, wie kein anderer Offizier sie erlangte. +Wir beauftragten immer ihn damit, ausfindig zu machen, was die Russen +vorhatten!« + +Auch General Jones hob seine Verdienste hervor, aber das war +vorläufig alles, was ihm von englischer Seite an Lorbeeren zu teil +wurde, da im Ingenieur-Korps das Avancement lediglich nach dem +Dienstalter erfolgt. Die Franzosen verliehen ihm das Kreuz der +Ehrenlegion. So jung er war, hatte er doch bereits einen guten Anfang +gemacht »sein Bestes zu thun«. + +Ehe wir die Krim verlassen, mag noch bemerkt werden, daß mit ihm in +den Laufgräben zwei andere junge Offiziere sich auszeichneten, die +berühmt geworden und neben Gordon auch im Sudan auf den Plan gekommen +sind: General Sir Gerald Graham und General Lord Wolseley, beide seine +lebenslänglichen Freunde. + +Im Frieden von Paris verlor Rußland, was es seither durch den Berliner +Kongreß wieder erlangt hat, nämlich einen Streifen Land, dessen Besitz +die Beherrschung der untern Donau bedeutet. Bis 1812 gehörte dieser +Landstrich den Türken. Jetzt sollte die alte Grenze wiederhergestellt +werden. Eine Kommission, bestehend aus englischen, französischen, +russischen und österreichischen Offizieren, wurde damit beauftragt. +Der britische Abgeordnete war Major Stanton, und unter ihm die +Leutnants James und Gordon. Im Sommer 1856 begab sich Gordon deshalb +nach Bessarabien. + +Diese neue Arbeit bot Abwechslung. Zwar waren die Salzsümpfe am +Schwarzen Meer kein angenehmer Aufenthalt und Kischinew, das +Hauptquartier der Grenzkommission, das schmutzigste Nest in +Südrußland. Gordon und James durchritten das Sumpfland fast ein +Jahr lang, heute als Grenzvermesser, die russische Landkarte +untersuchend und nötigenfalls verbessernd, morgen vielleicht nur als +Depeschenkuriere. Gordon fand diese Beschäftigung weit ansprechender +als den Krimkrieg; nichtsdestoweniger war es ihm unwillkommen, daß er +nach vollbrachter Grenzbestimmung zu einem ähnlichen Geschäft an die +asiatische Grenze versetzt wurde. Er hatte Verlangen nach der Heimat +und telegraphierte die Anfrage nach England, ob nicht ein anderer für +ihn eintreten könne. Aber seine Tüchtigkeit war bereits notorisch und +»Leutnant Gordon muß gehen«, lautete die Antwort. + +In Armenien kam er zum erstenmal mit unzivilisierten Völkerschaften +in Berührung und bewies schon damals durch den Takt, mit welchem er +mit den Kurden-Häuptlingen umging, daß er ein besonderes Geschick +hatte, das Vertrauen solcher Stämme zu gewinnen und sie mächtig zu +beeinflussen. Sein Beruf führte ihn nach manchem interessanten Ort des +berühmten Landes. Er besuchte Erzerum, Kars, Eriwan, die Ruinen von +Arni, und bestieg auch den Ararat. In jenen Gegenden gewann er seinen +ersten Einblick in die Art und Weise, wie die Türkei dem Sklavenhandel +Vorschub leistet. Zwanzig Jahre später lernte er die Greuel der +Sklaverei an der Westgrenze der muhammedanischen Welt kennen, und die +schönste Arbeit seines Lebens war die, welche er der Unterdrückung +jenes schändlichen Handels gewidmet hat. + +Nach einem halben Jahr in jenem Land voll reicher Erinnerungen kehrte +er nach Konstantinopel zurück, wo die Grenzkommission tagte, um von +da nach dreijähriger Abwesenheit den Heimweg anzutreten. Im Frühjahr +1858 wurde er abermals nach Armenien geschickt, wo er bis zum Herbst +damit beschäftigt war, die neue Heerstraße zwischen den russischen und +türkischen Grenzländern zu untersuchen. + +Das folgende Jahr verbrachte er auf der englischen Militärstation +Chatham, wo er im April 1859 nach siebenjähriger Dienstzeit zum +Hauptmann avancierte. + + + + + Zweites Buch. + + Gordon in China. + + + 1. Die Taipings. + +Die nächsten mit dem Juli 1860 beginnenden vier Jahre umschließen in +dem Leben Gordons fast märchenhafte Ereignisse. Es ist die Zeit, die +ihm den Ehrennamen »Chinesen-Gordon« brachte. Folgen wir dem Manne in +den fernen Osten. + +In keinem Lande der Welt ist die Gegenwart so mit der Vergangenheit +verwachsen wie in China. Das hohe Alter des chinesischen Reiches +ist ein einzig dastehendes Beispiel in der Weltgeschichte, und +dieselben Grundsätze, die diesen Staat in seiner Jugend regierten, +sind noch jetzt die Haltpunkte des »schwarzhaarigen Volkes«. Um eine +revolutionäre Bewegung der Neuzeit wie den Taiping-Aufstand richtig +zu verstehen, muß man wenigstens einen Blick gethan haben in die +Gedankenwelt der alten chinesischen Weisen. Bei uns wäre es müßig, die +Sachsenkriege eines Karl des Großen oder die italienischen Feldzüge +eines Barbarossa zu betrachten, um beispielshalber die Politik +eines Staatsmannes der Gegenwart ins richtige Licht zu setzen; in +China aber gehören Einst und Jetzt so zusammen, daß Yao und Schün, +die halbmythischen Kaiser, und der große Yü von vier Jahrtausenden +her heute noch das »blumige Land« beeinflussen. Konfucius, der +»thronlose König«, der »Lehrer von zehntausend Geschlechtern«, betont +es wiederholt, er bringe nichts Neues: »Ich selbst bin nicht die +Weisheit«, sagt er, »ich suche sie bei den Alten.« Und was lehrten +oder glaubten nun diese Alten? Wenn man das Schu-King, dieses wohl +4000 Jahre alte »Lehrbuch der Anfänge« fragt, so lautet die Antwort: +das ganze Weltall ruht auf einer göttlichen Harmonie, die im Herzen +des Menschen Widerhall findet. Dieser ~Gedanke des Harmonischen~ +zieht sich durchs Schu-King und alle anderen chinesischen Klassiker +hin. So heißt's vom Kaiser Yao, daß, »nachdem er selbst harmonisch +geworden, er die Unterthanen zum Einklang gebracht habe«, und der +Kaiser Schün ist deshalb gewählt worden, weil er's verstanden hat, +»seinen Vater, seine Mutter, seine Brüder, ja alle dummen und +einfältigen Verwandten zu ~harmonisieren~«. Wenn das Land +zerrüttet ist, so sagt man in China: »die Leute sind nicht harmonisch«. + +In der Vorstellung der Harmonie wurzelt alles in China; es ist der +Tien oder Himmel des Konfucius, das Schang-ti oder Göttliche der +alten Schriften; und da nur der Weise wirkliches Verständnis dafür +hat, so ist es sein heiliges und besonderes Vorrecht, den Himmel der +Erde, die Gottheit den Menschen zu deuten. Er allein weiß, wie die +wahre Harmonie sich in irdischen Dingen kundgiebt, sei's nun zwischen +Herrscher und Unterthanen, zwischen Vater und Sohn oder Gatte und +Gattin, Freund und Freund. Der Weiseste soll Regent sein; er sei an +Gottes Statt der Beherrscher des blumigen Landes, der schwarzhaarigen +Menschen, ja der ganzen Welt. Er ist der Ebenbürtige des Himmels. + +Es ist ersichtlich, daß die chinesische Anschauung der elterlichen +Autorität, wie auch ihre althergebrachte Theorie, nur tüchtige +Menschen zu Amt und Herrschertum zuzulassen, lediglich Bruchteile +jenes Hauptgedankens der Harmonie sind, woraus die weitere Vorstellung +sich ergiebt, daß in allen Verhältnissen des Lebens, in aller +gemeinsamen Thätigkeit, gleichviel welche verschiedenartigen Kräfte in +derselben sich äußern, eine symmetrische Einheit das Endziel ist. Kein +Volk hat umfassendere Begriffe von Organisation und Zentralisation als +die Chinesen; aber die Anschauung ist lediglich die einer organischen +Einheit, in der das Niedere naturgemäß und willig dem Höheren sich +unterordnet, das Gegenteil also einer nur äußeren Einheit durch +Gewalt. Die Chinesen sind daher in Wahrheit ein demokratisches Volk. +Nichts ist irrtümlicher als anzunehmen, daß der Kaiser oder seine +Beamten, sei es theoretisch oder praktisch, eines unumschränkten +Herrschertums sich erfreuen. Konfucius und alle anderen Weisen Chinas +stimmen mit Plato überein, wenn er sagt: »Niemand thut ~gern~ +Böses«. Daraus folgern sie, daß eine gute Regierung beim Volk willigen +Gehorsam erzeuge. »Wer's versteht, mich zu besänftigen, der ist mein +Fürst, wer mich unterdrückt, ist mein Feind, der Verworfene des +Himmels und der Menschen!« + +Über schlechte Regenten ergießt sich der göttliche Zorn und beschließt +ihren Untergang. Nach chinesischer Ansicht ist ein Unglück, welches +das Volk trifft, immer ein Beweis von der Untüchtigkeit oder Bosheit +des Herrschers. Der Himmel zürnt, und das Volk ist in Erwartung, daß +einer aufstehe, um den »Ausrottungsbefehl« zu vollziehen, und zwar +trifft dieser Befehl öfters einen »geringen« Menschen. Es ist daher +erklärlich, daß man sich bei politischen Bewegungen in China immer +auf einen göttlichen Auftrag bezieht, mit dem ein Rückblick auf die +Beispiele der Vergangenheit verbunden ist. + +Ehe wir nun zur Schilderung des Taiping-Aufstands übergehen, haben +wir noch zu beachten, in wie hohen Ehren die Chinesen alles Wissen +halten, ihre Ehrerbietung gegen das Alter, und die Verbreitung der +Bildung in allen Schichten des Volkes. Konfucius drückt die Meinung +des Landes, die heute noch gang und gäbe ist, aus, wenn er sagt: »Die +Alten, die erhabene Tugend im Reich zu verbreiten wünschten, sorgten +zuerst für Ordnung in der eigenen Familie; zu diesem Zweck veredelten +sie vor allen Dingen ihre eigene Person; um sich aber zu veredeln, +suchten sie ihr Herz zu bessern; um das Herz zu bessern, erstrebten +sie Aufrichtigkeit des Denkens; um aber aufrichtig und wahr zu denken, +erweiterten sie ihre Kenntnisse.« In diesem Zusammenhang von Bildung +und der so hochgeschätzten Harmonie wurzelt die Sitte der allgemeinen +Prüfungen in China, welche die besten Examinanden zum Beamtenstand +zulassen und selbst dem ärmsten Bauernsohn den Weg zu den höchsten +Staatswürden offen halten. Unter den zahllosen Millionen des Reiches +sind nur wenige, die nicht lesen und schreiben können; und selbst der +gewöhnliche Chinese nimmt lebhaften Anteil am Regierungswesen. Die +himmlische Regierung, vom Kaiser an durch den ganzen Beamtenstand, +weiß sich daher unter der Aufsicht einer öffentlichen Meinung, die +nicht zu mißachten ist. + +Der Kaiser ist der Stellvertreter des Himmels, aber nicht kraft seines +Amtes, sondern lediglich kraft der Art und Weise, wie er seines Amtes +waltet. »Das Volk ist die Hauptsache«, lehrt die alte chinesische +Weisheit; »darnach kommt der Grund und Boden; der Regent folgt +zuletzt.« Das ganze Regierungsgetriebe ist nicht sowohl das Mittel, um +des Kaisers Willen zur Geltung zu bringen, als eine Organisation, um +die Bedürfnisse des Volkes laut werden zu lassen. Jeder Familie, jedem +Dorf, jedem Distrikt, jeder Provinz in China liegt die Verpflichtung +ob, sich selbst zu »harmonisieren«, und die oberste Instanz, die +kaiserliche Regierung, mischt sich in nichts, wenn sie nicht speziell +von den betreffenden Weisen zur Entscheidung aufgefordert wird. Giebt +es Streitigkeiten, ja selbst Verbrechen in einer Familie, so ist es +Sache des Familienoberhauptes, sie zu richten. Giebt es Händel in +einer Dorfschaft, so haben die Ältesten eine beinahe unbegrenzte +Strafgewalt, und so weiter im Distrikt, in der Provinz. Dies erklärt +auch die chinesische Sitte, die Eltern für die Missethaten der Kinder +zu strafen und die Gesamtheit eines Distrikts für Verbrechen innerhalb +seiner Grenzen verantwortlich zu machen. Die ganze Wirtschaftspolitik +beruht auf einem System gegenseitiger Verantwortlichkeit, was auch +gegenseitige Aufsicht bedingt. Selbst der Kaiser, obgleich nominell +unumschränkter Herrscher, hat einen heilsamen Respekt vor öffentlicher +Censur und eventuellem Volksaufstand. + +Nun geht es aber in China wie anderwärts: die Praxis bleibt oft hinter +der Theorie zurück, und das blumige Land ist keineswegs ein solcher +Musterstaat, wie das Ideal ihn aufstellt. Kommt das aber dem Chinesen +zum Bewußtsein, so ist ihm auch im voraus gewiß, daß die Regierung, +nicht aber das Volk an allen Mißständen schuld ist, und daß es Zeit +ist zur Revolution zu schreiten. So lange Wohlstand herrscht, ist man +zufrieden mit der Dynastie; kommen aber böse Zeiten, dann betraut der +Himmel einen mit dem Ausrottungsbefehl! So ist es von jeher gewesen, +und so war es, als ~Hung Siu-tsiuen~, der Taiping, sich erhob. +Seit den zwanziger Jahren unsres Jahrhunderts machten sich allerlei +Übelstände im Land fühlbar und dazu kamen noch die Verwicklungen mit +Europa, vorab mit England. Namentlich der sog. Opiumkrieg, den England +zu Anfang der vierziger Jahre aus durchaus ungerechtfertigten Ursachen +mit China führte, war von üblen Folgen für dieses Land. Die Macht der +Regierung hatte bislang großenteils auf einem gewissen »Prestige« +beruht. Durch die nötig gewordene Landmiliz lernte nun das Volk seine +Wehrkraft kennen, und wo vorher ein Mandarin mit seinen Bütteln +ausreichte, zogen jetzt bewaffnete Horden durch das Land. Die von +England verlangte Kriegsentschädigung von 84 Mill. Mark brachte eine +finanzielle Krisis. Verheerende Überschwemmungen des Gelben Flusses +und des Jangtsze steigerten das Elend und verringerten die Einkünfte +der Grundsteuer. Um allem Unglück die Krone aufzusetzen, suchte sich +die Regierung damit zu helfen, daß Sträflinge sich mit Geld loskaufen +konnten und die öffentlichen Ämter verkäuflich wurden. Infolge +davon nahmen die Verbrechen überhand, und die zahlreiche Klasse der +»Gebildeten« erachtete sich beeinträchtigt. So kam es, daß der Himmel +voll drohender Wolken hing, als im Jahre 1850 der Kaiser Tao-Kwang +starb und sein junger Sohn Hien-Fong an seiner Statt zu regieren +anfing. + +Da erhob sich ein seltsamer Mensch, der bereits genannte +~Hung Siu-tsiuen~, eine Verkörperung der im Volke gärenden +Umsturzgedanken. + +~Taiping~ bedeutet »großer Friede«, und der ein neues himmlisches +Reich unter dieser Bezeichnung gründen wollte, war ein Dorfschullehrer +der Hakka oder Fremdlinge, eines ziemlich rohen Menschenschlags, der +vor zwei Jahrhunderten in die Provinz Kwang-tung gekommen und von den +Punti (d. h. Einwohnern) immer mit scheelen Augen angesehen worden +war. Seine verachtete Herkunft mochte mit der Grund sein, daß er im +höheren Examen durchfiel. Das machte ihn halb toll; er hatte Anfälle +von Epilepsie mit Zeiten der Verzückung, und in solchen Verzückungen +hatte er Gesichte. Bei alledem war er ein Chinese voll Aberglauben. +Aus seiner Enttäuschung entwickelte sich der Gedanke, warum sollte der +»Ausrottungsbefehl« des Himmels ihm nicht werden, wie schon so manchem +»Geringen« vor ihm? Nach seiner ersten vierzigtägigen Verzückung hatte +er nichts Eiligeres zu thun, als ein Manifest an seine Thorpfosten +zu nageln, betitelt: »Die edeln Grundsätze des himmlischen Königs, +des souveränen Königs Tsiuen.« Er wollte eine neue Religion einführen +und das Kaisertum stürzen. Und das Merkwürdige dabei ist, daß ein +Anflug von Christentum mit unterlief! Die Engländer bekriegten ja die +Regierung, die er haßte; er studierte daher christliche Traktate, +die ihm in die Hände fielen. Hung hatte in seinen Verzückungen alles +Mögliche gesehen und warf nun seine krankhaften Gesichte mit der neuen +Lehre zusammen. Ein alter Mann war ihm erschienen -- das mußte der +Gott der Christen sein; er selbst war in jenen vierzig Tagen im Himmel +gewesen und nannte sich den himmlischen Sohn -- Christus war deshalb +ohne Zweifel der ältere Bruder und er selbst der jüngere. Es ist nicht +zu vergessen, daß die Provinz weit und breit verheert war; Banditen +plünderten und geheime Gesellschaften unterwühlten das Land, all dies +infolge des Opiumkrieges. Das Volk war daher bereit, einen Retter +mit offenen Armen zu empfangen, besonders einen, der sich von der +altehrwürdigen vaterländischen Idee des »Ausrottungsbefehls« getragen +wähnte. Hungs christlicher Firnis über seinem barocken Heidentum hatte +den Reiz der Neuheit. Auch lag in den Ansprüchen des Mannes, sowie +in seinem ganzen Auftreten etwas von der aller Vernunft spottenden +Gewalt und Anziehungskraft, wie sie ungewöhnlichen Menschen eigen ist. +Massenhaft fielen ihm die Leute zu. Daß es mit seinem Christentum +nicht weit her war, ergiebt sich aus der Thatsache, daß er sich bei +erster Gelegenheit bei einem hochgestellten Engländer erkundigte, +ob die Jungfrau Maria nicht eine hübsche Schwester habe, die sich +entschließen könnte, ihn, den himmlischen König, zu heiraten! Aber +mit mehr als gewöhnlicher Klugheit verstand er es, die neue Religion +zu seinen Gunsten auszubeuten. Und das Ergebnis ging in der That +weit über das Glück eines gewöhnlichen Betrügers hinaus. Daß sich +die Hakka um ihn scharten, ist begreiflich, aber auch das übrige +Volk rottete sich um ihn, und bald zählten die Taipings nach vielen +Tausenden. Mit Feuer und Schwert verwüstete er das große Thal des +Jangtsze und näherte sich der Kaiserstadt Peking. Aus seinen Gesichten +wurden himmlische Edikte, die das Los von Millionen entschieden und +selbst europäische Kabinette in Atem erhielten. Es kam so weit, daß +die schwarzhaarige Nation nahe daran war, samt und sonders von der +herrschenden Dynastie abzufallen. Und das war um so leichter möglich, +als ja (seit 1644 schon) diese Dynastie keine einheimische, sondern +eine mandschu-tatarische war und also im Geruch des Fremdländischen +stand. Jahrelang lag das Reich in Trümmern, und dann kam ein Ende +mit Schrecken. Hung Siu-tsiuen selbst beschloß seine Laufbahn als +Selbstmörder bei der Belagerung von Nanking; man fand seinen Leichnam +in der mit Drachen bestickten gelben Atlaskleidung, und ganz China +rief einstimmig: »Es giebt nicht Worte genug, um das Elend zu +beschreiben, das dieser Mensch angerichtet hat; das Maß seiner Bosheit +war voll, und der Zorn beider, der Götter und der Menschen, erhob +sich gegen ihn.« Sechzehn Provinzen und sechshundert Städte hatte er +verwüstet. + +In Nanking, im Schatten des Porzellanturmes, hatte er in königlichem +Glanze gethront. Nur Frauen durften ihn in seinem Schloß bedienen. +Es waren seine zahlreichen Weiber und noch zahlreicheren Kebsweiber. +Seine Verwandten machte er alle zu Wangs, d. h. zu Unterkönigen. Es +gab einen Tschung Wang oder getreuen König, einen Ostkönig und einen +Westkönig, einen Kriegerkönig und einen Geleitskönig, das waren die +fünf ursprünglichen; aber bei den Taipings wurde schließlich jeder +ein Wang, der es verstand, sich geltend zu machen, und es gab ihrer +mit der Zeit über zweitausend. Hung selbst war zwar blutdürstig und +herrschsüchtig, aber ein Feigling; es lag daher immer für ihn die +Gefahr vor, daß ein im Kriegswesen tüchtigerer Wang ihn überflügeln +möchte. So verlor er im Jahre 1856 in purer Selbstverteidigung seine +rechte Hand, den Ostkönig. Der kam eines Tages mit der Erklärung, auch +er sehe Gesichte, und nannte sich den heiligen Geist; überdies brachte +er die fatale Nachricht vom Himmel, Gott Vater sei sehr böse über den +Tien Wang und zwar ganz besonders darüber, daß er seine schwangeren +Weiber mit Füßen trete; er, der heilige Geist, habe daher den Auftrag, +ihn mit vierzig Streichen zu züchtigen. Das war ein bißchen stark und +selbst für einen Taiping zuviel! Es handelte sich schließlich darum, +wer Herr sein sollte, ob der Tien Wang oder der Ostkönig, und obgleich +Hung es für politisch hielt, sich der Prügelstrafe zu unterziehen, +so traf er doch schleunige Maßregeln, sich des Ostkönigs und seiner +Botschaften ein für allemal zu entledigen. Der Nordkönig wurde damit +beauftragt, und die Folge war ein Blutbad. + +Der Bericht eines Engländers, der in jener Zeit Nanking besuchte und +Gelegenheit hatte, das Rebellenvolk zu beobachten, wie es den »großen +Frieden« mit sogenannten Gottesdiensten feierte, dürfte von Interesse +sein. + +»Wir wohnten einer nächtlichen Feier bei; es war ihr Sabbatanfang, +Freitag nachts zwölf Uhr. Die Versammlung fand in des Tschung Wang +Audienzsaal statt. Er selbst saß inmitten seines Gefolges -- Frauen +waren nicht anwesend. Zuerst wurde gesungen; darnach wurde ein +geschriebenes Gebet verlesen und von einem Offizier verbrannt; dann +wurde wieder gesungen, und man ging auseinander. Der Tschung Wang +ließ mich vortreten, ehe er seinen Sitz verließ, und fragte mich, +ob ich ihren Gottesdienst verstünde. Ich entgegnete, daß ich einem +solchen eben zum erstenmal angewohnt hätte. Darauf wollte er wissen, +wie wir es damit hielten. Ich sagte ihm, daß die Christen es sich +angelegen sein ließen, ihren Gottesdienst mit der heiligen Schrift +in Übereinstimmung zu bringen, und daß wir alles, was gegen die +Schrift wäre, verwerfen müßten. Darauf versuchte er mir zu erklären, +daß ihre Verschiedenheit von uns triftige Gründe habe. Der Tien +Wang sei im Himmel gewesen und habe mit Gott Vater selbst verkehrt. +Unsere Offenbarung sei achtzehnhundert Jahre alt; sie aber hätten +eine neue, eine vermehrte Offenbarung, und diese verstatte es ihnen, +ihren Gottesdienst nach einer bis jetzt noch nie dagewesenen Art +einzurichten .... + +»Mit Tagesanbruch setzte sich der Zug in Bewegung nach dem Palast +des Tien Wang. Der Prozession voraus wurden bunte Fahnen getragen +und dann folgte eine Reihe Bewaffneter; darauf kam der Tschung Wang +in einem großen Tragsessel mit gestickten gelben Atlasdecken. Ihm +folgten die Fremdlinge zu Pferd inmitten der berittenen Offiziere. +Unterwegs schlossen sich die anderen Könige an, jeder mit einem +ähnlichen Aufzug. Pauken und Trompeten verursachten einen Höllenlärm, +und neugierige Menschen standen Spalier. Einen »König« zu sehen +mochte nachgerade etwas alltägliches sein, aber über das Gebahren +dieser Menschen konnte sich das Volk offenbar nicht genug wundern +.... Der Palast des Tien Wang ist ein großes Gebäude nach Art der +Konfutsischen Tempel, nur viel umfangreicher. Wir begaben uns zuerst +in eine Nebenhalle, die den Namen »Morgenschloß« führte. Daselbst +wurden wir dem Tsau Wang und seinem Sohn und etlichen andern +vorgestellt. Nachdem man eine Weile geruht und es mit angesehen +hatte, wie zwei Bedienstete ihren Respekt vor den heiligen Räumen in +einem Zwischenakt damit bekundeten, daß sie sich gegenseitig in die +Haare fuhren, gings weiter nach dem Audienzsaal des Tien Wang. Hier +wurde ich seinen beiden Söhnen, zwei Neffen und einem Schwiegersohn +vorgestellt, die mit noch andern, welche ich bereits im Morgenschloß +gesehen, um den Eingang eines Alkovens saßen, über dem die Inschrift +stand: »das erhabene himmlische Thor«. Der Alkoven war tief, und ganz +im Hintergrund desselben zeigte man uns den Sitz des »himmlischen +Königs«, der aber vorläufig leer war .... Er selbst, der Himmlische, +war nicht erschienen; und obgleich nach Beendigung der Feier noch eine +Zeit lang gewartet wurde, erschien er überhaupt nicht. Er mochte sich +eines bessern besonnen haben und es für ersprießlich erachten, sein +Antlitz vor Fremdlingen zu verbergen, auf deren guten Glauben nicht zu +rechnen war; vielleicht hatte der Tschung Wang ihm unsere Ansicht über +unechte Offenbarung berichtet, und er zog es vor, uns vorläufig nur +einen Vorgeschmack seiner Herrlichkeit zu verstatten in der Hoffnung, +unsere Einbildungskraft möchte bei dem leeren Sitze sich die abwesende +Majestät um so erhabener denken .... + +»Im Laufe des Nachmittags ließ der Tschung Wang mich zu einem +Privatgespräch zu sich bitten. Durch eine Reihe von Gemächern führte +man mich in sein Zimmer, wo er in einem luftigen Gewand von weißer +Seide in einem Armsessel lag und sich von einem hübschen Mädchen +fächeln ließ. Um den Kopf hatte er ein rotes Tuch gewunden mit einem +Juwel über der Stirne. Er lud mich zum Sitzen ein und fragte mich +allerlei über Maschinen, Landkarten, Ferngläser u. s. w., indem er +offenbar annahm, daß unser einer über alles Bescheid wisse. Er wurde +ganz vertraulich und war von Stund an bereit, mich jederzeit zu +sehen. Bei nächster Gelegenheit zeigte ich ihm verschiedene Stellen +im Neuen Testament, die mit der Lehre des Tien Wang in unverkennbarem +Widerspruch stehen. Er wies es kurzerhand von sich. Im allgemeinen +sprach er gern davon, daß alle Menschen Brüder wären, doch war leicht +zu sehen, daß seine Religion ihn kalt ließ. Er gab zu, daß die +Offenbarung des Tien Wang nicht mit der Bibel übereinstimme, jene sei +aber neuer und darum glaubwürdiger ....« + +Der Berichterstatter meldet weiter, es sei ihm im Verkehr mit +diesen Leuten einigermaßen verständlich geworden, wie Hungs +»Offenbarungen« von seinen Anhängern aufgefaßt wurden. Ihr Glaube an +den Ausrottungsbefehl schien ihr Gewissen gänzlich abgestumpft zu +haben und ihnen alle nur denkbaren Verbrechen gegen Andersgläubige +zu verstatten. Einen Anhänger der Mandschu-Dynastie zu berauben oder +zu ermorden, war ein gutes Werk. Wo sie hinkamen, führten sie die +jungen Männer der Landbevölkerung gefangen mit sich und machten sie zu +Rekruten, während die vielen hübschen Mädchen und Weiber, die man bei +ihnen sah, den thatsächlichen Beweis lieferten, daß bei den Taipings +»großer Friede« sich recht wohl mit Weiberraub vertrug. + +Übrigens waren die Taipings bei all ihren Verkehrtheiten, um nicht +eine stärkere Bezeichnung zu gebrauchen, doch in einigen Punkten +zu loben. So war z. B. das Opium bei ihnen verpönt, ebenso der +Sklavenhandel. Die Füße der Weiber durften bei ihnen nicht verkrüppelt +werden; die Männer mußten sich das Haupthaar gleichmäßig wachsen +lassen; der rasierte Schädel mit dem Zopf galt ja als Zeichen der +Unterwürfigkeit gegen die Mandschu-Dynastie. Auch rühmten sich die +Anhänger des Ex-Schulmeisters, die allgemeine Bildung zu fördern; +aber damit war es nicht weit her. Das überall zur Schau getragene +Zerrbild des Christentums prägte sich auch dem Unterrichtswesen +auf, das als höchstes Wissen den Satz trieb: »Der himmlische Vater +und der himmlische Bruder (nämlich Hung) sind über alle Pflicht und +Sittlichkeit zu verehren.« Des Tien Wang Erlasse wurden als Lesebücher +benutzt, damit es der Jugend schon geläufig würde, in ihm den +Auserwählten zu erblicken, der zum Friedensherrscher über die ganze +Welt bestimmt sei. + +In gewissen Kreisen Englands hatte sich ein merkwürdiges Vorurteil +zu Gunsten Hungs eingeschlichen. Man fragte sich, ob die Taipings +nicht am Ende doch Schutz verdienten, ob das Rebellentum nicht +möglicherweise der Übergang zur Zivilisation, ja Verchristlichung des +Landes wäre. Erst nachdem einmal britische Niederlassungen gefährdet +waren, wurde man anderer Meinung. + +Die Briten hielten sich mit den Franzosen vorläufig neutral, und die +Feindseligkeiten bis zum Jahr 1860 verblieben lediglich zwischen +den Kaiserlichen und den Rotten des großen Friedens. Es war ein +Bürgerkrieg von staunenswerter, riesiger Ausdehnung. + +Im Jahr 1859 war die Sachlage die: die Mißhelligkeiten zwischen +England und China waren so ziemlich beigelegt, der Friede von Tientsin +war geplant und, von Kanton abgesehen, hatte das britische Militär das +Reich geräumt. Der Aufruhr, der nun in seinem neunten Jahre stand, +schien seine besten Tage gesehen zu haben; die Taipings verloren +einen Ort nach dem andern und wurden wiederholt in der heiligen +Hauptstadt, ihrem Hauptsitze, angegriffen. »Nanking war härter +bedrängt denn je«, sagt der getreue Wang in den vor seiner Hinrichtung +verfaßten Erinnerungen. Hung ließ sich das aber nicht im geringsten +anfechten; mit größtem Gleichmut fuhr er fort, seinen Ministern +himmlische Befehle zu geben und innerhalb der belagerten Stadt auf die +Anzeichen des großen Friedens ringsum hinzuweisen. Der Tschung Wang, +der die Stumpfheit der Majestät offenbar nicht teilte, kann nur sagen: +»Die Zeit zur Ausrottung der himmlischen Dynastie war eben noch nicht +gekommen.« Fürs übrige war der Getreue ein thätiger Krieger, und nicht +weniger als sechsmal brachte er's zu stande, Nanking zu entsetzen. + +Die kaiserliche Regierung aber, anstatt nun alles aufzubieten, das +allmählich verglimmende Feuer des Aufstandes vollends auszutreten, +beging den großen Fehler, sich abermals mit den Engländern zu +überwerfen. Auf dem Wege nach Peking, wo der Friede unterzeichnet +werden sollte, sah sich der britische Gesandte an der Mündung des +Peiho-Flusses plötzlich einer chinesischen Streitmacht gegenüber. +Die Taku-Forts waren in aller Eile repariert worden, und man wollte +die britischen Schiffe nicht durchlassen. Als die Engländer trotzdem +vordrangen, erfolgte eine Salve aus verdeckten Feldstücken, und drei +Kanonenboote wurden in den Grund geschossen. Natürlich brüllte da der +englische Löwe ob dem chinesischen Treubruch und man stand alsbald +wieder auf dem Kriegsfuß. Die erneuten Angriffe der verbündeten +Engländer und Franzosen im folgenden Jahre übten selbstverständlich +ihre Rückwirkung auf den Aufruhr, der aufs neue um sich griff. Ein +ganz direktes Resultat war ein Angriff der Taipings auf Schanghai. +In dieser Stadt aber sind die englischen, resp. europäischen +Handelsinteressen mit den chinesischen verwachsen; daraus ergab sich +die Notwendigkeit englischer Intervention, mit andern Worten ein +direkter englischer Angriff auf die Rebellen. Auch traten britische +Offiziere in kaiserliche Dienste, und so wurde man mit der Zeit der +Taipings Herr. Es liegt hier ein Stück historischen Ausgleichs vor: +wie wir gesehen haben, wurzelte der Aufstand teilweise im englischen +Opiumkrieg, und englische Waffen mußten schließlich dem zerrütteten +Lande wieder zum Frieden verhelfen. + +Eine solche Verwicklung der Dinge ist übrigens wohl nur in China +möglich, daß, während die zornmutigen Verbündeten noch damit +beschäftigt waren, ihre Truppenschiffe von Singapore und Hongkong +herauf zu bringen, um die Kaiserlichen in Peking zu züchtigen, der +General-Gouverneur von Kiangsu in Person in Schanghai eintraf und +die britischen und französischen Behörden daselbst um Hilfe gegen +die Rebellen anging. Unterm 30. Mai 1860 meldet der englische +Bevollmächtigte dem Ministerium Russell: »Ich beschloß im Einvernehmen +mit Mr. Bourboulon, daß es sich sowohl in politischer als humaner +Hinsicht empfiehlt, solchen Greuelscenen hier zuvorzukommen, wie sie +anderwärts stattgefunden haben ... und wir können die Küstenstädte +schützen, ohne anderweitig Partei zu nehmen.« + +Indessen hatten sich die reichen Kaufleute von Schanghai schon unter +der Hand nach Schutz gegen die zu erwartenden Taipings umgesehen. Ein +Amerikaner Namens Ward war erbötig, Truppen zu werben. Es war eine +Belohnung ausgesetzt, das etwa dreißig Kilometer entfernte Sung-Kiang +von den Rebellen zu säubern. Mit einer Bande von Matrosen machte Ward +den Anfang, denen sich zusammengelaufenes Volk aus aller Herren Länder +anschloß; auch Chinesen waren darunter, und dies war der Ursprung +jenes merkwürdigen Söldnerhaufens, der sich in nicht allzuferner Zeit +den Namen der »stets siegreichen Armee« erwarb und dann unter Gordon +dieser Bezeichnung auch alle Ehre machte. Vorläufig nannten sich Wards +Leute nach jener ersten Heldenthat das Sung-Kianger-Corps. + +Die Taipings, mittlerweile nicht müßig, unternahmen große Streifzüge +in diesem Jahr. Wie bereits erwähnt, hatte der ~getreue Wang~ +Nanking zum sechstenmal entsetzt, was ihm übrigens nicht einmal ein +billigendes Wort von Hung eintrug, auch durfte der streitbare Minister +dem Himmlischen nicht vor die Augen kommen. Es ist kaum faßlich, wie +dieser Mensch sich seine Unterkönige botmäßig erhielt; aber die ganze +Bewegung ruhte ja eben auf den ~übermenschlichen~ Ansprüchen des +wahnsinnigen Hung. + +Tschung Wang, der ~Getreue~, und Jing Wang, der Heroische, auch +als vieräugiger Hund bekannt, vertrieben nun die Kaiserlichen aus dem +ganzen Jangtsze-Thal, Schrecken zog vor ihnen her; in einer Stadt +zogen viele Einwohner es vor, ihrem Leben durch Selbstmord ein Ende zu +machen, als es hieß: die Taipings sind wieder da! Ein Distrikt nach +dem andern ergab sich, und »der Getreue« beschloß seinen Siegesmarsch +in Sutschau, der Hauptstadt der Provinz Kiangsu, einer der reichsten +Städte des blumigen Landes, die sich fast widerstandslos ergab. + +»Im Himmel ist das Paradies«, sagt ein chinesisches Sprichwort, +»aber auf Erden sind Su und Hang.« »Um in der Welt glücklich zu +sein«, sagt ein anderes, »muß man in Sutschau geboren sein«; denn +die Menschen dort sind vor allem ihrer Schönheit wegen berühmt -- +nach chinesischen Begriffen vermutlich. Die Stadtmauern maßen 15 +Kilometer im Umkreis und außerhalb derselben erstreckten sich noch +vier ansehnliche Vorstädte. Man schätzte die Einwohnerzahl auf zwei +Millionen. In ganz China stand Sutschau in fabelhaftem Ruf wegen +der Pracht seiner antiken und modernen Marmorbauten, seiner schönen +Grabstätten, seiner Granitbrücken. Herrlich seien dort die Straßen, +die Gärten, die öffentlichen Plätze; verständiger als anderwärts die +Männer und schöner die Frauen. Auch die Handelsprodukte der Stadt +waren berühmt, kostbare Seidenstoffe insbesondere. In dieser Stadt +hielt der Getreue seinen Einzug, während die Kaiserlichen in heller +Flucht sie verließen, und durch die ganze Provinz Kiangsu schien damit +die Herrschaft des großen Friedens gesichert. + +Der Kan Wang oder Schildkönig war zu dieser Zeit Generalissimus; +dieser hatte vier Jahre in Hongkong gelebt und urteilte richtig, +wenn er meinte, daß es den Taipings förderlich sein dürfte, mit den +Ausländern anzuknüpfen. Wichtiger als der Besitz von Su und Hang +erschien es ihm, in der Richtung von Schanghai vorzudringen, um dort +europäische Dampfer zu erlangen, die auf dem Jangtsze dienlich sein +sollten. Er urteilte praktisch, der Schildkönig, denn die Stimmung +unter den Engländern und Amerikanern in den Hafenstädten war selbst +zu dieser Zeit noch eine geteilte. Überdies mochten die Taipings wohl +auf Beihilfe rechnen, denn die Engländer und Franzosen waren schon +unterwegs, um in der Mandschurei ihre Streitkräfte zu vereinigen, +von dort aus den chinesischen Kaiser aus der Ruhe seines Palastes +aufzuschrecken und ihn für den bei den Taku-Forts erlittenen Schimpf +zu züchtigen. In der That war auch etwas wie ein Waffenstillstand +zwischen den Rebellen und den Verbündeten zu stande gekommen, wenn von +einem Waffenstillstande überhaupt da die Rede sein kann, wo aktive +Feindseligkeiten noch nicht ausgebrochen waren. Der englische Admiral +Hope war den Jangtsze hinaufgefahren, welcher Fluß durch den Vertrag +von Peking europäischen Schiffen zugängig war, und hatte unter den +Mauern Nankings mit dem Tien Wang selbst unterhandelt. Das Ergebnis +hievon war, daß die Rebellen sich verbindlich machten, Schanghai +auf Jahresfrist in Frieden zu lassen. Die Verbündeten konnten ruhig +nordwärts ziehen. + +Dies ist der Punkt, an welchem das Leben Gordons in den breiten Strom +der Weltgeschichte einmündet. + +Im Sommer 1860 war er nach China beordert worden und nahm nun teil +an der Operation gegen die Kaiserstadt. Er war dabei, als der +Sommerpalast in Brand gesteckt wurde. Hören wir darüber seine eigenen +Aufzeichnungen: + + »Am elften Oktober erhielten wir Befehl, in möglichster Eile Schanzen + aufzuwerfen und Batterien gegen die Stadt zu richten. Die Chinesen + verweigerten die Übergabe des Thores, und so lang dies der Fall + war, wollten wir nicht mit ihnen unterhandeln. Auch die Gefangenen + sollten ausgeliefert werden. Diese waren sehr mißhandelt worden, + und zwar, wie gesagt wird, im Sommerpalast selbst in Gegenwart des + Kaisers ... Wir waren bereit, die vierzig Fuß hohe Mauer zu stürmen; + die Chinesen hatten Bedenkzeit bis zum 13. mittags. Um halb zwölf + ergaben sie sich, und wir nahmen Besitz von der Stadt. Sie erhielten + weitere Frist bis zum 23., während welcher Zeit sie für jeden ihrer + Mißhandlung erlegenen Engländer 200000 Mk. beibringen mußten, und + 10000 für jeden Eingeborenen. Die Strafgelder wurden auch richtig + gezahlt und der Vertrag gestern unterzeichnet.« + +Dem englischen General, Lord Elgin, blieb nun die Entscheidung, ein +Exempel zu statuieren. Die Stadt in Brand stecken, hätte tausende +von Unschuldigen mit den Schuldigen getroffen. Im Sommerpalast aber +hatten sich genügende Beweise der daselbst verübten Grausamkeiten +vorgefunden; somit sollte der stattliche Palast zerstört werden. Und +so wurde der Juen-Ming-Juen (Garten der Gärten) in Brand gesteckt, +und der schwarze Rauch hing wie ein Trauermantel über Peking. Gordon +beschrieb und beklagte die Zerstörung: + + »Unsere Leute plünderten in fast vandalischer Weise, und was ein + Raub der Flammen wurde, wäre nicht durch 80 Millionen Mark wieder + herzustellen ... Die Pracht und Schönheit des Zerstörten ist kaum zu + beschreiben ... Es that einem im Herzen weh, den furchtbaren Brand + mit anzusehen ... es war ein entsetzlich entwürdigendes Geschäft für + eine Armee, jedermann wollte nur plündern ...« + +Die Franzosen hatten schon vorgesorgt mit der Verheerung und die +kostbarsten Gegenstände einfach zusammengeschlagen. + +Die beiden Armeen verzogen sich allmählich, die Engländer ins +Winterquartier nach Tientsin. Gordons Aufenthalt daselbst verlängerte +sich weit über sein Erwarten, nämlich bis zum Frühjahr 1862. Er war +damit beauftragt, die Umgegend aufzunehmen. Öfters gab's auch einen +Ritt nach den 220 Kilometer entfernten Takuforts, und einmal einen +beträchtlicheren Ausflug mit seinem Kameraden Cardew nach der großen +Mauer -- ein ziemlich kühnes Unternehmen, denn sie durchritten da +weite Gegenden, die noch nie von Europäern betreten waren. Einen +vierzehnjährigen Jungen, der etwas Englisch verstand, nahmen sie mit +als Dolmetscher. Ein Zelt und Kochgerät führten sie auf einem Karren +mit sich. Bei Kalgan erreichten sie die 2000 Kilometer lange Mauer des +Schi Hoangi, die 240 Jahre älter ist als die christliche Zeitrechnung, +zweiundzwanzig Fuß hoch, und sechzehn dick. »Es war wunderschön,« +schreibt Gordon, »die endlose Mauerlinie sich über die Hügel hinziehen +zu sehen.« Von Kalgan schlugen sie eine westliche Richtung ein nach +Taitong, wo die Mauer nicht ganz so hoch ist. Daselbst sahen sie +riesige Karawanen von Kamelen, die Thee nach Rußland trugen. In dieser +Gegend fanden sie sich genötigt, die Achsen ihres Karrens verlängern +zu lassen; denn die Fuhrwerke in jenem Lande laufen breitspuriger als +anderswo, und ihre Räder paßten nicht in die ausgefahrenen Geleise der +Landstraßen! Der Hauptzweck ihrer Reise war, zu erkunden, ob außer +dem Tschatiau-Paß noch ein anderer vom russischen Gebiet nach Peking +führe. Auf einem großen Umweg in südwestlicher Richtung suchten sie +lange vergeblich die Straße übers Gebirge ostwärts; erst bei Taijuen +fanden sie ihren Rückweg nach Peking und Tientsin. + +Im Mai 1862 erhielt Gordon Befehl, sich mit einer Abteilung Infanterie +nach Schanghai zu werfen, weil dort die Taipings aufs neue die +Gegend unsicher machten. Der himmlische König hatte den Engländern +sagen lassen, er werde Schanghai angreifen, sobald das Jahr des +Waffenstillstandes um sei. Im Januar 1862 hatte er dann auch seinen +»Getreuen« in die Gegenden der Konsulatstadt geschickt, und von da an +datiert die feindliche Stellung der Engländer gegen die Rebellen. + +Mit dem militärischen Oberbefehl innerhalb des Distrikts betraut, +marschierte Gordon zuerst nach Singpu, erstürmte die Stadt und +vertrieb die Taipings aus verschiedenen Plätzen, wo sie sich +festgesetzt hatten. In erster Linie sollte Gordon dafür sorgen, daß +der sogenannte »dreißig Meilen Umkreis«[1] um Schanghai her von +feindlichen Überfällen gesichert bleibe. + + »Wir hatten einen Besuch von den Taipings,« schreibt Gordon. »In + einzelnen Haufen kamen sie bis in die nächste Nähe des Stadtgebiets, + steckten in Brand was sie konnten und trieben die Landleute zu + Tausenden vor sich her. Wir zogen ihnen entgegen, aber ohne + viel Erfolg. Gräben und Sümpfe hindern allerwärts ~unser~ + Fortkommen, die Rebellen sind uns in dieser Hinsicht weit überlegen + ... Es ist unfaßlich, was für Haufen flüchtigen Landvolkes nach + Schanghai kommen, sobald die Taipings in der Nähe sind; mindestens + fünfzehntausend Flüchtlinge sind eben hier, und keineswegs nur Weiber + und Kinder, sondern stämmige Männer, die sich wohl wehren könnten, + aber die Angst lähmt ihnen alle Thatkraft. Weiterhin im Land haben + die Leute Unglaubliches zu leiden und viele sterben Hungers. Dieser + Aufruhr ist eine entsetzliche Landplage, und unsere Regierung sollte + alles Ernstes eingreifen, um ihn zu unterdrücken. Worte können + nicht das Elend beschreiben, das überall herrscht, wo die Rebellen + hinkommen; die reiche Provinz ist zur Wüste geworden.« + +Für die Kaiserlichen hatte das Jahr 1861 schon einen Umschwung +gebracht. Der Kaiser Hien-Fong war am 21. August auf seinem +Jagdschloß in der Tartarei gestorben -- im sechsundzwanzigsten +Jahre seines Lebens und im elften seiner unglücklichen Regierung. +Unfähig mit den großen Schwierigkeiten einer Übergangsperiode zu +kämpfen, hatte er wie manch anderer Fürstenschwächling sich durch +Befriedigung seiner Genußsucht zu entschädigen gesucht. Schließlich +aber »ergriff seine Krankheit ihn mit erneuter Heftigkeit, und am +siebzehnten Tage des Mondes schwang er sich auf mit dem Drachen als +Gast der oberen Räume.« Wohl mochte die arme Seele des untauglichen +Monarchen, dessen sterbliche Hülle in einem »cedernen Schloß« zur +Ruhe gebettet wurde, auf ihrem Drachenritt den vorangegangenen +Kaisern manches zu klagen haben. Elend und Aufruhr hatte während der +ganzen Regierungszeit dieses Jünglings das himmlische Reich verheert, +und Rebellen herrschten an seiner Statt; allerwärts hatte das Volk +sich von ihm losgesagt, der kaiserlichen Gewalt Trotz bietend, und +zur Vollstreckung der heiligen Befehle fanden sich nur schlechte +Statthalter, denen die eigene Größe mehr galt als die Wohlfahrt des +Volkes. Jahr um Jahr durchzogen die rebellischen Horden das Land; die +Brandfackel nächtlicher Zerstörung kündete ihren Weg, und der Rauch +brennender Städte und Dörfer verhüllte der Sonne Licht am hellen Tage. +Ein wahnwitziger Usurpator hatte es nicht nur gewagt, den Drachenthron +für sich zu begehren, sondern sich außerdem noch göttlicher Ehre +vermessen, während kriegerische Heervölker der abendländischen +Barbaren das Kaiserreich demütigten, ja die jungfräuliche Kaiserstadt +Peking bezwangen, die noch nie einem Fremdling sich erschlossen, und +den Palast des himmlischen Sohnes in Brand steckten. + +So mochte der arme Kaiserjüngling gedacht haben. Wir aber erkennen in +der mancherlei Trübsal die Wehen einer sich neu gestaltenden Zeit. +Des Monarchen Tod öffnete Thür und Thor für neue Dinge. Der Thronerbe +war ein Kind, und die Regentschaft neben der Kaiserin-Witwe bestand +aus Vertretern der fremdenfeindlichen Partei. Als daher der Bruder +des verstorbenen Kaisers, ein weitsichtiger Prinz, der die Konvention +von Peking unterzeichnet hatte, an den Hof gerufen wurde, war die +Hoffnung, daß er lebendig zurückkehren würde, keineswegs stark. +Man hielt dafür, daß die Einladung nichts anderes bedeute, als die +höfliche Erlaubnis, wie sie einem irrenden Mitglied der kaiserlichen +Familie zukommt, sich in der Stille mittelst einer seidenen Schnur aus +der Welt zu befördern. Zum Glück fürs Land aber war die Hauptgewalt in +den Händen einer Frau von außergewöhnlichem Verstand und männlichem +Charakter, nämlich der Kaiserin-Witwe, und diese erkannte alsbald, daß +Prinz Kung sich besser auf die wahren Interessen des Landes verstehe, +als die Ratgeber des verstorbenen Kaisers. Und während jedermann von +seinem demnächstigen Selbstmord zu hören erwartete, griff er plötzlich +in den Gang der Dinge ein und stürzte sofort -- gleichzeitig mit +dem Einzug des jungen Monarchen in Peking -- durch den berühmten +Staatsstreich vom 2. November 1861 die fremdenfeindliche Partei. Ihre +Hauptvertreter wurden hingerichtet. Von da an datiert ein freundliches +Einvernehmen zwischen den ausländischen Bevollmächtigten und der +kaiserlichen Regierung. Die Zeit war in der That gekommen, da die +verschiedensten Interessen in natürlicher Weise zusammenwirkten, die +Taipings auszurotten und dem himmlischen Reich zu einem neuen besseren +Stand der Dinge zu verhelfen. + + + 2. Die stets siegreiche Armee. + +Das Jahr 1861 war britischerseits den Rebellen gegenüber eine Zeit +des Waffenstillstandes gewesen, in diesem Jahr aber hatten die +Taipings ihre erste empfindliche Niederlage erlitten, ja eine Reihe +von Niederlagen. Sie hatten versucht, sich des Jangtsze-Thales wieder +zu bemächtigen mit besonderen Absichten auf Hangtschau. Aber obgleich +dieses Jahr durch Hien-Fongs Tod eine innere Umwälzung der Monarchie +mit sich brachte, so hatte die Macht der Kaiserlichen doch stetig +gewonnen, und die Rebellen sahen sich mit Ende des Jahres wieder in +die Gegend von Schanghai zurückgeworfen. Man darf die Vernichtung der +Taipings daher nicht ausschließlich britischen Waffen zuschreiben. + +Wie bereits erwähnt, hatten die Handelsherren von Schanghai es schon +vorher für geraten gehalten, sich durch ein Privatsöldnerheer gegen +Überfälle möglichst zu sichern. Der Amerikaner Ward, ein tüchtiger +Soldat, und nach ihm Burgevine, ein weniger tüchtiger Glücksritter, +befehligte diesen Truppenhaufen, der sich des hochtrabenden Titels der +»stets siegreichen Armee« erfreute. + +Die Leute des blumigen Landes haben eine Vorliebe für schöne +Redensarten. Ihre Flüsse sind alle wohllautplätschernd, ihre Berge +voll himmlischen Weihrauchs; das geringste Dörfchen fühlt sich als +eine Pflanzstätte süßduftenden Korns, und jeder gewöhnliche Nachen +ist ein Wunder der kristallenen Flut. Der Chinese findet solche +Benennungen keineswegs lächerlich, er hält im Gegenteil dafür, daß +der pure Wortlaut der Dinge irdisches Geschick beeinfluße. In den +chinesischen Klassikern wird nichts so sehr betont als die Thatsache, +daß Weisheit eine richtige Benutzung der Worte sei. Es fragte einmal +einer den alten Mencius, worin er sich auszeichne; »ich verstehe mit +Worten umzugehen«, war die tiefsinnige Antwort. Und anderswo wird +darauf hingewiesen, wie selbst tugend- und talentvolle Menschen durch +übelgesetzte Rede sich oft ganz in den Schatten stellen. Konfucius +erklärte, der erste Schritt zu einer wohlgeordneten Regierung sei, +»die Bezeichnung der Dinge zu verbessern«, und fügte bedeutungsvoll +hinzu: »einen unpassenden Namen haben heißt in ungünstiger Lage +verharren, allem Übel ausgesetzt.« Derlei Ideen sind gang und gäbe in +China, und jeder Schwarzhaarige läßt sich's daher angelegen sein, sich +und den Seinen schöne Namen zu gewinnen. Selbst die Regierung richtet +ihre Erlasse nach dem Geschmack des Volkes ein, ob nun vom Sohne der +Erde und des Himmels auf dem Drachenthron die Rede ist, oder vom +Büttel des geringsten Mandarins. Daher also die Bezeichnung Tschang +Seng Tschiun oder stets siegreiche Armee. + +Der General-Gouverneur der Kiang-Provinzen war Li Futai oder +Li-Hung-Tschang, ein tüchtiger Soldat und berühmter Staatsmann. +Tseng-kwo-fan, (der Vater des kürzlich verstorbenen, bekannten +Marquis Tseng), der kaiserliche Generalissimus, hatte ihm den +Oberbefehl von Schanghai übertragen. Der englische General Staveley +erklärte ihm bei seiner Ankunft, daß, obgleich die Verbündeten den +Dreißig-Meilen-Umkreis verteidigen würden, die allgemeine Bekämpfung +des Aufstands doch nach wie vor den Chinesen überlassen bleibe. Li +machte sich sofort daran, die chinesischen Truppen auf europäische +Waffen einzuüben. Wards Söldner waren bislang ihren eigenen Weg +gegangen, erst nachdem er gefallen war und sein Nachfolger Burgevine +sich mit Li überworfen hatte, verschmolzen die fremden Söldner mit den +chinesischen Rekruten, und Li bat den englischen General, einem seiner +Offiziere den Oberbefehl zu übertragen. + +Der rechte Mann war bald gefunden in Gordon, der zwar noch nie im +Oberkommando gestanden, der aber mehr denn irgend ein anderer für den +verantwortungsvollen Posten geeignet war. Seinen Ruf von Sebastopol +her hatte er in Peking und Schanghai aufrecht erhalten, und es spricht +sehr für den Mann, daß er dem ehrenvollen Antrag keineswegs in blinder +Aufregung Folge leistete, sondern im Gegenteil den gelassenen Wunsch +vortrug, seine Arbeit der militärischen Kenntnisnahme des Terrains +innerhalb des Dreißig-Meilen-Umkreises zuerst zu Ende bringen zu +können, weil das für eventuelle Operationen jedenfalls von Wert +sei. In einem Offizier, Namens Holland, ernannte man darum einen +zeitweiligen Ersatzmann, unter dessen Führung die »stets siegreiche +Armee« von den Taipings bei Taitsan glänzend geschlagen wurde. Erst im +Frühjahr 1863 übernahm Gordon den Oberbefehl. Er schreibt darüber an +seine Eltern: + + »Ich fürchte, es wird Euch unlieb sein, daß ich das Kommando + übernommen habe; es geschah nicht ohne reifliche Überlegung + meinerseits. Ich halte dafür, daß es ein gutes Werk ist, diesen + Aufstand zu unterdrücken; es ist eine einfache Pflicht der + Menschlichkeit und kann außerdem dazu beitragen, dieses Land der + Zivilisation zugänglich zu machen. Ich will nicht tollkühn handeln, + und ich hoffe, bald nach England zurückkehren zu können -- ich will + nicht vergessen, daß das Euer Wunsch ist. Ich kann wohl sagen, + daß, wenn ich mich geweigert hätte, den mir übertragenen Posten + anzunehmen, die Truppen sich verlaufen hätten und der Aufruhr allem + Anschein nach das Land noch Jahre lang im Elend erhalten würde. Ich + hoffe, daß das nun nicht der Fall sein wird und daß ich Euch sehr + bald Beruhigendes werde schreiben können.[2] Ihr müßt es Euch nicht + zu nahe gehen lassen; ich glaube wirklich, daß ich das Rechte thue + .... Ihr seid mir stets gegenwärtig und dürft Euch darauf verlassen, + daß ich nichts Unbesonnenes thun will.« + +Gordon hatte gerade das dreißigste Jahr zurückgelegt. Sein Heer +zählte bei der Übernahme zwischen drei- und viertausend Mann mit etwa +hundertundfünfzig Offizieren, war aber später erheblich stärker. Die +Uniform war eine halb-europäische, aus dunklem Wollenzeug und grünem +Turban bestehend; die Soldaten waren anfänglich nichts weniger als +mit ihrer Montur einverstanden, denn ihre Landsleute erblickten in +ihnen nur »nachgemachte fremde Teufel«; unter der Bezeichnung »fremde +Teufel« fasst nämlich der Chinese alle Ausländer zusammen. Später +aber, als die Armee anfing, sich wirklich als die »stets siegreiche« +zu erweisen, wurden die Leute stolz auf ihre eigenartige Kleidung und +hätten sich dieselbe nicht wieder nehmen lassen. Ja, soweit ging die +gute Meinung eines chinesischen Statthalters, daß er dafür hielt, +schon ihren Fußstapfen folge der Sieg und demgemäß Entmutigung der +Rebellen; er ließ daher viele tausend Paare europäischen Schuhwerks +unter das Landvolk verteilen, um die Spuren von Gordons Truppen +möglichst zu vervielfältigen! Ein Oberst dieses Korps erhielt etwa +fünfzehnhundert Mark pro Monat, die Majore, Hauptleute, Adjutanten +u. s. w. eine entsprechende Summe in absteigender Linie bis zum +Leutnant, der sich auf sechshundert Mark stellte; die Unteroffiziere +circa hundert Mark in abnehmendem Verhältnis bis zum Gemeinen, dessen +Sold ungefähr vierzig Mark monatlich betrug. Im Feld verabfolgte man +außerdem noch Rationen. Der Oberbefehlshaber selbst erhielt eine +stattliche Summe -- 5200 Mark monatlich, also 62400 Mark im Jahr; -- +»aber das ist sehr gleichgültig«, schreibt Gordon. + +Sämtliche Offiziere waren Ausländer. Amerikaner bildeten die Mehrzahl, +dann Engländer, Franzosen, Spanier, Deutsche. Im allgemeinen waren +es tapfere Leute, die sich rasch in eine gegebene Lage zu finden +wußten, im Feuer meist großen Mut entwickelten, im übrigen aber +leicht einander in die Haare gerieten. Die Disziplin war so scharf +wie thunlich, doch war es nicht oft nötig, summarisch einzugreifen, +Gordons persönlicher Einfluß machte sich bald fühlbar. Das +Schlimmste war die Trunksucht; innerhalb eines Monats starben einmal +elf Offiziere an +delirium tremens+. »Man mußte froh sein, +überhaupt Offiziere zu kriegen«, schrieb einer, der aus Erfahrung +reden konnte; »sie schlugen sich gut, und das war schließlich die +Hauptsache.« Ein anderer schreibt: »Es waren sogar offenkundige +Freunde der Rebellen unter ihnen und solche, die alle Landesgesetze +in den Wind schlugen; aber Offiziere wie Gemeine lernten sehr bald +einen Anführer respektieren, auf dessen Tapferkeit, Kriegsgeschick, +Gerechtigkeitsliebe und persönliche Güte sie alle Ursache hatten sich +jederzeit zu verlassen, einen, der sich nie selbst schonte[3], wo es +Gefahr gab, und der mit fester Hand alle Privathändel darnieder zu +halten wußte, die bislang dem Erfolg oft hinderlich im Wege gestanden.« + +Der Kriegsschauplatz, auf welchem Gordon seine Armee innerhalb +anderthalb Jahren dreiunddreißigmal ins Gefecht führte, war die von +der Jangtsze-Mündung im Norden und von der Bucht von Hangtschau im +Süden begrenzte Provinz Kiangsu, eine stumpfe Halbinsel, die von +Hangtschau bis Nanking am Jangtsze, der Residenz des Taiping, über +zweihundert Kilometer breit ist, während der Querdurchschnitt in +der Mitte zwischen diesen beiden Punkten bis zum Meer dreihundert +Kilometer beträgt. Am nordöstlichen Ende, etwa vierzig Kilometer vom +Ufer entfernt, liegt inmitten zahlloser Buchten die Stadt Schanghai. +Das von unzähligen Flüssen, Flüßchen und Kanälen durchzogene Land ist +von fast lagunenartigem Charakter und, abgesehen von den einzelnen +Hügeln, flach wie Holland, fruchtbar und reich an Dörfern und Städten. +Stellenweise liegt das Land tiefer als der Spiegel des Meeres, und +lange Strecken erheben sich nur wenige Fuß darüber. Der Verkehr +ist größtenteils zu Schiff. Zum Manövrieren in Kriegszeiten ist es +daher ein schwieriges Land, und es kam Gordon gut zu statten, daß +er sich eine so gründliche Kenntnis desselben verschafft hatte. Ja, +er war mit dem gesamten Kriegsschauplatz weit besser vertraut als +die Rebellen, die das Land seit zehn Jahren durchstreift hatten. Er +wußte genau, welche Kanäle zur Zeit schiffbar waren und welche nicht; +er wußte, wo der Boden Artillerie tragen würde und wo er versumpft +war. Er ging auch alsbald daran, sich durch eine kleine Flotte von +Kanonenbooten zu verstärken, die in dem wasserdurchfurchten Land +seiner Infanterie als Bedeckung dienen konnte und die überdies durch +rasche Truppenbeförderung seine viertausend Mann in der Meinung des +Feindes vervielfachte. Mit Gordons Korps kooperierte eine kaiserliche +Armee; der dieselbe befehligende General war Li Adong, ein Mann, vor +dessen militärischer Tüchtigkeit Gordon alle Achtung hatte. Gleichwohl +hatte sich Gordon völlige Unabhängigkeit vorbehalten, und die wurde +ihm auch zugestanden. + +Seine »Siegreichen« brannten vor Begier, die Scharte von Taitsan +auszuwetzen, er aber ließ nichts übereilen. Er hatte das eine +große Ziel im Auge, den Aufruhr schnell und gründlich aufs Haupt +zu schlagen, und wußte genug von den bisherigen Ergebnissen, um +einzusehen, daß hitziges Scharmützeln hier und dort, oder eine +Taktik der Defensive -- wie z. B. das energische Sauberhalten des +Dreißig-Meilen-Umkreises -- oder auch wiederholtes Angreifen des +Feindes in seinen Verschanzungen wie in Taitsan, durchaus ungenügend +sei, wenn es sich darum handle, dem ganzen Aufstand ein Ende zu +machen. Ihm erschienen plötzliche Überfälle an Orten, wo man ihn am +wenigsten erwartete, der geeignetste Kriegsplan; denn nicht nur +gewannen seine Soldaten bei ziemlich sicheren Erfolgen immer mehr +an Selbstvertrauen, sondern er zwang die Rebellen sehr bald, sich +allerwärts seines Erscheinens gewärtig zu halten, zu einer Stellung +der Defensive also, und ließ ihnen weder Zeit noch Mut, Schanghai oder +die andern Hafenstädte zu beunruhigen. + +Nicht viele Tage gingen ins Land, ehe er mit zweihundert Mann +Artillerie und so viel Infanterie, als seine beiden Dampfer tragen +konnten, d. h. etwa tausend Mann, den Jangtsze hinaufdampfte. Etwa +hundert Kilometer aufwärts, am südlichen Ufer, liegt Fusan, ein +Piratennest, wo die Taipings sich befestigt und kurz zuvor einen +kaiserlichen Angriff zurückgeschlagen hatten. Die Kaiserlichen waren +dort verschanzt und unter ihrer Deckung brachte er seine Leute ruhig +ans Land, obgleich die Taipings in ziemlicher Stärke seinen Bewegungen +aus nächster Nähe zusahen. Er erreichte Fusan, und es gab eine +dreistündige Beschießung; einen Ansturm warteten die Taipings gar +nicht ab, sie wandten sich alsbald zurück. Fusan war der Schlüssel +zu dem fünfzehn Kilometer südlicher gelegenen Tschanzu, wo eine +kaiserliche Besatzung sich bisher tapfer gehalten hatte. + +Die Einwohner dieser Stadt waren selbst Rebellen gewesen, hatten sich +aber wieder der kaiserlichen Sache zugewandt. Der getreue Wang hatte +darauf die Stadt belagert und als Beweis, was er zu thun vermöchte, +die Köpfe von drei bei Taitsan erschlagenen europäischen Offizieren +über die Mauern werfen lassen; allein die Einwohnerschaft hielt aus. +Auf dem Wege dahin fand Gordon die Leichname von fünfunddreißig von +den Taipings gekreuzigten Kaiserlichen. Er vertrieb die Rebellen mit +einem Verlust von nur zwei Toten und sechs Verwundeten auf seiner +Seite. Der Feind zog sich nach Sutschau zurück; ein gut Stück Land war +somit den Rebellen abgenommen. Die Leute von Tschanzu empfingen ihren +Befreier mit großem Jubel und bedauerten lebhaft, ihm kein Geschenk +machen zu können. »Das sei nicht Mode bei ihm«, entgegnete Gordon. + +Der Kaiser übrigens lohnte den glänzenden Anfang damit, daß Gordon +den Titel Tsung-Ping erhielt, was annähernd durch Brigadegeneral +wiederzugeben ist. Eine Besatzung von dreihundert Mann in Tschanzu +zurücklassend, kehrten die Siegreichen nach Sung-Kiang zurück. + +Nordwestlich von Schanghai liegt Taitsan, von wo in südwestlicher +Richtung der Weg durch Kuinsan nach Sutschau führt. Das waren die +drei Hauptorte der Rebellen, der letztere als Provinzialhauptstadt +der bedeutendste. Die Taipings hatten diese Stadt seit 1860 inne. +Gordon machte sich marschfertig. Es war unbekannt, welchen der drei +Orte er zuerst angreifen würde; man vermutete, Kuinsan sei das +Ziel. Dieser Ort, als Verbindungsglied zwischen den beiden anderen +Städten, war strategisch von großer Wichtigkeit; überdies hatten +die Rebellen daselbst unter einem hergelaufenen Engländer eine +Kugelgießerei in voller Thätigkeit. Auf dem Wege dahin erfuhr Gordon, +daß der Kommandant von Taitsan dem Gouverneur Li einen Vorschlag zur +Übergabe gemacht habe, daß demzufolge ein kaiserlicher Truppenteil als +Besatzung dahin abgezogen sei, daß der Taiping den Kaiserlichen aber +damit nur eine Falle gestellt und dreihundert derselben enthauptet +habe, deren Köpfe er als Beweis seiner Geschicklichkeit nach Sutschau +und Kuinsan sandte. Gordon nahm alsbald die verräterische Stadt aufs +Korn. + +Kein leichtes Unternehmen! Die feindliche Garnison war zehntausend +Mann stark, darunter waren zweitausend auserlesene Truppen mit +französischen, amerikanischen und englischen Überläufern bei den +Batterien, während er nur dreitausend Mann befehligte. Aber das +war ihm einerlei, er belagerte die Stadt sofort. Nach zwei Tagen +war Bresche geschossen und die Stürmenden in vollem Anmarsch. Der +erste Angriff wurde jedoch zurückgeschlagen. Darauf ließ Gordon +seine Artillerie die Bresche über den Köpfen der Stürmenden hinweg +beschießen. Dieser zweite Angriff war erfolgreicher; die Flagge der +Siegreichen wehte von den erstürmten Zinnen, und die Taipings retteten +sich in tollster Flucht. Gordon schreibt darüber an seine Mutter: + + »Am 24. April verließ ich Sung-Kiang mit etwa dreitausend Mann, um + Kuinsan anzugreifen, eine große Stadt zwischen Taitsan und Sutschau. + Ehe ich aber soweit kam, erfuhr ich, daß die Taipings zu Taitsan + vorgegeben hatten, mit den Kaiserlichen unterhandeln zu wollen, die + abgesandte kaiserliche Besatzung aber verraten und vernichtet hatten. + Ich änderte daher alsbald meinen Plan und marschierte nach Taitsan; + am ersten Tag wurde die äußere Verschanzung angegriffen, am zweiten + Tag die Stadt selbst. Die Rebellen wehrten sich tüchtig, aber es + half nichts; die Stadt fiel. Taitsan ist ein wichtiger Ort und die + Einnahme nach dem verübten Verrat eine verdiente; der Kommandant + hat eine Kopfwunde davongetragen. Diese Stadt erschließt uns ein + großes Stück Land. Die chinesischen Behörden sind voll Lobes über + meine Leute. Ich bin jetzt ein Tsung-Ping Mandarin (die zweitoberste + Würde) und habe viel Einfluß. Nicht daß ich das an sich schätzte, + aber ich bin immer gewisser, daß ich recht daran that, das Kommando + zu übernehmen. Du würdest mir ebenfalls recht geben, könntest Du Dich + mit eigenen Augen von der Niederträchtigkeit der Rebellen überzeugen. + Taitsan war stark befestigt, es ist eine Fu oder Hauptstadt.« + +Die stets siegreiche Armee hatte ihrem Namen Ehre gemacht und ihr +Anführer sich als ein Befehlshaber erwiesen, der das wahre Geheimnis +der Kriegskunst kennt -- das Wann, Wie und Wo des Draufschlagens. +Zwanzig Jahre später, als die Araber angefangen hatten, seinen Palast +in Khartum zu beschießen und er wußte, daß selbst etliche seiner zum +Mahdi überlaufenden Sudanesen die feindlichen Kanonen bedienten, +schrieb er in sein Tagebuch: »Es ist nicht das erstemal, daß meine +eigenen Leute auf mich schießen. In der Bresche vor Taitsan waren +zwei Engländer vom 31. Regiment unter den Rebellen. Der eine fiel, +der andere wurde verwundet und gefangen genommen. ›Herr Gordon! Herr +Gordon! lassen Sie mich nicht totschießen!‹ Lauter Befehl: ›Führt ihn +weg und jagt ihm eine Kugel durch den Kopf.‹ Leiser Befehl: ›Bringt +ihn in mein Boot, der Doktor soll nach ihm sehen; dann schickt ihn +nach Schanghai.‹ Der Mann lebt wohl heute noch.« + +Die kaiserlichen Mandarine nahmen ihre Privatrache an einigen der +Gefangenen, was zu Gerüchten Anlaß gab, die darauf berechnet waren, +Gordon zu verleumden. Dieser schreibt mit Bezugnahme hierauf unterm +15. Juli 1863 an den Herausgeber der Schanghaier Schiffszeitung: + + »Ich kann bezeugen, daß die Chinesen meines Korps nicht grausamer + sind als die Soldaten irgend einer christlichen Nation; als Beweis + erwähne ich die Thatsache, daß siebenhundert der bei Kuinsan + gefangen genommenen Taipings bei uns jetzt im Dienst stehen. Sie + haben sich freiwillig unsern Fahnen angeschlossen und sich bereits + gut gegen die Rebellen geschlagen. Nur ~eine~ Hinrichtung ist + nötig gewesen; sie traf einen Rebellen, der es versuchte, seine + Kameraden gegen die Wache aufzuhetzen, und sofort erschossen wurde. + Es ist ein großer Irrtum, anzunehmen, daß dieses Korps aus lauter + gewissenlosen Menschen bestehe. In der Hitze des Gefechts schlagen + sie drauf und halten es für tapfer den Feind zu töten, wie andere + Soldaten auch; aber nach der Schlacht heißt es gleich wieder gut + Freund .... Wenn ein gewisser (ungenannter) »Augenzeuge« und jener + »Freund der Barmherzigkeit« ihre beiderseitigen Behauptungen mit + wirklichen Beweisen belegen könnten, so wäre es besser, als den + Zeitungen Zuschriften zu schicken, wie diejenigen, die den Bischof + von Viktoria beschäftigen. Und wenn irgend jemand der Meinung ist, + das Volk wäre mit der Rebellenwirtschaft zufrieden, so dürfte er + sich vom Augenschein hier leicht eines andern belehren lassen. + Ich überschätze die Zahl gewiß nicht, wenn ich sage, daß nach der + Einnahme von Kuinsan fünfzehnhundert der flüchtigen Rebellen von den + sich massenhaft erhebenden Landleuten erschlagen wurden.« + +Wir haben vorgegriffen. Daß die chinesischen Söldner in vollständiger +Mannszucht standen, ist kaum anzunehmen; Gordon war ja noch keine zwei +Monate im Kommando. Seine Soldaten hatten in Taitsan geplündert, was +gegen seine Kriegsverordnung war. Er strafte sie aber damit, daß er +ihnen keine Gelegenheit gab, ihre Beute zu verwerten; sie anderweitig +zu züchtigen, dafür war es kaum der geeignete Moment, nachdem sie +eben einen Sieg errungen, der, so glänzend er war, doch blutige Opfer +gekostet hatte. Er überließ es den Mandarinen, die gefallene Stadt zu +besetzen, und marschierte mit seinem Korps nach Sung-Kiang zurück. +Dort erließ er eine Proklamation, dankte den Truppen für ihre tapfere +Haltung, tadelte die Offiziere aber wegen allzu laxer Mannszucht. +Um diese zu bessern, ernannte er an der Gefallenen Statt mehrere +englische Offiziere aus einem in Schanghai liegenden Regiment, welche +Erlaubnis hatten, ihm ihre Dienste anzubieten. + +Und nun ging's nach Kuinsan. Eine drohende Unbotmäßigkeit in seinem +Korps wich seiner Ruhe und Festigkeit. Kuinsan war nicht nur der +Schlüssel zum größeren Sutschau, sondern überhaupt zur Hälfte des +rebellischen Territoriums. Die Stadt hatte eine ausgezeichnete Lage; +in ihrer Mitte erhob sich inselartig, mit einer Pagode gekrönt, ein +Hügel. Der Angriff konnte somit genau beobachtet werden, und zwei oder +drei richtig aufgepflanzte Geschütze hätten die Stadt zur beinahe +unnahbaren Festung gemacht. Der Graben um die Stadt her war über +hundert Fuß breit. Die Garnison bestand aus zwölf- bis fünfzehntausend +Taipings unter einem Anführer Namens Moh Wang. Der kaiserliche General +Tsching war für einen Angriff von der Ostseite her, aber Gordons +Kriegsgenie geriet auf eine andere Taktik, und in der That fiel die +Stadt lediglich infolge seiner Manöver mit einem kleinen Flußdampfer. + +Er hatte bald entdeckt, daß Kuinsan bei seiner ausgezeichneten Lage +doch einen schwachen Punkt hatte, indem die Verbindung mit Sutschau in +einer einzigen Straße bestand, die teilweise an einem See hinführte, +teilweise zwischen einem Netz von Kanälen lag. Er brachte seinen +Dampfer Hyson zur Stelle, und die Verbindung zwischen den beiden +Städten war abgeschnitten. Der Hyson trug einen Zweiunddreißigpfünder +und einen zwölfpfündigen Mörser. Der Kapitän war ein kühner +Amerikaner, und ihm folgte eine Flottille von etwa fünfzig kleinen +Segelboten mit Kanonen. Der Hyson that gute Arbeit und säuberte sehr +bald die Wasserstraße von allen Taipings, als wäre er ein mächtiges +Kriegsschiff gewesen; ja einmal dampfte das kühne Boot mit Gordon an +Bord bis unter die Mauern von Sutschau. + +Mittlerweile fand im großen Kanal ein hitziges Gefecht statt. Die +Besatzung hatte nach Sonnenuntergang einen Ausfall gemacht. So +zahlreich und so verzweifelt waren die Taipings, daß sie unter +einem tüchtigen Anführer die »stets siegreiche Armee« völlig hätten +aufreiben können. Mitten im Getümmel erschien der Hyson mit dem +Aufblitzen und Donner seiner Geschütze, und -- was den Taipings +offenbar einen tollen Schrecken einjagte -- mit dem schrillen Pfiff +seiner Dampfmaschine. Der Feind geriet in verworrene Flucht, und +ehe der Morgen tagte, war Kuinsan gefallen, ohne nur ein einzigesmal +gestürmt worden zu sein. Von da an hatten die Krieger des großen +Friedens eine heilsame Furcht vor dem Namen Gordon. Achthundert Mann +der feindlichen Besatzung wurden gefangen genommen, und die meisten +von diesen nahmen Dienst bei dem Sieger; doch war dies nicht der +zehnte Teil der Mannschaft, und nur wenige Flüchtlinge erreichten +Sutschau; der größte Teil muß unterwegs umgekommen sein. Gordon hatte +diesen wunderbaren Erfolg fast ohne Opfer erreicht; zwei im Kampf +Gefallene und fünf Ertrunkene war der ganze Verlust auf seiner Seite. +Gordons Grundsatz, alle Gefangenen, die es begehrten, in seine Reihen +aufzunehmen, bewährte sich glänzend. Feinde wurden zu Freunden. +Auch gestattete er, so viel an ihm lag, nie, daß die Kaiserlichen +Grausamkeiten verübten; Gefangene müßten so behandelt werden, sagte +er, wie es Soldaten zukomme, die sich einem britischen Offizier +ergeben. Sein eigener Bericht lautet: + + »Die Rebellen haben diesmal tüchtig Schläge gekriegt; ich glaube + nicht, daß sie sich noch lange zur Wehr setzen werden, da wir ihnen + durch unsere Dampfer so weit überlegen sind. Kuinsan ist eine große + Stadt, über fünf Kilometer im Umkreis, ihren Mittelpunkt bildet ein + sechshundert Fuß hoher Hügel, von dem man die Gegend stundenweit + beherrscht. Es ist ein merkwürdiges Land, voller Wasserstraßen und + von großem Reichtum. Durch die Eroberung dieser Stadt ist es der + kaiserlichen Regierung nun ermöglicht, die reichen Korndistrikte + u. s. w. zu beschützen; die Landleute sind so dankbar, daß es eine + Freude ist, sie zu sehen. Sie waren in schlimmer Lage vorher, mitten + zwischen den Rebellen und den Kaiserlichen; sie waren aber schlau + genug, sich einigermaßen dadurch zu helfen, daß jedes Dorf sich zwei + Bürgermeister hielt, einen kaiserlichen und einen, der vorgab, es mit + den Rebellen zu halten. Auf diese Weise entrichteten sie Steuern an + beide. Was ich nun weiter zu sagen habe, könnte für Prahlerei gelten, + aber ich weiß, daß Ihr alles hören wollt. Der Gouverneur der Provinz, + Prinz Kung, und alle Mandarine sind froh, daß ich die Anführerschaft + übernommen habe. Ich bin ein Tsung-Ping, d. h. ein Mandarin zum + roten Knopf; wie Ihr Euch denken könnt, trage ich die Kleidung aber + nicht. Sie schreiben mir sehr schmeichelhafte Briefe und sind äußerst + verbindlich. Ich mag die Chinesen auch gut leiden, aber Takt ist + nötig im Umgang mit ihnen, und über ihr Phlegma zornig werden nützt + gar nichts; ich lasse es daher bleiben .... Sollten Gerüchte von + begangenen Grausamkeiten Euch erreichen, so glaubt sie nicht! Wir + haben an achthundert Gefangene gemacht; eine gute Anzahl derselben + ist jetzt meiner Garde eingereiht und hat seither gegen ihre alten + Freunde, die Rebellen, mitgefochten. Wenn ich Zeit hätte, könnte + ich lange Geschichten erzählen, wie Leute aus entfernten Provinzen + einander hier treffen, oder wie die Bauern unter meinen Soldaten + Rebellen erkennen, die vor noch nicht langer Zeit ihre Dörfer + geplündert haben -- aber ich habe keine Zeit! Ich nahm einen Mandarin + gefangen, der drei Jahre lang bei den Rebellen war; er hat jetzt eine + Kugel in der Wange, die er sich neulich im Gefecht gegen die Taipings + geholt hat. Die Ex-Rebellen, die ich in meine Garde aufnahm, waren + alle Schlangenträger oder Hauptleute. Sowohl bei den Rebellen als bei + den Kaiserlichen sind die Schlangenstandarten nämlich die Abzeichen + der Anführer. Wo man eine sieht, ist immer ein Befehlshaber in der + Nähe. Ihr Verschwinden bedeutet den Rückzug des Feindes. In Taitsan + hielten die Schlangen auch bis zuletzt, das bewies, daß der Kampf + ein hartnäckiger war. Die Wangs wußten nach der Einnahme von Fusan, + daß ein »neuer Engländer im Kommando war, aber sie erwarteten ihn + nicht in Taitsan.« Äußerst seltsame Gerüchte sind im Umlauf, so z. B. + sollen die Rebellen mir vierzigtausend Mark geschenkt haben, damit + ich Kuinsan in Ruhe lasse. Alle Mandarine hatten davon gehört, und + wenn sie es glaubten, so mußte es sie wunder nehmen, daß wir trotzdem + vor Kuinsan erschienen. Bu Wang und zehn andere Wangs ertranken auf + dem Rückzug; jener war Befehlshaber von Sutschau und schrieb einen + großthuenden Brief an General Staveley, wir wären nur ein Krämervolk, + und er habe Soldaten wie Sand am Meer. Ich meinesteils hielt die + Rebellen nie für so stark als man annahm; es sind nicht viel tüchtige + Soldaten unter ihnen. Tschung Wang, der Getreue, ist anderwärts + beschäftigt und soll nicht beabsichtigen, wieder nach Sutschau + zurückzukehren. Die Einwohner von Sutschau haben ihre Weiber und ihre + Habe in die Wassergegend hinter die Stadt geflüchtet. Ich fürchte, + die Wangs werden lange Gesichter machen, wenn sie dort auf unsere + drei Dampfer stoßen, was ihnen leicht blühen kann. + + Eine gründliche Kenntnis des Landes ist unschätzbar, und ich habe + die Gegend genau studiert. Tschanzu ist etwa sechzig Kilometer von + hier. Ich bin öfters dort gewesen; die Leute fühlen sich jetzt sicher + dort, seit Kuinsan gefallen ist. Das Entsetzen der Rebellen über + unsere Dampfer ist ein großes, besonders wenn Signal gepfiffen wird, + das geht über ihr Fassungsvermögen .... Wir haben mehrere ehemalige + Diener des Bu Wang unter den Gefangenen, und ihre Berichte sind + ergötzlich. Die Wangs hatten beschlossen, meinen Dampfer in die Luft + zu sprengen, und erließen eine Proklamation, daß Pulver gelegt werde; + sie vergaßen nur die Hauptsache, nämlich ~wie~ das geschehen + könnte -- darüber hat allem nach nichts verlautet ... + + Ich habe mehrere englische Offiziere, und wir begnügen uns mit der + Montur, die wir auftreiben können; die Soldaten sind in hellen Lumpen + ... Ja, es ist wie Du sagst, der Bezahlung wegen bin ich nicht + hier. Ich halte es immer mehr für ein gutes Werk, den Aufstand zu + unterdrücken, und Du würdest ebenso denken, könntest Du es nur einmal + mit ansehen, mit welch dankbarer Freude die Landleute ihre Freiheit + hinnehmen; die Rebellen sind ihre Tyrannen ... Die Verlegung des + Hauptquartiers war ein großes Stück Arbeit.« + +Gordon hatte nämlich beschlossen, Kuinsan jetzt zum Mittelpunkt seines +Unternehmens zu machen, und zwar ebensowohl der Lage wegen als mit +Rücksicht auf den nicht minder wichtigen Vorteil, daß er sein Korps +dort in strammerer Mannszucht würde halten können als in Sung-kiang, +wo die Tradition von Ward und Burgevine noch nachwirkte. Seine Leute +aber billigten den Beschluß keineswegs. In Sung-kiang konnten sie +etwaige Beute besser los werden, während das Plünderungsverbot in +Kuinsan überhaupt so leicht nicht mehr umgangen werden konnte. Die +Unbotmäßigkeit wuchs zur Meuterei. Die Artillerie weigerte sich +anzutreten. Sie würden die Offiziere zusammenschießen, ließen sie +Gordon schriftlich androhen. Dieser aber war ihnen gewachsen. Er rief +sofort sämtliche Unteroffiziere heraus, indem er nicht zweifelte, daß +unter diesen die Rädelsführer und Schreiber des frechen Schriftstücks +sich befänden. Wer den Brief geschrieben, verlangte er zu wissen, und +warum das Regiment sich dem ergangenen Befehl widersetze. Störriges +Schweigen war die Antwort. Darauf erklärte Gordon mit ruhiger +Bestimmtheit, er werde je den fünften Mann erschießen lassen, was mit +wildem Murren aufgenommen wurde. Ein Korporal zeichnete sich hierbei +besonders aus. Mit dem ihm eigenen Scharfblick erkannte Gordon seinen +Mann. Mit eigener Hand zog er den Korporal aus der Reihe und ließ ihn +von zwei dabeistehenden Infanteriesoldaten ohne weiteres erschießen. +Die andern erhielten eine Stunde Arrest mit der Erklärung, daß, wenn +alsdann der Antritt nicht erfolge und der Verfasser des Briefes nicht +genannt würde, je der fünfte Mann unter ihnen erschossen werden +solle. Das wirkte; das Regiment trat an, und als Gordon die verlangte +Mitteilung erhielt, ergab sich's, daß der Rädelsführer eben jener +Korporal war, dem er die verdiente Strafe hatte werden lassen. + +Die Einnahme von Sutschau war das nächste Ziel, aber erst im Dezember +wurde es erreicht. Kuinsan war im Mai gefallen. + +Die Pagodenstadt Sutschau liegt am großen Kanal und ist von +Wasserwegen umgeben. Gordon beschloß, sie allmählich abzuschneiden, +indem er zu Wasser von allen Seiten näher rückte. Etwa fünfzehn +Kilometer südlich von Sutschau liegt Kahpu am Thaihusee, wo die +Rebellen zwei starke Forts innehatten, nicht weit davon die Stadt +Wokong. Als Schlüssel zu dem etwa achtzig Quadratkilometer großen +Thaihusee waren beide Orte von Wichtigkeit, außerdem beherrschten sie +die Verbindung zwischen Sutschau und den Taiping-Städten im Süden. +Dahin richtete Gordon deshalb seinen ersten Angriff und eroberte +beide Orte mit etwa zweitausendzweihundert Mann Infanterie und +Artillerie, sowie mit Hilfe zweier Kriegsboote, der »Feuerfliege« und +dem »Heimchen«. Auch hier zeigte es sich wieder, daß rasche Bewegung +Gordons Stärke war; so gab es z. B. einen ordentlichen Wettlauf nach +einer Verschanzung außerhalb Wokongs, welche die Rebellen vergessen +hatten zu besetzen. Als sie merkten, daß der Feind sich seine +Gelegenheit ersah, wollten sie das Versäumte geschwind noch nachholen +und machten sich kopfüber auf den Weg. Zwei Regimenter Gordons aber +waren hinter ihnen her, so daß die Taipings eigentlich nur sozusagen +zu einer Thür hinein und zur andern wieder hinausgejagt wurden, den +Siegreichen den Posten überlassend. + +Viertausend Rebellen kapitulierten; fünfzehnhundert derselben sollte +Tsching unter seine Kaiserlichen aufnehmen, nachdem er sein Wort +gegeben hatte, sie gut zu behandeln. Es dauerte aber nicht lange, +da hörte Gordon, Tsching habe trotz seinem Versprechen etliche +derselben enthauptet, eine Wortbrüchigkeit, welche Gordons ganzen +Zorn herausforderte. Überdies war er unzufrieden, weil der Sold +seiner Truppen seit einiger Zeit im Rückstande war. Er hatte ihnen +das Plündern verwehrt mit dem Versprechen einer regelmäßigen Löhnung; +nun entbehrten sie beides, und allgemeines Murren wurde laut. Es ist +bezeichnend, daß nach der Einnahme von Kuinsan, einem Erfolg, der +europäische Truppen mit flammender Begeisterung erfüllt hätte, die +Siegreichen in ziemlicher Anzahl davonliefen! Auch hierin liegt ein +Grund, warum Gordon nicht anders konnte, als Taiping-Überläufer zu +Rekruten zu machen! Durch Tschings zwecklose Grausamkeit wurde das Maß +seines Unmuts voll; er beschloß sein Kommando niederzulegen, und ritt +in dieser Absicht nach Schanghai. Als er am dritten August dort ankam, +fand er indessen eine Nachricht vor, die ihn alsbald umstimmte. + +Burgevine mit etwa dreihundert Mann europäischen Pöbels und einem +kleinen Dampfer hatte eben die Stadt verlassen, um sich den Rebellen +anzuschließen. Burgevine ein Wang! das war allerdings eine Neuigkeit, +die den Leuten von Schanghai nicht ganz einerlei war, und Gordon sah, +daß er der kaiserlichen Sache nicht den Rücken wenden durfte, wenn er +es nicht riskieren wollte, daß die »stets siegreiche Armee« sich ihrem +alten Anführer zuwenden und mit ihm zu den Taipings übergehen sollte. + +Sofort kehrte er nach Kuinsan zurück, und ernste Gedanken mochten ihn +auf seinem einsamen Ritte begleiten. Wie viel hing von der Stimmung +seines Korps ab! Die Leute konnten es nicht vergessen haben, wie +Burgevine seiner Zeit den kaiserlichen Zahlmeister prügelte, weil er +im Rückstande war, und wie er nie Anstand nahm selbst Tempelraub zu +begehen, wenn sich's darum handelte, die Siegreichen zu löhnen. Kein +Wunder, daß Gordon bei seiner Rückkehr großer Aufregung begegnete; +seine Macht über die Geister machte sich aber auch jetzt wieder +geltend. Er schickte sich alsbald an, seine Stellung bei Kahpu zu +verstärken, und nicht zu früh, denn die mutig gewordenen Taipings +machten einen Überfall, wurden aber zurückgeschlagen; doch verlor +Gordon ein Kanonenboot. Burgevine war übrigens nicht bei diesem +Angriff; es hieß, er bilde eine Fremdenlegion in Sutschau. Gordon +hielt sich fürs nächste auf der Defensive. + + »Daß Burgevine sich den Rebellen angeschlossen hat, wird den Aufstand + ohne Zweifel verlängern, der sonst, nach menschlichem Ermessen, wohl + noch in diesem Jahr unterdrückt worden wäre, oder doch spätestens + im Laufe des Winters. Ich habe zu wenig Leute, um überall sein zu + können, auch ist bei der gegenwärtigen Sachlage doppelte Vorsicht + nötig. Die Kaiserlichen leiden an der Einbildung, daß sie die + Rebellen im offenen Felde schlagen können, was nicht der Fall ist + ... Man sucht mich zu überreden, alsbald die Offensive zu ergreifen, + allein das Leben der Leute ist mir anvertraut, und ich will nichts + thun, was ich von vornherein für tollkühn halten muß. So weit sind + wir gut weggekommen, wir hatten in all diesen Gefechten nicht mehr + als dreißig bis vierzig Tote bei sechzig bis achtzig Verwundeten. + Es wäre wohl ein Unternehmen, um von sich reden zu machen, wenn + ich Sutschau eroberte ohne Verstärkung abzuwarten; aber ich will + nichts derartiges riskieren. Wokong ist unser, damit ist schon viel + gewonnen, und wenn ich durch die Einnahme von Wusieh Sutschau von + aller Verbindung abschneiden kann, wird es wohl nicht nötig sein, + die Stadt zu stürmen. Ich denke, die Taipings werden sie von selbst + räumen. Burgevine ist ein Thor und sieht nicht, was für Elend er + übers Land bringt ....« + +Unterm 11. September heißt es weiter: + + »Burgevines kleiner Dolmetscher ist zu uns übergelaufen und sagt, + daß sein Herr den Wangs allerlei von uns erzähle, was sie höchlich + interessiere. Er sei in guter Gesundheit, aber träge. Seine Anhänger + sind größtenteils Gesindel aus Schanghai .... Die Gegenwart von + Europäern (bezw. Amerikanern) hat die Rebellen in nichts gebessert; + sie sengen und brennen nach wie vor, wo und was sie können, und wir + haben eine Menge ausgehungerter Leute hier ....« + +Unterm 25. September schreibt er aus dem Lager bei Sutschau: + + »Ich habe nun Stellung genommen, um die Kaiserlichen zu decken, + die sich in einer Entfernung von etwa fünftausend Fuß vor Sutschau + verschanzt haben ... Burgevine ist in Schanghai gewesen« -- nämlich + um sich Munition zu verschaffen, bei welch tollkühnem Unterfangen er + beinahe in Gefangenschaft geriet. + +Am 30. September konnte Gordon bereits von Erfolg berichten: + + »Da die Kaiserlichen durch die Patatschau-Schanzen gehindert waren, + so beschloß ich, dieselben einzunehmen. Die Verteidigung war schwach + und unser Verlust bei der Erstürmung ein kaum nennenswerter -- + fünf Verwundete .... Bei Patatschau ist eine merkwürdige Brücke, + sie besteht aus dreiundfünfzig Bogen und ist dreihundert Fuß lang. + Ich bedaure sagen zu müssen, daß sechsundzwanzig der Bogen gestern + zusammenfielen wie ein Kartenhaus, wobei zwei meiner Leute ums Leben + kamen, zehn andere retteten sich nur durch schleunige Flucht. Die + Bogen stürzten einer nach dem andern mit kolossalem Lärm zusammen, + und mein Boot wurde schier mit zertrümmert. Es ist mir sehr leid, + denn die Brücke war einzig in ihrer Art und sehr alt, eine wahre + Sehenswürdigkeit. Ich fürchte, ich bin am Einsturz schuld; ich wollte + nämlich einen Bogen wegnehmen lassen, um Raum für den Durchgang + eines Dampfers nach dem Thaihusee zu gewinnen, da brach die ganze + Geschichte zusammen, weil ein Bogen vom andern getragen war ... Die + Lage der Rebellen wird immer schlimmer; ich denke, es wird nicht + lange mehr dauern, bis ich den Fall von Sutschau melden kann. Wir + sind hier etwa drei Kilometer davon entfernt, am großen Kanal. Die + Dampfer legen den Taipings doch das Handwerk bedeutend.« + +Was den Sturz der Brücke betrifft, so bedarf Gordons Bericht der +Ergänzung. Er saß eines Abends allein auf der Brüstung jener Brücke +und rauchte seine Zigarre, als zwei Kugeln nach einander neben ihm +auf den Stein schlugen und abprallten. Diese Flintenschüsse, die ganz +»zufällige« waren, kamen aus seinem eigenen Lager, wo man nicht wußte, +daß er sich gerade daselbst aufhielt. Nach dem zweiten Schuß erhob er +sich und schickte sich an, zurückzurudern, um zu sehen was es gäbe. +Er war noch keinen Steinwurf von der Stelle entfernt, als der Teil +der Brücke, auf dem er gesessen, mit großem Gekrach einstürzte und +sein Boot in nicht geringe Gefahr brachte. Die Hauptgefahr, der er +soeben entronnen, war natürlich die gewesen, selbst mit der Brücke zu +stürzen. Es ist charakteristisch, daß er die Sache in seinem Briefe +mit keinem Wort erwähnt! Diese Begebenheit ist eines jener Ereignisse, +die seine Leute auf den Glauben brachten, sein Leben sei gefeit. + +Dieser Glaube hatte bei seinen Chinesen in der That tiefe Wurzel +gefaßt. In keinem Gefecht sah man ihn selbst Waffen tragen, obschon er +es meist nötig fand, den Angriff persönlich zu leiten. Seine Offiziere +waren ja im ganzen sehr tapfere Leute, aber nicht immer dazu angethan, +dem verzweifelten Feind stand zu halten. Bei solchen Gelegenheiten +konnte man Gordon oft sehen, wie er diesen oder jenen Offizier ruhig +am Arm nahm und ihn mit sich in den dicksten Kugelregen führte. Er +kannte keine Furcht; ihm galt ein Musketenfeuer nicht mehr als ein +Hagelwetter. Die einzige »Waffe«, die er im Treffen führte, war sein +kleines spanisches Rohr, womit er die Leute dirigierte; seine Soldaten +aber, die ihn fast nur als Sieger kannten und ihn mit Staunen immer +kaltblütig und unversehrt sahen, meinten, es habe mit dem Röhrchen +eine besondere Bewandtnis. Als »Gordons Zauberstab« stand dasselbe +denn auch in glänzendem Rufe. Und dieser Ruf war etwas wert. + +Die in der Festung eingeschlossenen Europäer fanden sich mittlerweile +unter der Herrschaft der Taipings aufs gründlichste enttäuscht; es +kam zu Unterhandlungen zwischen Gordon und Burgevine. Eine Brücke bei +Patatschau war der neutrale Boden der Zusammenkünfte. + +Burgevine war ein amerikanischer Abenteurer vom reinsten Wasser, +Sohn eines französischen Offiziers aus der Zeit des ersten Napoleon, +in Nord-Karolina geboren. Er war nicht ohne Bildung, und der Traum +seines Lebens scheint der gewesen zu sein, ein Kaiserreich zu +gründen. Kalifornien, Australien, Hawaii, Indien und schließlich +China waren der Schauplatz seiner Unternehmungen. Trunksucht soll +ihn schließlich zu Grunde gerichtet haben. Seine Entlassung aus dem +Sung-kiang-Corps hatte er nicht verwinden können, und er schloß sich +den Taipings an, nur um sich an den Kaiserlichen zu rächen. In +seiner ersten Unterredung mit Gordon erklärte er, er sei der Rebellen +überdrüssig und wolle sie mit seinem Anhang wieder verlassen, wenn +er die Gewißheit erhalten könne, daß die Kaiserlichen ihn für seinen +Verrat nicht zur Verantwortung ziehen würden. Gordon übernahm es, die +Bürgschaft zu leisten, und war alsbald bereit, sowohl Burgevine als +andere Europäer, die dazu Lust hätten, unter seiner Fahne dienen zu +lassen. Als aber Gordon und Burgevine das zweitemal zusammenkamen, +gab der letztere seine wahre Gesinnung kund. Er und Gordon könnten +gemeinschaftliche Sache machen, meinte er, mit einander der Stadt +Sutschau habhaft werden, unter Ausschluß beider, der Rebellen und +der Kaiserlichen, sich der in dieser Stadt aufgehäuften Schätze +versichern, eine größere Armee heranbilden, nach Peking marschieren +und das geträumte Kaiserreich gründen. Man kann sich denken, was +Gordon dazu wird gesagt haben. + +Übrigens desertierten die Europäer in der Stadt einige Wochen später +massenweise, und zwar mit Gordons Hilfe. So groß war ihr Vertrauen zu +dem feindlichen Landsmann, daß sie ihm sagen ließen, sie gedächten +einen Ausfall zu machen in der Absicht, sich seinem Schutz zu ergeben. +Auf ein Raketensignal hin wollten sie den Dampfer Hyson entern. +Dies geschah denn auch mit solchem Eklat, daß Tausende von Taipings +hinter ihnen herstürmten, in der Meinung, es handle sich um einen +wirklichen Überfall; der Hyson aber trug die Flüchtlinge davon, deren +Abschiedsgrüße der Zweiunddreißig-Pfünder energisch vermittelte. +Burgevine mit etlichen anderen war indessen zurückgeblieben; der +Moh Wang habe Verdacht geschöpft, hieß es, weshalb sie die Sache +beschleunigt hätten, ohne auf die Säumigen zu warten. + +Die Mehrzahl dieser Überläufer waren Matrosen, die nach Sutschau +gelockt worden waren, ohne zu wissen, wohin sie gingen. Ausgehungert +und zerlumpt wie sie waren, wußten sie ihrer Dankbarkeit kein Ende, +und fast alle baten um die Erlaubnis, dieselbe dadurch mit der That +beweisen zu dürfen, daß sie sich der siegreichen Armee einreihen +ließen. Gordon aber, sobald er hörte, daß Burgevine in der Stadt +zurückgeblieben und somit der Rache der Taipings hilflos überlassen +war, richtete (16. Okt.) folgende Zuschrift an die beiden Haupt-Wangs +der Belagerten: + + »Es kann Ew. Exzellenzen nicht verborgen geblieben sein, daß ich + bei jeder Gelegenheit, wo es in meiner Macht stand, Ihren in unsere + Gefangenschaft geratenen Soldaten Barmherzigkeit erwiesen habe und + es mir habe angelegen sein lassen, die kaiserlichen Behörden vor + Grausamkeiten zurückzuhalten. Die Wahrheit dieser meiner Aussage kann + Ihnen von solchen, die persönliche Erfahrung haben, bestätigt werden; + denn mancher von Ihren Soldaten muß, nachdem Wokong in unsere Hände + gefallen war, wieder nach Sutschau zurückgekehrt sein, ich habe es + wenigstens keinem verwehrt, der es wünschte. + + »Hierauf Bezug nehmend, erlaube ich mir Ew. Exzellenzen zu ersuchen, + die Lage der Europäer in Ihren Diensten wohlwollend zu beurteilen. + Ein Soldat, er mag kämpfen für wen er will, muß von loyalen Gedanken + getragen werden, wenn er seine Pflicht thun soll. Und wenn einer + gegen seinen Willen zu irgend einer Fahne gezwungen wird, so wird + er nicht nur ein schlechter Soldat sein, sondern außerdem auch ein + Unruhestifter im Regiment, den man nur hüten muß. Sollten nun solche + Europäer in Sutschau sein, so erlaube ich mir, an Ew. Exzellenzen die + Frage zu richten, ob es nicht viel besser wäre, solche unbehindert + ziehen zu lassen, wenn das ihr Wunsch sein sollte. Sie selbst würden + damit eine ständige Ursache des Argwohns los werden und sich die + Billigung fremder Mächte erwerben; während Sie außerdem die Gewißheit + hätten, daß Ihnen nur von außen ein Feind droht und nicht auch im + eigenen Lager. Ew. Exzellenzen denken vielleicht, daß durch ein paar + Hinrichtungen innere Ruhe bald hergestellt wäre; Sie würden dann aber + ein Verbrechen auf sich laden, das sich früher oder später rächen + müßte. Bei meinen Truppen steht es den Offizieren wie den Gemeinen + frei, zu kommen und zu gehen wie es ihnen beliebt; und obschon das + manchmal unbequem ist, so bin ich doch andererseits dadurch vor + innerem Verrat sicher. Ew. Exzellenzen wollen sich darauf verlassen, + daß Sie es zu bereuen haben werden, wenn Sie den in Ihrem Dienst + sich befindenden Europäern ans Leben gehen oder sie wider ihren + Willen zurückhalten. Dieselben haben nichts verbrochen, sie haben + Ihnen im Gegenteil eine Zeit lang gedient; und wenn sie nun zu + entfliehen suchen, so ist das nichts anderes als was jeder Mensch, + ja jedes Tier in mißlicher Lage zu thun strebt .... Persönlichen + Vorteil habe ich durchaus keinen dabei, ob die betreffenden in + der Stadt zurückgehalten werden oder dieselbe verlassen. Wenn ich + ihretwegen an Sie appelliere, so geschieht es lediglich aus Gründen + der Menschlichkeit .... Daß diese Europäer mir Mitteilungen machen + könnten, haben Ew. Exzellenzen durchaus nicht zu fürchten; Ihre + Truppenstärke und Kriegsmittel sind mir längst bekannt, ich brauche + mich daher nicht erst von ihnen belehren zu lassen. + + »Sollte ich hinsichtlich dieser Männer vergeblich an Sie appellieren, + so schicken Sie mir wenigstens die Verwundeten unter ihnen und + glauben Sie, daß Sie damit eine That thun, die Sie nie bereuen + werden. + + »Ich schreibe dies eigenhändig, da ich mich nicht auf einen + dolmetschenden Schriftführer verlassen will. In der Hoffnung, daß Sie + meine Bitte gewähren, schließe ich + + Ew. Exzellenzen gehorsamer Diener + + ~C. G. Gordon~, + Major-Kommandant.« + +Burgevine, der diese Teilnahme an seinem Schicksal durchaus nicht +verdient hatte, wurde freigegeben und verschwand für immer. In einem +Brief an die Seinen beschreibt Gordon die Sache und fährt fort: + + »Moh Wang fragte den Boten genau aus, u. a. ob es möglich wäre, mich + zu bestechen, und mußte sich mit einem Nein begnügen. »Wird Gordon + die Stadt einnehmen?« »Jedenfalls«, lautete die Antwort, und er + schwieg nachdenklich. Ich höre, daß die Stadt in großer Verwirrung + ist; es ist nicht sowohl die Flucht der Europäer, was die Taipings + beunruhigt, als vielmehr das Bewußtsein, daß die Europäer die Sache + für verloren halten. Burgevine soll gut behandelt werden; ich werde + thun, was ich kann, ihn loszubringen, und dann, sobald sich einer + findet, der meine Stelle einzunehmen imstande ist, werde ich mich + zurückziehen ... an Ruhm und Ehren ist mir nicht gelegen ... Ich + hoffe, daß die chinesische Regierung sich hinlänglich davon überzeugt + hat, daß ich ehrlich an ihr gehandelt habe und daß nicht alle + Engländer von Geldgier beseelt sind. Daß sie diese Überzeugung in der + That gewonnen haben, das glaube ich; wenigstens kommen sie mir mit + vollem Vertrauen entgegen.« + +Die Tage von Sutschau waren gezählt. Die Kaiserlichen hatten +südwestlich um die Stadt her feste Stellungen inne, während Gordon +mit seinem Belagerungstrain und vor allem mit dem Dampfer Hyson die +nördliche und östliche Seite gesperrt hielt. Der Hyson erwies sich +stets als vorzügliches Kampfmittel; bei einer Gelegenheit wurden +dreizehnhundert Taipings gefangen genommen, und ebensoviel ertranken +bei einem Fluchtversuch. Aber die kaiserlichen Verbündeten unter +ihrem Anführer Tsching waren es, die durch ungeschickte Taktik Gordon +immer wieder an der Ausführung eines umfassenden Planes hinderten. In +Schanghai und anderwärts wurden Stimmen laut, daß, wenn Gordon nicht +den Gesammtoberbefehl erhalte, man den Fall von Sutschau nie erleben +würde. Aber nicht nur hat er diesen Oberbefehl nie erhalten, sondern +sein eigenes Korps geriet wieder an den Rand der Meuterei und war +außerdem von Krankheit heimgesucht. Aber Gordon hatte in sich die +Kraft eines Kriegsheeres. + +Zwar wurden die Siegreichen nun mehrmals zurückgeworfen, einmal +lediglich infolge einer zur unrechten Zeit geleisteten Hilfe. Bald +aber kann Gordon wieder ein Gegenteil berichten. + + »Wir mußten die Rebellen aufs neue aus Wokong verjagen, sie hatten + trotz ihrer neulichen gründlichen Niederlage daselbst die Kühnheit, + diesen Ort abermals zu besetzen. Ich schickte einen Dampfer hin, und + der Erfolg war ein glänzender Sieg, fast wie der bei Kuinsan und auch + aus ähnlicher Ursache. Die Rebellen waren nämlich genötigt, ihren + Rückzug auf einer engen Straße zwischen dem großen Kanal und anderen + Gewässern zu nehmen ...« + +Es war ein Weg, der oft lange Strecken nur drei bis vier Fuß breit +war und dann und wann kamen enge Brücken, die nur ein bis zwei Mann +auf einmal durchließen. Auf der ganzen Strecke des Rückzugs, fünfzehn +Kilometer weit, waren die Flüchtlinge unter dem Feuer der Dampfer und +hatten die verfolgenden Truppen hinter sich. Der Verlust der Taipings +war entsprechend. + +Am 1. November wurde Fort Liku erstürmt, etwa acht Kilometer nördlich +von Sutschau. Dabei ereignete sich folgendes: Einige Tage zuvor hatte +Gordon zufällig einen beschriebenen Zettel gefunden. Er erkannte +die Handschrift als die eines seiner Offiziere, Namens Perry, der +offenbar einem Rebellenfreund in Schanghai über das Korps berichtete. +Perry leugnete auch gar nicht, entschuldigte sich aber damit, daß +seine Mitteilungen nicht aus böswilliger Absicht stammten, sondern +nur vertraulicherweise einem Bekannten gelten sollten. »Gut«, sagte +Gordon, »ich nehme Sie für diesmal bei Ihrem Wort und erwarte von +Ihnen, daß Sie beim nächsten ›hoffnungslosen‹ Gefecht vorne dran +sind.« Er selbst vergaß den Fall alsbald wieder, aber nach wenigen +Tagen waren beide nebeneinander vorne dran beim Erstürmen einer +Verschanzung. Eine Kugel traf Perry in den Mund, Gordon fing ihn in +seinen Armen auf -- er war tot. + + »Wir eroberten Liku im Sturmlauf«, berichtet Gordon. »Leutnant + Perry ist leider gefallen, er war ein guter Offizier. Sonst nur + drei Verwundete. Die Rebellen hielten tapfer Stand, hatten vierzig + bis sechzig Tote; wir machten sechzig Gefangene, eroberten drei + Kanonenboote und etwa vierzig andere Boote.« + +Zehn Tage später wurde ein anderer Ort Namens Wanti angegriffen, +der so mit Erdwällen verschanzt war, daß das Beschießen kaum einen +Eindruck machte; als Gordon aber den Ort eingeschlossen hatte, +stürzten die Taipings wie toll daraus hervor, es gab ein hitziges +Handgemenge, und nach einer Stunde war Wanti erobert. Gordon hatte +zwanzig Tote, darunter einen Offizier; die Rebellen dreihundertfünfzig +-- sie waren nämlich unter das Feuer der Artillerie geraten -- und +außerdem gab's sechshundert Gefangene. + +So wurde ein immer engerer Kreis um Sutschau gezogen. Die Wangs fingen +an, mutlos zu werden. + + »Uneinigkeit unter den Belagerten kann die Übergabe herbeiführen«, + schreibt Gordon; »sie haben nichts mehr als für zwei Monate Reis + ... Mauding am großen Kanal beabsichtigte ich zunächst durch zwei + Dampfer angreifen zu lassen; es ist nur eine Stunde von hier und + die Rebellen dort haben gar keine andere Wahl als sich zu ergeben. + Die Kaiserlichen reden davon, ihnen Garantie anzubieten, daß ihnen + das Leben geschenkt werde; die meisten wären ohne weiteres damit + einverstanden!« + +Wir werden bald sehen, was es mit solchen Versprechungen +kaiserlicherseits auf sich hatte, und daß auch in China ein Treubruch +Böses nach sich zieht. + + + + + 3. Der Fall von Sutschau und der Mord der Könige. + +Die Belagerung war vollständig; an vierzehntausend Mann umschlossen +die Stadt, von denen drei- bis viertausend unter Gordons Befehl +standen. Außerdem waren noch etwa fünfundzwanzigtausend Mann +kaiserliche Truppen in der Nähe; Fusan war ihr Zentrum. Die Taipings +zählten vierzigtausend in der belagerten Stadt, zwanzigtausend in +Wusieh und weitere achtzehntausend zu Matantschiao, wo Tschung Wang, +der Getreue, den großen Kanal beherrschte. + +Gordon wußte all dies, aber er wußte auch, daß der Getreue nur auf die +Gefahr hin näher rücken konnte, Nanking bloßzustellen und Hangtschau +preiszugeben. Tschung selbst war sich darüber klar, daß Nanking hart +bedrängt war und daß der Fall der Hauptstadt dem »großen Frieden« +den Todesstoß versetzen würde. Die Außenwerke von Nanking waren zum +Teil schon in Feindeshand. Gordon wußte dies, denn die Kaiserlichen +hatten eine Staffette abgefangen; und er beschloß, Sutschau auf der +Nordseite zu stürmen. Der Angriff geschah nachts, mißlang aber, denn +die innere Reihe der Außenwerke war stark befestigt und wohl bemannt. +Die Angreifenden trugen weiße Turbane, um sich nächtlicherweile +untereinander zu erkennen. Es schien zuerst, als ob der Überfall +gelingen sollte. Gordon an der Spitze seiner Vorlinien hatte den +Wall schon erstiegen, aber ein mächtiges Feuer der plötzlich in +Masse erscheinenden Taipings hinderte seine Unterstützungskolonnen +am Vordringen, und so mußte auch er wieder zurückweichen. Ein Kampf +bei Nacht mochte den Rebellen übrigens nicht behagen; wirklichen Mut +schien nur noch der Moh Wang zu haben, der sich wie ein Löwe in den +vordersten Reihen wehrte, ohne Schuhe und ohne Strümpfe mitten unter +den Gemeinen kämpfend. Zwanzig Europäer hielten sich zu ihm. + +Am andern Morgen hatte General Tsching eine Unterredung mit dem +Taiping Kong Wang und erfuhr von diesem, daß unter den Wangs +in Sutschau große Uneinigkeit herrsche; außer dem Moh Wang und +fünfunddreißig zu ihm haltenden Unterbefehlshabern wären die Anführer +bereit, mit dreißigtausend Mann zu kapitulieren. Denn trotz des +zurückgeschlagenen nächtlichen Angriffs wüßten die Wangs nur zu +gut, daß Sutschau fallen müsse; sie schlügen daher vor, daß Gordon, +um ihnen einen gewissen Schein zu retten, einen zweiten Angriff +aufs Ostthor mache, wobei sie dem Moh Wang den Rückweg in die +Stadt abzuschneiden gedächten, um dann ihrerseits mit dem Feind zu +unterhandeln. + +Am 29. November schoß Gordons Artillerie die Palissadenverschanzung +zusammen und der Angriff erfolgte. Es war eine heiße Arbeit. Gräben +voll Wasser mußten durchschwommen und Wälle erstiegen werden. Der +Getreue selbst war von Wusieh her zu Hilfe gekommen und verteidigte +die Stadt. Da ereignete es sich, daß Gordon, der mit einer Handvoll +Leute ungestüm vordrang, plötzlich einen Haufen Taipings im Rücken +hatte und so von den Seinen abgeschnitten war. Zurück konnte er +nicht, wollte es auch nicht, also vorwärts! Er eroberte eine Redoute +und hielt sich, bis Verstärkung sich zu ihm durchschlagen konnte. +Die errungene Position, die er fast allein gewonnen, kam einem +vollständigen Siege gleich, aber er war teuer erkauft. Neun Offiziere, +meist Engländer, waren gefallen, dazu fünfzig Gemeine und es gab viele +Verwundete. Aber am folgenden Tag konnte er eine Proklamation an seine +Leute erlassen des Inhaltes, daß Sutschau faktisch erobert sei. + +Es dauerte nicht lange, so hatten Gordon und der kaiserliche General +Tsching eine Zusammenkunft mit den Wangs. Immer noch besorgt, sich +den Schein zu wahren, schlugen diese jetzt vor, daß ein Angriff auf +die Stadt selbst geschähe, wobei sie versprachen, sich nicht bei der +Abwehr zu beteiligen, vorausgesetzt, daß die Kaiserlichen ihnen bei +der Einnahme die persönliche Sicherheit garantierten. Selbst unter +solchen Umständen war der Angriff mit Schwierigkeiten verbunden; die +Stürmenden konnten nicht viel über fünftausend Mann beibringen, ein +breiter Graben umgab die Stadt und vom Ostthore hin zog sich eine +unabsehbare Reihe von Schanzen. Als der Na Wang Gordon vorschlug, +die Stadt im Sturm zu nehmen, erklärte dieser daher rundweg, daß es +dann unmöglich sein würde, den Soldaten das Plündern und Brennen zu +verbieten, und fügte hinzu, wenn es den Wangs wirklich ernst sei mit +ihren Vorschlägen, sie ihre Aufrichtigkeit damit bekunden sollten, daß +sie dem Feinde ein Thor überließen; wollten sie das nicht, so sollten +sie die Stadt entweder räumen oder um den Besitz fortkämpfen, so lange +sie sich würden halten können. Daraufhin erklärten sie sich bereit, +die Übergabe der Stadt durch Überlassen eines der Thore ins Werk +zu setzen; und während General Tsching die Unterhandlungen zu Ende +führte, machte Gordon sich alsbald auf den Weg, um beim Gouverneur die +Sicherheit der Besatzung zu beantragen. + +Übrigens war die Übergabe noch nicht vollzogen. Als der tapfere +Moh Wang erfuhr, was seine Mit-Wangs im Schild führten, erfaßte +ihn ein gewaltiger Ingrimm, und er versammelte sie alsbald um sich +zum Kriegsrat. Er war der Oberbefehlshaber der Stadt. Es mag eine +seltsame Szene gewesen sein, als nach der festlichen Mahlzeit und dem +obligatorischen Gottesdienst diese Würdenträger mit ihren Kronen und +Königsgewändern sich im Halbkreis um den Moh Wang scharten. Sofort kam +es zu einem Wortwechsel. »Übergabe!« schrien die Wangs durcheinander. +»Wir halten Sutschau bis zum letzten Mann!« entschied der Moh Wang. Da +fuhr der Kong Wang auf, den Königsmantel von sich werfend, und stieß +seinen Dolch dem Moh Wang neunmal in den Rücken. Miteinander trugen +sie den Gemordeten hinaus und zerstückten seinen Leichnam. Gordon +erfuhr diese Mordthat, als er eben von seinem Liebesritt zurückkehrte +und das Versprechen von Li mitbrachte, dem Moh Wang und seinen +Gefährten solle kein Leids geschehen. Er hatte den Moh Wang um seiner +mannhaften Tapferkeit willen hochgeschätzt. + +In jener Nacht ergab sich Sutschau. + +Um, wenigstens so viel an ihm lag, die Plünderung zu verhüten, +zog Gordon sein Korps auf einige Entfernung von der Stadt zurück, +verlangte aber in Anerkennung ihrer Leistungen doppelte Löhnung +für die Truppen auf zwei Monate. Allein Li handelte die Belohnung +auf einen Monat herunter, was die Soldaten so verdroß, daß ihr +unzufriedenes Gemurre fast in offene Meuterei überging. Ein paar +Stunden Plünderung wäre ihnen lieber gewesen als alle Löhnung. Gordon +konnte sich nur damit helfen, daß er seine Siegreichen nach Kuinsan +zurück marschieren ließ. + +Was die nun folgenden Ereignisse betrifft, so mochte Gordon füglich +erwarten, daß er eine Stimme im Rat habe, besonders rücksichtlich des +Schicksals der Wangs. Ohne ihn und seine Leute hätten dieselben noch +lange stand gehalten; und er, der sein eignes Leben nie der Gefahr +entzog, dessen Todesverachtung die Armee mit Siegesmut erfüllte, +mochte wohl denken, daß er vor allen das Recht habe, dem überwundenen +Feind das Leben zu schenken. Li und Tsching wußten auch recht wohl, +daß eine menschliche Behandlung der Überwundenen nach europäischen, +bezw. nach christlichen Grundsätzen beobachtet werden müsse, wo Gordon +mitzureden hatte. Li hatte es diesem bestimmt zugesagt, daß Gnade +vor Recht ergehen solle, hatte ihm sozusagen das Leben der Wangs +geschenkt. Wie wurde aber dieses Versprechen gehalten! + +Von Kuinsan zurückkehrend, betrat Gordon, nichts ahnend, die gefallene +Stadt, von seinem jungen Dolmetscher begleitet. Er begab sich nach des +Na Wang Wohnung. Dort fand er sämtliche Wangs im Begriff aufzusitzen. +Li erwarte sie außerhalb der Stadt, um die Schlüssel der Thore von +ihnen entgegenzunehmen. Es sei alles in Ordnung, versicherte Na Wang, +und daraufhin sah Gordon sie ruhig ziehen, um so mehr, als Tsching ihn +erst kürzlich versichert hatte, der Gouverneur habe eine allgemeine +Amnestie erlassen. In aller Gemütsruhe schlenderte Gordon durch sie +Stadt, sorgte für des Moh Wang Begräbnis und erreichte nach einiger +Zeit das Ostthor, wo ein Haufe Kaiserlicher ihm lärmend entgegen kam. +Er blieb stehen und forderte die Soldaten zu ruhigerem Benehmen auf, +damit sie die Einwohner nicht unnötig alarmierten. Während er noch +redete, betrat der General Tsching selbst die Stadt und erblaßte, als +er Gordon sah. Dieser erkundigte sich alsbald nach den Wangs, die der +Zeit nach längst von ihrer Audienz zurück sein mußten, worauf Tsching +etwas hervorstotterte und sich in Ausreden verwirrte. Da schöpfte +Gordon Verdacht und kehrte eiligst nach des Na Wang Hause zurück. +Er fand es zerstört; die Plünderung hatte begonnen. Ein Oheim des +Na Wang, der ratlos umherlief, bat ihn inständig, mit ihm in seine +Wohnung zu gehen, um ihm behilflich zu sein, die Frauen des Na Wang +in Sicherheit zu bringen. Er zögerte einen Augenblick, waffenlos wie +er war, allein das Weibervolk erbarmte ihn; er beschloß, der Bitte +Folge zu leisten und alsdann mit Hilfe seiner Leute dem Plündern der +Kaiserlichen wo möglich zu steuern. + +Man sollte denken, daß Li den heldenmütigen Gordon, dem er so viel +verdankte, wenigstens vor dem Betreten der Stadt hätte warnen +lassen; aber davon war keine Rede. So hatte sich Gordon in der That +unwissentlich als Geisel gestellt, während der treubrüchige Futai +die Wangs draußen enthaupten ließ. Die lärmenden Kaiserlichen, denen +er begegnete, kamen gerade von der Hinrichtung, der Tsching selbst +beigewohnt hatte. Gordons Lage war um so bedenklicher, als er sich +in völliger Unwissenheit befand. Hätten die Taipings, die alsbald +zu Tausenden das Haus umstellten, mehr gewußt als er, er wäre nicht +lebendig aus ihren Händen gekommen. So aber betrachteten sie ihn +als Geisel, bis sie ihre Anführer wieder sähen. Bis zum folgenden +Morgen befand er sich völlig hilflos unter den Taipings, die von der +vertragswidrigen Plünderung wohl auf Schlimmeres schließen mochten; +aber es geschah ihm kein Leid. Wer weiß, ob die Leute nicht halb +unbewußt in ihm den festen Mann erkannten, der ihnen Treue halten +würde, wenn alle anderen sie brächen. Jedenfalls hat wohl selten ein +Heerführer inmitten seiner geschlagenen Feinde dem Tod näher ins Auge +geschaut als er; allein über Gordon wachte ein Höherer, dem er diente +und der ihn zu noch Größerem brauchen wollte. + +Am nächsten Morgen hatte er die Taipings soweit gebracht, daß +sie ihm gestatteten, seinen Dolmetscher mit einem Brief an sein +Boot zu entsenden, das vor dem Südthor vor Anker lag. Nichts kann +bezeichnender für unsern Helden sein, als die Thatsache, daß das +Schreiben auch nicht ein Wort über seine eigene Lage enthielt, wohl +aber den Befehl an den Kapitän seiner Flottille, den Gouverneur +Li gefangen zu nehmen und ihn festzuhalten, bis die Wangs in +Sicherheit wären, ein prächtiger Plan, der aber leider mißlang. +Der Taipingführer, der den Dolmetscher begleitete, kam allein mit +der Nachricht zurück, die Kaiserlichen hätten dem Jungen den +Brief abgenommen und denselben zerrissen. Darauf hin gestatteten +die Taipings ihrem Gefangenen, sich selbst auf den Weg zu machen. +Unterwegs wurde auch er von Kaiserlichen überfallen, die ihn wohl +nicht kannten, aber es gelang ihm von ihnen loszukommen und das +Ostthor zu erreichen, wo seine Leibwache lag. Diese entsandte er nun +sofort zum Schutze der Taipings, die ihn die Nacht durch festgehalten +hatten. + +Es war immer noch sein Vorsatz, den Li gefangen zu nehmen. Während er +zu diesem Zweck auf seinen Dampfer wartete, stellte Tsching sich zu +einer Unterredung ein; aber Gordon weigerte ihm das Wort. Da schickte +der General einen seiner Offiziere, aber diesem fehlte der Mut, dem +entrüsteten Briten die Wahrheit zu sagen. Auf Gordons Frage nach den +Wangs entgegnete er, er wisse nichts, doch sei des Na Wang junger Sohn +in der Nähe, der werde wohl Bescheid geben können. Und von dem Sohne +eines der Gemordeten erfuhr denn Gordon endlich, daß bei Gelegenheit +der Audienz die Hinrichtung stattgefunden hatte. Er ließ sich sofort +übers Wasser rudern und fand die kopflosen Leichname der Wangs +zerhackt und zerstückt. + + »Ich fand sechs Leichen«, schrieb er, »und erkannte des Na Wang + Kopf.« + +Wohl selten in seinem Leben ist ihm etwas so nahe gegangen. Er +vergoß Thränen vor Leid und Entrüstung, vor Scham und Zorn. Überdies +erachtete er seine Ehre angegriffen durch die unmenschliche That. +Er hatte den Wangs zwar nicht sein Wort gegeben -- das konnte er +nicht -- aber er hatte von vornherein mit ihnen in der Voraussetzung +verhandelt, daß der Gouverneur sie anständig behandeln werde. Und +die Plünderung der Stadt gegen seinen Willen und Wissen war eine +weitere Kränkung. Seinem Mut und Kriegsgeschick war's in erster +Linie zu verdanken, daß Sutschau gefallen, und nun hatte man ihn +einfach beiseite gesetzt, ja ihn selbst in nicht geringe Lebensgefahr +gebracht. Diese perfide Handlungsweise der Chinesen, für die er sich +aufgeopfert, ergrimmte ihn so sehr, daß sein Zorn keine Grenzen +kannte, und wohl zum erstenmal in der ganzen blutigen Kriegszeit +nahm er eine Waffe zur Hand. Er steckte seinen Revolver zu sich, +entschlossen, an des Gouverneurs eignem Leben Gericht zu üben, mochten +die Folgen für ihn selbst sein, welche sie wollten. Tsching aber war +ihm zuvorgekommen und hatte Li wissen lassen, daß er wohl daran thun +werde, dem zornmütigen Engländer aus dem Weg zu gehen. Als Gordon +das Boot des Li bestieg, fand er daher, daß dieser sich in die Stadt +geflüchtet hatte. Gordon verfolgte ihn dort und versuchte während +mehrerer Tage vergeblich, zuerst allein und dann mit Hilfe seiner +Garde, des flüchtigen Gouverneurs habhaft zu werden. In bitterm Mißmut +kehrte er nach Kuinsan zurück. Dort verlas er seinem versammelten +Korps einen Bericht über das Geschehene mit dem Anfügen, daß ein +britischer Offizier unter dem Gouverneur Li nicht länger dienen könne, +es sei denn, daß dieser vom Kaiser zur verdienten Strafe gezogen werde. + +Gordon schrieb an seine Angehörigen: + + »Ihr werdet froh sein zu erfahren, daß wir wieder zu Kuinsan im + Quartier sind und es wohl so bald nicht wieder verlassen werden. + Ich habe weder Zeit noch Lust, Euch von dem Kampf am Ostthor zu + berichten, noch von dem kaiserlichen Verrat in Sutschau -- die + Zeitungen werden genug darüber melden. Des Na Wang Sohn habe ich + bei mir. Er ist ein gescheiter junger Mensch und sehr lebhaft, etwa + achtzehnjährig. Sein armer Vater war ein recht guter Wang, besser als + die meisten Kaiserlichen, mit denen ich noch zu thun hatte. Ich kann + Euch nicht sagen, wie tief ich die neuesten Ereignisse beklage und + zwar um verschiedener Ursachen willen. Hätte man dem Feind, der sich + ergeben, Treue gehalten, so wäre es mit dem Aufstand wohl zu Ende, + und die anderen Städte, die noch aushalten, wären ohne Zweifel dem + Beispiel Sutschaus gefolgt. Wir hätten uns dann rühmen können, den + Aufruhr mit geringem, nicht zu umgehendem Blutvergießen unterdrückt + zu haben. Wenn ~ich~ nicht mit dem Na Wang unterhandelt hätte, + wäre die Übergabe wohl so bald nicht erfolgt, und ich halte jetzt + all meine Mühe für verloren. Ich kann mich nur damit trösten, daß + ~alles~ zum besten dienen muß! Unverständlich ist und bleibt mir + die Handlungsweise des Li; er kennt mich hinreichend um zu wissen, + daß ein solches Verfahren mich aufbringen muß, und er handelte mit + nicht geringem persönlichem Risiko, denn meine Truppen waren in der + Nähe ....« + +Während von Regierungs wegen eine Untersuchung eingeleitet wurde, +verhielt sich Gordon völlig unthätig in seinem Quartier, -- keine +leichte Sache bei der Stimmung seines Korps. Li aber hatte sich weiß +zu brennen gewußt; überhaupt wähnte man in Peking, das Hauptlob bei +der Einnahme von Sutschau gebühre ihm. Gordon hatte allerdings eine +Position nach der andern, die er mit seinen Siegreichen eroberte, +mit Kaiserlichen besetzt. In Anerkennung dieser Thatsache erhielt Li +mit der »gelben Jacke« die höchste militärische Auszeichnung. Doch +erinnerte man sich auch des englischen Anführers. Ein kaiserlicher +Erlaß bestimmte eine Medaille für den tapfern Tsung-Ping und außerdem +ein Geschenk von siebzigtausend Mark. + +Diese Summe mit vielen andern Geschenken und der Versicherung der +kaiserlichen Anerkennung wurde Gordon von Li übersandt, außerdem eine +erhebliche Extra-Löhnung für seine Truppen und eine besondere Summe +für die Verwundeten. Diese beiden letzten Beträge nahm Gordon an; +die für ihn bestimmte Summe aber wies er mit Entrüstung zurück. Ja, +als die buchstäblich mit Gold beladenen Schatzträger vor ihn traten, +kommandierte er: rechts umkehrt mit seinem spanischen Röhrchen. +Wahrlich keine schönere That läßt sich von dem »Zauberstab« berichten. +Die Chinesen wußten sich nicht zu fassen vor Verwunderung. Wo war's +erhört, daß einer solche Schätze von sich wies, und wer durfte es +wagen, den kaiserlichen Gesandten mit dem Kommandostab zu begegnen! +Der mit der Sendung betraute Mandarin brachte ihm außerdem vier +seidene Fähnchen als Ehrengabe, zwei von Li und zwei von Wang-tetai, +einem die Kanonenboote der Provinz befehligenden Mandarin. Li's +Ehrengabe schickte Gordon zurück, die Fähnchen des Wang-tetai nahm +er an, da derselbe nicht bei jenem Treubruch beteiligt war. Der +kaiserliche Erlaß wurde auf gelbem Atlas feierlich auf einen mit zwei +brennenden Kerzen versehenen Tisch gelegt und so zu Gordons Kenntnis +gebracht. Eine Übersetzung war dem Schriftstück beigegeben. Auf die +Rückseite derselben schrieb der uneigennützige Held stehenden Fußes +folgende Antwort: + + »Major Gordon nimmt Sr. Majestät des Kaisers huldvolle Billigung + mit Befriedigung entgegen, aber er kann es nur aufrichtig bedauern, + daß nach dem, was seit der Einnahme von Sutschau vorgefallen + ist, es nicht in seiner Macht steht, irgend welche Geschenke + kaiserlicher Gnade anzunehmen. Er entbietet kaiserlicher Majestät + seinen unterthänigsten Dank für die ihm zugedachte Belohnung, welche + abzulehnen man ihm gnädigst verstatten wolle.« + +In einem Brief an die Seinen spricht er sich so aus: + + »Um die Wahrheit zu sagen, begehre ich weder Lohn noch Ehre, weder + von den Chinesen, noch von unserer Regierung. Auszeichnung habe ich + nie gesucht. Ich habe das Bewußtsein, ein gutes Werk zu vollbringen, + und fürs übrige gewährt mir mein Beruf an sich Befriedigung ... + Ich würde das kaiserliche Geschenk auch dann zurückgewiesen haben, + wenn es mit Sutschau anders gegangen wäre ... Ich weiß, daß ihr + Verständnis habt für meine Lage, die keine leichte ist, und daß + meine Erfolge Euch freuen. Die Rebellen sind ein grausames Volk. Der + Tschung Wang hat zweitausend hilflose Menschen umbringen lassen, + die nach der Ermordung der Wangs zu ihm flüchteten. Dem Li habe ich + übrigens einen Denkzettel angehängt, den er so bald nicht vergessen + wird.« + + + 4. Weitere Siege und das Ende des Aufstands. + +Die Enthauptung der Wangs hatte Gordons Lage in der That zu einer +schwierigen gemacht. Seinen Kriegs- und Siegeszug nach der Gewaltthat +zu Ende führen, hieß den Treubruch seiner Kollegen billigen, während +andererseits seine bisherigen Erfolge vergeblich gewesen wären, wenn +er alles weitere den Kaiserlichen allein überlassen hätte. Im Korps +der Siegreichen gab es durch das zeitweilige Einstellen des Kampfes +bereits bedenkliche Unruhen. Sechzehn Offiziere hatten kassiert werden +müssen, während den Taipings offenbar der Mut wuchs. Gordon sah ein, +daß er jetzt nicht mit seinen Gefühlen zu Rate gehen durfte, und +beschloß deshalb, dem Gouverneur Li behufs weiterer gemeinschaftlicher +Arbeit die Hand der Versöhnung zu reichen. + +In den Augen chinesischer Machthaber war die Hinrichtung der Wangs ein +notwendiges Übel, und als Gordon bei ruhigerer Stimmung anhörte, was +Li zu seiner Entschuldigung beibringen konnte, erschien ihm die That, +wenn auch immerhin verabscheuungswürdig, doch minder ruchlos. Nach +chinesischen Begriffen hätten die kapitulierenden Wangs sich nämlich +alsbald wieder als Kaiserliche gebärden sollen; sie aber erschienen +vor dem Gouverneur mit vollem Haarwuchs anstatt mit rasiertem Kopfe, +sie kamen auch bewehrt, und ihre Haltung war die von Männern, die +auch künftig noch zu herrschen gedachten. Das kam dem Li unerwartet. +Die Unterhandlungen aber aus diesem Grund abbrechen, war keineswegs +thunlich, ohne eine Katastrophe herbeizuführen. General Tsching, +selbst ein Ex-Rebell, kannte seine Leute und hatte dem Li dringend zur +Hinrichtung geraten. »Macht die Anführer unschädlich«, sagte er, »und +die Hunderttausende ihrer Anhänger gelten für nichts; so allein ist +Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.« Und so erfolgte die Hinrichtung. + +Um aber ehrlich und aufrichtig seinen Gang gehen zu können, +machte sich nun Gordon auf den Weg zu Li und forderte ihn auf, +eine Proklamation zu erlassen, die ihn von aller Teilnahme und +Mitwissenschaft der Hinrichtung losspräche; alsdann wolle er den +Kampf wieder aufnehmen. Es geschah, doch erst nachdem durch Hin- +und Herschreiben zwischen dem englischen Bevollmächtigten und den +chinesischen Behörden kostbare Zeit verloren gegangen war. + + »Wenn ich meiner Neigung folgte,« schrieb Gordon damals an den + englischen Gesandten, »so würde ich das Kommando jetzt niederlegen. + Ich bin aus allen Gefahren unverletzt hervorgegangen, und schöne + Erfolge sind mein Lohn; aber das zusammengelaufene Volk, das unter + dem Namen der »stets siegreichen Armee« bekannt ist, ist eine + gefährliche Rotte, und ich halte es für meine Pflicht, das Korps + mit aller Vorsicht aufzulösen; so lange es aber besteht, soll es + der kaiserlichen Sache dienen ... Übrigens bin ich mir bewußt, daß + keinerlei persönliche Interessen mich bestimmen ....« + +Die Proklamation des Li war eine umfangreiche Darstellung der Dinge, +die Gordon volle Gerechtigkeit widerfahren ließ. Am 19. Februar 1864 +zog dieser abermals ins Feld. + +Die westlichen Distrikte waren noch immer in den Händen der Taipings +und von desperaten Rotten überlaufen. Eine von Sutschau durch Jesing, +Lijang und Kintang westwärts gezogene Linie durchschneidet das +Rebellenland in zwei Teile, mit Nanking am obern Ende und Hangtschau +am untern. Gordon beschloß auf dieser Linie zu operieren, indem er +Hangtschau einem französisch-chinesischen Heeresteil unter einem +Offizier Namens d'Aiguibelle überließ, während einem Mandarin mit den +Kaiserlichen die Belagerung von Nanking oblag. + +Strategisch war dies sehr wohl geplant, aber die Ausführung war +mit Schwierigkeiten verbunden. Er verließ Kuinsan in Schnee und +Hagelwetter. Bisher war Schanghai sein Proviantmagazin gewesen, jetzt +in Feindesland war er lediglich auf sich selbst angewiesen, auch +konnten seine Schiffe ihm nicht überall hin folgen. Überdies bestanden +seine Truppen jetzt größtenteils aus Überläufern, die von Mannszucht +nichts wußten. + +Über Wusieh am großen Kanal ging es zuerst nach Jesing, ein trostloser +Zug durch Ländereien, welche die Taipings seit Jahren innegehabt und +verwüstet hatten. Der Einwohner waren nur wenige übrig geblieben -- +ausgehungerte Skelette, die oft froh gewesen waren, an den Leichen +Verhungerter ihren eigenen Hunger zu stillen. Jesing wurde eingenommen +und Lijang, das nächste Ziel, ergab sich ohne Widerstand. An tausend +Mann der Garnison wurden dem Korps einverleibt. Glücklicherweise war +dieser Ort wohl verproviantiert, und Gordon that sein Möglichstes, +es den ausgehungerten Landleuten zu gute kommen zu lassen. Von +Lijang ging es nach Kintang. Hier schienen die Taipings entschlossen +standzuhalten. Gordon traf seine Vorbereitungen zur Eröffnung einer +Kanonade; als diese aber eben beginnen sollte, kam schlimme Kunde. +Siebentausend Taipings aus Tschantschufu, einer Stadt nordwestlich von +Sutschau, also in seinem Rücken, hatten die Kaiserlichen überflügelt, +Fusan überrumpelt, bedrohten Wusieh und belagerten Tschanzu, wo Gordon +seinen ersten Erfolg errungen hatte. Die Rebellen hatten somit wieder +im Dreißig-Meilen-Umkreis Fuß gefaßt. Gordon beschloß aber, sich vor +allen Dingen Kintangs zu versichern, wo eine ebenso grausame als +hartnäckige Garnison zu überwältigen war. + +Eine dreistündige Beschießung erzielte eine Bresche und Gordon ließ +stürmen. Aber der erste und zweite Angriff wurde zurückgeworfen. Und +hier ereignete sich das in den Augen des Korps Unglaubliche: der +»unverwundbare« Anführer erhielt einen Schuß in die Wade. Es war seine +erste und einzige Verwundung. Einen seiner Gardisten, der neben ihm +stand, hieß er schweigen und fuhr fort, seine Befehle zu erteilen, bis +er vor Blutverlust fast ohnmächtig wurde. Daß auch der dritte Anlauf +mißlang, war ohne Zweifel eine Folge von Gordons Verwundung, die ihre +Rückwirkung nicht verfehlte. Nach einem Verlust von etwa hundert Toten +und Verwundeten mußte sich das Korps nach Lijang zurückziehen! + +Hier gab es eine neue Unglückspost; kein anderer als der Getreue in +Person hatte Fusan erobert. Nun hinderte zwar Gordon seine Verwundung +am Stehen, aber er konnte auch liegend Krieg führen, und die Zeit +drängte. Die Taipings erließen eine Proklamation um die andere, daß +Schanghai ihr Ziel wäre, und daß sie Sutschau auf dem Wege dahin zu +überfallen gedächten. Waren sie doch in Wusieh, keine drei Stunden +von Sutschau entfernt! Trotz seiner Verwundung machte Gordon sich +alsbald auf mit vierhundert Mann Artillerie und etwa sechshundert Mann +Infanterie, welch letztere samt und sonders nur wenige Tage zuvor noch +Rebellen gewesen, jetzt aber bereit waren, ihm überallhin zu folgen. +»Man weiß nicht, was das Erstaunlichere ist,« ruft hier mit Recht ein +englischer Berichterstatter aus, »ob der Mut, oder das Vertrauen des +verwundeten Anführers!« + +Das überall zu Tag tretende Elend aber war über alle Beschreibung +grauenhaft -- ausgehungertes Landvolk auf allen Seiten; die noch +Lebenden hatten keine Kraft mehr, die Toten zu begraben, die überall +die Luft verpesteten. »Es ist entsetzlich!« schreibt ein Augenzeuge, +»von Kannibalen zu ~hören~ ist schlimm genug, aber mit eigenen +Augen Tote zu ~sehen~, denen das Fleisch von den Knochen abgenagt +ist, das übersteigt die menschliche Kraft. Man kann hier vor Ekel kaum +mehr daran denken, seinen Hunger zu stillen. Die abgezehrten Leute +machen Augen wie Wölfe und laufen den Booten nach in der Hoffnung, +einigen Abfall zu finden. + +Die Taipings haben das Land rein ausgeplündert und alles Eßbare mit +fortgeschleppt.« + +Mit unglaublicher Geschwindigkeit drängte Gordon indessen weiter, und +aufs neue wurde nun Sieg um Sieg erfochten. + +Der letzte Schlag gegen die Rebellen geschah von Waisso aus. Die +Taipings zogen sich auf Tschantschufu zurück, allerorts aber erhob +sich das Landvolk in verzweifelter Rache, ihrer hunderte und tausende +erschlagend. Tschantschufu wurde von Li belagert, und Gordon zog +ihm mit dreitausend Mann zu Hilfe. Zwanzigtausend Taipings unter +dem Hu Wang oder Schutzkönig, gemeinhin auch »Scheel-Auge« genannt, +verteidigten die Stadt bis aufs Blut, sich tagelang wehrend. Aber +Li hatte eine Proklamation erlassen, in welcher er allen, welche +die Stadt verlassen würden, Pardon verhieß, den Hu Wang selbst +ausgenommen, und siehe da -- die Überläufer kamen massenhaft. +Schließlich erstürmte Gordon die Stadt; etwa fünfzehnhundert Taipings +fielen, aber auch das siegreiche Korps litt große Verluste. Es war die +letzte Kriegsthat desselben. Kurz vor der Einnahme der Stadt hatte +Gordon an seine Mutter geschrieben: + + »Ich werde mich natürlich versichern, daß der Aufstand wirklich + unterdrückt ist, ehe ich meine Leute heimschicke, da ich sonst eine + große Verantwortlichkeit auf mich laden würde .... Auf Weihnachten + hoffe ich bei Euch zu sein. Unsere Verluste innerhalb dieser + sechzehn Monate waren doch bedeutend: von hundert Offizieren sind + achtundvierzig tot oder verwundet, von dreitausendfünfhundert + Gemeinen an eintausend tot oder verwundet; aber ich habe die große + Befriedigung zu wissen, daß, soweit es in menschlicher Berechnung + liegt, es wohl keine sechs Monate mehr dauert, bis auch die letzte + Handbreit Erde den Rebellen unter den Füßen weggezogen sein wird, + während der Aufruhr sonst leicht noch sechs Jahre hätte dauern + können. Meine Beförderung und das Lob der Leute ist mir sehr + gleichgültig, und im übrigen werde ich China so arm verlassen als + ich es betreten habe, doch darf ich das Bewußtsein mit mir nehmen, + daß ich als schwaches Werkzeug dazu dienen durfte, achtzig- bis + hunderttausend Menschenleben zu erhalten. Ich brauche keinen anderen + Lohn. Die Rebellen von Tschantschufu gehören zu den ursprünglichen + Anstiftern, und obgleich manch Unschuldiger mit dabei sein mag, so + verdienen sie doch im allgemeinen das Los, das ihrer harrt. Hättest + Du eine Vorstellung von den haarsträubenden Grausamkeiten, die sie + verübten, so würdest Du wohl auch mit mir sagen: Strafe muß sein. Es + sind meist Ausreißer von Sutschau, Kuinsan, Taisan, Wusieh, Jefing u. + s. w., die sich hier schließlich zur Wehre setzen; sie halten täglich + mehrere Dutzend Hinrichtungen ab, um die mit ihnen in der Stadt + Eingeschlossenen an der Flucht zu hindern.« + +Am 11. Mai, zwei Stunden nach der Einnahme von Tschantschufu, sandte +er in aller Eile folgenden mit Bleistift geschriebenen Brief ab: + + »Liebste Mutter! Tschantschufu wurde um zwei Uhr heute von meinen + Truppen und den Kaiserlichen erstürmt. Übermorgen kehre ich nach + Kuinsan zurück und werde nicht mehr zu Feld ziehen. Die Rebellen sind + jetzt geliefert; sie haben nur noch Tajan und Nanking. Tajan wird + wohl in diesen Tagen fallen und Nanking kann sich höchstens noch zwei + Monate halten. Es freut mich, Dir zu sagen, daß ich wohlbehalten aus + dem Kampfe gekommen bin. + + Dein treuer Sohn + + C. G. G.« + +Nach Kuinsan zurückgekehrt, fand er daselbst die Nachricht vor, daß +die Kabinetsordre, die es einem britischen Offizier verstattete, +unter der chinesischen Regierung zu dienen, aufgehoben war. Es war +ein Glück für China, daß Gordons rasche Züge das Werk in der kurzen +Zeit vollbrachten; die letzte morsche Stütze des Taipingtums konnte +ohne ihn zusammenbrechen. Mehrere feste Plätze der Rebellen ergaben +sich ohne weiteres auf die Kunde hin, daß Tschantschufu gefallen sei. +Nanking allein hielt noch aus, trotz Hungersnot. Aber Gordon konnte +dem endlichen Sieg dort nicht ohne Besorgnis entgegensehen, galt es +doch den Bestand seiner errungenen Erfolge. Er machte sich daher +selbst nach Nanking auf den Weg, wo Tseng Kwo-fan kommandierte. Von +einer Anhöhe oberhalb des Porzellanturmes besichtigte er die Stadt. +Die Mauer war vierzig Fuß hoch und dreißig Fuß breit. Er sah, wie +einige Taipings sich an Stricken herunterließen, um außerhalb Linsen +zu sammeln; man wehrte es ihnen nicht. Innerhalb der Stadt waren große +leere Plätze, und an vielen Stellen waren die Wälle ganz verlassen. +Die kaiserliche Belagerungslinie erstreckte sich weithin mit einer +doppelten Reihe von Schanzen und einhundertvierzig Lehmforts, je +achtzehnhundert Fuß von einander entfernt und mit je fünfhundert Mann +Besatzung. + +Seine »stets siegreiche Armee« verabschiedete nun Gordon auf eigene +Verantwortung, jedoch im Einverständnis mit Li. Er entledigte +sich dieser seiner letzten Pflicht mit derselben Festigkeit und +Selbstlosigkeit, die ihn durchweg gekennzeichnet hat. Er behielt +sich vor, Offiziere wie Gemeine nach Verdienst zu belohnen, und die +chinesische Regierung gestattete ihm dies um so bereitwilliger, als er +für sich selbst auf allen Lohn verzichtete. Jeder Offizier, der eine +Verwundung davongetragen hatte, erhielt die Summe von achtzehntausend +Mark; die andern je nach Verhältnis. Ein Preuße, Namens Schamroffel, +der bei Sutschau um beide Augen kam, erhielt zweiunddreißigtausend +Mark. Die nicht verwundeten Gemeinen erhielten je einen Monat +Löhnung und Reisegeld in ihre Heimat. So wurde die stets siegreiche +Armee aufgelöst, die während der sechzehn Monate unter Gordons +Oberbefehl vier Hauptfestungen und ein Dutzend befestigte Plätze +eingenommen und in einer Reihe von Gefechten eine Anzahl von Feinden +außer Kampf gesetzt hatte, die, gering gerechnet, fünfzehnmal ihre +eigene Streitkraft überstieg. Und der Aufruhr, dem sie in voller +Blüte entgegengetreten, lag nun in den letzten Zügen: die hungernde +Hauptstadt des Usurpators konnte sich nicht mehr lange halten. + +Die kaiserliche Regierung hatte Gordon eine stattliche Belohnung +zugedacht -- zweimalhunderttausend Mark; allein er wies sie zurück wie +vorher die siebzigtausend Mark. Und selbst von seiner während der 16 +Monate bezogenen Besoldung hatte er den größten Teil nicht für sich, +sondern für seine Soldaten ausgegeben. Mit Recht konnte er sagen: ich +verlasse China so arm wie ich es betreten! + +Li that was er konnte, seinem scheidenden Freunde mit Auszeichnung +zu begegnen. Nie war ihm ein solcher Mann in seinem eigenen Volke +vorgekommen, und die Ausländer, mit denen er zu thun gehabt, waren +immer Leute gewesen, die sich für etwaige Dienste gut hatten bezahlen +lassen. Nun lernte er die menschliche Natur von einer ganz neuen +Seite kennen -- daß es die vom Christentum durchdrungene, erneute +menschliche Natur war, verstand der Chinese nicht -- und eine +lebenslängliche Bewunderung und Liebe für unseren Helden war das +Ergebnis. Li hat es bis heute nicht vergessen, daß Gordon ihn einst +im höchsten Zorn mit der Pistole verfolgte, weil er sich durch +Wortbrüchigkeit eine That hatte zu Schulden kommen lassen, die der +edle Sinn des Briten nicht verwinden konnte. + +Es bereitete der kaiserlichen Regierung einen ordentlichen Kummer, +daß Gordon sich nicht lohnen lassen wollte; ihn nach Möglichkeit zu +ehren, war ihr deshalb ein Anliegen. Er wurde zum Range eines Ti-tu +erhoben, d. h. zur obersten Mandarinenwürde, auch erhielt er die gelbe +Jacke mit der Pfauenfeder, was den höchsten Orden im europäischen +Sinne gleichkommt. »Mir liegt nichts an diesen Dingen,« schreibt er +an seine Eltern, »aber ich weiß, daß sie Euch Freude machen,« und er +nahm sie an, wie auch eine goldene Kette, die Prinz Kung von seinem +eigenen Halse löste mit den Worten: »Dies wenigstens sollen Sie mir +nicht abschlagen!« Gordon ließ sich die Kette umhängen, aber es +erging dieser Kostbarkeit nicht besser als manchen anderen, die er +erhalten hat. Auf der Heimreise nämlich begab es sich, daß für eine +arme Soldatenwitwe gesammelt wurde. Gordon ging in seine Kajüte, +und da er fand, daß seine Barschaft ihm nur eben bis in die Heimat +reichen würde, kam er mit jener Ehrenkette zurück und legte sie +stillschweigend auf den Teller der Witwe. Ja, selbst eine Medaille, +welche die Kaiserin-Mutter von China ihm mit ihrem besonderen Dank +übersandte und die er werthielt, verschwand nach einiger Zeit aus +seinem Besitz. Nicht einmal seine nächsten Angehörigen wußten, +was daraus geworden. Nach Jahren verriet es ein Zufall. Bei einer +Hungersnot unter den Fabrikarbeitern in Manchester, welche infolge +der Baumwollenkrisis während des amerikanischen Krieges ausgebrochen +war, hatte Gordon, dessen Kasse oft durch Liebeswerke erschöpft +war, sich seiner Medaille erinnert. Er vertilgte die Inschrift und +sandte die schwere Goldmünze als Beitrag an einen Geistlichen jener +Stadt. Einer, der ihn persönlich kannte, sagt von ihm, daß er sich +stets grundsätzlich von Dingen trennte, die ihm wert waren oder die +irgendwie der Eigenliebe Vorschub leisten konnten. »Man muß sich auch +von seinen Medaillen trennen können,« war späterhin in Freundeskreisen +eine Redensart von ihm. In einem seiner Sudanbriefe aus dem Jahr +1874 findet sich folgende Stelle: »Wie ist mir's gelohnt worden, daß +ich damals die Inschrift (jener Medaille) vertilgte, tausendfältig +gelohnt! Es giebt jetzt nichts mehr auf der Welt, woran mein Herz +hängt. Ihre Ehren? sie sind hohl. Ihr sonstiger Tand? mir ganz +gleichgültig. So lang ich lebe, schätze ich die Gottesgabe Gesundheit, +das ist Reichtum genug.« + +Prinz Kung ließ Gordon nicht ziehen, ohne ein chinesisches Zeugnis +seiner Tüchtigkeit an die englische Regierung zu senden. »Wir wissen +uns nicht zu helfen,« sagte dieser Fürst zum britischen Botschafter, +»er nimmt kein Geld an, und was wir an Ehren ihm verleihen können, +ist geschehen; aber auch dies schlägt er gering an, und deshalb +habe ich Ihnen dies Schreiben an die Königin von England gebracht, +damit sie ihm einen Lohn gebe, der vielleicht mehr gilt in seinen +Augen.« Des Lobes und der Dankbarkeit in diesem Schreiben war in der +That kein Ende, und die Zuschrift an die britische Majestät schloß +mit den Worten: »Der Titel Ti-tu verleiht ihm den höchsten Rang in +der chinesischen Armee; der Prinz möchte aber hiermit die Hoffnung +aussprechen, daß wenn die englische Regierung dem Heimkehrenden irgend +welche Ehrenbeförderung kann zukommen lassen, der britische Minister +es nicht unterlassen möge, solche zu befürworten, damit alle Welt +erkenne, daß seine Heldenthaten und seine persönlichen Eigenschaften +nicht hoch genug zu schätzen sind.« + +Der chinesische Brief soll irgendwo »zu den Akten« gelegt worden +sein, ohne seine Bestimmung zu erreichen. Die Anerkennung seitens +der englischen Regierung war jedenfalls eine sehr langsame. Dem +damaligen Kriegsminister soll sogar der Name des Oberstleutnant +Gordon ganz unbekannt gewesen sein! Dafür ließ die Stimme des +Volkes sich hören, und »Chinesen-Gordon« lautet der aus jener Zeit +stammende Ehrentitel, der unserem Helden im Volksmund noch immer +anhängt. »Nie,« sagte die Times in jenen Tagen, »hat ein sogenannter +Glückssoldat[4] ein feineres Verständnis für die militärische +Ehre an den Tag gelegt, als der Mann, der nach einer Reihe von +glänzenden Siegen soeben sein Schwert niedergelegt hat. Sein Heldenmut +gegenüber den Widerstandleistenden, seine Barmherzigkeit gegen die +Überwundenen werden nur durch sein selbstloses Außerachtlassen alles +dessen überboten, was ihm persönlichen Gewinn hätte bringen können +... Das Ergebnis seines chinesischen Feldzugs läßt sich kurz dahin +zusammenfassen: er fand die fruchtbarsten Distrikte Chinas verwüstet +und in den Händen von räuberischen Rebellen. Die reichen Gegenden der +Seidenzucht waren eine Stätte barbarischer Greuel; den altberühmten +Städten Hangtschau und Sutschau drohte das Los Nankings, sie waren +nahe daran, im Besitze der Rebellen zu Grunde zu gehen. Gordon hat +den Aufstand mitten entzweigeschnitten, die Städte erobert, die +Räuberhorden aufgelöst; und all dies nicht nur durch die Macht seines +Schwertes, sondern vielfach durch die bloße Wirkung seines Namens.« + +Sein Tagebuch hatte er vor seiner Abreise nach Hause gesandt. + + »Ich wünsche aber keine Veröffentlichung,« schreibt er dazu, »je + bälder diese Geschichte vergessen ist, desto besser; ich weiß + nämlich durchaus nicht, ob wir (die Engländer) ein Recht hatten uns + einzumischen. Meinesteils bin ich ruhig im Gedanken, ein Werk der + Menschlichkeit vollbracht zu haben, doch kann ich nicht erwarten, daß + Fernstehende es eben so ansehen und billigen.« -- + +Gordon war dringend nach Peking eingeladen worden, aber er lehnte die +Aufforderung ab, wohl wissend, daß man ihn dort mit fürstlichen Ehren +empfangen würde. In Schanghai aber hielt er sich vor der Abreise noch +eine Zeit lang auf, um den Chinesen einigermaßen zu einer Armee nach +europäischem Begriff zu verhelfen. + + »Ich mache hübsche Fortschritte, die chinesischen Offiziere + einzuüben,« heißt es in seinem letzten Brief aus China, »es geht + leichter, als ich dachte!« + +Und in eben jenen Tagen, während er als einfacher Exerziermeister +sich bestrebte, Nützliches zu hinterlassen, fiel Nanking. Jeden Fuß +breit, bis in den Palast des himmlischen Königs, verteidigten die +Taipings mit verzweifeltem Mut. Hung hatte seit Monaten in seiner +Teilnahmlosigkeit verharrt, die man nur als eine Phase seines +Wahnsinns betrachten kann. Es durfte ihm niemand sagen, daß die Stadt +sich nicht werde halten können; und bis zuletzt bestand er auf seiner +göttlichen Herkunft. »Ich bin der Herr von zehntausend Völkern, +wen sollte ich fürchten?« rief er. »Ich habe Befehl von Schang-ti +(Gott) und von Jesus selbst, dies Reich zu regieren.« Als der Getreue +ihm einst dringend zur Flucht riet, entgegnete er: »Fürchtest du +den Tod? Ich, der wahre Herr, kann ohne Truppen bestimmen, daß +das Reich des großen Friedens sich bis an die äußersten Grenzen +erstrecke.« Die Berge, die Ströme, die Völker seien sein, sagte +er; und ließ die andern Wangs für sich kämpfen und seine Minister +schalten und walten, wie sie wollten. Nur in ~einem~ war er +unerbittlich: nie durfte man ihn anders als in religiösen Phrasen +und mit kriechender Unterwürfigkeit anreden. Einem die Haut bei +lebendigem Körper abziehen, war von Anfang an seine Lieblingsstrafe +gewesen; jetzt wollte er jeden dazu noch gevierteilt sehen, der es +unterließ, von ihm anders als von dem »Himmlischen« zu reden. Die +letzten Monate seines unglücklichen Daseins verbrachte er unter seinen +Weibern mit religiösen Andachten. Als man ihm mitteilte, daß nur die +allerwohlhabendsten Leute der Stadt noch zu essen hätten, erließ er +eine Verordnung, daß die anderen sich von »duftenden Kräutern« nähren +sollten, wozu er selbst ein gutes Beispiel zu geben wähnte, indem er +Gemüse aus dem königlichen Garten zur Tafel befahl. + +Der getreue Wang wußte wohl, wie es stand, aber Untreue gegen seinen +Herrn scheint ihm nie als eine Möglichkeit vorgeschwebt zu haben. Nach +dem Fall von Sutschau war er zum letztenmal nach Nanking zurückgekehrt +in der Hoffnung, diese Stadt abermals zu entsetzen. Ihm selbst gelang +es, Eingang zu finden, aber seine Truppen hatte er eingebüßt, weil +es weithin an allem Proviant gebrach. Zu Ehren dieses Mannes sei's +gesagt, daß er sich mit Aufbietung all seiner Kräfte und Mittel nun +bestrebte, die Eingeschlossenen vor dem Verhungern zu schützen. Er +erzählt in seinem Tagebuch, daß man sich täglich dem Himmlischen zu +Füßen werfe, aber dieser gestattete keinem, das Wort Übergabe auch +nur in den Mund zu nehmen. Den Rat des Getreuen, die Weiber und +Kinder fortzulassen, verachtete er und wandte sich dem Schildkönig +zu. Der Getreue aber that heimlich was er konnte, und zu tausenden +verließen Weiber und Kinder die Stadt. Der kaiserliche General Tseng +nahm alle auf und ließ ihnen Nahrung reichen. Der Schildkönig war ein +Banditenanführer, und täglich gab es Mord und Totschlag unter den +unglücklichen Taipings. + +Die Tage des großen Friedens waren gezählt. Ob der tolle Schulmeister +wohl je an seine Jugend zurückdachte, da er noch von keinem anderen +Ehrgeiz beseelt war, als im Examen zu bestehen? Ob er sich sein +bisheriges Leben vergegenwärtigte? Ströme von Blut bezeichneten seine +Laufbahn durch die Länge und Breite des blumigen Landes. Friedliche +Städte hatte er in Räuberhöhlen verwandelt, fruchttragende Felder in +Wüsteneien. Und nun das Maß voll war und er inmitten seiner wilden +Horden dem sicheren Tod ins Auge sah, krönte er sein entsetzliches +Leben damit, daß er eigenhändig seine Weiber aufhängte und dann Gift +nahm. + +Nach seinem Tod bestieg sein ältester Sohn, Hung Fu-tien, als der +»junge Herr« den angeblichen Thron; der aber war ein sechzehnjähriger +Jüngling, in vollständiger Unwissenheit aufgewachsen. Die Belagerer +bedrängten die Stadt mehr und mehr. Am 8. Juli wagte der Getreue einen +Ausfall, wurde aber zurückgeschlagen; am 19. gelang es den Belagerern, +mittelst einer Riesenmine, die vierzigtausend Pfund Pulver enthalten +haben soll, die Mauer zu sprengen; sie drangen unaufhaltsam in die +Stadt. Der Getreue leistete zum letztenmal Widerstand, aber die Stunde +der Taipings war gekommen; bis Mitternacht hatte er noch den Palast +des Tien Wang verteidigt, um den »jungen Herrn« und seine weinenden +Angehörigen zu schützen, und als alles zu Ende ging, hatte er den +Palast und seine eigene stattliche Wohnung in Brand gesteckt. In der +allgemeinen Verwirrung, zwischen Feuer, Totschlag und Fluchtversuchen, +legte er eine letzte Probe seiner seltenen Treue ab, indem er den +»jungen Herrn«, der mit zwei seiner Geschwister ihn flehentlich um +Rettung bat, auf sein eigenes tüchtiges Pferd setzte, während er +selbst auf einem ausgehungerten Klepper zu entfliehen versuchte. +»Obgleich der Tien Wang dahin war und alles verloren,« heißt's +in seinem Tagebuch, »so konnte ich doch als einer, dem er einst +wohlwollte, nicht anders, als wenigstens den Versuch machen, seinen +Sohn zu retten.« Daß der Tien Wang ihm schließlich nur mit Undank +gelohnt hatte, schien dieser Edelste der Taipings in seiner schönen +Hingabe vergessen zu haben. + +Es gelang dem »jungen Herrn« sowie auch dem Getreuen und dem +Schildkönig, mit etwa tausend anderen zu entkommen; sie wurden aber +bald von einander getrennt. Als der Getreue fand, daß sein Tier ihn +nicht mehr tragen konnte, suchte er Schutz in einem Tempel; dort +wurde er von Landleuten erkannt, die ihn knieend baten, sich den +Kopf rasieren zu lassen und verkleidet zu entfliehen. »Ich bin der +Diener eines Königs, der nicht mehr ist,« entgegnete er, »es wäre ein +Unrecht an den Gefallenen, ließe ich mir das Haar scheren.« Er fiel +in die Gefangenschaft der Kaiserlichen und wurde samt dem Schildkönig +enthauptet. Während der letzten Tage seines Lebens schrieb er seine +Erinnerungen, die in gedrängter, klarer und durchaus glaubhafter +Darstellung den ganzen Aufstand schildern. + +Was den »jungen Herrn« betrifft, so brachte des Getreuen Pferd ihn +in vorläufige Sicherheit. Aber weder seine Erziehung noch sein +genußsüchtiges Leben in der Gesellschaft seiner jungen Königinnen +hatten ihn dazu geschickt gemacht, mit dem Unglück zu kämpfen. Nachdem +er sich etliche Wochen im Gebirg herumgetrieben und angefangen, im +Hunger sich den Tod zu wünschen, fiel auch er den Kaiserlichen in die +Hände. Trotz seiner inständigen Bitte, ihn am Leben zu lassen, »damit +er noch etwas lernen könne und sein Examen mache,« wurde er alsbald +hingerichtet. + +Im November des Jahres 1864 schickte sich Gordon zur Heimreise an. +Die Kaufleute von Schanghai faßten seine Verdienste um China in einer +äußerst anerkennenden Denkschrift zusammen, die besonders auch darauf +Wert legt, daß seine edle Selbstlosigkeit viel dazu beitragen werde, +die Chinesen von ihrem Mißtrauen gegen alle Ausländer zu heilen. Als +Gordons Tod bekannt wurde, kamen Zeugnisse aus dem fernen China, daß +man seiner dort in Liebe gedenke; und als Gordon in Khartum gefallen +war, da schickten der Kaiser und Li und andere, die ihm ihren Dank +bewahrt hatten, erhebliche Beiträge zu dem Gedächtnisfonds, damit ein +würdiges Denkmal für den Helden erstehe. + +Aber das schönste Zeugnis stellt ihm ein Taipingführer aus, der nach +dem Fall von Sutschau geschrieben hat: »Fern sei es zu behaupten, daß +Gordon um die Greuelthaten wußte. Bei aller Kenntnis des brutalen +Verfahrens, dessen mancher, den Namen Engländer entehrend sich +schuldig macht, glauben wir doch keinen Augenblick, daß der ehrenwerte +Anführer der Armee, die sich die siegreiche nennt, jene mörderischen +Greuel guthieß ... Wir wissen, daß Gordon es stets bitter beklagte, +wenn Grausamkeiten verübt wurden, die er nicht verhindern konnte, und +daß in seinem Herzen der Gedanke brennen muß, wie in seinem Heimatland +solche Greuel vielleicht ihm zur Last gelegt werden. Möge es ihm eine +Genugthuung sein zu wissen, daß unter seinen Feinden, die lieber seine +Freunde wären, jene Thaten ihm nicht zugerechnet werden. Gefiele es +doch dem Himmel, daß irgend ein unwürdiger Abenteurer seine Stelle +einnähme, einer, den man nicht betrauern müßte, wenn er erschlagen +würde! Statt dessen kann ich es bezeugen und habe es mehrmals mit +eigenen Augen gesehen, wie im Schlachtgetümmel einem niederträchtigen +Engländer, den Geldgier in unsere Reihen führte, die Flinte aus der +Hand geschlagen wurde, wenn er von gedecktem Standpunkt aus auf den +stets furchtlos sich bloßstellenden Gordon zu zielen sich unterstand. +Und der solchem Meuchelmord wehrte, war immer einer unserer Anführer, +ja einmal kein anderer als der Schildkönig selbst!« + + + + + Drittes Buch. + + In der Stille. + + +»Es ist einer auf dem Heimweg,« schreibt Gordon an seine Mutter im +November 1864, »aber es ist ihm nicht darum zu thun, daß es bekannt +werde.« Gefeiert zu werden war, wie wir wissen, nicht nach seinem +Geschmack; wozu auch? meinte er, er habe nur seine Pflicht gethan. +Der Geschichtschreiber der stets siegreichen Armee sagt, daß er über +die Persönlichkeit Gordons von ihm selbst wenig Auskunft erhalten +und daß der Leser, in dem die Berichte von Krieg und Sieg mit der +Verherrlichung Gordons unwillkürlich zusammenfließen, sich ohne +Zweifel wundern würde, wenn er den jungen Mann und seine ruhige, +zurückgezogene Art sehen könnte. Freude an energischer Thätigkeit, +Selbstaufopferung und Pflichtbewußtsein seien offenbar die Triebfedern +seines Wesens. Äußerlich aber habe der tief fromme Soldat nichts von +all dem an sich, was sonst den kühnen Anführer einer irregulären +Soldateska kennzeichne. + +Kaum war Gordon im Kreise der Seinigen in Southampton angelangt, da +regnete es auch schon Einladungen aus der vornehmen Welt. Er hatte +den Mut, sie alle abzulehnen. Im engen Familienkreise nur ließ er +sich herbei, seine chinesischen Erlebnisse zu beschreiben; und die +so glücklich waren, es mit anzuhören, fanden die Berichte fast +märchenhaft, fast wie eine Heldensage aus vergangener Zeit. Mit +Ingrimm konnte er da wohl die Greuel des Rebellentums beschreiben, +aber seine Stimme wurde stets leise, wenn von Sieg die Rede war, denn +dann gewann neben der Bescheidenheit des Erzählers Mitleid mit den +Überwundenen die Oberhand. Niedergeschrieben wurde nichts von all dem, +außer was bewunderndes Interesse in die Herzen der Hörer eingrub. +Selbst das Tagebuch, das Gordon aus China nach Hause gesandt hatte, +fiel seiner Demut zum Opfer. Er wünschte keine Veröffentlichung, wie +er bei der Übersendung schrieb. Leihweise fand es indessen seinen Weg +in die Hände eines der Minister, und dieser war daran, es privatim +drucken zu lassen, damit seine Kollegen es auch lesen könnten. Eines +Abends hörte Gordon zufällig davon und begab sich stehenden Fußes nach +der Wohnung des betreffenden Herrn, traf ihn aber nicht zu Hause; doch +erfuhr er den Namen des Druckers, eilte zu diesem und verlangte sein +Manuskript zurück mit dem Befehl, das bereits Gesetzte zu zerstören. +Was jenes Tagebuch betrifft, so hat es niemand je wieder gesehen. +»Ich besitze wenig auf der Welt,« pflegte er zu sagen, »meinen Namen +könnten die Leute mir jedoch als Privateigentum lassen«. Von wie viel +tausend Zungen ist der Name Gordon seither mit Bewunderung genannt +worden! + +Im folgenden Jahre wurde ihm die Ernennung als königlicher +Ingenieur-Kommandant zu Gravesend, wo in Aussicht auf einen möglichen +Krieg mit Frankreich neue Forts an der Themse aufgeführt werden +sollten. In Anerkennung seiner Verdienste erhielt er um diese Zeit +den Ritterorden +of the Bath+.[5] Er war mittlerweile zum +Oberst-Leutnant avanciert. + +In Gravesend war er sechs Jahre, die schönste Zeit seines Lebens +-- arm nach außen in den Augen der Welt, reich nach innen an den +christlichen Früchten der Hingabe und zwar unbewußter Hingabe und der +edelsten reinsten Menschenliebe. Er selbst hat es ausgesprochen, daß +es die glücklichsten, friedlichsten Tage seiner Wallfahrt waren, und +damit giebt er sich selbst ein hohes Zeugnis. Wie ergreifend, wie +herrlich ist das Bild des Mannes, der Thaten vollbracht wie wenige und +der nun seine ganze Freude darin findet, in der Stille an den Armen, +den Kranken, den Verlassenen, den leiblich und geistig Darbenden Gutes +zu thun. Als eine Art Heiliger soll der Mann keineswegs gezeichnet +werden; das wäre eine Übertreibung, die er selbst am meisten beklagt +hätte. Er hatte seine Gebrechen wie alle Menschen, so unterlag er z. +B. hin und wieder seiner Heftigkeit; seine Gleichgültigkeit gegen das +Urteil der Leute grenzte zuweilen ans Rücksichtslose, und wenn er sich +eine Meinung in den Kopf gesetzt hatte, so war es nicht immer leicht, +ihn eines anderen, vielleicht besseren, zu belehren; trotzdem aber +kann der Leser aus folgenden Zügen reichlich erkennen, daß Christus in +diesem Manne eine Gestalt gewonnen hatte, die den meisten Menschen, +ja den meisten Christen ein beschämendes, aber andererseits auch +aufmunterndes Beispiel sein kann. + +Gordon war ein ideal angelegter Mensch, aber das Ideale wurde in ihm +sofort real, praktisch. Sein Christentum war kein enges, frömmelndes, +sondern eine große, tiefe, treue Liebe zu seinem Heiland, die alle +Menschen als Brüder umschloß, ein rechter Israeliter, in welchem kein +Falsch ist! Ob und wann es in seiner Lebensentwicklung einen Zeitpunkt +gab, den man seine »Bekehrung« nennen könnte, ist nicht ersichtlich +-- ernste Eindrücke empfing er schon in Pembroke; das aber ist nicht +zu verkennen, daß ihm Gravesend zum Patmos wurde, wo sein Glaube sich +höher schwang und seine Liebe sich vertiefte, wo er nach dem Worte +lebte: »Simon Johanna, hast du mich lieb? Weide meine Schafe.« + +Er lebte nur für andere. Sein Haus -- und es war ein großes, viel zu +groß für seine bescheidenen Junggesellenbedürfnisse -- war Schule, +Kranken- und Armenhaus in einem; ein zufälliger Besucher hätte es +eher für die Behausung eines Stadtmissionars gehalten als für die +Dienstwohnung eines Offiziers. Kein Notleidender klopfte je vergebens +an seine Thür; alle Hilfsbedürftigen hatten ein Anrecht an ihn, aber +am meisten zog sein Herz ihn zu den sogenannten Straßenjungen. Nie +ging er an einem vorüber ohne ihn anzureden. Er lud sie ein, zu ihm +zu kommen, und versammelte sie bei sich in Klassen, wozu mehr als +ein Zimmer seines Hauses herhalten mußte. Die ganz verkommenen und +heimatlosen behielt er eine Zeit lang bei sich, kleidete und reinigte +sie, um sie dann, am liebsten als Schiffsjungen, unterzubringen. Er +nannte sie seine »Könige« -- als Deutscher hätte er wohl »Prinzen« +gesagt. Einer seiner Bekannten, der ihn einmal besuchte, wunderte +sich, warum auf der Weltkarte in seinem Arbeitszimmer so viel +Stecknadeln mit Fähnchen angebracht waren, und erfuhr dann, daß +Gordon auf diese Weise seine »Prinzen« auf ihren Fahrten begleite; +und er vergaß keinen in seiner täglichen Fürbitte. Seine Prinzen +vergalten ihm die Liebe aber auch mit begeisterter Anhänglichkeit. Sie +vertrauten ihm und lernten von ihm mit der Wahrheit umgehen; und wenn +einer Unrecht that, so wußten sie, daß sein Mitleid immer größer war +als sein Mißfallen. Drei der Jungen hatten einmal das Scharlachfieber +in seinem Hause; er pflegte sie und verbrachte mehrere Stunden der +Nacht an ihrem Bette. + +Auch die Armenschule besuchte er; an den Sonntag-Nachmittagen konnte +man ihn sicher daselbst antreffen, und die es mit Augen gesehen +haben, sagen, kein erhebenderes Bild lasse sich denken als den Helden +Chinas, der den armen Kindern mit heiliger Wärme biblische Geschichten +erzählte, ja mit einer Begeisterung, als führe er sie durch Kampf zum +Sieg. Für jedes einzelne interessierte er sich persönlich, kannte ihre +Lage, ihre Sorgen, suchte sie in ihrer Armut auf und ließ sie zu sich +kommen. Der Armenschule in Gravesend hat er auch seine chinesischen +Trophäen geschenkt, nämlich die seidenen Fahnen, die seine Siege +bekundeten. Ein anderer hätte sie allenfalls einem Monarchen zu Füßen +gelegt; ihn freute es, daß seine Armenschüler damit eine Auszeichnung +gewannen. Mehr als einer jener armen Jungen, der jetzt ein gemachter +Mann ist, und, was besser ist, ein Christ, dürfte ein schöneres +Denkmal für den gefallenen Helden sein, als irgend eines, das seine +Nation ihm zu errichten vermöchte. + +Einer seiner »Prinzen« schreibt unterm 12. März 1885: »Nichts freut +mich mehr, als es bezeugen zu dürfen, was der liebe gute General +für mich und andere gethan hat, während er in Gravesend lebte. Zu +der Zeit, als ich in seinem Hause Aufnahme fand, traf ich dort noch +eine Anzahl anderer Jungen, die alle gleich mir kränklich waren; +unsere Eltern hatten nicht die Mittel, uns hinreichende Nahrung +zu gewähren. Der General aber hatte uns fast täglich bei sich zum +Mittag- und Abendbrot, und wir durften mit ihm am selben Tisch essen. +Drei von uns (darunter ich), die es am nötigsten hatten, schickte +er in das Seebad-Krankenhaus nach Margate, wo er je 16 und 18 Mark +wöchentlich Kostgeld für uns zahlte. Ich war ein volles halbes Jahr +dort, die beiden anderen, ein Junge und ein Mädchen, jedes drei +Monate. Ich danke jetzt noch dem lieben Gott dafür; denn von jener +Zeit datiert meine Gesundheit ... Später hat er mich auch auf einem +Schiff untergebracht und die Lehre bezahlt; ich kann ihm nie genug +danken. Ein anderer Junge, der mit mir dort war, ist jetzt Lotse, und +das verdankt er auch dem General ... Es drängt mich, dies bekannt zu +machen als ein Beispiel von dem, was der liebe General an vielen that. +»Seine Jungen« nannte er uns. Kaum ein Abend verging, daß er nicht +ein Dutzend von uns bei sich hatte, meist Fischerjungen, die nicht +zur Schule gehen konnten; er unterrichtete uns, und wenn das Lernen +vorbei war, durften wir Domino oder Schach spielen, und im Sommer +gab es Cricket. Wenn die Jungen alt genug waren, brachte er sie auf +Kauffahrteischiffen unter, manchmal auch in der Marine. Keinen ließ er +gehen, ohne ihn mit der nötigen Kleidung zu versorgen.« + +Auch später, als Gordon selbst wieder in weite Ferne zog, verlor +er keineswegs das Interesse an seinen »Prinzen«. Mit manchen +korrespondierte er, nach anderen erkundigte er sich, und wo Hilfe not +that, schickte er auch Geld. Hier sind einige Sätze aus einem der +vielen Briefe, die er an einen Freund in Gravesend richtete: + + Galatz, 27. Februar 1872. + + »Es freut mich zu hören, daß Georg P. verheiratet ist und daß Billy + Arbeit gefunden hat ... Ich habe meinen Wagen und die Pferde verkauft + -- ganz unnötiger Luxus ... Meine Grüße an Birls und Ridley; diese + beiden Jungen könnten manchen aus den besseren Ständen zum Muster + dienen. Was den M. betrifft, so sollte er als Junggeselle bei 25 + Mark wöchentlichem Verdienst etwas zurücklegen können; ich lasse ihm + weniger Trunk und mehr Fleiß empfehlen. Ich bedaure, daß Sie, wie Sie + sagen, beinahe angeschwindelt worden sind. Weisheit in Geldsachen + geht uns beiden ab; doch ist es ein Trost, zu wissen, daß Gott uns + immer wieder durchhilft, und wenn wir nicht selbst manchmal Mangel + empfänden, so wüßten wir nicht, was ~Geben~ ist; von unserem + Reichtum geben ist keine Kunst. Ich lasse dem Harry A. für seinen + Brief danken, es freute mich von ihm zu hören. Auch der Frau K. + meinen Dank -- hat Karl Arbeit? Sie ist ein braves Frauchen, und es + würde ihr wohlthun, wenn Sie sie besuchen wollten. Auch nach dem + jungen Fordham könnten Sie sehen, erkundigen Sie sich doch, was er + vorhat; in seiner Schule wird es zu erfragen sein. Das Kunstwerk von + Brief ohne Unterschrift ist wohl von dem kleinen Arthur W..., sagen + Sie ihm, er müsse vor allen Dingen wachsen, bis er über den Tisch + sehen kann, und danken Sie ihm für den Brief. Sagen Sie der Frau M. + ein tröstliches Wort ...; es thut mir sehr leid, zu hören, daß E.. + seine Stelle verloren hat; sagen Sie es ihm mit einem herzlichen + Gruße ....« + +Es erhellt schon aus diesem Briefe, daß er sich nicht nur der Jungen +annahm. An Sonntagen hielt er regelmäßig eine Bibelstunde für alle +Armen, die kommen wollten. Gepredigt im eigentlichen Sinne hat er +dabei nicht, aber wie er ihnen die Bibel auslegte und was er ihnen +von der Liebe Gottes sagte, das kam vom Herzen und ging zum Herzen. +Als er Gravesend verließ, haben die Armen, denen er auf diese Weise +Gutes gethan, aus eigenem Antrieb ihre Scherflein zusammengelegt und +ihm eine schöne Bibel geschenkt; es war eine Gabe dankbarer Liebe wie +selten etwas. + +Auch der Kranken nahm er sich an. Furcht vor Ansteckung kannte er +nicht; er besuchte Häuser in den Armenquartieren, wohin andere zu +gehen sich scheuten. Wenigstens einmal wöchentlich erschien er im +Armenspital, und nie kam er mit leeren Händen. Was seine Freunde +etwa ihm zuschickten, schöne Trauben oder Erdbeeren zu früher +Jahreszeit, das wanderte zu den Kranken. Und die Liebe, die aus seinen +Augen strahlte, und die liebliche Art seines Wesens war den Leuten +erquicklicher noch als seine Gaben. Da las er denn auch ein paar +Bibelworte und betete mit ihnen und verließ sie getröstet. Und sie +zählten die Tage bis er wieder kam, sie richteten sich auf an seiner +wahren Teilnahme, ja manches geprüfte Herz sah da den Himmel offen und +lernte an den Heiland glauben, der alle Schmerzen auf sich genommen +hat. + +Seine einzelnen Samariterdienste sind nicht zu zählen. Er hatte eine +leidenschaftliche Freude an Blumen, hatte auch einen schönen Garten +zu Gravesend, wo er sie pflegen konnte, aber wenn sie erblüht waren, +trug er sie in die Krankenzimmer der Armenquartiere. Er hört von +einer kranken Frau und geht hin, findet sie in Kälte und Elend, da +zündet er eigenhändig ein Feuer an und macht ihr eine Tasse Thee. Dann +schickt er ihr eine Wärterin und bezahlt den Doktor. Die Frau lebt +heute noch, voll Lobes über seine Liebesthat. Ein andermal hörte er, +daß eine Familie in Gefahr ist, aus ihrer Wohnung gewiesen zu werden; +er zahlt die rückständige Miete und entzieht sich dem Danke. Unter +seinen besonderen Schützlingen war ein alter Mann, der seit Jahren +gelähmt war: nur die linke Hand konnte er noch bewegen, auch konnte +er liegend lesen. Gordon sorgte dafür, daß ihm täglich eine Zeitung +zukam. Derselbe gelähmte Mann klagte ihm einst, daß die Fliegen ihn so +quälten, weil er sich ihrer nicht erwehren könne. Gordon sagte nichts, +aber am andern Tage erschien ein den Leuten anfänglich unerklärliches, +mit Schleierstoff überzogenes Gestell. Es war eine Vorrichtung, den +Kopf des Mannes vor den Fliegen zu schützen, ohne ihn am Lesen zu +hindern. + +Ja die Armen und Kranken zu Gravesend, denen er nie vorpredigte, ihr +Elend sei der Wille Gottes, erinnern sich seiner mit lebenslänglicher +Dankbarkeit. Ein alter Mann erzählt, seiner damals leidenden Frau +seien kräftige Suppen und Wein verordnet worden, die er aus seinen +Mitteln nicht bezahlen konnte, aber der gute Oberst habe, als er davon +gehört, täglich eigenhändig Suppe oder Wein gebracht, und als es ihr +wieder besser ging hätte er ihnen aus der Bibel vorgelesen, und das +sei schön gewesen. Niemand beklagte seinen Tod aufrichtiger als dieser +alte Mann, wenn es nicht jene alte Frau war, an deren Jungen er Gutes +gethan hatte. Diese hatte schwer mit Armut zu kämpfen gehabt. Als es +bekannt wurde, Gordon sei tot, meinte die fromme Einfalt, sicherlich +würde er in London begraben werden, und schickte sich an, ihren ganzen +Besitz, ein paar Fischernetze, zu verkaufen, um die Mittel zu einer +Reise nach London aufzutreiben. »Ich muß sein liebes Gesicht noch +einmal sehen,« sagte sie, »es mag kosten was es will, und wenn ich +nachher Hungers sterbe.« + +Gordon war lange in Gravesend, ehe die Leute dahinter kamen, daß der +freundliche Oberst im Forthaus und der »Chinesen-Gordon« ein und +derselbe waren. Äußerst bezeichnend, sowohl für ihn als für gewisse +Leute, ist folgende kleine Thatsache. Er hatte von Anfang an Sonntags +seinen Sitz auf der Emporkirche unter den Armen genommen. Niemand +kümmerte sich darum; als es aber nach und nach bekannt wurde, was +für einen berühmten Mann man in der Gemeinde habe, würdigten die +Kirchenältesten ihn einer feierlichen Aufwartung und baten ihn, +er möge doch herunterkommen und sich eines der gepolsterten Sitze +bedienen, die für die Vornehmeren bestimmt sind. Er dankte für die +Rücksicht, zog es aber vor, unter den Armen auf hölzerner Bank sitzen +zu bleiben. + +Es ließen sich leicht noch Dutzende von Beispielen beibringen, die +sein Leben in der Stille kennzeichnen, doch dürfte das Vorstehende +genügen. Was eine zu Gravesend wohnende Dame, die ihn kannte, über ihn +schrieb, sei jedoch nicht unterdrückt: + +»Seine barmherzige Liebe umschloß alle; daß einer elend und arm +war, war ihm genug, er erkundigte sich nie, ob man seine Hilfe auch +verdiene. Wenn er dabei auch einmal hintergangen wurde, so war's nur +selten[6], denn er hatte ein Auge, das die Leute zu durchschauen +schien, es schien nutzlos, ihn belügen zu wollen. Ich habe mich +oft gefragt, ob es seinem natürlichen Scharfblick zuzuschreiben +ist oder vielmehr der ihm eigenen Einfalt und Selbstlosigkeit, daß +er Menschen und Dinge meist in ihrem wahren Licht sah. Im Armen- +und Krankenhaus war er ein ständiger Gast, und Empfänger für seine +Liebesthaten gab's unzählige in der ganzen Umgegend. Mancher Sterbende +schickte lieber nach ihm als nach dem Pfarrer, und weder Entfernung +noch Wetter hielten ihn je ab, einem solchen Rufe zu folgen. Einen +Armengottesdienst zu leiten, dazu war er immer bereit, und wo man +die Hungernden zum Sichsattessen versammelte, ließ er sich nie +zweimal bitten, ihnen biblische Geschichten zu erzählen. Aber in +Versammlungen religiöser oder philanthropischer Art sah man ihn nie +als Vorsitzenden, und öffentliches Redenhalten haßte er, besonders +wenn es dazu dienen sollte, ihn persönlich zu verherrlichen. Und +nichts war ihm gleichgültiger, als Essen und Trinken, sofern es ihn +selbst betraf. Wir begegneten ihm einmal gegen Abend, und er nahm +uns mit nach Hause, wo der Tisch für ihn gedeckt stand -- eine Kanne +Thee und ein trockenes Laibchen Brot. Ich machte eine scherzende +Bemerkung, ob er auf trockenes Brot reduziert sei; da nahm er das +Laibchen (kein großes), drückte es in ein Schüsselchen und goß den +Thee darüber. ›So, nun wird es bald weich sein,‹ sagte er, ›und nach +einer halben Stunde ist es einerlei, was ich gegessen habe.‹ Um ein +humoristisches oder witziges Wort war er nie verlegen, und noch +seh' ich ihn mit den Augen zwinkern, als er mir erzählte, was für +enttäuschte Gesichter es manchmal unter seinen Jungen gebe, die, von +ihm aufgenommen, sich einbildeten, künftig herrlich und in Freuden +zu leben, und dann die Entdeckung machen mußten, daß Pöckelfleisch +und Kartoffeln auch ein gutes Mittagessen abgebe. Zu seinem Garten +überließ er uns freundlicher Weise den Schlüssel, damit unsere Kinder +darin spielen könnten. Als wir zum erstenmal davon Gebrauch machten, +bewunderten wir die frühen Erbsen und andere leckere Gemüse, die darin +wuchsen, und da eben seine Haushälterin hinzu trat, machten wir eine +darauf bezügliche Bemerkung. Sie erklärte uns alsbald, daß der Oberst +nie dergleichen auf seinem Tisch hätte; er überlasse fast den ganzen +Garten armen Leuten, die ihn anpflanzen und den Ertrag dann verkaufen +dürften. So kam es, daß es bei uns zu einer Redensart wurde, »der +Oberst hat kein Ich.« All sein Thun war selbstlos, und darin folgte er +seinem Herrn. Nie oder selten konnte man ihn dazu bringen, von sich +zu reden. In jener Zeit wurde das erste Buch über ihn geschrieben. +Er lud den Verfasser zu sich ein und half ihm nach Kräften, sofern +es die Einzelheiten über den Taiping-Krieg betraf, wozu er ihm seine +eigenen Aufzeichnungen gab. Als er aber, durch irgend eine Bemerkung, +die gemacht wurde, auf den Verdacht kam, daß in dem Buche von ihm +selbst und seinen Thaten viel die Rede sein könne, da bat er sich +das Manuskript aus und zerriß eine Seite nach der andern zu des +Verfassers nicht geringem Entsetzen. Es war mir ein Anliegen, den Mann +und seine ungewöhnliche Abneigung gegen alles Lob zu verstehen, und +so befragte ich ihn einmal darüber, indem ich hinzufügte, er habe ja +alles Recht, auf diese Dinge stolz zu sein. Da entgegnete er, niemand +habe ein Recht, auf irgend etwas stolz zu sein, da wir alles empfangen +hätten und von Natur in keinem Menschen Gutes wohne. Er setzte +hinzu, daß jeder nur immer alle Ursache habe, sich zu demütigen, +daß alles Medaillentragen, aller äußere Schmuck des Körpers, wie +überhaupt alle Selbstverherrlichung ganz übel angebracht sei. Auch +hätte keiner ein Recht, irgend etwas sein zu nennen, der sich ein +für allemal dem Herrn als Eigentum ergeben habe. Was sollte er da +zurückbehalten? ›Des lieben Gottes Eigentum zu sein,‹ sagte er zu +mir, ›sollte auch Sie hindern, diese goldene Kette da zu tragen; sie +sollte für die Armen verkauft werden.' Indessen gab er zu, daß nicht +alle Menschen je nach ihrer verschiedenen Lage es so leicht finden +möchten wie er, irdischen Besitz in solchem Licht zu betrachten. +~Sein~ Geldbeutel war immer leer infolge seiner Freigebigkeit. +Ein silbernes Theeservice, das Geschenk seines Verwandten Sir William +Gordon, bewahre er auf, sagte er einmal; der Wert desselben werde +ausreichen, früher oder später seine Begräbniskosten zu bestreiten, +ohne anderen zur Last zu fallen. So verhaßt es ihm war, von seinen +Thaten zu reden, so freigebig war er mit seinen Gedanken, und manche +interessante Unterhaltung führten wir mit ihm. Ein gewisser mystischer +Zug, der ihm eigen war, verlieh seiner Rede einen eigenen Reiz; wir +haben viel von ihm gelernt. Er besuchte uns oft, aber es war eine +ausgemachte Sache, ohne daß je ein Wort darüber verloren worden wäre, +daß man ihn nie auffordern dürfe, länger zu bleiben, wenn er sich zum +Gehen anschickte. Ihn je zu Tisch zu bitten, wäre ordentlich eine +Beleidigung gewesen: ›Ladet die Armen und Kranken ein,‹ hätte man da +zur Antwort erhalten, ›ich kann zu Haus essen.‹« + +Daß er neben seinen Berufsarbeiten und täglicher fleißiger +Beschäftigung mit Gottes Wort so viel Zeit fand, Gutes zu thun, +verdankte er einerseits seiner Gewohnheit früh aufzustehen, +andererseits seinem methodischen Fleiß, der nie auf einen andern +Tag verschob, was sofort geschehen konnte. »Warum sollte man etwas +hängen lassen, was man gleich erledigen kann,« pflegte er zu sagen. +Immer beschäftigt sein, war offenbar die äußere Bedingung seiner +Zufriedenheit. Einer Dame, die sich bei ihm über die Langeweile des +Mode-Lebens beschwerte, gab er den guten Rat, sich doch einmal am +Waschzuber ordentlich müde zu schaffen. Einer seiner Untergebenen, der +über die Arbeiten seines Berufes in Gravesend berichtet hat, schreibt +unter anderem: »Wenn Gordon an der Arbeit war, dann ~war's~ +Arbeit, und keiner von uns hätte es sich beikommen lassen, ihn auf +irgend etwas einen Augenblick länger warten zu lassen als absolut +nötig war. ›Schon wieder fünf Minuten verloren, die wir nie wieder +haben werden!‹ konnte er ausrufen. Er hielt strenge Ordnung, aber das +hinderte keinen, mit völliger Liebe und Verehrung an ihm zu hängen.« + +Gordons äußere Erscheinung soll durchaus nichts Überwältigendes +gehabt haben. Er war nicht groß, hatte kein stattliches Auftreten; +man sah ihm den Soldaten nicht an. Wer ihm zum erstenmale begegnete, +konnte aus seinem bescheidenen Äußeren nicht schließen, daß er +es mit einem der tüchtigsten Offiziere zu thun habe. Daß er der +»Chinesen-Gordon« war, stand ihm nicht auf der Stirn geschrieben, +obgleich er der denkbar offenherzigste Mensch war. Ein gewisses +jugendliches Aussehen soll er bis ins mittlere Alter bewahrt haben. +Die ihn kannten, stimmten darin überein, daß seine Macht über die +Menschen von seinen blauen Augen ausging -- »sein Gesichtsausdruck +hatte nichts bedeutendes, war aber von der Art, die es ›einem +anthut,‹« sagt einer seiner Mitoffiziere, ein langjähriger Freund, +»und im Umgang hatte er etwas unaussprechlich bezauberndes.« Man +habe sich mit unwiderstehlichem Vertrauen zu ihm hingezogen gefühlt +als zu einem Mann, der es gut mit einem meine; man habe ihm nur ins +Auge zu sehen brauchen um zu wissen, daß man sich felsenfest auf ihn +verlassen könne, selbst wenn alle andern einen im Stich ließen. Neben +der Sanftmut und Güte seines Wesens, die alle rühmen, die je mit ihm +zu thun hatten, konnte er aber auch herzhaft zornig werden, wie schon +angedeutet wurde. Er kannte diese seine schwache Seite wohl, und wenn +einer seiner Untergebenen einen Verweis verdiente, so suchte er für +den zu erlassenden Tadel gern einen Stellvertreter, aus Furcht, von +der Hitze mit fortgerissen zu werden. + +Wohl der schönste Zug seines Wesens war seine wunderbare Demut, die +nie heller leuchtete als im Umgang mit den Armen und Niedrigen. +Solchen erzählte er auch mit größter Bereitwilligkeit aus seinem +Leben in China und anderwärts, worüber seinesgleichen ihn nie reden +hörten. Er war höflich gegen den Geringsten und konnte einen Bettler +um Verzeihung bitten, wenn er ihm eine Münze hastig hingeworfen. Wer +zu jener Zeit in Gravesend wohnte, der konnte hin und wieder sehen, +wie er auf der Straße plötzlich stehen blieb, um vielleicht einem +armen Waschweib ihre Last abzunehmen, sei's Bündel oder Korb, und ihr +tragen zu helfen, und war einer seiner Freunde in der Nähe, vornehm +oder gering, so konnte er gewärtig sein, auch aufgefordert zu werden, +mit Hand anzulegen. + +Gordon war ein Christ in des Wortes vollster Bedeutung, aber einer +besonderen Gemeinschaft im englischen Sinn hat er nicht angehört. Dies +ist schon durch seine Lebensführung begreiflich. Auch darf man wohl +sagen, daß einer, der so in der Allgegenwart, ja Gemeinschaft Gottes +wandelt, über die Unterschiede hinaus ist, die uns andere, die wir +noch Schüler sind, in Klassen abteilen. Er hat sein Leben, wie wir +gesehen haben, nach dem Wort eingerichtet: Ein reiner und unbefleckter +Gottesdienst vor Gott dem Vater ist der, die Waisen und Witwen in +ihrer Trübsal besuchen und sich von der Welt unbefleckt erhalten. +Übrigens hielt er dafür, daß das Christentum eines Menschen sich vor +allen Dingen in der gewöhnlichen Berufs- und Pflichterfüllung des +Lebens bethätigen müsse. Das ist's, was der seltenen Energie zu Grunde +liegt, die ihn zum großen Manne gemacht hat; das auch, was in der +Gerechtigkeit, Festigkeit, Milde und Umsicht seinen Ausdruck fand, die +seine Verwaltung des Sudan so rühmlich kennzeichneten. Er war überall +und in allen Dingen ein Christ. Sich selbst für besser halten als +andere, war nicht seine Sache. »Wir sind alle voll Schwären,« konnte +er sagen, »manche verdecken ihre Schäden mit seidenen Lappen, andere +haben nur Lumpen; reißt beides weg, und die Krankheit ist dieselbe.« + +Auf sein inneres Leben und seine Stellung zur christlichen Lehre +werden wir später zurückkommen. Die Früchte, die aus seinem Glauben +erblühten, sind mit der kurzen Schilderung aus Gravesend wohl zur +Genüge dargethan. + +Im Jahr 1871 wurde Gordon nach Galatz geschickt, in eine ihm nicht +unbekannte Gegend, wo er an der Donau-Mündung eine ähnliche Arbeit +ausführen sollte wie daheim an der Themse. Die »öffentliche Meinung« +aber fing an sich zu wundern, warum die Kräfte eines so eminent zum +Kriegführen geschaffenen Mannes wie Gordon an eine Arbeit verschwendet +würden, die jeder andere Ingenieuroffizier auch erledigen könne. +Es war die Zeit der Asante-Sorgen, und die Zeitungen fingen an sich +zu erkundigen, wo der »Chinesen-Gordon« stecke und warum man nicht +ihn absende, um dem König Kofi das Handwerk zu legen. Unter den +vielen Zuschriften an die öffentlichen Blätter in jener Zeit verdient +ein »Mandarin« unterzeichneter Brief, den die Times brachte, hier +wenigstens im Auszug wiedergegeben zu werden. + +»Es ist zum Verwundern,« sagt der Schreiber, ein ehemaliger Offizier +der stets siegreichen Armee, »wie wenig die erstaunlichen Thaten +des Mannes, der als »Chinesen-Gordon« öfters genannt worden ist, +in diesem Land bekannt geworden sind. Als einer, der in der stets +siegreichen Armee unter ihm diente -- welche Bezeichnung ganz gewiß +nicht aus seinem Munde stammt -- könnte ich lange Spalten füllen mit +den Beweisen seiner unglaublichen Thatkraft, seiner über alles Lob +erhabenen Um- und Vorsicht, seiner anspruchslosen Bescheidenheit, +seiner Ausdauer und Herzensgüte, seines überlegenen Mutes, ja +Heldenmutes. Es ist die einfache Wahrheit, daß alle, die je unter ihm +gedient haben, seine militärische Tüchtigkeit, um nicht zu sagen sein +Kriegsgenie, in alle Himmel erheben. Es giebt nicht viele Heerführer, +denen ein ganzes Offizierkorps solch einstimmiges, begeistertes Lob +zollt. Und noch wunderbarer ist die völlige Hingabe, mit der die +chinesischen Truppen ihm anhingen, das unbedingte Vertrauen, das sie +in irgend welches Unternehmen setzten, wenn nur er es persönlich +leitete. In ihren Augen war er einfach ein Zauberer, dem alles möglich +war .... In ihrem Glauben an seine gefeite Unverwundbarkeit bestärkte +sie seine Gewohnheit plötzlich zu erscheinen, wenn die Truppen unter +Feuer waren, wo er dann im dichtesten Kugelregen ganz ruhig dastand. +Außer seinem spanischen Rohr, das die Soldaten seinen Zauberstab +nannten, trug er ein kurzes Fernrohr, nie Waffen; oder richtiger, +was er an Waffen trug, war unsichtbar.... Einmal nur erinnere ich +mich Zeuge gewesen zu sein, wie Gordon einen Revolver zog. Es war +bei Kuinsan, nachdem die Truppen ein Vierteljahr lang während der +Sommerhitze im Quartier gelegen hatten. Man benutzte diese Zeit, +sie einzuexerzieren, mit dem Gedanken an die geplante Einnahme von +Sutschau. Die Hitze war entsetzlich. Ruhr und Cholera lichteten die +Reihen, und die Disziplin war nicht ganz so stramm wie sonst..... Als +gegen Ende September Befehl zum Abmarsch gegeben wurde -- es galt +die Forts und Schanzenwerke zwischen Kuinsan und Sutschau -- war's +besonders die Artillerie, die den Gehorsam weigerte. Eine Kompagnie +wurde störrig und wollte sich nicht einschiffen ... da erschien Gordon +mit seinem Dolmetscher. Er war zu Fuß, dem Anschein nach unbewaffnet +und wie gewöhnlich sehr gefaßt. Sobald er zur Stelle war, erließ er +durch den Dolmetscher die Ordre, daß jeder Soldat, der gesonnen sei, +sich nicht einzuschiffen, vortreten solle. Nur einer trat vor. Da zog +Gordon eine Pistole aus seiner Brusttasche, richtete sie gegen des +Mannes Kopf und ließ ihm durch den Dolmetscher zurufen: »Marsch!« Der +Mann gehorchte auf der Stelle und die ganze Kompagnie ihm nach. Sage +einer -- das hätte jeder andere kaltblütige und entschlossene Offizier +auch erreicht! Durchaus nicht! Wenigstens gab's unter uns damals nur +~eine~ Meinung, daß der Gehorsam in diesem Fall lediglich der +grenzenlosen Achtung, ja Ehrfurcht zuzuschreiben war, mit welcher +das ganze Korps zu Gordon aufsah. In der That war die Stimmung der +Truppen damals eine solche, daß wenn irgend ein anderer Offizier es +gewagt hätte, zu handeln wie Gordon handelte, offene Meuterei und +die Ermordung der Offiziere die Folge gewesen wäre .... Die wahre +Ursache der beispiellosen Erfolge des Korps ist einerseits wohl in +der militärischen Tüchtigkeit des Anführers zu suchen, andererseits +aber in seinem Charakter und seinem ganzen Wesen, welches der Art +war, daß alle, die mit ihm in Berührung kamen, unbegrenztes Vertrauen +in seine Fähigkeit setzten neben dem festen Glauben, daß er mit +den besten ihm zu Gebot stehenden Mitteln die besten Resultate zu +gewinnen der Mann war.[7] Wer Gordon kennt mit seiner anspruchslosen +Persönlichkeit, seiner ruhigen zurückhaltenden Art, kann von seinem +wunderbaren Einfluß über ein Heer von unwissenden Soldaten und aus +aller Herren Länder zusammengelaufenen Offizieren nur auf die höchsten +Eigenschaften seines Charakters schließen. Um einen Vergleich zu +ziehen, so möchte es scheinen, daß die unwissenden Chinesen den Mann +besser zu würdigen verstanden, als gewisse wohl unterrichtete Leute +hierzulande.« + +Allein die Regierung hatte taube Ohren; einer aus dem Ingenieurkorps, +und wäre er selbst der »stets siegreiche General«, wie das Volk +ihn neuerdings nannte, sei nicht fürs Kommando bestimmt, war die +Entschuldigung. Als der Khedive aber nach einiger Zeit einen +Kommandanten nötig hatte und sich dazu den Oberst Gordon ausersah, +hatte die englische Regierung nichts dagegen einzuwenden. + + + + + Viertes Buch. + + Im Lande der Schwarzen. + + +Die Sudanländer sind insbesondere durch deutsche Reisende allgemeiner +bekannt geworden. Der Name »Sudan« bedeutet nichts anderes als das +~Land der Schwarzen~ und stimmt also mit der alten Bezeichnung +»Äthiopien« überein, woraus sich ergiebt, daß der Sudan, heutzutage +ein Land des Elends und der Knechtschaft, schon eine bessere +Vergangenheit gekannt hat. Wir erblicken in ihm das Mohrenland der +Bibel, das Land der Königin Kandaze. Im Propheten Jeremia ist zu +lesen: Lasset die Helden ausziehen, die Mohren! Memnon, ein König von +Äthiopien, zog mit zehntausend Mann den Trojanern zu Hilfe. Und auch +neuerdings haben sich die Sudanesen als Soldaten bewährt, mit denen +nicht zu spassen ist. Aber der Fluch Hams liegt auf dem Lande. + +Sudan ist ein Gemeinname, er umfaßt die ungeheuren mittelafrikanischen +Ländergebiete zwischen Ägypten im Norden und den Seen (Njansa) im +Süden, zwischen dem Roten Meer im Osten und dem Lande Darfur im +Westen. Khartum am Zusammenfluß des Blauen und Weißen Nils liegt +so ziemlich in der Mitte zwischen dem Mittelländischen Meer und +dem Viktoria Njansa, von Meer und See je sechzehnhundert Kilometer +entfernt. Von Khartum nach der Ostgrenze des Sudans, nämlich bis +zu den Hafenstädten Suakim und Massaua am Roten Meer, beträgt die +Entfernung etwa sechshundert Kilometer, nach der Westgrenze bis +Darfur sind es zwölfhundert. Die Hauptstationen zwischen Khartum und +Ägypten sind Berber und Dongola, beide am Nil. In Berber mündet die +Wüstenstraße von Suakim her, und zwischen diesen beiden Orten ist die +Eisenbahnlinie projektiert, die den Sudan vom Roten Meer aus leichter +zugänglich machen soll. Um die Entfernungen durch einen Vergleich zu +veranschaulichen, so ist es von Kairo nicht weiter nach Petersburg +als nach Gondokoro, der Hauptstadt der ägyptischen Äquatorialprovinz, +während es von Khartum nach Gondokoro etwa so weit ist, als von +Berlin nach Rom. Khartum und Gondokoro sind durch den Nil verbunden, +durch den »Ssett« aber, eine Massenanhäufung von schwimmenden +Wassergewächsen, sind diese Städte trotz aller Dampfer oft monatelang +außer Verbindung. + +Ägypten hat sich während der letzten sechzig Jahre in den Sudanländern +ausgebreitet. Mehemet Ali mochte es redlich meinen oder nicht, als +er sich anschickte, an die Stelle der herrschenden Anarchie im +Sudan eine geregelte Regierung zu setzen, und seinen Sohn Ismail +mit einem Soldatenhaufen und etlichen Gelehrten hinsandte, um von +dem Lande Besitz zu nehmen. Dieser aber wurde mit samt seinem +Gefolge von einem Häuptling verbrannt. Man wußte sich furchtbar zu +rächen, und die ägyptische Gewaltherrschaft wurde aufgerichtet. Die +geregelte Regierung bekundete sich in Unterdrückung und Aufstand, +und die eingeführte Zivilisation beschränkte sich hauptsächlich +auf Elfenbeinhandel, wogegen nichts zu erinnern gewesen wäre, wenn +nicht auch das »schwarze Elfenbein«, der Negerhandel, zur Goldquelle +geworden wäre. Der Sklavenhandel nahm nach und nach so zu, daß er +zum offenkundigen Skandal wurde. Die arabischen Händler zahlten +eine beträchtliche Abgabe an die ägyptische Regierung, die deshalb +ein Auge zudrückte. Das Elend im Land spottete aller Beschreibung; +ein ehrliches Gewerbe konnte neben dem Menschenraub nirgends +aufkommen. Europäische Händler waren die Urheber des Unfugs. Um +das Jahr 1860 mußten sich diese aber angesichts der öffentlichen +Meinung zurückziehen. Seither haben die Araber die Negerjagd und +den Negerhandel ins Unglaubliche getrieben. Die Einwohnerschaft der +Sudanländer besteht nämlich aus zwei Hauptklassen, von welchen die +eine, die eingewanderten Araberstämme, die natürliche Unterdrückerin +der andern, der Neger, ist. ~Schweinfurth~ beobachtete die +Sklavenhändler mehrere Jahre lang. Vor zwanzig Jahren, schreibt +er, gab es Hunderte von Denka-Dörfern auf der östlichen Seite des +Flusses, jetzt ist die ganze Strecke zur Einöde geworden. Man stößt +allenthalben auf Spuren, daß Dörfer und angebaute Gegenden da zu +finden waren, wo jetzt alles verwüstet ist; die Bevölkerung muß +wenigstens um zwei Drittel abgenommen haben. Sir ~Samuel Baker~ +ist der Ansicht, daß niemand anders als die ägyptischen Pascha an der +Verwüstung des Denka-Landes schuld seien. »Das Land ist vollständig +entvölkert infolge der Razzien der vom Statthalter von Faschoda +begünstigten Sklavenjäger.« Er durchreiste das Land nach allen +Richtungen und kam allerwärts auf Spuren zerstörter Dörfer. Im Jahre +1864 sah er die Gegend des Viktoria-Nils zum erstenmal; das Jahr +1872 brachte ihn wieder dahin. »Die in diesen Jahren stattgefundene +Veränderung ist nicht zu beschreiben; damals war die Landschaft ein +Garten, dicht bevölkert und voll reicher Produkte. Jetzt ist alles +zur Wüstenei geworden! Niemand ist schuld daran, als die Khartumer +Händler, welche Weiber und Kinder in die Sklaverei führen und plündern +und zerstören, wo sie hinkommen.« »Man sieht meilenweit keine +Menschenseele,« schreibt Gordon, als er den Sobat hinaufdampfte: »die +Sklavenhändler haben die ganze Bevölkerung aufgerieben und die Gegend +zur vollständigen Wildnis gemacht.« + +Während einer Reihe von Jahren geschah nichts, um dem schändlichen +Handel zu steuern. Zwar wurden Proklamationen erlassen, aber, +wie Schweinfurth sagt, schien eine unüberwindliche Neigung zum +Sklavenhandel jedem Türken oder Ägypter angeboren, der im Dienste +der Regierung den Sudan verwalten half. Und als der Greuel dem +Khedive endlich zu arg wurde, war dies nicht sowohl eine Regung von +Mitleid mit den armen Negern, als vielmehr Furcht vor einem sich +erhebenden Machthaber, der seine Oberherrschaft im Sudan bedrohte. Die +Sklavenhändler zählten nach Tausenden; mit bewaffneten Horden zogen +sie durchs Land, ja so mächtig wurden sie, daß sie die Abgaben an die +Regierung nicht länger zu entrichten für nötig fanden. Auch das war +ein Grund, ihnen das Handwerk zu legen. Unter den Sklavenhändlern +war besonders einer, der durch seinen unglaublichen Reichtum, seine +aus Sklaven rekrutierten Truppen, sowie durch die beträchtliche +Anzahl seiner befestigten Stationen fast die Stellung eines Königs +einnahm. Es war dies der berüchtigte Sebehr Rachama, der schwarze +Pascha. Schweinfurth fand ihn von fürstlichem Hofstaat umgeben. Seine +Gäste wurden von reichgekleideten Sklaven in mit kostbaren Teppichen +behangene Vorzimmer geführt, und um den königlichen Glanz seiner +Umgebung zu erhöhen, wurden Löwen herbeigebracht. Sein Reichtum und +sein Aberglaube schienen einander die Waage zu halten, wenigstens wird +erzählt, daß er einmal fünfundzwanzigtausend Maria-Theresia-Thaler +einschmelzen ließ, um Kugeln aus Silber zu gießen, mit denen ein +Feind beschossen werden sollte, der angeblich gegen Blei gefeit +war. Ursprünglich ein Elfenbeinhändler, hatte er sich auf das +»schwarze Elfenbein« verlegt. Er war Herr von nicht weniger als +dreißig Stationen, die sich bis ins Innere von Afrika erstreckten, +und sein Name verbreitete Schrecken durch den ganzen Sudan. Von den +einzelnen Stationen aus wurden Streifzüge auf die Neger unternommen; +auf den Stationen fanden sich die Kleinhändler ein, welche ihm die +Sklaven abkauften und durch die Wüste an die Grenze schleppten. Als +Schweinfurth im Jahre 1871 die Raubhöhle Schekka, Sebehrs Hauptstation +an der Südgrenze Darfurs, besuchte, fand er daselbst nicht weniger +als zweitausendsiebenhundert solcher Händler, die gekommen waren, +um sich mit Sklaven zu versehen. Schon 1869 hatte es die ägyptische +Regierung versucht, Sebehrs großer Macht einen Zügel anzulegen. Eine +Truppenabteilung unter einem Anführer Namens Bellal folgte dem +Sklavenräuber in die Bahr el Ghasal. Es kam auch zu einem Gefecht, +in welchem Bellal, sowie die meisten seiner Soldaten umkamen. +Sebehr selbst trug eine Fußwunde davon. Der Khedive war nicht wenig +entrüstet, mußte sich aber vorläufig damit zufrieden geben, daß nicht +er, sondern Sebehr Herr im Sudan war, den Tausende von Sklavenhändlern +als solchen anerkannten. Zwar dem Namen nach war Sebehr ägyptischer +Unterthan, aber in Wirklichkeit souveräner Herr. + +Die Eroberung Darfurs war eines der mit Bellals Unternehmen in +Aussicht genommenen Projekte. Dieses Land war damals noch frei. Es +hatte seit vierhundert Jahren seine eigenen Sultane. Darfur ist der +Kornspeicher für den westlichen Sudan, und der regierende Sultan hatte +dem drohenden Überfall Bellals eine Ausfuhrsperre entgegengesetzt, +was nicht nur seinem offenen Feinde, sondern auch den Sklavenhändlern +ungelegen kam. Sebehr war Manns genug, einen Gegenschlag zu führen. +Er plante seinerseits eine Einnahme Darfurs. Das konnte dem Khedive +nicht einerlei sein. Fiel Darfur in Sebehrs Hand, dann war nichts +wahrscheinlicher, als daß der ganze Sudan sich ihm ergeben würde. Der +Khedive nahm zur Politik der Feigheit seine Zuflucht und beschloß, +lieber mit als gegen Sebehr zu handeln, worauf ägyptische Truppen +unter Ismail Pascha Jakub vom Norden her in Darfur einfielen, während +die Sklavenhändler es im Süden bedrängten. + +In einer Schlacht wurde der Sultan von Darfur erschossen, und als +seine beiden Söhne den Leichnam decken wollten, fielen auch sie. Ihr +jüngerer Bruder war ein Kind, und ein entfernterer Verwandter Namens +Harun beanspruchte die Thronfolge. Darfur aber wurde unterjocht und +Sebehr zum Pascha gemacht. Diese Ehre war ihm keineswegs genügend; er +und seine Horden hätten das Land erobert, sagte er, ihm komme es daher +zu, als Generalgouverneur die neue Provinz zu verwalten. Er hatte +sogar die Kühnheit, selbst nach Kairo zu gehen, um seine Ansprüche +dort geltend zu machen. Zwei Millionen Mark soll er mit sich genommen +haben, um die Pascha zu bestechen. Es nützte ihm nichts, er wurde in +Kairo festgehalten. Soliman, Sebehrs Sohn, beunruhigte an seines +Vaters Statt das Land und war die Seele eines gewaltigen Aufstandes. +Wie derselbe von Gordon und seinem kühnen Stellvertreter Gessi +unterdrückt wurde, werden wir später hören. + +Der Khedive, der den Sklavenhandel geduldet, wo nicht geschützt hatte, +so lange er ihm eine Rente abwarf, verfiel auf philanthropische +Motive, sobald seine Oberherrschaft gefährdet war. Durch ganz Europa +posaunte er die Nachricht, daß er gesonnen sei, den greulichen +Handel auszurotten. Nur zu diesem Ende habe er Sir Samuel Baker an +den Äquator geschickt und nun auch den genialen Gordon berufen. Das +ganze Nilbecken bis zu den Seen am Äquator wurde zu einem Teile von +Ägypten erklärt. Selbst an jenen äußersten Grenzen -- so lautete das +vielverheißende Manifest -- müßten Leib, Leben und Freiheit fürderhin +als heilige Dinge gelten. Unter dieser Maske der Menschenliebe wurde +Gordon, der als einer der aufrichtigsten Menschenfreunde, als einer +der kühnsten Heerführer bekannt war, für den neuen Gouverneurposten in +Aussicht genommen. Oberägypten sollte einen Regierungsbezirk für sich +bilden, und der Elfenbeinhandel innerhalb seiner Grenzen wurde zum +Staatsmonopol erklärt. + +Gordon war noch in Galatz, als ihm die neue Thätigkeit angeboten +wurde. Im Jahre 1872 war er in Konstantinopel mit dem ägyptischen +Minister Nubar Pascha zusammengetroffen, und dieser, von seiner +Tüchtigkeit überzeugt, hatte ihn gefragt, ob er nicht einen Nachfolger +für Baker zu empfehlen wisse. Gordon erblickte in dem sich eröffnenden +Wirkungskreise eine Möglichkeit, den geknechteten Schwarzen zu dienen, +und bot im folgenden Jahr seine Dienste an, vorausgesetzt, daß der +Khedive bei der englischen Regierung um ihn einkommen wolle und diese +nichts dawider habe. In England schien man seiner nicht zu bedürfen, +und so machte er sich auf den Weg zur Ausrichtung eines großen Berufs +im Innern des schwarzen Weltteils. Es war der Tag, der die Nachricht +vom Tode Livingstones nach England brachte, an welchem Gordon von +London aufbrach! Jener war mit dem Gebete auf den Lippen gestorben, +daß der Herr sich Afrikas erbarmen und einen Befreier senden möge. +War es nicht wie eine Antwort auf diese Bitte, daß Gordon sich +rüstete, um den Kampf mit dem großen Unrecht aufzunehmen, das jener +ans Licht gebracht hatte? Die Namen Livingstone und Gordon sind wie +zwei Sterne an Nachthimmel Afrikas; beide sind untergegangen; wann +wird der Tag anbrechen? + +Der Khedive setzte seinem neuen Statthalter denselben Jahresgehalt +aus, den Baker bezogen hatte, nämlich zweimalhunderttausend Mark, +Gordon selbst aber bestimmte nur vierzigtausend. Das war dem Khedive +und noch andern Leuten ein Rätsel. Wer den Mann aber kannte und +überdies wußte, auf welche Weise Ismail seine Schatzkammer füllte, dem +war die Handlungsweise erklärlich. Gordon verabscheute einen Gewinn, +der, wie er wohl wußte, dem Schweiß der Fellahs erpreßt wurde; es +wäre ihm wie Blutgeld vorgekommen; er nahm daher nur so viel, als er +durchaus nötig hatte. »Wie Mose, so verachte auch ich den Reichtum +Ägyptens,« schreibt er. »Wir haben einen König, der mächtiger ist, +denn diese alle, und bessere Güter in ihm, als die Welt uns bieten +könnte. Ich beuge mich keinem Haman.« + +Gordons Auftrag bestand darin, eine fast unbekannte Provinz zu ordnen, +in der bewaffnete Händler ihr Wesen trieben und durch Elfenbein +und Schwarze sich bereicherten. Die eingeborenen Stämme hatten sie +grausam unterdrückt und gezwungen, mit ihnen Handel zu treiben, ob +sie wollten oder nicht. Einige dieser Tyrannen hatten Erlaubnis, +im Lande zu wohnen, vorausgesetzt, daß sie sich des Sklavenhandels +enthielten; man hatte sie dem Gouverneur vom Sudan unterstellt. Dieser +aber war von Khartum aus nicht im stande gewesen, seine Autorität +geltend zu machen, und aus diesem Grunde hatte der Khedive die neue +Äquatorialprovinz gebildet. Wenn der Sklavenhandel und das Raubwesen +erst einmal abgeschafft wäre, dann sollte aller rechtmäßige Handel +frei sein. Gordon sollte eine Kette von Stationen errichten, sollte +versuchen, das Vertrauen der Stämme zu gewinnen und der Sklavenjagd +auf alle mögliche Weise entgegenarbeiten. + +Aber bei seinem kurzen Aufenthalte in Kairo hatte er mit dem ihm +eigenen Scharfblick den Khedive und seine Pläne durchschaut. »Ich +glaube, den wahren Beweggrund entdeckt zu haben,« schreibt er, +»man hofft, uns Engländern Sand in die Augen zu streuen.« Trotzdem +schwankte er keinen Augenblick. Er wußte, daß er in eines Höheren +Dienst stand, und das gab ihm Kraft. So schreibt er einmal: + + »Wer dürfte es wagen, der nicht den allmächtigen Gott auf seiner + Seite hat? Ich kann es und will es thun, ~denn mein Leben achte + ich für nichts~ -- ich würde nur viel zeitlichen Verdruß mit dem + ewigen Frieden vertauschen!« Und weiter: »~Wer doch den Tod immer + als Erlöser vor Augen hätte!~ Welche Ruhe ist des Menschen Teil, + der so denkt, und was für Thaten kann er vollbringen -- nichts kann + ihn mehr beunruhigen, in welchem Amt er auch stehe!« + +Es war Gordons Wunsch, als gewöhnlicher Passagier sich nach Suakim zu +begeben; allein Nubar Pascha erklärte, der Gouverneur von Oberägypten +müsse mit Gepränge reisen. Ein Gefolge wurde ernannt, und, von einem +Adjutanten des Khedive begleitet, sollte Gordon mit einem Extrazug +nach Suez fahren. Aber unterwegs versagte die Lokomotive, und die +Reise mußte mit dem gewöhnlichen Zug fortgesetzt werden -- ein +Hauptspaß für Gordon. »Wir haben groß angefangen und dürfen klein +aufhören,« berichtet er darüber. Von Suakim ging's durch die Wüste +nach Berber; etwa zweihundertundzwanzig Mann Militär, die mit ihm +an Bord waren, bildeten die Eskorte für den vierzehntägigen Marsch, +dessen Länge Gordon keineswegs beklagte, denn es war ihm vor allen +Dingen darum zu thun, seinen Soldaten, die von Mannszucht nichts +wußten, Gelegenheit zu geben, ihn kennen zu lernen. Was persönlicher +Einfluß vermag, das wußte er von China her. + +Sein Generalstab bestand aus einem kühnen und in jeder Beziehung +tüchtigen Italiener, dem nachmals so rühmlich bekannt gewordenen +~Romulus Gessi~, den er als Dolmetscher schon in der Krim kennen +gelernt hatte; ferner aus mehreren anderen Europäern, Namens Kemp, +Russell, Anson und zwei Brüdern Linant, dem Amerikaner Long und Abu +Saud, einem gewesenen Sklavenhändler und niederträchtigen Menschen, +den er in Kairo als Gefangenen vorfand und dem er mit einem gewissen +Eigensinn zutraute, daß er sich künftighin der Redlichkeit befleißigen +und sich nützlich erweisen werde. Der Khedive wußte nicht recht, was +mit diesem Gefangenen anfangen, der am oberen Nil als »Sultan« bekannt +war, aber nichts weniger als einen guten Namen dort hinterlassen +hatte. Gordons Vorschlag, sich seiner Kenntnis des Landes zu bedienen, +hielt der Khedive für sehr gewagt; Gordon aber ließ sich in diesem +Vertrauen nicht irre machen, und der ehemalige Sklavenjäger wurde +seinem Stabe einverleibt. Die Gewohnheit Gordons, Feinde durch gutes +Zutrauen zu Freunden zu machen, hat sich in seinem Leben zwar oft +bewährt; Abu Saud aber hat die ihm entgegengebrachte gute Meinung +~nicht~ gerechtfertigt und Gordon viel zu schaffen gemacht, bis +dieser sich durch einen Machtspruch seiner wieder entledigte. + +Über Gordons Zeit im Sudan liegt ein umfangreicher Band seiner, +hauptsächlich an seine Schwester gerichteten Briefe vor; wir folgen +ihm ins Land der Schwarzen an der Hand dieser Briefe. Am 13. März 1874 +wurde Khartum erreicht. + + »Der Generalgouverneur kam in voller Uniform Deinem unter dem Donner + der Geschütze landenden Bruder entgegen. Gestern stand dieser noch + mit nackten Beinen im Nil und half das Boot flott machen -- trotz + der Krokodile, die einem nichts thun, so lange man in Bewegung ist + -- heute salutiert ihn die Garde, so oft er sich blicken läßt ... + Ich habe seit meiner Ankunft schon Musterung gehalten und das Spital + und die Schulen besucht; die kleinen Schwarzen lachten, als sie mich + sahen. Ich wollte, die Fliegen suchten sich ein anderes Quartier, als + die Augenwinkel dieser Kinder! Khartum ist eine schöne Stadt, was die + Lage betrifft. Die Häuser sind von Lehm und haben flache Dächer ... + Ich bin wohlauf bei ruhiger Zeit, trotz vieler Arbeit. Übrigens ist + es wahr, Herr Selbst ist der beste Diener, den man haben kann.« + +In Khartum scheint er seinen neuen Titel ausfindig gemacht zu +haben, und zwar keinen geringeren als »Se. Exzellenz General Oberst +Gordon, Generalgouverneur am Äquator«, ein Titel, den er mit Recht +ein sonderbares Gemisch nennt. Von Khartum aus erging auch sein +Erlaß an die neue Provinz, worin er den Elfenbeinhandel als Monopol +der Regierung erklärte, die Einfuhr von Waffen und Pulver, sowie +unbefugtes Waffentragen überhaupt verbot und außerdem ankündigte, daß +in Zukunft niemand ohne Paß die Provinz bereisen dürfe. + +Am 22. März trat er die Reise nach seiner Hauptstadt ~Gondokoro~ +an. Er erwähnt der großen glitzernden Krokodile, die allabendlich +mit weitoffenem Rachen auf dem Ufersand liegen, der vielen Zugvögel, +die sich anschickten, den brennenden Süden mit dem Norden zu +vertauschen. Hier gab es Störche, schwarze und weiße, zu Tausenden, +dort Pelikane und Flamingos, auch große Nilpferde -- doch sieht +er vorläufig nur ihre Nasen, denn sie stehen mitten im Fluß. Die +Affen kommen herdenweise und tragen ihre kerzengerade in die Höhe +gerichteten Schwänze wie Speere hinter sich; die Giraffen erscheinen +ihm wie wandernde Türme. Offenbar hatte er seine Freude an all dem +Neuen, Ungewohnten, und beschreibt es gern der fernen Schwester. +Eines Abends, als er beim stillen Mondlicht die vor ihm liegenden +Schwierigkeiten zu vergessen sucht und halb träumerisch der Heimat +gedenkt, erschreckt ihn ein lautes Gelächter. + + »Ich war nahe daran, es für eine Beleidigung zu halten,« erklärt + er spaßhaft, »aber es waren nur ein paar überschlaue Vögel, die + guterdinge schienen und es gar zu lächerlich fanden, daß unsereiner + den Weg nach Gondokoro unternimmt in der Meinung, dort etwas Gutes zu + schaffen.« + +Nicht weit davon, in einer Felsenhöhle auf der Insel Abba, hielt sich +damals ein Derwisch auf, Namens Muhamed Achmet, der im Geruch der +Heiligkeit stand. Wie ahnungslos fuhr Gordon an ihm vorüber! Zehn +Jahre später ist dieser »Heilige«, der Mahdi, das Werkzeug seines +Todes geworden. + +An den ersten Wilden, die Gordon sieht, bemerkt er die Folgen der +Mißhandlung. + + »Wir kamen an einem Dorfe der Schilluk vorüber, die sich über unsern + Anblick wunderten und erschreckt davonliefen, wenn man ein Fernrohr + auf sie richtete.« + +Am 22. April lief er in den Sobat ein, der oberhalb Faschoda in den +Weißen Nil mündet. Hier präsentierten sich ihm die ersten seiner +Unterthanen -- ein Stamm der Denka. Es waren harmlose Leute, ein +Hirtenvolk, deren Häuptling nur schwer dazu zu bringen war, an Bord zu +kommen. + + »Dann aber erschien er in seinem ganzen und besten Staat -- einer + Halskette von Glasperlen. Wir machten ihm einige Geschenke. Darauf + trat er auf mich zu, nahm erst meine rechte Hand und dann meine + linke, leckte sie tüchtig, packte mein Gesicht und that, als ob er + mich anspeien wollte.«[8] + +Man trug zu essen auf; als Häuptling verzehrte er außer seinem auch +seines Nebenmannes Teil. Zum Dank wollte er Gordon die Füße küssen, +aber das wurde ihm nicht gestattet; er brüllte daher mit seinem +Gefolge einen Lobgesang und trug sein Geschenk, eine Kette Glasperlen, +vergnügt davon; d. h. der gewandlose Herrscher war viel zu erhaben, um +sie eigenhändig zu tragen, er überließ sie einem Geringeren, der sie +vor ihm hertrug. + +Wo der Bahr el Ghasal in den Weißen Nil einmündet, bildet das +Gewässer einen See und Sümpfe. Gordons Dampfer drang stetig vor. +Die Eingebornen, die er jetzt sah, hatten sich die Gesichter mit +eingeriebener Holzasche grau gefärbt, elende Menschen, die offenbar +kaum zu leben hatten. + + »Es ist ein Rätsel, warum sie erschaffen sind! ... ihr Leben schwankt + zwischen Furcht und Not. Kein Wunder, daß sie den Tod nicht fürchten + ... Ich freue mich auf meine Arbeit, denn ich glaube, ich werde + manche Gelegenheit finden, das Elend der armen Leute zu lindern.« + +Er fuhr an einer verlassenen österreichischen Missionsstation +vorüber, wo innerhalb dreizehn Jahren fünfzehn Missionare dem Klima +erlegen waren, ohne auch nur ~einen~ Schwarzen gewonnen zu +haben; »die Sklavenhändler hatten den Teufel hingebracht,« sagt ein +Berichterstatter. Die nächste Station war Bohr, ein Sklavenjägernest, +»wo man uns nicht allzu höflich empfing.« Am 16. April, also nach +einer Fahrt von dreiundzwanzig Tagen, ankerte das Boot bei Gondokoro +zum Erstaunen der Leute, die von ihrem neuernannten Gouverneur noch +gar nichts gehört hatten. Seine Residenzstadt fand er in verwahrlostem +Zustand, und unbewaffnet hätte er sich anfänglich in der nächsten +Umgebung nicht zeigen können; die Eingebornen waren durch lange +Mißhandlung allerwärts voll Mißtrauen. Gordon aber war der Hoffnung, +sie mit der Zeit zu gewinnen und bessere Zustände einzuführen. + +Man sieht aus seinen Briefen, wie er fleißig von Ort zu Ort zieht, +vorab darauf bedacht, sich die Herzen seiner schwarzen Unterthanen +geneigt zu machen. Hier schenkt er den Leuten Korn, dort bringt er sie +dazu, selbst Mais anzupflanzen. + + »Sie verstehen es ganz gut und thaten es nur deshalb nicht, weil der + Ertrag ihnen gewaltsam entrissen wurde; sie pflanzen nur so viel, + daß sie nicht geradezu Hungers sterben, und dies nur in entfernt + liegenden versteckten Plätzen.« + +Die Schwarzen erkannten bald einen Helfer in ihm, und einer der ersten +Beweise des ihm entgegengebrachten Vertrauens war das Verlangen eines +Vaters, seine Kinder, die er nicht ernähren konnte, um eine Handvoll +Durra (eine Art Hirse) zu übernehmen! Gordon nahm die Kinder an und +kleidete sie. Der Vater aber kümmerte sich von Stund an nicht mehr um +dieselben und erkundigte sich nicht einmal nach ihnen, als er wieder +in die Nähe kam. Ein anderes Beispiel von elterlicher Gleichgültigkeit +erzählt Gordon so: + + »Ein Mann mit seiner Frau und zwei Kindern (unsere ersten + Kolonisten!) haben sich nahe bei der Station niedergelassen. Ich + verabreiche ihnen täglich etwas Durra, bis das von ihnen gesäete Korn + zur Ernte reift. Ich hoffe, ihr Vertrauen zu gewinnen« .... + +Nach einiger Zeit lautet der weitere Bericht: + + »Es scheint, daß der Mann, ehe er hierherkam, eine Kuh gestohlen + hatte und deshalb seinen Wohnsitz veränderte. Allein der Eigentümer + der Milchspenderin machte ihn ausfindig und verlangte die längst + geschlachtete und verzehrte Kuh zurück. Auf meiner Runde kam ich bei + der Hütte vorüber und sah nur eins der Kinder. Das andere, erzählte + mir die Mutter mit befriedigtem Lächeln, hätten sie dem Mann gegeben, + dem sie die Kuh gestohlen hatten. Es wäre ihnen auch gar nicht leid, + sagte sie, die Kuh wäre besser!« + +Wenn die Mutter eine Spur von Verlangen nach ihrem Kind an den Tag +gelegt hätte, so würde Gordon es ihr wieder verschafft haben; aber +sie war nichts weniger als betrübt, der Verlust einer Handvoll Durra +wäre schmerzlicher gewesen. Um dieselbe Zeit kaufte Gordon einen +Jungen, dessen Bruder ihn um ein Körbchen voll Korn feilbot. Die +schwarzen Jünglinge hatten es offenbar mit einander ausgemacht, denn +der eine lächelte so vergnügt wie der andere. Gordon nennt derartige +Vorkommnisse Experimente; er wollte vor allen Dingen Land und Leute +kennen lernen. + +Die Sklaverei hat die Stämme so heruntergebracht, daß, wie es Gordon +scheinen will, die Eltern- und Kindesliebe bei ihnen wie ausgestorben +ist. »Organisierte Auswanderung wäre das Beste für dieses Land.« Aber +so elend das Leben jener Schwarzen ist, so hält Gordon doch mit Recht +dafür, daß es anderwärts trotz der gepriesenen Zivilisation im Grunde +oft nicht besser ist. + + »Für junge Leute ist dieses Klima ein äußerst niederdrückendes; wer + aber einmal über die Mittagshöhe hinaus ist und gelernt hat, das + Leben lediglich als eine Prüfungszeit zu würdigen, der erträgt es + und freut sich sogar der Einförmigkeit. Wir sind immer selbst daran + schuld, wenn wir unglücklich sind. Wir verlieren die besten Jahre + unseres Lebens, indem wir nach einem Glück jagen, das auf Erden + nicht zu finden ist. Das Geheimnis des Glücklichseins liegt darin, + daß wir lernen, mit dem zufrieden zu sein, was uns beschert ist ... + Die Schwarzen sind mit einer Handvoll Mais zufrieden; Wohlleben ist + ihnen ein unbekannter Zustand; sie haben kaum einen Fetzen, ihre + Blöße zu decken, und sind trotzdem glücklicher zu nennen als Hunderte + von unzufriedenen Menschen bei uns zu Lande mit ihrer erbärmlichen + Vergnügungssucht, wo alles hohl ist ... Heutzutage wäre niemand + weniger willkommen in der Welt als unser Heiland. Man würde ihn für + altmodisch erklären ... Wahres Glück besteht darin, daß man den + Willen Gottes annimmt, was dieser auch sei. Wer so weit kommt, + hat die Welt und ihre Trübsal überwunden ... Der stille Friede im + Leben unseres Herrn wurzelte lediglich in seiner völligen Ergebung + in den Willen Gottes. Allerdings giebt es Zeiten, die uns Kampf + bringen, aber je nach der Größe des Kampfes ist dann auch das Maß der + verliehenen Kraft ... Ich habe kürzlich ein elendes klapperdürres + Weib aufgenommen und sie seither gefüttert; gestern hat der Tod sie + ganz still geholt, und jetzt weiß sie alle Dinge. Sie hatte ihren + Tabak bis zuletzt und starb sehr leicht. Welch ein Wechsel aus ihrem + Elend! Ich denke, sie genügte ihrem Lebensberuf so gut, wie eine + Königin Elisabeth.« + +Ein andermal erzählt er der Schwester: + + »Es schwankt eine Gestalt die Straße herauf -- so dünn, daß der Wind + nicht viel Mühe hat sie umzuwerfen; es ist eine Deiner schwarzen + Schwestern, ich sehe, sie bleibt stehen und läßt den Regen über sich + ergehen. Ich schicke ihr etwas Durra, das wird ihrem abgezehrten + Leichnam eine Freude sein. Sie hat nicht einmal einen baumwollenen + Rock an, ja ihre ganze Kleidung ist keinen halben Heller wert.« + +Am folgenden Tag heißt's weiter: + + »Ich muß Dir doch schreiben, wie's der schwarzen Dame ferner erging, + der ich gestern in Wind und Wetter zu helfen versuchte. Ich schickte + meinen Diener hinaus, daß er sie in einer der Hütten unterbringe, + und dachte nicht anders, als es wäre geschehen. Die Nacht war naß + und kalt und ich hörte mehrmals ein Kind schreien, stand deshalb + auf und ging hinaus; da lag Deine und meine Schwester tot in einer + Pfütze. Ihre schwarzen Brüder waren hin- und hergegangen und hatten + keine Notiz von ihr genommen. Ich ordnete an, daß sie begraben werde, + und ging weiter; fand ein etwa einjähriges Kind im Gras, das wohl + die ganze Nacht in der Nässe gelegen hatte, ohne Zweifel von seiner + eigenen Mutter ausgesetzt -- Kinder sind hier immer eine Last! Ich + trug's zurück, und da die Leiche noch immer in der Pfütze lag, + machte ich mich selber daran, sie mit Hilfe einiger meiner Leute + zu beerdigen. Zu meiner Verwunderung fand ich das Geschöpf lebend, + brachte ihre schwarzen Brüder aber nur mit großem Mühe dazu, mit + Hand anzulegen, um sie aus der Pfütze aufzunehmen. Ich ließ sie in + eine Hütte tragen, ein Feuer anzünden, gab ihr etwas Branntwein ein + und wusch ihr den Sand aus ihren lebensmüden Augen. Nun liegt sie + da, kaum sechzehn Jahre alt! Ich kann nicht anders als hoffen, ihr + Schiffchen schwimmt dem Hafen der Ruhe entgegen. Das Kind ist um + eine tägliche Portion Durra von einer Familie angenommen worden. + Ich zweifle nicht, bin sogar gewiß, daß Du Deine schwarze Schwester + einmal finden und dann von ihr hören wirst, daß die ewige Weisheit + alles wohl gemacht hat. Ich weiß, daß das nicht leicht zu glauben + ist, ~aber es ist doch wahr~! Ich meinesteils ziehe ein Leben + unter den Elenden einem Leben trägen Genusses vor. Und es giebt + überall Elend. Mancher ist in seinem Reichtum ganz so beklagenswert, + wie diese arme Sterbliche. Wie schlecht ist dieser Senf angemacht, + sagte einer meiner Offiziere neulich, während unsere schwarzen Brüder + um uns herumlaufen und man ihnen alle Rippen zählen kann!« ... + +Vierundzwanzig Stunden später: + + »Laß Dir's nicht zu nahe gehen. Deine schwarze Schwester ist heute + nachmittag aus diesem Leben erlöst worden, nur von mir betrauert; + ihre schwarzen Brüder sind froh, sie los zu sein.« + +Neben solchen Erlebnissen finden wir aber den Gouverneur alles +Ernstes damit beschäftigt, den Sklavenhändlern hinderlich zu sein; +bald macht er jedoch die Entdeckung, daß den Schurken durch die +Regierungsbeamten Vorschub geleistet wird. Ein seinem Dolmetscher in +die Hände gefallener Brief von einer Bande Menschenjäger an den Mudir +(Bezirksstatthalter) von Faschoda lautete folgendermaßen: »Wir sind +auf dem Weg mit zweitausend Kühen und allem anderen nach Wunsch.« Die +Kühe waren von verschiedenen Stämmen gestohlen, und das ›alles andere‹ +bedeutete eine Anzahl Sklaven. Die ganze Sendung wurde abgefangen, +und die Sklaven soweit es möglich war in ihre Heimat zurückgeschickt; +einen Teil derselben behielt er. Die Sklavenhändler erhielten +Gefängnisstrafe; nach einiger Zeit aber nahm er die brauchbaren unter +ihnen in seine Dienste, so z. B. einen gewissen Nassar, der ein +Haupttyrann in jener Gegend war. Diesem jagte er eine Karawane von +mehreren hundert Sklaven ab, die derselbe mit einer Bande bewaffneter +Schwarzer nach Faschoda zu bringen hoffte; ihn selbst setzte er +vierzehn Tage hinter Schloß und Riegel und schrieb dann: + + »Ich habe dem Hauptsklavenhändler Nassar verziehen und ihn in meinen + Dienst genommen; er ist nicht schlimmer als die andern, und die Leute + sind bisher nur in ihrem Thun bestärkt worden. Er ist ein tüchtiger + Mensch und kann was leisten.« + +Als er nach einiger Zeit seine Station an einen gesünderen Ort +verlegte, berichtete er: + + »Nicht ich hab's zu stande gebracht, sondern die gewesenen + Sklavenhändler, die ich in meinen Dienst genommen.« + +Wie mit den Taipings in China, so verfuhr er hier: zuerst überwältigte +er den Feind und dann benutzte er ihn. + +Im Mai hatte er den ganzen Weg nach Berber zurückmachen müssen, um +seine dort liegengebliebene Ausrüstung flott zu machen. Und dann +ging's wieder zurück nach dem Sobat. Es dauerte lange, bis seine +Dampfer ihm nachkamen. Mittlerweile aber ist er nicht müßig, gewinnt +mehr und mehr das Vertrauen der Schilluk und weiß sich in allen +Lagen zu helfen, von der Verfertigung einer Rattenfalle an bis zum +eigenhändigen Nähen einer Hose für einen seiner Schwarzen, an welchem +wohlgelungenen Kunstwerk er seinen Spaß hat. Und wenn alle anderen +in der trostlosen Wildnis mutlos werden, so bewahrt er die gute +Stimmung. »Ich bin längst über den Graben des Mißmuts hinaus,« kann er +sagen, denn sein Herz hat einen festen Ankerpunkt. Als er einst nach +viertägiger Abwesenheit auf seine Station zurückkam, umdrängten ihn +die Schwarzen, die er den Sklavenhändlern abgejagt hatte: sie wollten +ihm alle die Hand geben. Das freute ihn. »Ich kann jetzt allein +umhergehen und alle grüßen mich.« Kein Araber durfte das wagen, so +fürchteten sie die von ihnen unterdrückten Neger. Daß die Scheiks um +Gondokoro her sich ihm zuneigten, verdankte er übrigens teilweise dem +Einfluß Abu Sauds. Er machte ihn zu seinem Vakil oder Unterstatthalter. + +In Gondokoro geriet Gordon mit Rauf Bey in Konflikt; derselbe war +Statthalter gewesen, aber, nur auf seinen Gewinn bedacht, hatte er +nichts gethan, das Gordon ihm nachrühmen konnte. Zwischen ihm und +Abu Saud entspannen sich alsbald Eifersüchteleien und Zwistigkeiten. +Gordon fand es rätlich, ihn mit Briefen nach Kairo zu senden, d. h. +sich seiner zu entledigen. Und mit Abu Saud mußte er bald ähnlich +verfahren. Dieser hatte sich allerlei Betrügereien zu schulden +kommen lassen, hatte Elfenbein unterschlagen, das für die Regierung +bestimmt war. Außerdem gebärdete er sich den andern Offizieren +gegenüber, als ob er Statthalter wäre. Gordon sah, daß er sich in +seinem Vertrauen getäuscht hatte. Er gab ihm den Laufpaß, nicht zu +früh, denn es stellte sich heraus, daß Abu Saud eine Meuterei unter +den von ihm befehligten schwarzen Truppen anzuzetteln im Begriff +war. Diese erklärten, sie würden ohne ihn nicht nach Dufile gehen, +wohin sie das Dampfboot in Teilen tragen sollten, damit es dort +wieder zusammengestellt werde. Gordon, der unlängst erklärt hatte, +daß die Losung der Provinz »Hurryat«, d. i. Freiheit, sei, erwiderte, +sie könnten bleiben wo sie wären, aber keine Macht der Welt würde +ihn zwingen, Abu Saud mit ihnen zu schicken, denn das würde seine +»Hurryat« beeinträchtigen. Da sie übrigens von der Regierung Sold +nähmen, so versähe er sich ihres Gehorsams. Seine feste Haltung +stellte die Ruhe her, und Abu Saud ging seiner Wege, ohne jedoch +sofort die Provinz zu verlassen. Nach einigen Wochen kamen Gessi +und einer der anderen Offiziere um seine Begnadigung ein, weil die +Kenntnisse des Schurken eben doch dienlich waren. Gordon gab nach; +»braucht doch jeder selbst Gnade,« schreibt er, »und kriegt sie auch, +so er darum einkommt.« Die Zurückberufung des Menschen war aber ein +Fehler; bald darauf mußte er doch nach Kairo geschickt werden. + +Auch mit Krankheit hatte Gordon zu kämpfen. Er selbst, zwar zu +einem Schatten abgemagert, war der einzige Gesunde unter all seinen +Offizieren. Sein Zelt nannte er ein Lazaret, und Tag und Nacht wartete +er der Siechen. Der eine der beiden Linant und zwei andere starben, +mehrere mußten zurückgeschickt werden. »Ich bin wohl, aber sehr +überreizt,« erklärte er, »was schlimm ist, wenn mir etwas quer kommt.« +Damit meinte er die kleinen Widerwärtigkeiten, die immer wieder einen +Teil seiner Last ausmachten. Er mußte sich um alles selbst kümmern. + + »Die Hauptsache ist, immer gerecht und gradaus zu verfahren; keinen + Menschen zu fürchten; alle Winkelzüge zu vermeiden, selbst wenn man + für den Augenblick dabei verlieren sollte, und allen, die nicht + parieren wollen, mit vollster Strenge zu begegnen. Es ist nicht immer + leicht!« + +Auf dem Wege nach Rigaf oberhalb Gondokoros wurde er von einem Scheik +aufgefordert, bei ihm Quartier zu nehmen; er lehnte es ab und fand in +der Nacht sein Zelt von diesem Häuptling und seiner Gruppe umstellt. +Mit dem Gewehr in der Hand hieß er sie ihrer Wege gehen, und die +beträchtliche Anzahl gehorchte dem »zum Schatten abgemagerten« Mann. + +Ein großer Fortschritt bei den Eingebornen war, daß er ihnen den +Gebrauch des Geldes beibrachte. Vorher hatte nur Tauschhandel +existiert; und wenn ein Stamm zum Lasttragen bestellt war, so +beanspruchte der Häuptling den Lohn, Glasperlen oder Kattun, stets für +sich. Gordon entdeckte, daß die Leute schlecht dabei wegkamen, und +nahm sich vor, die Vorrechte des Scheiks in etwas zu verringern. Bei +nächster Gelegenheit gab er jedem Lastträger selbst einige Glasperlen; +am folgenden Tage lohnte er sie mit Kupfergeld ab -- jeder erhielt +einen halben Piaster. Darnach bot er ihnen Glasperlen zum Verkauf an. +Sie merkten den Witz auch alsbald und erklärten, sie wollten erst noch +mehr Kupfer verdienen und sich dann eine größere Anzahl Perlen dafür +geben lassen. Er richtete einen förmlichen Laden ein, wo allerlei zu +haben war, was den Eingebornen begehrlich erschien; wie bei allen +Neuerungen ging es auch hier keineswegs ohne Widerspruch ab. + +Unter viel Krankheit der Stabsmannschaft ging das erste Jahr zu Ende. +Gordon beschloß, das Hauptquartier auf die andere Seite des Flusses +nach Lado zu verlegen, um der Sumpfluft bei Gondokoro zu entgehen. +Um diese Zeit kam sein Ingenieur Kemp, der in Dufile, zweihundert +Kilometer weiter oben am Nil, damit beschäftigt war, den Dampfer +zusammenzufügen, mit dem der Albert Njansa erreicht werden sollte, mit +der Nachricht zurück, daß von dem Unternehmen vorläufig abgestanden +werden müsse. Die Stämme waren mit seiner moralisch ganz ungenügenden +Mannschaft ins Treffen geraten. Doch brachte Long, der Amerikaner, +bessere Kunde, der mittlerweile bei dem König Mtesa von Uganda gewesen +war und sich einer guten Aufnahme bei der schwarzen Majestät erfreut +hatte. Außerdem hatte er die Wasserverbindung zwischen Urondogani und +Foweira entdeckt, wofür ihm Gordon großes Lob zollte. + +Die eignen Erfolge Gordons faßt ein Sachverständiger mit folgenden +Worten zusammen: »Gordon hat Wunder vollbracht in der kurzen Zeit. Bei +seiner Ankunft fand er siebenhundert Mann Soldaten in Gondokoro vor, +die sich nur truppweise und bewaffnet in die nächste Umgebung wagten; +mit diesen hat er nicht weniger als acht Stationen besetzt. Sir Samuel +Bakers Äquatorzug hat die ägyptische Regierung über 20 Millionen Mark +gekostet, während Gordon bereits Geld genug nach Kairo geschickt +hat, um alle Unkosten seines Unternehmens nicht nur für dieses Jahr, +sondern auch für das kommende zu decken.« Es war dies lediglich ein +Resultat seiner getreuen und umsichtigen Verwaltung der rechtmäßigen +Einkünfte, hauptsächlich des Elfenbeinmonopols. Ein schönerer Erfolg +aber war der, daß trotz seiner Strenge gegen die Araber, oder vielmehr +gerade wegen dieser Strenge, die Schwarzen landauf landab angefangen +hatten, in ihm ihren einzigen Helfer gegen die Unterdrücker zu +erblicken. Er hatte ihr Vertrauen gewonnen, so unmöglich es anfangs +schien. + +Der Hauptplan für das Jahr 1875 war die Verbindung Gondokoros mit +dem südlicheren Foweira, die durch eine Reihe von befestigten, je +eine Tagereise von einander entfernten Stationen hergestellt werden +sollte. Foweira konnte zur Zeit nur durch eine beschwerliche, sechs +Monate in Anspruch nehmende Reise erreicht werden und eine Karawane +mußte mindestens hundert Mann stark sein. Später waren zehn Mann +ausreichend, um den Weg in Sicherheit zurückzulegen, und statt der +Monate genügten Wochen. Außerdem hoffte Gordon, den Äquatorbezirk von +einer neuen Richtung her zugänglich zu machen, hatte er doch selbst +die Schwierigkeiten der Verbindung mit Ägypten über Khartum reichlich +erfahren. Nach seinem Plan sollte die Mombasbay am indischen Ozean zur +Kopfstation werden, von wo aus eine Karawanenstraße durch Mtesas Land +an die großen Seen führen sollte. Dem Khedive war der Vorschlag nicht +unwillkommen, denn es stand mit auf seinem Programm, die ägyptische +Flagge auf dem Albert Njansa wehen zu lassen. Es wurde auch ein Anfang +gemacht, nämlich ein Pascha entsandt, um den Plan zu verwirklichen; +zur Ausführung kam er aber nicht. + +Gordons nächste Briefe erzählen von einem König und einem Häuptling, +die ihm zu schaffen machten. Von Foweira war Nachricht gekommen, +daß Kaba Rega, der König von Unyoro, sich mit den Sklavenhändlern +verbündet hatte und einen Überfall auf jene Stadt beabsichtigte. +Er beschloß diesen Kaba Rega seines »Stuhls«[9] zu entsetzen, und +einen gewissen Rionga zum König zu machen; es war dies aber schon +der Entfernung wegen leichter geplant als ausgeführt und blieb +einstweilen ein Vorhaben. Der unruhige Häuptling, Scheik Bidden, war +näher bei der Hand; diesem hatte Gordon im Herbst einen Boten mit +Geschenken zugeschickt. Den nächsten Boten werde er umbringen, hatte +der schwarze Machthaber zurückmelden lassen. Bidden beherrschte einen +Distrikt in der Nähe von Rigaf, und Gordon sah, daß er nicht weit +würde vordringen können, ehe er sich Bidden botmäßig gemacht hätte, +der überdies ganz kürzlich einen dem Statthalter freundlich gesinnten +Häuptling überfallen hatte. Das einzige Mittel, ihn Respekt zu lehren, +bestand darin, ihm sein Vieh abzujagen. Gordon beschreibt diese Razzia +folgendermaßen: + + »Ich ließ sechzig Mann auf der Ostseite des Flusses vordringen + und hundert Mann auf der Westseite, während ich selbst mit einem + Offizier und zehn Mann ein Boot bestieg in der Absicht, nach den + Inseln zu rudern, wo die Umzäunungen für das Vieh sich befanden. Um + zehn Uhr abends stießen wir ab, es war eine wunderschöne Mondnacht. + Die Entfernung bis zu Biddens Inseln betrug etwa fünf Wegstunden; + und dort fangen die Stromschnellen an. Nach einiger Zeit geriet das + Boot in eine Untiefe und mußte zurückbleiben. Der Offizier mit acht + Soldaten marschierte voraus, mich zurücklassend ... Wir waren nicht + weit von einer der Inseln und man konnte Stimmen unterscheiden. Ich + war allein mit nur zwei Mann und einem Dolmetscher! Wir gingen eine + Strecke weiter und setzten uns dann nieder ...« + +Sowohl die westliche als östliche Abteilung seiner Leute sollte hier +mit ihm zusammenstoßen; die sudanische Mannschaft war aber nicht sehr +zuverlässig. Es war vier Uhr, und in weniger als zwei Stunden mußte +es tagen. Gordon sagt, militärisch sei die Lage eine ganz schlimme +gewesen, aber sie war nicht zu ändern. Er legte sich daher ruhig hin +und schlief eine Weile; als er aufwachte, stand das Morgenrot am +Himmel und man hörte eine Trommel, das Signal zum Melken. + + »Das Vieh ist nur nachts in der Umzäunung; diese hat einen einzigen + Eingang, und die Krieger schlafen in der Mitte. Für den Angriff + empfiehlt sich folgende Methode; man postiert ein paar Mann am + Eingange, die bei Tagesanbruch, ehe die Herde hinausgetrieben wird, + mit drei Schüssen ein Zeichen geben. Wartete man, bis das Vieh im + Freien ist, so kriegte man nicht leicht ein Stück. Die Helden von + Herdenwächtern suchen das Weite, sobald sie schießen hören, geben + aber den Alarm mit der Kriegstrommel, wenn die Flucht keine zu eilige + ist. Die Umzäunung zu verteidigen, fällt ihnen nicht ein; und es + ist immer am besten, sie laufen zu lassen, denn die Kühe sind die + Hauptsache. Während ich also die rote Glut im Osten aufsteigen sah, + ertönten uns gegenüber drei Signalschüsse, und alsbald wirbelte die + Trommel. Es war aber ein schwacher Wirbel, und die anderen Trommeln + schwiegen dazu ... Nach einiger Zeit erschienen unsere Verbündeten, + der Scheik und seine Leute. Biddens Krieger, meldeten diese, hielten + stand inmitten ihrer Kühe und schossen ihre Pfeile ab. Bald aber + liefen sie doch davon, und die Herde war gewonnen. Ich entschädigte + den Scheik mit dem, was keineswegs unser Eigentum war« ... + +Die andere Abteilung hatte ähnlichen Erfolg, und so wurde der +widerspenstige Bidden ohne Blutvergießen oder Dorfverbrennen durch +einen Verlust von zweitausendsechshundert Stück Vieh gezüchtigt. + +Etwa vierzehn Tage später machte Gordon einen Ausritt und, auf einen +Trupp Eingeborner stoßend, fragte er sie, ob sie Biddens Leute wären. +Da wiesen sie auf einen alten Mann, der unter einem Baume saß, und +sagten bedeutungsvoll: »Bidden!« Der gefürchtete Scheik war ein +blinder Greis! Gordon ging sofort auf ihn zu und schenkte ihm seine +Pfeife (übrigens ein Blas-, kein Rauchwerkzeug) und eine Portion +Tabak. Das freute den Alten, und er versprach dem Gouverneur einen +freundschaftlichen Gegenbesuch. Als er sich einfand, gab Gordon +ihm eine Anzahl seiner Kühe zurück, welche Großmut den günstigsten +Eindruck auf die Stämme machte. Bidden, der Greis, war indessen nur +dem Namen nach Scheik; der wirkliche Machthaber war sein Sohn. + +Seine Arbeit während der nächsten Monate faßt Gordon so zusammen: + + »Um es kurz zu sagen, ist's wenig genug -- an einem Fluß hin + befestigte Stationen errichten und Bote durchzwingen, wo die + Schifffahrt fast unmöglich ist -- das ist so ziemlich alles, und die + Mühe ist größer als der Erfolg.« + +Aber ob es auch wenig scheint, so weiß Gordon doch, daß durch +anscheinend geringe Dinge oft Großes erreicht wird. Zwar weiß er +nicht, daß er in der Vorbereitung auf Größeres steht, aber im Glauben, +daß Gott ihn an jenen Posten gestellt hat, dringt er vorwärts, und als +sein Motto für diese Zeit kann das Wort des Predigers gelten: »Alles, +was dir zu thun vorkommt, das thue frisch!« Der Held von China, der +Mann von Gravesend, thut überall sein Bestes, mag die übernommene +Arbeit äußerlich eine glanzvolle sein oder nicht. + +Die Nilbarken, »Nuggers« genannt, durch die Stromschnellen und +zwischen Felsen flußaufwärts zu bringen, scheint eine Riesenarbeit +gewesen zu sein; er spricht von sechzig bis achtzig kohlschwarzen, +atlashäutigen Eingebornen, die jedem Boot vorgespannt sind. Die Stämme +sahen es erstaunt mit an und ließen ihre Zauberer das Wasser schlagen, +teils freundlich, teils feindlich gesinnt. Und wenn die Lage oft eine +verzweifelte zu sein schien, so war sie doch so, daß Gordon in seiner +eigentümlichen Weise schreiben konnte: + + »Ich wußte mir selbst oft nur damit zu helfen, daß ich mir die + Nuggers herbetete, wie einst die Truppen in China, wenn sie nicht mir + nach in die Bresche wollten.« + +Thatkraft und Glaube waren bei ihm eng verschwistert! Er hat in +jenen Tagen und Wochen lange Briefe geschrieben, die eine Kette von +Schwierigkeiten berichten, aber er bewältigte sie, und nacheinander +wurden die Stationen Kirri, Muggi, Labore und Dufile erreicht. Ob der +Khedive mit ihm zufrieden ist oder nicht, darnach fragt er nicht. + + »Ich danke Gott, daß ich's längst aufgegeben habe, mich um die Gunst + oder Ungunst von Menschen zu kümmern. Ich kann ehrlich sagen, ich + weiß keinen, der die Verbannung und Quälerei meines gegenwärtigen + Lebens ertrüge ... Ich thue mein Bestes, soweit mein Verstand mir's + zeigt, und suche gegen alle gerecht zu sein ... Was würde ich hier + zurücklassen, wenn es Gottes Wille wäre, daß man mich zurückriefe -- + ein Zelt, Hitze bei Tag und feuchte Kälte bei Nacht, die geringste + Nahrung, die sich denken läßt: trockenen Zwieback, gedörrtes Fleisch, + etwas Maccaroni, das ist alles. Mit Tagesanbruch an die Arbeit + und früh zu Bett (ich lege mich schon um sieben oder acht Uhr der + Moskitos wegen, und wollte: sich legen hieße schlafen!) Nichts zu + lesen, ~ein~ Buch ausgenommen, und dieses nicht so oft als + man wünschte, weil die Ruhe fehlt, die zu andächtiger Betrachtung + der göttlichen Geheimnisse nötig ist; den lieben langen Tag nichts + als Plackerei, an alles selbst denken, alles selbst thun, wenn's + geschehen soll, das ist zur Zeit mein Leben ... Die arme Exzellenz + ist der Hauptsklave.« + +Und während der ganzen Zeit lassen seine von Khartum ihm folgenden +Dampfer auf sich warten. Zuletzt kann er aber doch schreiben: + + »Wie froh bin ich, daß die Verbindung hergestellt ist! Gestern kam + ein Mann allein von Bidden her; vor einiger Zeit wagten die Leute nur + zu zwanzig und dreißig den Weg. Die Schwarzen würden sich im hohen + Gras versteckt haben und hätten den Hintermann angespießt. Jetzt + sind sie ganz freundlich. Ein Bari in meinem Dienst hat dieser Tage + ein Schaf gestohlen, und alsbald kamen die Beschädigten zu mir, um + Recht und Gerechtigkeit zu erlangen, und sie kamen nicht umsonst. + Ist das nicht schön? Auch unter meinen Leuten hat eine Veränderung + stattgefunden; sie fürchten die Schwarzen nicht mehr wie früher, + es herrscht ein besseres Einverständnis ... Die Stämme haben viel + Verkehr miteinander, und auch solche, die uns nicht kennen, wissen es + jetzt, daß sie uns nicht zu fürchten brauchen.« + +Allerdings hatte er die Eingebornen auch von der feindlichen Seite +kennen zu lernen, so z. B. schreibt er zwischen Muggi und Labore: + + »Es herrscht große Aufregung auf der anderen Seite des Flusses; ein + Scheik in einem roten Hemd mit zwanzig Bewaffneten läuft hin und her + und Zauberfeuer sind zu sehen. Sonderbar, daß all dies Entsetzen + dadurch hervorgerufen scheint, daß ich in einem Nachen überfuhr. So + viel Vorstellung mußte der Anblick der Nuggers ihnen doch geben, daß + wir überfahren können, wenn wir wollen ... Mein Fernglas zeigte mir + eine Anzahl Eingeborne, die unter einem Baume saßen. Nach einiger + Zeit stand einer auf und wandte sich gegen Norden, pflückte einige + Kräuter und schwenkte sie fortwährend gegen unser Lager; darnach + lief er südwärts und machte eine ähnliche Bewegung, als ob er Hilfe + herbeiwinke. Ohne Zweifel war er ein Prophet, der Israel verfluchen + sollte. Sie waren etwa dritthalbtausend Fuß von uns entfernt. Um + ihnen ein bißchen Schrecken einzujagen, schoß ich eine Kugel so ab, + daß sie etwa fünfzig Schritte zu ihrer Rechten in den Boden schlug. + Da hörte das Zaubern sofort auf, und sie wunderten sich offenbar, + dabei ertappt zu sein.« + +Linant, der Bruder des in Gondokoro dem Fieber Erlegenen, kam um +diese Zeit von einem Streifzug nach Makade zurück. Vorher war er bei +Mtesa gewesen und hatte Stanley, den bekannten Afrikareisenden, dort +getroffen. Gordon sollte nun abermals erfahren, was seine Araber +wert waren. Er hatte an vierzig Mann über den Fluß geschickt, weil +Nachricht eingetroffen war, daß einer der längst erwarteten Dampfer +in einiger Entfernung fest säße. Kaum waren aber die Leute gelandet, +als sie von einem Trupp Eingeborner, die sich im hohen Grase verborgen +gehalten hatten, überfallen und zurückgeworfen wurden. Gordon fuhr +alsbald selbst über und versuchte, durch seinen Dolmetscher eine +Unterhandlung anzuknüpfen. Die Schwarzen wollten aber nichts davon +wissen. Als den »Häuptling« glaubten sie ihn an seinem Schirm zu +erkennen und suchten ihn zu umringen. Er ließ sie ruhig näher kommen +und schickte dann eine Ladung Kugeln unter sie. Zu treffen waren sie +übrigens nicht leicht, denn sobald sie den Feind schußfertig sahen, +lagen sie auch schon auf dem Leib. Am folgenden Morgen schlug Linant +vor, mit einem Teil der Mannschaft überzusetzen und den Eingebornen +ein paar Häuser in Brand zu stecken. Gordon gab es zu, denn es war zu +fürchten, die kampflustigen Gesellen möchten den Dampfer überfallen. +Er selbst blieb zurück. Gegen Mittag hörte er schießen und erblickte +Linant, den er an seinem roten Hemd erkannte. Er konnte auch seine +Mannschaft beobachten, es waren gegen vierzig Mann. Mit einemmale +aber waren sie verschwunden, und sein Fernrohr zeigte ihm ungefähr +dreißig Schwarze, die eiligst flußabwärts liefen. Er vermutete, sie +suchten den Dampfer, und schickte einige Kugeln unter sie. Nach +einiger Zeit erblickt er einen einzelnen Mann von seinen Leuten, der +ohne Waffen daherkam; er sandte alsbald einen Nachen über den Fluß +und ließ ihn holen. Die Eingebornen hätten ihn entwaffnet, erklärte +er, und die andern wären alle tot. Gordon hatte nur noch dreißig Mann +bei sich, und diese waren hilflos vor Angst. Trotzdem beschloß er zu +handeln. Die Station war unbefestigt und es galt Weiber und Kinder +in Sicherheit zu bringen; er mußte sich nach der nächsten Station +durchschlagen. Dies ließen die Eingebornen ruhig geschehen, nur daß +ihr Zauberer von einem Felsen herunterschrie: »Ha ha! ta ta a!« soviel +als »Geschieht euch recht!« Gordon belehrte aber den Hexenmeister +mit einer Kugel, daß es unklug sei, den Feind in Schußweite zu +verwünschen. Leider stellte es sich heraus, daß nicht nur fast die +ganze Mannschaft, sondern Linant selbst dem Überfall erlegen war; und +zwar war dieser offenbar ein Opfer seines roten Hemdes geworden, das +den Schwarzen als begehrenswerte Beute erschien. Er fiel zuerst, von +seiner Mannschaft verlassen, die vor Schrecken zu schießen vergaß; +und als einer dahin und ein anderer dorthin lief, wurden die meisten +durchspeert. Gordon betrauerte Linant um so mehr, als er ihm das +unselige Hemd selbst geschenkt hatte. Aber trotz des empfindlichen +Verlustes kann er die Eingebornen nicht verdammen; er kann es +vielmehr begreifen, wenn sie sagen: »Wir brauchen eure Glasperlen und +euren Kattun nicht -- laßt uns in Frieden.« Und er denkt daran, wie +ernsthaft sie zauberten, ehe sie den Überfall wagten; er sagt sogar, +er hätte eine Ahnung gehabt, daß der Sieg diesmal nicht auf seiner +Seite sein würde. + +»Es war ihnen offenbar ernst mit ihrem Beten,« schreibt er, »sie +wußten, daß sie Hilfe nötig hatten, und wendeten sich an den +unbekannten Gott. Denn wenn der Schwarze auch den wahren Gott nicht +kennt, so kennt Gott doch ihn; und Gott ließ sie merken, daß sie +beten müssen, und erhörte ihr Gebet. Rosse werden zum Streittag +bereitet, aber der Sieg kommt vom Herrn.« + +Trotzdem er aber so denkt, weiß er, daß die Schwarzen gezüchtigt +werden müssen, was dadurch geschieht, daß er ihnen zweihundert Kühe +und fünfzehnhundert Schafe entführt. Da auch des Häuptlings Tochter +eingefangen wurde, ließ er dem Vater sagen, wenn er versprechen wolle, +sich künftig ruhig zu verhalten, könne er sie wieder haben. Die +Köpfe Linants und seiner Gefährten hatten die Schwarzen an Pfählen +aufgesteckt, die Leiber aber aus Furcht vor Gespenstern begraben. +Es blieb bei diesem einen Überfall, aber noch eine gute Strecke +begleiteten sie Gordon in gehöriger Entfernung am Ufer hin; und mehr +wie einmal konnte er »Balak und Bileam« auf den Anhöhen beobachten, +wie sie ihm von Herzen alles Böse wünschten. + +Im September endlich wurde Dufile erreicht, wo der Nil in einem engen +Thal zwischen Hügelreihen fließt; der Fluß, dessen Wassermassen an +mehreren Stellen einem See gleichen, ist dort nur etwa hundert Fuß +breit. ~Alles umsonst!~ war Gordons erster Eindruck, als er nach +unsäglichen Mühen so weit gekommen war. Es hieß: bis hierher und nicht +weiter, die Folafälle waren die Grenze. Doch konnte er sich damit +trösten, daß er die Schifffahrt wenigstens bis dahin als möglich +nachgewiesen hatte, und die errichteten Stationen von bleibendem Wert +waren. Nachdem er sich vierzehn Tage in Dufile aufgehalten hatte, +das er als eine Insel in einem Meer von Riedgras beschreibt, zog er +landeinwärts nach Faschelie, wo er eine Bande Sklavenjäger aushob. +An diesem Ort erreichte ihn ein »kühler« Brief des Khedive. Gordon, +den es ohnehin verlangte, eine Statthalterschaft niederzulegen, die +ihn lediglich zum Entdeckungsreisenden machte, gab alsbald Befehl zu +packen und schickte sich an, eine Depesche abzufertigen, die seine +Rückkehr melden sollte. Als nach wenig Tagen aber ein Brief in anderer +Tonart von Kairo den ersten zu vernichten schien, hatte er nicht +das Herz, sein Amt Knall und Fall niederzulegen. Dahin aber hatte er +sich entschlossen, daß er es einem seiner Untergebenen überlassen +wollte, zum erstenmal den ~Albert Njansa~ zu befahren. Dieses +Zurücktreten von der Ehre, die sein Werk krönte, ist so bezeichnend +für den Mann, daß man ihn selbst darüber hören muß: + + »Ich wünsche einen Beweis zu liefern, wie wenig von den Lobhudeleien + zu halten ist, die man dem Führer einer Expedition zollt. Hat nicht + mein Schiffszimmermann das Seine gethan, daß wir die Nuggers so weit + gebracht haben? Es ist keine Kunst den Njansa zu befahren, wenn + die Boote zur Stelle sind. Es ist die Arbeit vieler und einer hat + die Ehre. N. N. schrieb mir neulich und gratulierte mir zu meinen + Lorbeeren. Da ~muß~ ich ja zeigen, daß es nichts damit ist!« + +Am letzten Tag des Jahres kann er schreiben: + + »Endlich ist der Dampfer in Sicht, d. h. die Lastträger, welche die + einzelnen Teile daherschleppen. Die Arbeit war eine entsetzliche, und + das ganze Jahr ist eine Last gewesen, die manch sauren Schweißtropfen + gekostet hat.« + +Und Gordon erklärt seiner Schwester, die schönste Entdeckungsreise, +die er sich noch denken könne, wäre der Rückweg in die Heimat. + +Ein Ergebnis seines Fleißes in jener Zeit sind seine Nilkarten. + + »Wir haben den Fluß (im halben Zollmaßstab per Meile) von Khartum bis + Dufile und wieder von Foweira bis Mruli, und ich hoffe, entweder ich + oder einer meiner Offiziere wird die Strecke von Dufile bis zu den + Murchisonfällen auch noch aufs Papier bringen.« + +Somit blieben drei Lücken: 1) von Kositza nach Mruli, 2) von Foweira +nach den Murchisonfällen und 3) der Albertsee. Trotz seinem Vorhaben, +nicht selbst den See zu befahren, füllte er diese Lücken noch aus. Die +Folafälle bei Dufile, wo der Fluß etwa eine Stunde lang durch tiefe +Schluchten sich stürzt, sind die einzige Strecke des ganzen Nils, die +er nicht zu durchschiffen vermochte. + + [Illustration: Kartenskizze des Sudan.] + +Ende Januar 1876 erreichte er Fatiko und Foweira im Lande Unyoro; +dort hörte er, daß Kaba Rega mitsamt seinem Sessel sich nach Massindi +davongemacht hatte. Foweira wurde nach einemfünftägigen Marsche +durch dornenbewachsenes Land erreicht. Von dort ging er nach Mruli, +um dann nach Urondogani vorzudringen. Die kurze Strecke von diesem +Ort bis zum Viktoriasee ist das »einzige Stückchen« Nil, das Gordon +schließlich nicht selbst bereiste. + +Im Februar traf er mit seinem Unterbefehlshaber Gessi in Dufile +zusammen. Letzterer machte sich von dort mit zwei Booten nach den Seen +auf den Weg. Er umschiffte den Albert Njansa in neun Tagen und fand +ihn etwa zweihundert Kilometer lang und achtzig breit. Durch einen +Sturm wurde er an eine Insel verschlagen, die voll von Kaba Regas +Truppen war; diese weigerten sich aber mit seinen Leuten anzubinden, +weil sie den weißen Mann für einen Teufel hielten. Gessi errichtete +des Khedive Flagge am See, und die Stämme ergaben sich nacheinander. +Die Schwarzen in jener Gegend waren gekleidet, während in den vorher +durchreisten Nilstrecken die Menschen nackt gingen. + +Die nächsten Monate bis zum August waren für Gordon eine Zeit +verhältnismäßiger Ruhe; er reiste zwischen den gewonnenen Stationen +hin und her, und seine Briefe bezeugen es, daß seine Gedanken in +stillen Tagen sich am liebsten den ewigen Dingen zuwenden. + +Im September war er wieder auf dem Marsche nach Massindi. Kaba Rega +hatte die meisten seiner Anhänger verloren, während Rionga und ein +anderer Häuptling sich um die Herrschaft stritten. Längere Zeit vorher +hatte Gordon Mannschaft nach Massindi abgefertigt und aus erhaltener +Botschaft konnte er nur schließen, daß dieser Ort von den betreffenden +Truppen besetzt sei. Als er aber in die Nähe kam, fand er, daß seine +Araber ihn betrogen hatten und nie dort waren, obschon der Anführer +seine Meldungen von dorther datierte. Er selbst kam mit einer kleinen +Anzahl und geriet durch diesen Verrat der nichtswürdigen Mannschaft +förmlich in eine Falle. + +Die Stämme lauerten ihm von allen Seiten her auf. + + »Ich danke Gott nicht nur mit Worten, sondern aus tiefster Seele,« + schrieb er, »daß er uns glücklich durchbrachte.« + +Er hatte nicht hundert Leute bei sich, und von diesen war ein Drittel +kaum sechzehnjährig. Die Mannschaft, die er nach seinem Befehl in +Massindi wähnte, lag die ganze Zeit auf der faulen Haut in Keroto, +eine Tagereise davon entfernt. Als er hinkam, brach er in einen +»wütenden« Zorn aus, dann aber beruhigte er sich. + + »Als einer, dem selbst Erbarmung widerfahren ist, konnte ich nur + Gnade vor Recht ergehen lassen,« sagte er. »Sie sind ein erbärmliches + Volk, was kann man von ihnen erwarten!« + +Während der nächsten Wochen errichtete er noch verschiedene Stationen, +von welchen aus der ägyptische Einfluß sich geltend machen sollte. Es +blieb den Besatzungen überlassen, den Kaba Rega in Ordnung zu halten. + +Die drei Jahre seiner persönlichen Statthalterschaft am Äquator waren +eine Zeit der Pionierarbeit und der Vorbereitung für weitere drei +Jahre, die nun folgten. Er sollte erst zu dem Kampf gestählt werden, +der ihm bevorstand. Nur durch innerliches Wachstum geht ein Mann wie +Gordon »von Kraft zu Kraft«. + +Am 29. Oktober schrieb er von Khartum aus: »Es giebt englische Spatzen +hier; was für eine Freude, sie zu sehen!« Anfangs Dezember war er in +Kairo, und am heiligen Abend des Jahres 1876 begrüßten ihn die Seinen +in der Heimat. + + + + + Fünftes Buch. + + Der General-Gouverneur des Sudan. + + + 1. Als Ritter ohne Furcht. + +»Man wirft mir vor, den Engländern nicht zu trauen,« sagte der +alte Khedive Ismail, als es sich um seine Absetzung handelte, +»habe ich nicht noch immer dem Gordon Pascha vertraut? Der ist ein +ehrlicher Mann, ein guter Landverwalter und kein Diplomat!« Ismail +war darum auch keineswegs damit einverstanden, einen so tüchtigen +Mann zu verlieren. Gordon aber hatte erklärt, daß er nur dann +zurückkehren werde, wenn ihm die gesamte Statthalterschaft der +Sudanländer übertragen würde. Seine drei Jahre am Äquator waren +ja keineswegs verlorene Zeit gewesen, er hatte die Sklavenjagd +in seinem Bezirk geschwächt, wenn nicht unterdrückt, aber von der +Hauptstadt Khartum aus hatte der General-Gouverneur Ismail Jakub +Pascha seinen Bestrebungen stets entgegengearbeitet. Er mußte in +Zukunft ganz freie Hand haben. Daß man ihm so weit entgegenkommen +werde, erwartete er keineswegs, als er sich zu einer Besprechung +nach Kairo begab; der Khedive aber war zu allem bereit. Jakub wurde +beseitigt, und Gordon verließ die Residenz als Oberstatthalter einer +von Südägypten bis zum Äquator, und vom Roten Meer bis Darfur sich +erstreckenden Provinz. Er sollte drei Vakile oder Unterstatthalter +haben, einen im eigentlichen Sudan, einen in Darfur, und einen am +Roten Meere. Als die beiden Hauptzwecke seiner Verwaltung war »die +Vervollkommnung der Verkehrsmittel und eine völlige Unterdrückung +des Sklavenhandels« in Aussicht genommen. Außerdem hieß es im neuen +königlichen Bestallungsschreiben: »An der abessinischen Grenze giebt +es Streitigkeiten; ich trage Ihnen auf, dieselben zu schlichten«. + +Am 18. Februar 1877 machte sich Gordon zum zweitenmal nach dem Sudan +auf den Weg, nicht auf sich selbst vertrauend, wohl aber stark in der +Kraft seines Herrn. + + »Ich ziehe allein hinauf mit dem allmächtigen Gott, der mich führen + und leiten wird; wie gut ist's, sich so völlig auf Ihn zu verlassen + und nichts zu fürchten, ja und des Gelingens gewiß zu sein!« + +Nach des Khedive Erklärung gab es Grenzstreitigkeiten mit +~Abessinien~. Die Lage war kurz die: nach König Theodors Tod +hatte ein gewisser Kasa, unter dem Namen Johannes, sich zum Herrscher +aufgeworfen, allein Johannes war, wie Gordon treffend bemerkte, nur +da König, wo er sich gerade befand, anderwärts galt er nichts. Im +Trüben fischend hatten die Ägypter darauf Bogos annektiert, während +der rechtmäßige Regent, Walad el Michael, von Johannes gefangen +gehalten, aber aus Furcht vor dem allzunah heranrückenden Nachbar +unter der Bedingung freigelassen wurde, daß auch er sich gegen den +gemeinsamen Feind zur Wehre setzen werde. Die Abessinier hatten +zuerst die Oberhand. Walad aber ersah seine Gelegenheit, den Ägyptern +sich anzuschließen und andere abessinische Häuptlinge aufzuwiegeln. +Als nun Johannes sich von Anarchie umgeben sah, schickte er einen +Gesandten nach Kairo und bot das südlich von Bogos gelegene Hamasen +als Friedensopfer an. In Kairo aber nahm man gar keine Notiz von +diesem Botschafter, ja man gestattete dem Pöbel, ihn auf offener +Straße zu beleidigen, dann schickte man ihn zurück! Natürlich war +Johannes voll Ingrimm, und im Bewußtsein, nicht zum besten gehandelt +zu haben, sandte der Khedive nun Gordon als Bevollmächtigten, die +Mißhelligkeiten beizulegen. + +In der Wüste zwischen Massaua am Roten Meer und Keren (Senheit) +spricht sich Gordon über seine Lage so aus: + + »Nun ich wieder in dieser weiten Einsamkeit auf meinem Kamel + bin, überdenke ich meine Lage. Dem Johannes habe ich annehmbare + Bedingungen geschickt und hoffe, mit seinem einflußreichen General + Alula in Senheit zusammenzutreffen. Gelingt es mir, die Sache + abzuwickeln, dann gehe ich alsbald nach Khartum und von dort nach + kurzem Aufenthalt nach Darfur, das in Aufruhr sein soll, doch glaube + ich das nicht recht ... Die Wohlgeneigtheit des Khedive ist über + alle Begriffe. Er hat Zeila, Berbera und Harrar meiner Provinz + beigefügt. »Was du wirst von mir bitten, will ich dir geben, bis + an die Hälfte meines Königreichs.« Was aber ist die Kehrseite? Das + Opfer eines Lebens, das man erst selbst durchkämpfen muß. Sein Leben + zu sofortigem Tod hingeben, ist nicht das schwerste! Aber ich habe + den Kampf übernommen und will mein Leben nicht in Anschlag bringen. + Und es ist mir dabei, als ob ich mit dem Khedive nichts mehr zu + thun hätte. Gott der Herr muß den Kampf selbst unternehmen, ich + bin zur Zeit sein Werkzeug. Die Ehre, die der Khedive mir erzeigt, + hat mich gar nicht, oder richtiger nur sehr wenig bewegt; ich bin + doch wohl ein bißchen stolz auf das Vertrauen, das er mir schenkt. + Mancher möchte die große Verantwortung scheuen, aus Furcht, ihr nicht + gewachsen zu sein; ich habe nicht daran gedacht. Ich weiß gewiß, daß + mir's gelingen wird, denn ich verlasse mich nicht auf meinen Verstand + -- Er leitet meine Wege. Sind doch alle zukünftigen Ereignisse für + einen jeden von uns vorherbestimmt. Des Negers, des Arabers, des + Beduinen Laufbahn, ihr Zusammentreffen mit mir u. s. w. ist längst + beschlossen. Wie kann da einer sich viel darauf einbilden, wenn er + etwas zu stande bringt!« ... + +Er hatte eine Zusammenkunft mit Walad, und kam durch Alula zu einem +Einverständnis mit Johannes, der mittlerweile von Menelek, dem König +von Schoa, im Süden bedrängt war; eigentliche Erfolge konnte er aber +nicht abwarten. Seine Anwesenheit in Khartum war dringend notwendig, +denn die Sklavenjäger im Sudan thaten ihr möglichstes, die noch +verstattete Frist auszunützen. Er beeilte sich daher. Schon auf dem +Wege verschaffte er den Leuten Recht, wo er konnte. Die Thatsache, +daß der neue Gouverneur einen jeden anhöre, der etwas zu klagen habe, +ging wie ein Lauffeuer durchs Land. Er mußte zuletzt einen wandernden +Briefkasten einführen, in welchen die Bittsteller ihr Anliegen an ihn +sozusagen zur Post geben konnten. Auch das Unangenehme der Würde eines +»großen Herrn« erfuhr er. + + »Wenn ich absteigen will, so sind gleich acht oder zehn Mann bei der + Hand, mich vom Kamel zu heben, als ob ich ein Todkranker wäre. Und + wenn ich eine Zeit lang zu Fuß gehen möchte, so steigt die ganze + Karawane ab; dann werde ich ärgerlich und sitze wieder auf!« + +In ~Khartum~ wurde er gleich einem Könige mit Kanonenschüssen +empfangen und eine feierliche Installierung fand statt. Anstatt aber +eine Thronrede zu halten, sagte er nur: »Mit Gottes Hilfe will ich +die Waage gerecht halten!« und das gefiel den Leuten besser als die +glänzendste Rede, war doch Gerechtigkeit das, was dem armen Lande am +meisten not that. Nach der Feier ließ er Geld an die Armen austeilen: +in drei Tagen hatte er an zwanzigtausend Mark aus seiner eigenen Kasse +verschenkt. + +Als Stellvertreter des Khedive hatte er einen überaus stattlichen +Palast mit einem Schwarm von Dienern, die ihn »hüteten wie einen +Klumpen Gold«; das verdroß ihn. Auch hier war es den Leuten etwas +ganz Neues, daß man den Statthalter sprechen konnte, ohne erst eine +Menge von Schranzen zu bestechen. Bald war er so von Hilfesuchenden +belagert, daß er auch hier einen Briefkasten einführen mußte, und +zwar an seiner eigenen Hausthüre, wo jeder sein Begehren schriftlich +einreichen konnte. Das erste, was er abschaffte, war die Peitsche +(Karbatsche), mittels welcher seine Vorgänger regiert hatten. +Gewaltherrschaft war nicht seine Sache. Übrigens war er nicht +allgemein populär; sein Vorgänger Ismail Jakub hatte Verwandte in +Khartum, auch eine zornmütige Schwester, die zur Begrüßung des ihr +verhaßten neuen Statthalters an den Fenstern des Regierungspalastes +die Scheiben einschlug und in den Gemächern die Diwane durchlöcherte! +Auch sein Vakil, Halid Pascha, war von Anfang an widerspenstig. Mit +dem machte Gordon aber kurzen Prozeß, er telegraphierte nach Kairo und +verlangte, daß er entfernt werde; der Wunsch wurde gewährt. + +Die Aufgabe, den Sklavenhandel in einem Lande zu unterdrücken, +wo Menschenware seit Jahrhunderten als ein erlaubtes Mittel zum +Reichwerden galt, war in der That eine große; Gordon weiß das und +setzt hinzu: + + »Wie Salomo bitte ich Gott um Weisheit, dies Land zu regieren; und + nicht nur sie wird er mir geben, sondern alles übrige dazu. Und + warum? Weil mir an dem übrigen nichts gelegen ist.« + +Aber er weiß auch, daß er die Sache nicht übers Knie abbrechen +läßt. Selbst Sklaven sind Besitz, der sich nicht ohne weiteres +antasten läßt. Ihre Freiheit soll mit der Zeit gesichert werden, +und mittlerweile sind's die Sklavenjäger, welche immer neue Zufuhr +bringen, denen er Krieg auf Tod und Leben ankündigt, er, der eine +Mann, kann man sagen, denn sein Militär ist fast wertlos. Sechstausend +türkische Baschi-Bosuks, seine Grenzwächter, beschließt er abzudanken; +denn er sieht, daß sie mit den Händlern unter ~einer~ Decke +stecken. Sechstausend Soldaten aber den Laufpaß geben, in einem Lande, +wo sie sich alsbald wieder als Banditen zusammenrotten können -- + + »Wer dürfte es wagen, der nicht den Allmächtigen auf seiner Seite + hat? Ich will es thun, denn mein Leben achte ich für nichts, ich + würde nur eine große Last mit der ewigen Ruhe vertauschen ... Ich + bin an des Khedive Statt hier, mit unumschränkter Gewalt, und weiß + es jetzt, wie machtlos er in Kairo dem Sklavenhandel gegenüber ist. + Aber mit Gottes Hilfe will ich's vollbringen und habe das Bewußtsein, + daß er mich dazu bestimmt hat ... Die Arbeit ist riesengroß, aber das + ficht mich nicht an ... ich kenne meine Schwäche und verlasse mich + auf Den, der stark ist. Ich kann nur gradaus meinen Weg gehen, den + Erfolg überlasse ich Ihm ... Es ist in der That eine Riesenprovinz, + die ich zu verwalten habe; wie froh bin ich zu wissen, daß Gott + der Herr Verwalter ist; es ist sein Geschäft, nicht meines. Wenn + ich unterliege, so ist's sein Wille; gelingt es mir, so gebührt + Ihm die Ehre. Jedenfalls hat Er mir's gegeben, die Ehre der Welt + für nichts zu achten, und die Gemeinschaft mit Ihm über alle Dinge + hochzuschätzen. Möge mir alles mißlingen und ich in den Staub + gedemütigt werden, wenn nur Er verherrlicht wird. Die hohe Stellung, + die ich bekleide, will mich manchmal drücken, und ich kann mich nach + der Zeit sehnen, wo Er mich beiseite legen wird und einen andern Wurm + dies Werk thun läßt. Ich wollte, die Kampfhitze meines Lebens wäre + vorüber; aber Er hält mich aufrecht und wird mich davor bewahren, je + wieder an Irdisches mein Herz zu hängen.« + +Wer so denkt, wie kann der anders als große Thaten thun! Ein an Gott +sich haltender Mensch ist immer ein Held. + +Wir haben Gordon den Ritter ohne Furcht genannt. Wie ein Recke in +den alten Heldensagen zieht er aus, mit dem starken Arm seines +Gottvertrauens ein Beschützer seiner Herde zu werden, und das Los der +Armen in diesem traurigen Land zu mildern. Eine Armee hat er nicht, er +muß sie sich erst schaffen, und zwar aus erbärmlichem Material, und +einen Hauptsieg erringt er, wie wir sehen werden, ohne Armee. Er soll +die Bahr el Ghasal der Macht Sebehrs, des schwarzen Pascha, entreißen; +er soll einem Lande Frieden bringen und ehrlichen Handel einführen, wo +die Menschen durch Unterdrückung fast vertiert sind und die Religion +in Fanatismus besteht. + +Er war noch keine drei Wochen in Khartum, da konnte er bereits seiner +Schwester schreiben: + + »Ich glaube, die Leute haben mich gern; es ist auch schön, daß, wo + früher täglich zehn bis fünfzehn Menschen durchgepeitscht wurden, + jetzt dies nicht bei einem mehr vorkommt.« + +Damit ist nicht gesagt, daß er nicht strenge Ordnung hielt und Herr +war im Amt. Die erste äußere Wohlthat, die er der Stadt erwies, war +die Errichtung einer Wasserleitung; vorher mußte das Wasser aus +dem Fluß herauf getragen werden. Dabei geriet er mit katholischen +Missionaren in Konflikt, die flüchtigen Sklaven Versteck gewährten. +Als Gordon ihnen sagte, er brauche dieselben zur Arbeit, begegneten +sie ihm mit Anmaßung. Da schrieb er einen Brief an den Papst mit +der Bitte, dieser möge seinen Dienern begreiflich machen, daß +Angelegenheiten der vizeköniglichen Regierung außerhalb ihres +Bereiches lägen. Als der Brief fort war, sagte er den Missionaren, er +habe nach Rom geschrieben, was sie zwar aufbrachte, die gewünschte +Wirkung aber nicht verfehlte. + +Ende Mai verließ er Khartum. Es war der Anfang eines fünfmonatlichen +Kamelrittes. Seine Anwesenheit in Darfur war dringend notwendig. +~Darfur~ hat eine in die graue Vorzeit zurückreichende +Geschichte. Es gab längst Sultane von Darfur, ehe es Kurfürsten +von Brandenburg gab. Auch einen alten Handel hat das Land -- +Sklavenhandel. Jetzt aber war Darfur in Aufruhr, und die ägyptischen +Besatzungen der Städte Fascher, Darra, Kolkol u. a. von den Rebellen +eingeschlossen. Eine Heeresabteilung war schon im März nach Fascher +geschickt worden, von Erfolgen hatte aber noch nichts verlautet. + + »Ich rechne darauf, im Lauf dieses Jahres meine achttausend Kilometer + zu reiten,« schreibt Gordon. »Ich bin ganz allein, und das ist mir + lieb. Ich bin ein Fatalist geworden, wie die Leute es nennen; d. h. + ich überlasse es dem lieben Gott mir durchzuhelfen. ~Die großartige + Einsamkeit der Wüste läßt einen fühlen, wie schwach der Mensch ist. + Alles Gott anheimzustellen giebt allein Kraft~, und ich kann den + Tod als eine Erlösung erwarten, wenn es sein Wille ist. In meiner + gegenwärtigen Lage, auf manch langem, heißem Ritt kann ich meine + Gedanken um so besser ausdenken, weil ich allein bin. Ich gewöhne + mich nach und nach ans Kamel, es ist ein wunderbares Tier, das weich + und still geht wie auf Teppichen, recht angenehm.« + +Natürlich folgte ihm die statthalterliche Leibgarde von zweihundert +Berittenen. Sein Kamel, ein besonders schnelllaufendes Tier, trug ihn +aber öfters weit voraus, so z. B. ganz gegen seinen Willen wie im +Sturmlauf in die Grenzstadt Fodja, was ihn auf die Vermutung bringt, +daß die Kamele und die Gordons als eigensinnige Geschöpfe verwandter +Rasse sein möchten. + + »Ich habe ein prächtiges Tier, so giebt's keines mehr; es fliegt nur + so dahin, selbst zur Verwunderung der Araber. Wie ein Blitz fuhr + ich in die Stadt hinein, und ehe die Besatzung sich recht besinnen + konnte, wie ich zu empfangen sei, war ich da. Nur ein Araber hatte + Schritt mit mir gehalten, und der sagte, es wäre der Telegraph! Die + andern kamen anderthalb Stunden später.« + +Gordon hatte im Gedanken an einen der Erwartung der Leute +entsprechenden Einzug seine Marschallsuniform angelegt. + + »Welch tolles Bild,« ruft er scherzend aus, »wenn die goldbetreßte + Exzellenz so im Sturm anlangt, als wären alle Feinde hinter ihr her! + Der Mudir war sprachlos!« + +Das Land nennt er eine elende, sandige, strauchbewachsene Wüste. Den +Aufruhr schreibt er lediglich schlechter Verwaltung zu. Wo vorher +~ein~ Mann den Weg nach Fascher allein zurücklegen konnte, +genügten bei der jetzigen Unsicherheit kaum zweitausend Mann Militär +von der Art, wie es ihm zu Gebot stand. In Omschanga findet er die +erste Nachricht von der Heeresabteilung vor, mit der er das Land +erobern soll. Die Truppen lagen hier und dort zerstreut, alles in +allem keine dreitausend Mann -- Soldaten von der »unbeschreiblichen« +Sorte, mit denen er schließlich auch nichts ausrichten konnte. Doch +tröstet er sich. + + »Ich denke, ~Gott~ wird mir's ermöglichen, die Stämme zu + gewinnen, und mit ~seiner~ Hilfe werde ich dann mit den + Häuptlingen nach Fascher ziehen, die jetzt noch Rebellen sind.« + +Wo in der ganzen Weltgeschichte findet sich ein ähnliches Beispiel, +daß ein Feldherr auf seine Feinde rechnet, um mit ihnen Thaten zu +thun! Bei ihm ist das von jeher so gewesen; es ist der Sieg des +Rechts über das Unrecht, des Guten über das Böse. Und wie er in China +öfters mit überwundenen Taipings die Taipings besiegte, so verläßt er +sich mit seinem großartigen Vertrauen auch in Darfur auf die erst zu +überwältigenden aufrührerischen Stämme. + + »Nichts giebt mir größere Kraft,« sagt er, »als für die Leute zu + beten; und es ist wunderbar: ~wenn ich dann mit einem Häuptling + zusammenkomme, für den ich vorher gebetet habe, so ist es immer, + als ob er schon gewonnen wäre~. ~Darauf~ gründe ich meine + Hoffnung auf einen siegreichen Zug nach Fascher. Truppen habe ich + lediglich keine, aber der Allerhöchste geht mit mir, und ich + verlasse mich so viel lieber auf Ihn allein. Solches Vertrauen könnte + ich ja nicht haben, wenn er mir's nicht gäbe und mich nicht dazu + ermutigte; ich erachte daher, daß gerade dieses Vertrauen eine Art + Angeld auf Sieg ist.« + +Und bezüglich seines Vorhabens, mit gewonnenen Rebellen nach Fascher +zu ziehen, sagt er weiter: + + »Vielleicht läßt Er's auch nicht gelingen, und Kampf mag bevorstehen. + Die Herzen der Menschen sind in seiner Hand, und er lenkt sie wie + er will. Er ~kann~ es aber thun, so es ihm wohlgefällt; und + wer möchte etwas anderes wünschen, als daß er nach Seiner Weisheit + alles leite. Die Gefahr für mich dabei ist die, daß es mich aufblasen + möchte, so er's thut. Aber auch das kann und wird er verhindern. + Ich mag meine Laufbahn überdenken wie ich will, so finde ich + nirgends besonderen Verstand, oder Geschicklichkeit, oder Weisheit + meinerseits. Meine Erfolge bisher waren eigentlich immer, was man + im gewöhnlichen Leben Glücksschüsse nennt ... Ich bin nichts, gar + nichts, als einer, der von Gott Almosen empfängt. Ein Sack voll Reis, + den ein Kamel durch die Wüste schleppt, kann soviel vollbringen als + ich oft meine, daß ich vollbringe. Aber wie verschieden urteilt die + Welt!! Ich meinesteils danke Gott, daß Er mich als ein Werkzeug + benutzt, und freue mich auf die vorbehaltene Ruhe. Und ich kann mich + freuen mit seiner Freude, wenn den armen Menschen Hilfe wird -- durch + Ihn, nicht durch mich, obwohl Er sich meiner bedient.« + +Und so zog er durch die Wüste als ein unverwundbarer Glaubensheld, der +wie David mit seinem Gott über Mauern springt, der Völker besiegt und +Städte einnimmt und dabei meint, er vollbringe gar nichts, das ihm +selbst zur Ehre gereiche! Er war noch in Fodja, als ihn ein Telegramm +erreichte: man brauche in Kairo sofort eine halbe Million Mark +Einkünfte aus seiner Provinz! Über diese Erwartung seines irdischen +Oberherrn schreibt er in die Heimat: + + »Soviel ist sicher, daß ich vor der Hand in einem Sumpfe bin mit + dem Sudan, aber wenn ich bedenke, wer als mein Oberschatzmeister, + mein Heerführer, mein Landverwalter im Regiment sitzt, so wäre + es merkwürdig, wenn ich darin stecken bliebe. Ja, hätte ich den + Allmächtigen nicht zur Seite mit seiner Weisheit, ich wüßte mir + wahrlich keinen Rat!« + +Dabei legt er aber nicht die Hände in den Schoß, sondern gürtet auch +in dieser Hinsicht seine Lenden zu dem ungleichen Kampfe. + + »Mit unsäglicher Anstrengung kann es mir gelingen, in zwei bis drei + Jahren aus diesem Lande eine ordentliche Provinz zu schaffen mit + einer tüchtigen Armee und regelmäßigen Einkünften, mit hergestelltem + Frieden und aufblühendem Handel, und vor allem mit unterdrückter + Sklavenjagd; und dann -- ja dann gehe ich heim und lege mich ins Bett + und stehe nie auf bis Mittag, und marschiere nie mehr als höchstens + eine Meile per Tag. Und esse Austern zu Mittag!« + +Diese scherzenden Zeilen an seine Schwester beweisen nur, daß er eine +fast unübersteigliche Arbeitslast vor sich sieht. + +Während er noch in Omschanga durch seine »Unbeschreiblichen« +hingehalten war -- keine geringe Geduldsprobe für den energischen Mann +-- hatte er Zeit, sich die endlose Schwierigkeit der Sklavenbefreiung +weiter zu überdenken. Die Wüstenstrecken von Darfur und Kordofan +sind von Beduinenstämmen durchzogen, von denen mancher mehrere +tausend Krieger ins Feld stellen kann, die unter ihren kampfgeübten +Scheiks keine verächtliche Macht bilden. Diese Stämme haben von jeher +Streifzüge auf die Neger im Süden unternommen, oder sich Sklaven im +Tauschhandel mit anderen Stämmen verschafft. Zu Gordons Zeit wurden +die Sklaven selten in großen Karawanen, wohl aber von den Händlern in +vielen kleinen Trupps durchs Land getrieben. So begegnete er eines +Tages einem Manne, der sieben schwarze Weiber vor sich hertrieb und +sie samt und sonders für seine Eheweiber ausgab; die Kinder, die +nebenherliefen, nannte er seine Nachkommenschaft. Wer sollte ihm +das widerlegen! Vor der Hand aber war's fast noch mehr das von den +türkischen Grenzsoldaten übers Land gebrachte Elend, das Gordon +Tag und Nacht beschäftigte. Und als die unterdrückten Landbewohner +kamen und ihm demütig ihre Unterwerfung zu Füßen legten, sagte er +ihnen, wie's ihm ums Herz war, daß sie vielmehr erwarten könnten, +er, als Statthalter des Khedive, bäte sie um Verzeihung. Des Khedive +Grenzwächter, die Baschi-Bosuks, dankte er seinem Vorhaben gemäß ab. + + »Ich habe mich auf einen Felsen gestellt und thue was recht ist, ohne + mich um die Folgen zu kümmern ... Wenn Angestellte ihre Pflicht nicht + thun, so besinne ich mich keinen Augenblick, sie ihrer Wege gehen zu + heißen, mag man in Kairo denken was man will. Es ist jedenfalls ein + großer Vorteil, ganz furchtlos zu sein. Und wenn ich selbst abgesetzt + würde, so wäre es ja keine Strafe, denn ich opfere mein Leben in + diesem Land.« + +An vierzehn Tagen wartet er auf seine saumselige Mannschaft, ohne nur +zu wissen, wo die Helden sind. Er nennt's ein trostloses Geschäft, +und bei der furchtbaren Hitze in dem jammervollen Land ist's kein +Wunder, wenn er ausruft: »Wollte Gott, ich wäre in der andern Welt!« +Er meint, mehr als andere Menschen hätte er immer wieder durch die +Mangelhaftigkeit seiner Streit- und Arbeitskräfte zu leiden; so sei's +in China gewesen, und so sei's hier. Das unnötige Wartenmüssen ist es, +was dem thatkräftigen Mann so schwer fällt. + + »Aber es ist nicht recht, es hat jeder sein Kreuz zu tragen. Wir + sind alle Knechte; heute giebt der Herr uns Arbeit, und morgen will + er, daß wir warten können. Dieses Hinliegen ist mir aber sehr gegen + die Natur. Und ich kann auch gar nicht sehen, was in diesem Lande + schließlich zu gewinnen ist!« + +Endlich kamen fünfhundert seiner Helden. Fascher hatte er aber bereits +auf seine Weise ohne Schwertstreich gewonnen; die Stämme hatten sich +ihm einer nach dem andern ergeben. Nun machte er sich nach Tuescha +auf den Weg, von wo er eine Garnison von dreihundert mitnehmen will. +In Darra warten weitere zwölfhundert. Auf diese Art kann er ein Heer +von zweitausend Mann zusammenbringen. Unterwegs findet er allerwärts +Arbeit, das aufrührerische Banditenvolk aus seinen Schlupfwinkeln +zu vertreiben. Zuletzt beabsichtigt er, sich auf Schekka zu werfen, +das er die »Höhle von Adullam« nennt, wo Räuber und Mörder hausen, +nämlich die Horden Sebehr Paschas, des großen Sklavenhändlers, unter +dessen Sohn Soliman. Auch diesem gegenüber, der ihm mit elftausend +Mann begegnen kann, rechnet er auf keinen andern, als einen +~innerlichen~ Sieg. + + »Ich bin gar nicht unruhig,« schreibt er, »und hoffe, es wird ohne + Blutvergießen abgehen.« + +Ins Gefecht geriet er nun allerdings; aber nicht sowohl seinen Waffen, +als seinem gewaltigen Geist und seiner demutstarken Seele wurde der +Sieg. + +In Tuescha fand er die dreihundertfünfzig Mann Garnison, welchen +seit drei Jahren kein Sold bezahlt worden, beinahe ausgehungert. +Das war nicht sehr ermutigend, aber Gordon war dergleichen gewohnt. +War's ihm doch gegeben, seine glänzendsten Thaten einem Chaos von +Unmöglichkeiten abzugewinnen. Der Aberglaube der Chinesen erblickte +in seiner Hand einen Zauberstab und nannte seine Erfolge Wunder. Wohl +hatte er einen Zauberstab: es war derselbe, mit dem einst Moses aus +dem Felsen Wasser schlug. Die Besatzung von Tuescha war in der That +so erbärmlich, daß er beschloß, ihrer Beihilfe zu entbehren, sie nach +Kordofan zu schicken und mit seinen ursprünglichen Fünfhundert samt +ihren schlechten Steinschloßgewehren weiterzuziehen. Ein Scheik, der +versprochen hatte zu ihm zu stoßen, ließ ihn im Stich, während die +Umgegend voll von kampflustigen Schwarzen war, die recht gut wußten, +daß der General-Gouverneur nur mit einer Handvoll Leute des Weges +komme, und ihn ernstlich bedrohten. Aber zu einem Angriff kam es +nicht. »Gottlob, die Gefahr ist vorüber,« kann er schreiben. Wie groß +sie war, weiß er nicht einmal; aber das weiß er, daß nur wenige es +begreifen können, was es heißt Truppen anführen, in die man keine Spur +von Vertrauen setzt. + + »Ich habe von ganzer Seele um einen Ausweg gebetet; es gab mir + ordentlich einen Stich ins Herz, wie damals, als ich mich bei + Massindi (S. 116 f.) verraten fand. Nicht, daß ich den Tod fürchte, + aber aus Kleinglauben fürchte ich die Folgen meines Todes; das ganze + Land stünde wieder in Aufruhr. In solcher Lage zu sein, kommt einem + wirklichen Schmerz gleich, es macht mich in einer Stunde um ein Jahr + älter ... Auch ist es eine Demütigung. Aber gottlob! es ist vorüber + ... wohl sage ich mir, daß alles zum guten Ende führen wird, aber + das macht dergleichen nicht weniger peinlich. Ich glaube, ich habe + in dieser Hinsicht in meinem Leben mehr gelitten als die meisten + Menschen. Heute morgen z. B. (nach der überstandenen Gefahr) kam mir + ein Wild schußgerecht und ich ließ mir meine Flinte reichen. Der + Kerl, der sie trug, hatte sie mittlerweile zerbrochen; also hätte + ich in einem Überfall nicht einmal meine Waffe gehabt!« + +Die Charakterzeichnung Gordons wäre eine unvollständige, wenn man zu +bemerken vergäße, wie er oft gerade in der schwierigsten Lage auch +eine komische Lichtseite erblickte, deren er gerne Erwähnung that. So +schließt der Brief, der von der vorübergegangenen Gefahr berichtet, +mit folgenden Worten: + + »Wir hatten auch dreißig oder vierzig Esel bei uns. Und wenn einer + anfing, dann wußte ich, daß sie alle schreien mußten; es war + ordentlich eine Wohlthat, den vierzigsten endlich zu hören. Da fing + der erste die Reihe wieder an, und so ging's die Nacht durch! Der + Darfur-Esel brummt aber nur ganz tief in der Tonleiter; die hohen + Töne, die sein englischer Bruder aus frohem Herzen ausstößt, kennt er + offenbar nicht.« + +Als Gordon nach Darra kam, gab's auch dort Enttäuschung. Die +Hilfstruppe, auf die er gerechnet hatte, war ihm entgegen gezogen und +hatte den Weg verfehlt! + + + 2. In der Räuberhöhle. + +Die Leute von Darra waren nicht wenig erstaunt, den Generalgouverneur +in ihrer Mitte zu erblicken; sie wußten sich seit einem halben Jahre +von der Außenwelt abgeschnitten. Die Stämme umher waren im Aufstand; +Harun, der als Anverwandter des gefallenen Sultans von Darfur die +Herrschaft beanspruchte, bedrohte die Stadt, und in Schekka saß +der Sohn Sebehrs mit sechstausend bewaffneten Sklaven. Gegen Harun +schickte Gordon eine ziemlich starke Truppenabteilung, die auch +ins Gefecht geriet und Beute machte, sonst aber keine Heldenthaten +verrichtete. Ein Offizier war damit beauftragt, eine zweite Abteilung +gegen die Stämme zu führen, und Gordon selbst blieb vorläufig in +Darra, um den schlimmsten der Feinde, Soliman, im Auge zu behalten. +Den Einwohnern der Stadt war seine Anwesenheit eine Schutzmauer, +aber sie fanden auch sonst noch Ursache, derselben froh zu sein. +So gab er ihnen z. B. ihre Moschee zurück, die von den Ägyptern in +ein Pulvermagazin verwandelt worden war; freute es ihn doch, wenn +die Muselmänner Gottesdienst hielten, sofern sie es nur redlich +meinten. Das Land weithin war nach dreijähriger Anarchie im Elend der +Hungersnot. Er beschreibt die Kinder als »nur Bäuche mit Gliedmaßen +wie Fühlfäden« -- eine Folge des Grasessens. + +Um Solimans habhaft zu werden, tauchten verschiedene Vorschläge auf. +Gordons schwarzer Schreiber z. B. ersann einen Plan, wie man ihn nach +Darra locken könne, um ihn daselbst, sofern er sich nicht ergeben +wolle, zu ermorden. Statt dieses »asiatischen« Einfalls, wie Gordon +sich ausdrückt, kam ihm selbst ein anderer, wie nur ~seine~ +Großmut ihn ersinnen konnte: er wollte den Sohn Sebehrs durch +Vertrauen entwaffnen. + + »Es ist mir der gute Gedanke gekommen, den Soliman zum Statthalter + von Darra zu machen und ihn damit von dem Räubernest Schekka zu + entfernen. Das wird ihn auch an fernerer Sklavenjagd hindern, denn + seine sechstausend werden genug zu thun haben, das Land gegen die + Stämme zu halten.« + +Der Plan war nicht ausführbar; dennoch hoffte er Soliman ohne Waffen +zu besiegen. Aus der »Höhle Adullam« erhielt er mittlerweile durch +die Häuptlinge El Nur, Awad und Idris Kenntnis, die zwar Sebehrs +Herrschaft anerkannten, sich aber die Regierung geneigt zu machen +suchten, indem sie dem Statthalter verrieten, was dort vorging. So +wußte er z. B., daß Soliman beständige Verbindung mit seinem Vater +in Kairo unterhielt und daß der Aufruhr in Darfur aus Gehorsam gegen +Sebehr ins Werk gesetzt wurde, als dieser seinen Anhängern sagen ließ, +sie sollten »das jetzt ausführen, was unter dem Baum beschlossen +worden sei.« Der schwarze Pascha regierte selbst als Gefangener noch +das unglückliche Land. + +Ehe Sebehr nämlich mit seinen zwei Millionen »Bakschisch« (Trinkgeld) +nach Kairo ging, um die Pascha zu bestechen, hatte er alle +sklavenhandeltreibenden Häuptlinge seines Gebietes unter einem großen +Baum an der Straße zwischen Schekka und Obeid versammelt und ihnen +einen Eid auf den Koran abgenommen, daß sie sich allerorts gegen +die Regierung erheben sollten, wenn er ihnen das Wort sende. Als +nun Gordon nach seiner Arbeit am Äquator die Statthalterschaft des +Sudan übernahm und sich nach kurzem Aufenthalt in Khartum aufmachte, +um die Sklavenhändler in ihrem bis jetzt sichersten Schlupfwinkel zu +bekämpfen, wo die Bande sich um Soliman geschart hatte, da wußte der +alte Menschenräuber, daß es damit seiner Hoffnung ans Leben ging, den +Handel, von dem er seine Macht und seinen Reichtum hatte, je wieder +zur alten Blüte zu bringen. So erging sein Mandat an die Raubgesellen +in Schekka. + +El Nur und Idris hatten sich beide mit Hinterlegung einer Strafsumme +aus Schekka fortgemacht. Von ihnen erfuhr Gordon, daß Soliman festsäße +bis nach der Regenzeit und sich in seiner »Höhle« vor einem Überfall +gesichert erachte. Daraus ergab sich indessen keine Ruhezeit für +unseren Helden. Er war noch nicht vierzehn Tage in Darra, als er +schrieb: + + »Heute haben sich sechshundert der Nazagats mit ihrem Scheik zu mir + geflüchtet.« + +Dieser Stamm hatte seinen Wohnsitz in der Nähe von Schekka und war +einer der gewaltigsten im Land, der siebentausend Krieger ins Feld +bringen konnte. Aber infolge der fortwährenden Plünderungen von +Sebehrs Bande fingen sie an, sich zu Gordon zu schlagen; und er hörte, +daß es nur der Anfang einer Einwanderung sei, indem noch andere Stämme +ähnliches beabsichtigten. Sie konnten über Nacht kommen, denn »Gepäck +haben sie keines und reiten wie der Blitz, ohne Bügel.« Der Vorteil +einer solchen Verstärkung war aber ein zweifelhafter -- wo Nahrung +hernehmen für so viele in dem ausgeplünderten Land? + +Eine weitere Schwierigkeit, die sich ihm um diese Zeit darbot, +verstattet einen Einblick in die Ratlosigkeit, die ihn angesichts des +von ihm bekämpften Greuelwesens mehr wie einmal befiel. Eine seiner +Streifkolonnen hatte ihm zweihundertundzehn Sklaven in die Stadt +gebracht, ausgehungerte Menschen, die ihn so flehentlich anblickten, +daß ihm die Augen übergingen. Was soll er mit ihnen anfangen? wem +soll er sie überlassen? Selber behalten kann er sie nicht und füttern +kann er sie auch nicht. Selbstverständlich läßt er ihnen für den +Augenblick etwas Durra reichen, denn sie haben seit sechsunddreißig +Stunden nichts gegessen. »Ich wollte heute mein Leben hinlegen,« ruft +er aus, »um das Elend dieser Menschen zu lindern; wie viel mehr muß +Gott sich ihrer erbarmen!« Und immer mehr wird es ihm zur Klarheit, +daß das Schwerste des von ihm unternommenen Kampfes nicht sowohl die +Unterdrückung der Händler selbst sei, als die Versorgung der hilflosen +Sklaven. + +Es ist ihm öfters zur Last gelegt worden, daß er selbst Sklaven, als +solche, seinen Truppen einverleibe, ja sie gegebenenfalls sogar kaufe. +Er, der sein Leben für nichts achtete in dem großen Kampf gegen das +Unrecht, konnte es ruhig der Zeit überlassen, sein Thun ins rechte +Licht zu setzen. Er braucht Truppen gegen die Sklavenhändler; woher +soll er sie nehmen? Wenn er es unterläßt, Sklaven zu nehmen und +ihre Eigentümer zu entschädigen, so gehören sie nach wie vor, d. h. +vertragsmäßig noch zwölf Jahre lang ihren jeweiligen Herren. Sie mit +Gewalt frei machen, hieß den Aufruhr verallgemeinern. Es schien ihm +der beste Weg, die Banden bewaffneter Sklaven im Land möglichst unter +seine Disziplin zu bringen. Das Urteil der Leute hatte ihn nie viel +angefochten. Seiner Schwester formuliert er Anklage und Entschuldigung +mit den kurzen Worten: + + »Ich möchte, daß Du es richtig verstehst -- ›Oberst Gordon kauft + Sklaven an von Regierungs wegen und läßt die Gellaba nach wie vor + ihr Wesen treiben‹, heißt's in den Zeitungen. Ja, er thut's, denn + nur mit Hilfe von Sklaven kann er die Sklavenhändler bekämpfen + und die bewaffneten Banden unter sich bringen. Die Sklaven, die + ich kaufe, sind längst ihrer Heimat entrissen, ich kann sie nicht + zurückschicken, selbst wenn ich wollte. Es ist nicht, als ob ich dem + Handel dadurch Vorschub leistete, nicht einmal indirekt, denn gerade + dadurch gewinne ich ein Mittel, ihn zu unterdrücken.« + +Die Gellaba -- er nennt sie selbst Geier -- sind die kleinen Händler, +welche die Ware im einzelnen den Jägern abkaufen. + + »Wenn wir mit Rußland im Krieg sind,« sagt er, »benutzen wir diesen + Zeitpunkt nicht, um in Indien Mißstände zu unterdrücken? Ich wäre + tollkühn, wollte ich mir die kleinen Leute verfeinden, ehe ich mit + den Hauptsündern fertig bin.« + +Er weiß, daß in Schekka an viertausend Sklaven liegen, die ihm in die +Hände fallen werden, sobald er jenes Nest aushebt. + + »Was soll ich mit ihnen anfangen, mit Weibern und Kindern? Ich + kann sie nicht in ihre Heimat zurückschicken (weithin ins Innere + von Afrika, selbst wenn er im einzelnen Fall immer wüßte, wo die + Geraubten zu Hause sind!) ich kann sie nicht erhalten. Ich muß sie + entweder den Stämmen überlassen, oder meinen Truppen, oder den + kleinen Händlern. Ich habe keine andere Wahl. Wenn ich sie freigebe, + so überlaufen sie das Land, und ein herrenloser Sklave ist wie ein + verlorenes Schaf -- das Eigentum dessen, der ihn findet. Ich muß + suchen den Ausweg zu ergreifen, der für die armen Sklaven der beste + ist. Was Europa dazu sagt, ist nicht die Hauptsache: es ist der + Sklave, der leidet, nicht der Europäer. Das weiß ich wohl, daß wenn + ich jene viertausend Sklaven den Stämmen oder den Gellaba, oder auch + meinen Truppen überlasse, man in den nächsten Monaten um so viel mehr + von Sklaventransport hören wird; aber dann ist wenigstens das damit + gewonnen, daß die Ärmsten auf die beste Art ihre Bestimmung erreichen + und nicht hier Hungers sterben.« + +Als ihre Bestimmung kann man neben dem Orient überhaupt auch Ägypten +betrachten, wo merkwürdigerweise der Ankauf von Sklaven auch dann noch +gestattet war, als der Handel im Sudan unterdrückt werden sollte. + + »Ich könnte die Verantwortung von mir abwälzen, und die Sache sich + selbst überlassen -- das hieße die Sklaven dem sichern Elend und dem + Hungerstod preisgeben. Soll ich ein solcher Feigling sein, aus Furcht + vor der Meinung des besser unterrichteten Europa? Nein, ich werde + dem Transport fürs nächste Vorschub leisten. Die Leute sollen in die + Zeitungen schreiben, was sie wollen. Hier sind die Sklaven, um sie + her die Geier, und hier bin ich, der eine Mann, der keine Nahrung für + sie hat und keine Möglichkeit, sie in ihre Heimat zurückzuschicken. + Hätte ich einen tüchtigen Mann mit starkem Arm, der mir helfen + könnte, jeden einzelnen Sklaven nach seinem Wunsche zu behandeln -- + es wäre mir lieber. Denn merkwürdigerweise haben selbst diese elenden + Sklaven noch Wünsche in dieser Hinsicht -- manche vertrauen sich + lieber den Gellaba an, manche den Stämmen, manche meinen Truppen; + nach ihrer verwüsteten Heimat verlangen sie indessen nicht zurück, + denn sie wissen, daß sie dann nur anderen Stämmen zum Opfer fallen + und wieder Sklaven werden. Ihre Dörfer sind zerstört; es würde + lange dauern, ehe sie nur wieder auf eine Ernte hoffen könnten.... + Angesichts dieser Thatsachen steht man hilflos dem Erlaß gegenüber, + daß alle Sklaven nach zwölf Jahren frei sein sollen. Wer will sie + frei machen? Man könnte gerade so gut erwarten, daß Steine und Bäume + das Gesetz erfüllen, als daß die Stämme unter sich ihre Sklaven + aufgeben. Man kann lediglich nichts thun, als sie an der Jagd auf + neue Sklaven hindern ... Ich habe so wenig Korn hier, daß ich nicht + weiß, was anfangen. Bei solcher Sorge vergeht einem der hohe Mut. + Aber das weiß ich, daß ich um keinen Gewinn der Welt die übernommene + Arbeit jetzt aufgebe; es wäre eine Feigheit ... Ich höre von Fascher, + daß nach einem Ausfall auf Harun das Volk zu Hunderten Hungers starb + oder den Pocken erlag -- arme Kinder und Weiber, deren jedes sein + Leben lieb hat wie wir! Schön war, daß meine Araber ihre Gefangenen + freiließen -- es seien ihrer zweihundertfünfunddreißig gewesen, die + Arm in Arm in einer langen Kette davonwankten. Es geschah in der + Hoffnung, sie vor den Gellabas zu retten, was hoffentlich gelungen + ist ... + + »Eine Truppe ausgehungerter Menschen ist in meinen Hof eingebrochen, + ich habe sie fortschicken müssen bis morgen, in der Hoffnung, bis + dahin etwas Durra aufzutreiben.« + +Mittlerweile verhielt sich der von Darra abgesandte Offizier ganz +unthätig, ja Gordon hörte, daß er sich vom Feind habe bestechen +lassen. Kein Wunder, daß Gordon allen Mut verlor, sich auf seine +Truppen zu verlassen. Er beugt sich unter diese Thatsache als unter +eine Fügung Gottes. Dies hindert ihn aber nicht, sich vorzunehmen, +den Mann im Betretungsfalle kriegsrechtlich erschießen zu lassen. Wie +seine Truppen sich ferner verhielten, ergiebt sich aus folgendem. +Die ~Leparden~, ein zahlreicher Stamm, hatten sich gegen +ihn aufgeworfen und die Verbindung zwischen Darra und Tuescha +abgeschnitten. Er beschloß daher, seinen Besuch in der Räuberhöhle +Schekka noch hinauszuschieben und mit einer Abteilung seiner +»Unbeschreiblichen« und einer Anzahl verbündeter Mascharins den +Leparden entgegenzuziehen. Es war eine schlimme Nacht, voll Sturm und +Regen. + + »Ich zog meinen Mantel an und setzte mich unter meinen Schirm und + wünschte, es wäre Tag. Angenehm war die Lage nicht, aber ich wickelte + mich ein und konnte schlafen.« + +Es war ein Regen, der einem die halbe Kraft aus dem Körper spülte, +sagt Gordon, aber nichtsdestoweniger führt er seine Leute am +folgenden Tage in den Kampf -- den Teil wenigstens, der bei der Hand +war, und das waren ~nicht~ seine »Unbeschreiblichen«, die langsam +hinterdrein kamen. Seine Verbündeten, die Mascharins, waren es, die, +obgleich geringzählig, sich nicht halten ließen und die Leparden, d. +h. ihre einhundertsechzig Mann starke Vorhut, gänzlich aufrieben. +Als seine Truppen herankamen, besetzten sie das gewonnene Lager +des feindlichen Stammes, und während Gordon mit dem Häuptling der +Mascharins Kriegsrat hielt, stürmten die Leparden in zwei Abteilungen +von je dreihundertfünfzig Mann daher. Sie wurden zurückgeworfen, aber +wieder nicht von seinen Truppen, sondern von den tapfern Mascharins, +deren Anführer Ahmed Nurra tödlich verwundet wurde. Seine Helden +hielten das Palissadenwerk von der sichern Seite! Gordon befand sich +in einem Zustand der peinlichsten Entrüstung. Das Einzige, was ihn +zurückhielt, sich selbst unter die anstürmenden Leparden zu werfen, +war der Gedanke, daß seine elenden Truppen dann gar nicht mehr wüßten, +was thun. Aber gründlich verhaßt wurden ihm die Baschi-Bosuks mit +ihrem Waffengeklirr, wenn der Feind nicht da war, und ihrer maßlosen +Feigheit, wo's Ernst galt. + + »Kein Mensch hat eine Vorstellung davon, was meine Offiziere und + Soldaten für Kerle sind -- ihr bloßer Anblick regt mir die Galle + auf!« + +Der kurze Feldzug endete damit, daß er die Leparden von drei +Wasserstationen abschnitt, so daß nur eine einzige, vierte Quelle +ihnen blieb. Den Feind in jenen Wüstenländern vom Wasser abschneiden, +heißt ihn besiegen. Die Brunnen liegen stundenweit auseinander. + + »Gern hätte ich's den Frauen und Kindern und dem armen Vieh erspart, + aber ich habe keine andere Wahl, wenn ich den Stamm bewältigen will.« + +In der glühenden Hitze kamen sie denn auch bald mit hängenden Zungen +und verdorrten Lippen und baten um Gnade. Gordon nahm ihnen die Speere +ab, ließ sie auf den Koran Treue schwören und schickte sie dann +allesamt an die nächste Quelle. + + »Sie waren einen Tag ohne Wasser, ich kann's nicht ändern. Der Krieg + ist ein grausames brutales Geschäft. Wie oft lesen wir in den Kriegen + Israels, dass das Volk ohne Wasser war. Es ging damals nicht anders + zu als jetzt.... Meine Berittenen fingen einen Scheik ein, er war + über die Maßen durstig; wie gern hab ich ihm Pardon gewährt und + ihn mit seinen Leuten ans Wasser geschickt ... er sagte, der Stamm + sei auseinandergesprengt. Auch des Häuptlings Sohn war dabei, ein + fünfzehnjähriger Junge, und wie sie gebunden in meinem Zelt hockten, + sah ich, wie der arme Bursche nach Wasser lechzte. Was für eine + Freude war's, ihn sich satt trinken zu lassen!« + +Aber auch Streitigkeiten mußte er beilegen. Der Zankapfel war oft nur +eine Handvoll Korn, oder ein irdener Topf. Ob solcher Beute gerieten +zwei hintereinander, die verschiedenen Stämmen angehörten, und der +eine erschoß den andern! + + »Ich ließ die Stammesangehörigen des Getöteten vortreten und auch den + Gefangenen; und dann fragte ich sie, ob ich ihn erschießen sollte, + oder ob sie ihn haben wollten, damit er für die Hinterbliebenen des + Ermordeten arbeite. Und ich war froh, zu finden, daß sie auf den + letztgenannten Vorschlag eingingen. Der Mann war vorher schon der + Sklave eines der Soldaten (das Wort ist mir entschlüpft, ich wollte + ihn nicht so nennen!) ich habe ihn daher nur einem andern Herrn + gegeben. Das Entsetzen der Leute war unbeschreiblich, als ich mich + mit meinem Gewehr vor den schwarzen Mörder stellte und den Hahn + spannte -- es war gar nicht geladen. Ich wußte auch, daß sie seinen + Tod nicht verlangen würden, denn selbst in diesen armen wilden + Menschenherzen wohnt Gutes. Sie glaubten aber fest, ich würde ihn + erschießen, wenn sie nicht um sein Leben einkämen, und so thaten + sie's einstimmig.« + +Die Leparden hielten nicht lange Frieden, kaum länger als bis ihr +Durst gestillt war, und dann entführten sie Gordons Verbündeten eine +Anzahl Sklaven, wofür er ihnen tausend Stück Vieh wegnahm und einen +weiteren Teil des Stammes entwaffnete. Er rückte durchs Lepardenland +nach Duggam vor, wo ein Gemisch von Stämmen hauste. Die Leparden +gingen nach Gebel Heres zurück; er zog ihnen nach und hörte, daß +Harun sie unterstützte, indem er ihnen vierzig Berittene nach Gebel +Heres zur Verstärkung geschickt habe, während er selbst das Land +weiter nördlich verwüstete. Seinem Truppenteil, den er in jener +Gegend vorfand, kann Gordon das gewohnte Lob gänzlicher Untüchtigkeit +ausstellen. Eine ganze Menge Fragen hinsichtlich eingebrachter Sklaven +harrten seiner Erledigung. + + »Ich wollte, die Gesellschaft zur Unterdrückung der Sklaverei wäre + hier,« ruft er nicht ohne Ironie, »und sagte mir, was ich thun soll!« + +Während er seine erbärmlichen Streitkräfte beklagt, gab's Meuterei; +sein Leben war nicht sicher in ihrer Mitte. Fascher war so nahe, +daß man seine Wachtfeuer von der Stadt aus sehen mußte; dort waren +achttausend Mann ihm dienstpflichtiger Truppen eingesperrt -- oder +sollten doch dort sein. Er machte sich auf den Weg, um ihnen das +Gewehr zu visitieren, und erreichte mit etlichen hundert Mann die +Stadt gegen Abend nach einem »schmählichen Ritt« durch Sumpfland. Man +hatte keine Ahnung von seinem Kommen und war »angenehm überrascht«. +In der Stadt selbst waren viermal so viel Truppen, als er bei sich +hatte, und zehnmal so viel kampierten unter Hassan Pascha Helmi +drei Tagmärsche entfernt; aber von diesem Militär war nicht der +geringste Versuch gemacht worden, sich nach Darra oder sonst wohin +durchzuschlagen, während der Feind noch vor kurzem bis in die Nähe von +Fascher Streifzüge unternommen hatte. Hassan Pascha, der die Besatzung +befehligte, hatte sich schon vor Wochen in aller Gemütsruhe mit dem +Hauptteil der Truppen davon gemacht. Gordon verschrieb sich den Mann. +Mittlerweile konnte er von einem anderen seiner Offiziere folgenden +Streich erzählen. + + »Ein Muezzin oder Gebetsrufer in der Stadt war gewohnt, die + Gebetsstunde nah bei der Stelle auszurufen, wo jetzt mein Zelt steht. + Mein Oberstlieutenant hieß ihn schweigen, weil es mich störte; zum + Glück erfuhr mein schwarzer Schreiber die Sache. Es lag nichts + anderes zu Grunde als der Wunsch, den Fanatismus der Leute gegen mich + aufzustacheln. Ich schenkte dem Ausrufer 40 Mark, meinen gefälligen + Freund, den Oberstlieutenant, aber schickte ich nach Kedaref in die + Verbannung, wo er Zeit finden wird, ähnliche Pläne auszuhecken. Ich + besinne mich nie einen Augenblick, solche Kerle zu züchtigen. Der + Gebetsrufer schreit jetzt noch einmal so laut, eben während ich dies + schreibe.... Ich gebe mir alle Mühe, jenen anderen Tapfern, der sich + bestechen ließ, um den Feind nicht anzugreifen, und mich neunzehn + Tage in Darra hinhielt, seiner Thaten zu überführen; aber die Zeugen + sind nicht besser als er selber, so wird mir nichts übrig bleiben, + als meine despotische Gewalt in Anwendung zu bringen. Er nahm + viertausend Mark in Geld, den Wert von tausend Mark in Straußenfedern + und zehn Kamelladungen Durra als Geschenk hin, um den Stamm nicht + anzugreifen.... Sebehrs Sohn ist jetzt bereit, sich mir anzuschließen + in der Hoffnung, das Land um so besser zu plündern; und Harun + plündert auf seine Rechnung im Norden. Ich sitze mitten zwischen + diesen beiden, und um mich her sind die Stämme, die jenem feindlich + sind und teilweise auch mir feindlich, während sie dem Harun günstig + sind und von mir erwarten, daß ich ihnen gegen Sebehrs Sohn beistehe + -- das nennt man einen dreiseitigen Zweikampf.« + +Es war in der That eine unerquickliche Lage, die täglich schwieriger +wurde. Von den drei Feinden, mit denen er im Zweikampf stand, wäre +der selbstgekrönte Sultan ohne Zweifel am leichtesten zu unterwerfen +gewesen, wenn er ihn nur im offenen Felde hätte stellen können; aber +abgesehen von seinem Mangel an tüchtiger Mannschaft, war er anderwärts +zu sehr in Anspruch genommen, und Hassan Pascha mit seinen fünftausend +Unthätigen hatte nicht den Mut, ohne die Gegenwart Gordons den Angriff +zu wagen. + +Es waren die eingebornen Stämme, die dem Feldherrn so hinderlich +waren. Manche in nächster Nähe verhielten sich noch feindlich, und +die entfernteren thaten ihr Bestes, die von ihm zur Ruhe gebrachten +wieder aufzustacheln. Außerdem wurde sein Schreiber krank und für +alle Einzelheiten der Verwaltung mußte er selbst einstehen. Wegen +jeder Kleinigkeit drängten sich die Leute unangemeldet in des +Generalgouverneurs Zelt und meinten, er könne sich ihrer nicht schnell +genug annehmen. Erteilte er aber einen Befehl, so erfüllte man +denselben im Leichenschritt. Seine Diener waren nicht besser als seine +Soldaten. »Ich erledige täglich einen Berg von Geschäften,« schreibt +er, trotz der furchtbaren Hitze, die so sengt und brennt, daß er »alle +vierzehn Tage eine neue Haut im Gesicht hat.« Und wenn er von einem +Ausritt müde heimkommt, so findet er Skorpione in seinem Zelt, oder +dasselbe von einem Sturmwind umgeblasen, während seine Diener dabei +sitzen, als ob es sich von selbst wieder aufrichten müsse. Dann ist er +wohl manchmal niedergeschlagen und meint, es helfe alles nichts, er +müsse dieses verzweifelte Land sich selbst überlassen, aber sein hoher +Mut gewinnt auch in solcher Lage die Oberhand und er sieht durch den +Wolkenhimmel doch wieder die Sonne scheinen. + +Er hatte sein Hauptaugenmerk zur Zeit auf Harun gerichtet, denn +der Verdacht war ihm gekommen, ob Hassan mit seinen fünftausend +nicht ähnlichen Verrat treibe, wie jener andere, der sich hatte +bestechen lassen. Und obschon es fast täglich Unternehmungen gegen +die feindlichen Stämme oder Streifzüge auf höchstnötigen Proviant zu +leiten gab, so traf er doch energische Vorbereitungen, einer etwaigen +Krisis zuvorzukommen. Da hieß es mit einemmal, der »Sultan« sei +verschwunden und niemand wisse wohin. Somit hatte er neben verlorener +Mühe vorläufig das Nachsehen. + +Während er so sein Bestes thut, der kleinen wie der großen +Mühseligkeiten Herr zu werden, kommt ihm die Nachricht, daß sein +schlimmster Feind ausgebrochen ist und sich anschickt, Darra zu +belagern. Gordon weiß, daß Soliman sechstausend bewaffnete Sklaven mit +sich führt, während er selbst zwar seine »unbeschreiblichen« Helden +hat, sich aber nicht im geringsten auf sie verlassen kann, -- eine +Wendung der Dinge, vor der alle bisherigen Schwierigkeiten erblaßten. +Gordons Genie aber erweist sich nie glänzender als in einer Lage, die +völlig hilflos erscheint. Da gürtet sich der Held zum Einzelkampf und +erringt einen Sieg, der durch Waffen allein nicht zu gewinnen wäre. +Schrieben wir einen Roman, es ließe sich nichts Romantischeres denken, +als solche Siege über große Bedrängnis; da es sich aber um Thatsachen +handelt, so ist es eben die großartige Kindeseinfalt des heroischen +Mannes, die stets mitten ins Feuer geht, den Umstand vergessend, daß +er einer ist gegen viele. Gordon verlor keinen Augenblick. Seine +Armee und alles zurücklassend, bestieg er sein Kamel und ritt allein +und unbewaffnet nach Darra. Von diesem gewaltigen Ritt, eine der +wunderbarsten Leistungen in seiner ganzen wunderbaren Laufbahn, lassen +wir ihn selbst an seine Schwester berichten. Es ist hierbei nur zu +bemerken, was übrigens von allen seinen Briefen gilt, daß er stets +frisch nach der That schrieb und nicht im entfernteren daran dachte, +daß je ein größerer Leserkreis an seinen Berichten sich erfreuen würde. + + »Etwa um vier Uhr nachmittags erreichte ich Darra, lang vor meinem + Gefolge, nachdem ich in anderthalb Tagen 140 Kilometer zurückgelegt + hatte. Etwa zwei Stunden vor Darra geriet ich in einen Schwarm von + Fliegen, die mich und mein Kamel so quälten, daß wir mit immer + größerer Eile vorwärts drängten. Ich denke mir, die Königin des + Geschmeißes muß darunter gewesen sein. Wenigstens dreihundert + umschwärmten den Kopf des Kamels und ich ritt einfach in einer + Wolke. So hatte ich doch wenigstens ein Gefolge von Fliegen, wenn + sonst keines. Die Leute in Darra waren sprachlos, ich überfiel + sie wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Als sie sich erholt hatten, + feuerten sie eine Salve ab. Mein armes Gefolge! wo das war, wußte + kein Mensch. Denke Dir Deinen Bruder, einen einzelnen, staubigen, + sonnverbrannten Menschen auf seinem Kamel und über und über mit + Fliegen bedeckt, wie er so ganz unerwartet im Divan erscheint. Die + Leute starrten mich an wie gelähmt. Zu essen gab's nicht viel nach + meinem langen Ritt, aber eine ruhige Nacht, in der ich alles Elend + vergessen konnte. Bei Tagesgrauen stand ich auf, zog die goldene + Uniform an, die der Khedive mir geschenkt hatte, und ging hinaus, um + meine Truppen zu besichtigen. Darnach bestieg ich mein Pferd, und + mit einem Geleit von ~meinen~ Räubern von Baschi-Bosuks ritt + ich hinaus in das Lager der anderen Räuber, das ich in einer halben + Stunde erreichte. Der Sohn Sebehrs kam mir entgegen -- ein ganz + hübscher Junge, etwa zwanzigjährig -- und ich ritt mit ihm durch das + Räuberlager. Ich schätzte, es waren ihrer dreitausend, Männer und + Burschen, die er bei sich hatte. Ich ritt mit ihm bis an sein Zelt; + dort waren die Häuptlinge versammelt und nicht wenig überrascht, + mich in ihrer Mitte zu sehen. Ich ließ mir ein Glas Wasser geben + und kehrte dann zurück, indem ich den Sohn Sebehrs einlud, mich mit + seinen Angehörigen in meinem Divan zu besuchen. Sie kamen denn auch + richtig und hockten im Halbkreis um mich her, während ich ihnen in + gewähltem Arabisch meine Meinung beibrachte: erstens, daß ich wohl + wüßte, daß sie neuen Aufruhr gegen die Regierung im Schild führten, + und zweitens, daß sie mir glauben dürften, daß ich lediglich dazu + gekommen sei, sie zu entwaffnen und zu vernichten. Diesen Bescheid + nahmen sie stillschweigend entgegen und entfernten sich dann, um + sich's zu überlegen. Es dauerte nicht lange, so erhielt ich ein + Schreiben mit der Zusicherung ihrer Unterwerfung und dankte Gott + dafür! Rings umher haben sie das Land verwüstet, und ich konnte es + nicht ändern. Mich dauern nur die armen Leute, die es traf, darunter + die mir Verbündeten, die mit mir nach Wadar (gegen die Leparden) + zogen und ihr Eigentum unbeschützt zurückließen. Was für Jammer + überall! Aber der Allerhöchste sieht es, und er kann helfen. Ich + kann's nicht. Die verblümten Gesichter der Schurken, als sie meine + Anklagen vernahmen, und die merkwürdige Gebärdensprache bei meinem + ungenügenden Arabisch hättest Du mit ansehen sollen! Es ist noch + keine drei Tage her, daß Sebehrs Sohn seine Pistole dreimal auf + meinen Kavaß (eine Art Polizeisoldat) abfeuerte, weil der Ärmste + krank war und ihm nicht entgegenkommen konnte ... Du hättest sein + Gesicht sehen sollen und seine Versicherungen der Treue mit anhören, + als ich ihm dies vorrückte. Schließlich habe ich ihm verziehen. + Maduppa Bey hat mir seither erzählt, daß der Sohn Sebehrs sich nach + der Unterredung mit mir hingelegt und kein Wort gesprochen hätte, + so daß die Araber meinten, ich hätte ihn mit Kaffee vergiftet! ... + Man sieht ihm an, daß er ein verwöhntes Kind ist, dem die Rute nicht + schaden würde. Ich habe mir Mühe gegeben, freundlich mit ihm zu + reden, aber er wirft mir nur wütende Blicke zu. Armer Junge! er wird + noch manch bittere Erfahrung machen müssen, ehe er die Nichtigkeit + des Irdischen erkennt; bisher war er Herr inmitten einer kriechenden + Schar von Sklaven, konnte thun was er wollte, Leute umbringen, wann + es ihm einfiel, und soll nun auf einmal ~nichts~ sein! Indessen + -- ›fahret mir säuberlich mit dem Knaben Absalom‹ -- ich will suchen, + nach diesem Wort zu handeln. Es ist ein zierlicher Bursche in einer + Jockei-Jacke von blauem Sammet. Die ganze Sippschaft kam bis an die + Zähne bewaffnet, als sie sich in meinem Divan einstellten.« + +Nachdem Gordon Soliman und seiner Horde den Standpunkt klargemacht, +beschloß er, die »Höhle Adullam« auszufegen, und sandte eine Abteilung +seiner Truppen ab, um Schekka zu besetzen. Im feindlichen Lager +war man übrigens keineswegs ~einer~ Meinung: ein Teil der +Sklavenjäger war für Unterwerfung, der andere für Krieg. Soliman +selber war in einem Zustand unbändigster Wut, und wenn er nur die +Scheiks zu gemeinsamem Handeln hätte bringen können, so wäre ein neuer +Aufstand erfolgt. Die Leute waren aber moralisch überwältigt: einer +nach dem andern erklärte dem Generalgouverneur seine Unterwerfung, und +dem Sohne Sebehrs blieb zuletzt nichts übrig, als sich Gordons Befehl +zu fügen, der ihn nach Schekka zurückkehren hieß. Er wolle das thun, +sagte der Bursche, wenn Gordon ihm zuerst Feierkleider schenke nach +dem herkömmlichen Brauch und als Beweis, daß er mit ihm zufrieden sei. +»Ich habe keine Feierkleider,« erwiderte jener und fügte hinzu, daß +sein Betragen ein viel zu anmaßendes sei; er wisse ja nicht einmal, +was sich des Khedive Statthalter gegenüber schicke, der ihn -- einen +eingebildeten Jungen -- mit ganz unverdienter Milde behandle. Das war +dem Sohne Sebehrs eine bittere Pille, aber er mußte sie schlucken. +Von Schekka aus sandte er dann einen Brief, in dem er sich Gordons +getreuen Sohn nannte und eine Statthalterschaft begehrte. Darauf wurde +ihm die Antwort, daß ehe er in Kairo gewesen sei, um sich dem Khedive +persönlich zu unterwerfen oder sonst eine nicht mißzuverstehende Probe +der Treue abgelegt habe, der General-Gouverneur ihm keinen Posten +anvertrauen werde, und wenn es ihn sein Leben koste. Diesen Bescheid +schickte ihm Gordon durch die Scheiks. Ehe diese sich verabschiedeten, +fragte Gordon einen derselben, ob er Kinder habe; der Mann bejahte +es. »Nun,« rief Gordon, »sagen Sie selber, ob eine Tracht Schläge dem +Burschen nicht heilsam wäre!« Und der Scheik gab es zu. + +Während er so mit den Sklavenhändlern fertig wurde, hörte er, daß +sein schwarzer Schreiber, dem er bis dahin vollkommen getraut hatte, +ebensowenig »bakschischfest« war, als die meisten seiner Untergebenen: +er hatte sechstausend Mark Bestechungsgelder angenommen. Dergleichen +Erfahrungen waren Gordon ein wahrer Schmerz. Dann kam ein Eilbote +von Fascher, wo er doch über fünftausend Mann Militär wußte, mit der +Nachricht, daß ein panischer Schrecken die Stadt befallen habe; Harun +hatte nämlich von weither von sich hören lassen. Da verlor Gordon ob +solcher bodenloser Feigheit die Geduld. Er ließ ihnen zurücksagen, +sie sollten nicht sterben vor Angst, die Sklavenhändler würden ihnen +demnächst zu Hilfe kommen. + +In der zweiten Septemberwoche machte er sich selber nach Schekka auf +den Weg. Als Soliman von seinem Kommen hörte, lud er ihn ein, in +seinem Hause abzusteigen, was Gordon auch ohne weiteres annahm. Er und +die anderen Raubgesellen empfingen ihn mit aller Unterwürfigkeit, ja +sie kamen ihm wie ihrem König entgegen. Sebehrs Sohn war sogar ganz +bescheiden und trug diesmal keine Sammetjacke; seinen Wunsch nach +einer Statthalterschaft konnte er jedoch nicht unterdrücken. Gordon +ließ sich aber nicht durch Unterthänigkeit bestechen, sondern erklärte +dem Bittsteller, er müsse vor allen Dingen Vertrauen zu verdienen +suchen. Doch war er persönlich freundlich gegen diesen »Absalom«, wie +er ihn nannte, und schenkte ihm sogar sein eigenes Gewehr. + +Übrigens blieb er nur zwei Tage in dem Räubernest, und das war gut, +denn er hatte keine Schutzwache bei sich, und, wie sich später +herausstellte, wurde während seiner Anwesenheit Kriegsrat gehalten, ob +es thunlich und ratsam sei, sich an ihm zu vergreifen! Daß es nicht +geschah, ist ein Wunder, das sich nur damit erklären läßt, daß seine +vollständige Gleichgültigkeit gegen persönliche Gefahr wie lähmend auf +seine Feinde wirkte; es war die Großartigkeit seines Wesens, die sie +entwaffnete. Und wie Daniel aus der Löwengrube, so ging er aus dem +Nest der Sklavenräuber hervor. + +Es war auf dem Weg nach Schekka, daß er folgenden Brief schrieb: + + »Weiterhin im Land hausen noch an sechstausend Sklavenhändler, + die sich wohl ergeben werden, nun ich den Sohn Sebehrs und seine + Häuptlinge überwältigt habe. Es ist nicht zu sagen, wie groß die + Schwierigkeit ist, mit all diesen bewaffneten Horden das Rechte zu + treffen. Ich trenne sie in einzelne Haufen und hoffe sie so mit der + Zeit zu bewältigen. Man kann sie doch nicht alle totschießen! Haben + sie nicht auch ihre Rechte, die man berücksichtigen muß? Hatten die + Pflanzer (in Amerika) keine Rechte? Hat nicht selbst unsere Regierung + einst Sklavenhandel gestattet? Ich hätte viel darum gegeben, Sie und + die Herren von der Gesellschaft zur Unterdrückung des Sklavenhandels + in jenen drei Tagen in Darra zu haben, als man nicht wußte, ob + die Sklavenhändler sich zur Wehre setzen würden oder nicht. Eine + schlechtbefestigte Stadt, eine feige Besatzung, unter der nicht einer + war, der nicht vor Angst zitterte; und auf der andern Seite eine + handfeste entschlossene Bande, die sich aufs Kriegshandwerk versteht, + gut schießen kann und zwei Feldstücke bei sich hat. Ich hätte gern + gehört, was Sie und die anderen dazu gesagt hätten! Ich sage dies + nicht, um mich zu rühmen, denn Gott weiß, wie groß meine Sorge war + -- nicht um ~mein~ Leben, denn ich bin längst dem abgestorben, + was einem das Leben lieb macht, den Annehmlichkeiten und der Ehre + und Pracht dieser Welt -- sondern meiner armen Schafe wegen hier + in Darfur und anderwärts. Ihr sagt dies und das und handelt nicht + darnach; ihr gebt Beiträge und meint, ihr habt eure Pflicht gethan; + ihr lobt einander u. s. w. Es ist auch natürlich. Gott hat euch Dinge + gegeben, die euch an diese Welt binden, ihr habt Frauen und Kinder. + Ich habe keine und bin frei -- gottlob. Verstehen Sie mich recht: + wo es mir nötig erscheint, da kaufe ich Sklaven und ich hindere es + nicht, wenn gefangene Sklaven nach Ägypten verbracht werden; und + im Punkte der dienstpflichtigen Sklaven will ich Freiheit haben, + das zu thun, was mir recht scheint und was Gott selbst in seiner + Barmherzigkeit mir nahe legt; aber den Sklavenjägern will ich das + Genick brechen, und wenn es mich mein Leben kostet. Ich kaufe Sklaven + für meine Armee und mache sie zu Soldaten gegen ihren Willen, damit + sie mir helfen die Sklavenjagd unterdrücken. Ich thue dies am hellen + Tag aller Welt gegenüber, und trotz all euren Beschlüssen. Meint ihr, + es würde mir das Herz brechen, meiner Würden entsetzt zu werden? ich + würde mich zurücksehnen nach der entsetzlichen Ermüdung des ewigen + Kamelreitens, nach all dem Elend, das ich mit ansehen muß, nach der + Hitze, und nach der Plackerei meines persönlichen Lebens? Stellt + euch einmal meine Reisen vor in diesen sieben Monaten! Tausende von + Kilometer zu Kamel, und es wird so fortgehen, wenigstens noch ein + Jahr lang. Sie finden es nur hie und da nötig, sich auf Gott zu + verlassen -- ich fortwährend, Tag und Nacht. Ich will damit sagen, + daß Sie nur hie und da eine schwere Prüfung haben -- etwa wenn Ihnen + ein Kind krank ist -- die Sie erkennen läßt, wie völlig schwach und + hilflos Sie sind. Ich bin fortwährend in solcher Lage. Der Körper + lehnt sich dagegen auf -- es ist oft mehr als man tragen kann. + + Zeigen Sie mir den Mann -- und ich will mir von ihm helfen lassen + -- der Geld, Ruhm, Ehre verachtet, dem es einerlei ist, ob er je + seine Heimat wieder sieht, der sich allein auf Gott verläßt als die + Quelle alles Guten und den Machthaber über alles Böse, einen, der bei + gesundem Körper und mit thatkräftigem Geist dem Tod entgegensieht, + der ihn einst von allem erlösen wird. -- Sie sagen, Sie wissen + keinen? nun dann lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe wahrlich genug an + meinem Leben zu tragen und brauche keine weitere Last. + + »Auf einen Unterschied zwischen hier und Amerika muß ich Sie + aufmerksam machen: man hört hier nie davon, daß Eigentümer ihre + Sklaven zu harter Feldarbeit benutzen. Sie sind entweder Dienstboten + oder im Truppendienst der Händler; es sind meist muntere flinke + Kerle, gewandt wie Antilopen, auch wieder wild und schonungslos, + ein Schrecken dieser Länder, und mit einem Prestige weit über das + Militär der Regierung hinaus. Sie sind die Stärke der Sklavenhändler. + -- In Kedaref sollen sich ein paar Griechen niedergelassen haben, + die eine Menge Sklaven auf Plantagen beschäftigen. Ich habe vor, sie + aufzugreifen. Kurz, der Zustand der Neger hier ist weit besser, als + er je in Westindien war, und ich behaupte, daß die Leute hier nicht + so herzlos sind, als einst die Pflanzer mit all ihrer Bildung und + ihrem Christentum. + + »Ihre Ansicht über den Mohammedanismus teile ich nicht. Nach meiner + Ansicht giebt es Muselmänner, die christlicher sind als manche + Christen. Wir alle sind mehr oder weniger Heiden. Haben Sie je das + Buch gelesen »Das moderne Christentum ein zivilisiertes Heidentum«? + Ich war dieser Ansicht lange, ehe ich es las. Ich mag einen rechten + Muselmann wohl leiden; er schämt sich seines Gottes nicht und sein + Privatleben ist ein ziemlich reines; allerdings erlaubt er sich + viele Weiber, auf der anderen Seite aber begnügt er sich mit seinen + eigenen. Kann man das immer von den Christen sagen? + + »Was geht mich das Ministerium des Äußeren an, oder ich das + Ministerium? Ich brauche seine Hilfe nicht; es wäre unrecht gegen + den Khedive, wollte ich sie annehmen. Außerdem »derer ist mehr, die + bei mir sind, denn derer, die bei ihnen sind.« Ich brauche keine + Helfer außer dem Allmächtigen ... Nein, mein Lieber -- richten Sie + Ihr Leben in Wahrheit nach dem Christentum ein, dann erst wird es + Sie befriedigen. Das Christentum der meisten Leute ist ein schales, + kraftloses Ding und führt zu gar nichts. Ein gutes Mittagessen ist + ihnen wichtiger; es giebt nur einige wenige, die Gott dazu antreibt, + sich wirklich um ihre schwarzen Brüder zu kümmern. ›Ach die armen + Sklaven!‹ und ›darf ich Ihnen noch ein Stückchen Salm anbieten?‹ + heißt es da in einem Atem.« + +Mitte September zog er nach Obeid, weil sein Diener das feuchte Klima +bei Schekka nicht ertragen konnte. Da kam es ihm vor, als erhielte +seine Karawane einen ungewöhnlichen Zuwachs und es dauerte nicht +lange, so entdeckte er den Sachverhalt -- etwa achtzig Männer und +Weiber und Kinder in Ketten. Natürlich packte er den Sklavenhändler; +es war einer jener Geier. Und da hieß es denn, es sei dessen eigene +Familie! Hätte Gordon sie befreit, so wären sie liegen geblieben und +Hungers gestorben. So blieb nichts übrig, als einem Sklaventransport +den oberstatthalterlichen Schutz zu gewähren! nur daß den armen +Geschöpfen die Ketten abgenommen wurden. + +Diese Reise scheint besonders ermüdend gewesen zu sein. + + »Keine Sonntage für mich,« schreibt er, »es ist Last und Hitze jeden + Tag, ob ich auf meinem Kamel bin oder im Zelt.« + +Und überall Sklaven; manche kauft er, andere, die in der Glut fast +verdursten, schickt er ans Wasser. Ihr Elend bekümmert ihn, und er +hätte sein Leben gelassen, nicht ~einmal~, sondern wieder und +wieder, um den Handel mit Menschenware von der Erde zu vertilgen. Und +doch weiß es niemand besser als er, daß er nichts thun kann, als neue +Einfuhr möglichst verhindern. Daß er mit dem Räubernest in Schekka +fertig geworden war, leuchtete wie ein Stern am Horizont seines Lebens +und gab ihm die Hoffnung, daß bessere Tage kommen würden. + +Ende September gelangte er nach Obeid und war vierzehn Tage später in +Khartum. Der Ruhm seines Siegeszugs war vor ihm hergegangen. Die Leute +konnten sich nicht genug über seine Kühnheit wundern; solcher Mut, +solche Willenskraft, solche unwiderstehliche Energie war den schlaffen +Menschen in diesem schlaffen Land unfaßlich. Und die Geschwindigkeit, +mit der er seine riesengroße Provinz bereiste, wäre jedem andern als +eine Unmöglichkeit erschienen. Seine Beamten fühlten sich ordentlich +ihrer Trägheit nicht mehr sicher. »Der Pascha kommt!« war ihnen ein +Schreckschuß, der besser wirkte, als Aussicht auf die Peitsche. So +beherrschte der freundliche, wohlwollende Mann mit seinem felsenfesten +Willen das Land. + + + 3. Weitere Kämpfe und der Aufstand in der Bahr el Ghasal. + +Am 14. Oktober 1877 war Gordon nach Khartum zurückgekehrt und schon +am 23. begab er sich auf eine neue Reise. Die Arbeitslast, die er +vorfand, hatte er in einer Woche bewältigt. Er sei nur noch ein +Schatten seiner selbst, schreibt er; und jene Woche nennt sogar er +eine harte Zeit. Auf Schritt und Tritt belagerten ihn die Leute mit +Bittschriften, ihn mit Geschrei verfolgend. Sich ihrer mit Gewalt +entledigen, das brachte er nicht über sich. + + »Ich lasse sie eben schreien, denn wie kann ich jedem seinen + Willen thun oder jeden Gefangenen frei geben? Hätte ich nicht + meinen Gott zum Trost,« fährt er fort, »und das Bewußtsein, daß Er + Generalgouverneur ist, wie sollte ich's weiter führen?« + +Nachdem er seine Regierungsgeschäfte in Khartum erledigt und einen +Mörder hatte hinrichten lassen, machte er sich über Berber nach Hellal +auf den Weg, um daselbst mit Walad el Michael zu verhandeln. Die Reise +den Nil hinunter war die erste wirkliche Ruhezeit, die ihm seit dem +Vorfrühling 1874 im Sudan zu teil wurde. Und während er so mit stillem +Gemüt den Nil hinabsegelt, spricht er sich brieflich über seinen +Beruf aus. Sein englischer Biograph bemerkt hierzu, man höre da zum +erstenmal ein Wort von ihm, das für Selbstüberhebung gelten könnte. + + »Wie köstlich war die Ruhe heute auf dem Nilboot. Voriges Jahr um + diese Zeit war ich auf meiner Heimreise vom Äquator her. Wieviel + ist seither geschehen, bei Dir, bei mir, und in Europa! Mir ist so + wohl zu Mut. Wenn ein Stern seine Höhe erreicht, so sagt man: er + kulminiert; nun, mir ist auch, als ob ich kulminiert hätte -- ich + möchte weiter und höher hinauf. Doch weiß ich, daß ich hier bin, so + lange es Gottes Wille ist; mit diesem Bewußtsein fuße ich wie auf + einem Felsen und bin zufrieden. Mancher andere möchte wohl auch hoch + steigen, aber ohne die damit verbundene Last; mir macht umgekehrt die + Last die Ehre lieb und ich danke Gott dafür. Er hat mir's gelingen + lassen, und wenn's auch kein sehr glänzender Erfolg ist, so ist's ein + handgreiflicher, der bleibenden Wert hat. ~Jene Stelle im Propheten + Jesaia habe ich mir zugeeignet, und soweit es in meiner Macht steht, + suche ich sie zu bewahrheiten.~« + +Er meinte die Stelle Jesaia 19, 20: + + »Welcher wird ein Zeichen und Zeugnis sein dem Herrn Zebaoth in + Ägyptenland. Denn sie werden zum Herrn schreien vor den Beleidigern; + so wird er ihnen senden einen Heiland und Meister, der sie errette.« + +Warum aber soll das Selbstüberhebung sein? Ist es nicht vielmehr +die Rede eines Menschen, der mit Paulus sagen kann: »Ich habe mehr +gearbeitet denn sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die +mit mir ist?« + +In Berber wurde zu seiner Ankunft die Stadt festlich erleuchtet, +und der Generalgouverneur, »der Beklagenswerte, mußte zwei Stunden +umherlaufen und den Leuten zulieb ihre trüb brennenden Ampeln +bewundern -- ein wahres Opfer!« Darein fügte er sich, die acht oder +zehn Hofschranzen aber, mit denen man ihn umgab, hieß er ihrer Wege +gehen. Sich bewachen lassen, war nicht seine Art. Auch in Berber +war an Arbeit kein Mangel -- Bittschriften, Briefe, Telegramme zu +Dutzenden. Im ganzen Land meinten die Leute, er sei nur dazu da, +ihre Privatangelegenheiten zu erledigen. Von fünfzig Stunden her +telegraphiert einer, es sei ihm ein Sklave entlaufen; ein anderer, er +habe Händel mit seiner Frau und ein Nachbar hätte sich drein gelegt +-- als ob es nirgends Bezirksgouverneure gäbe. Jenem flüchtigen +Sklaven wird der Generalgouverneur nicht nachgegangen sein, auch jene +Ehehändel nicht geschlichtet haben; Spital und Gefängnis aber ließ er +nicht unbesucht. + +Auf der Weiterreise nach Dongola mußte er sich über schlechte +Kamele beklagen, die Ruhe und Stille der Wüste mit ihren klaren +taulosen Nächten war ihm indessen eine wahre Erquickung nach der +langen Kampfzeit und nach der feuchten Hitze in Darfur. In Meraui, +dem angeblich südlichsten Grenzpunkt altägyptischer Zivilisation, +erreichte er den Fluß wieder. Hier hatten die Leute seit Jahren keinen +Statthalter zu Gesicht bekommen und verfolgten ihn mit Klaggeschrei. +In Dongola hörte er, daß Walad el Michael Senheit bedrohe, und Gordon +hatte keine Truppen. Auch ein Telegramm vom Khedive fand er vor, in +welchem seine Anwesenheit in Kairo begehrt wurde. Er machte sich daher +nach Ägypten auf den Weg, aber schon nach einer Tagreise bestürmten +ihn Telegramme vom Sudan mit der Nachricht eines abessinischen +Einfalls. Ras Arya, ein Heerführer des Johannes, bedrohte Sennaar +und Fazolie, südlich von Khartum. Es schien ihm unglaublich; aber +in Khartum war auch nicht ein Mensch, auf den er sich nötigenfalls +hätte verlassen können; so eilte er denn nach Dongola zurück und von +dort durch die Bajuda-Wüste in fünftägigem Ritt nach Khartum. Es war +blinder Lärm gewesen; man hatte ein paar abessinische Grenzmänner +gesehen und sie auch zurückgeworfen. + +Drei Tage hielt er sich in Khartum auf, dann bestieg er abermals +sein Kamel, um über Abu Haras, Kedaref und Kassala nun doch erst den +Walad el Michael aufzusuchen, ehe er nach Kairo ging. Gordon hätte +gewünscht, den König Johannes zu einem Einverständnis mit Walad zu +bringen, wonach der König dem unruhigen Häuptling Hamasen überließe, +das überdies sein angestammtes Erbe war, allein Johannes war ein +Starrkopf. Walad war für die Ägypter ein böser Grenznachbar; man war +seiner nie sicher. Das einfachste wäre gewesen, ihn dem abessinischen +König in die Hände zu liefern, aber selbst ägyptische Politik hätte +nach dem Vorausgegangenen dies für schmählich gehalten. Man hoffte, +Gordon würde es zu stande bringen, die ägyptische Ehre mit möglichstem +Gewinn zu retten. Somit war er denn auf dem Wege nach Senheit, wo +Walad lag. + +Unterwegs fand er wie gewöhnlich Ursache, sich über sein Gefolge zu +beschweren; er hatte es zu eilig für seine gemächlichen Araber, und wo +sie konnten, erwiesen sie sich hinderlich. + +In Kassala sah er den Heiligen, Scherief Seid Hakim, einen Abkömmling +Mohammeds, mit dem er schon einmal zusammengetroffen war, und der +sich damals in seiner Würde verletzt fand, weil sein unwissender +europäischer Gast sich neben ihn auf den Ehrendivan setzte. Diesmal +war der Heilige etwas herablassender und ließ sich sogar eine +Zwanzigpfundnote (400 Mark) schenken. Als Gegengeschenk that er Gordon +die Ehre an, ihn zu bitten, sich zum Turban zu bekehren und ein +Muselmann zu werden. Er war nicht der erste, der dem Generalgouverneur +diese Bitte vortrug! + +Als er Senheit erreichte, fand er, daß Walad sich in seinem Lager zu +Hellal befand, und mußte zwei hohe Berge übersteigen, um dasselbe zu +erreichen. Es war ein ähnliches Unternehmen wie sein Besuch in der +Räuberhöhle zu Schekka. + + »Die Leute in Senheit waren so furchtsam, daß ich beschloß, mich + in Gottes Hand zu stellen und hierher zu reiten. Der Weg über zwei + Berge war über alle Beschreibung; den zweiten zu übersteigen war eine + entsetzliche Arbeit. Walad el Michael und seine Banditen lagen auf + einem hohen Berg. Er hat volle siebentausend Mann bei sich, die alle + bewehrt sind. Sie standen in Reih und Glied, um mich zu empfangen, + und sein Sohn kam mir entgegen. Michael, hieß es, sei krank, oder gab + vor es zu sein. Darnach begrüßte mich ein Trupp Priester mit heiligen + Bildern. Michael empfing mich liegend -- er habe ein böses Knie; + aber die Leute zu Senheit sagen, es wäre nicht wahr. Dann führte man + mich in mein Zelt, und ich muß sagen, ich gedachte der Löwengrube. + Wir waren miteinander in einer zehn Fuß hohen Umzäunung eingesperrt. + Ich wurde zornig, denn ich sah wohl, was meine Leute (zehn Soldaten) + davon hielten. Ich wandte mich an den Dolmetscher und sagte ihm, daß + wenn Michael vorhabe, mich als Gefangenen zu betrachten, es ihm frei + stünde, daß er es aber würde büßen müssen. Das war Kleinglaube von + mir, dies zu sagen! Der Dolmetscher und Michaels Sohn waren indessen + so überaus höflich und voller Entschuldigungen, daß ich vorläufig + wohl noch kein Gefangener bin. Ich erläuterte meine Bemerkung dahin, + daß wenn es in Senheit bekannt würde, wie man mich hier logiere, + man dort allerdings für meine Sicherheit fürchten müßte, und der + Telegraph würde solches nach Kairo melden.« + +Die Nacht verlief ungestört, abgesehen von quälenden Flöhen, welches +Ungeziefer in jenen Himmelsstrichen nur in hoher Bergluft gedeiht. In +der Morgenfrühe sammelten sich die Priester um des Gastes Gefängnis +her und sangen ihre Hymnen -- »wahrscheinlich um den bösen Geist zu +bannen,« meinte Gordon. In einem späteren Brief heißt es übrigens: + + »Die Priester (in Abessinien) versammeln sich morgens um drei Uhr und + singen eine Stunde lang in eigentümlich melodischer Weise davidische + Psalmen. Es hat für den aus dem Schlaf erwachenden Hörer etwas tief + Ergreifendes.« + +Am folgenden Tag hatte er eine Unterredung mit Walad und machte ihm +den Vorschlag, beim König von Abessinien um Pardon einzukommen. Der +»Patient« wies dies energisch von sich und meinte im Gegenteil, +die ägyptische Regierung thäte wohl daran, ihm weitere Distrikte +(zum Plündern) zu überlassen; auch erklärte er sich bereit, die +abessinische Stadt Adowa zu überfallen. Zwar wußte Gordon, daß er den +listigen Verbündeten auf diese Weise leicht dem Johannes in die Hände +spielen könnte, aber Verrat war nicht seine Sache, und er brachte +Walad durch eine beträchtliche Geldsumme fürs nächste zur Ruhe. + + »Wie verhaßt mir diese Abessinier sind,« schreibt er, »den Walad + mitgerechnet; sie haben auch gar nichts Anziehendes. Ihr Christentum + ist ein totes; und was ihre Zivilisation betrifft, so sind sie nicht + viel besser als die Stämme am Äquator. Wäre es nicht der europäischen + Regierungen wegen, ich kümmerte mich nicht um diesen Johannes. + Meine Beduinen von Darfur und hier herum sind andere Leute. Manche + der jüngeren Leute haben eine Haltung, die man ordentlich beneiden + möchte. Ich könnte nie durch mein Äußeres imponieren, aber diese + jungen Ismaels sind lauter Prinzen.« + +Den König Johannes nennt er anderswo »einen richtigen Pharisäer«, +und sagt von ihm, er führe eine Sprache wie das alte Testament, +abends betrinke er sich und am frühen Morgen singe er Psalmen; wenn +er in England wäre, ginge er zu den Methodisten und hätte eine +Bibel so groß wie ein Handkoffer. Gordon war offenbar froh, den +Abessiniern den Rücken kehren zu können und begab sich nach Massaua +am Roten Meer, um dort eine Antwort von Ras Barin, dem abessinischen +Grenzgeneral, abzuwarten. Er hatte nämlich dem Könige den Vorschlag +gemacht, wenigstens Walad el Michaels Truppen Pardon zu gewähren, +damit sie sich nach Abessinien flüchten könnten, wenn er sich etwa +zu einem Angriff genötigt sehen sollte. Die Antwort aber blieb aus. +Johannes lag zu Feld gegen Menelek, den König von Schoa, und so wenig +umfangreich das Land ist, wußte niemand genau zu sagen, wo das wäre. +Gordon wartete eine Zeit lang und trat dann über Suakim und Berber +den Rückweg nach Khartum an. Unterwegs erhielt er einen zweiten +Befehl vom Khedive, sich in Kairo einzufinden, um an Finanzberatungen +teilzunehmen. Der bloße Gedanke daran war ihm verhaßt; überdies meinte +er, nach seinem Nomadenleben im Sudan sei er weniger als je dazu +geeignet, an höfischem Leben Gefallen zu finden. Es war Ende Dezember; +über sechstausend Kilometer Wüstenritt lagen hinter ihm in diesem +Jahr, und leider hatte er unterlassen, die Binde um Brust und Hüfte +zu tragen, die beim Kamelreiten der fortwährenden Erschütterung wegen +nötig ist. Die schlimmen Folgen zeigten sich nun. + + »Ich habe mir das Herz oder die Lungen verrüttelt und habe ein + Gefühl in der Brust als ob alles verrenkt wäre ... Wahrlich, obwohl + ich lieber hier bin, als sonstwo auf der Welt, es wäre besser tot + sein, als dies Leben führen. Ich habe meinem Schreiber mit der Bitte + Entsetzen verursacht, mich zu begraben wo ich sterbe und jeden Araber + einen Stein auf mein Grab werfen zu lassen, damit ich doch auch + ein Denkmal hätte. Es ist sonderbar, so gute Fatalisten die Leute + hier sind, eine solche Anspielung ist ihnen doch ein Greuel; sie + meinen, es hieße den Tod mit Namen rufen, obschon sie zugeben, daß es + vorherbestimmt ist, wann einer sterben soll.« + +Gordon begab sich nach Kairo. Mit Dampf und Segel ging's nilabwärts +und die Residenz wurde anfangs März erreicht. Der Khedive hatte seinem +Oberstatthalter eine Aufforderung zur Hoftafel entgegentelegraphiert, +aber der Zug hatte Verspätung, und als Gordon den vizeköniglichen +Palast erreichte, fand sich's, daß die Hoheit anderthalb Stunden auf +ihren Gast gewartet hatte. Staubig wie er war, mußte Gordon sich +zu Tisch setzen, und alle Auszeichnung wurde ihm zu teil. Er wurde +aufgefordert, als Präsident der Finanzkommission zu figurieren. Sein +Platz bei der Tafel war zur Rechten des Khedive, und sein Quartier +war ein Palast, in dem sonst nur fürstliche Gäste untergebracht +werden. Aber die Pracht seiner Umgebung und die glänzende Bedienung +waren für Gordon verlorene Liebesmüh. + + »Meine Leute wissen sich nicht zu helfen vor Verwunderung, und ich + auch nicht. Ich wollte, ich wäre wieder glücklich auf meinem Kamel.« + +Einem Engländer, der ihn besuchte, erklärte er, er komme sich vor +wie eine Fliege in diesem großen Haus. Und seiner Schwester schrieb +er, es sei die helle Quälerei; er lege sich um acht Uhr schlafen, +das sei noch das beste, denn er gehe abends nicht in Gesellschaft. +Ismail hoffte, Gordon werde ihm aus seiner bedrängten Lage helfen. +»Ich kenne keinen, zu dem ich größeres Vertrauen hätte,« schrieb +der Khedive, allein die Geldangelegenheiten Ägyptens sind in den +Händen europäischer Kapitalisten; englische und französische +Koupon-Abschneider hatten mitzureden; wie hätte der ehrliche Gordon +da mit seinem Rat durchdringen können, der kurz und gut der war, die +Zinsen der europäischen Anleihen von 7 auf 4 Prozent herabzusetzen!? +Kein Wunder, daß er die ganze Bande von Diplomaten und Juden +gegen sich hatte, die in Kairo mitregieren. Nein, Gordon war kein +Finanzrat[10] und war froh, wieder seine Wege zu gehen. + + »Ich verließ Kairo wie ein gewöhnlicher Sterblicher, ohne Extrazug, + und bezahlte mein Billet. Die Sonne, die so glanzvoll aufging, hatte + einen ganz bescheidenen Untergang ... Die Last ist groß -- ich + wünsche, die Zeit der Ruhe wäre da; aber die kommt nicht, bis ich + ~sein~ Werk vollbracht habe. Hier bin ich -- sende mich!« + +Die Reise ging über Suez, Aden, Zeila nach Harrar; er wollte den Raouf +Pascha, der als grausamer Tyrann dort schaltete, abermals seines Amtes +entsetzen; es war derselbe, dem er vier Jahre vorher eine Züchtigung +hatte zu teil werden lassen. In Harrar blieb er nur so lang als nötig +war, um Ordnung zu schaffen; dann kehrte er nach Zeila zurück, wo er +nach »achttägigem fürchterlichem Marsch« am 9. Mai 1878 anlangte. +Müde wie er war, ging's alsbald weiter nach Massaua und Berber. Ihn +verlangte nach Khartum zurück, wo ein Berg von Arbeit seiner harrte. +Das Volk freute sich seiner Rückkehr und treulose Beamte zitterten; +nicht weniger als acht seiner hochgestellten Untergebenen entsetzte +er ihren Würden. Aber nur zu gut wußte er, daß er mit eingefleischter +Veruntreuung im ungleichen Kampf stand, weil Ägypten wie die Türkei +im Regierungswesen von oben bis unten durch und durch faul ist; und +Menschenkraft, selbst die eines Gordon, reicht da nicht aus, auf die +Dauer zu bessern. + +Die erste Nachricht von außen, die ihn in Khartum erreichte, war die, +daß Walad el Michael in Abessinien eingefallen sei und sich des Ras +Bariu bemächtigt habe. Somit waren Gordons Briefe an Johannes jetzt in +Walads Hand, was dem Schreiber übrigens kein großer Kummer war. Walad +wußte nun, wessen er sich zu versehen hatte, und daß Gordon, obschon +er sich von ihm lossagte, bei Johannes um sein Leben eingekommen war. + +Die zweite ungleich bedenklichere Nachricht war ein erneuter und +verstärkter Aufstand der Sklavenjäger. Soliman hatte sich in die Bahr +el Ghasal zurückgezogen, wo die ganze Bande der aus ihren Nestern +verjagten Sklavenhändler sich zur letzten verzweifelten Gegenwehr um +ihn scharte. Während Gordon den Menschenhandel im Norden im Schach +hielt und die Verbindungen der Räuber mit ihren Märkten abschnitt, +erhob sich Soliman im Süden, und seine Horden überfluteten die Bahr el +Ghasal. + + »Ich habe den ganzen Besitz der Sebehrfamilie konfisziert,« schrieb + Gordon, als er dies vernommen, »und sende eine Truppenabteilung gegen + den Sohn.« + +Diese Unterwerfung persönlich zu leiten war ihm schon deshalb nicht +möglich, weil durch Anhäufung des Ssett in den Flüssen und Seen die +Verbindung der Bahr el Ghasal mit Khartum oft monatelang abgeschnitten +ist. Der Generalgouverneur durfte seine Provinz auf eine solche +Möglichkeit hin nicht verlassen. Aber außerdem war eine Zeit der +Schwierigkeiten angebrochen, der selbst seine Energie oft manchmal +erliegen wollte. Die Paschas in Ägypten arbeiteten ihm geradezu +entgegen. + + »Ich stehe so ziemlich mit ganz Kairo auf dem Kriegsfuß, und Dornen + sind mein Teil. Aber diese Arbeit ist mir nun einmal übertragen, ich + will sie durchführen, und Gott wird mich von allem Übel erlösen. Wenn + man sich von den irdischen Dingen nur immer innerlich frei halten und + sie dem göttlichen Walten überlassen könnte, wie viel leichter wäre + dann alles! Ich verzweifle nicht, aber wenn ich sehe, daß trotz aller + Anstrengung kein wirklicher Fortschritt erreicht wird, dann überfällt + mich ein Überdruß und ich wollte ich wäre daheim ... Seit die + einsamen Kamelritte hinter mir liegen, habe ich keine erquicklichen + Gedanken mehr ... Die fortwährenden Händel sind sehr niederdrückend + und täglich möchte ich rufen: Wie lang, Herr, wie lang! Ich habe nie + einen ruhigen Tag ... Aber so schwer es auf mir liegt, so ist es doch + besser hier arbeiten, als anderwärts ein nutzloses Leben führen.« + +Man sieht hieraus und aus ähnlichen Stellen, daß selbst ein +Glaubensheld wie Gordon seine Stunden hat, wo er innerlich gebrochen +ist und wie David und Hiob und andere Gottesknechte zu Zeiten meint, +daß das Böse siegen werde. Auch körperlich hatte er zu leiden. + + »Ich war mehrere Tage recht unwohl und so allein in meinem großen + einsamen Haus. Und dann schleppte ich mich von einem Zimmer ins + andere, weil die Gedanken mir keine Ruhe ließen. Bei all dem habe + ich den großen Trost, mich nie vor dem Tod zu fürchten.« Und einige + Wochen später: »Gottlob ich bin fast wieder wohl, aber ich war zwei + Tage recht elend. Die ganze Stadt ist krank dieses Jahr. Aber so + krank ich war (und zwar gleichzeitig mit meiner Dienerschaft -- + alles lag darnieder), war es mir doch lieb, in meinem großen Haus + allein zu sein und niemand zur Last zu fallen ... Ich glaube, mein + armer Kopf hat nie mehr nutzlose Arbeit vollbracht als in jenen + beiden Nächten. Bittschriften verfolgten mich und wenn ich meinte sie + erledigt zu haben, so waren sie von neuem da; es war entsetzlich.« + Und hieran knüpft er die nicht leicht zu beantwortende Frage an + seine Schwester: »Was möchtest du lieber, nach einem kampflosen + Leben die ewige Seligkeit in geringerem Maße erreichen, oder durch + ein Heer von Prüfungen hier durch müssen, um die ewige Seligkeit in + größerem Umfang zu gewinnen? Merke, die ewige Seligkeit, als eine + vollständige, in beiden Fällen! Ich weiß nicht, was ich wählen würde, + ich möchte lieber nicht wählen, obschon ich ein abgehärteter Mann + bin, denn dies Leben ist eine ~fürchterliche~ Schule.« + +Unter den äußeren Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, war +der trostlose Zustand der Finanzen nicht die geringste: das Volk war +über und über besteuert, aber mehr als zwei Drittel der Schatzung +ging nie ein. Die Steuereinnehmer waren wie die weiland römischen +Zöllner, die nebenher ihre eigenen Geschäfte machten. Gebt uns ein +Sechstel als »Bakschisch«, sagten sie den Leuten, dann stellen wir +euch ein Zeugnis aus, daß ihr nicht mehr zahlen könnt. Als Gordon +die Verwaltung antrat, fand er, daß es vorher allgemein üblich war, +den Gouverneur zu bestechen, um z.B. eine Stelle zu erhalten, und +zwar so, daß ein Bewerber zwölftausend Mark »Bakschisch« für eine +Anstellung zahlte, die ihm kaum mehr als ein Drittel dieser Summe +an Jahresgehalt eintrug. Natürlich lag der Schluß nahe, daß die +Beamten auf ganz andere Einkünfte als ihren Gehalt ihr Augenmerk +richteten. Gordons Wachsamkeit legte manchem das Handwerk; das System +war aber so eingerissen, daß er sich anfänglich der ihm zukommenden +»Bakschisch«-Gelder gar nicht erwehren konnte; er legte sie in die +Verwaltungskasse. Aber Ägypten selber betrachtete das abhängige +Land nur als eine Geldquelle, und nicht zufrieden mit rechtmäßigen +Einkünften, wie z. B. dem Ertrag des Elfenbeins, war es unter den +ägyptischen Paschas ganz üblich, ihr eigenes Defizit aus dem Sudan zu +decken. Selbst der Khedive telegraphierte seinem Statthalter Gordon, +so oft er sich in Geldverlegenheit befand. + + »Ich bin hinter den Büchern gewesen,« schreibt dieser, »und habe + einen guten Streich geführt. Die Finanzverwaltung von Kairo + telegraphierte um eine halbe Million Mark, die der Sudan dorthin + schulde. Ich habe die (alten) Abrechnungen nachgesehen und finde, das + umgekehrt Kairo dem Sudan hundertachtzigtausend Mark schuldet!« + +Er ließ sich nie dran kriegen, von keinem Vizekönig und keinem +Minister. Im ersten Jahr seiner Verwaltung fand er ein Defizit von +über fünf Millionen Mark in seinen Finanzen, im zweiten Jahr hatte +er's auf eine Million heruntergebracht, und mit der Zeit hoffte er der +Schulden ganz Herr zu werden und rechtmäßige Überschüsse nach Kairo zu +schicken. Er hatte oft Ebbe in der Kasse und dabei die fortwährenden +Schwierigkeiten mit dem Sklavenhandel -- »wahrlich, man ist hier nicht +auf Rosen gebettet!« rief er aus. + +Denn bei aller übrigen Not hatte er ein wachsames Auge auf die +Sklavenwirtschaft. Im Juli z. B. meldete er: + + »Wir haben in diesen zwei Monaten zwölf Sklaventransporte abgefangen; + auch ist mir ein Brief von einem Händler in der Bahr el Ghasal in die + Hände gefallen, worin dieser seinen Abnehmern schreibt, er habe eine + Menge Sklaven bereit, wisse aber nicht, wie sie landabwärts bringen. + Er wird sich wundern, die Antwort von ~mir~ zu erhalten ... So + weit es in meiner Macht steht, soll dieser Handel aufhören.« + +Einige Wochen später wurde von seinen Leuten eine Karawane von +neunzig Sklaven aufgefangen, die Überbleibsel von einer viermal +größeren Anzahl, die über achthundert Kilometer weit durch die Wüste +hergeschleppt worden waren; die wenigsten davon waren über sechzehn +Jahre alt, die meisten ganz junge Kinder. + + »Es fällt mir schwer, die Händler nicht nach Verdienst zu züchtigen + (ihm selbst waren ja die Hände über ein gewisses Maß hinaus + gebunden); aber ich darf nicht vergessen, daß Gott es zuläßt, und ich + muß nach dem Gesetz handeln. Ich thue mein Bestes, und fürs übrige + ist Er Generalgouverneur.« + +In der Bahr el Ghasal waren, wie bereits gemeldet, die Sklavenjäger in +erneutem Aufstand, und zwar abermals infolge eines geheimen Aufruhrs +Sebehrs, jener Geißel Zentral-Afrikas, von welchem der ganze Greuel +ausging. Der schwarze Pascha hoffte seiner Gefangenschaft in Kairo +dadurch ledig zu werden, daß man ihn als den einen Mann, der die Bahr +el Ghasal zu beschwichtigen vermöchte, nach dem Sitz des von ihm +selbst hervorgerufenen Aufruhrs schicken würde. Sein Sohn Soliman +war sein Stellvertreter. Und daß er so rechnete, war keineswegs +weit vom Ziel geschossen; Gordon erlebte es in den nächsten Monaten, +daß rücksichtlich des Sudaner Budgets Nubar Pascha ihm von Kairo +aus den Vorschlag machte, ihm den Sebehr als eine Art Finanzbeirat +zu schicken. Derselbe hoffte den Sudan so zur Blüte zu bringen, daß +Ägypten in kurzer Zeit auf eine halbe Million Mark Einkünfte von +dorther werde rechnen können. Gordon meldete zurück: ja, eine halbe +Million aus Sklaventransporten, er begehre solcher Hilfe nicht. + +Der Umfang des Aufstandes war anfänglich weder in Kairo noch +in Khartum bekannt; später stellte es sich heraus, daß die +Hauptsklavenhändler die Provinzen des Sudan von vornherein unter +sich verlost hatten und sich mit der Hoffnung trugen, ihre Fahnen +auf den Mauern Kairos wehen zu lassen. Keineswegs ein unmöglicher +Traum! Auch als jener Aufstand unterdrückt war, erklärte es Gordon +als seine Meinung, daß irgend ein entschlossener Anführer den Sudan +gegen Ägypten aufwiegeln könne, wie das ja auch durch den Mahdi +seither geschehen ist. Es sind nicht nur die Sklavenjäger, die das +Brandmaterial in jenen unglücklichen Ländereien ausmachen, obschon +diese an sich zu jener Zeit mächtig genug waren, um Ägypten in Atem +zu erhalten, ein weiterer Zündstoff ist in den arabischen Stämmen +vorhanden, die vor Hunderten von Jahren übers Rote Meer herüberkamen +und sich im Innern von Afrika festsetzten. Diese Araber sind +kriegstüchtige Leute, stolz auf ihre Abkunft und nach moslemischen +Begriffen von sittlicher Lebensart. Diese sind es hauptsächlich, die +sich dem Mahdi anschlossen, um die verhaßten Ägypter zu vertreiben, +und sie waren es, die in jenem Aufstand Solimans Horden verdoppelten +und verdreifachten. Fürs übrige stehen sie den Negern näher als den +Ägyptern; sie selbst aber treiben Sklavenhandel, und Solimans Banditen +waren zum Teil Angehörige dieser Stämme. »Unser ist das Land,« war der +Schlachtruf jener Araber, »wir brauchen keinen Effendina (Khedive) +hier!« »Wären Sebehr und seine Leute nicht so verruchte Sklavenjäger,« +schrieb Gordon, »und hätten sie sich nicht solch furchtbare +Grausamkeiten zu schulden kommen lassen, es wäre für den Sudan +vielleicht besser gewesen, die Aufrührer hätten ihren Zweck erreicht. +Und -- fügte er fernsichtig bei, -- wenn England und Frankreich sich +nicht besser vorsehen und für eine gerechte Verwaltung sorgen, so ist +ein Sichlosreißen des Sudan von Ägypten nur noch eine Frage der Zeit.« + +Gordon verlor keinen Augenblick, den Aufruhr zu dämpfen, und da +er nicht selbst den Rebellen entgegenziehen konnte, so entsandte +er ~Gessi~, seine rechte Hand, einen tüchtigen Soldaten, der +uns schon vom Äquator her bekannt ist und den Gordon bei dieser +Gelegenheit folgendermaßen beschreibt: + + »Romulus Gessi, Italiener, neunundvierzig Jahre alt; kurz, von + gedrungener Gestalt; ein kaltblütiger, entschlossener Mann, und in + praktischen Dingen ein geborenes Genie.« + +Auf seinem Wege nilaufwärts stieß dieser tapfere Soldat auf reichliche +Beweise, daß die ägyptischen Beamten eigenen Gewinnes halber mit den +Händlern unter ~einer~ Decke steckten. Nicht nur begegneten ihm +bei jeder Wendung mit Menschenware beladene Boote, sondern sogar +Dampfer, die unter der Flagge der Regierung dem Sklaventransport +Vorschub leisteten. Auf einem der Boote fand er an dreihundert +Schwarze und unter diesen einige Lastträger, die als freie Menschen +mit Ladungen von Elfenbein und Getreide nach Lado gekommen waren. +Ibrahim Fansi aber, der dortige Statthalter, bemächtigte sich ihrer +und verschiffte sie auf seine Rechnung in die Sklaverei. Zum Glück +begegneten sie einem handfesten Befreier. Gessi war auf dem Wege nach +den Äquatorialdistrikten, um auf den verschiedenen Stationen seine +Streitmacht zu vervollständigen. Auf dem Rückwege landete er seine +Mannschaft in Gaba Schambil, aber erst mit Anfang September konnte +er durch das überschwemmte Land westwärts ziehen und infolge der +Regenzeit mußte er wochenlang in Rumbehk am Bahr el Rohl bleiben. Dort +erreichte ihn die Nachricht, daß der Sohn Sebehrs sich zum Herrn der +Bahr el Ghasal aufgeworfen habe, daß er in Dem Idris die ägyptische +Besatzung überfallen und vernichtet habe, wodurch ein beträchtlicher +Vorrat von Kriegsbedarf in seine Hände gefallen sei. Die Häuptlinge +der Araber in der Umgegend wandten sich ihm auf diesen Erfolg hin +massenweise zu, und solche, die es nicht thaten, metzelte er nieder. +Weiber und Kinder erlagen entweder seiner Grausamkeit oder wurden +in die Sklaverei geschickt. Rings umher hatte er die Leute ihrer +Kornvorräte beraubt, so daß sie zu Hunderten Hungers starben. + +Soliman hatte sechstausend Mann, und es verlautete, er beabsichtige +einen Überfall auf Rumbehk; Gessi hatte nur dreihundert reguläre +Truppen mit zwei Feldstücken und etwa siebenhundert schlechtbewaffnete +Irreguläre. Er erwartete noch bis dreihundert Mann Verstärkung +und machte sich alsbald daran, Rumbehk zu befestigen. Seine von +Gordon erwartete Hilfe blieb aber aus, weil sein Schreiben an den +Generalgouverneur fünf Monate lang nach Khartum unterwegs war! +Hilfe von den benachbarten Bezirksstatthaltern erhielt er nicht. +An Beamten scheint die Provinz keinen Mangel gelitten zu haben. +In Dem Idris hatte sich eine »fabelhafte Anzahl« derselben die +Langeweile mit Tricktrackspielen vertrieben, während Jussuf Bey, +der Bezirksgouverneur, ein ruchloses Leben führte, worin seine +Untergebenen, sämtlich seine Neffen und Vettern, ihn nach Kräften +unterstützten. Ägyptische Wirtschaft! Am 17. November verließ Gessi +seine feste Stellung, und das war der Anfang eines Kriegs- und +Siegesmarsches, das Ergebnis einer Energie, wie sie nur aus Gordons +Schule hervorgehen konnte. Unaufhaltsam durch das Land der Ströme +vorwärtsdringend und auf Flößen übersetzend -- einmal inmitten von +Krokodilen -- verschanzte er sich in dem am gleichnamigen Fluß +gelegenen Dorfe Wau. Dort kamen ihm die Eingebornen Hilfe suchend von +allen Seiten entgegen. Über zehntausend Menschen hatte Soliman aus +den Dörfern der Bahr el Ghasal geraubt. Ein Araberhäuptling schloß +sich ihm mit siebenhundert Bewaffneten an und nun warf er sich auf +Dem Idris, welche Stadt er befestigte, eines Überfalls von Soliman +gewärtig. + +Der Sohn Sebehrs aber hatte sich überraschen lassen; bei dem +überschwemmten Lande wähnte er Gessi noch in weiter Ferne und war +selbst im Begriff, in seine Höhle zu Schekka zurückzukehren. Als +ihm aber die Nachricht von der Nähe des Feindes kam, sammelte er +rasch seine Streitkräfte, über zehntausend Mann, und warf sich auf +Dem Idris. So sicher war er seiner Sache, daß er schon die Stricke +in Bereitschaft hielt, um Gessi und seine Handvoll Leute zu binden. +Viermal kam es zum Angriff, und viermal wurde er zurückgeschlagen, das +erstemal am 27. Dezember, wobei er tausend Tote und fünf Standarten +zurückließ. Aus Mangel an Munition konnte Gessi den zurückgeworfenen +Feind nicht verfolgen. Dieser machte vierzehn Tage später einen +neuen Angriff und wurde abermals zurückgeschlagen. Soliman und seine +Häuptlinge hatten sich vorher im Kriegsrat mit einem Eidschwur auf +den Koran zu Sieg oder Tod verbündet. Durch Überläufer wußte Gessi +davon und verband sich seinerseits mit seinen Leuten, ihr Leben so +teuer als möglich zu verkaufen. So wenig Kriegsbedarf hatte Gessi, +daß er nach dem ersten Angriff die Kugeln des Feindes sammeln und +wieder gießen lassen mußte. Er sah aber, daß den schwarzen Soldaten +der Sklavenhändler der Mut gebrach, daß die Araber mit gezückten +Schwertern hinter ihnen standen und den Zagenden den Garaus machten. +Am folgenden Morgen kam es zum dritten Angriff und sieben Stunden +lang wütete der Kampf. Endlich wichen die Horden Solimans. Dieser +war in verzweifelter Wut von seinem Pferd gesprungen und weigerte +sich zu fliehen; wenn der Tod ihn nicht finde, wolle er ihn suchen, +schrie er, aber seine Leute schleppten ihn mit Gewalt davon. Abermals +nach vierzehn Tagen, in der Nacht des 28. Januar 1879, stürmte der +Feind heran. Eine von Solimans Bomben setzte ein Strohdach in Brand, +und das Lager stand in Flammen. Gessi war dadurch gezwungen, den +Kampf im offenen Feld zu wagen, aber nach drei Stunden hatte er die +Sklavenhändler in die Flucht geschlagen. + +Im März erhielt er Zufuhr von Pulver und Blei und konnte es wagen, den +Feind in seiner Verschanzung anzugreifen. Solimans Lager bestand aus +einem Verhau von Baumstämmen, im Zentrum war eine feste Verschanzung, +die sechs- bis achttausend Mann deckte, und darum her standen statt +der Zelte Reisighütten. Eine Rakete der Angreifenden fiel ins Lager, +und im Augenblick brannte alles lichterloh. Die Rebellen suchten mit +verzweifelten Anstrengungen des Feuers Herr zu werden, aber bald +stand auch die äußere Einpfählung in Flammen, und den Banditen blieb +keine Wahl als einen Ausfall zu machen. Sie wurden auf ihr brennendes +Lager zurückgeworfen und retteten sich zuletzt in wilder Flucht. Ihr +Verlust war ein beträchtlicher. Die Nacht senkte sich auf Gessis müde +Schar, die seit dreizehn Stunden der Nahrung ermangelte. Am andern +Morgen bemächtigten sie sich des halbverbrannten Lagers; verkohlte +Leichen bedeckten die Stätte und weithin lagen die auf der Flucht +Umgekommenen. Mangel an Schießbedarf verhinderte Gessi abermals, +seinen Sieg auszubeuten. Der Statthalter von Schekka, als der nächste, +der Zufuhr hätte verschaffen können, ließ ihn im Stich, und als die +Pocken in Dem Idris ausbrachen, war seine Lage in der That eine +traurige. + +Während der tapfere Italiener den Sohn Sebehrs auf diese Weise im +Schach hielt, war Gordon, wie wir gesehen haben, an der Arbeit +in Khartum. Der Anfang 1879 brachte ihm nicht weniger als drei +Einladungen nach Kairo; er umging sie mit der Antwort, daß der +Zeitpunkt ein kritischer und eine Folgeleistung für ihn mit der +Niederlegung seines Amtes gleichbedeutend sei. Während er täglich +seine wirkliche Rückberufung erwartete, erhielt er die Nachricht vom +Fall seines Gegners, des Nubar Pascha selbst. Gordon hatte dem Gessi +deshalb keine Verstärkung schicken können, weil Nubar ihm das Militär +verweigert hatte. Es war bei dieser Gelegenheit, daß dieser ihm statt +eines dringend nötigen Regiments Soldaten den Sebehr anbot! Gordons +Sorge um Gessi nahm täglich zu, und wiederholt telegraphierte er dem +Khedive um Genehmigung eines Zuges seinerseits nach Kordofan und +Darfur. Mitte März machte er sich dann nach Schekka auf den Weg. + +Den Zweck seines die Unterstützung Gessis bezweckenden Unternehmens +beschreibt Gordon folgendermaßen: + + »Erstens galt es, die Anhänger des Sohnes Sebehrs in Kordofan zu + verhindern, den Sklavenhändlern Hilfe zuzuführen; zweitens, dem + Feind den Rückzug abzuschneiden und Sebehrs Horden zu verhindern, in + Darfur einzufallen und sich daselbst mit dem angeblichen Sultan zu + vereinigen, der im Hügelland noch sein aufrührerisches Wesen trieb; + und drittens, Gessi moralischen Beistand zu gewähren sowie ihm den + nötigen Kriegsbedarf zukommen zu lassen.« + +In größter Eile drang Gordon vorwärts nach Schekka. Durch Gluthitze +bei Tag und empfindliche Kälte bei Nacht, über sandige Strecken und +verdorrtes Gras trug sein Kamel ihn durch die wasserlose Wüste. Der +Weg ging über Obeid, wo die Leute »sauer sahen, weil er Handel und +Gewerbe durch Unterdrückung der Sklavenjagd beeinträchtigte.« Da und +dort faßte er unterwegs Sklavenkarawanen ab, konnte die Händler aber +nur durchpeitschen und ihnen die verbotene Ware abnehmen. + + Persönlich hatte er »keinen sehnlicheren Wunsch, als sie zu + erschießen,« -- es war lediglich das Gesetz,[11] das ihn daran + verhinderte. + +Auf einem nächtlichen Ritt in jener Zeit aber sah er einen Ausweg, den +Greuel besser als bisher zu unterdrücken. + + »Von gestern abend halb sieben bis halb vier diesen Morgen habe ich + auf meinem Kamel gesessen. Und auf diesem langen Ritt zeigte sich mir + eine Möglichkeit den Sklavenhandel zu vernichten, dadurch nämlich: 1) + ~wer im Lande Darfur wohnt, muß eine Aufenthaltskarte haben~; 2) + ~niemand darf das Land betreten oder es verlassen ohne Paß für sich + und sein Gefolge~. Auf diese Weise kann niemand im Land verweilen, + ohne seine Erwerbsquelle nachzuweisen, und niemand kann ohne + Kenntnisnahme der Regierung darin umherreisen. Ein Zuwiderhandeln + dieser Verordnung wird mit Gefängnis oder durch Beschlagnahme des + Besitzes der Schuldigen bestraft.« + +Er berichtete dies der Schwester als einen guten Nachtgedanken, den +er aber nicht seinem eigenen klugen Kopf zuschrieb, denn es steht +in Klammern daneben: »So aber jemand unter euch Weisheit mangelt, +der bitte von Gott, der da giebt einfältiglich jedermann, und +rückt es niemand auf.« Allerdings sieht er nur zu bald ein, daß +sein Nachtgedanke zwar theoretisch gut, aber praktisch unausführbar +ist; denn wer sollte der Paßanwendung Nachdruck verleihen? Am 8. +April erreichte er Schekka, »diese Sündenhöhle.« »Das Entsetzen der +Sklavenhändler« -- es waren ihrer mehrere hundert beisammen -- »war +groß«. + +Am Tage vorher hatte ihn die Nachricht von Gessis Erfolgen erreicht, +dem um diese Zeit auch die ersehnte Verstärkung geworden war. Während +Gordon in Schekka dem Greuel den Boden sozusagen unter den Füßen +wegzog, errang Gessi in der Bahr el Ghasal neue Siege. Die armen +Schwarzen wußten sich nicht zu fassen vor Glück! Ein Dorf ums andere +wurde ihnen zurückerobert, und ihre grausamen Unterdrücker fanden die +verdiente Strafe. Mehr als zehntausend jener Unglücklichen schenkte er +ihre Heimat wieder. Einmal brachten seine Späher ihm acht Sklavenjäger +ins Lager und mit ihnen achtundzwanzig zusammengekoppelte Kinder. Er +ließ die Schurken sofort erschießen. Ein paar Tage später hängte er +eine ganze Reihe derselben im Wald auf. Kein Tag verging, daß nicht +ein Negerhäuptling kam und sich ihm mit Dankesthränen zu Füßen warf; +jetzt endlich konnten sie's glauben, daß es eine Regierung gebe, der +es obliege, sie zu schützen. + +Am 1. Mai verließ er Dem Idris und suchte den Sohn Sebehrs in seinem +eigenen Nest auf, das seinen Namen trug -- Dem (d. h. Stadt) Soliman. +Der Überfall war in Plan und Ausführung ein so glänzender, daß der +junge Bandit ums Haar in seine Hände gefallen wäre. Die Stadt wurde +erobert, und die reichen Vorräte kamen Gessis Truppen sehr zu statten. +Der Sohn Sebehrs aber war zu einem andern Sklavenjäger, einem der +mächtigsten Rebellen, Namens Rabi, entkommen. Mit sechshundert Mann +machte sich Gessi auf den Weg, ihn zu verfolgen. Durch das verwüstete +Land, das nach Rache gegen den Feind schrie, drängte der Rächer. +Der Hunger folgte ihm auf den Fersen, zog vor ihm her, er achtete +es nicht. Er erreichte ein Dorf, das noch die Spuren der vor kurzem +verschwundenen Einwohner trug; es war spät am Abend, er fand Obdach +vor dem strömenden Regen, aber nicht eine Handvoll Durra. Da ging +seinen Leuten der Mut aus. Mit Tagesanbruch rief er sie zusammen +und sagte ihnen, daß er keine Nahrung für sie habe, daß aber der +Feind nicht weit sei, und was sie ihm abjagen könnten, gehöre +ihnen. Da feuerte der Hunger die Mannschaft an und weiter ging's im +Sturmschritt. Sie kamen an Gräbern vorüber und scheuchten Raubvögel +von ihrem Fraß auf, fanden unbeerdigte Leichen und frische Fußstapfen, +dann Häuser und ein ausgestorbenes Dorf. Da stürzte ihnen ein weißes +Weib mit aufgelöstem Haar und fast ohne Kleidung entgegen, sie +trug ein Kind an der Brust, und ihr abgehärmtes Gesicht sprach von +Schrecken und Jammer. Mit strömenden Thränen sank sie dem Anführer zu +Füßen. Ihr Mann, ein ägyptischer Offizier, war bei dem Überfall von +Dem Idris niedergemetzelt und sie als Beute entführt worden. Von ihr +erfuhr Gessi auch, daß der Feind nicht weit war. + +In den Häusern gab's wenigstens genug Durra, die ausgehungerten +Soldaten zu sättigen. In der folgenden Nacht lagerten sie in einem +dichten Wald; Kundschafter wurden ausgeschickt. Die brachten nach +zwei Stunden Nachricht von weithin leuchtenden Wachtfeuern. Gessi +hielt dafür, daß er auf eine Sklavenkarawane gestoßen sei, denn die +Hauptbande vermutete er in einem noch entfernteren Dorfe. Er teilte +seine Mannschaft in der Absicht, die Karawane zu umgehen und sich +zuerst der Rebellen zu versichern; aber die eine Abteilung verfehlte +ihren Weg und kam mit Sklavenhändlern ins Gemenge. Schüsse fielen, +und in wenig Augenblicken war die Bande auseinandergesprengt. Einige +Händler fielen ihnen in die Hände, und diesen wurden nun dieselben +Ketten angelegt, unter denen eben noch ihre Opfer geseufzt hatten. +Ihr Anführer war Abu Snep, einer der berüchtigtsten Sklavenhändler in +der ganzen Bahr el Ghasal. Aber der Rebellenhaufe hatte die Schüsse +vernommen, und plötzlich -- es war noch dunkle Nacht -- erleuchtete +eine Feuersbrunst den Himmel; die flüchtigen Banditen hatten das Dorf +angezündet, und als Gessi es in der Morgenfrühe erreichte, fand er +einen rauchenden Trümmerhaufen. Nirgends eine Menschenseele, nur ein +kleines Sklavenbübchen, das sich in der Verwirrung versteckt hatte. +Das Kind berichtete, daß Soliman selbst keine vierundzwanzig Stunden +vorher im Dorf gelagert hatte. + +In der folgenden Nacht stellten sich sieben Männer in Gessis +absichtlich nicht erleuchtetem Verhau ein, seine Truppen für die Bande +Rabis haltend, die sie in der Nähe wußten; sie sagten, sie seien vom +~Sultan Idris~ entsandt, der alsbald hinterdrein käme und Rabi +möchte ihn zum Anschluß erwarten. Gessi schickte durch einen der +sieben die Antwort, daß er den Sultan da und da zu sehen hoffe. Die +anderen sechs wurden zu Gast gebeten und sahen sich in kurzem als +Gefangene. + +Gessis Plan war alsbald entworfen; er beabsichtigte sich Rabis zu +versichern und dann den nachkommenden Sultan Idris zu empfangen. In +größter Eile ging's vorwärts. Mit Tagesanbruch überfiel er jenen in +seinem Lager, vernichtete seine Horde, bemächtigte sich aller seiner +Vorräte und seiner Flagge, und nur der Häuptling selber entkam durch +die Schnelligkeit seines Pferdes. Dann, in der Richtung zurückfallend, +wo er seinen »Verbündeten« wußte, ließ er sein Zelt aufschlagen und +Rabis Standarte daneben pflanzen. Seine Leute legte er im Umkreis in +Hinterhalt; darnach schickte er ein halb Dutzend Schwarzer aus, die +wie von ungefähr dem Sultan in die Hände gerieten. Wem sie gehörten? +war die Frage. Dem Rabi, lautete die Antwort, und sie wären auf der +Jagd. Da sandte Idris sie zurück, um seine Ankunft binnen einer Stunde +zu melden. Ein plötzlicher Sturmwind und Regenguß trieb ihn und seine +Leute vorwärts, und Schutz suchend, lief die Bande im Durcheinander in +die Falle. Da krachte ein Signalschuß und Musketenfeuer knatterte um +sie her. So groß war ihre Verwirrung, daß nicht einer die Gegenwehr +versuchte. Idris und etliche seiner Araber waren die einzigen, die +entkamen, und das nur, weil sie sich im Wetter unter einen Baum +geflüchtet hatten und dadurch etwas zurückgeblieben waren. Reiche +Beute fiel in Gessis Hand. Er kehrte nach Dem Soliman zurück, das er +vor neun Tagen verlassen hatte, seine Rückkehr glich einem Triumphzug. +Die Sklavenhändler in der Umgegend schienen in alle Winde zerstreut. +Das Volk hatte sich erhoben und die Flüchtigen mit Pfeil und Speer +verfolgt. Die gefangenen Anführer brachte Gessi in Ketten mit sich, +während die besiegte Mannschaft Lasten von erbeutetem Elfenbein hinter +ihm herschleppte. In Dem Soliman fanden die Rächer eine wohlverdiente +Ruhe. + +Indessen hatte Gordon in Schekka mit den fast unbezwingbaren +Schwierigkeiten seiner Verwaltung ritterlich weiter gekämpft. +Auch um diese Zeit schrieb man ihm wieder von Kairo und begehrte +zweihundertundvierzigtausend Mark aus dem Sudan. Er meldete zurück: +»Wenn die zerlumpten Truppen hier Kleidung und Löhnung haben, dann +kann man wieder davon reden.« + +In Darfur fand er die alte Mißwirtschaft: »Ich verzweifle am +ägyptischen Regiment!«[12] Immer wieder ist's ihm sonnenklar, daß das +Hauptelend des Landes von der Gewinnsucht der Beamten ausgeht. + + »Ich habe dem Khedive telegraphiert, den Sohn des Sultans Ibrahim + herzuschicken (der in Kairo festgehalten wurde) und mit ihm die + rechtmäßige Sultansfamilie hier wieder einzusetzen, denn mit diesem + Diebspersonal von Beamten ist eine gerechte Regierung unmöglich.... + Mich kennen die Leute von Darfur und haben Vertrauen zu mir ... ich + werde dann dem Harun, der noch immer seine Ansprüche behauptet, + schreiben, daß es ihn nichts nützt, länger gegen Ägypten und den + rechtmäßigen Sultan aufkommen zu wollen, daß ich ihn angreifen + könnte, daß das aber nur neues Elend übers Land bringen würde und ich + ihn deshalb auffordere, mir zu helfen, Land und Leute für den jungen + Sultan zu gewinnen.« + +Es war immer wieder Gordons Politik, mit Großmut den Feind zu +gewinnen, dem geschlagenen Feinde voran zum nächsten Siege zu eilen +und den noch gegen ihn ankämpfenden aufzufordern, ~ihm zu helfen, zu +thun, was recht ist~! Oft ist ihm diese wunderbare Taktik gelungen, +manchmal auch nicht. Harun wollte nichts davon wissen. Wir werden +später sehen, wie gerade an dieser hochherzigen Gewohnheit Gordons, +Feinde zu seinen Mitarbeitern zu machen, die ihm entgegentretende +Politik ihre Handhabe fand, ihn dem Verderben zu überlassen. Seine +Großmut war oft zu gut für die Welt und darum ihr unverständlich; +Krämerseelen nannten ihn einen Enthusiasten. Ja, es war der göttliche +Enthusiasmus, der den Sünder für seine Sünde züchtigt, ihn selbst aber +wieder aufrichtet, der den Saulus zu Boden schlägt und im Paulus sein +Rüstzeug gewinnt. + +Und wieder der Sklavenhandel: + + »Gott ist mein Zeuge, wenn ich diesen Greuel vernichten könnte, ich + ließe mich heute nacht noch erschießen; dies beweist wenigstens mein + heißes Verlangen, aber ich mag kämpfen wie ich will, ich sehe wenig + Hoffnung, dieses Übel zu bewältigen.« + +In Stunden des Kleinmuts war ihm in dieser Zeit der erste Gedanke +gekommen, sein Amt als Generalgouverneur niederzulegen, weil er +fühlte, daß er das Land nicht so regieren konnte, wie es seinem +eigenen Herzen genügte. Daran knüpfte sich für ihn die Frage: soll +er, wenn er die glänzendere Würde niederlegt, sich nach Darfur +zurückziehen und sein Leben dort opfern? Durch dauernde Anwesenheit in +jenem Land, in dem das ganze Greuelwesen wurzelt, könnte er vielleicht +das ersehnte Ziel erreichen. Manch einer (besonders wenn die Frage ihm +nicht selbst gilt) möchte hier sagen, das ist ja ein schöner Beruf, +für den man gern sterben könnte! Es ist auch nicht der Tod, den Gordon +fürchtet, sondern die »lange Kreuzigung in diesem fürchterlichen +Land.« Seine Körperkräfte sind geschwächt und der physische Mut +gebricht ihm, solch ein Kreuz auf sich zu nehmen. + + »In den Tod gehen, ja, aber ach! es wäre ein langes, langes + Hinsterben, und ich vermag es nicht!« + +Mittlerweile ist er rüstig wie immer, wenigstens das Beste zu thun, +was in seiner Kraft steht. + + »Diesen Abend wurden sieben eingefangene Händler mit dreiundzwanzig + Sklaven vor mich gebracht; das Elend dieser letzteren war unsäglich + -- es waren Kinder von kaum drei Jahren darunter, die durch diese + Wüste hergetrieben worden sind, vor der es mir auf meinem Kamel + bangt ... Ich höre, daß andere auf dem Weg sind, und manche von den + armen Weibern haben nicht einen Fetzen, um sich zu decken. Wir haben + in diesen neun Monaten wenigstens zweitausend abgefangen, und das + ist wohl nicht der fünfte Teil der Karawanen, die hier durch sind. + Und wie viele sind unterwegs umgekommen? ... Ich habe mit einigen + Häuptlingen gesprochen, es ist trostlos zu hören, daß mehr als ein + Drittel der Bewohner dieses Landes in die Sklaverei geschleppt worden + ist ... Ich höre, daß Kalaka in großer Aufregung ist, seit mein + Kommen in Aussicht steht. Ein Sklavenhändler dort soll einen Mann + erschossen haben; ich werde ihn dafür erschießen lassen, wenn ich + hinkomme. Ich werde wohl eine beträchtliche Anzahl dort wegfangen. + Sie wissen sich nicht zu helfen, kein Schlupfwinkel ist mehr übrig, + denn die Beduinen helfen mit.« + +Diese notgedrungenen Freunde fingen eine Menge Händler weg, und +die Sklaven liefen umher wie herrenlose Schafe, wurden auch immer +wieder von Händlern aufgeschnappt, die sie gern als ihr Eigentum +betrachteten. Die aufgegriffenen Sklavenhändler züchtigte Gordon stets +nach dem -- zwar ungenügenden -- Gesetz; er ließ sie durchpeitschen +und setzte sie, wo er konnte, hinter Schloß und Riegel. + +Ehe er Schekka verließ, um nach Kalaka weiter zu ziehen, hörte er +noch von Gessis namhaften Erfolgen. Die Straße nach Kalaka trug +überall Spuren, daß die Händler des Weges gezogen waren. An manchen +Orten bleichten Schädel und Menschenskelette zu Hunderten; hier +und dort lagen die Schädel aufgehäuft, ein grauenhaftes Denkmal +des entsetzlichen Handels. Wie viele Tausende von armen Schwarzen +mochten da vorbeigetrieben worden sein! Man fragt sich, wohin +sie nur alle geschleppt werden? Ein Teil wird als Dienstsklaven +verwendet, besonders in den Küstenländern des Roten Meeres; die +ganze mohammedanische Welt aber ist, teils offenkundig, teils +heimlich, eine Empfangsstätte für Sklaven, meist Weiber und Kinder. +Das Haremswesen verschlingt alljährlich eine große Anzahl. Im Blick +auf dieses Endziel des schändlichen Handels möchte man fast sagen: +es ist ein Glück, daß die meisten unterwegs erliegen! In Kalaka hob +er ein ganzes Nest von Händlern aus und wenigstens tausend Sklaven, +welch letztere er den eingebornen Stämmen überlassen mußte. Und +weiter ging's durch die Wüste nach Darra, nach Fascher und Kobeh an +der obersten Grenze des Landes. Was für Reisen! Er sagte einmal in +jener Zeit: nur kraft seines Kamels sei er einigermaßen Herr im Land. +Auf dem Weg nach Kolkol an der äußersten Nordwestgrenze wurde er +mit seiner Schar von etwa hundertundfünfzig Banditen überfallen und +mehrere Stunden lang ging es ihm mit seinen Leuten »hinderlich«, wie +er sagte; aber schließlich zogen die Räuber, die »seine Kamele und +seine Sachen« wollten, den kürzeren. In Kolkol angekommen, hatte er +die Länge und Breite der ägyptischen Herrschaft durchreist. Er faßt +seine Eindrücke in die Worte zusammen: »Das Elend dieser verkommenen +Länder ist unsäglich -- die Regierung selbst hat sie in eine Wüstenei +verwandelt.« Kolkol nannte er ein Gefängnis; es hatte seit zwei Jahren +niemand den Weg dahin gefunden. Die Garnison war in entsetzlichem +Zustand. Aus diesem verlassenen Nest sandte er eine ganze Bande +hilfloser Besatzung nach Khartum, vierhundert Araber mit Weibern und +Kindern. Von dieser äußersten Grenze des Elends trat er den Rückweg +nach Khartum an, zunächst über Fascher, Omschanga und Tuescha. Während +seiner kurzen Abwesenheit hatten sich die Banditen wieder in Schekka +gesammelt und von dort sich ins Innere des Landes geschlagen. Obschon +er auf diesem Zuge mehrere tausend Sklaven weggefangen und viele +Händler bestraft hatte, so stand der greuliche Betrieb doch alsbald +wieder in Blüte. + + »Es ist anzunehmen, daß in diesen zwei Jahren allwöchentlich etwa 600 + Sklaven hier durch sind! Während meiner Amtszeit! Habe ich da Ursache + stolz zu sein?« + +Bei dem vorhandenen Wassermangel war das Elend der Ärmsten oft über +alle Beschreibung; und meist konnte er mit den Befreiten nichts +anfangen, als sie den Eingebornen überlassen. So ging's auch mit ein +paar hundert Sklaven, die er in und um Tuescha aufgegriffen hatte. Er +ließ sie vor sich kommen und sagte ihnen, daß er keine Möglichkeit +hätte, sie in ihre Heimat zurückzuschaffen, daß sie aber jetzt frei +wären. Sie waren alle damit einverstanden, sich den Leuten dort +anzuschließen. Drei schwarze Weiber wurden vor ihn gebracht, um über +die Händler ausgefragt zu werden, und als Beweis, daß selbst im +größten Elend die Eitelkeit oft oben auf ist, erzählt er, daß eine +derselben sorgfältig eine Ecke des schmutzigen Fetzens aufknöpfte, den +sie als Kleidungsstück um sich gewickelt hatte, und etliche Glasperlen +daraus zum Vorschein brachte; die hing sie sich um den Hals und guckte +dann um so zufriedener in die Welt. Aber von anderen, besonders von +einem kaum vierjährigen Bübchen sagt er, daß das Lachen ein Ding sei, +das ihn nie ankäme, die Bitterkeit seines jungen Lebens sei zu groß! + +In Tuescha sah er Gessi wieder, der ihm um Jahre gealtert schien; +vielleicht konnte Gessi dasselbe von ihm sagen. Wie wir gesehen +haben, hatte Gessi dem Räubervolk in der Bahr el Ghasal tüchtige +Schläge versetzt und nebenbei reiche Ladungen an Elfenbein erobert. +Nur Soliman selbst war ihm bis jetzt noch immer entkommen; doch waren +seine Tage gezählt! Gordon belohnte den heldenmütigen Italiener, +indem er ihn zum Pascha der Osmanlie zweiter Klasse ernannte und +ihm vierzigtausend Mark dazu schenkte. Während er selbst nach +Khartum zurückkehrte, wandte sich der neue Pascha wieder seinem +Kampfgebiet zu. Schon nach wenigen Tagen brachte ein Überläufer +ihm die Nachricht, daß Soliman im Schild führe, sich mit Harun zu +vereinigen. Alsbald machte er sich auf, dies zu verhindern. Der Sohn +Sebehrs versuchte sein Heil in der Flucht in der Richtung von Gebel +Marah, einem schwierigen und wenig bekannten Hügelland. Neunhundert +seines Gesindels waren mit ihm: Rabi mit siebenhundert entrann auf +andern Wegen. Gessi, der seine Streitkräfte noch nicht zusammengezogen +hatte, konnte mit nur zweihundertundneunzig Mann zur Verfolgung sich +aufmachen; aber diese waren wohlbewaffnet und durch die unlängst +errungenen Siege innerlich gehoben. Durch einen mit bewundernswerter +Kühnheit ausgeführten Eilmarsch überraschte er Soliman und die Seinen +in einem Dorf Namens Gara zu früher Morgenstunde im Schlaf. Drei Tage +und drei Nächte hatte der unaufhaltsame Pascha sich und seiner Schar +kaum Ruhe gegönnt und dem Feind auf Querpfaden den Weg abgeschnitten. +Wie manches friedliche Dorf hatte die ruchlose Horde Solimans auf +ähnliche Weise zur Nachtzeit überfallen! Wie manche Wohnstätte hatten +sie mit Feuer verwüstet und die nichts ahnenden Bewohner mit sich +geschleppt! Das Blut war in Strömen geflossen, und viele Tausende von +Menschen waren durch sie dem Elend der Sklaverei verfallen. Jetzt war +die Stunde der Rache gekommen. + +Mit seiner geringen Streitmacht wagte Gessi es nicht, das Dorf zu +umstellen. Er wagte es nicht einmal, sie dem Feind zu zeigen, sondern +hielt sie im Wald zurück, um jenen über die Anzahl zu täuschen. Dem +Soliman gab er zehn Minuten Bedenkzeit, die Waffen zu strecken; ergebe +er sich in der kurzen Frist nicht, so habe er keine Gnade zu erwarten. +Die schlaftrunkene Bande glaubte sich von Gessis ganzer Streitkraft +umringt und ergab sich im Schrecken der Überraschung. Einige der +Sklavenhändler hatten sich beim ersten Alarm in den Wald geflüchtet, +die meisten aber, unter ihnen Soliman selbst, gehorchten dem Befehl +und legten ihre Waffen nieder. Als der Sohn Sebehrs entdeckte, mit +wie wenig Leuten Gessi ihn überwältigt hatte, erfaßte ihn ein wilder +Ingrimm. »War das eure ganze Anzahl?« schrie er. »Sie genügte!« +entgegnete ihm Gessi kaltblütig. Da brach jener in Zornesthränen aus +-- »wäre mein Vater hier gewesen, wir wären nie erlegen! Es sind +ihrer nur dreihundert, und ihr (seine Häuptlinge) meintet, es wären +dreitausend!« + +Den Tag über ließ Gessi sie im Dorf bewachen und sie verhielten sich +ruhig; als es aber dunkel wurde, schien Leben über sie zu kommen, +und er vermutete, daß Botschaft zwischen ihnen und ihren entlaufenen +Gefährten hin- und hergehe. Sie planten ein Entkommen in der Nacht, +in der Hoffnung, ihren Verbündeten Abdulgassin zu erreichen, der mit +seiner Bande nicht allzuweit entfernt war. Gessi entdeckte die Pferde +seiner Gefangenen, die gesattelt bereit standen. »Nun,« schrieb er, +»sah ich, daß die Zeit gekommen war, diese Schurken ein für allemal +unschädlich zu machen.« Er traf eine Auswahl. Ihren bewaffneten +Sklaven war er erbötig Leben und Freiheit zu schenken, wenn sie zu +ihren Stämmen zurückkehren wollten. Dazu waren sie mehr als bereit +und er ließ sie unter dem Geleite seiner Mannschaft ziehen. Die +kleineren Sklavenhändler, etwa hundertfünfzig an der Zahl, machte +er zu Gefangenen. Die Haupträdelsführer aber, d. h. Soliman und zehn +andere, wurden erschossen. Dazu hatte er Gordons Vollmacht. Zwei Jahre +vorher in der »Höhle Adullam« hatte dieser sie gewarnt, daß sie die +Sklavenjagd mit ihrem Leben würden büßen müssen, sofern sie nicht +davon abließen. Sie hatten die Warnung in den Wind geschlagen, und nun +war das Maß ihrer Bosheit voll. Keiner zeigte Reue. Dem Sohn Sebehrs +schien der Mut zu entfallen, denn er sank vor dem Schuß zu Boden; ein +anderer vergoß Thränen; die übrigen aber gingen ohne Spur von Rührung +in den Tod. Auf diese Nachricht versprengte der Schrecken Abdulgassins +Horde und auch Rabi mit den Seinen floh. + +Damit war der Sklavenhandel für den Augenblick aufs Haupt geschlagen, +und da die Eingebornen sich nun auch allerwärts gegen ihre +Bedrücker erhoben, so fanden die flüchtigen Händler nirgends einen +Schlupfwinkel. Abdulgassin, die Hyäne dieses Landes, der ganze Dörfer +entvölkert hatte, wurde später eingefangen und erschossen. Rabi entkam +-- wohin wußte niemand. Nun war Friede und eine Zeit der Ruhe kam über +die gequälten Neger, die sich in ihren Heimstätten wieder ansiedeln +konnten; sie wußten ihrer Freude kein Ende, schrieb Gessi. + +So wurde die Macht Sebehrs in seinem Sohne gebrochen, aber noch war +er selber unbestraft. Der schwarze Pascha war ein König gewesen, der +mächtigste aller Sklavenhändler in der Welt. Weithin, bis ins Innere +von Afrika hinein, hatte er seine festen Plätze und Raubhöhlen; +ganze Länder hatte er verwüstet, wo vorher die schwarzen Stämme in +verhältnismäßigem Wohlstand ihr Naturleben führten. Mit fürstlichem +Glanz hatte der greuliche Menschenräuber im Lande geherrscht; aus +einem Strom von Thränen und Blut war sein Reichtum gewonnen worden, +und nun war der Strom versiegt. Ihm selbst schien der verdiente Lohn +zu werden; denn unter dem Nachlaß seines Sohnes fanden sich Briefe +von seiner Hand, die ihn als den Anstifter des ganzen Aufstandes +verrieten. Er wurde in Kairo vor Gericht gestellt und zum Tode +verurteilt. »Es wird ihm nichts geschehen,« sagte Gordon, als er's +vernahm; und so war es! Er blieb nicht nur am Leben, sondern wurde +sogar eines Gnadengehaltes für würdig erachtet. Warum? muß ein Rätsel +bleiben. Der abgesetzte König der Sklavenhändler wurde nach wie +vor in Kairo festgehalten und hat seine zweitausend Mark monatlich +aus der vizeköniglichen Kasse bezogen! Die verkehrte Schwäche, die +ihm das Leben schenkte, hat viel dazu beigetragen, daß Gordons und +Gessis glänzende Erfolge den greulichen Menschenhandel im Sudan zwar +zu unterdrücken, aber nicht auszurotten vermochten. Sebehr war und +blieb eine Macht der Finsternis, und die Schlußszene von Gordons +Lebensdrama, die tieftragische, ist zweifelsohne mit sein Werk. + + + 4. Als Gesandter in Abessinien. + +Auf dem Rückweg nach Khartum erfuhr Gordon in Fodja, daß Gessi den +Soliman und seine Genossen überwältigt und erschossen hatte. Er +selbst hatte dem Sklavenhandel in Darfur mehr wie einen empfindlichen +Schlag versetzt. Zwar war er zu der Überzeugung gekommen, daß eine +völlige Vernichtung des Unwesens ein Ding der Unmöglichkeit war, +insolange nämlich als die ägyptische Regierung nicht von Grund aus +eine andere würde; aber für den Augenblick lag der Greuel am Boden +und das gequälte Land atmete auf. In Fodja erreichte ihn auch die +zweite Nachricht, daß die seit Monaten drohende Umwälzung in Kairo +stattgefunden und daß Ismail zu Gunsten seines Sohnes Thewfik +abgedankt hatte. Es lag ihm ob, den Regierungsantritt des neuen +Khedive in den Sudanländern zu verkündigen. + + »Es ließ mich kühl,« sagte Gordon, »ich telegraphierte an die + verschiedenen Unterstatthalter und quittierte dem Cherif Pascha den + Empfang der Anzeige -- damit begnügte ich mich.« + +Ismails Glückswechsel ließ ihn übrigens nicht kalt, er nahm +aufrichtigen Anteil an seiner Demütigung, obschon er seine Politik +öfters beklagt, ja getadelt hatte. Die Veränderungen in Kairo, welche +mit dem neuen Khedive die dem Sklavenhandel freundlichen Pascha wieder +ans Ruder brachten, bestärkten ihn aber ohne Zweifel in seinem bereits +gefaßten Vorsatz, sein Amt niederzulegen. Er hatte das übernommene +Werk vollbracht, so weit es ihm möglich schien; die Würde an sich +hatte keinen Reiz für ihn. Mit diesen Gedanken kehrte er nach Khartum +zurück. + +Um diese Zeit erhielt er einen Brief von seinem alten Freunde, dem +Gouverneur Li in China, folgenden Inhalts: + +»Sehr freute es mich von Ihnen zu hören. Es sind vierzehn Jahre, seit +wir uns trennten, und wenn ich Ihnen auch bisher nicht geschrieben +habe, so spreche ich doch oft von Ihnen und gedenke Ihrer mit +großer Teilnahme. Die Wohlthaten, die Sie China erwiesen haben, +verschwanden nicht mit Ihrer Person, sondern sind jetzt noch in den +Gegenden fühlbar, in denen Sie eine so wichtige und thatkräftige +Rolle spielten. Das Volk segnet Sie um des Friedens und des Gedeihens +willen, dessen es sich seither erfreute. Ihre Erfolge in Ägypten +sind durch die Welt erschollen; ich lese oft in den Zeitungen von +Ihrem edlen Werk am obern Nil. Sie sind ein Mann, der sich stets zu +helfen weiß, in was für Lagen Sie sich auch befinden. Ich hoffe, daß +Ihnen ein langes Leben geschenkt werde, denn Sie verbreiten Segen +um sich her, wohin auch immer Ihr Beruf Sie führt. Ich lasse es mir +ernstlich angelegen sein, mein Volk auf eine höhere Stufe zu bringen +und dieses Land mit andern Ländern innerhalb der »vier Meere« in einem +Bruderbündnis zu vereinigen. Ich beantworte Ihre Fragen: -- Kwoh Sung +Ling hat sich vom öffentlichen Leben zurückgezogen und erfreut sich +der Ruhe. Jang Ta Jen ist schon lang gestorben. Dem Sohn des Na Wang +geht es gut, er ist Regimentsoberst mit fünfhundert Leuten unter ihm. +Die Pataschau-Brücke, die Sie teilweise zerstörten, ist bald nach +Ihrer Abreise wieder aufgebaut worden und ist in recht gutem Zustand. +-- Kwoh Ta Jen, der chinesische Minister, schrieb mir, daß er die +Freude hatte, Sie in London zu sehen. Ich wollte, ich wäre auch dabei +gewesen; aber die Pflichten dieses Lebens führen die verschiedenen +Menschen in verschiedene Teile der Welt und es ist eine weise +Einrichtung der Vorsehung, daß wir nicht alle am selben Orte sind. +Ihnen Glück und Segen wünschend meinen Gruß.« + +An diesem Brief des alten Chinesen kann man nur seine Freude haben; +steht es doch nicht bloß ~zwischen~ den Zeilen zu lesen, daß +Gordons Werk dort ein bleibendes war. + +Gordon verließ Khartum Ende Juli und erreichte Kairo am 23. August. +Acht Tage später begab er sich als außerordentlicher Gesandter zum +König von Abessinien. Thewfik setzte offenbar Vertrauen in ihn, +obschon er halb und halb gefürchtet hatte, daß Gordon beabsichtige, +sich als Sultan im Sudan aufzuwerfen. »Das würde unser einem aber doch +nicht passen,« meinte Gordon. Seine abessinische Reise bezog sich auf +die alten Wirren. Mit ihm ging sein schwarzer Schreiber Berzati Bey, +der in seinem Dienst stand seit er jenen anderen der Bestechlichkeit +wegen entlassen hatte und dem er nachrühmte, daß er die unschätzbare +Eigenschaft besessen habe, es ihn wissen zu lassen, wenn er +anderer Meinung war als er. Dieser Berzati stammte aus einer alten +muselmännischen, in Khartum ansässigen Familie. Als Schüler eines +namhaften Gelehrten dieser Stadt erlangte er eine tüchtige Bildung. +Die Geschichte des Landes kannte er von Grund aus und verstand sich +auf verschiedene Geheimschriften. »Er war in diesen drei Jahren mein +bester Freund,« sagt Gordon, »obwohl wir manchmal hintereinander +gerieten. Ich verdanke ihm viel; denn ob er zwar ein guter Patriot und +fester Muselman war, riet er mir doch stets ehrlich zum Besten des +Volkes .... Er hat übrigens seine Last -- vier Weiber; hat mancher +doch an ~einer~ genug. Ein paar Männer wie Berzati Bey könnten +Ägypten aufhelfen; aber solche sind selten. Spötter nennen ihn den +›schwarzen Gnomen.‹« + +Die Abessinier hatten das Grenzland Bogos inne. Am 11. September 1879 +machte sich Gordon von Massaua zu einer Zusammenkunft mit dem in Gura +lagernden Alula auf den Weg. Unterwegs schrieb Gordon: + + »Wir sind einer Karawane begegnet, die von Gura kommt ... Sie brachte + die Bestätigung der Nachricht, daß Alula auf des Königs Befehl den + Walad el Michael und alle seine Offiziere gefangen genommen habe, und + daß Walads Sohn, Metfin, erschlagen sei. In Massaua traf mich die + Kunde, daß Abdulgassin, der letzte der Anführer von Sebehrs Banditen, + eingefangen und auf meinen Befehl erschossen worden sei. Er war + jener Schurke, der einen Negerknaben umbrachte und in dessen Blut + seine Flagge tauchte. (Bei der Einnahme von Dem Idris, um den Himmel + günstig zu stimmen!) So giebt's immer mehr Lücken in meiner Fürbitte + für die Feinde. Sebehrs Anführer und Walads Sohn, sie waren alle in + mein Gebet eingeschlossen. Ich gestehe, ich bin dieses Leben müde, es + wäre mir kein Kummer, wenn Walads Bande mir unterwegs auflauerte.« + +Wie charakteristisch ist dieser Brief für den Schreiber! Als Soldat +giebt er den Schurken ihren verdienten Lohn, er läßt sie erschießen; +als Christ hat er es nie unterlassen, sie mit Namen in seiner Fürbitte +vor Gott zu bringen! + +Gordon litt auf dieser Reise viel von der Hitze. Er nennt sich einen +Hiob voll Schwären. Aber wenn auch der Körper schwach ist, seine +Aufgabe führt er durch und entwirft sich seine Pläne auf dem Ritt +durch die Wüste. + + »Ich bin entschlossen, entweder mit oder ohne des Königs Hilfe mit + Walad und seinen Leuten fertig zu werden und dann mit Johannes selbst + ins reine zu kommen.« + +Unter Hilfe verstand er nicht Waffen, sondern ein Versprechen, daß +Walads Truppen, wenn sie Bogos räumten, eine Zuflucht gewährt werde. +Wo Barmherzigkeit am Platze war, unterließ er es gewiß nicht, darauf +hinzuarbeiten! Er erreichte Gura halbtot von seinem Wüstenritt und +vernahm, daß Alulas Lager auf einem steilen Berg sich befand, und weil +sein Lasttier erschöpft war, so erstieg er die Höhe mühsam zu Fuß. Er +fand den abessinischen Befehlshaber in einem niedern, langen Gezelt +von Baumzweigen, an dessen oberem Ende Alula auf einem Diwan saß, wie +eine Mumie in weiße Tücher gewickelt, die nur die Nase sichtbar ließen. + + »Feierliche Stille herrschte; und alle Anwesenden waren gleich ihm + vermummt, als ob meine Nähe sie vergiften könnte. Die Figur auf dem + Diwan regte sich nicht, und war wirklich so eingewickelt, daß mich + ein Verlangen ankam, dem Mann nach dem Puls zu fühlen. Der Mensch muß + krank sein, dachte ich. Durchaus nicht -- es war Freund Alula!« + +Und Gordon sah, als Alula nach einiger Zeit die weiße Hülle etwas +fallen ließ, daß er ein ganz kräftiger, sogar hübscher junger Mann +von etwa dreißig Jahren war. Auch den andern schien nach und nach die +Furcht vor Gift zu vergehen. Gordon fand die Audienz aber tödlich +langweilig, denn Alula schien ihm durch Schweigen imponieren zu +wollen. Nach langer Pause gestattete er ihm zu rauchen, was eine +besondere Vergünstigung war, indem der König einen Befehl erlassen +hatte, allen Rauchern die Nase abzuschneiden. Gordon lehnte es ab +und betrachtete sich einstweilen die Priester, die den Hofstaat +vervollständigten. Viel erreicht wurde bei dieser Gelegenheit darum +nicht, weil Alula vorläufig nur den einen Zweck verfolgte, dem +Gesandten mit wenig Höflichkeit zu begegnen. Ägypten hatte Abessinien +schlecht behandelt, Gordon wußte sich daher über den unmanierlichen +Empfang zu trösten. + + »Bei der nächsten Audienz aber werde ich meinen sudanischen + Thronsessel mitbringen, sowie einen geeigneten Sitz für den schwarzen + Gnomen.« + +Als Alula jedoch verlangte, daß der Gesandte am Fuße des Berges +kampiere und täglich zu ihm hinaufklettere, schlug ihm Gordon dies +rundweg ab; das wisse er im voraus, daß er in diesem Falle dann stets +schlechter Laune zur Audienz kommen würde, was den Verhandlungen +gewiß schädlich wäre. Alula gab dies zu und ließ ihm ein Zelt neben +sich aufschlagen. Als ägyptischer Gesandter war Gordon in der +Feldmarschallsuniform. Die Audienzen führten zu dem Beschluß, daß +Gordon zum König Johannes selbst reisen sollte und daß Alula bis auf +weiteres sich der Feindseligkeiten zu enthalten versprach. + +Der König befand sich in Debra Tabor bei Gondar, zwölf Tagereisen von +Gura entfernt. Aber geduldig wie immer, wenn's Arbeit gab, machte +Gordon sich auf den Weg durch ein entsetzliches Land und über die +steilsten Berge »über die Kruste des Erdballs hinschleichend.« Bei +Adowa kam er an der Bergeinöde vorüber, in der Walad el Michael +festgehalten wurde. + + »Die Abessinier setzen ihre Staatsgefangenen nämlich auf + unzugängliche Berge, die Amba genannt werden. Es giebt deren drei + verschiedene Arten: erstens solche, die so steil sind, daß der + Gefangene in einem Korb durch einen Flaschenzug hinaufgeschafft wird; + zweitens, andere, die durch einen einzigen Fußweg zugänglich sind; + und drittens solche, deren Höhe auf zwei oder drei Wegen erreicht + werden kann. Auf diesen Amba befindet sich kultivierbares Feld und + auch Wasser. Ein Gefangener kann da existieren und in Vergessenheit + seine Sünden bereuen, bis eine neue Revolution ihn vielleicht auf den + Thron setzt.« + +Unterwegs vernahm Gordon, daß ein aufrührerischer Häuptling ihn zu +überfallen gedenke, aber trotzdem gelangte er ungefährdet nach Debra +Tabor. Der König selbst gab zu, daß er auf den denkbar schlechtesten +Wegen zu ihm geführt worden war. Gordon schloß daraus, daß Alula +den Gesandten auf diese liebenswürdige Weise von der Unwegsamkeit +des Landes zu überzeugen hoffte, damit dieser Ägypten von etwaigen +Kriegsgedanken zu heilen vermöchte. + +Als er den abessinischen Hof erreichte, wurde er alsbald vorgelassen. +Der König saß auf seinem Thron, neben ihm stand Ras Arya, sein Vater, +der Itagé oder Hohepriester, und ein Stuhl war für den Gesandten +hingestellt. Da ertönten Kanonenschüsse, »das ist Ihnen zu Ehren,« +erklärte der König und bedeutete ihm alsbald, er sei entlassen. Ein +paar erbärmliche, halbfertige Hütten waren das Gesandtschaftsquartier. +Bei Tagesanbruch erscholl das Psalmensingen, das Gordon in Alulas +Lager früher schon vernommen hatte. + +Von dieser Audienz hat außerdem folgendes verlautet. Der König saß auf +seinem Thronsessel, und der für den Gesandten bestimmte Stuhl stand +auf niederer Stufe in ziemlicher Entfernung; Gordon hatte den Stuhl +genommen und sich in die Nähe des Königs gesetzt, um ihm begreiflich +zu machen, daß er als Ägyptens Vertreter von der abessinischen +Majestät nicht allzu geringschätzig zu behandeln sei. Da fuhr der +König ihn an: »Wissen Sie nicht, Gordon Pascha, daß ich Sie dafür auf +der Stelle hinrichten lassen kann?« »Gewiß,« sagte Gordon, »ich bin +auch bereit dazu, wenn es des Königs Wille ist.« »Was -- bereit zu +sterben?« rief Johannes entsetzt. »Ich bin immer bereit,« entgegnete +der Pascha ruhig; »der König würde mir durch einen gewaltsamen Tod +sogar einen Dienst erweisen, den meine Religion mir selbst nicht +gestattet, indem ich dadurch von aller Not erlöst würde, welche die +Zukunft mir noch bringen kann.« Da erblaßte Johannes vor Entsetzen. +»Dann hat meine Gewalt keine Schrecken für Sie?!« stammelte er. +»Durchaus keine,« war die kurze Antwort. Worauf der König: »Sie sind +entlassen!« + +Die Verhandlungen waren ganz unbefriedigender Natur und mitten darin +erklärte Johannes, er müsse sie abbrechen und Gesundbrunnen trinken, +»ganz +à la mode+,« sagt Gordon; »der Brunnen sprudelt durch +ein Bambusrohr in einer alten Hütte.« Auch dort wurde nichts weiter +erreicht. Johannes hatte vielerlei Begehren: Bogos, Massaua und andere +Städte, dann einen Abuna[13] (Erzbischof) und zwanzig bis vierzig +Millionen Mark, wollte aber seinerseits lediglich nichts einräumen. +Gordon versprach den Abuna, indem er seinen Privateinfluß geltend +machen wolle, aber Bogos und sonstige Ländereien werde Ägypten nicht +abtreten. Er wahrte die ihm anvertrauten Interessen und betrachtete +sich lediglich als des Khedive Sendboten. Johannes glaubte ihm in +persönlicher Weise beikommen zu können. »Sie sind ein Engländer und +ein Christ,« sagte er, worauf ihm Gordon rasch entgegnete: »Hier +bin ich ein Ägypter und Muselmann.« Als der Gesandte seine Bitten +zu Gunsten der Soldaten vorbrachte, wurde Johannes zornig und hieß +ihn seiner Wege gehen. Einen Brief an den Khedive werde er ihm +nachschicken. + +Und so begab sich Gordon auf den Rückweg. Der Brief wurde ihm auch +nachgesandt; er lautete folgendermaßen: »Ich habe das Schreiben +erhalten, das Sie mir durch ~jenen Menschen~ sandten; ich will +keinen geheimen Frieden mit Ihnen schließen. Wollen Sie Frieden, so +wenden Sie sich an die Sultane von Europa.« Auf dem Rückweg wurde +Gordon, sei es mit, sei es ohne des Königs besonderen Befehl, von +dessen Vater mit hundert und zwanzig Abessiniern überfallen und +gefangen genommen. Mehrere Tage lang wurde er im Lande hin- und +hergeschleppt und mußte sich viel Widerwärtigkeiten gefallen lassen. +Geld erwies sich als den Schlüssel, der ihn schließlich durchließ; es +kostete ihn achtundzwanzigtausend Mark, Massaua zu erreichen. + + »Das durchgemachte Elend lasse ich unbeschrieben,« sagt Gordon, + »Gottlob, es ist vorüber. Zwischen zwei Abessiniern zu schlafen, ist + kein Vergnügen, und so verbrachte ich meine letzte Nacht in diesem + Land.« + +Den König Johannes schildert Gordon als einen grausamen, +halbverrückten Menschen. + +So endete diese ganz nutzlose Mission, und Gordon kehrte nach +Ägypten zurück. Auch in diesem Jahre (1879) lagen über dreitausend +Kilometer Kamelritt hinter ihm und zwölfhundert hatte er in +Abessinien auf Maultieren zurückgelegt. In den drei Jahren seiner +Oberstatthalterschaft beliefen sich seine Kamelreisen auf etwa +vierzehntausend Kilometer. Abgesehen von den Schwierigkeiten, dem +neuen Khedive zu dienen, war es Zeit, daß er sein Amt niederlegte; der +britische Konsulatsarzt in Kairo fand seine Nervenkraft erschöpft und +ihn auch sonst leidend; die körperliche Übermüdung, die vielen Sorgen +und die ungenügende Nahrung der letzten drei Jahre hatten selbst +einer eisernen Gesundheit, wie der seinigen zugesetzt. Er sollte +nach England zurückkehren und ruhen. Der Abschied von Kairo war kein +angenehmer; es gab noch Verhandlungen mit den Pascha, denen er stets +die Wahrheit sagte. Aber er konnte Ägypten nicht anders machen als es +war; einem der Pascha schickte er zu guterletzt noch telegraphisch +das Wort: »Mene Mene Tekel Upharsin«, und dann schiffte er sich nach +England ein. Mochten die Pascha denken was sie wollten, die Wünsche +von Tausenden geleiteten ihn. Im Sudan blieb er dem Volk in dankbarer +Erinnerung als ~der gute~ Pascha. So lang er da war, waltete +Gerechtigkeit im Land; als er fort war, wußten es die Unterdrückten +nur zu gut, was sie an ihm verloren hatten. + + + + + Sechstes Buch. + + Zwischenzeit. + + +Gordon sollte in England der Ruhe pflegen. Das war leichter gesagt, +als gethan. Energischen Naturen ist oft nichts eine größere Last als +das Nichtsthun. Gordons Erholungszeit war eine kurze. England empfing +seinen Helden mit Genugthuung, die Presse sprach von ihm als dem +»ungekrönten König«. Man wußte von seinem heroischen Kampf gegen den +Sklavenhandel, man bewunderte den unscheinbaren bescheidenen Mann, +der waffenlos das Werk einer Armee vollbracht, den Held von Gottes +Gnaden; man ärgerte sich über den Khedive, der seinen besten Diener +so wenig zu schätzen wußte, und man sagte sich, daß wenn ausländische +Einflüsse sich nicht geltend machten, der Sklavenhandel alsbald aufs +neue erblühen werde, da Gordon Afrika den Rücken gewandt habe. Daß +nicht viele Jahre vergingen, ehe das Land in schlimmerer Lage war als +vorher, ist eine bekannte Thatsache. + +Im Grunde aber kannte England seinen Helden doch nicht; erst seit +es ihn verloren, hat das Land ihn wirklich schätzen lernen. Daß +man seiner in englischen Diensten nicht zu bedürfen schien, ist +erklärlich, wenn man bedenkt, was für ein Mann er war. Seine Stärke +lag in dem Glauben, der Berge versetzt; höheren Orts mochte er als +eine Art Fanatiker gelten, der nicht überall zu brauchen war: Paule, +du rasest! Auch bei seiner diesmaligen Anwesenheit in England ging +Gordon geflissentlich allen Ehren aus dem Wege; mit wahrer Kriegslist +soll er die Leute umgangen haben, die ihn gern eingeladen und zum +großen Mann gemacht hätten. Er verbrachte mehrere Wochen mit den +Seinen und zog sich dann (im Winter 1880) nach Lausanne zurück. Einen +Sohn seines kurz vorher verstorbenen Bruders nahm er mit sich. + +Ein englischer Geistlicher, der ihn daselbst kennen lernte, beschreibt +ihn folgendermaßen: »Der Fremde war von nur mittlerer Größe und +wohl gebaut; sein Gesicht von tiefen Linien durchfurcht; seine +schöne breite Stirn und ein sehr entschlossener Mund schienen auf +ungewöhnlichen Ernst des Denkens, sowie auf praktischen Verstand zu +deuten. Er schien beides, sanft und stark; eine gewisse Weichheit +lag in seiner wohllautenden kraftvollen Stimme und sprach aus seinen +ausdrucksvollen blauen Augen. Nach einiger Zeit redete er mich an, +und da ich leidend war, so erbot er sich mir zur Begleitung auf +kurzen Spaziergängen. Unsere Unterhaltung wandte sich bald auf Dinge +des Glaubens, und die Unmittelbarkeit, die Einfachheit und der tiefe +Ernst, mit dem er sich darüber aussprach, machte einen großen Eindruck +auf mich.« Mehrere Tage vergingen und sein neuer Freund erfuhr zwar +seinen Namen, hatte aber keine Ahnung, daß er es mit dem Gordon Chinas +und des Sudans zu thun habe. Weder sein Gespräch, noch sein Aussehen +verriet es. Als der Geistliche eines Tages in sein Zimmer trat, fand +er ihn über arabischen Dokumenten. »Das sind Todesurteile,« sagte +Gordon aufsehend. »Todesurteile! ei, wer sind Sie denn?« rief der +Geistliche fast entsetzt. »Wissen Sie das nicht?« entgegnete er ruhig; +»ich war Generalgouverneur vom Sudan, und bin es noch dem Namen nach; +indem ich nun diese Schriftstücke unterzeichne, ist's damit zu Ende.« +Gordon stand damals in seinem achtundvierzigsten Jahr. + +Nach London zurückgekehrt bot sich ihm neue Arbeit an. Die +Leute trauten ihren Ohren nicht, als sie hörten, der gewesene +Generalgouverneur vom Sudan hätte die Stelle eines Privatsekretärs +unter dem neuernannten Generalgouverneur von Indien, Lord Ripon, +angenommen. Daß er damit sozusagen vom Herrn zum Diener wurde, das +war, sofern es Gordon betraf, nicht das Erstaunliche, denn er schätzte +eine Stellung überhaupt nur, insoweit sie ihm einen Wirkungskreis bot, +Gutes zu schaffen; aber es war ein verfehlter Schritt, und bald genug +sollte er das selbst einsehen. + + »In einer schwachen Stunde,« schrieb er, »hatte ich die Stelle + angenommen. Aber kaum war ich in Bombay gelandet, so sah ich auch, + daß ich auf einem solchen unverantwortlichen Posten nicht hoffen + konnte, einen guten Zweck zu erreichen. Überdies war es mir alsbald + klar, daß meine Ansichten mit denen der übrigen Beamten durchaus + nicht harmonierten, und so legte ich die Stelle nieder ... Es war + besser, die Sache rasch vom Zaun zu brechen, noch ehe ich von + Staatsgeheimnissen Kenntnis erhielt, die mich unter diesen Umständen + nichts angingen. Ich hätte ja freilich ein paar Monate bleiben können + und dann einen bösen Finger oder sonst was kriegen, was meinen + Abschied motiviert hätte. Aber die übernommene Arbeit war mir eine so + verhaßte, daß es besser war, sie sofort niederzulegen, um so mehr, + als das Urteil der Welt mir ganz gleichgültig ist ... Es gehört mit + zu den Geheimnissen der Vorsehung, daß wir Menschen manchmal (in + gutem Glauben) Schritte thun und sie alsbald bereuen; so ging es mir, + indem ich diese Stelle annahm.« + +Die wahre Erklärung ist die, daß ihm klar wurde, er werde sich nie mit +einer Verwaltung einigen können, die dem reichen Indien große Schätze +entzieht, ja fürstliche Gehälter für englische Beamten, während über +Millionen Hindu ein übers anderemal Hungersnot hereinbricht. Mit +derlei Regierungsresultaten konnte er »durchaus nicht harmonieren«. +Er hat übrigens mit dem ihm eigenen Humor folgendes als Grund seines +Rücktritts angegeben: »Wie kann ich einen Posten bekleiden, auf dem +fortwährend Toilette zu machen ist -- Frack zu Festessen, Frack zu +Soireen, Frack zu Bällen, Frack und Orden, Orden und Frack -- kein +Wunder, daß ich davonlief!« + +Er beschäftigte sich als nächstes mit dem Gedanken, sich nach Sansibar +einzuschiffen, um den dortigen Sultan zu einem Unternehmen gegen die +Sklavenhändler zu bewegen, als ihm eine Aufforderung von seinen alten +Freunden in China zuging, sie zu besuchen. Das Telegramm lautete: +»Bitte, kommen Sie und urteilen Sie selbst. Es ist eine Gelegenheit +Gutes zu thun, die benutzt werden sollte. Arbeit, Stellung, +Bedingungen lassen sich gewiß zu Ihrer Befriedigung ordnen, wenn Sie +hier sind. Nehmen Sie sechs Monate Urlaub und kommen Sie!« Die Antwort +des »ungekrönten Königs« war seiner würdig: + + »Gordon kommt mit erster Gelegenheit nach Shanghai -- Bedingungen + ihm gleichgültig.« + +Seine Regierung zögerte mit dem Urlaub, da man nicht recht wußte, +was zu Grunde lag. Hierauf erklärte er dem Kriegsministerium seinen +Wunsch, aus englischen Diensten entlassen zu werden, und schiffte +sich nach Hongkong ein. Er wußte selbst nicht, was er in China etwa +für Arbeit finden würde -- es war eine Zeit drohender Feindseligkeiten +zwischen den Chinesen und Russen -- das aber wußte er und hatte +es auch seiner Eingabe beigefügt, daß er Friede und nicht Krieg +zu befürworten gedachte. Endlich gewährte man ihm den gewünschten +Urlaub und gab ihm sein Entlassungsgesuch zurück. In Petersburg +war die Aufregung nicht gering, als es bekannt wurde, daß der +»Chinesen-Gordon« nach China unterwegs sei. ~Der~ Mann war ja +eine bedenkliche Verstärkung des Feindes. + +In China traf Gordon mit seinem alten Kampfgenossen, dem Staatsmann +Li, zusammen und ließ sich die Sachlage von ihm erklären. Da schien +es ihm abermals das allein Richtige, seine Stellung als englischer +Offizier niederzulegen, um zu Rat und That freie Hand zu haben. Er +telegraphierte nach London: + + »Nach Unterredung mit Li-Hung-Tschang wünscht derselbe mein + Hierbleiben. Ich kann China in dieser Krisis nicht im Stich lassen + und wünsche Freiheit, nach Gutdünken zu handeln. Ich bitte daher mein + Abschiedsgesuch zu gewähren.« + +Sein Aufenthalt in China war zwar ein kurzer, aber lang genug, +um nicht nur jenem Land, sondern einem ganzen Weltteil einen +unschätzbaren Dienst zu leisten; denn ihm ist es zu verdanken, daß +ein Völkerkrieg zwischen Rußland und China nicht zum Ausbruch kam. Er +war ein Militärgenie, wie es wenige giebt; er hatte es aber längst +gelernt, kriegerische Ehren für nichts zu achten, und freute sich, +einen Einfluß zu besitzen, der einem großen Land den Frieden erhielt. +Er hinterließ außerdem den Chinesen allerlei guten Rat; man hatte dort +nicht vergessen, was man diesem Manne verdankte, und hörte ihn gern. +An Li hatte er jetzt seine Freude. Dieser hatte seit der Taipingszeit +Gordons gute Meinung gerechtfertigt und sich als einen der tüchtigsten +Berater der Regierung im blumigen Land erwiesen. Und was China seither +an Fortschritt erreicht hat, ist sein Werk. Als er den Mann wieder +sah, von dem er so viel gelernt hatte, fiel er ihm um den Hals und +küßte ihn. Der stets siegreiche General ist seither aus dem Kampf +dieser Welt in den »großen Frieden« hinübergegangen, in China aber +ist sein Einfluß, wie Li in jenem Brief sagte, mit seiner Person nicht +verschwunden. + + + + + Siebentes Buch. + + Bei den Basuto. + + +Im Winter 1881 finden wir Gordon wieder in England. Die +Zeitungsschreiber fingen an sich zu wundern, was man wohl als nächstes +von ihm hören werde. Das Kriegsministerium hatte auch sein zweites +Entlassungsgesuch nicht angenommen. Er hätte am liebsten schon damals +einen langgehegten Plan ausgeführt und sich im heiligen Lande eine +Zeit der Ruhe gegönnt, aber noch lagen andere Dinge dazwischen. Es +war das Jahr der irischen Wirren. Er machte einen Besuch auf der +Schwesterinsel und fand, daß die niederen Volksschichten daselbst -- +aus was für Ursache war ihm gleichgültig -- elender und verkommener +sind als die Armen irgend eines andern ihm bekannten Landes. Der +hoffnungslose Zustand Irlands schnitt ihm ins Herz. Mit seiner +gewohnten Freimütigkeit veröffentlichte er seine Ansichten in der +Times, die von dem Gedanken ausgingen, daß eine Nation, die s. Z. +vierhundert Millionen Mark für die westindischen Neger erübrigen +konnte, ein ähnliches für die Irländer zu thun im stande sein dürfte. +Seine an sich höchst beachtenswerten Vorschläge waren aber viel zu +opferwillig, als daß sie den maßgebenden Kreisen eingeleuchtet hätten. +In gewohnter Weise leerte er seinen eigenen Beutel in Irland und mußte +sich von einem Bekannten in Dublin zur Rückreise nach London aushelfen +lassen. + +Um diese Zeit erreichte eine Todesnachricht England, die ihn tief +betrübte: am 30. April 1881 war Romulus ~Gessi~ im französischen +Spital zu Suez nach längerem Leiden gestorben. Der tapfere Italiener +war ein Opfer des Landes geworden, für das er mit Gordon sein Leben +eingesetzt hatte. Kehren wir für einen Augenblick in die Bahr el +Ghasal zurück. Nachdem Gessi dort den Sklavenhändlern den Garaus +gemacht hatte, blieb er daselbst als Statthalter. Nun das Greuelwesen +unterdrückt war, konnte er das fruchtbare Land einen Garten nennen. +Die Schwarzen hielten sich zu ihm und Land und Leute schienen sich +von dem Jammer zu erholen. Gordons Nachfolger in Khartum aber, kein +anderer als jener berüchtigte Rauf, den Gordon früher wegen Tyrannei +zweimal gezüchtigt hatte und in welchem die ägyptische Regierung +ihren Ersatzmann zu erblicken schien, als sie Gordon verlor, machte +es ihm unmöglich, in seiner Stellung zu verbleiben. Am 25. September +1880 legte er sie nieder, als gerade ein Dampfer die Reise nilabwärts +unternahm. Lassen wir ihn das entsetzliche Ende selbst erzählen: + +»Zu spät sah ich meine Thorheit ein. Die Grasverstopfungen im Nil +hatten sich aufs neue angehäuft, und das Boot war der schweren Arbeit, +sich durch den Ssett zu ringen, nicht gewachsen. Die Maschine war +eine schwache, nur vierzig Pferdekraft, und durch die Nachlässigkeit +des Kapitäns war sowohl der Holzvorrat als die Zahl der Matrosen +viel zu gering. Die vorhandene Nahrung war für fünfundzwanzig Tage +berechnet, wir waren drei Monate unterwegs; fünfhundertsechzig Seelen +waren an Bord, und obgleich wir Tag und Nacht arbeiteten, war an kein +Vorwärtskommen zu denken. Die Nahrung ging zu Ende. Meine Soldaten +wurden mutlos; weithin nichts als Sümpfe, und Hungersnot in der +schrecklichsten Lage war unser Los. Es waren einige Sklavenhändler +an Bord, die ich sehr gegen ihren Willen nach Khartum mitnahm; diese +verbreiteten die Nachricht, daß ich sechzig Säcke voll Korn versteckt +hielte; ich konnte die Soldaten nur heißen, das Schiff durchsuchen +und essen was sie fänden. Dann behaupteten die Händler, ich hätte +das Korn (vor der Abfahrt) verkauft; Drohungen wurden laut, und von +da an ging ich nur mit geladener Pistole umher. Die Hungersnot nahm +zu. Zuerst wurden die Lederüberzüge der Betten gegessen und dann +das Schuhwerk. Im Fluß fand sich hie und da eine nahrungshaltige +Pflanze, aber leider in geringer Menge. Und zuletzt nährten sich die +Lebendigen von den Toten. Was mich am Leben erhielt, war zuweilen +ein Fisch, den meine Diener mit einem gebogenen Draht fingen. Ein +Nugger begleitete uns, und so lange der Besitzer desselben Nahrung +hatte, teilte er sie großmütig mit mir. Gern wären wir zurückgekehrt, +aber vor uns und hinter uns hatte der Wind die entsetzlichen Massen +zusammengetrieben, und weithin war durch heftigen Regen das Land ein +See. Das Holz gebrach und wir verbrannten ein Boot. Der Tod lichtete +unsere Reihen täglich; zuerst starben die Kinder, dann die Weiber. Der +Truppenbefehlshaber schloß sich in seine Kajüte ein und erwartete sein +Schicksal. Niemand wollte mehr arbeiten; nur der Kapitän, zwei Heizer, +vier Matrosen und der Steuermann unterstützten mich noch. Langsam +brachten wir das Schiff vorwärts, aber es war wenig genug, was wir mit +ausgehungertem Körper leisten konnten. Soweit das Auge reichte, saß +das Boot wie in einer dichten Wiese fest. Überall um uns her lagen die +Toten; niemand rührte einen Finger, die Leichen zu entfernen. Die Luft +war verpestet und das Wasser auch. Aasvögel waren unsere Gäste. Von +den fünfhundertfünfzig Seelen, welche die Reise antraten, waren nach +zwei Monaten noch hundert übrig -- hundert Skelette, nicht menschliche +Körper. Am letzten Tag des Jahres machte ich mein Testament und +legte es auf den Tisch in meiner Kajüte. Nach zwei Tagen hörte ich +Schüsse, es war ein Signal des Dampfers »Bordeen« von Khartum. +Unsere Abreise dorthin war telegraphisch gemeldet worden; aber der +Generalgouverneur besann sich lang, bis er uns Hilfe entgegenschickte. +Der »Bordeen« hatte eine tüchtige Maschine und schleppte uns bald +durch den Ssett. Auf dem uns erlösenden Dampfer fanden wir eine Bande +von Sklavenhändlern, die landaufwärts wollten, um aufs neue ihre +Menschenjagd zu beginnen: neues Elend, Raub, Mord und Qualen jeder Art +erwartete die armen Stämme, die kaum angefangen hatten, aufzuatmen. +Um ein bißchen Elfenbein zu erlangen, sollte wieder Blut in Strömen +fließen. An einer Station fanden wir eine Herde gestohlener Ochsen +und tausend Sklaven. Die Händler, die sich wie Heuschrecken von allen +Seiten her einfanden, kauften die Armen und trieben sie vor sich her.« + +Gordon wußte nur zu gut, daß menschlich geredet sowohl er als Gessi +vergeblich gearbeitet hatte. Auf seinem Weg nach Mauritius kehrte er +in Suez ein und besuchte das Grab seines Kampfgenossen. + +Gordons nächster Aufenthaltsort nämlich war die Insel Mauritius; er +begab sich dahin als Ingenieur-Kommandant. Einer seiner Mitoffiziere +war zu dem Posten ausersehen, fand sich aber aus Familienrücksichten +bewogen, einen Ersatzmann zu suchen, was nicht gegen die englische +Militäreinrichtung verstößt. Jeder andere hätte sich mit der auf diese +Weise übernommenen Stelle einer schönen Geldentschädigung erfreut. +Gordon machte hiervon eine Ausnahme; ihm genügte es, einem andern +einen Gefallen zu erweisen. Die zehn Monate, die er auf der schönen +Insel verbrachte, waren äußerlich eine stille und friedliche Zeit für +ihn. Berufsmäßig machte er verschiedene Vorlagen zur Beherrschung des +indischen Ozeans. Er besuchte die Seyschellen, deren Schönheit ihn so +entzückte, daß er schrieb: »Ich habe den Ort gefunden, wo einst der +Paradiesgarten war!« Seines Erachtens sind diese Inseln die Überreste +eines versunkenen Landes. Im März 1882 wurde er Generalmajor, und im +folgenden Monat begab er sich ans Kap. + +Die Verbindung zwischen der Insel Mauritius und der Kapstadt ist +keine sehr rege, aufs nächste Passagierboot hätte er wochenlang +warten müssen, das paßte nicht in Gordons Plan, er benutzte deshalb +ein kleines Frachtsegelschiff, das zufällig in Mauritius vor Anker +lag. Von dieser Reise, die einen vollen Monat in Anspruch nahm, +liegt ein hübscher Bericht vor. Der Kapitän, ein Schotte, führte ein +Tagebuch, in welchem allerlei Charakteristisches über Gordon seine +Stelle fand. So z. B. war Gordon, der sich auf vier Uhr nachmittags +angesagt hatte, erst um Mitternacht erschienen; er habe erfahren, +sagte er, daß man ihm in der Stadt ein Abschiedsfest zugedacht +hatte, er hasse dergleichen, habe daher am Morgen einen heimlichen +Ausflug aufs Land unternommen und sei erst bei Nacht und Nebel +zurückgekehrt. Am andern Vormittag war der zur Abfahrt sich richtende +Schoner nichtsdestoweniger von Gordons Freunden umlagert, die ihn +nicht fortließen, ohne ihm Lebewohl zu wünschen, und zwar waren diese +»Freunde« keineswegs nur seine Mitoffiziere oder Notabilitäten +der Stadt, vielmehr Arme, denen er gewohntermaßen Gutes gethan, +und Kinder! Unter den Kleinen, die ihm da ihre Anhänglichkeit +bekundeten, war ein Büblein, das Gordon der Schiffsmannschaft +als »mein Lieblingsschäfchen« vorführte. Das Bübchen brachte dem +berühmten Mann als Abschiedsgabe zwei Flaschen Wein, die Gordon mit +dem freundlichsten Lächeln von der Welt annahm, aber nicht selbst +trank; er soll selten ein Glas Wein getrunken haben. Kindern und +großen Kindern, d. h. Eingebornen, hat er allem nach seine beste Liebe +zugewandt. Der Generalgouverneur von Sudan hat sich mehr denn einmal +unter seine Schwarzen auf den Boden gesetzt und mit Thränen in den +Augen angehört, was sie ihm aus ihrem Leben erzählten. Kein Wunder, +hatte er solche Macht über sie! Einer englischen Dame, die er einst +in ihrer Kinderstube traf, sagte er: »Sie können wohl nichts im Leben +schwer nehmen mit diesen kleinen Geschöpfen um Sie her.« Man fragt +unwillkürlich, warum ging dieser Mann ~allein~ durchs Leben? Die +Gattin des Kapitäns auf jener Reise, die ihren Mann auf seinen Fahrten +begleitete, wagte eines Tages die Frage an ihren Gast, warum er sich +denn nicht verheiratet habe. Gordon schwieg ein paar Augenblicke, +dann sagte er langsam: »Ich habe nie eine kennen gelernt, die aus +Liebe zu mir bereit gewesen wäre, die Annehmlichkeiten des heimischen +Herdes und vielleicht liebe Verwandte zu verlassen, um mich dahin +zu begleiten, wohin die Pflicht mich ruft, vielleicht mit raschem +Entschluß ans Ende der Welt, eine, die bereit gewesen wäre, Gefahren +und Schwierigkeiten mit mir zu teilen, vielleicht mich zu stärken in +Stunden der Not. Solch eine habe ich nie kennen gelernt, und nur eine +solche könnte mein Weib sein!« + +Darauf ist nichts weiter zu sagen. + +Gordon litt sehr an Seekrankheit auf dieser Reise, und wollte +mehrmals ans Land gesetzt sein. Der Kapitän schreibt darüber in sein +Tagebuch: »Wie viel verschiedene Arten von Mut muß es doch geben!« +Ihn wunderte, daß den tapfern Gordon, doch gewiß ein mutvoller Mann +sondergleichen, die Seekrankheit so anfocht. Nach überstandenem Jammer +war es aber wieder Gordon, welcher aller Herzen auf dem Schiff gewann, +der kranken Matrosen wartete (es gab allerlei Krankheit an Bord) +ihnen vorlas und Stückchen aus seinem Leben erzählte. Dem Kapitän +gestand er eines Tags, tausend Mark sei zur Zeit sein ganzer irdischer +Besitz, und diese Summe hatte er dem Schotten angeboten, wenn er den +Kurs ändere und ihn ans Land setze. Unter seiner »fahrenden Habe« +befand sich eine Kiste, über deren Inhalt der Kapitän und seine Frau +vergeblich sich den Kopf zerbrachen: sie war voll Holz »vom Baum der +Erkenntnis des Guten und Bösen«, wie Gordon gelegentlich versicherte; +auf den Seychellen-Inseln wachse nämlich ein merkwürdiger Baum, +der sonst auf der ganzen Welt nicht anzutreffen sei, das müsse der +Baum des Paradieses sein. Die Stücke Holz, die er mit sich führte, +schätzte Gordon darum über alles! Diese zuversichtliche Idee wird +seinem »wahren Gottesdienst« keinen Eintrag gethan haben. Die +Schiffsmannschaft, die an jener Kiste ungläubig vorüberging, sah +Gordon auch mit seiner Bibel auf Deck, oft stundenlang in Gedanken +versunken, den Blick wie träumend aufs weite Meer geheftet. In solchen +Stunden wird das in ihm gewachsen sein, was ihn zum mutvollen Mann und +Helden von Khartum gemacht hat. + +Das südafrikanische Stück seiner Laufbahn ist als ein fruchtloses +bezeichnet worden, aber mit Unrecht; es sind nicht immer die äußeren +Erfolge, die den Wert einer Sache ausmachen. Der selbständige und +selten großmütige Charakter des Mannes tritt nie klarer zu Tag, als in +diesen kurzen Monaten seines sogenannten Mißlingens. + +Es ist bekannt, daß die Engländer seit einer Reihe von Jahren sich +sowohl mit den Boeren als auch mit den Eingebornen von Südafrika +überworfen hatten; verschiedene Kriege sind die Folge gewesen. Es +war besonders einer derselben, der Gordons Interesse erregte. Schon +im Frühjahr 1881 telegraphierte er an den Minister des Kaplandes: +»Der ›Chinesen-Gordon‹ bietet seine Dienste auf zwei Jahre an, um +Basutoland zu beruhigen,« d. h. den Krieg zu beendigen und die Basuto +im Wege der Verwaltung zu friedlichen Verhältnissen zurückzubringen. +Dieses Anerbieten blieb vorläufig unbeantwortet. Ein Jahr vorher +hatte die Regierung ihm die Befehlshaberschaft der Kaptruppen mit +einem Gehalt von dreißigtausend Mark angeboten, welchen Posten er +als einen rein militärischen abgelehnt hatte. Im Frühjahr 1882 nun, +als die Lage im Basutoland zu einer ernsten sich gestaltet hatte, +sprach man ihm telegraphisch den Wunsch aus, sein Anerbieten annehmen +zu wollen. Lediglich im Gedanken, daß er Gutes wirken könnte, +war er alsbald bereit, sich den Basuto zu widmen, und setzte mit +charakteristischer Selbstlosigkeit seinen Gehalt auf etwa die Hälfte +der angebotenen Summe herunter, »weil die Verhältnisse des Kaplandes +mehr nicht rechtfertigten!« Als er aber nach seiner unerquicklichen +Segelschiffreise die Kapstadt betrat, übertrug man ihm gerade jenen +Oberbefehlshaberposten über die Kolonialtruppen, den er zwei Jahre +vorher von England aus abgelehnt hatte, während er doch gekommen war, +sich der Basutofrage anzunehmen. Es scheint, daß ein anderer damit +beschäftigt war, die Angelegenheiten der Basuto zu verwalten oder +mißzuverwalten, und daß die Regierung den Mut nicht hatte, jenen +andern zu entfernen. Gordon ließ sich's in der Hoffnung gefallen, daß +die Umstände ihm den Weg bahnen würden. Es dauerte auch nicht lange, +so gestaltete sich die Grenzlage zu einer so drohenden, daß man ihn +beauftragte, sich durch eigene Anschauung hinsichtlich der Überfälle +der Boeren und der Unruhen im Basutoland zu orientieren. Das war im +Juni. + +Die Basuto sind ein interessanter Zweig der Kafferrasse, und zwar +der volkreichste und vorgeschrittenste, letzteres aus dem einfachen +Grund, weil das Christentum bei ihnen Eingang gefunden hat. Vor etwa +fünfzig Jahren hatte der Stamm einen Oberhäuptling Namens Moschesch, +auch »Herr des Berges« genannt, weil er einen Berg mit einer kleinen +Festung versehen hatte, die ihm und seinen Getreuen als Zuflucht +im Krieg dienen sollte. Die andern Stämme und selbst seine eigenen +Häuptlinge verwickelten ihn oft in Kämpfe; er selbst aber, obschon +tapfer und furchtlos, war ein friedliebender Mann. Er hatte von ++Dr.+ Moffat und anderen Missionaren gehört, die in benachbarten +Gegenden und besonders unter den Korannas arbeiteten, welcher Stamm, +von Natur ein kriegerischer, sich neuerdings friedlich verhielt. +Da schickte er dem Häuptling der Korannas eine Anzahl Ochsen zum +Geschenk mit der Bitte, ihm dafür »einen Beter zu senden, der die +Basuto in der Religion unterrichten könne, welche die Leute friedlich +stimme.« Evangelische Missionare aus Paris, die nicht lange vorher in +Südafrika angekommen waren und einen Wirkungskreis suchten, hörten +davon und besetzten das neue Arbeitsfeld. Moschesch empfing sie mit +Freuden und bestimmte selbst den Platz für ihre erste Station, am Fuß +seines Festungsberges. Moschesch lebte bis 1870. Vor seinem Scheiden +glaubte er Anzeichen einer besseren Zukunft für sein Land und Volk zu +erblicken. Eins seiner letzten Worte an die Missionare war: »Lasset +mich zu meinem Vater gehen, ich bin schon ganz bereit dazu!« Sein +letzter Wille lautete: »Laßt die Missionare nicht müde werden, mein +Volk zu unterrichten, besonders aber meine Söhne.«[14] + +Schon vorher hatten sich die Basuto im Pitso (jährliche +Volksversammlung) mit Begeisterung für »unsere Mutter die Königin +von England erklärt.« Man kann es nur bedauern, daß die britische +Kolonialpolitik dieses Volk gegen seinen Willen von der Kapstadt +aus regiert haben will. Sie hatten sich freiwillig der englischen +Regierung unterstellt unter Vorbehalt ihrer Rechte. Sie entrichteten +eine Kraalsteuer und waren es zufrieden, daß britische Beamten im +Land weilten. Indem aber ihr Wohlstand wuchs und ihre Zahl zunahm, +verdoppelte und verdreifachte sich die Steuer; anstatt nun den +Ertrag derselben zum Besten des Landes zu verwenden, bereicherte +derselbe vertragswidrig den Säckel der Kapregierung. Aber das allein +war's nicht, was die Basuto aufbrachte. Bekanntlich sind vor etwa +zwanzig Jahren ergiebige Diamantenfelder in Südafrika entdeckt +worden. Die Basuto strömten herzu, um als Taglöhner in den Gruben +zu arbeiten; statt in Geld bestand ihre Löhnung aber in Flinten +und Schießbedarf, ohne Zweifel ausgediente Militärwaffen, welche +die Eigentümer der Felder billig gekauft hatten. Die Kapregierung +wußte um diese Waffenverbreitung, ja sie hatte dieselbe genehmigt. +Auf diese Weise erlangten die Basuto beträchtlichen Kriegsbedarf. +Nach zehn oder zwölf Jahren entdeckte die Kapregierung das Mißliche +dieser Sache und erließ ein Entwaffnungsgesetz, die Basuto sollten +die Waffen ausliefern, welche sie durch ihrer Hände Arbeit und mit +dem Vorwissen der Regierung redlich erworben hatten! Es war eine +Ungerechtigkeit sondergleichen, und die Basuto verweigerten den +Gehorsam. So verwickelte sich die Kapregierung in einen Krieg, an +dem sie allein die Schuld trug und in welchem sie einen Vorteil +fürs nächste nicht erringen konnte. Das war die Sachlage, als sie +Gordon berief, der wie überall so auch hier mit seinem gerechten Sinn +alsbald auf den Grund sah. Er verfaßte einen Bericht, in welchem er +es unumwunden als seine Meinung erklärte, daß die Basuto weniger zu +tadeln wären als die Kapregierung; diese habe vor allen Dingen ihr +Unrecht gut zu machen und dann erst könne sie die Basuto zum Frieden +mahnen; übrigens liege der Hauptfehler darin, daß man die Basuto gegen +ihren Willen der unmittelbaren Regierung Englands entzogen und sie +der mittelbaren der Kapregierung unterstellt habe. Er schlug vor, +diesen Fehler dadurch gut zu machen, daß man die Basuto-Häuptlinge +zusammenberufe und die Bedingungen ihrer Unterwerfung unter die +Kapregierung mit ihnen berate. Außerdem riet er dringend, die loyale +Gesinnung der Basuto dadurch zu ehren, daß man ihnen das Bewußtsein +der unmittelbaren Verbindung mit England zu erhalten suche, indem +man einen Bevollmächtigten der britischen Krone in Basutoland wohnen +lasse. Man gab ihm keine Antwort. + +Die Mißhelligkeiten zogen sich hin, aber Gordons wärmste Teilnahme war +auf Seite der »feindlichen« Eingebornen, wie aus folgender Depesche +ersichtlich ist: + + »Es ist mir unmöglich, gegen Stämme zu kämpfen, gegen die + meines Erachtens ungerecht verfahren wird. Der Sekretär für die + Angelegenheiten der Eingebornen hat das Unrecht zugestanden, aber + ein solches Zugeständnis allein genügt meinem Gewissen nicht.« + +Es kann hiernach nicht wunder nehmen, daß Gordon nach wenigen +Monaten seine Stelle niederlegte. Ehe er jedoch vollständig mit der +Kapregierung brach, wurde er aufgefordert, als ~Privatmann~ nach +Basutoland zu gehen und mit dem Häuptling Masupha zu verhandeln. Er +nahm die Sendung an und ging allein und unbewaffnet. Daß er unversehrt +zurückkam, ist ein Wunder; denn während Gordon als Friedensbote bei +den Basuto verweilte, benutzte ein Kapminister die Gelegenheit, +einen andern Häuptling gegen Masupha aufzuhetzen. Es ist lediglich +Gordons persönlichem Einfluß zuzuschreiben, mit dem er stets das volle +Vertrauen der Eingebornen zu gewinnen wußte, daß er aus dieser Lage +unversehrt hervorging. Masupha sah, daß sein Gast an diesem Verrat +keinen Anteil hatte, und ließ es ihn nur mit verdoppelter Hochachtung +entgelten. Wenn solche Dinge in Südafrika seitens der Regierung +vorfallen, dann kann man sich nur mit Gordon auf Seite der Eingebornen +schlagen. Daß er daraufhin seinen Abschied einsandte und bei seiner +Abreise nach England die Kapstadt links liegen ließ, ist nicht mehr, +als von ihm zu erwarten war. + +Als Beweis, wie wichtig es ihm erschien, die Basuto auf +freundschaftlichem Wege bei ihrer Loyalität zu erhalten, bot er sich +selbst an und war willens, sich zwei Jahre lang um den geringen Gehalt +von sechstausend Mark bei dem Häuptling Masupha niederzulassen. Es war +ein Opfer der Uneigennützigkeit, dessen man jedoch entbehren zu können +glaubte. Zum Schluß noch seine Abschiedsrede an die Basuto, die ihn +durchaus als den gebornen Beherrscher von Eingebornen, ja als einen +Hirten der schwarzen Herde kennzeichnet: + + »Als ein Freund der Basuto bin ich hier; ich habe mich als ihr Freund + erwiesen, denn als man mich als Feind schicken wollte, um sie zu + bekämpfen, weigerte ich mich zu kommen. Nun ich aber hier bin, möchte + ich den Basuto Gutes thun. Die Basuto sind zum Rechten geneigt. Ich + frage den Häuptling und sein Volk: Wie kann Basutoland für die Basuto + erhalten bleiben? Und ich sage, daß die (britische) Regierung es + wohl meint mit dem Land. Die Königin wünscht nicht, daß die Kolonie + den Basuto ihr Land nehme; aber sowohl die Kolonie, als die Königin + fürchten, daß die Basuto von den Boeren aufgegessen werden, wenn sie + sich von ihnen zurückzieht. Ich mag die Boeren gut leiden, sie sind + tapfer und wollen unabhängig sein; als sie kämpften, war es für ihre + Freiheit. England hätte sie schlagen können, aber es wäre unrecht + gewesen. Was aber glauben die Basuto, daß den Boeren lieber ist -- + die Basuto oder ihr Land? Ihr Land meine ich wohl. Wenn nun die + Kolonie dieses Land sich selbst überließe, so hätten die Basuto bald + Not mit den Boeren und es gäbe Krieg. Ich blicke zehn Jahre voraus + und sehe boerische Anpflanzungen hier: das gefällt mir nicht, es + gefällt der Kolonie nicht, und der Königin nicht, und dem Basuto gar + nicht. Deshalb sage ich zu den Basuto: haltet euch an die Regierung. + Sagen die Basuto: Wir sind stark und können uns wehren und brauchen + niemand über uns, und wollen keine Steuern zahlen, so antworte ich: + mir persönlich ist es einerlei, ob sie Steuern zahlen oder nicht. Ich + kann sie nicht dazu zwingen. Aber mein Herz ist betrübt, wenn ich + an die Basuto denke. Ich sehe die Boeren hier, wie sie das Land an + sich reißen. Ich versetze mich in Masuphas Lage und frage mich: was + ist das Beste für mein Land und mein Volk. Ich weiß wohl, daß es in + Basutoland Leute giebt mit zwei Zungen. Ich aber denke, daß einer mit + ~einer~ Zunge die Wahrheit spricht. Ich glaube, daß Gott euch + zu Christen gemacht hat. Ihr seid Schafe unseres Herrn Jesu und Er + hat euch lieb. Wenn die Boeren euch aus eurem Lande verdrängen, so + ist es mir kein Verlust und kann uns allen gleichgültig sein, sobald + wir einmal begraben sind. Darin aber wünsche ich, daß die Basuto mir + folgen. Habt alle nur ~eine~ Zunge. Ich kann mich nicht schwarz + machen; ich kann den Masupha und sein Volk nicht zwingen zu thun, + was mir gut scheint, ich überlasse es dem Herrn Jesus, der alles + recht macht. Das ist's, was ich euch sagen wollte: thut, was euch + gut dünkt, aber überlegt es wohl, und bittet Jesus um Rat.« + + + + + Achtes Buch. + + Gordons Christentum. + + +Eine Zeit der Ruhe war endlich für Gordon gekommen: er verbrachte sie +nicht »im Bett bis Mittag« und dann mit »Austernessen«, wie er's im +Sudan einmal scherzweise als sein Ideal hingestellt hatte, sondern er +nahm seine Bibel und seine Meßinstrumente und ging nach Jerusalem, um +die Topographie der heiligen Stätten zu erforschen. Und zwar that er +dies ebenso sehr mit dem geschulten Auge des Ingenieurs, als mit dem +gläubigen Herzen des Christen. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen +waren originell, wie alles an diesem Mann. Seinen eigentümlichen +Ideen über Dinge, die er in Jerusalem gesehen, kann zwar nicht jeder +folgen; sie sind zum Teil absonderlich; der lebendige Glaube aber, der +dabei sein Herz erfüllt, ist ein leuchtendes Vorbild für uns alle. +Der Bischof von Derry sagt schön: »Gordon ist zwar kein berufsmäßiger +Theologe, aber er ist etwas viel Besseres; und ich meinesteils würde +mich scheuen, einen zu kritisieren, an dem ich in jeder Hinsicht nur +hinaufsehen kann, selbst wenn ich seiner Beweisführung nicht immer +vernunftmäßig beizutreten im stande bin. Er ist uns allen ein Vorbild +des Glaubens an den lebendigen Gott.« + +Vier Punkte waren es hauptsächlich, die Gordon beschäftigten; erstens +der wirkliche Ort der Kreuzigung; zweitens die Grenzlinie zwischen +den Stämmen Benjamin und Juda; drittens die Frage, wo die Hebroniter +wohnten, und viertens die Lage des Gartens Eden. Wie einer von Gordons +englischen Biographen treffend bemerkt, ist's der gläubige Christ +und der Mann vom Sappeur-Korps, den wir hier in einer eigentümlichen +Verschmelzung von Mystizismus und mathematischem Vermessungstrieb +begegnen; für den einsichtsvollen Kritiker ist es interessant, Gordons +originellen, wenn gleich etwas seltsamen Gedanken zu folgen. Wir +begnügen uns mit nachgehendem von mehr allgemeinem Wert. + +Gordon hat in Palästina fleißig mit der Feder hantiert und im Laufe +eines Jahres mehrere Tausend Briefseiten nach England geschickt. +Etliche seiner Freunde, insbesondere jener Geistliche, den er in +Lausanne kennen gelernt hatte, stellten dann aus diesen Briefen ein +Büchlein: »Betrachtungen in Palästina« (London 1884) zusammen, das +mit seinem Wissen und Willen bald nach seiner Abreise nach Khartum +veröffentlicht wurde. Die Herausgabe des kleinen Buches war eine Art +Vermächtnis, denn es ist bekannt geworden, daß Gordon die letzte +Reise nach Khartum mit dem bestimmten Vorgefühl antrat, er werde +England nicht wieder sehen. Von dem Büchlein hoffte er, es möchte +»manchen Gläubigen zu neuen Gedanken anregen und dazu beitragen, +daß Gottes Wohnungmachen in uns mit mehr Klarheit erfaßt werde. +Das ist das große Geheimnis (Ps. 25). Er schuf uns, um ein Haus -- +einen Tempel -- zu haben, in dem Er wohnen kann. Ohne uns ist er +wohnungslos. Er bedarf unser, und wie sehr bedürfen wir seiner! Es ist +mir ein Trost in meiner Schwachheit hier (in Khartum 3. März 1884) +zu wissen, daß Er alles leitet, und es ist die reinste Meuterei, im +Herzen oder gar mit der That gegen Seine Führung sich aufzulehnen. +Möge Sein Name verherrlicht werden; möge dieses arme Volk hier +gesegnet und getröstet werden; möge ich selbst gedemütigt werden, +damit ich die Gegenwart Seines Geistes in meinem Herzen um so gewisser +erfahren darf! Das ist mein ernstliches Gebet.« + +Gordon ging weiter als die meisten Christen, die sozusagen damit +zufrieden sind, daß Christus für sie genug gethan hat. Er suchte +Wachstum und fand die Heiligung in der Gemeinschaft mit Gott in +und durch Jesus. Daher erkannte er in den Sakramenten den von Gott +verordneten Weg, dieses große Ziel zu erreichen. Nicht, daß er in +der heiligen Taufe und im heiligen Abendmahl den ~einzigen~ Weg +erblickte, auf dem Gottes Gnade dem Sünder zu teil werden kann, aber +er verkündet ihren hohen Wert als wesentliche Bestandteile des Heiles +und des christlichen Glaubenslebens. Ihm steht es fest, daß jeder +Christ, Mann, Weib oder Kind, zur Priesterschaft Gottes berufen ist, +und daß die Glieder der wahren Gemeinde selbst vor den Engeln durch +die Gegenwart des heiligen Geistes ausgezeichnet sind, ja, daß sie wie +beim Pfingstfeste des heiligen Geistes voll werden können. + +Was die nachfolgende Übersetzung von Gordons Ansicht über die +Sakramente anlangt, so machen wir nochmals darauf aufmerksam, daß +wir es mit einem Teil der aus seinen Briefen zusammengestellten +»Betrachtungen« zu thun haben, also mit seinen eigenen von Freunden +zusammengetragenen Worten. Er ist daher nicht gerade für die +Zusammenstellung verantwortlich, doch hat er von Khartum aus die +ihm mitgeteilten Korrekturbogen gebilligt. Aus diesem Grund ist das +Nachstehende auch nicht als eine erschöpfende Betrachtung anzusehen, +wohl aber sind es tiefe Gedanken, die für den deutschen Leser um so +merkwürdiger sind, als weder die Wiedergeburt in der heiligen Taufe, +noch die wirkliche Gegenwart des Leibes und Blutes Jesu Christi im +heiligen Abendmahl im allgemeinen von den englischen Christen geglaubt +wird. + + + Die heilige Taufe. + +Die Taufe geht dem heiligen Abendmahl voraus; ihr Vorbild muß daher +auch in der Geschichte der ersten Menschen dem Essen der verbotenen +Frucht voraus gehen. + +Das Essen des Leibes und Blutes (Brot und Wein) im Sakrament dient +zur Ernährung und Belebung des neuen Menschen. Es bedingt sichtbare +Gestalt und äußerliche Handlung. Es schließt ein die Handlung eines +Wiedergeborenen. Die Taufe wird Wiedergeburt genannt. Sie ist das +Siegel der Einverleibung in den Leib Christi, die Kirche; sie wird +auch ein Begrabenwerden und Auferstehen genannt, ein Ablegen des +fleischlichen Leibes (Kol. 2, 11-12). + +Adams Geschichte besteht aus Geschaffenwerden, Essen, Tod. Die +heilenden Sakramente, Taufe und Abendmahl, sind die Fortsetzung dieser +Geschichte. Nach dem Genuß der verbotenen Frucht war der Mensch tot in +Übertretung und Sünde, von Gott getrennt und daher der innewohnenden +Gegenwart des heiligen Geistes verlustig. Die Taufe ist das Sakrament, +das den toten Menschen belebt -- seine Auferweckung; der Genuß des +Abendmahls erhält ihn am Leben. + +Durch das verbotene Essen verfiel der Mensch dem Tode; die Taufe +erweckt ihn aus dem Tode und das heilige Abendmahl nährt ihn vom Baum +des Lebens. + +In der Taufe wird ein Element -- Wasser -- eine materielle Substanz +mit des Menschen Leib in äußerliche Berührung gebracht; im Abendmahl +werden die Elemente, Brot und Wein, in des Menschen Leib aufgenommen. + +Im Essen liegt die Verbindung des heiligen Abendmahls mit dem Baum der +Erkenntnis des Guten und Bösen. + +Im Wasser liegt die Verbindung der Taufe mit einem vorsündlichen +Ereignis, und dieses Ereignis ist die Schöpfung. Die Geschichte +des Menschen ist Geschaffenwerden, Essen, Tod; Auferstehung oder +Neuschaffung oder Wiedergeburt, Essen und ewiges Leben. In der +Schöpfung müssen wir daher die Erklärung der Taufe suchen. »Im Anfang +schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer und der +Geist Gottes schwebete auf den Wassern.« + +Durch das Wort Gottes wurde die Erde aus den Wassern gerufen. Das ist +die Schöpfung, und wie des Menschen Leib aus Erde gemacht ist, so darf +man sagen, daß er aus den Wassern hervorgerufen worden ist durch das +Wort Gottes, durch den heiligen Geist. + +Hierin liegt die Analogie zwischen der Schöpfung, dem Ruf ins Leben, +und der Taufe. Die Erde war tot sozusagen bis sie ins Leben gerufen +wurde. So ist der Mensch tot sozusagen bis er wiedergeboren wird. +Der Zustand der Erde vor der Schöpfung war ein ~toter~. Der +fleischliche Mensch ist ~tot~. Der Zustand der Erde vor der +Schöpfung war gleich dem Zustand des Menschen, als der Engel ihn aus +dem Garten trieb. + +Was Gottes Wort durch den heiligen Geist an der Erde vollbrachte, als +es wüste, leer und finster auf der Tiefe war, das muß am fleischlichen +Menschen vollbracht werden, ehe er leben kann. Durch den Ruf Christi +und die Arbeit des Geistes kommt er zur Erkenntnis, daß er in einem +Zustand der Sünde und Finsternis tot ist; und das äußere Zeichen +solcher Erkenntnis ist, daß er getauft, bildlich untergetaucht wird +ins Wasser, das seine Rückkehr ins Nichtssein bedeutet und somit die +Neuschaffung ermöglicht. + +Und wie die Erde einst mit Wasser bedeckt und tot war, so bedeckt die +Taufe den Menschen bildlich mit Wasser, um seinen Tod anzudeuten, um +öffentlich zu bezeugen, daß er den Tod als seinen Lohn anerkennt; und +wie die Erde als eine neue Schöpfung aus dem Wasser hervorging, so ist +der Mensch nach der Taufe eine neue Kreatur und dazu geschickt, vom +Baum des Lebens im heiligen Abendmahl sich zu nähren. + +Ich sage damit nicht, daß die Taufe als äußerliche Handlung den +Menschen vom Tod errettet, wie ich auch nicht sage, daß das Abendmahl +einem andern als dem gläubigen Empfänger ein Genuß zum Leben ist. Die +Taufe ist ein Auferstehen vom Tod, und das Abendmahl ist ein Genuß +zum ewigen Leben. Die Taufe an sich macht den Menschen nicht zum +Christen. Wer nicht vorher ein Christ ist, der wird es nicht durch +die Taufhandlung. Nach Röm. 4, 10. 11 war die Beschneidung das Siegel +eines Bundes, dem Abraham durch den Glauben schon angehörte; ebenso +ist die Taufe das Siegel eines bereits bestehenden Bundes, welcher ist +ein Bund des Glaubens und des Innewohnens des heiligen Geistes. + +Und wie der Gläubige im Abendmahl des Leibes und Blutes Christi +teilhaftig wird, so wird der Gläubige in der Taufe aus dem Tod +erweckt, er empfängt im Wasserbad die Vergebung der Sünde und die +Einwohnung des heiligen Geistes, der schon an ihm gearbeitet hat; denn +wie könnte er glauben, wenn der heilige Geist seine Seele nicht in den +Stand setzte, zu bekennen, daß Jesus der Herr ist! + +Ich hebe es noch einmal hervor, daß 1) in der heiligen Taufe das +Element des Wassers mit dem Körper in äußerliche Berührung gebracht +wird; daß 2) im heiligen Abendmahl Brot und Wein in den Körper +aufgenommen werden; daß 3) das heilige Abendmahl in dem ersten Essen +(der verbotenen Frucht) sein Gegen- und Vorbild hat und daß es 4) +höchst wahrscheinlich ist, daß das andere Sakrament, die Taufe, in +analoger Weise auf ein vorsündliches Ereignis sich bezieht. Mir ist +schon lange der Gedanke gegeben worden, daß das dritte Kapitel des +Evangeliums Johannes so zu verstehen ist, daß zwischen der natürlichen +und der neuen Geburt ein Sterben liegt. Nikodemus verstand das nicht +(V. 4), so klar es scheint. Er meinte, daß das Fleisch geheilt und für +den Himmel geschickt gemacht werden könnte. Es war ihm unverständlich, +daß der natürliche Mensch, weil getrennt von Gott, wirklich tot ist. +Die Taufe ist also ein offenes Bekenntnis, daß der natürliche Mensch +hoffnungslos schlecht und tot ist und nichts Gutes zu thun vermag; und +daß sie bildlich ein Begrabenwerden des natürlichen Menschen und eine +Neuschaffung oder Auferstehung vom Tod enthält. Im Abendmahl verkünden +wir Christi Tod; die Taufe verkündet, daß der Mensch im natürlichen +Zustand tot ist und vom Tod erstehen muß. Ein neugeborenes Kind ist +tot in Gottes Augen, die Eltern aber, die es im Glauben zur Taufe +bringen, empfangen (an seiner Statt) die Verheißung. + +Ich kann nicht umhin, dafür zu halten, daß beide, die Taufe und +das heilige Abendmahl, mit des Menschen Leib zu thun haben, denn +die Elemente in beiden Fällen sind von dem Leib nicht zu trennen. +Die Elemente werden in der Taufe äußerlich, im Abendmahl innerlich +angewandt. + +Der aber ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das +nicht eine Beschneidung, die auswendig im Fleische geschieht (Röm. +2, 28. 29). Und ebenso bei der Taufe: der Mensch ist nicht darum ein +Christ, weil er getauft ist. Kann einer nicht glauben ohne getauft +zu sein, und kann in diesem Fall sein Nichtgetauftsein nicht als +Getauftsein angesehen werden? Es giebt viele Stellen in der Schrift, +die es klar zeigen, daß die Taufe an sich ohne Glaube kein nütze ist; +und daraus erkennen wir, warum viele, die getauft sind, den heiligen +Geist nicht haben. + +Meiner Meinung nach hätten sich die Ausleger, welche über Taufe und +Abendmahl geschrieben haben, manchen Irrweg gespart, wenn sie die +drei ersten Kapitel des ersten Buches Mose besser erwogen hätten. Mir +hat es seit Jahren Gedanken gemacht, was von der Taufe zu halten ist, +doch ist es mir schon vor etlichen Jahren klar geworden, daß zwischen +zwei Geburten ein Tod liegen muß (Joh. 3). Ich halte dafür, daß im +Taufwasser die Sündenschuld zurückbleibt, so wie natürliches Wasser +die Unreinigkeit der Gegenstände zurückbehält, die darin gewaschen +werden. Es scheint mir aber nicht, daß der heilige Geist das Wasser +in anderer Weise als Träger benutzt, als indem er es wirksam macht, +die Sünde abzuwaschen. Als Jesus (der, obgleich ohne Sünde, sich +als Mensch der Taufe unterzog) aus dem Wasser heraufstieg, kam der +heilige Geist über ihn. Gott ist aber nicht an die Taufe gebunden, +denn Johannes war voll des heiligen Geistes von Mutterleibe an, und +Kornelius hatte den heiligen Geist empfangen vor der Taufe. Die +Gläubigen gehen als Kinder Adams ins Taufwasser und gehen als Kinder +Gottes daraus hervor. + +Die Unterlassung der Taufe in gewissen Fällen anlangend, so fiel +der heilige Geist auf Kornelius, ehe er getauft war (Apostelgesch. +10, 44). Mag auch jemand das Wasser wehren, daß dieser nicht +getauft werde? Als Petrus und Johannes hinunter nach Samaria gingen +(Apostelgesch. 8, 15-16), fanden sie, daß auf des Philippus Predigt +hin die Leute glaubten und sich taufen ließen, sie empfingen den +heiligen Geist aber erst durch der Apostel Handauflegung. + +Aus diesen beiden Stellen ersehen wir, daß der heilige Geist nicht +notwendigerweise mit der Taufe dem Täufling gegeben wurde, daß er aber +auch nicht dem gläubigen Ungetauften versagt war. Paulus beschnitt +Timotheus um der Juden willen (Apostelgesch. 16, 3). Die Beschneidung +ist nichts und die Vorhaut ist nichts, sondern Gottes Gebot halten +(1 Kor. 7, 19). Um der Juden willen beschneidet Paulus zwar den +Timotheus, den Titus aber (Gal. 2, 3) will er nicht beschneiden. +Dies zeigt, daß er nach der jedesmal von Gott ihm gegebenen Einsicht +handelte. Indem er den Timotheus beschnitt, fügte er sich dem Urteil +der Juden, gegen welches zu verstoßen er sich gewissermaßen fürchtete; +oder warum hätte er sonst diesen jüdischen Gebrauch vollzogen? Wenn +ich sage, daß er fürchtete, den Juden Anstoß zu geben, so meine ich +damit, daß Gott ihm die Einsicht verlieh, daß es, um weiser Absichten +willen und zur Vermeidung der Uneinigkeit recht sei, sich zu fügen. +Ich glaube daher, daß wir z. B. gerechtfertigt wären, die Taufe bis +auf weiteres zu unterlassen, wo der öffentliche Fanatismus sich +dagegen auflehnt. Denn die Taufe macht einen nicht zum Christen, +so wenig wie die Beschneidung einen zum Juden macht. Das bildliche +Ausziehen des Fleisches durch die äußerliche Taufe ist nicht mehr +nütze, als das bildliche Abthun der Unreinigkeit des Fleisches durch +die äußerliche Beschneidung. + +Wie bereitwillig gewährte Paulus dem Kerkermeister die Taufe +(Apostelgesch. 16, 33). In derselben Stunde der Nacht, als dieser +ihm die Striemen abwusch, verkündete ihm Paulus das Wort des Herrn +und taufte ihn alsbald. Der Kerkermeister wusch des Apostels +Striemen, und der Apostel wäscht ihm im Wasserbad die Sünden ab. Die +Apostelgeschichte ist in erster Linie ein Missionslehrbuch; warum +sind wir denn so vorsichtig mit der Taufe unter den Heiden? Fehlt uns +selber der rechte Glaube? Paulus taufte in jener Nacht nicht nur den +Kerkermeister, sondern alle, die in seinem Hause waren. Zu Philippi, +der Hauptstadt des Landes (Apostelgesch. 16, 12), war das Gefängnis +gewiß groß und es waren ohne Zweifel viel Leute in des Kerkermeisters +Haus. Da drängt sich einem wohl die Frage auf, ob der Kerkermeister +und alle, die in seinem Hause waren, alle die Katechismusfragen +unserer heutigen Missionare hätten beantworten können! + +Was hat der Mensch durch jenes erste verbotene Essen verloren? (Ich +brauche nicht gern das Wort »Sündenfall« -- die Schrift nennt es +nicht so.) Er verlor den heiligen Geist. Was gewinnt der Mensch im +andern Essen? Er gewinnt den heiligen Geist. Es ist von Wert hierüber +nachzudenken. + +Der Verlust des heiligen Geistes ist Trennung von Gott, Tod; so sind +wir in Gottes Augen von Natur tot, und wenn wir in das Taufwasser +untergetaucht werden, so bekennen wir uns bildlich tot bei dem +Begräbnis im Wasser. + +Adam, der erste Mensch, entstieg dem Wasser der ersten Schöpfung. Er +sündigte, das ganze menschliche Geschlecht war in ihm und starb in +ihm, somit sind wir alle tot in den Augen Christi und verfallen damit +der Gemeinstatt aller, dem Grab, dem Orte der Toten. Wir bekennen, daß +wir beim Hineingehen ins Wasser der Taufe dasselbe sind, was Adam war. +Wir gehen mit dem neuen Adam, Christus, als neue Kreatur aus der Taufe +hervor. In ihm sind wir nicht länger tot; wir leben. Unser Hervorgehen +aus der Taufe ist unser Auferstehen, und in Ihm erhalten wir (was wir +vorher verloren hatten) den heiligen Geist, welcher unser Leben ist. + +In Adam sind alle Menschen geschaffen, sie sterben mit ihm, werden +zu Staub und gelangen an einen Ort, aus welchem sie alle kamen. Was +ist der Sammelplatz aller Menschen? -- Das Grab. Christus aber, der +zweite Adam, versammelt uns aus dem Grab in ihm selber, in der neuen +Geburt. Indem wir im Taufwasser untertauchen, verbildlichen wir +unsern Zustand; und indem wir uns so bildlich ins Grab des Wassers +legen, können wir daraus als neuer Mensch zu Christus gesammelt +werden. (Im Griechischen steht das Wort [Greek: synagôgê] [Sammlung], +gebraucht von dem Sammeln der Wasser ebenso wie [Joh. 11, 52] für das +~Zusammenbringen~ der Kinder Gottes, die zerstreut waren.) Die +Taufe besagt im Bild, daß wir im Taufwasser in den ersten Zustand 1 +Mos. 1 zurückkehren, und im neuen Adam, Christus, gehen wir daraus +hervor. Wir kosten vom Baum des Lebens. Wir gelangen zur Auferstehung, +die sich im 22. Kapitel der Offenbarung abspiegelt, wo von einem Strom +die Rede ist und vom Baum (Holz) des Lebens, von Gott und dem Lamme. + +Ehe der heilige Geist in uns erneut wird (es ist auf dieses Wort zu +achten, denn es deutet an, daß der Mensch ihn einmal besessen und dann +verloren hat), müssen wir im Bild begraben werden, müssen unsern Tod +und unsern hoffnungslosen Zustand erkennen. Denn wie das Salböl nicht +aus das Fleisch gegossen werden kann, so kann der Fleischlichgesinnte +den heiligen Geist nicht empfangen. Fleischlichgesinntsein ist eine +Feindschaft wider Gott und kann den heiligen Geist nicht empfangen +(Röm. 8, 7 und 9, ein gar ernstes Wort!). + +In der Taufe wird der natürliche Leib in der Erwartung gesäet, daß +der geistliche Leib auferstehe. In der Taufe bekennen wir uns zur +Notwendigkeit solchen Säens; wir bekennen, daß wir in natürlichem +Zustand zu nichts nütze sind als (mit dem verweslichen Körper) gesäet +und begraben zu werden. + +Der erste Adam wurde ins Leben gerufen und starb und ist bildlich +in der Taufe begraben. Der zweite oder letzte Adam, Christus, ist +der lebendigmachende Geist (der Herr vom Himmel), der von den Toten +auferweckt. + + Die Taufe ist eine Auferstehung aus der Verwesung. + Die Taufe ist eine Auferstehung aus der Unehre. + Die Taufe ist eine Auferstehung aus der Schwachheit. + + (1 Kor. 15.) + +Wir ersehen hieraus, daß die Taufe eine wichtige Sache ist. Denn die +wahre Taufe, sei es bei unmündigen Kindern durch ihre Stellvertreter, +die Paten, so diese gläubig sind, sei es bei Erwachsenen, ist der +Bedeutung nach ~nichts anderes als ein Bekenntnis, daß das Fleisch +nichts Gutes zu vollbringen vermag~. Und mir scheint, daß diese +Ansicht eine Stütze für die Kindertaufe ist, denn es handelt sich +darum, etwas das tot ist und das sich nicht selbst helfen kann zu +begraben. Ein kleines Kind ist tot hinsichtlich des eigenen Willens u. +s. w.; indem es nun bildlich durch seine gläubigen Stellvertreter in +der Taufe begraben wird, ergiebt sich hieraus die Hoffnung, daß es in +Christo auferstehen wird -- ja unser Glaube an Gott kann nicht anders +als dies glauben. + +Wenn es sich um einen Erwachsenen handelt, der von seiner +fleischlichen Natur frei werden möchte, an Christus glaubt und +getauft wird, so glaube ich, daß ein solcher den heiligen Geist in +seinem ~Leibe~ empfängt. Die Elemente des Segens, dessen er in +seinem ~Leibe~ teilhaftig wird, sind in dem einen Falle Brot und +Wein, in dem andern ist es Wasser, in welchem er den fleischlichen +~Leib~ ablegt. In beiden Sakramenten sind die Elemente stofflich, +und beide sind geheiligt für den Leib durch den heiligen Geist: +das eine zur Erhaltung des neuen Lebens in Christo, das andere zur +Auferstehung von den Toten in Christo, welcher ist der neue Adam. + +War nicht das Essen der verbotenen Frucht ein Zerreißen der Einheit +mit Gott und, infolge davon, die Bildung einer Einheit mit dem Satan? +Und was ist der Glaube anderes als eine Fähigkeit, die unmittelbar +aus der Gegenwart des heiligen Geistes kommt? »Niemand kann Christus +einen Herrn heißen, ohne durch den heiligen Geist,« auch andere +Stellen beweisen dies. Der Glaube ist eine unmittelbare Wirkung der +Einwohnung des heiligen Geistes. Da kann kein Glaube sein, wo der +heilige Geist nicht seine Wohnung hat. Einer der sagt, er glaube an +Christus, aber nicht an die Gegenwart des heiligen Geistes in ihm +selber, ist entweder ein Lügner und Ungläubiger, oder er macht Gott +zum Lügner. + +Daraus folgere ich, daß jedes Wort, jede That, jeder Gedanke, der +nicht aus der Gemeinschaft mit Christus durch den heiligen Geist +entspringt, genau dasselbe ist, was das Essen der verbotenen Frucht +war. Andererseits ist jedes Wort, jede That, jeder Gedanke, der durch +den heiligen Geist in der Gemeinschaft mit Christus wurzelt, ein Essen +vom Baum des Lebens. + +Ferner, gleichwie das Essen der verbotenen Frucht sowohl durch Wort +oder Gedanken, als durch die That geschehen kann (im verbotenen Essen +im Paradies gipfelten Gedanke und Wort in der That), so kann das +Essen von dem Baum des Lebens, Christus, auch durch Wort und Gedanke +geschehen, ist aber wesentlich eine That. Das Einssein mit Christus +durch die Einwohnung des heiligen Geistes ist das A und O alles +Lebens, und diese Anschauung empfiehlt sich selbst unserer Vernunft. +Das Ergebnis dieses Einsseins ist ein Fruchtbringen. Es bedarf keiner +Anstrengung; wenn wir das Einssein suchen und pflegen, so müssen die +Früchte des heiligen Geistes die natürliche Folge sein. + +Nur durch den heiligen Geist ist Leben oder Gemeinschaft mit Christo +möglich. Die Erlösung oder die Wohlthat des Sühnopfers unseres Herrn +kann nur dann von uns erfaßt werden oder uns zu gute kommen, wenn der +heilige Geist in uns wohnt. »Wer aber Christi Geist nicht hat, der +ist nicht sein.« Röm. 8, 9. Wer das nicht hat, was die Gemeinschaft +ausmacht, kann nicht mit Christo vereinigt sein. Und es ist klar, daß +die Ausgießung des heiligen Geistes erst die Folge von Christi Leiden +war; er konnte nicht eher herkommen, als bis Christus aufgefahren war. +Nach Christi Himmelfahrt kam der heilige Geist hernieder, nicht vorher. + +Wie mancher bekümmerten Seele wäre es ein unaussprechlicher Segen +zu wissen, daß der einzige Weg, um heilig oder Christus ähnlich zu +werden, der ist, die Gegenwart des heiligen Geistes in uns zu suchen +und zu pflegen. Die Früchte leugnen, welche der heilige Geist bringt, +hieße die Gottheit des heiligen Geistes leugnen. Wenn ich daran denke, +wie lange ich in der Irre ging und wie nutzlos ich mich abmühte am +alten Menschen zu flicken, so kann ich nicht genug Nachdruck hierauf +legen. Menschlich geredet, was für ein Segen wäre es für mich gewesen, +wenn einer mir mit dem Wort zu Hilfe gekommen wäre (es steht übrigens +deutlich genug in der Bibel): ›~Suche du des heiligen Geistes in +dir selbst gewiß zu werden und kümmere dich sonst um nichts!~‹ Wer +an Christum glaubt, der hat Gott den heiligen Geist lebendig in sich. +Diese Wahrheit im täglichen Leben zu pflegen ist alles was wir nötig +haben, und Er nährt uns durch die Schrift. Alles übrige kommt dann von +selbst. + + +Über die Verbindung zwischen dem Sündenfall und dem heiligen Abendmahl. + +In einem jüdischen Schulbuch fand ich die Geschichte des sog. +Sündenfalles ausgelassen, und als ich einen Rabbiner darüber +fragte, sagte er mir, daß die Juden dieselbe nicht als etwas +Wirkliches anerkennen, sondern alle ihre Gebrechen aufs goldene +Kalb zurückführen. Das ist begreiflich, denn sie meinen, sie können +durchs Gesetz gerecht werden, indem sie aber das goldene Kalb als +den Grund ihres Sündenfalles ansehen, ist ihnen der Sündenfall ein +jüdisch-nationales Ereignis. + +Betrachten wir den Sündenfall. + +Der Baum des Erkenntnisses des Guten und Bösen war ein Baum, an dem +man lernen konnte, was gut und was böse ist. Indem der Mensch von +diesem Baum aß, wurde er wie Gott, denn Gott der Herr sprach: Siehe +Adam ist geworden wie unser einer und weiß, was gut und böse ist. + +Auch ist zu bemerken, daß das Verbot, von dem Baum zu essen, gegeben +wurde, ~ehe~ das Weib aus Adams Rippe gebaut war; so daß Eva +~im~ Garten erschaffen wurde und Adam ~außerhalb~ desselben. +Und ~Adam~ wurde aus dem Garten getrieben; der Eva geschieht +dabei keine besondere Erwähnung. Dem Weib wurde kein Grund angegeben. +Zu Adam sprach Gott: »dieweil du gegessen hast.« Die Strafe des +Essens, der Tod, »du mußt sterben,« muß in Beziehung gebracht werden +zu dem Worte »weil du gegessen hast, verflucht ist der Acker, bis daß +du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde +und sollst zu Erde werden.« + +Eph. 2, 2. »In welchen (Sünden) ihr weiland gehandelt habt, nach dem +Lauf dieser Welt, nach dem Fürsten, der in der Luft herrschet, nämlich +nach dem Geist, der zu dieser Zeit sein Werk hat in den Kindern des +Unglaubens.« Der Fürst, der in der Luft herrschet, der Satan, hat also +sein Werk in den Kindern des Unglaubens (Ungehorsams), und er begann +dieses Werk im Menschen, als der Mensch im Ungehorsam gegen Gott von +der verbotenen Frucht aß. + +Wir dürfen annehmen, daß wenn Gott dem Menschen mit einer einzigen +Ausnahme alles gewährte, eben diese Ausnahme ihren Grund in dem +dem Menschen drohenden Schaden hatte. Hätte Eva nicht von dem, was +verboten war, gegessen, dann hätte der Geist des Ungehorsams, Satan, +sein Werk in ihr nicht beginnen können. Und wir mögen es betrachten +wie wir wollen, so viel ist klar, daß sie durch die Thatsache ihres +Essens dem Satan die Thür öffnete und er in ihrem Herzen Eingang fand. + +1 Kor. 10, 20 zeigt, daß den Götzen opfern einer Gemeinschaft mit +den Teufeln gleichkommt: »was die Heiden opfern, das opfern sie den +Teufeln und nicht Gott. Nun will ich nicht, daß ihr in der Teufel +Gemeinschaft sein sollt«. + +Der gesegnete Kelch aber ist die Gemeinschaft oder das +Teilhaftigwerden des Blutes Christi. Das Brot, das wir brechen, ist +die Gemeinschaft oder das Teilhaftigwerden des Leibes Christi, 1 Kor. +10, 16. + +Das Trinken vom Kelch des Herrn ist die Anteilnahme an des Herrn +Tisch; und das Trinken von der Teufel Kelch ist die Anteilnahme +an der Teufel Tisch. Durch dieses ganze Kapitel zieht sich die +Gegenüberstellung von zweierlei Essen, von zweierlei Opfern, und von +zweierlei Folgen solchen Essens (d. i. solcher Anteilnahme), von +zwei Genossenschaften, zwei Gemeinschaften, welche in der Thatsache +von zweierlei Essen und den Folgen solchen Essens gipfeln, nämlich +die Gemeinschaft mit dem Wesen, an dessen Tisch der Mensch sozusagen +sich setzt, welche Gemeinschaft ein Teilhaftigwerden der Eigenschaften +dieses Wesens bedeutet. + +Mögen wir nun über die Bedeutung der Worte streiten wie wir wollen, +so läßt sich's nicht hinwegerklären, daß nach Joh. 6, 56 Christus in +~dem~ Menschen wohnet, der sein Fleisch ißt und sein Blut trinkt; +und nach dem 53. Vers dieses Kapitels haben wir kein Leben in uns, +so wir das nicht thun. Darnach ist es klar, daß dieses Essen sein +Wohnungmachen in uns bedeutet; während nach 1 Kor. 10 ebenfalls klar +ist, daß solche, die den Teufeln opfern (oder mit ihnen Gemeinschaft +haben, was nach V. 20 dasselbe ist), auch den Teufeln in sich Wohnung +verstatten. Nun kann darüber kein Zweifel sein, daß Evas Essen +vom verbotenen Baum eine Gemeinschaft mit dem Teufel war, erstens +darum, weil der Satan wirklich mit ihr verkehrte, zweitens weil es +nicht eine Gemeinschaft mit Gott war, und drittens weil es im Geist +des Ungehorsams geschah. Dabei lasse ich alle Opfer des mosaischen +Ceremonialgesetzes außer Frage und beschäftige mich nur mit dem +Sündenfall und der Wiederherstellung des Zustandes vor dem Fall, in +welcher der Hauptpunkt das Sakrament ist, durch welches wir des Herrn +Tod verkünden, bis daß Er kommt. + +Wir glauben, daß Brot und Wein kraft göttlicher Einsetzung die +werkzeugliche Ursache des geheimnisvollen Teilhaftigwerdens Christi +ist, wodurch Er ganz unser wird und wir so eng mit ihm verbunden +werden, als sein Fleisch ~sein~ Fleisch und sein Blut ~sein~ +Blut ist. Durch Brot und Wein, durch das Essen und Trinken seines +Leibes und Blutes, d. h. durch die thatsächliche Handlung solcher +Nießung wird das feste Band geknüpft. Dabei glauben wir nicht, daß das +Brot Fleisch wird und der Wein Blut, so wenig als die verbotene Frucht +verwandelt worden ist. + +Ich denke, es steht fest, daß der Fürst, der in der Luft herrschet, +darum Eingang in uns fand und in den Kindern des Unglaubens sein Werk +hat, weil Eva und Adam von der verbotenen Frucht aßen. Sie traten +aus der Gemeinschaft mit Gott und wurden der Gegenwart des heiligen +Geistes verlustig, durch den wir Gemeinschaft mit Gott haben. Dies +führt zur Wiederherstellung in Christo, wenn er uns die Gemeinschaft +mit dem heiligen Geist wiederherstellt, »die Verheißung des Vaters« +und ein Unterpfand des Erbes. Nach Rom. 8, 11 wird der Geist des, +der Jesum von den Toten auferwecket hat, unsere sterblichen Leiber +lebendig machen durch den Geist, der in uns wohnet. Ich denke mir, daß +der heilige Geist zuerst mit der Seele in Gemeinschaft ist, und daß +Er dann durch die erweckte Seele den sterblichen Leib auferweckt. Da +der heilige Geist nur in geistiger Weise an der Seele arbeiten kann, +die geistiger Natur ist, so fragen wir, auf welche Weise kann der Leib +erfaßt werden, der durch eine thatsächliche Handlung (durch Essen) +der Gewalt des Bösen anheimfiel? Ich beantworte diese Frage mit aller +Vorsicht, aber es erscheint mir sowohl vernunft- als schriftgemäß, +daß er durch dasselbe Mittel auch wieder geheilt wird, das den Fall +bewirkte und dem Teufel den Zugang verstattete, nämlich ~durch +Essen~. + +Das Sakrament von des Herrn Nachtmahl steht in enger Verbindung mit +der Auferstehung des Leibes. »Wer mein Fleisch isset und trinket mein +Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am jüngsten Tage +auferwecken.« Und wir wissen, daß, so wir würdig zu seinem Sakrament +kommen, wir seinen Leib in unsern Leib und sein Blut in unser Blut +empfangen zur Reinigung von aller Sünde. Wäre es denkbar, daß unsere +Leiber je umkommen könnten, nachdem sie einer so engen Gemeinschaft +mit der Gottheit teilhaftig geworden sind, als das Essen seines Leibes +und das Trinken seines Blutes in sich schließt? + +Wir müssen annehmen, daß der Leib beim Sündenfall in vorzüglichem Maße +thätig war, denn er genoß thatsächlich, was verboten war, und hier bei +diesem zweiten Essen ist ebenfalls der Leib in demselben Maße thätig. +Beim ersten Essen brachte der Leib die Seele zum Opfer (denn der Seele +konnte es an sich nichts verschlagen, ob gegessen wurde oder nicht); +beim zweiten Essen bringt die Seele den Leib zum Opfer. Beim ersten +Essen trug der Leib den Sieg davon; beim zweiten Essen bleibt der +Seele der Sieg. + +Warum sind wir alle so tot? Warum wird unser Fleisch nicht belebt? +Viele unter uns sind wahre, ernste Christen. Warum sind sie so +trübselig? Sie haben die Barmherzigkeit Gottes in Christo erfahren, +aber es ist, als ob die Seele bei ihnen an einen Leichnam gefesselt +wäre -- an ihren Leib. Sie glauben oder hoffen, daß sie ihrer +Seligkeit gewiß sind, aber sie werden dieser Gewißheit nicht froh. +Warum schleppen sie den toten Leib mit sich herum? Er atmet den Geruch +des Verderbens aus, er ist träge und beschwerlich. Kann er nicht zum +Leben gebracht werden? Wahrlich ich glaube, ~der Grund des Übels +liegt in der Mißachtung des heiligen Abendmahls~. Wenn er auch +ein toter Leib ist, so kann er doch essen; und wenn die Seele durch +den heiligen Geist zum Leben erweckt ist, warum sollte sie den toten +Leichnam nicht zu bewegen suchen, den Leib und das Blut Christi in +sich aufzunehmen, woraus ihm Leben zu teil werden wird. Es mag zuerst +nur ein schwaches Fünklein sein, ja es mag scheinen, als ob er nur um +so mehr Verwesung von sich ausscheide, aber er wird bald voll Leben +sein und dieses Leben wird das ewige Leben sein. Er wird den Tod nicht +schauen, sondern die Auferstehung des Lebens. + +Was für Vorbereitung ist nötig um zu essen? Ich meine, wenn ~ein~ +Baum mit einem Zaun zu umgeben ist, so ist es der Baum der Erkenntnis +des Guten und Bösen, denn dieser Baum existiert noch immer. Aber +hüten wir uns, den Baum des Lebens einhegen zu wollen! Gott selbst +hat uns den Weg dazu in Christo bereitet. Es ist gar nichts nötig +als das eine: »Ich bin krank; ich möchte gesund werden; ich hasse +und verabscheue mich selbst; ich habe nur schwache Hoffnung, daß es +mir Segen bringen wird, aber ich will Ihm vertrauen, und zu seinem +Gedächtnis will ich thun, was Er mich thun heißt.« Kann jemand am +Erfolg zweifeln? In Summa -- nichts ist nötig als erstens Kranksein, +zweitens Verlangen nach Gesundheit und drittens Gehorsam gegen des +Herrn Gebot. + +Ich glaube, die meisten geben das erste und das zweite zu. Warum nicht +auch das dritte? Es ist so gar wenig, und wie unendlich ist der Segen. +Zweifelst du, so laß mich dich an die verbotene Frucht erinnern; wie +gering schien die Übertretung, und die Folgen waren derartige, daß der +allmächtige Gott selbst ins Fleisch kommen und den Tod leiden mußte, +um den Schaden zu heilen. + + + Du solltst nicht davon essen. -- Nehmet, esset. + +Was für Anstrengungen machen die Menschen, um körperliche Leiden +zu heilen, was für Summen läßt man es sich kosten. Welche +Krankheitsdiagnosen werden gemacht und doch -- selbst die wirksamsten +Arzneien können das sichere unausbleibliche Ende nur um ein kurzes +hinausschieben. Wahrlich, wenn man es sich so angelegen sein läßt, +körperliche Leiden zu untersuchen, wie viel mehr sollte man die +Ursache und das Heilmittel der geistlichen Krankheit erforschen. Denn +daß wir geistlich krank und nicht so sind, wie wir sein sollten, daran +zweifelt wohl keiner. + +Wenn im natürlichen Leben ein Gift in den menschlichen Körper geraten +ist und ihn mit seiner schädlichen Wirkung durchdringt, so muß in +denselben Körper ein Gegengift aufgenommen werden, um mit seinen +heilenden Kräften jene bösen Folgen zu vernichten. + +Einer, der vergiftet ist, fragt nicht lange, auf welche Weise das +Gegengift wirkt; er versteht die gute Wirkung des Gegengiftes +vielleicht so wenig, als er die schädliche Wirkung des Giftes zu +erklären weiß; er weiß nur, daß er leidet und geheilt werden möchte. +Er nimmt das Gegengift in gutem Glauben; vielleicht hat er auch das +Gift sozusagen in gutem Glauben genommen, denn im allgemeinen sucht +der Mensch sich nicht selbst zu vergiften. Der Mensch sucht auch nie +das Böse, weil es böse ist; er sucht vielmehr etwas (vermeintlich) +Gutes im Bösen. Es genügt dem Menschen also zu wissen, daß er +geistlich vergiftet ist, um Heilung zu begehren. + +Ist es ein Zufall, daß das erste Gebot Gottes, das Er dem Menschen +gab, und eines der letzten Gebote Christi an seine Jünger, und durch +sie an die ganze Welt, beides von einem Essen handelt? Gott sprach: +»~Du sollst nicht davon essen~« -- Jesus spricht: »~Nehmet, +esset, das ist mein Leib!~« + +Eine wirkliche Substanz (Brot) soll in den vergifteten Körper +aufgenommen werden, und zwar nach dem ~Gebot~ des Herrn, und sie +ist der Träger, durch welchen Christus dem vergifteten Körper seine +göttlichen Eigenschaften mitteilt; gerade so, wie die ~verbotene~ +Frucht der Träger war, durch welchen der Teufel dem Körper seine bösen +Eigenschaften mitteilte und ihn vergiftete. + +Der Mensch aß in völliger Unwissenheit hinsichtlich der Folgen des +Essens von der verbotenen Frucht, denn er konnte nicht wissen, +~was~ der Tod sei; ebenso kann der Mensch in völliger Unwissenheit +hinsichtlich der Folgen vom Brot des Sakraments essen. + +In jenem Fall aß er im Vertrauen auf sich selbst und im Mißtrauen +gegen Gott und in Gemeinschaft mit dem Teufel. + +In diesem Fall soll er im Vertrauen auf Gott und im Mißtrauen gegen +sich selbst essen und in Gemeinschaft mit Gott. + +Der Welt ist dieses wie jenes eine Thorheit, aber es ist Weisheit bei +Gott. + +Wir sagten vorhin, der Mensch sucht nie Böses, weil er böse ist, +sondern er sucht (vermeintlich) Gutes im Bösen. Eva suchte Gutes in +der verbotenen Frucht, aber sie suchte es im Vertrauen auf sich selbst +und im Mißtrauen gegen Gott. + +Ein kleines Kind kann verstehen, daß es ein Heilmittel braucht, +wenn es krank ist, und nimmt selbst eine widrige Arznei von seiner +Mutter, weil es ihr vertraut. Der Mensch kann deshalb das sakramentale +Gegengift verstehen, wenn er weiß, daß er geistlich vergiftet ist; +aber der höchste Verstand kann weder ergründen die Tiefe des ersten +Bundes mit Satan, noch die des zweiten Bundes mit Christus. + +Ich frage nun, ~was ist nötig, damit der Mensch esse von diesem +Sakrament~? Nichts, als daß er seine geistliche Krankheit erkenne +und geheilt werden möchte. Die meisten Menschen wissen es auch wohl, +daß sie krank sind, und wären auch gern gesund. + +Warum wird das Gegengift im Sakrament so vernachlässigt? weil es so +einfach ist, darum hält es die Welt für Thorheit und des Herrn Tisch +ist verachtet. (Mal. 1, 7.) + +Zum Schluß noch die Frage: ist nicht das Abendmahl des Herrn das +einzige aus der sichtbaren Kirche, was auch im Himmel bleiben wird? +(Luk. 22, 18.) Es ist wesentlich das Hochzeitsmahl der Kirche; es ist +das äußerliche Pfand des gegenseitigen Einwohnens des Menschen in Gott +und Gottes im Menschen. (Offenb. 3, 20.) + + * * * * * + +Mit solchen Gedanken beschäftigte sich Gordon während jenes Ruhejahres +im heiligen Land. Im Juli schrieb er seinem Freund: »Es ist ein Gefühl +der Ermattung über mich gekommen, ~nicht der Unzufriedenheit~, +aber ein Verlangen, die Bürde abzuwerfen. Ich glaube, daß es gut für +mich ist, hier zu sein, sonst wäre ich ja nicht hier, und Gott schenkt +mir tröstliche Gedanken, aber der Körper ermattet, und es scheint +mir ein selbstsüchtiges Leben. Doch sind alle Forschungen, die ich +hier mache, interessant, und mein gottgeschenkter Glaube verhindert +mich, es für ein nutzloses Leben zu halten.« Es ist die Energie des +Mannes, die hier zum Vorschein kommt; er will nicht nur glauben, er +will seinen Glauben auch bethätigen. Bei den Londoner Maiversammlungen +1885 hat Missionar Hall aus Jaffa einer großen Versammlung unter +atemloser Stille von seinem acht Monate langen Umgang mit Gordon +erzählt. In den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft sagte Gordon zu ihm: +»Ich habe keine rechte Ruhe, ich bin in dieses Land gekommen, um eine +Zeit lang in der Stille zu sein, mich mehr mit dem Wort Gottes zu +beschädigen und nebenher die heiligen Stätten zu untersuchen. Aber +es befriedigt mich nicht; ich bin unruhig, ich muß etwas für Gott +thun. Glauben Sie, wenn ich nach Jaffa käme, daß ich dort Arbeit +finden könnte?« Die Folge der bejahenden Antwort des Missionars +war, daß Gordon sich in Jaffa einmietete. »Eines Tages,« erzählte +Hall, »erhielt ich ein Schreiben von dem Komitee des Inhalts, daß +ein Missionshaus in Nablus (Sichem) errichtet werden sollte und daß +Baupläne einzusenden seien. Ich schrieb an den Missionar Fallscheer +in Nablus, worauf dieser mich in Jaffa besuchte und es beklagte, daß +er nichts vom Baufach verstehe. In Jaffa gebe es keinen Baumeister, +und sich bei einem Baumeister in Jerusalem Rats zu holen, sei eine +kostspielige Sache. Ich gab das zu und entgegnete: »Es ist eben ein +Mann hier, der sich aufs Planzeichnen versteht; ich weiß zwar nicht, +ob man ihn damit belästigen darf -- wir wollen es aber versuchen.« +Und so begaben wir uns in Gordons Wohnung. Wir hatten uns nicht den +günstigsten Augenblick gewählt, denn es war vormittags, welche Zeit +Gordon der Betrachtung des Wortes Gottes widmete. Wir fanden ihn in +Hemdärmeln an seinem Tisch sitzen. Er erkundigte sich nach unserm +Begehren. »Wir möchten Ihren Rat holen wegen eines Missionshauses, +das in Nablus gebaut werden soll,« sagte ich, und um unserm Bedürfnis +nach Bauplänen näher zu kommen, fügte ich dies und jenes hinzu. Da +unterbrach er mich: ›Ich weiß, was Sie wollen -- Sie brauchen nicht so +vorsichtig mit mir zu reden; Sie möchten einen Beitrag haben.‹ Darauf +erwiderte ich, daß wir keinen Beitrag von ihm wollten, wohl aber etwas +Besseres als Geld, nämlich die Baupläne, wenn er sie uns entwerfen +wolle. ›Baupläne,‹ rief er, ›ei gern!‹ und nahm sofort Papier und +Bleistift zur Hand, notierte sich wie viel Zimmer nötig seien, was +für Fenster und Thüren, was die Lage des Bauplatzes sei u. s. w. Noch +am Abend desselben Tages brachte er uns die schönsten Pläne, die man +sich denken konnte. Am andern Tage bestellten wir Handwerksleute, +und Gordon machte einen Kostenüberschlag für jeden. Das Missionshaus +steht jetzt in Nablus. Einige Zeit später sagte ich ihm, daß ich +mich fast gefürchtet hätte, ihn um die Baupläne zu bitten. ›Meinen +Sie, ich hätte Ihre Bitte übel genommen,‹ sagte er. ›Wozu bin ich +denn nach Jaffa gekommen, habe ich Ihnen nicht gesagt, daß, wenn Sie +mir etwas für das Reich Gottes zu thun geben könnten, Sie mir einen +Dienst erweisen würden? Ich war nicht recht mit mir zufrieden, weil +ich mich ins heilige Land zurückgezogen hatte, anstatt mit meinen +Kräften mich in Gottes Arbeit zu stellen.‹ In diesem Sinn hatte er +die Pläne entworfen.« Missionar Hall fügte dem bei, daß er von Gordon +mehr Aufschluß über geistliche Dinge erhalten habe, als sonst von +irgend einem Menschen, mit dem er je in seinem Leben zu thun gehabt. +Gordon fand auch sonst in Jaffa Arbeit von der Art, wie er sie in +Gravesend gefunden hatte. Ein bekannter schottischer Geistlicher, der +kürzlich in Palästina reiste, kam mit einem armen Dragoman zusammen, +der ihm nicht genug davon sagen konnte, wie Gordon ihn und seine Frau +in Krankheit besucht und in Ermangelung eines Stuhles sich mit seinem +neuen Testament auf den Boden gesetzt habe, um ihnen von Christus +zu erzählen. Dabei hatte er ausfindig gemacht, daß sie eine große +Doktorrechnung hätten, und diese in aller Stille bezahlt. In Jerusalem +und den Dörfern umher habe er den Armen viel Gutes gethan, und diese +trauerten um ihn, wie um ihren Vater. + +Überall wo Gordon hinkam, dasselbe Urteil über ihn! Er aber sagt: »Wie +wenig Christus-ähnliche Menschen giebt es doch -- wer unter uns ist +Ihm gleich? Keiner, bis alles von uns genommen ist; dann erst können +wir werden wie Er und eins sein mit Ihm. ›Selig sind die geistlich +Armen, denn das Himmelreich ist ihr,‹ heißt es; und nur die Armen ohne +Geld und ohne Ansehen im vollen Sinne des Wortes können durch die +dunkle Grabesthüre zu der Ruhe eingehen, die uns behalten ist .... Ich +wollte, daß alle die Gewißheit des ewigen Lebens hätten! Es ist ja +gerade, ~weil~ wir arm und unwert sind, daß wir Eingang finden. +So lange wir uns für besser halten als andere, sind wir weit vom +Himmelreich entfernt. Wir müssen den Gedanken fahren lassen, daß wir +im geringsten bei Gott etwas zu gut haben könnten, wir sind ja ~alle +und nur~ seine Schuldner. Nach Ephes. 2, 10 sind wir zu guten +Werken geschaffen, in denen wir wandeln sollen. Wenn uns Gott also +vorher dazu bereitet hat, daß wir dies oder jenes Gute vollbringen, +wo bleibt da noch Ehre für uns?« Nicht genug kann er es betonen, daß +man alles, im großen wie im kleinen, Gott anheimstellen soll; es gäbe +nicht so viel unzufriedene Gesichter in der Welt, meint er, wenn die +Leute das lernten. Der Glaube, daß Gott im Regiment sitzt, sei ihm +sein lebenlang eine unversiegbare Quelle der Kraft gewesen, die ihn +nicht nur für die Gegenwart und Zukunft stark mache, sondern die ihm +selbst das Vergangene zurecht bringe. Das sei es ja, was der Herr +von uns haben möchte, daß wir ›seine Freunde‹ seien, und nicht seine +Knechte. Und wenn Er uns in eine schmerzliche Lage geraten lasse, so +geschehe dies darum, damit wir Ihn um so besser kennen lernten und +an uns selber erführen, wie stark Er ist, zu helfen. Gordons völlige +Gleichgültigkeit gegen das Urteil der Menschen ist die Kehrseite +dieser Gotteszuversicht, und Menschenlob nennt er eine Trennungswand +zwischen der Seele und ihrem Gott (Joh. 12, 43). + +Aus einem Briefe vom 4. Juli 1876: + +»Das menschliche Leben ist eine Rückreise zu unserm Urquell, Gott, +der sich uns als die ewige Wahrheit, Liebe, Weisheit und Allmacht +offenbart hat. Als Begriffe erkennen wir diese seine Eigenschaften +bereitwillig an; das ist aber kein Herzensglaube. Wir stoßen auf +Widersprüche, wir sind blind. Er öffnet uns die Augen nach und nach, +und hilft uns durch manches sogenannte Unglück ihn immer besser kennen +lernen. Er offenbart sich verschiedenen Menschen in verschiedener +Weise, aber das Endziel aller ist, ~Ihn zu erkennen~. So wie der +Mensch in diese Welt geboren ist, hängt ein Schleier vor seinen Augen, +der ihm Gott verhüllt. Dem in der Christenheit aufwachsenden Menschen +tritt Gott in beidem, im geschriebenen und im Mensch gewordenen Wort +nahe, aber wenn er dies auch mit seinem Verstand erfaßt, so ist in +diesem Leben doch vieles unverständlich, und der Schleier bleibt. Jede +schmerzliche Erfahrung aber und jede Prüfung macht einen Riß in die +Hülle und er ~sieht~ dann, was er vorher nur als toten Buchstaben +geglaubt hatte ... Ein Samenkorn göttlichen Wesens ist in unser Herz +gelegt; und dieses Gottgeborene in uns sollte dem Ausgang des Kampfes +zwischen Fleisch und Geist ruhig entgegensehen können. So oft der +Geist über das Fleisch Herr wird, so oft giebt es einen weiteren Riß +in der Hülle und wir erkennen Gott immer besser. Wenn dem Fleisch der +Sieg bleibt, so verdichtet sich der Schleier. Zuletzt aber, wenn das +Unausbleibliche, der Tod eintritt, dann reißt der Schleier mitten +entzwei und das völlige Schauen beginnt. Das Fleisch ist überwunden, +der Geist aber lebt.« + +Geben wir noch ein Schlußwort Gordons. Es ist ein Wort, das er vor +einer Reihe von Jahren geschrieben hat, er hätte es in jenen letzten +Monaten schreiben können, als er von seinem Volk verlassen, mit seinem +nie wankenden Heldenmut in Khartum eingeschlossen war: + +»Die Welt ist ein weites Gefängnis mit grausamen Hütern. Einsam und +verlassen sitzen wir in unseren Zellen und warten auf Erlösung. An den +Wassern der irdischen Freude und vollen Genüge weilen wir -- so denkt +das Fleisch und der Irdischgesinnte; aber es sind die Wasser zu Babel +voll Jammer für unsere Seele, und wir sitzen und weinen, wenn wir der +Heimat gedenken, von der ein so schmaler Strom, der Tod, uns trennt. + +»Unsere Harfen hängen an den Weiden, und unsere Widersacher heißen uns +fröhlich sein, wir sollen ihnen ein Lied singen, als wären wir daheim. +Wie aber sollen wir des Lammes Lied singen im fremden Lande, die wir +in der Wildnis sind, wo niemand uns kennt? + +»O wären wir doch daheim, wo die Gottlosen aufhören mit ihrem Toben, +und ~die~ ruhen, die viele Mühe gehabt haben; wo der Kampf zu +Ende ist und die heiße Arbeit vorüber, wo die Krone des Lebens uns +werden wird; wo wir Ihn schauen werden, der all unsere Not kannte, +der unser Elend mit uns trug, der unserer müden Seele Trost gab. Und +siehe, es ist kein neuer Freund, es ist der alte! + +»Bist du müde? Er war es auch. Bist du betrübt? Er war es auch. +Findest du dich in deiner Liebe unverstanden und begegnet man dir mit +Kälte? Ihm ging es nicht besser. + +»In Seinem großen Erbarmen hat Er sich unter all Seine Brüder +erniedrigt. Wie müde, wie einsam, wie betrübt war Er auf dieser Erde; +ein Mann der Schmerzen, der Leid trug mit Geschrei und Thränen. Und +sollten wir über unser Elend murren, das doch bald vorüber ist? Bringt +nicht jeder Tag uns der Heimat näher? Kein dunkler Fluß, sondern +zerteilte Wasser liegen vor uns; und der Welt bleibt ihr Lohn. Sie ist +Erde, und wir schütteln ihren Staub von den Füßen. + +»Ich hörte eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Schreibe, selig sind +die Toten, die in dem Herrn sterben. Ja der Geist spricht, daß sie +ruhen von ihrer Arbeit -- ruhen von Trübsal, von Mühe und Last, von +Herzweh, Thränen, Hunger, von all dem Jammer seufzender Seelen, die +hier im Gefängnis, ohne Frieden sind, von Krieg und Kriegsgeschrei und +allem Hader. + +»Es ist eine lange, mühselige Reise, aber schon sehen wir das Ziel. +Die Meilenzeiger unserer Jahre fliegen dahin, und für die Last jedes +Tages wird uns die Kraft gegeben, die uns not ist (5 Mos. 33, 25. +englische Übersetzung). Wer weiß wie nahe das Ende, wie bald der +Pilger daheim sein wird im schönen Lande, wo Ströme lebendigen Wassers +fließen, wo keine Not mehr sein wird, noch Leid, noch Schmerzen, und +wo er ewig ruhen darf bei seinem himmlischen Freund. + +»Der Sand verrinnt -- Tag und Nacht, Nacht und Tag -- schüttle du +nicht das Glas. Trage deine Last, leide wie Er litt.« + + + + + Neuntes Buch. + + Khartum. + + + 1. Der Mahdi. + +Während Gordon sein stilles Jahr in Palästina verlebte, gelangte man +daheim zur Erkenntnis, daß der Zustand in den Armenquartieren der +reichen »City« ein Schandfleck für England sei. Es war das Jahr, +in dem »der bittere Notschrei Londons« in allen Ohren wiederklang. +Es wurden Untersuchungen eingeleitet, und die Enthüllungen, die +es gab, entsetzten die feine Welt. Wohl war es teilweise ein +Sensationsinteresse, es lag ein gewisser Kitzel darin, die sogenannten +untersten Schichten aufzuwühlen, aber man fing doch ernstlich an, auf +Besserung der Zustände zu drängen. Es wurden Komitees ernannt und +Sitzungen gehalten, auch in der Folge mancherlei gethan. Ob das Los +der Armen seither ein merklich gebessertes ist, bleibe dahingestellt; +dergleichen wird wohl weniger durch Komitees, als durch einzelne +Menschen erreicht, denen die Liebe gegeben ist, unter den Elenden zu +leben. Es giebt solche, aber ihrer sind wenig. Der Notschrei drang +bis ins heilige Land, und Gordon lieh ihm ein williges Ohr; ja er +fing an, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob es in Whitechapel +und Spitalfields nicht eine ähnliche Arbeit für ihn gebe, wie s. Z. +zu Gravesend, ob ein Leben der Samariterliebe im Herzen von London +nicht die Lösung für seine Zukunft wäre, die ihn nur um so völliger in +Anspruch nehmen würde, als der Jammer in jenen Höhlen der krassesten +Armut und Verkommenheit weit über dem steht, was in der kleinen +Themsestadt zu finden ist, deren Gassenjungen seine »Prinzen« waren. + +Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Während Gordon sich in Gedanken +mit seinen armen Brüdern und Schwestern in der englischen Hauptstadt +beschäftigte und die Aussicht ihm eine liebe wurde, sich dieser +»Innern Mission« zu widmen, brachte anderswo ein König ganz andere +Pläne zu Papier und versah sich des Träumers in Palästina, als des +Mannes, der sie ihm verwirklichen sollte. + +Es war der König von Belgien, der in Gordon den Mann erblickte, +welcher als Stanleys Nachfolger die Hoffnungen des »freien +Kongostaats« ihrem Ziel entgegen führen sollte. Wahrscheinlich +hat Stanley selbst auf Gordon hingewiesen; und dieser war zu +allem bereit, was dazu dienen konnte, dem Sklavenhandel im Innern +von Afrika entgegen zu arbeiten und den umnachteten Weltteil den +Einflüssen christlicher Zivilisation zu erschließen. Der Plan war kein +geringerer, als vom Kongo aus dem Njamnjamlande und den Gebieten +der Rituellen beizukommen und auf diese Weise die verschiedensten +Negerstämme zu einem Bund gegen die Sklavenwirtschaft im Sudan zu +vereinigen. Es war gegen Ende des Jahres 1883, daß die belgische +Aufforderung Gordon erreichte. Schon drei Jahre vorher, als er sein +Amt im Sudan niederlegte, hatte er bei Gelegenheit einer Audienz in +Brüssel seine Bereitwilligkeit ausgesprochen, dem König in dieser +Sache zu dienen, wenn es sich so fügen sollte, daß man seiner +bedürfe. Und als dieser ihn nun an sein Versprechen mit dem Bemerken +erinnerte, daß der Zeitpunkt gekommen sei, der unter Gordons Leitung +zu den schönsten Hoffnungen am Kongo berechtige, war es die gewohnte +Schlagfertigkeit des Mannes, die stehenden Fußes die palästinischen +Studien abbrach und die Pläne hinsichtlich der Armen Londons auf +eine künftige Zeit verschob. Er wartete nicht einmal ein richtiges +Passagierboot ab, sondern verließ Jaffa bei erster bester Gelegenheit +mit einem Frachtschiff, das ihn um ein kleines mit samt der Ladung +auf den Meeresboden gebettet hätte. Am letzten Abend des Jahres 1883 +erreichte er Genua und nahm den Schnellzug durch die Neujahrsnacht +nach Brüssel. Es war der Anfang des für ihn so verhängnisvollen Jahres +1884, aber noch ahnte er nicht, daß Khartum sein Ziel war. Er gedachte +der Kongo-Arbeit, die seiner harrte, und seine Seele war stille zu +Gott. + + »Ich war allein in meinem Koupé,« schrieb er den Freunden in Jaffa, + »und habe auch ~an euch alle gedacht~!« + +Und die Freunde in Jaffa wußten, was er damit sagen wollte. Sie +gehörten mit zu der Liste von etlichen hundert ihm Nahestehender, +deren er vor Gott gedachte. Wer diese Liste hätte durchsehen können +-- ein König hier, ein alter Netzstricker dort, die seine Fürbitte +brauchten! + +Der belgische König war entzückt, einen so trefflichen +Bevollmächtigten gewonnen zu haben, und Gordon ging nach England, um +sich von den Seinen zu verabschieden. Sein Entlassungsgesuch aus dem +englischen Dienst hatte er eingesandt. Noch vor Ende Januar wollte +er wieder in Brüssel sein, um von dort die Reise nach dem Kongo +anzutreten. Wie ganz anders sollte es kommen! + +Daß im Sudan alles drunter und drüber ging, wußte er. Kein Jahr war +vergangen, nachdem er seine Statthalterschaft niedergelegt hatte, +da kamen Hilferufe genug von Khartum her, welche den guten Pascha +zurückverlangten, der allein im stande war, dem geknechteten Volk +eine Schutzmauer gegen seine Unterdrücker zu sein. Der Sklavenhandel +war neu aufgeblüht und von Ägypten war keine Rettung zu erwarten. Die +englische Bevormundung der ägyptischen Frage, die sich kurzer Hand als +eine Koupon-Politik bezeichnen läßt, hatte nicht viel Gutes erreicht; +und sowohl die englischen als die ägyptischen Minister waren viel zu +sehr von dem Arabi-Aufstand in Anspruch genommen, als daß man Zeit +gehabt hätte, im Sudan zum Rechten zu sehen. Dort war unter Gordons +Nachfolger in der Statthalterschaft, jenem berüchtigten Rauf Pascha, +eine böse Zeit angebrochen. Die Erpressung seitens der Beamten war +ärger denn je, und als im Mahdi ein angeblicher Befreier sich erhob, +war der Zündstoff im Lande in einer Weise angehäuft, daß der Aufruhr +wild empor loderte. + +Wie es mit der Gelderpressung durch übermäßige Besteuerung aussah, +beschrieb der Times-Korrespondent Power, den Gordon in Khartum +vorfand, und der einer der drei Engländer war (Gordon und Stewart die +beiden andern), die des Landes Märtyrer wurden. + +»Wenn die Leute hier ihre Acker bebauen wollen,« lautete der Bericht, +»so müssen sie eine Steuer zahlen; und um Wasser aus dem Nil auf +ihre Äcker zu leiten, ohne welches das Land nutzlos ist, müssen sie +eine zweite Steuer zahlen. Wenn das Korn dann geerntet ist, kommt +die dritte Steuer, ehe sie es verkaufen dürfen. Ist die Ernte gut, +so wird die Steuer verdoppelt, damit neben der Regierungskasse +der Privatbeutel des Pascha nicht zu kurz komme. Lassen die Leute +unter diesen Umständen den Ackerbau liegen, dann kriegen sie die +Karbatsche aus guter Rhinozeroshaut. Wenn der Bauer für Weib oder +Kind ein armseliges Kleidungsstück kauft oder seine Lotterfalle von +Haus wetterfest zu machen sich getraut, dann heißt's, er müsse Geld +versteckt haben, das noch nicht besteuert sei. Kurz, die Leute müssen +zahlen und zahlen und wieder zahlen, ob sie wollen oder nicht, ob sie +können oder nicht; und wer nicht arbeitet, wird bis aufs Blut gequält, +bis er mithilft, die Beamten zu bereichern. Wer ein Boot auf dem Nil +hat, muß achtzig Mark zahlen, wenn er nicht unter ägyptischer Flagge +fährt, und die Erlaubnis, die Flagge zu führen, kostet ebenfalls +achtzig Mark. Dies ist's, was in erster Linie am Aufruhr schuld ist, +nicht der Mahdi; und ich wünsche aus tiefster Seele, daß jeder Ägypter +aus dem Land gejagt werde. Die Zustände der Sklavenwirtschaft, so +beklagenswert sie sind, sind immerhin noch besser, als solch ein +Regiment ägyptischer Blutsauger.« + +Zwischen dem Mahdi des Sudan und jenem Schulmeisterkönig des großen +Friedens in China ist eine gewisse Ähnlichkeit unverkennbar; der +Aufstand war beidemal der eines falschen Propheten, welcher eine +himmlische Sendung vorgiebt, um ein im Elend verkommenes Volk für +seine Zwecke zu gewinnen. Beiden gelang es in erstaunlicher Weise, mit +ihren Horden das Land zu verheeren und Träume einer goldenen Zukunft +auszustreuen. + +Der Mahdi wollte nichts Geringeres sein, als der Messias der +moslemitischen Völker. + +Die zum Islam »Bekehrten« sind in Zentral-Afrika nach Millionen zu +rechnen, und mit der Lehre Mohammeds hatte sich in jenen Ländern +auch die Erwartung verbreitet, daß in der Fülle der Zeit ein Mahdi, +d. h. Führer, erscheinen werde, dem es vorbehalten sei, das Werk des +Propheten mit Schwerteskraft zu vollenden, um die Gottlosigkeit von +der Erde zu vertilgen, das unschuldig vergossene Blut der Imams zu +rächen und ein Reich der Gerechtigkeit aufzurichten. + +Es hat zu verschiedenen Zeiten Mahdi gegeben, und der, dem es +neuerdings gelang, die Messiashoffnungen seiner Glaubensgenossen zu +seinen Gunsten auszubeuten und die unterdrückten Stämme bis zu seinem +im Sommer 1885 erfolgten Tode um sich zu scharen, war ein Eingeborner +der Provinz Dongola, ein noch nicht vierzigjähriger Mann von hoher +geschmeidiger Gestalt, schwarzem Bart und hellbrauner Gesichtsfarbe. +Er hieß Mohammed Achmet und war der Sohn eines Schiffszimmermanns +Namens Abdallah. Mohammed war der jüngere von mehreren Brüdern +und wurde in seiner Jugend gleich diesen zum väterlichen Handwerk +angehalten. Eine Abneigung dagegen machte sich jedoch früh bei ihm +bemerkbar; er zog sich gern von den Menschen zurück und beschäftigte +sich stundenlang mit dem Koran. Als junger Mensch entlief er der +Heimat infolge einer Tracht Prügel; ging nach Khartum und schloß sich +der »Medressu« oder freien Schule eines Fakir an, der zu Hoghali, +einem Dorfe östlich von Khartum, dem Lehrwesen oblag. Diese Schule +gehörte zum Grab des Scheik Hoghali, des hochverehrten Schutzheiligen +von Khartum; und der Hüter des Schreins, obschon er für die freie +Schule aufkommt und die Armen speist, erfreut sich einer schönen +Einnahme seitens der andächtigen Wallfahrer. Er giebt vor, ein +Abkömmling des ursprünglichen Hoghali und durch diesen Mohammeds +selbst zu sein. Hier also ließ Mohammed Achmet sich nieder und +befleißigte sich des Studiums der Religion. Nach einiger Zeit begab +er sich nach Berber und besuchte die Schule des Scheik Ghubusch, +der ebenfalls eines Heiligenschreins wartete. Im Jahr 1870 schloß +er sich einem andern Fakir an, dem Scheik Nur el Daim (das ewige +Licht). Dieser fand ihn soweit vorgerückt in der Religion, daß er ihn +selbst zum Scheik oder Fakir bestellte, worauf der neue Lehrer sich +auf die Insel Abba im Weißen Nil zurückzog. Dort lebte er eine Zeit +lang in beschaulicher Stille, indem er sich in einer Höhle verbarg +und stundenlang den Namen Gottes hersagte, viel fastete und Weihrauch +verbrannte. Bald stand er im Geruch absonderlicher Heiligkeit; es +sammelten sich Derwische um ihn, er wurde reich und heiratete eine +Menge Weiber, die er sich umsichtigerweise unter den Töchtern der +angesehensten Scheiks erwählte. Allerdings soll der wahre Moslem mit +vier Weibern sich begnügen, und der kluge Heilige that dies auch, +indem er, so oft er aufs neue Hochzeit hielt, eine der überzähligen +älteren Gattinnen der Ehre seines Harems verlustig erklärte. + +Im Frühjahr 1881 schrieb er an alle übrigen Fakire und offenbarte sich +ihnen als den vom Propheten verheißenen Mahdi: er habe göttlichen +Befehl erhalten, den Islam zu erneuern, derselbe müsse die Religion +der Welt werden, ~ein~ Gesetz, ~eine~ Freiheit müsse die +Gläubigen verbinden, und wer nicht gesonnen sei ihn anzuerkennen, +sei er Christ, Heide oder Mohammedaner, müsse von der Erde vertilgt +werden. Dieses Manifest richtete er u. a. auch an Mohammed Saleh, +den gelehrten und einflußreichen Fakir von Dongola, indem er ihn +aufforderte, mit seinen Derwischen in Abba zu ihm zu stoßen. Dieser +aber benachrichtigte die Regierung von dem Vorhaben Mohammed Achmets +und fügte als sein Privaturteil die Anmerkung bei, der Mensch müsse +geistig gestört sein. Auch die Ulema von Khartum erklärten sich gegen +ihn, ebenso wurde er in Kairo und Konstantinopel verworfen und als +falscher Prophet gebrandmarkt. Gleichwohl fand der Mahdi Anhänger +genug; ihm schlossen sich alle an, die das ägyptische Regiment +haßten, vorab die Sklavenhändler, die wohl wußten, daß sie unter einem +Aufruhrregiment ihr Raubwesen nur um so besser würden treiben können. +Ja Gordon war der Ansicht, daß Sebehr von Anfang an die Hand mit im +Spiel hatte, daß er den Mahdi, wenn er ihn nicht förmlich anstiftete, +so doch jedenfalls bestärkte, alles, um durch Aufruhr und Anarchie +in den Sudanländern seine Freilassung und Rücksendung zu erzwingen. +Jedenfalls gehörte ein Verwandter Sebehrs von Anfang an zu des Mahdi +Helfershelfern. + +So viel ist sicher, daß der Glaube an die wahre Mission des Mahdi +rasch um sich griff. Rauf Pascha konnte das bedenkliche Wachstum +seiner Macht kaum unbeachtet lassen und schickte einen Botschafter +nach der Insel Abba. »Als ich dieselbe erreichte,« berichtete dieser, +»empfing mich Mohammed Achmet inmitten von mehreren Hunderten seiner +Getreuen; in der Rechten hielt jeder ein Schwert. Der Mahdi saß auf +einem erhöhten Thron, mit dem Stab des Propheten in der Hand. Auf +meine Frage, was er beabsichtige, beschrieb er mir seine angebliche +Sendung. Ich erwiderte ihm, daß wir alle so gut Muselmänner wären, +als er selber. Das bestritt er, weil wir den Christen gestatteten, +auf ihre Weise Gottesdienst zu halten, und weil unsere Regierung +Steuern erhebe. Ich riet ihm, seine Pläne ruhen zu lassen, denn er +könne doch nichts gegen eine Regierung ausrichten, die über Truppen +und Schießbedarf und Dampfer verfüge. Darauf entgegnete er: ›Wenn eure +Soldaten auf uns schießen, so werden ihre Kugeln uns nicht treffen; +und wenn ihr mit euren Dampfern kommt, so werden diese untergehen.‹« + +Die Kriegs- und Eroberungszüge des Mahdi während der Jahre 1881-83 zu +verfolgen würde zu weit führen. Es genüge zu sagen, daß eine Provinz +nach der andern, eine Stadt nach der andern ihm zufiel. Es war die +Zeit der Arabi-Wirren in Ägypten; man war dort kaum in der Lage, sich +viel um den Mahdi zu kümmern. Die wichtige Stadt Obeid ergab sich ihm +im Anfang des Jahres 1883. + +Erst nachdem Arabi mit Hilfe der Engländer nach Ceylon verschifft war, +konnte man sich ägyptischerseits gegen den Mahdi wenden. Derselbe +hatte verkündigt, daß er mit der Zeit auch berufen sei, Kairo und +Konstantinopel zu seiner Sendung zu bekehren. Was die Statthalter +im Sudan bisher gegen ihn unternommen hatten, war meist mißglückt +und schon im August 1882 hatte Khartum in Belagerungszustand erklärt +werden müssen. In diesem Jahr wurde das ägyptische Militär der Provinz +unter die Anführerschaft des englischen Obersten Hicks gestellt, +der mit noch andern Briten und verschiedenen sonstigen Europäern, +darunter auch ein Deutscher, Major von Seckendorff, in des Khedive +Dienste trat; denn da der Mahdi an alle wahren Moslemin appellierte, +so hielt man es für geraten, ihm mit nichtmohammedanischen Kräften +entgegenzutreten. Hicks Pascha war ein tüchtiger Offizier, der in +Indien gedient hatte. Nach verschiedenen erfolgreichen Voroperationen +verließ Hicks Khartum im September 1883 an der Spitze von zehntausend +Mann mit der Absicht, den Mahdi aus Obeid zu vertreiben. Es war der +unglücklichste Kriegszug, der je unternommen wurde. Ob und inwieweit +Hicks der Unvorsichtigkeit zu beschuldigen war, ist nicht zu sagen, +denn die näheren Einzelheiten der furchtbaren Katastrophe werden wohl +nie ans Tageslicht treten. Das einzige, was verlautete, waren die +Worte eines Zeitungskorrespondenten: »Wir wagen kein Geringes, indem +wir unsere Verbindungslinien verlassen und über dreihundert Kilometer +weit in ein unbekanntes Land vordringen. Die Brücke hinter uns ist +sozusagen abgebrochen. Der Feind zieht sich vor uns zurück und das +Land ist ausgeplündert. Wassermangel ist unsere große Sorge; die +Kamele halten's nicht aus.« Und Schweigen umhüllte die Unternehmung, +bis nach Wochen die Schreckensnachricht in Khartum einlief, daß Hicks +Pascha mit seinen Zehntausend bis auf den letzten Mann aufgerieben +sei. Der Mahdi hatte sie in eine wasserlose Wüste gelockt. Es soll +eine dreitägige Schlacht stattgefunden, Hicks selber, als einer der +letzten, seinen Tod gefunden haben. Gordon war der Ansicht, daß die +Armee großenteils verdurstet sei. So viel ist sicher, daß nicht +~ein~ Europäer entkam und daß die ägyptischen Truppen bis auf +wenige Mann aufgerieben wurden; oder wahrscheinlich richtiger -- denn +es war ägyptisches Militär von der »unbeschreiblichen« Sorte -- was +von den Truppen überblieb, schloß sich dem Mahdi an. Es war eine +Niederlage wie im Teutoburger Wald, und ein Schrei des Entsetzens +hallte durch England. Der 1., 2. und 3. November 1883 ist das +mutmaßliche Datum der verhängnisvollen Schlacht. + +Nach dieser Unglückspost waren noch zwei Engländer im Sudan: der +bereits erwähnte Times-Korrespondent Power und Oberst Coëtlogon, +der krank in Khartum zurückgeblieben war, als Hicks den unseligen +Marsch unternahm. Die Folgen des Sieges für den Mahdi waren kaum zu +überschätzen. Darfur war für den Khedive verloren; was an Provinzen +oder Stämmen bis jetzt noch loyal war, ging zu den Rebellen über. Ein +panischer Schrecken hatte das Land befallen; er machte sich in Kairo +geltend, und im fernen England erlitten die ägyptischen Papiere aufs +neue eine bedenkliche Baisse. + +Ägypten wird nicht in Kairo, sondern in London regiert. Das Kabinet +Gladstone hatte sich bis jetzt geweigert, dem Mahdi mit englischer +Macht zu begegnen, und als nach Hicks Niederlage der Sudan einem +unentwirrbaren Knäuel von Schwierigkeiten glich, erging seitens des +britischen Ministeriums der einem Befehl gleichkommende gute Rat nach +Kairo, die Sudan-Provinzen fahren zu lassen. Sir Evelyn Baring, der +englische Agent in Ägypten, sollte den Khedive dahin beeinflussen, daß +eine feste Stellung auf der Suakimlinie vorläufig das Beste wäre. Wenn +der Mahdi erst einmal diese Linie überschritten hätte, dann wäre es +den Friedensministern an der Themse immerhin noch früh genug gewesen, +ihm mit Heeresmacht zu begegnen. Die englischen Interessen in Ägypten +freilich mußten sicher gestellt werden; der Kontre-Admiral Hewett im +Roten Meer und Baker Pascha zu Land sollten dieselben wahren. + +Die Macht des Mahdi wuchs unterdessen lawinenartig, und nicht nur +in Ägypten wurde die Meinung laut, daß eine Räumungspolitik nicht +das Beste wäre. Daß des Khedive Grenztruppen den fanatischen Horden +des falschen Propheten gewachsen sein würden, glaubte niemand; +englisches oder türkisches Militär allein konnte sein Vordringen +hindern. Aber auf englische Truppen sollte nicht gerechnet werden, +und was die Türken beträfe, meinten die Ratgeber, wie sollte man es +dem Beherrscher der Gläubigen selbst zumuten, einen heiligen Krieg +mit Waffen zu unterdrücken? Denn daß es ein heiliger Krieg sei, das +glaubten Tausende; und die Begeisterung in den Sudanländern nahm +überhand, nun der längstverheißene Befreier gekommen schien. Die +plötzliche Machtentfaltung des Mahdi hatte den Unterdrückten Thür +und Thor geöffnet; er sprach von Freiheit und das seufzende Land +erhob sich gegen das Joch der verhaßten Ägypter. Gordon hatte dies +vorausgesehen. Hatte er nicht vor Jahren gesagt, daß ein beherzter +Anführer jederzeit die Sudan-Völker zu einem gewaltigen Aufstand +würde vereinigen können? Er hatte damals auch gesagt, daß gewisse +Leute schlafen würden, bis es zu spät sei. Es waren nicht nur die +Sklavenhändler, sondern vielmehr noch die zahllosen bewaffneten +Araberstämme, in denen Gordon das Brandmaterial erblickte. Ein +Anführer war erschienen, und allem nach einer, dem es an Mut nicht +fehlte. + +In England also war beschlossen worden, die Sudan-Provinzen zu räumen; +welche Anarchie alsdann daselbst herrschen würde, das fragte man sich +vorläufig nicht. Ein lebhafter Depeschen-Wechsel zwischen London +und Kairo fand statt. In Ägypten nämlich stieß die Räumungspolitik +auf Widerstand. Das Ministerium Cherif erklärte, die Verwaltung des +Sudan sei ihnen von der Pforte anvertraut, und die Räumung lasse +sich deshalb nicht so ohne weiteres vollziehen. Cherif Pascha fügte +seinerseits hinzu: »Wir haben Tausende von getreuen Unterthanen im +Sudan, und nichts auf der Welt soll mich dazu bringen, diese Leute dem +Mahdi zu überantworten. Ich bin überzeugt, daß ich recht habe; die +Zukunft wird zwischen mir und dem Kabinet Gladstone in dieser Sache +richten.« + +Damit legte das Ministerium Cherif sein Amt nieder und ein +neues Kabinet unter Nubar Pascha trat ans Ruder. Als man diesem +glückwünschend die Meinung aussprach, daß das neue Ministerium +im Hinblick auf die vorhandene Krisis ein von der Klugheit +zusammengerufenes zu sein scheine, entgegnete er trocken, dem sei +ohne Zweifel so, das Wort Minister werde in Ägypten zur Zeit nur +leider von dem lateinischen Wort +minus+ hergeleitet, das weniger +als nichts bedeute. So viel war aber sicher, daß, obschon das neue +Ministerium bereit war, sich seine Aufgabe von England diktieren zu +lassen, damit noch keineswegs Mittel und Wege gefunden waren, die +ägyptischen Besatzungen, um die es sich handelte, aus den dem Aufruhr +überladenen Sudanländern zurückzuziehen. An Vorschlägen fehlte es +nicht, aber der eine war so unausführbar wie der andere. + +Zwischen Dongola und Gondokoro standen etwa zwanzigtausend Mann +ägyptischer Truppen mit Weib und Kind, und in allen Bezirken gab's +Beamte, die das Brot der Regierung aßen und deren Lage täglich +kritischer wurde. Unter den verschiedenen Garnisonsplätzen war Khartum +selbst der Hauptort, dessen elftausend ägyptische Unterthanen einen +Hilferuf nach dem andern ergehen ließen -- inständige Bitten, einen +Rückzug ins Werk zu setzen. Khartum war damals schon wie eine von +allem Verkehr abgeschnittene Insel; jene elftausend Menschen hätten +sich unmöglich selbst nach Ägypten durchschlagen können. Das Land +umher war dem Mahdi zugefallen, und fürs übrige benutzten die zum +Feind sich schlagenden Stämme gern die Gelegenheit, den Ägyptern alle +bisherige Unterdrückung mit Zinsen heimzugeben. Daß damit manchem sein +verdienter Lohn geworden, unterliegt keinem Zweifel; aber, wie es +immer geht, leiden mit einem Schuldigen zehn Unschuldige. + +Übrigens war nicht einmal das Nubar-Ministerium bereit, Khartum ohne +weiteres fahren zu lassen; man hoffte diese Stadt für den Khedive +halten zu können, selbst wenn man das Land dem Mahdi überließe -- +eine thörichte Hoffnung, welche die Schritte für den Rückzug der +Besatzungen so lange verzögerte, bis es zu spät war. + +Daß England eine Verantwortung in der Sache hatte, liegt auf der +Hand; die Räumungspolitik war britischer guter Rat; und es gab in +England Leute genug, die sich für die Besatzungen ereiferten und es +für schmählich erklärten, diese im Stich zu lassen. In jenen Tagen +sprach Gladstone selbst das Wort aus: »Darin sind wir alle einig, +daß Maßregeln getroffen werden müssen, um den sichern Rückzug der +Besatzungen zu ermöglichen.« Die einzige Maßregel, zu welcher das +britische Kabinet sich bis dahin aber verstehen konnte, war die +Grenzverteidigung unter Baker Pascha, ein klägliches Auskunftsmittel +angesichts der Sachlage. Denn auch im östlichen Sudan griff der +Aufruhr mit Riesenschritten um sich. Die Küstendistrikte des Roten +Meeres fielen nacheinander der Rebellion anheim, während die +Besatzungen von Suakim, Tokar, Trinkitat und Sinkat täglich in +schlimmere Not gerieten. Jede Post brachte bedenklichere Nachrichten. +Das englische Volk wurde ungeduldig und erklärte, die britische Ehre +stehe auf dem Spiel. Da fiel wie ein Blitzstrahl eines Morgens die +Nachricht ins Land -- ~Gordon geht nach Khartum~! + + + 2. Der Kriegsheld als Friedensbote. + +Noch während Gordon in Jaffa weilte, waren Stimmen in England laut +geworden, daß er der Mann sei, der allein im stande wäre, der Lage im +Sudan Herr zu werden. Auf Engelrat könne man zwar heutzutage nicht +warten, meinte eine dieser Stimmen, allein es wäre wünschenswert, +daß die öffentliche Meinung zu Gladstone spreche: »So sende nun +hin gen Joppen und laß herrufen einen Gordon, mit dem Zunamen der +Chinese; der wird dir sagen, was du thun sollst.« Und als Gordon nach +seiner Brüsseler Audienz in der ersten Januarwoche 1884 in England +eintraf und es bestimmt schien, daß er nach wenigen Tagen nach dem +Kongo abreisen werde, da ging ein Sturm durch die Zeitungen, daß man +diesen Mann verlieren könne; er habe sich zwar dem König von Belgien +verbindlich gemacht, allein das sei kein Hindernis, König Leopold +werde jedenfalls zurücktreten, wenn England seines Sohnes bedürfe. Auf +diesen Wink der Presse hin antwortete die Regierung vorläufig damit, +daß sie es nicht für nötig fand, Gordon aus dem englischen Dienste +zu entlassen, wenn er als Bevollmächtigter des Königs von Belgien an +den Kongo gehen sollte; fürs übrige ließ man ihn am 16. Januar nach +Brüssel abreisen. Keine zwölf Stunden aber vergingen, da berief man +ihn telegraphisch zurück, und frühmorgens am 18. war er wieder in +London. Außer den Ministern wußte kein Mensch davon. Nachmittags um 3 +Uhr hatte er Audienz, die er selbst folgendermaßen beschrieb: + + »Wolseley (der bekannte General) brachte mich ins Ministerium und + ließ mich im Vorzimmer warten; dann kam er zurück und sagte: ›Es ist + beschlossen, den Sudan zu räumen, und England will für die künftige + Regierung der Sudanländer keinerlei Gewähr leisten. Wollen Sie + gehen?‹ ›Ja,‹ sagte ich. Da hieß er mich eintreten, und ich sah die + Minister. ›Hat Wolseley Ihnen unsere Wünsche mitgeteilt?‹ fragten + sie. ›Ja,‹ entgegnete ich, ›England will für die künftige Regierung + des Sudans keine Gewähr bieten, und ich soll gehen und das Land + räumen.‹ -- ›Das ist's,‹ sagten sie; ›wie bald können Sie gehen?‹ -- + ›Sofort,‹ entgegnete ich und reiste am selben Abend ab.« + +Das war eine frohe Stunde am andern Morgen, als es hieß: »Gordon +ist nach Khartum abgereist!« Die Zeitungen überboten einander mit +Glückwünschen, und wie die Times sagte, war es unmöglich, das Gefühl +der Erleichterung zu beschreiben, welches das Land auf und nieder +bei der Nachricht erfüllte, daß Gordon es übernommen habe, als +Friedensbote nach dem Sudan zu gehen. Mit diesen Worten ist auch +die diesem übertragene eigenartige Mission charakterisiert. Die +englische Regierung, die keine Truppen senden wollte, um dem Mahdi +zu begegnen, war wissentlich oder unwissentlich von dem allgemeinen +Glauben angesteckt, daß Gordon an sich ein Heer sei, und so schickte +man ihn, um durch seinen persönlichen Einfluß ein Ziel zu erreichen, +wozu man sonst Armeen und Millionen braucht. Nicht um einen Krieg zu +führen, zog der Held aus, sondern um auf seine Weise den Sudan aus dem +Aufruhr zu retten; er sollte den ägyptischen Unterthanen den Rückzug +ermöglichen, mit dem Mahdi unterhandeln und das Land sozusagen an +die Sudanesen zurückgeben. Es lag etwas so Romantisches in diesem +Ausziehen eines für viele, daß das Herz des Volkes davon ergriffen +wurde und die Wünsche aller ihn begleiteten. Gordon selbst soll gesagt +haben: »Ich soll dem Hund den Schwanz abschneiden, und ich will es +thun, es mag kosten was es will.« Einen einzigen Kampfgenossen hatte +er, Oberst Stewart, den er sich zum Begleiter ausgebeten hatte, +derselbe, der früher schon von Regierungswegen im Sudan gewesen war. + +Nur wer Gordon nicht kannte, mochte sich wundern, wie er so schnell +zur Abreise bereit sein konnte; der Leser aber versteht es wohl jetzt, +daß dieser Mann allezeit und in allen Lagen reisefertig war. Auf Erden +angewachsen war er nirgend und seine persönliche Ausrüstung kümmerte +ihn wenig. Es hat ihn an jenem Nachmittag des 18. Januar einer +gefragt: »Haben Sie denn auch alles, was Sie brauchen?« Die Antwort +lautete: »Ich habe, was ich immer habe, dieser Anzug ist gut genug. +Ich gehe wie ich bin.« »Ja, aber haben Sie auch Reisegeld?« »Das hätte +ich beinahe vergessen. Der König von Belgien hat mir vierhundert Mark +geliehen; die muß er wieder haben, und ohne Geld kann ich natürlich +nicht fort.« Als man ihm aber vierzigtausend Mark mitgeben wollte, +meinte er, das brauche er nicht, viertausend thäten es auch. + +Daß es keine leichte Mission war, die er übernommen, daß Gefahren +aller Art vor ihm lagen, wußte niemand besser als Gordon selbst, aber +das focht ihn nicht an. Sein letztes Wort auf englischer Erde war ein +Telegramm an seinen Freund, jenen Geistlichen, welchen er in Lausanne +kennen gelernt hatte: + + »Ich gehe nach Khartum; wenn er mit mir geht, ist alles wohl.« + +Der Telegraphist hatte er und nicht Er gesetzt; aber der Empfänger +dieser Botschaft sagte mit Recht, daß in diesen kurzen Worten Gordons +Lebensgeschichte niedergelegt sei. Gordon ging allein und nicht +allein; »der Herr der Heerscharen geht mit mir,« schrieb er unterwegs. + +Unterwegs, an Bord der Tanjore, zwischen Brindisi und Port Said, +brachte er den Zweck seiner Sendung im Licht des ministeriellen +Auftrags zu Papier, in welchem Schriftstücke er betonte, daß es +seitens des englischen Kabinets ausgemacht sei, für die künftige +Regierung des Sudan keinerlei Gewähr zu leisten, daß England es +aber unternommen habe, dem Land seine Unabhängigkeit zurückzugeben +und ägyptische Unterdrückung nicht länger zu dulden; daß bei dieser +Absicht sein Auftrag darin bestehe, einen sicheren Rückzug der +Garnisonen und anderer ägyptischen Unterthanen zu bewerkstelligen und +daß die Art und Weise dieses Rückzuges von den Umständen abhängen +werde. Nachdem er damit seine Mission gekennzeichnet hatte, zeigte +er weiter, wie sich dieselbe am besten ausführen lasse. Er schlug +vor, daß man das Land den Erben der verschiedenen Sultane übergeben +könne, die vor der ägyptischen Eroberung die Sudan-Provinzen +beherrschten, und daß es diesen überlassen bleiben müsse, den Mahdi +anzuerkennen oder nicht. Ferner machte er darauf aufmerksam, daß die +Rückzugskolonnen eines Angriffs seitens des Mahdi wohl gewärtig sein +müßten, in welchem Fall er voraussetzte, daß die Regierung es billigen +würde, wenn er zu den Waffen griffe. + +Es war Gordons Absicht, sich direkt durch den Suezkanal nach Suakim +zu begeben und von dort durch die Wüste und über Berber nach Khartum +zu gelangen. Er glaubte seiner Sendung als Friedensbote an das +unglückliche Land besser genügen zu können, wenn er direkt hinkomme, +ohne sich erst mit Ägypten ins Einvernehmen zu setzen. Als er aber +in Port Said eintraf, war Sir E. Baring mit noch anderen von Kairo +gekommen, um ihn aufzufordern, sich dahin zu begeben. Auch war die +Nachricht angelangt, daß die Suakim-Route nun vollständig in den +Händen der Rebellen und somit abgeschnitten sei. Er fügte sich den +Umständen und hielt sich zwei Tage in Kairo auf. Großer Freundlichkeit +seitens des Khedive hatte er sich nicht versehen, denn mit seiner +Meinung über dessen Politik hatte er nie und nirgend hinter dem Berg +gehalten; trotzdem sprach jener ihm seine volle Befriedigung darüber +aus, daß er die Beruhigung des Sudan übernommen habe, und verlieh ihm +zu diesem Zweck seine alte Oberstatthalterwürde. Allerdings war dies +unter den vorliegenden Umständen mehr Form als Inhalt; des Khedive +Firman aber beauftragte ihn nicht nur mit der Räumung des Landes, +sondern mit der Reorganisation desselben, wenn es möglich wäre, die +Provinzen der Anarchie zu entreißen. Gordon ging also einerseits als +englischer Friedensbote nach Khartum, andererseits aber kehrte er in +diese Hauptstadt als der Generalgouverneur der Provinz zurück, um sie +so lange zu halten, bis man den Sudan sich selbst überlassen könne. +Es lag kein Widerspruch in dieser doppelten Sendung, war doch der +Zweck beider derselbe. Die englische Regierung billigte die Haltung +des Khedive, und Sir E. Baring versicherte Gordon, daß der völlige +Beistand beider, der englischen wie der ägyptischen, Behörden zu Kairo +ihm gewiß sei. + +Ehe Gordon die ägyptische Hauptstadt verließ, empfahl er die +Wiederernennung eines Sultans von Darfur als ein Stück richtiger +Taktik gegenüber dem Mahdi. Infolge dieses Rates wurde Emir Abdel +Schakur, der rechtmäßige Erbe, vom Khedive als Beherrscher der Provinz +anerkannt, die seinem Vater vor Jahren entrissen worden war. Der junge +in Ägypten aufgewachsene Sultan verließ Kairo unter Gordons Schutz, +entpuppte sich unterwegs aber als ein unfähiger Weichling. Am 26. +Januar wurde die Reise nach Khartum angetreten. Der Weg sollte über +Assuan nach Wady Halfa gehen, von wo aus Gordon durch die nubische +Wüste nach Abu Hamed zu ziehen gedachte, um von da aus Khartum mit +einem Nilboot zu erreichen. + +Ob Gordon aber die bedrängte Stadt je sehen werde, das wurde nicht +nur in England, sondern alsbald durch die ganze Welt zur Tagesfrage; +der Held auf seinem Ritt durch die Wüste war ein Gegenstand der +lebhafteren Teilnahme. Wußte man doch, daß der Feind in allen +Richtungen streifte, daß aufrührerische Scheiks mit ihren Stämmen den +Friedensboten stündlich überfallen konnten. Es war eine Wüstenstrecke +von vierhundert Kilometer, die der furchtlose Gordon mit seinem +Geleitsmann Stewart und einem geringen Gefolge von nicht zehn Mann +auf raschen Kamelen zu durcheilen gedachte. Khartum war von Kairo aus +benachrichtigt worden, daß Gordon in drei Wochen daselbst einzutreffen +gedenke. »Es ist erstaunlich,« rief der junge Power, der ihn dort +sehnlichst erwartete; »es hat noch nie einer diese Reise unter einem +Monat gemacht. Gordon aber mit Schwert und Bibel fährt wie ein Wirbel +durchs Land.« + +Kein Feind belästigte ihn, der alte Zauber zog vor ihm her, oder wie +er es nannte, ihn geleitete die Wolke bei Tag, die Feuersäule bei +Nacht, und er war sicher in Feindesland. Eine friedliche Begegnung +hatte er auf dem halben Wege, nämlich den letzten Flüchtling von +Khartum, dem es gelang Kairo zu erreichen; es war dies ein Deutscher, +Namens Bohndorff, der mit +Dr.+ Junker im Njamnjamlande +wissenschaftliches Forschungen obgelegen hatte, bis es fast zu spät +war zu entkommen. Sie waren alte Bekannte; Gordon hatte mit diesem +Deutschen früher schon am Weißen Nil verkehrt. Bohndorff beschrieb +die Begegnung: eine Staubwolke am Horizont und ein sich daraus +loslösender Reitertrupp, der Anführer voraus, und man erkannte von +weitem den ernsten Eifer, der ihn seinem Ziele entgegentrug. Von +Bohndorff erfuhr Gordon, wie es in Khartum stehe, daß außer den beiden +Engländern Power und Coëtlogon nur ein Europäer noch dort sei, nämlich +der österreichische Konsul Hansal, welche Bemerkung übrigens eine +Anzahl ansässiger Griechen außer acht ließ. An sechzigtausend Seelen, +worunter zahlreiche Flüchtlinge aus der Umgegend, wären in der Stadt +-- ein Bild der Sorge und Niedergeschlagenheit -- doch werde die Ruhe +aufrecht erhalten, und Oberst Coëtlogon lasse sich die Befestigung +angelegen sein. + +Wenn man in England und anderwärts um Gordon sorgte, so war dies +nicht ohne Grund, denn die Nachrichten aus dem östlichen Sudan +waren nichts weniger als beruhigend. Am 4. Februar erlitt Baker +Pascha mit seinen vierthalbtausend Ägyptern und etlichen englischen +Offizieren eine gründliche Niederlage bei Trinkitat, als er einen +Versuch machte, Tokar und Sinkat zu entsetzen. Er hatte sein Bestes +gethan, die erbärmliche Mannschaft, welche ihm zu Gebote stand, +einen zusammengeworfenen Haufen ägyptischer Gendarmerie, türkischer +Baschi-Bosuks und Schwarzer aus dem Sudan, annähernd kriegstüchtig zu +machen; aber gleich beim ersten Zusammenstoß mit des Mahdi Heerführer, +Osman Digna, überfiel die Helden eine Todesangst, und sie machten +nicht einmal den Versuch Stand zu halten. Die einen schossen ihre +Flinten ab und schrieen um Gnade, während die anderen ihre Waffen von +sich warfen und in wilder Flucht davon stürzten. An hundert Offiziere, +darunter die Mehrzahl der englischen Offiziere, kamen um, und nur ein +kleiner Teil der Truppen gelangte nach der Uferstadt Trinkitat zurück, +von wo sie ausgezogen waren. Baker selbst kam nur wie durch ein Wunder +davon, nachdem er sich vergeblich bemüht hatte, seine flüchtigen +Helden zum Stehen zu bringen. + +Osman Digna war der Mann, diesen Sieg auszubeuten. Man erwartete, +daß er sich auf Suakim werfen werde. Ringsumher hatte er die Stämme +gewonnen, und selbst in dieser Hafenstadt brachte der Schrecken viele +dazu, sich für den Mahdi zu erklären. Sinkat fiel; die Besatzung hatte +sich gehalten, bis der letzte Hund verzehrt war. Man schlachtete die +Pferde; noch ein Sack voll Korn war übrig, und der tapfere Kommandant +Thewsik Bey hatte erklärt, daß wenn bis zum achten Februar keine Hilfe +komme, er den letzten verzweifelten Ausfall machen müsse, um einen +besseren Tod zu finden, als das Verhungern innerhalb der Mauern. Er +erfuhr nichts von Baker Paschas Niederlage, und nachdem auch sein +letzter Hilferuf ungehört verhallt war, vernahm die Welt, daß die +Belagerung von Sinkat mit einem todesmutigen Ausfall der Besatzung +geendet habe, der ägyptischen Truppen ein weit rühmlicheres Zeugnis +ausstellte, als man seither zu hören gewohnt war. + +Das war Wasser auf die Mühle der Opposition in England; es gab eine +heiße Debatte im Parlament. Gladstone erklärte, man sei deshalb der +Besatzung von Sinkat nicht zu Hilfe gekommen, weil man nichts thun +wolle, was irgendwie von Folgen für jene anderen Besatzungen sein +könne, die Gordon zu retten versuche. Es sei geboten, sich ruhig zu +verhalten. Angesichts dieser Erklärung jedoch und unter dem Drucke der +öffentlichen Meinung wurde der britische General Graham, zur Zeit in +Kairo, damit beauftragt, Tokar zu entsetzen. Noch ehe derselbe aber +mit seiner Mannschaft in Trinkitat gelandet war, hatte Tokar sich +ergeben, und die Besatzung war zum Feind übergegangen. Der Fall von +Kassala wurde als das nächste erwartet, und auch die Ufer-Distrikte +um Massaua her schienen dem Mahdi zuzufallen; es blieb nichts übrig, +als die Araber unter Osman Digna bei Suakim zu erwarten und von dort +zurückzuwerfen. + +Osman Digna war ein tüchtiger Soldat; er war Sklavenhändler gewesen +und jetzt die rechte Hand des falschen Propheten. Dieser hatte ihn auf +dem Sklavenmarkt zu Obeid kennen gelernt und mit großem Scharfblick +seine Brauchbarkeit erkannt; er hatte ihn für seine Pläne gewonnen, +worauf er ihm den Ost-Sudan übertrug, damit er dort Land und Leute +für seine angebliche Mission gewinne. Mit siegreichen Waffen hatte +Osman Digna des Propheten Werk seither ausgerichtet; jetzt aber galt +es einem englischen General und englischen Linientruppen stand zu +halten; er erlitt seine erste Niederlage und wurde ins Innere des +Landes zurückgeworfen. Keineswegs aber streckte er die Waffen, und so +spann sich ein englischer Separatkrieg im Ost-Sudan hin, während die +Räumung des Landes auf friedlichem Weg ins Werk gesetzt werden sollte! +Osman Digna bekämpfte man, den Mahdi wollte man nicht bekämpfen, und +die Parteien stritten sich im Parlament. + +Und Gordon? Er wußte von all dem nichts. In felsenfestem Vertrauen +eilte er durch die Wüste, unbesorgt um seine eigene Sicherheit, +während man auf Kanzeln und Rednerbühnen seiner gedachte, während viel +tausend Herzen ihm ein Engelgeleit in den Gefahren wünschten, die ihn +umgaben. Gefahren? Er sah sie nicht! Einem Scheik, der ihm quer kam, +sagte er: »Wenn ihr Frieden wollt, ich bringe ihn; sucht ihr Krieg, +so bin ich bereit.« Und der verzagenden Khartumer Garnison meldete er +telegraphisch seine Nähe mit den Worten: »Ihr seid Männer und nicht +Weiber. Seid guten Muts, ich komme.« + + + 3. Gordon im Land. + +War schon in England die Befriedigung eine allgemeine gewesen, als +Gordon nach Khartum sich auf den Weg machte, so war's noch ein +anderes in Ägypten. Eine Begeisterung sondergleichen erfüllte Land +und Leute bei seinem Kommen. Man wußte dort ungleich besser, was +man an ihm hatte, als daheim in England. Die Thaten seiner früheren +Statthalterschaft waren auf aller Lippen; man sprach von ihm als einem +Unüberwindlichen, dessen bloße Gegenwart Wunder wirken werde in dem +zerrütteten Land. Des Mahdi Kriegsheer werde in nichts zerstieben wie +Dunst vor der Sonne, rief das Volk, und des guten Pascha feste Hand +werde alle Wunden heilen, die jener geschlagen. »Ich gehe, um die +Ehre Ägyptens zu retten,« war Gordons letztes Wort an Nubar; daß er +Englands Ehre in seiner Hand trug, wußte er nicht minder. Auf jenem +Wüstenritt nach Abu Hamed durchstritt er im Geist die Kämpfe, die es +zu liefern geben würde, und hätte er nur verwirklichen können, was +sein hoher Sinn und sein unbefangenes Auge als das richtige erkannten, +hätte man ihm nur freie Hand gelassen, es ließe sich wohl ein anderes +Lied singen von der Heldenzeit in Khartum. Als die glitzernde +Sandwüste hinter ihm lag, wußte er, was er zu thun habe, und stand +gegürtet zur Schlacht. + +Er brauchte nicht weit vorzudringen, um Beweise zu finden, daß +ägyptische Beamtenwirtschaft des Mahdi Handlangerin war; diesen +hielt er übrigens für weniger stark als die Sage ging. So fand er +die Eisenbahnarbeiter zu Assuan in größter Armut, weil ihre Löhnung +seit Monaten im Rückstand blieb; der Hunger hatte da dem Propheten +Glauben verschafft, und Gordon telegraphierte alsbald an Sir E. +Baring, er solle den Leuten ohne weiteren Verzug ihr Geld schicken. +Ebenso entdeckte er, daß der Aufstand zwischen Suakim und Kassala +lediglich der Habsucht zweier Paschas zuzuschreiben war. Diese +waren mit den Scheiks des Hadendoa-Stammes eins geworden, ihnen für +Truppentransporte sieben Thaler für jedes Kamel zu geben; als die +Hadendoas aber etwa zehntausend Mann durch die Wüste befördert hatten, +erhielten sie je einen Thaler, während die übrigen sechs ganz ohne +Zweifel im Privatbeutel der Pascha stecken blieben. Da erhob sich +der Stamm, schloß sich Osman Digna an, und das Resultat war Bakers +Niederlage. + +Als erste Abschlagszahlung in der Räumungspolitik hatte Gordon schon +von Korosko aus an Nubar Pascha telegraphiert: + + »Eine Anzahl Weiber und Kinder sind nach Ägypten auf dem Weg; suchen + Sie einen menschenfreundlichen Mann, daß er sich ihrer annehme.« + +Und nachdem er in Abu Hamed an die englische Regierung berichtet und +darauf hingewiesen hatte, daß es so unpraktisch wie unrecht wäre, den +Sudan sich selbst zu überlassen, ehe man von geordneten Verhältnissen +daselbst reden könne, bestieg er ein Nilboot und erreichte Berber am +11. Februar. + +Hier erließ er seine Proklamationen. Den Einwohnern der Stadt Berber +sagte er, daß er gekommen sei, Frieden zu bringen, ja Freiheit von +aller Unterdrückung, daß er bereit sei ihnen zu helfen, Ruhe und +Ordnung herzustellen, und daß er ihnen zeigen wolle, wie das Land sich +künftighin selber regieren könne. Alle vorenthaltenen Rechte sollten +ihnen wieder werden; er habe nur den einen Wunsch, Gerechtigkeit +walten zu lassen und Blutvergießen zu verhindern. Alle rückständigen +Steuern bis zum Ende des Jahres 1883 seien gestrichen und alle Steuern +des laufenden Jahres auf die Hälfte reduziert. Der Sudan gehörte nicht +fremden Erpressern, sondern von jetzt ab den Kindern des Landes. Der +beste Beweis, daß man ihm glaubte, liegt wohl darin, daß etliche +hundert Leute sich um Ämter bei ihm meldeten; von großer Freude +erfüllt illuminierten sie ihm zu Ehren ihre Stadt. Der englischen +Regierung, die ihn gewarnt hatte, sich ja nicht in unnötige Gefahr +zu begeben, konnte er hierauf erwidern, es habe keine Not, die Leute +wären im Gegenteil froh und dankbar, von einer Oberherrschaft befreit +zu werden, die ihnen nur Elend gebracht habe. Er hielt sich nur wenige +Tage in Berber auf, aber es genügte, um seinen alten Einfluß geltend +zu machen und ihm das volle Vertrauen der Stadt zu sichern. Und nun +gar die Weiterreise nach Khartum! In englischen Zeitungen war die +Besorgnis oben auf, wie sich Gordon durch die aufrührerischen Stämme +durchschlagen werde; der Weg durch die Wüste sei nichts gewesen gegen +die weit größere Gefahr der Nilreise, lägen doch die schwarzbraunen +Feinde im Hinterhalt an beiden Ufern des Flusses, ihre Speere seien +lang und ihre Hinterlist groß. Nichts dergleichen! Sie bildeten +Spalier am Fluß hin für den Befreier des Landes, der sich auch gar +nicht scheute, unter ihnen umher zu gehen. Sie kannten ihn alle. Und +je weiter er vordrang, um so größer die Begeisterung; das Volk empfing +seinen Retter mit Frohlocken, gleich einem Schutzengel, der eine Weile +entschwunden war und nun zurückkommt aus der unbekannten Welt des +Friedens, nach der man sich sehnt. + +Auch in Khartum wußte man, wessen man sich zu ihm zu versehen habe. +Sein Manifest war ihm vorausgeeilt. Es lautete folgendermaßen: + + »Vernehmet, daß ich gekommen bin, das Land aus der Not zu befreien, + in die es geraten ist, Ruhe herzustellen und Blutvergießen der + Moslems zu verhindern, den Einwohnern einen geordneten Wohlstand zu + sichern, Weib und Kind ihnen zu schützen und all der Ungerechtigkeit + und Unterdrückung zu steuern, die an diesem Aufruhr schuld sind. + + »Ich habe aus diesem Grund alle rückständigen Steuern vergangener + Jahre erlassen und habe die Steuern des laufenden Jahres, sowie + alle unter Rauf Pascha eingeführte Besteuerung auf die Hälfte + herabgesetzt. Ich will euch vor Ungerechtigkeit schützen, damit der + Ackerbau und Handel erblühe und Wohlstand gedeihe. Ich gebe euch das + Recht zurück, die Sklaven, die in eurem Dienste sind, zu behalten, + und weder die Regierung noch sonst jemand wird es euch künftighin + wehren. Haltet Frieden; gebt euch nicht dem Verderben hin und bleibt + fern von des Teufels Weg. Benachrichtigt alle Einwohner von der guten + Kunde, auf daß sie den Weg der Gerechtigkeit betreten und vom Bösen + sich abwenden. + + »Wer mich sehen will, der komme und fürchte nichts. + + ~Gordon~ + Generalgouverneur des Sudan.« + +In Khartum herrschte nur Freude, in England aber gab's böses Blut, als +diese Proklamation bekannt wurde. Was, der will den Leuten im Sudan +erlauben ihre Sklaven zu behalten, anstatt ihnen von der Freiheit der +christlichen Zivilisation zu sagen, die alle frei macht! Der Sturm, +der bei dieser Erklärung in gewissen Kreisen losbrach, lieferte den +ersten Beweis davon, daß England seinen Gordon noch nicht kannte. +Unbegreiflicher Mensch dieser Gordon, glaubt der, mit schlechten +Mitteln könne man Gutes thun? England, das in aller Welt sich als den +Befreier von Sklavenketten rühme, sei durch solche Haltung geschändet. +Die wenigsten Leute hatten die kühle Überlegung, Gordons Urteil zu +verstehen. + + »Was für tolles Zeug!« rief er aus, als ihm die Nachricht von dem + Entsetzen kam, das sein Manifest in England hervorgerufen. »Ist es + nicht offenkundig erklärt worden, daß der Sudan geräumt werde und die + Sudanesen sich selbst überlassen bleiben sollten? Wenn das Volk aber + hier seinen Willen hat, so hält es Sklaven. Was hätte es genutzt, + die Leute an den kraftlosen Vertrag von 1877 zu erinnern, wenn man + sie sich selbst überlassen will? Und ist nicht der ~eine~ Zweck + meiner Sendung der, die Garnisonen und andere ägyptische Flüchtlinge + womöglich ohne Blutvergießen aus dem Land zu bringen? Was ich den + Leuten über die Sklaven gesagt habe, war nicht mehr und nicht weniger + als eine Plattheit!« + +Und anderswo erinnert er seine Ankläger daran, daß er während +der Jahre seiner Kämpfe mit den Sklavenjägern nicht einen Finger +geregt habe, die Sklaven im Hausstand, d. h. die ~leibeigenen +Dienstboten~, zu befreien, während er doch mehr wie einmal sein +Leben einsetzte, der Sklaven~jagd~ das Genick zu brechen. Gordon +hat immer dafür gehalten, daß es ein Unrecht an den Leuten wäre, +ihnen zwangsweise und ohne Vergütung die hergebrachten Dienstsklaven +zu nehmen, und es war ein zu klar denkender Kopf, um sich über die +Zukunft des Landes, das er räumen sollte, auch nur einen Augenblick +einer Täuschung hinzugeben. Die harmlose Ansicht, daß der sich +selbst überlassene Sudanese keine Sklaven halten werde, konnte ihn +nicht beeinflussen, und nur ein Fanatiker hätte nach Khartum gehen +können und sagen: »Hier bin ich und bringe euch im Namen zweier +Nationen eure Unabhängigkeit zurück. Das Land sei künftighin euch +überlassen, lebt darin nach eurem herkömmlichen Brauch. Haltet Frieden +miteinander und Gott schenke euch Gedeihen, aber daß ihr euch nicht +untersteht, eure Dienstboten als Sklaven zu betrachten« -- wenn doch +der altherkömmliche Brauch den dienenden Stand leibeigen macht! Der +bemittelte Sudanese hält Sklaven wie die Juden und Römer im Altertum. +Gordon wußte das; vielleicht dachte er auch daran, daß Paulus dem +Philemon seinen entlaufenen Sklaven zurückschickte. Hoffentlich denkt +niemand, man wolle hiermit der Sklaverei das Wort reden; es soll nur +der sentimentale Eifer damit ins Licht gestellt werden, der sich +berufen fand, Gordon unbesehen zu verdammen. + +Am 18. Februar erreichte er Khartum. Als er durch die Straßen ging, +drängten sich die Leute zu Hunderten um ihn; alle wollten ihm die Hand +küssen. Einige freudetolle Weiber gingen so weit, ihm die Füße küssen +zu wollen, und zweimal lag der Generalgouverneur am Boden, ehe er +sich's versah. Er hatte nur wenige Worte gesprochen, aber es waren +Worte voll goldener Hoffnung: »Ich bin ohne Soldaten, aber mit Gott zu +euch gekommen, um der Not dieses Landes zu steuern,« sagte er. »Ich +will nicht mit Waffen, sondern durch Gerechtigkeit hier kämpfen. Die +Zeit der Baschi-Bosuks ist vorüber.« + +Das war ein Jubel! Kein Wunder, daß Power schon nach wenig Tagen +schreiben konnte: »Gordon hat aller Herzen gewonnen. Er ist Diktator +hier; der Mahdi gilt nichts mehr. Es ist erstaunlich, den Einfluß +dieses einen Mannes über Tausende zu sehen. Mütter bringen ihm ihre +kranken Kinder, daß er sie anrühre.« Wo er sich blicken ließ, rief +das Volk: Sultan! Vater! Retter! und wer etwas zu klagen hatte, dem +lieh er sein Ohr. Noch ehe die Sonne unterging, die seinen Einzug +beleuchtete, ließ er alle Rechnungsbücher der ägyptischen Regierung, +alle Peitschen und Marterwerkzeuge auf dem freien Platz vor seinem +Palast aufhäufen und anzünden; es war das Autodafé der Unterdrückung, +lachend und weinend tanzten die Leute um dasselbe her. Er besuchte +das Gefängnis und ließ alle Ketten fallen; Hunderte schmachteten +da, Männer, Weiber und Kinder, Schuldige und Unschuldige -- er gab +ihnen allen die Freiheit. Ein alter Scheik wurde aus einem Tragbett +vor ihn gebracht; der Ex-Statthalter Hussein Pascha Cherif hatte den +Ärmsten bastonnieren lassen, bis seine Füße nur noch unförmliche +Massen blutenden Fleisches waren. Gordon sagte nicht viel, aber er +telegraphierte alsbald nach Kairo und forderte, daß jenem Hussein +tausend Mark von seinem Gehalt abgezogen würden, die dem Opfer +seiner Grausamkeit zu gut kommen sollten. Dann ließ er das Gefängnis +anzünden, und weit in die Nacht hinein verkündeten die Flammen, daß es +mit solcher Tyrannei auf immer vorbei sei. + +So that der weise Mann was er konnte, um die Mithilfe des Volkes für +die große Arbeit zu gewinnen, die er übernommen hatte. Er öffnete die +Thore der Stadt und erklärte den Markt frei, der bisher nur durch +»Bakschisch« den Händlern offen stand. Und gleich vom ersten Tag an +sahen die Leute die ihnen von früher in angenehmer Erinnerung stehende +Brieflade wieder, welche an der Hauptthüre des Regierungspalastes zu +dem Zweck angebracht war, daß jeder, auch der geringste, mit dem +Oberstatthalter verkehren könne, so er es begehre. Als nach einiger +Zeit Oberst Coëtlogon Khartum verließ, um seinen Weg nach Ägypten und +England zurückzufinden, gab Gordon ihm die Versicherung mit, daß die +Zurückbleibenden in der Stadt so sicher wären wie ein Spaziergänger +im Kensington Park. Was den jungen Power betrifft, so hat sich dieser +so für Gordon begeistert, daß er sich für Khartum entschied, so lang +Gordon bleibe. »Er vollbringt Wunder hier,« meldete er der Times. + +Militärische Änderungen anlangend, so hatte Gordon bestimmt, daß +die eingeborenen Truppen in Khartum verbleiben, während die weiße +Mannschaft nach Fort Omderman auf der anderen Seite des Weißen Nils +sich zurückziehen sollte, wo sie mit ihren Familien und den andern +auf »Reisegelegenheit« wartenden Ägyptern bleiben würden, bis man +sie nilabwärts schaffen könnte. Einen Neger, der sich unter Bazaine +in Mexiko das Kreuz der Ehrenlegion erworben hatte, ernannte er zum +Truppenbefehlshaber, was allgemeine Befriedigung hervorrief. Seinen +Geleitsmann, den Oberst Stewart, ließ er den Weißen Nil hinauf +dampfen, damit er rekognosziere und Gordons Proklamation auch dort +bekannt mache. Auf der ersten Strecke, etwa sieben Stunden weit, +schien das Land ruhig; dann erreichte er ein aufrührerisches Dorf, +wo die Leute übrigens froh waren zu hören, daß er Frieden bringe. +Es lagen etwa fünfhundert Mann bewaffnete Rebellen in demselben. In +einem Dorf weiterhin fand sich ein Scheik, der kurz zuvor vom Mahdi +zum Bezirksstatthalter ernannt worden war, damit er die Gegend für +den Propheten gewinne. Andere Scheiks, mit denen Stewart verkehrte, +erklärten ihm, daß ihnen nichts übrig bleibe, als sich dem Mahdi +anzuschließen, wenn ihnen nicht von einer tüchtigen Regierung Schutz +würde. Ganz Gordons Ansicht, die er bis zuletzt festhielt; den Sudan +sich selbst überlassen, ehe der Mahdi aufs Haupt geschlagen ist, heißt +nichts anders, als die Leute zwingen, ihn anzuerkennen. + +Der Mahdi saß zur Zeit noch in Obeid, etwa dreihundert Kilometer von +Khartum entfernt. Dort hingen ihm die Araberstämme an, deren jeder +sechs- bis achttausend Berittene ins Feld bringen konnte. Seine Macht +war zwar allem nach überschätzt worden, aber Gordon verlor keine Zeit, +es der englischen Regierung nahe zu legen, daß sein Einfluß, oder +vielmehr die Furcht vor ihm, das Land regiere, und daß es dringend +geboten sei, ihm entgegenzutreten; eine geringe Abteilung indischer +Truppen nach Wady Halfa zu beordern, würde vorläufig genügen. Man nahm +seinen Rat nicht an! + +Gordons Friedensbotschaft war nun allerdings von bester Wirkung +gewesen, allein diese Wirkung erstreckte sich nicht weit über Khartum +hinaus, und selbst in dieser Stadt wurde ein Nachlassen der guten +Stimmung fühlbar, wie aus einer Proklamation hervorgeht, die Gordon +schon Ende Februar erließ, worin er strengere Maßregeln ankündigte +und solchen, die im geheimen die Rebellen begünstigten, anzeigte, daß +er ein Auge auf sie habe. Viele Stämme um Khartum her, und wiederum +zwischen dieser Stadt und Berber und Dongola, waren aufrührerisch und +mehr oder weniger eine wachsende Quelle der Sorge für ihn; während die +Bevölkerung zwischen Suakim und Kassala teils in offenem Aufruhr war, +teils den Lauf der Dinge abwartete, um an den Sieger sich zu halten. +Es war ihm klar, daß Khartum selber früher oder später keine andere +Wahl haben würde. Khartum würde sich halten, so lange er dort sei, +was aber, wenn er die Besatzungen zurückgezogen und das Land geräumt +habe? Er würde die Anarchie zurücklassen und nichts würde dem Volk +übrig bleiben, als den Mahdi anzuerkennen. Er betonte es in seinen +Depeschen immer schärfer, daß England die Verpflichtung obliege, dem +Volk die Möglichkeit einer Regierung an die Hand zu geben, die sich +werde behaupten können; es müsse dies ein Mann sein, der dem falschen +Propheten gewachsen sei, einer der Einfluß im Land habe, der die +persönliche Macht besäße, sich als Herrscher geltend zu machen, der +das Volk zusammenhalten würde, selbst wenn er es durch Furcht regiere. +Es galt zwischen zwei Übeln zu wählen, und der Mahdi war für das Land +von zwei Machthabern weitaus der schlimmere. In der Art und Weise, +wie das Volk ihm selber zugefallen war, hatte Gordon erkannt, daß es +sich nach einem kraftvollen Herrscher sehne und einem solchen sich +mit Freuden ergeben würde; er sah sich vergebens nach einem solchen +um, unter den Scheiks und kleinen Sultanen war keiner, der Manns genug +gewesen wäre, sich nur einen Tag zu halten. Er blickte weiter und sah +nur einen, der im stande wäre in die Bresche zu treten, und Gordon +schlug ihn vor -- ~es war sein Todfeind Sebehr Rachama~. + + + 4. Im Stich gelassen. + +Wenn eine Bombe aus blauem Himmel in die englische Welt gefallen +wäre, es hätte kein größeres Erstaunen verursacht, als die über Kairo +in London eingelaufene Nachricht, daß Gordon als beste Lösung der +Frage, wie der Sudan zu Ruhe und Ordnung zurückzubringen sei, der +britischen Regierung vorgeschlagen habe, den alten Sklavenhändler +Sebehr ins Land zu setzen, damit er es gegen den Mahdi halte. Gordons +Rat, dessen Ausführung er bis zuletzt für den richtigen, weil einzig +möglichen Ausweg hielt, ging dahin, daß England dem schwarzen Pascha +einen moralischen Halt gewähren sollte -- wie es beim Amir von +Afghanistan geschieht -- und dazu auf zwei Jahre einen jährlichen +Beitrag von zwei Millionen Mark. Zwar könne man den Türken das Land +überlassen, aber diese müßten dann noch ganz anders unterstützt +werden, abgesehen davon, daß man damit wieder eine Fremdherrschaft +aufrichte. Sebehr sei der eine Mann aus den Sudanländern selbst, der +dem Mahdi gewachsen sei; dieser könne dann immerhin als »Papst« sich +geltend machen, wenn jener als Sultan die weltliche Herrschaft in +fester Hand halte. Die Sudanesen würden ihn als ihren Landsmann mit +Freuden anerkennen und seiner Überlegenheit sich fügen, wodurch eine +einigermaßen ordnungsmäßige Regierung möglich werde, während sonst +alles in Anarchie versinke. Was die Sklavenjagd betreffe, so sei sie +einst schlimm genug unter dem schwarzen Pascha gewesen, sie würde aber +zehnmal schlimmer werden unter dem Mahdi; Sebehr sei also auch in +diesem Stück das geringere Übel von zweien. Fürs übrige wollte Gordon +den Sebehr teilweise durch Vertrauen gewonnen haben. Sebehr sollte +die ihm zugedachte Würde unter der Bedingung annehmen, daß er als +Beherrscher des Sudans kein Sklavenjäger sein werde, und Gordon wollte +es selbst übernehmen, daß diese Bedingung darum jenem nicht allzuviel +freie Wahl ließe, weil er, Gordon, die eigentlichen Jagdreviere +am Äquator seine eigene Sorge hätte sein lassen, indem er dort im +Auftrag des Königs von Belgien den Kongostaat weiter ausgestaltet und +die hilflosen Negerstämme um sich gesammelt hätte. Es war die alte +Politik Gordons, wo anderes fehlschlug, durch seine Feinde selbst das +gesteckte Ziel zu erreichen; diese Politik mag den wenigsten Leuten +einleuchten, man kann aber nur daran erinnern, daß es in Gordons +Leben an Belegen nicht fehlt, wie gerade diese Taktik zu glänzenden +Erfolgen geführt hat. Gordon war der letzte, der Sebehrs früheres +Leben guthieß, und besser als sonst jemand kannte er die Geschichte +verübter Greuel, die dieser zu verantworten hatte, ja, die er durch +den Tod seines Sohnes und seine eigene zehnjährige Gefangenschaft +hatte büßen müssen; dies aber hinderte ihn nicht, die politische +Tüchtigkeit des Mannes anzuerkennen, und da seine Energie, seine +Umsicht und sein Organisationsvermögen jetzt zu Besserem zu gebrauchen +waren als zu Aufwiegelungen und Sklavenrazzien, so riet er, diese +Eigenschaften zum Besten des Landes zu verwenden. Daß Sebehr ihn als +seinen Züchtiger haßte und unter Umständen mit eigener Hand erstochen +hätte, das kümmerte ihn keinen Augenblick, ja er ging so weit, den +Vorschlag zu machen, er und Sebehr miteinander wollten die gewünschte +Ordnung im Sudan aufrichten und miteinander würde es ihnen gelingen. +Nur ein Mann wie Gordon konnte auf solche Pläne geraten, und hätte +man ihm freie Hand gelassen, er hätte sie sicherlich ausgeführt! Daß +die überklugen Diplomaten, die seinen Antrag im Kabinettsrat mit der +Lupe der Staatswissenschaft untersuchten, sich nicht mit ihm einigen +konnten, ist begreiflich; man kann sie auch aus Gründen der Theorie +nicht tadeln, man kann aber darauf hinweisen, daß ihre Klugheit in +der Folge zu Schanden geworden ist. Freilich hätte auch Gordon eine +Täuschung erleben können, wenn man ihm Sebehr bewilligt haben würde, +aber selbst dann hätten die Resultate kaum so sein können, wie sie +jetzt geworden sind. Welche Ströme Blutes sind nicht geflossen, seit +die staatsmännische Vorsicht ihr Verdikt gesprochen hat, und wie sehr +ist der Sudan zur Zeit ein Chaos der Anarchie und Sklavenräuberei! + +Der schwarze Pascha war hiernach der Punkt, wo die Meinungen +auseinandergingen, und von da ab entwickelte sich die Haltung der +englischen Politik, welche Gordon im Stich ließ. + +Wie wenig Gordon bei seinen Ratschlägen der Blindheit beschuldigt +werden kann, geht aus seinem Hinweis hervor, daß die von ihm +befürwortete Ernennung Sebehrs zum Beherrscher des Sudan die reinste +Ironie des Schicksals wäre. Hatte doch Sebehr von jeher gegen die +ägyptische Regierung agiert und Aufstände angezettelt, um seine +Rücksendung zu erzwingen. + +In Gordons Tagebüchern vom September und Oktober heißt es: + + »Hätte man uns den Sebehr Pascha geschickt, als ich es beantragte, + so wäre Berber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gefallen, und man + stünde jetzt mit einer Regierung im Sudan dem Mahdi gegenüber. Man + hielt für gut, es wegen seiner Vorgeschichte als Sklavenhändler zu + verweigern. Angenommen, der Grund sei ein triftiger, so ist er in + solange trotzdem ein ganz thörichter, als wir keine Schritte thun, + den Sklavenhandel künftighin in diesen Ländern zu hindern. Es kommt + einfach darauf hinaus: Ich schicke den A. nicht hin, weil er das + und das thun könnte, aber ich lasse den B. dort, der ebenfalls so + handelt.« + + »Ich bin nicht dafür, den Sudan zu halten, es ist ein ganz nutzloses + Land, das wir nicht verwalten könnten, und die Ägypter nach den + neuesten Ereignissen noch weniger. Ich suche nur den Weg, ~wie + man sich mit Ehren und mit möglichst geringen Unkosten daraus + zurückziehen kann~ (wir dürfen nicht vergessen, daß wir an all + diesem Wirrsal schuld sind) ... es ist für mich lediglich die Frage, + sich mit ~Anstand zurückzuziehen~. Sebehr würde die Schaggyeh + (einen Beduinen-Stamm) und die Khartumer beruhigen und er würde mit + dem Mahdi ins reine kommen. Dann könnten wir das Land verlassen ... + Soviel ist sicher, daß ihr nur mit Hilfe Sebehrs (oder der Türken) + vor dem November 85 auf Rückzug rechnen könnt!! Die Türken wären + unter den jetzigen Umständen die beste, wenn auch kostspieligste + Lösung. ~Die könnten den Sudan halten~; gebt ihnen vierzig + Millionen. Nach den Türken ist Sebehr mit zehn Millionen das Beste; + er würde den Sudan ~eine Zeit lang~ halten. In beiden Fällen + giebt's hier Sklavenhandel. Aber Ägypten wäre gesichert und ihr + könntet bis Januar 85 hier fertig sein. Ist euch keiner dieser + Auswege recht, dann seid darauf gefaßt, daß es hier noch gerade genug + Plackerei geben und euer Feldzug schließlich ~ein völlig zweck- und + glanzloser sein wird~.« + +Hat je ein Prophet den Ausgang eines Unternehmens bestimmter +vorhergesagt? + +Unterm 8. November heißt es in dem Tagebuch weiter: + + »Es liegt auf der Hand, daß wenn Sebehr mit euch käme und in quasi + unabhängiger Stellung zum Regenten ernannt würde ... ihm die Leute + massenhaft zufielen, die den Mahdi und seine Derwische herzlich satt + haben, sich aber an ihn halten müssen, weil ihr das Land räumen + wollt; sogar unsere Anhänger werfen wir dem Mahdi in die Arme. + Sebehrs Einsetzung würde euch auch die Arbeit in der Sennar-Gegend + sparen ... Mit den Booten, die ihr habt, hätte er die Nil-Verbindung + bald hergestellt. Und was den Sklavenhandel betrifft, so ist der + Mahdi zehnmal schlimmer als Sebehr, auf den man durch Hilfsgelder + einwirken könnte, daß er in Schranken bliebe. Sebehr wäre für uns + eine Art Vermittelung zwischen dem Davonlaufen und der fortwährenden + Gegenwart von Truppen im Land. Der Mahdi wäre nie im stand, das Volk + gegen Sebehr aufzuhetzen. Nur weil man den Leuten keinen Mittelpunkt + bietet, ~müssen~ sie sich an jenen halten. Hätte man den Sebehr + kommen lassen, der Mahdi hätte lange nicht so viel Anhang; und wäre + er hier gewesen, so wäre Berber nicht gefallen.« + +Wir haben vorgegriffen, doch ist aus diesen Mitteilungen ersichtlich, +daß Gordons Vorschlag keine plötzliche Eingebung, keine Unüberlegtheit +war; es war vielmehr ein Gedanke, der durch jede neue Erfahrung bei +ihm sich vertiefte. Es folgt hier eine frühere Depesche an Sir E. +Baring, den Vertreter Englands in Kairo, die in gedrängten Sätzen +Gordons Ansicht in der Sebehrfrage klar und eingehend darlegt. + + + Khartum, den 8. März 1884. + + »Die Ernennung Sebehrs ist gleichbedeutend mit der Möglichkeit + des Rückzugs der ägyptischen Angestellten von Khartum, sowie der + Besatzungen von Sennar und Kassala. + + Ich sehe keine andere Möglichkeit, dies ins Werk zu setzen, als eben + durch ihn, der als ein Eingeborner dieses Landes ein Mittelpunkt für + die Bessergesinnten werden wird, die sich um so eher ihm anschließen + werden, weil sie wissen, daß er sich hier in seiner Heimat + niederlassen wird. + + Ich bin nicht der Ansicht, daß die Thatsache, dem Sebehr auf + zwei Jahre Hilfsgelder zu bewilligen, mit der Räumungspolitik + unverträglich wäre. + + Was das Halten von Sklaven betrifft, so könnten wir es auch dann + nicht unterdrücken, wenn wir selbst im Sudan blieben. Ich habe immer + gesagt, daß der Vertrag vom Jahre 1877 unausführbar ist, also würde + Sebehrs Ernennung in dieser Hinsicht durchaus keinen Unterschied + machen. + + Mit der Sklavenjagd hätte es nach Räumung der Bahr el Ghasal und der + Äquator-Provinzen von selbst ein Ende. + + Sollte Sebehr nach Ablauf von zwei Jahren und nachdem er Hilfsgelder + eingesteckt hat, sich jener Gegenden zu bemächtigen suchen, so + könnten wir leicht von Suakim her einen Druck auf ihn ausüben, + welcher Ort nach wie vor in unserer Hand bliebe. + + Ich halte dafür, daß Sebehr mit dem Sudan selbst und mit der + Befestigung seiner Stellung zu viel zu thun haben wird, als daß ihm + Zeit bliebe, sich um jene Gegenden zu kümmern. + + Was die Sicherheit Ägyptens betrifft, so war Sebehr lange genug in + Kairo, um unsere Macht kennen gelernt zu haben; er würde es sich + nicht leicht beikommen lassen, etwas gegen Ägypten zu unternehmen. + Ich glaube im Gegenteil, daß er Handelsvorteile in einem Bündnis + suchen würde, denn er ist ein geborener Krämer. + + Das Zurückziehen der Besatzungen anlangend, so habe ich bis jetzt + nur das erreicht, daß die Invaliden, die Witwen und Kinder der in + Kordofan Gebliebenen flußabwärts geschickt werden. + + Nach heutigem Bericht ist Sennar ruhig. + + Auch Kassala wird sich infolge von Grahams Sieg ohne Mühe halten, + aber die Verbindung ist abgeschnitten, sowie auch die Verbindung mit + Sennar. + + Es wird unmöglich sein, der Straße nach Kassala und Sennar Herr zu + werden oder die ägyptischen Truppen von hier weg zu befördern, wenn + Sebehr nicht kommt. Sein Kommen würde die ganze Sachlage ändern. + + Die Äquator-Provinzen und die Bahr el Ghasal sind soweit sicher, aber + ich kann die dortigen Besatzungen nicht zurückziehen, ehe der Nil + steigt, was in zwei Monaten zu erwarten ist. + + Dongola und Berber sind ruhig, aber ich fürchte, daß der Weg zwischen + Berber und Khartum nicht lange mehr offen sein wird, denn auf der + ganzen Strecke treiben des Mahdi Anhänger ihr Wesen. + + Am Blauen Nil ist eine Besatzung von tausend Mann von den Rebellen + eingeschlossen, doch fehlt es ihnen nicht an Proviant; ehe der Nil + steigt, kann ich ihnen nicht zu Hilfe kommen. + + Auch Darfur, soweit ich Nachricht habe, ist ruhig; der neueingesetzte + Sultan läßt sich hoffentlich angelegen sein, Anhang unter den Stämmen + zu gewinnen. + + Es ist ganz unmöglich, einen andern Mann als Sebehr mit Erfolg hier + einsetzen zu wollen. Kein anderer hat soviel Einfluß wie er. Hussein + Pascha Khalifa könnte nur mit Dongola und Berber fertig werden. + + Wird Sebehr nicht hierher geschickt, dann fehlt alle Aussicht, die + Besatzung zu retten; das fällt schwer ins Gewicht zu seinen Gunsten. + + Auch ist es unmöglich, das Land zwischen Sebehr und anderen + Häuptlingen zu teilen; keiner der andern könnte sich auch nur einen + Tag gegen die Helfershelfer des Mahdi halten; auch Hussein Pascha + Khalifa würde fallen. + + Die Häuptlinge weigern sich, gemeinsame Sache zu machen; Loyale und + Rebellen stehen einander gegenüber. + + Es ist durchaus nicht zu fürchten, daß Sebehr sich je mit dem Mahdi + unter eine Decke stecken werde. Sebehr wird hier weit größere + Macht besitzen als der Mahdi und wird sich nicht scheuen, ihm dies + begreiflich zu machen. + + Der Mahdi ist mit dem Papst zu vergleichen, Sebehr aber würde Sultan + sein; da ist keine Gefahr, daß die zwei sich einigen. + + Sebehr ist dem Mahdi fünfzigmal gewachsen. Er ist auch aus guter + Familie (ein direkter Abkömmling der Abassiden), genießt Ansehen und + würde die Sultanwürde gut bekleiden; der Mahdi ist von all dem das + Gegenteil und ein Fanatiker dazu. + + Ich zweifle gar nicht, daß Sebehr, dem die Stämme verhaßt sind, die + Aufruhrsaat gesäet hat und zwar in der Hoffnung, daß man ihn dann + hier nötig haben würde, um Ordnung zu schaffen. + + Es ist die Ironie des Schicksals, die ihm seinen Wunsch erfüllt, wenn + er hierher geschickt wird.« + +Gordon predigte mit dieser klaren Auseinandersetzung tauben Ohren, die +Minister im fernen England und außer Zusammenhang mit Land und Leuten, +erklärten Sebehrs Ernennung für eine Unmöglichkeit; die öffentliche +Meinung würde sich dagegen auflehnen, hieß es. Und als Berber von +den Rebellen bedroht wurde, zog man sich auf den Standpunkt der +Friedenspolitik zurück und verweigerte eine Truppensendung. + +Schon im März 1884 war die Lage Khartums eine bedenkliche geworden. +Etliche Kilometer nördlich von der Stadt befindet sich das kleine +Halfaja, woselbst eine Truppenabteilung von achthundert Mann, +welche Gordon mit Waffen versehen hatte, von viertausend Rebellen +eingeschlossen war. Der Ort liegt am Fluß, aber neuerdings war auch +die Schiffahrt abgeschnitten. Die Besatzung hielt mutig aus und +Gordon beschloß, ihr zu Hilfe zu kommen. Die Rebellen wurden täglich +kühner und waren der Stadt selbst schon so nahe gerückt, daß ihre +Kugeln den Palast erreichten. Es schien, als ob man sich auf die +Verteidigung Khartums beschränken müsse, allein der Versuch, jene +Getreuen zu entsetzen, sollte gemacht werden. Gordon hatte drei +Dampfer kriegstüchtig gemacht und mit Geschütz versehen; mit diesen +und zwölftausend Mann zog er aus. Nach zwei Tagen hatte er mit +Verlust von zwei Mann die Belagerten entsetzt, und mit der Besatzung +von Halfaja, ihren Kamelen und Pferden und einem beträchtlichen +Vorrat von Kriegsbedarf kehrte er nach Khartum zurück. Der Jubel in +der Stadt soll keine Grenzen gekannt haben, aber nur zu bald stand +der öffentlichen Freude die Unglückspost gegenüber, daß Schendi den +Rebellen erlegen und Berber bedroht sei. Die Khartumer selbst erlebten +auf ihren Sieg eine böse Niederlage. Denn als die Rebellen fortfuhren, +sich in der Nähe der Stadt zu postieren und den Palast zu beschießen, +beschloß Gordon einen zweiten Ausfall, den er den ägyptischen Truppen +unter ihren eigenen Offizieren übertrug. Er selbst beobachtete die +Bewegungen vom Dach des Palastes aus. Die feindliche Linie erstreckte +sich mehrere Kilometer weit am Blauen Nil hin. Die Ägypter drangen +stetig vor und der Feind zog sich hinter die Dünen zurück, die, +teilweise mit Bäumen und Strauchwerk bewachsen, eine natürliche +Schutzwehr bilden. Es schien, als ob die Rebellen den Kampf weigern +wollten, und die andern rückten ihnen nach, ihre Anführer voraus, +bis diese wie von einem plötzlichen Schrecken ergriffen unversehens +kehrt machten und auf ihre eigene Mannschaft eindrangen. Es entstand +Unordnung; in die gebrochenen Reihen stürzten sich die berittenen +Rebellen und die Flucht der Ägypter war die Folge. Ein Rebell +durchrannte mit seinem Speere sieben Flüchtlinge in sieben Minunten. +Das fürchterlichste Gemetzel zog sich bis in die Nähe von Khartum. Es +war in jeder Hinsicht eine schimpfliche Niederlage. Die überbleibende +Mannschaft aber war laut in der Anklage gegen ihre beiden Anführer, +welche den ganzen Reißaus ins Werk gesetzt hatten. Es wurden sogar +Beweise beigebracht, daß einer derselben einen Kanonier zu Boden +schlug, der sein Geschütz gegen den Feind richten wollte. Sieben +Stunden nach dem Gefecht lagen noch Verwundete umher; zum Glück waren +es nur zwanzig, denn die Araber machten den Verwundeten den Garaus wo +sie konnten. Oberst Stewart holte sie heim mit einem der Dampfer und +brachte sie ins Lazaret. Weithin lagen die Erschlagenen, zweihundert +an der Zahl, während der Feind nur vier Mann eingebüßt hatte. + +Den beiden Anführern wurde übrigens ihr Lohn zu teil; die Leute +brandmarkten sie einstimmig als Verräter, welche absichtlich +gegen ihre Mannschaft kehrt gemacht hatten, um für den Feind eine +Öffnung zu gewinnen. Beide Pascha, Said und Hassan, wurden vor ein +Kriegsgericht gestellt und erschossen. In Hassans Wohnung fand sich +ein beträchtlicher Waffenvorrat vor, und es ergab sich überdies, daß +beide den Truppen ihre Löhnung vorenthalten und selbst eingesteckt +hatten. Sie hatten es offenbar darauf abgesehen, früher oder später +zum Feinde überzugehen. Die Stimmung Khartums litt übrigens nicht +durch diese Niederlage. Die Bevölkerung war voll guter Zuversicht zu +ihrem Statthalter und es fehlte nicht an handgreiflichen Beweisen +der Opferwilligkeit. Ein wohlhabender Araber bot Gordon ein +unverzinsliches Darlehen von siebentausend Thaler an, ein anderer war +erbötig, zweihundert Mann auf eigene Kosten zu bewaffnen. Die Stadt +war bereit, sich an Gordon zu halten, der sie seinerseits nicht im +Stich lassen würde. Die Rebellen schickten täglich ihre Grüße über die +Mauern und schienen es besonders auf den Regierungspalast abgesehen zu +haben, der nach kurzer Zeit mit Kugeln gespickt war. Den Statthalter +selbst, der viele Stunden auf seinem Dach verbrachte, traf keine; +sie fielen zu seiner Rechten, sie fielen zu seiner Linken, er selbst +schien gefeit wie früher. + +Dem falschen Propheten hatte Gordon anbieten lassen, er wolle ihn zum +Sultan von Kordofan ernennen, wenn er zu unterhandeln bereit sei. +»Ich bin der Mahdi,« lautete die großartige Antwort. Drei bewaffnete +Derwische erschienen eines Tages vor Khartum und begehrten Audienz. +Sie wurden vor Gordon gebracht. Ihr Auftrag war, die Feierkleider +zurückzubringen, die dieser dem Mahdi als Friedensgeschenk übersandt +hatte. Darauf produzierte sie ein Derwischgewand, das Gordon anlegen +sollte, um sich damit als Muselman und Anhänger des Propheten Mohammed +Achmet, des Mahdi, zu bekennen. Es läßt sich denken, daß jener mit +nicht allzuviel Zeremonie für die zugedachte Ehre sich bedankt hat. +Von Stund an war es klar, daß von einer Räumung des Landes keine +Rede sein konnte, wenn nicht der Mahdi wie einst Pharao mit Gewalt, +im gegenwärtigen Falle mit Waffengewalt, belehrt wurde, daß er diese +Leute müsse ziehen lassen. Auf britische Truppen aber war nicht +zu rechnen und Gordon sah, daß ihm nichts weiter übrig blieb, als +selbst zu handeln; auch war er rasch entschlossen und erließ an alle +ägyptischen Truppen, welche durch die Wüste nordwärts zogen, den +telegraphischen Befehl zurückzukehren. + +Es läßt sich hier passender Weise Gordons Ansicht über den Abfall vom +Glauben einschalten. Vorausgeschickt sei die Bemerkung, daß der Mahdi +nicht alle Europäer in diesem Stück so fest fand wie unsern Helden. +Als Obeid in die Hände des falschen Propheten fiel, soll nur einer +der dortigen römischen Missionspriester Treue gehalten haben, alle +andern mitsamt den Nonnen trieb die Angst dem Mohammedanismus in die +Arme. Die letzteren gingen sogar noch weiter, und traten mit dortigen +Griechen in ein nominelles Ehebündnis, um sich vor Gewalt zu schützen. +Da wird der Papst einen schönen Lärm schlagen, meinte Gordon, das ist +ja eine Union der katholischen Kirchen. Es ist übrigens nicht dieser +Scherz, worauf wir hinweisen wollten, sondern auf folgende Stelle in +seinem Septembertagebuch: + + »Was die an den Mahdi und an verschiedene Araber-Häuptlinge + geschriebenen Briefe anlangt, so gebe ich zu, daß sie scharf waren, + aber es ist keine Kleinigkeit, wenn ein Europäer aus Furcht vor dem + Tod seinem Glauben abschwört; es war nicht so vor alters, und sollte + auch heute nicht so leicht von statten gehen, wie das Vertauschen + eines Rockes mit einem andern. Wenn der christliche Glaube auf + Einbildung beruht, dann werft ihn immerhin ab; aber es ist niedrig + und ehrlos das zu thun, um sein Leben zu retten, wenn man ihn für + den wahren Glauben hält. Was kann stärker sein als diese Worte: ›Wer + mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen + vor meinem himmlischen Vater!‹ Die alten Märtyrer betrachteten solche + als ihre Feinde, die sie davon abzuhalten suchten, ihren Glauben frei + zu bekennen. Und was für Männer hatten wir in England zur Zeit der + Glaubensverfolgungen, als die Reformation sich Bahn brach, und damals + galt es nicht um das, um was es hier gilt; es handelte sich dort nur + um die Messe, während es sich hier um unsern Herrn und sein Leiden + handelt.... In politischer wie moralischer Hinsicht ist es besser für + uns, nichts mit den abtrünnigen Europäern im arabischen Feldlager zu + thun zu haben. Verrat führt nie zu gutem Ende, und mag es uns gehen + wie es will, so ist es besser wir fallen mit reinen Händen ..... Mit + Ehren zu erliegen, ist besser als ein Sieg mit Unehren, und auch die + Ulema in der Stadt sind dieser Meinung. Sie wollen nichts mit Verrat + zu thun haben.« + +Wo im obigen Punkte stehen, hatte Gordon angemerkt, wenn die +Tagebücher je gedruckt würden, sei es vielleicht gut, die ganze Stelle +zu unterdrücken, denn kein Mensch habe das Recht, einen andern zu +richten. + +Es mag eine schwere Zeit inneren Kampfes für Gordon gewesen sein, als +es ihm aus den englischen Depeschen immer klarer wurde, daß man ihm +nicht nur die Hilfe Sebehrs verweigerte, sondern überhaupt gesonnen +war, ihn sich selbst zu überlassen -- Krieg sollte vermieden werden; +und das Schlimmste war noch, daß die Hälfte der abgesandten Depeschen +ihn gar nicht erreichte. Es fehlte nicht an dringenden Vorstellungen +seinerseits, und wochenlang schien Schweigen die Antwort zu sein. Wohl +war er mit dem Gedanken ausgezogen, daß er als ein Friedensapostel +kraft seines persönlichen Einflusses die ihm übertragene Mission +erfüllen solle. Daß seine Regierung ihm aber gegebenen Falls unter die +Arme greifen, daß sie ihn mindestens nicht im Stich lassen würde, das +sollte keiner Vorversprechungen bedurft haben! Gordon hatte wieder und +wieder erklärt, daß es ganz unmöglich wäre, die ägyptische Besatzung +von Khartum zurückzuziehen, ohne die Stadt dem Mahdi zu überantworten +und, was noch schlimmer wäre, die ägyptischen Besatzungen von Kassala, +Sennar, Berber, Dongola und weiterhin in der Bahr el Ghasal ihrem +Schicksal zu überlassen; dies aber erschien ihm als eine Feigheit, +zu der er die Hand nicht bieten wollte. Was den Aufstand an sich +betrifft, so war Gordon der Ansicht, daß es zu jener Zeit noch +nicht tausend Mann englischer Truppen bedurft hätte, um gründlich +aufzuräumen. Und als es klar war, daß englisches Militär zu diesem +Zweck nicht vorhanden sei, kam er um die Erlaubnis ein, an die Türken +zu appellieren; auch dies wurde ihm verweigert. Es war um diese Zeit, +im März, daß der verlassene Held in einer eigentümlichen Depesche der +englischen Regierung wie den ägyptischen Behörden seinen Dank für +alle bisherige Beihilfe aussprach und die Erklärung beifügte, die +betreffenden Machthaber hätten alles gethan, was von ihnen zu erwarten +sei. Gordons englischer Biograph, Hake, macht darauf aufmerksam, daß +diese Worte, so satirisch sie auf den ersten Blick erscheinen, auch +nicht die Spur von Hohn enthalten, daß sich vielmehr die einfache +und männliche Haltung des Mannes darin auspräge, von Stund an die +Verantwortung der Lage auf ~seine~ Schultern zu nehmen als einer, +der sich gezwungen sieht, der Übermacht der Umstände nach bestem +Ermessen in eigener Kraft entgegen zu treten. In der Freiheit des +Handelns aber lag die eine Hoffnung, die Tausende zu retten, deren +Ankerpunkt er war. Es liegt etwas unendlich Rührendes darin, daß +Gordon sich, abgesehen von seinem Pflichtgefühl überhaupt, für die +ägyptischen Besatzungen aufopferte, für Menschen, die er im besten +Fall immer nur als »Schafe« kennen gelernt hatte und von denen er +nie viel Gutes sagen konnte. Diese Thatsache ist nicht der geringste +Edelstein in der Krone des unvergleichlichen Mannes. Ein schönes +Streiflicht hiezu giebt uns sein Tagebuch unterm 27. Oktober: + + »Nicht weil ich dieses Volk hochachte, befürworte ich es, ihnen + zu helfen, sondern weil sie ein so kraftloses, selbstsüchtiges + Geschlecht sind, und weil dies die Frage unserer Pflicht ihnen + gegenüber nicht beeinflussen kann. Die Erlösung der Menschen hätte + nicht stattgefunden, käme unser Verdienst dabei in Betracht.« Und + anderswo: »es ist ja gerade, ~weil~ wir so unwert sind, daß der + Herr uns erlöst hat.« + +Selbst im eigenen Lager war Gordon vor Verrat nicht sicher, und die +Wohlgesinnten waren ein verzagtes Volk. Hake vergleicht ihn treffend +mit dem kühnen Schiffsführer, der mit fester Hand ans Steuer tritt, +um, so es möglich ist, die ihm anvertrauten Seelen in der Sturmnot +zu retten. Ein Segel am Horizont war in Sicht gewesen, ja die eigene +englische Flagge, aber trotz seiner Notsignale beharrte der ferne +Segler auf seiner Bahn. Man hatte ihm nur zurücksignalisiert: »Ihr +habt Boote und könnt euch davonmachen; laßt das Schiff sinken, es +ist doch nicht zu retten.« Nicht so der Tapfere; trug sein Schiff +doch kostbare Dinge, Schätze, die er nicht gering achtete, als da +sind die Ehre des Mannes und die des Volkes, dem er angehört, und +Gerechtigkeit, ja Erbarmung gegen die Hilflosen, die an ihn sich +halten. Ist sein Schiff anderen nicht so viel wert, daß sie es retten, +so will er thun was er kann, und lieber mit versinken, als ehrlos +davongehen. Er ruft sein Schiffsvolk zusammen und sagt ihnen: »Selbst +ist der Mann!« Er heißt sie die nutzlose Notflagge einziehen und zeigt +ihnen, wie das lecke Schiff noch flott zu halten ist. Er beseelt sie +mit einem Heldenmut und die Verzagenden legen Hand an, seiner Führung +vertrauend. Wohl hätten sie Rettungsboote, sagt er ihnen, aber nicht +für alle, und wer die eigene Haut retten wolle, der könne es immerhin +versuchen. Die Sturmflut steigt, Wellen türmen sich auf Wellen, und +zwischen den Wogen gähnt das Grab. Das ferne Segel, die ihm teure +Flagge verschwindet am Horizont. Wohl kostet es ihn bitteren Schmerz, +doch wächst der Mut ihm mit der Not. Noch ist es Tag, er will thun, +was er kann als Schiffsherr und Steuermann; und kommt die Nacht, so +ist Gott über ihm und ist auch dann noch da, wenn kein Polarstern mehr +leuchtet. + +Und Gordon blieb in Khartum, als englische Saumseligkeit sich +zurückzog. Wer will es ihm verargen, daß die Haltung der Regierung, +auf die er sich verlassen hatte, ihn mit Entrüstung erfüllte? Mit +nackten Worten meldete er derselben, daß, möchten sie thun, was sie +verantworten könnten, er nie und nimmer eine Besatzung verlassen +werde, die an ihn sich klammere, daß er allen und jeden Versuch machen +werde sie zu retten, ob solche Versuche auf den Leisten der Diplomatie +paßten oder nicht. Die Khartumer hätten ihm ihr Geld geliehen, er +hätte sie veranlaßt ihr Getreide billig zu verkaufen, er könne sein +Schicksal von dem ihren nicht trennen. + + »Soweit ich die Lage beurteilen kann,« telegraphierte er am 5. Mai + an Sir E. Baring, der für ihn die englische Regierung vertrat, »ist + sie einfach die: Sie erklären es als Ihre Absicht, weder Khartum + noch Berber mit Truppen zu Hilfe zu kommen, und Sie verweigern mir + Sebehr. Ich betrachte mich unter diesen Umständen frei, zu handeln + wie die Lage gebietet. So lange es möglich ist, werde ich hier + feststehen, und wenn ich den Aufruhr unterdrücken kann, werde ich + es thun. Vermag ich es nicht, dann ziehe ich mich an den Äquator + zurück und ~überlasse Ihnen den unauslöschlichen Schimpf, die + Besatzungen von Sennar, Kassala, Berber und Dongola im Stich gelassen + zu haben, mit der Gewißheit obendrein, daß Sie den Mahdi früher oder + später doch noch werden vernichten müssen -- und dann unter größeren + Schwierigkeiten als jetzt -- wenn Sie anders Ägypten nicht auch + fahren lassen wollen.~« + +Dieses Telegramm war sozusagen Gordons letzter Hilferuf an die +englischen Minister; er verhallte ungehört. Die Stimme des Volkes +zwar erhob sich und wollte den Helden nicht verlassen sehen. Auch im +Parlament kam die Sache wieder und wieder zur Sprache. Lord Granville +erklärte, daß wenn Gordon sich verlassen fühle, es nur deshalb +sein könne, weil die englischen Telegramme ihn nicht erreichten; +und Gladstone gab die keiner Auslegung bedürfende Erklärung ab, +daß es Gordon jederzeit frei stünde, seinen Auftrag niederzulegen +und nach England zurückzukehren! Die öffentliche Meinung in jenen +Tagen glich einer wogenden See; Gordons Telegramm konnte nichts +anderes als Teilnahme hervorrufen. In einer Versammlung englischer +Bürger wurde einstimmig erklärt: »Wir verwerfen die Politik, die im +Begriff ist, Gordon im Stich zu lassen, als eine unwürdige und das +Land entehrende.« Und sowohl in dieser Versammlung als anderwärts +wurde darauf hingewiesen, daß Gordons eigenartige Mission selbst den +Ministern gegenüber von der Voraussetzung nicht zu trennen wäre, daß +er nach seiner Einsicht handeln müsse, und daß man ihm, als er die +Sendung übernahm, zu verstehen gegeben hätte, Unterstützung würde +ihm nötigenfalls werden. Es seien leere Versprechungen gewesen; er +habe um Geldmittel telegraphiert, man habe sie ihm verweigert; er +habe nachgewiesen, daß Sebehr die beste Lösung der Frage sei, man sei +ihm entgegengetreten; er habe um Truppen nachgesucht, man habe ihn +benachrichtigt: er dürfe nicht darauf rechnen. + +Selbst Privatpersonen erklärten sich bereit, für die Regierung +in die Bresche zu treten. Eine wohlhabende Dame bot in der Times +hunderttausend Mark an, in der Hoffnung, daß durch freiwillige +Beiträge eine genügende Summe zusammenkommen würde; anderthalb +Millionen Mark wurden gezeichnet, eine Schar Freiwilliger sollte +ausziehen, um England die Schande zu ersparen, den Helden und seine +beiden opferwilligen Gefährten umkommen zu lassen, es wurde nicht +genehmigt. Der Horizont wurde täglich dunkler. Dringende Mahnrufe +ergingen an die Regierung von dem belagerten Berber; man könne nicht +helfen, hieß es. Hilfe thue dort in sechzehn Stunden not, und ein +Zuzug brauche ebenso viele Wochen. Daher unterblieb er. Das letzte, +was man von Berber hörte, war die Botschaft, daß Hussein Khalifa +die Stadt nur noch mit der Hoffnung halte, daß englischer Entsatz +auf dem Wege sei; und als sich die Hoffnung als eine leere erwies, +hieß es auch dort: Wir sind verlassen, wenn Gott uns nicht hilft. +Von Kairo war Nachricht nach London gekommen, daß in Berber ein +panischer Schrecken den Rebellen in die Hände arbeite, und wenn die +telegraphische Verbindung nach Khartum noch einmal benutzt werden +solle, dann sei keine Zeit zu verlieren. + +Und Berber fiel, unter Greuelszenen, wie sie den Sudan-Krieg +kennzeichnen. Es war das Vorspiel für Khartum. Es war die Brandglocke. +Noch wäre es Zeit gewesen, um dort zu löschen, allein man schlief +ruhig weiter, ob nicht ein Regenguß vom Himmel, oder sonst was zu +Hilfe käme und eigene Anstrengung ersparte. Und Schweigen fiel auf +die verlassene Stadt. Depeschen blieben aus, man wußte nicht mehr +wie es dort ging. Fünf Monate lang keine Nachricht oder doch nur +unzuverlässige Gerüchte. Doch das wußte, wer es wissen wollte -- sein +vergangenes Leben bürgte dafür -- daß Gordon die Pflicht für sein Volk +wie ein Held erfüllte. Hatten die Seinen ihn verlassen, so war Gott +mit ihm, und er wagte den Kampf. + + + 5. Mannhaft auf dem Posten. + +Gordon verlor keine Zeit, die Verteidigung Khartums ins Werk zu +setzen. Seine erste Sorge war der Proviant. Es ergab sich, daß die +Stadt eine fünfmonatliche Belagerung würde aushalten können. Den Armen +wurde eine tägliche Ration bewilligt. Der leeren Kasse half er durch +Papiergeld auf, und es beweist das Vertrauen der Leute, daß ihnen sein +Wort für Zahlung galt. Auf diese Weise hielt er sein unzuverlässiges +Militär zusammen und verhinderte wenigstens um jene Zeit das +Desertieren. Um die Stadt her legte er Sprengminen, und in Erwartung +der unbeschuhten Füße etwaiger Sturmläufer war der Boden weithin mit +Glasscherben und zu ähnlichen Zwecken angefertigten Stachelnüssen +bestreut, nämlich mit eisernen Nüssen, die, wie sie auch fallen, eine +oder mehrere ihrer Spitzen nach oben kehren. Zwischen den Minen waren +Drahtangeln angebracht, um den anlaufenden Feind zu Fall zu bringen. +Gordon war entschlossen, sich und die Stadt so teuer als möglich zu +verkaufen. An Schießbedarf fehlte es glücklicherweise nicht. Auch ließ +die Gesundheit der Stadt nichts zu wünschen übrig, und der Nil war im +Steigen; letzteres war ein Hauptfaktor in Gordons Berechnung, welcher +sich bei dem Angriff auf die Rebellen hauptsächlich auf seine Dampfer +verließ. + +Keine Woche verging, ehe er die Scharte der Dünen-Niederlage +auswetzte, und zwar eben durch einen der Dampfer, der mit einer +Kruppkanone unter den Rebellen aufräumte. Es war Gordons Genie, +das aus gewöhnlichen Nilbooten Kriegsschiffe schuf, die ihrem +Zweck vollkommen genügten. Manchen heißen Arbeitstag verwandte +er selbst darauf, diese Schiffe mit Eisenplatten und mehrfach +übereinandergelegten Holzdielen zu panzern und zum Spießrutenlaufen +zwischen den von den Rebellen besetzten Ufern kugelfest zu machen. +Seine Dampfer begleiteten sechs Barken, auf denen er zwanzig Fuß hohe +Türme errichtete, die seine Schützen trugen. Die Flotte muß einen +seltsamen Anblick gewährt haben, Gordon war aber offenbar stolz auf +ihre Tüchtigkeit. + +Saati Bey war Flottenführer. Fast täglich wagte das kleine Geschwader +den Ausfall aus der blockierten Stadt und kehrte öfters mit Beute +-- Vieh und Getreide -- zurück, was nicht mit Geld aufzuwiegen war. +Überhaupt konnte Gordon nur auf die Schiffe rechnen, wie aus seiner +nicht ohne bitteren Humor abgefaßten Notiz hervorgeht: + + »Unsere Dampfer halten sich prächtig; das ist ein Vorteil zu Wasser, + daß die Mannschaft nicht davonlaufen kann, sondern wohl oder übel + stand halten muß!« + +Es fehlte auch nicht an kleinen Gefechten, wodurch wenigstens das +erreicht wurde, daß man sich die Rebellen auf Armslänge vom Leibe +hielt; einen Angriff auf die Stadt selbst wagten dieselben nicht +mehr, nachdem sie mit den Sprengminen Bekanntschaft gemacht hatten. +Als Berber gefallen war, schlossen sich an den Mahdi auch die +Schaggyeh-Beduinen an, die das Land nordwärts von Khartum inne hatten. +Damit war die Isolierung der Stadt eine vollständige. + +Die Spannung in England nahm mit den Sommermonaten zu. Bei dem +Ausbleiben aller glaubwürdigen Nachrichten malte man sich die Lage der +Stadt noch schlimmer aus, als sie damals in Wirklichkeit war; man sah +sie dem hohläugigen Hunger einerseits, den fanatischen Horden des +Mahdi andererseits in die Arme fallen, man sah den heroischen Gordon +mit seinen tapferen Gefährten, wie sie, von aller Welt verlassen, +den sinkenden Mut von Tausenden aufrecht erhielten, obschon ihnen +selbst kein Hoffnungsstern leuchtete. Und als endlich verlautete, der +Regierung habe das Gewissen geschlagen und Entsatzungstruppen würden +abgehen, da hielt mancher dafür, wie es sich ja leider auch als wahr +erwiesen hat, daß das Ministerium der Verspätungsmaßregeln auch hier +wieder mit dem guten Willen hinterdrein kommen werde. + +Am 29. September, nach fünfmonatelangem Schweigen brachte die Times +Nachrichten von Khartum. Die Aufzeichnungen Powers[15] waren am Abend +vorher angelangt, und das englische Volk las mit klopfendem Herzen, +wie es den drei Söhnen Englands in der belagerten Nilstadt erging; +hatte man doch die Hoffnung aufgegeben, je wieder Beruhigendes von +ihnen zu vernehmen. Die hier folgenden Notizen zeigen mit der Kürze +von Depeschen, wie Gordon, Stewart und Power zwischen dem ersten Mai +und letzten Juli mannhaft auf ihrem Posten standen und Khartum bis +dahin gehalten hatten. + +»1. Mai. -- Der befehlende Offizier der Sappeurs legte eine Sprengmine +mit achtundsiebzig Pfund Pulver, trat aber unglücklicherweise selbst +darauf und wurde mit sechs seiner Leute zerschmettert. + +»3. Mai. -- Ein Mann berichtet von einer englischen Armee in Berber. + +»6. Mai. -- Energischer Angriff seitens der Araber auf die +Befestigungen am Blauen Nil; die Minen, die wir bei Buri legten, +brachten ihnen große Verluste. + +»7. Mai. -- Starker Angriff von einem gegenüberliegenden Dorf; +neun Minen explodierten und wir hörten nachher, daß es die +Rebellen einhundertundfünfzehn Tote kostete. Die Araber schossen +ununterbrochen. Oberst Stewart vertrieb sie mit zwei prächtigen Salven +aus einem vor dem Palast aufgestellten Kruppschen Zwanzigpfünder +aus ihrer wichtigsten Stellung. Während der Nacht brachen sie +Schießscharten in die Mauern, aber am 9. verjagten wir sie, nachdem +sie das Dorf drei Tage innegehabt hatten. + +»25. Mai. -- Oberst Stewart, durch eine feindliche Kugel verwundet, +während er eine Mitrailleuse vor dem Palast leitete, ist jetzt wieder +hergestellt. + +»26. Mai. -- Bei einem Manöver auf dem Weißen Nil schoß Saati Bey eine +Bombe in ein arabisches Pulvermagazin. Gewaltige Explosion, an sechzig +Bomben platzten. + +»Während der Monate Mai und Juni tägliche Dampferexpeditionen unter +Saati Bey. Unsere Verluste unerheblich. Viel Vieh eingebracht. + +»25. Juni. -- Cuzzi, der englische Konsul von Berber, der bei den +Rebellen ist, brachte unsern Linien Bericht vom Fall Berbers. Er ist +auf dem Weg nach Kordofan. + +»30. Juni. -- Saati Bey hat den Rebellen vierzig Ardeb Korn abgejagt, +und zweihundert Araber sind dabei gefallen. + +»10. Juli. -- Saati Bey machte einen Angriff auf Gatareeb, nachdem er +Kalkala und drei andere Dörfer in Brand gesteckt hatte; er und drei +seiner Offiziere fielen. Saatis Verlust ist keine Kleinigkeit. + +»29. Juli. -- Wir haben die Rebellen aus Buri am Blauen Nil verjagt; +es hat sie viel Tote gekostet, uns ziemlich Munition und achtzig +Gewehre eingetragen. Die Dampfer rückten bis El-Efan vor, säuberten +dreizehn Schanzen und zerschmetterten zwei Kanonen. Die ganze +Belagerung bisher hat uns keine siebenhundert Mann gekostet. + +»31. Juli. -- Mit dem heutigen schließt der fünfte Monat der +Belagerung. Gestern schickte ich über Kassala einen übersichtlichen +Bericht über unsere Lage und die hauptsächlichsten Ereignisse seit dem +25. März. Bis 23. April ging wöchentlich mehrmals Nachricht ab; nach +diesem Datum war's unmöglich Botschaft nach Berber zu bringen. Wir +sind jetzt seit fünf Monaten eng belagert, die arabischen Geschosse +erreichen den Palast von allen Seiten. + +»Seit 17. März ist kein Tag ohne Beschießung vergangen, trotzdem +berechnen sich unsere Toten von Anfang an höchstens auf siebenhundert. +Verwundungen, die im ganzen leicht sind, gab's viele. Seit die Stadt +eingeschlossen ist, läßt General Gordon den Armen Zwieback und Korn +verabreichen, und bis jetzt hat niemand ernstlich Not gelitten. Aber +Teuerung herrscht, und die Lebensmittel sind enorm im Preis gestiegen; +Fleisch, wenn man's überhaupt kriegen kann, kostet acht oder neun +Schilling per Ober. Die Klassen, die sich nicht unterstützen lassen +können, leiden am meisten. + +»Mit der Nachricht, die uns vorgestern erreichte, ist unsere letzte +Hoffnung dahin, daß unsere Regierung uns zu Hilfe kommen werde. Wir +haben noch Mundvorrat auf zwei Monate, und dann bleibt uns nicht +übrig als zu fallen. Mit den Truppen, die uns zu Gebot stehen, und +den vielen Weibern und Kindern ist es ganz unmöglich daran zu denken, +sich durch die Araber durchzuschlagen. Wir haben nicht genug Dampfer, +um alle fortzuschaffen, und nur mit Hilfe der Dampfer können wir den +Rebellen begegnen. + +»Ein berittener Araber genügt, um zweihundert von unserer Mannschaft +in die Flucht zu schlagen. Als Saati Bey fiel, hatten ihrer acht mit +Speeren zweihundert der unsern angegriffen, deren jeder sein Gewehr +trug. Die Kerle nahmen sofort Reißaus und kümmerten sich nicht darum, +daß Saati und sein Vakil erschlagen wurde. Ein schwarzer Offizier hieb +drei jener Araber zusammen, und die anderen fünf genügten, die ganze +Truppe der unsern davonzujagen. Ein Berittener, der dazu kam, sprengte +durch die flüchtige Schar und schlug sieben zu Boden. Oberst Stewart, +der keine Waffen trug, kam wie durch ein Wunder davon; die Araber +hatten ihn nicht gesehen. Was kann man mit solchen Truppen anfangen? +Die Neger sind die einzigen, auf die wir uns verlassen können. + +»Der Ausfall der schwarzen Mannschaft unter Mehemet Ali Pascha am +28. dieses war glänzend; die Araber müssen schwere Verluste gehabt +haben. General Gordon hat es den Soldaten verboten, die Köpfe der +erschlagenen Rebellen einzubringen, die Zahl läßt sich daher nur +mutmaßen. Wir eroberten bei dieser Gelegenheit sechzehn Bomben, +ziemlich viel Kartätschen und Patronen, eine schöne Anzahl Gewehre, an +zweihundert Lanzen, sechzig Schwerter und einige Pferde. Wir hatten +vier Tote und etliche Leichtverwundete. Dieser Sieg hat uns die +Rebellen eine Zeit lang vom Hals geschafft, die unsere Linien bei Buri +am Blauen Nil unablässig, selbst nachts, beschossen. + +»Den folgenden Tag, am 29. dieses, rückte unser Geschwader, d. h. fünf +Kriegsdampfer und vier mit Türmchen und Geschütz versehene Barken, +nach Giraffa am Blauen Nil vor. Ich ging mit. Wir säuberten dreizehn +kleine Forts, stießen aber bei Giraffa auf zwei beträchtlichere +Verschanzungen -- Erdwälle mit starken Palissaden aus Palmstämmen. +Die eine trug zwei Kanonen. Wir beschossen diese Verschanzungen acht +Stunden lang, bis wir die beiden Kanonen mit unserem Kruppschen +Zwanzigpfünder endlich zum Schweigen brachten. Die Gewehre der +Araber knatterten unaufhörlich; unsere Panzerboote aber können einen +Kugelregen aushalten, und so hatten wir nur drei Tote bei zwölf oder +dreizehn Verwundeten. Gegen Abend verjagten wir die Rebellen, die +ziemlich zahlreich waren. + +»In etwa drei Tagen beabsichtigt General Gordon zwei Dampfer gegen +Sennar zu schicken. Wir hoffen, daß sie den Dampfer »Mehemet Ali« +wieder kapern, den die Rebellen dem Saleh Bey neulich abjagten. +General Gordon ist wohl auf, und Oberst Stewarts Wunde ist wieder +heil. Auch ich bin wohl und guter Dinge.« + +Man atmete auf in England bei dieser Nachricht und war stolz auf +die drei Tapferen, die sich so rühmlich hielten. Und ob der Freude +vergaß man im ersten Augenblick, wie lange die Botschaft unterwegs +war! »~Wir haben noch Mundvorrat auf zwei Monate und dann bleibt +uns nichts übrig, als zu fallen~,« so schrieb man am 31. Juli in +Khartum, und am 29. September wiederhallten diese Worte in England. +Noch ein Tag fehlte an der gesteckten Frist. Wie stand es jetzt um +Khartum? + +Am 30. Juli schrieb Gordon an Sir E. Baring: + + »Besten Dank für Ihre guten Wünsche. Der Nil ist jetzt hoch, und wir + hoffen, in wenigen Tagen offene Route nach Sennar zu haben. Unsere + Verluste bis jetzt sind nicht ernstlicher Art. Stewart war leicht + verwundet, ist aber wieder hergestellt. Seien Sie überzeugt, daß + wir diese Gefechte nicht suchen, aber wir haben keine andere Wahl, + denn der Rückzug wäre nur dann möglich, wenn wir die Zivilbeamten + und ihre Familien im Stich ließen, wogegen die allgemeine Stimmung + der Truppen sich auflehnt. Ich habe keinen Rat zu geben. Wenn wir + Sennar entsetzen und den Blauen Nil säubern können, wären wir stark + genug, Berber zurückzuerobern, d. h. wenn Dongola sich halten kann. + Nicht ein Pfund von Ihren Hilfsgeldern ist hier angelangt; es ist + dem Feind in Berber in die Hände gefallen. Und ich mißgönne es + den Arabern nicht, denn es ist doch nur ein Teil von dem, was die + ägyptischen Pascha dem Land erpreßt haben. Es sollten vier Millionen + Mark nach Kassala geschickt werden; man muß diesen Besatzungen + wenigstens mit Geld zu Hilfe kommen. Khartum kostet zehntausend Mark + per Tag. Wenn der Weg nach Berber frei wird, werde ich Stewart mit + dem Tagebuch hinschicken, d. h. wenn er einwilligt. Das dürfen Sie + glauben, wenn es irgend eine Möglichkeit gäbe, dieses erbärmliche + Scharmützeln einzustellen, so würde ich sie ergreifen, denn mir ist + der ganze Krieg verhaßt. Die Leute sind dagegen, daß ich die Stadt + verlasse, aus Furcht, daß alles noch schlimmer würde, wenn mir + etwas zustieße; so sitze ich immer auf Sohlen, wenn die Mannschaft + draußen ist. Wenn ich irgend jemand hier ans Ruder stellen könnte, + so würde ich es thun, aber es ist niemand da; alle tüchtigen Kräfte + zogen mit Hicks aus und sind geblieben. Als Beweis, wie gut die + Araber schießen, hat der eine Dampfer neunhundertundsiebzig und der + andere achthundertundsechzig Verletzungen im Rumpf. Seit unserer + Niederlage am 16. März haben wir nur etwa dreißig Tote und fünfzig + oder sechzig Verwundete gehabt, was sehr wenig ist. Wir haben wohl + eine halbe Million Patronen verschossen. Die Leute halten sich + im ganzen gut ... Es mag taktlos klingen, aber wenn wir je davon + kommen, so geben Sie dem Stewart einen Orden, aber nur mir nicht. + Ersparen Sie mir die Unannehmlichkeit es abzulehnen, aber ich hasse + solches Zeug. ~Wenn~ wir davonkommen, so ist es lediglich durch + Gebetserhörung und nicht aus eigener Kraft; fürs übrige ist's dann + eine Genugthuung, hier gewesen zu sein, so trostlos es manchmal ist. + Stewarts Tagebuch ist sehr ausführlich. Ich will nur hoffen, daß es + Sie erreicht, wenn ich's schicken kann. Landminen werden künftig + unsere beste Verteidigung sein; wir haben die Außenwerke damit + bedeckt, bis jetzt haben sie allen Angriff abgehalten und tüchtig + aufgeräumt ... Wir haben einen Khartum-Orden von drei Graden -- + Silber mit Vergoldung, Silber und Zinn -- eingeführt, eine Granate + mit der Umschrift »die Belagerung von Khartum«. Sogar Frauen und + Schulkinder haben ihn schon erhalten; ich bin daher sehr populär bei + den schwarzen Damen. Wir haben Papiergeld im Wert von einer halben + Million Mark in Umlauf gesetzt, und von Kaufleuten habe ich eine + Million geliehen, beides auf ~Ihren~ Kredit hin! Auch habe ich + einhundertundsechzigtausend Mark Papiergeld nach Sennar geschickt. + Was die Steuern betrifft, so zahlt man uns nur in Blei, woraus Sie + abnehmen mögen, daß Sie eine schöne Rechnung hier zusammenkriegen. + Die Truppen und die Leute im ganzen sind gutes Muts ... Ich glaube, + daß eine schreckliche Hungersnot durchs ganze Land das Finale sein + wird. Ein Spion brachte gestern die Nachricht, die ›Königin von + England‹ sei in Korosko -- vielleicht ist es ein Schiff. Sieben Mann, + ich mitgerechnet, sind die ganze Verstärkung, deren der Sudan seit + der Hicks-Niederlage sich rühmen kann! während wir euch sechshundert + Mann Militär und zweitausend Mann Zivil zugeschickt haben -- wir + lachen manchmal darüber. Ich werde Khartum nicht verlassen, ehe ich + jemand an meine Stelle setzen kann. Wenn die Europäer, die hier sind, + suchen wollen, den Äquator zu erreichen, so will ich ihnen mit den + Dampfern dazu behilflich sein; aber nach all dem, was hinter uns + liegt, kann ich die Leute nicht im Stich lassen. -- Ich habe Ihnen ja + gesagt, daß der Weg über Wady Halfa am rechten Nilufer hin der beste + wäre; hätte Berber sich gehalten, so wäre es eine Vergnügungsfahrt. + Eine andere Möglichkeit wäre, von Senheit nach Kassala und von da + nach Abu Haraz am Blauen Nil; jedenfalls sicher bis Kassala, aber ich + fürchte, es ist ~zu spät~. Wir müssen uns selber durchhelfen, so + gut wir können. Wenn Gott uns seinen Segen dazu giebt, so wird uns + der Sieg; wenn es nicht sein Wille ist, so ist es auch recht ... + + »Warum benutzen Sie die Geheimschrift? Ist ganz unnötig, die Araber + haben ja keine Dolmetscher. Sie sagen, es sei Ihr Ziel, den Sudan zu + räumen; gut, aber die Araber haben auch ein Wort dreinzureden, ehe + sie die Ägypter ziehen lassen. Es wird alles zum besten dienen. Ich + wiederhole zum Schluß, wir verteidigen uns so lang wir können, und + ich lasse Khartum nicht im Stich. Noch hoffe ich, wenn ich auch bis + jetzt kein Wie sehe, daß Gott uns einen Ausweg zeigen wird.« + #/ + + In einer Nachschrift heißt es: + + /# + »Sie fragen in Ihrem Telegramm vom 5. Mai: warum ich darauf bestehe, + hier zu bleiben, wenn doch England sich zurückziehe? Antwort: ich + bleibe hier, weil die Araber uns eingeschlossen haben und niemand + durchlassen. Überdies würden mich die Leute festhalten, wenn ich + ihnen nicht vorher zu einer Regierung verhälfe oder sie mitnähme, was + nicht möglich ist. Niemand verließe das Land lieber als ich, wenn es + sein könnte.« + +Im Laufe des August schreibt er an einen Offizier der königlichen +Marine zu Massaua: + + ».... Eine ganze Reihe kleiner Gefechte mit den Arabern, die wir + gottlob zurückgeschlagen haben. Der Weg nach Sennar ist jetzt offen, + und wir haben im Augenblick nichts von den Arabern zu befürchten. + Wir beabsichtigen morgen einen Angriff und wollen einen Ausfall auf + Berber machen; Stewart und die beiden Konsuln (der Engländer Power + und der Franzose Herbin) wollen den Versuch wagen, nach Dongola + zu entkommen. Wir würden Berber zerstören und wieder auf unser + Piratennest zurückfallen ... Ich denke, wir halten Khartum in alle + Ewigkeit, wir sind dem Mahdi gewachsen. Hat er Reiterei, so haben wir + Dampfer. Wir sind sehr bös auf euch zu sprechen, denn seit dem 29. + März hat kein Sterbenswort von der Außenwelt uns erreicht. Ich habe + schon zweitausendachthundert Mark für einen Spion hingelegt, und ihr + habt dem armen Teufel zwanzig Thaler gegeben (wenigstens behauptet + er das), um von Massaua nach Khartum zurückzugelangen. Ich habe ihm + vierhundert Mark draufgelegt ... Wir haben wieder Mundvorrat auf fünf + Monate und hoffen noch mehr wegzufangen ... Unser Vaterland spielt + keine sehr edle Rolle, weder Ägypten noch dem Sudan gegenüber. Ich + wollte, ich hätte ein paar von euren Artilleristen hier, denn unsere + Kanonade ist erbärmlich. Meine Empfehlung an die Offiziere.« + + Und weiter am 26.: »Ich schrieb Ihnen vorgestern, daß wir einen + Ausfall auf die Araber machen wollten. Es ist uns gottlob gelungen, + das feindliche Lager einzunehmen. Der arabische Befehlshaber ist + gefallen (+R. I. P.+). Unsere Verluste noch unbekannt. Der + Sieg hat uns auf drei Seiten, wenigstens in nächster Nähe, Luft + verschafft. Übrigens können die Araber ihre Niederlage teilweise den + Deserteuren zuschreiben, die im Augenblick des Angriffs in ziemlich + großer Anzahl zu uns überliefen. Meine Flotte hat sich glänzend + gehalten, worauf meine Freunde von der königl. britischen Marine + stolz sein können ... Wir und die hiesigen Truppen haben wenigstens + ~ein~ Band, das uns zusammenhält; sie wissen, daß sie in die + Sklaverei verkauft werden, wenn die Stadt fällt, und wir wissen, + daß wir nur durch eine Verleugnung unseres Herrn unser Leben retten + könnten. Und ich glaube, uns ist diese Alternative noch verhaßter + als den Soldaten jene. So Gott will, wollen wir den Sieg erringen + ohne Hilfe von außen. Spione von Kordofan melden, daß der Mahdi mit + sechsundzwanzig Kanonen auf Khartum loszieht. Das ist nicht mehr + als ich erwartete; ich habe von Anfang an gedacht, daß es hier zur + Entscheidung kommen wird. Will's Gott, ist der Erfolg nicht auf + seiner Seite; wir haben gethan, was wir konnten, um Khartum wohl zu + befestigen. Mißglückt es ihm, dann ist es auch mit ihm zu Ende.« + +Daß Gordons tapferer Mut aufrecht blieb, ergiebt sich aus diesen +Briefen. Sie zeigen auch, daß er sich entschlossen hatte, seine +beiden Gefährten Stewart und Power ziehen zu lassen und allein +zurückzubleiben; es hatte dies einen doppelten Grund. Zum ersten war +Gordon wohl schon damals zur Gewißheit gelangt, daß es einen harten +Kampf ums Leben gelten würde, und er wollte seinen Waffengefährten +Gelegenheit geben, dem fast sichern Tod zu entgehen; zum andern aber +hoffte er, durch ihre Berichte die saumselige Regierung zum Handeln zu +bringen. Denn daß man in London zu einem Entschluß in dieser Richtung +gekommen war, davon hatte er damals noch keine Kenntnis. Warum er sich +seinen Gefährten nicht anschloß, bedarf keiner weiteren Erklärung. +Er blieb zurück in reinster Selbstaufopferung. Daß er sich solchen +Edelsinn nicht selbst beimaß, erhöht nur die Größe seines Handelns. Er +selbst spricht sich in seiner Weise so darüber aus: + + »Was man auch sagen mag über unser hiesiges Aushalten, es ist bares + Geschwätz, wir hatten ja keine andere Wahl; und wenn man wissen + will, warum ich mich nicht mit Stewart aus dem Staub gemacht habe, so + ist die Antwort einfach die, daß die Leute hier nicht so dumm gewesen + wären, mich gehen zu lassen, also was hat sich's da mit Großthaten + und Selbstaufopferung!« + +Dennoch war's ein vollkommenes Opfer in jeder Hinsicht, ja ein +Opfer im eigentlichsten Sinn, und Gordon wußte das! Während seines +Aufenthaltes in Jerusalem hatte er hinsichtlich der englischen +Beamtenwirtschaft in Ägypten geschrieben: »Mir ist, als ob dies +Unrecht nur mit Blut zu sühnen wäre.« Und im März schrieb er von +Khartum: »Wolle Gott diese Sünde nicht an unserem Volk heimsuchen, +möge die Strafe auf mich fallen, geborgen in Christo. Das ist meine +Bitte! Und möge Er sich des Volkes hier erbarmen, ihnen Friede +schenken.« Übrigens konnte Gordon nur ~hoffen~, daß der Dampfer +»Abbas« die kleine Schar sicher durch die feindlichen Linien tragen +würde, er weigerte sich daher ihre Abreise anzubefehlen; er setzte +ihnen auseinander, daß sie durch ihr Bleiben die Lage von Khartum +nicht zu bessern vermöchten, während sie möglicherweise durch ihr +Gehen der belagerten Stadt einen großen Dienst erweisen könnten. Beide +Genossen entschlossen sich unter der Bedingung zu gehen, daß Gordon +ihnen nicht nachsagen würde, sie hätten ihn in der Not verlassen. Es +war ein Wettstreit der Großmut. Stewart wollte absolut nicht ohne den +direkten Befehl seines Vorgesetzten gehen. »Nein,« sagte dieser, »zwar +fürchte ich die Verantwortlichkeit nicht, aber ich will Sie nicht in +eine mögliche Gefahr schicken, die ich nicht mit Ihnen teile.« Bei +der Abreise von London hatte er den ihn an den Bahnhof begleitenden +Freunden gesagt: + + »So viel ist sicher, daß wo er in Gefahr sein wird, ich sie teilen + werde; und wo ich in Gefahr gerate, wird er nicht weit davon sein.« + +Aber alles war so ganz anders gegangen, als man es damals hoffte +und erwartete, und die Kampfgenossen trennten sich. Gordon that zu +ihrer Sicherheit, was er konnte, indem sein Geschwader ihnen über +Berber hinaus das Geleite gab; auch ermahnte er sie, sich in der +Mitte des Stromes zu halten und wegen Holzbedarf nur an einsamen +Orten zu landen. Am 10. September verließ seine Mannschaft die Stadt +und kehrte nach einem Siege über die Rebellen dahin zurück, während +der Dampfer »Abbas« Stewart und Power mit noch etwa vierzig anderen +stromabwärts trug. + +Schon anfangs Oktober gelangte die Unglückspost nach England, daß +der »Abbas« im Nil gestrandet und seine Mannschaft dem Feind in die +Hände gefallen sei. Man hoffte eine Zeit lang, Stewart sei mit dem +Leben davon gekommen, aber nach wenigen Wochen war's auch mit dieser +Hoffnung zu Ende. Monate vergingen jedoch, ehe man die Einzelheiten +mit Gewißheit erfuhr, und zwar durch den Heizer des Dampfers, der aus +der arabischen Gefangenschaft entkam und folgendes berichtete: + +Nachdem das Geschwader Berber bombardiert hatte, kehrte die kleine +Flotte nach Khartum zurück, und der »Abbas« setzte seine Reise fort, +gelangte auch sicher bis über Abu Hamed. Am 18. September aber stieß +der Dampfer auf den Grund. Es war in des Scheik Wad Gamrs Land, +und man hatte seit einiger Zeit bemerkt, daß die Leute auf beiden +Seiten landeinwärts den Hügeln zu liefen. Als es sich ergab, daß der +»Abbas« festsaß, wurde ein Rettungsboot mit dem Nötigsten beladen +und als Landungsplatz eine nahe Insel in Aussicht genommen; das Boot +ging viermal hin und her. Darnach vernagelte Oberst Stewart selbst +die Kanonen und ließ sie über Bord werfen; ebenso die Kisten mit +Schießbedarf. Die Eingeborenen hatten sich mittlerweile in großer +Anzahl auf dem rechten Ufer versammelt und schrieen: »Gebt uns Frieden +und Korn!« »Friede,« riefen die Gestrandeten zurück. Soliman Wad Gamr, +der Scheik, war in einem kleinen Haus in der Nähe; auch er fand sich +am Ufer ein und rief den Schiffbrüchigen zu, sie sollten nur furchtlos +herüber kommen, die Soldaten müßten aber ihre Waffen niederlegen, +sonst würden seine Leute sich fürchten. Und nachdem Oberst Stewart +mit seinen Gefährten beraten hatte, setzte er mit den beiden Konsuln +(Power und Herbin) und einigen andern über und betrat das Haus eines +blinden Fakirs Namens Etman, um daselbst mit dem Scheik über den +Ankauf von Kamelen zu unterhandeln. Er gedachte den Weg nach Dongola +durch die Wüste fortzusetzen. Außer Stewart, der einen Revolver trug, +hatte niemand Waffen. Und während er und seine Begleiter mit dem +Scheik verhandelten, beschäftigten sich die übrigen mit der Landung. +Es dauerte nicht lange, da bemerkten diese, daß Soliman aus dem Hause +stürzte und seinen Stammesangehörigen, die in einem Haufen beisammen +standen, mit einem Wassereimer, den er hin und her schwenkte, ein +Zeichen gab. Da warfen sich diese mit ihren Speeren teils auf die +Mannschaft am Ufer, teils auf das Haus. Der Heizer versteckte sich mit +einigen anderen und wurde später gefangen genommen. Oberst Stewart +und seine Gefährten aber wurden unbarmherzig niedergemacht und ihre +Leichen in den Fluß geworfen. Dann teilten sich die Mörder in die +Beute. Es war selbst nach arabischen Begriffen ein schändlicher +Verrat. Stewarts Tagebuch über den bisherigen Verlauf der Belagerung +Khartums, das Gordon als einen Schatz bezeichnete, wurde mit allen +übrigen Schriftstücken, Briefen u. s. w., die der »Abbas« trug, dem +Mahdi ausgeliefert. + +Gordons »Tagebücher« beginnen mit dem Tag, an dem er sich von seinen +Gefährten trennte. Die vier ersten sind an Stewart gerichtet, die +beiden letzten an den befehlenden General des Entsatzheeres. Es +sind diese Tagebücher einfach die niedergeschriebenen Gedanken +eines Menschen, der niemand mehr hat, gegen den er sich aussprechen +kann. Er bespricht darin die Sachlage von allen Seiten, keinen +möglichen Einwurf läßt er unbeantwortet; er bringt die militärische +Stellung zu Papier und arbeitet die zu verfolgende Taktik aus. Er +macht Aufzeichnungen der täglichen Nebendinge, die nicht selten +humoristischer Art sind -- z. B. seine Gewohnheit, schwarze Überläufer +mit den Spiegeln im Palast Bekanntschaft machen zu lassen, damit die +Leute sich doch auch einmal selbst zu Gesicht bekämen. Die Tagebücher +sind daher umfangreich, obschon sie nur einen Zeitraum von drei +Monaten umschließen. Er stellt darin auch das Verfahren der Regierung +in ein helles Licht, aber er thut es mit der Ruhe eines Menschen, +der sich in einer höheren Hand weiß, als in der der irdischen +Machthaber und dem Ausgang, so oder so, ohne viel Aufregung entgegen +sieht. Nichts steht deutlicher in diesen Aufzeichnungen, als daß der +Schreiber bis zuletzt an dem seltenen Gottvertrauen festhielt, das +manche nur als Fatalismus zu belächeln wissen, das er selbst aber +treffend dahin kennzeichnet: + + »Wenn das Buch unseres Geschickes einmal aufgeschlagen ist, dann ist + Ergebung unsere Pflicht, in der Zuversicht, daß uns alles zum besten + dienen soll. So lang dieses Buch noch mit Siegeln versiegelt ist, + ist es etwas anderes. Und es kann mir niemand nachsagen, daß ich + mit diesem Glauben die Hände in den Schoß legte und alles über mich + ergehen ließ.« + +Es war sein Gottvertrauen und nichts anderes, das ihn dazu befähigte, +die Gefährten ziehen zu lassen und allein weiterzukämpfen, und wie +er überhaupt immer mehr an alles andere als sich selbst dachte, +so erwähnte er dieses Alleinseins mit keinem Wort. Wohl mag er's +empfunden haben! Wenn er aber schreibt: »Eine Maus hat jetzt bei Tisch +Stewarts Platz eingenommen, sie scheint sich nicht zu fürchten, denn +sie holt sich kecklich aus meinem Teller, was ihr gefällt,« so meinen +wir, er hätte nicht leicht mit wenig Worten mehr sagen können. + +Ja, Gordon war allein, aber die Stadt will er halten, ob Hilfe noch +komme. + + + 6. Menschenhilfe. + +Es war in der ersten Augustwoche 1884, als Gladstone, dem Drängen des +Volkes nachgebend, sich anschickte, eine Entsatz-Expedition ins Werk +zu setzen; bisher war standhaft erklärt worden, die Notwendigkeit +zu militärischen Operationen liege nicht vor. Das Kriegsministerium +that sein Möglichstes, die verlorene Zeit nachzuholen. Am letzten +August verließ der erwählte Heerführer, Lord Wolseley, London unter +den Zurufen und Glückwünschen einer Menge Volks, die sich am Bahnhof +versammelt hatte. + +Wolseleys Instruktionen sind beachtenswert. Es gelte, Gordon zu +retten, sagte die Regierung, ihrer Politik getreu bleibend, daß der +Sudan England nichts angehe. Das Entsatzheer solle sich daher aller +und jeder offensiven Operationen enthalten. Der Auftrag erstreckte +sich nicht auf die Besatzungen von Kassala und Sennar, noch weniger +auf die Bahr el Ghasal oder die Äquator-Provinzen. Die Regierung +setzte sogar Zweifel darein, daß es sich als nötig erweisen werde, bis +Khartum vorzurücken; jedenfalls sollten die britischen Operationen +möglichst beschränkt werden. Einigermaßen in Widerspruch mit dieser +Vorschrift folgte die weitere Anordnung, daß, nachdem ein sicherer +Rückzug für General Gordon und Oberst Stewart, sowie für die +ägyptischen Truppen und Zivilbeamten in Khartum gewonnen sei, General +Wolseley Vorkehrungen treffen solle, um dem Sudan, insbesondere +aber der Stadt Khartum, eine geordnete Regierung für die Zukunft zu +sichern. Bezeichnender Weise erhielt dieser Sudan-Entsatzzug den Namen +»Expedition zur Rettung Gordons«. + +Der Held in Khartum erfuhr davon auf eigentümliche Weise. Er erzählt +in seinem Novembertagebuch, daß eine Post ihn erreicht habe. Die +Briefe waren in alte Zeitungen gewickelt, darunter war der »Standard« +vom 1. September, und »nicht mit Gold aufzuwiegen,« sagt Gordon, +»waren wir doch seit dem 24. Februar ohne alle und jede Nachricht!« +Dieses Zeitungsblatt aber beschreibt die Abreise Lord Wolseleys, um +Gordon zu befreien. »Nichts dergleichen,« erklärt Gordon, »sondern um +die eingeschlossenen Truppen zu entsetzen!« Anderswo spricht er sich +so aus: + + »Nicht energisch genug kann ich es ablehnen, daß dieser Zug + meinetwegen ins Werk gesetzt wird. Es geschieht lediglich, ~um + die Ehre Englands zu retten~, um die Besatzungen und andere aus + einer Lage zu befreien, in welche die englische Politik in Ägypten + sie gebracht hat. Ich unternahm den ersten Zug zum Entsatz, was + jetzt kommt, ist der zweite. Was mich betrifft, so könnte ich mich + ja jederzeit davon machen, wenn das alles wäre. Überlegt euch aber + einmal, was es auf sich hätte, wenn die erste Expedition davon liefe + und ihre Dampfer in des Mahdi Hände fallen ließe, wäre das nicht eine + böse Vorarbeit für die zweite Expedition, welche Englands Ehre retten + will, indem sie die Besatzungen befreit? ~Beide~ Expeditionen + gelten der Ehre Englands, das liegt auf der Hand. Ich bin gekommen, + um die Besatzungen zu retten und es ist mir nicht gelungen. Nun + kommt Earle (der mit Wolseley kam); hoffen wir, es gelingt ihm. Zu + ~meiner~ Befreiung kommt er aber nicht! Mit dem Entsatz der + Garnison, das gab von Anfang an jeder zu, stand unsere nationale + Ehre auf dem Spiel. Wenn Earle nun das gewünschte Resultat erreicht, + so verpflichtet er sich die »nationale Ehre«, die ihn hoffentlich + auch belohnen wird; mich geht das nichts an, ich bin höchstens zu + tadeln, daß es mir nicht gelungen ist. Jedenfalls bin ich nicht das + ~gerettete Lamm~ und wills's nicht sein.« + +Gordon baute überhaupt nicht auf die Erfolge des Feldzugs, der vier +Monate früher hätte unternommen werden sollen. Es ist auch nicht +leicht zu erklären, warum man sich im April nicht zu den Maßregeln +verstehen konnte, die man im August doch ergriff! + + »Die Möglichkeit liegt natürlich auf der Hand,« schrieb Gordon, »daß + Khartum der Expedition noch vor der Nase weggeschnappt wird; man wird + gerade noch dazu kommen, d. h. zu spät. Vielleicht hält man es dann + für nötig, die Stadt zurückzuerobern, aber das wäre ganz nutzlose + Mühe und würde auf beiden Seiten nur unnötig viel Blut kosten. Wenn + es so weit kommt, dann kann das Entsatzheer nichts besseres thun, + als den Schwanz einziehen und ganz still wieder umkehren. Denn wenn + Khartum einmal gefallen ist, dann ist die Sonne untergegangen und + die Leute werden sich nicht viel um die Planeten (d. h. die andern + Garnisonsstädte) kümmern.« + +Der Leser weiß, daß, wie Gordon ahnte, Wolseleys Truppen »gerade noch +dazu kamen«; man weiß auch, daß sie unverrichteter Dinge umgekehrt +sind. Und zwar trifft Offiziere und Mannschaft kein Tadel; manch +Tapferer hat sein Leben gelassen, und die Geldopfer berechnen sich +nach Millionen. Der Fehler war der, daß es von Anfang an ~zu +spät~ war. + +Von Kairo nach Assiut wurden die Truppen per Bahn befördert und von +dort per Nildampfer nach Assuan, wo die Schwierigkeiten der Expedition +ihren Anfang nahmen. Ende September trafen die Flußboote von England +dort ein, mit welchen man die Mannschaft und den Kriegsbedarf nach +Dongola zu verbringen beabsichtigte, und vierhundert kanadische +Bootsleute waren ihrer besonderen Tüchtigkeit halber auf Wolseleys +Wunsch dazu verschrieben worden. Die Boote durch die Nilschnellen +oberhalb Wady Halfa zu bringen, bot fast unübersteigliche Hindernisse +und die Beförderung durch die Wüste mit Kamelen nicht minder; und +als die Truppen endlich in Dongola angelangt waren, lag schon eine +Riesenarbeit hinter ihnen, obgleich sie vom Feinde selbst noch nichts +gesehen hatten. + +Dongola wurde anfangs November erreicht, und am 14. dieses Monats +erhielt Wolseley Nachricht von Gordon vom 4., die ihm abermals zu +wissen that, daß keine Zeit zu verlieren sei. Er benachrichtigt den +britischen Heerführer, daß in Metammeh fünf Dampfer mit neun Kanonen +seiner Befehle harren. Mit andern Worten, sobald er hört, daß der +Hilfszug im Anmarsch ist, kommt er selbst seinen angeblichen Rettern +zu Hilfe! + + »~Noch vierzig Tage können wir aushalten~,« berichtet er, + »darnach wird's schwer sein ... Der Mahdi ist etwa acht Meilen von + hier ... Sennar ist ruhig, und man weiß dort, daß Ihr kommt ...« + +Wolseley that sein möglichstes, das Vorrücken zu beschleunigen, +auch bedurfte es kaum seiner packenden Proklamation, die Truppen +anzufeuern. Daß Gordon die Stadt bis zu ihrem Kommen halte, das war +Offizieren wie Gemeinen genug. Durch den Mudir von Dongola hörte man +ferner aus der belagerten Stadt, daß, als der Bote Khartum verließ, +dreißig Barken voll Korn vom Blauen Nil eingebracht worden seien, +und daß die Leute all ihre Hoffnung auf Gordon setzten; daß sogar +aus des Mahdi Lager Überläufer zu ihm kämen; daß er seinen Bedarf +an Schießpulver selbst fabriziere, daß er zwölf Dampfer auf dem +Fluß habe, und daß das Volk anfange, sein Regiment dem des Mahdi +vorzuziehen. Was letztere Behauptung und die Nachricht von Überläufern +aus des Mahdis Lager betrifft, so erklärt Gordon in seinem Tagebuch +dies damit, daß es überall an Nahrung gebreche und der Glaube im +Umlauf sei, in Khartum leide man nicht Mangel; der Bauch regiere die +Welt. + +So viel war sicher, daß der Mahdi Obeid verlassen und bei Omderman +angesichts der belagerten Stadt seine Stellung genommen hatte. Es war +der 21. Oktober, das Neujahr der Moslem, als Gordon das Geschick der +Abbas, den Tod Stewarts und Powers erfuhr; es bekümmerte ihn tief. +Nach Omderman aber, woher ihm die Nachricht gekommen, telegraphierte +er: »Ich lasse dem Mahdi sagen, daß es mir nichts ausmacht und wenn +er mir den Untergang von zwanzigtausend Dampfern wie die Abbas, den +Tod von zwanzigtausend Offizieren wie Stewart Pascha meldet. Ich hoffe +den englischen Entsatzzug bald hier zu sehen, wenn der Mahdi mir aber +zu wissen thut, daß die Engländer den Schwierigkeiten erlegen sind, so +ist mir auch das einerlei. ~Ich~ bin hier wie Eisen!« + +Der Mahdi machte einen Angriff auf die Stadt. Gordon begegnete +ihm mit seinen Dampfern und achthundert Schwarzen; es kostete +einen achtstündigen heißen Kampf, aber es gelang ihm, die Araber +zurückzuwerfen und sie durch seine Sprengminen aus ihrer Stellung +zu vertreiben. Der geschlagene Mahdi hat hierauf für gut gehalten, +sein Angesicht eine Zeit lang zu verbergen und sich in eine Höhle +zurückzuziehen. In dieser weissagte er, man werde sich sechzig Tage +lang ruhig verhalten, darnach aber werde das Blut in Strömen fließen. +Diese »Weissagung« ist so ziemlich auf den Tag in Erfüllung gegangen. + +Weihnachten und Neujahr ging vorüber, da schien es endlich Ernst +werden zu wollen. Das englische Heer rückte in zwei Kolonnen, die +eine unter Earle, die andere unter Sir Herbert Stewart durch die +Bajuda-Wüste vor. Das Ziel Stewarts waren die Gakdul-Brunnen, die +auch erreicht wurden; hier wurde eine feste Stellung gewonnen. Am 15. +Januar 1885 bewegte sich der Zug weiter nach den Abu Klea-Quellen, +etwa hundertundzwanzig Kilometer von Metammeh und Shendi am Nil. Dort +kam es zur Schlacht. Hoffnungsvoll waren die Truppen vorgerückt; +einzelne Araber, auf die sie unterwegs stießen, rissen des Mahdi +Abzeichen von ihren Gewändern und erklärten, sie würden den falschen +Propheten nie anerkannt haben, hätten sie gewußt, daß die Engländer +kämen. Bei Abu Klea war der Feind zehntausend Mann stark. Die +englische Kolonne zählte nicht viel über tausend. Es gab eine heiße +Arbeit, aber den Briten blieb der Sieg; doch kostete er schwere +Opfer. Sir Herbert Stewart selbst wurde tödlich verwundet; neun +andere Offiziere fielen, darunter etliche der tapfersten, die England +aufzuweisen hatte, außerdem gab es an Toten fünfundsechzig Gemeine, +und fünfundachtzig Verwundete. Über tausend Araber bedeckten das +Schlachtfeld. Unter Sir Charles Wilson, dem nach Stewarts Verwundung +der Oberbefehl zufiel, erreichte die britische Abteilung den Nil, +wo Gordons Dampfer der Befreier mit der frappanten Meldung harrten: +»Alles wohl in Khartum; wir können uns noch jahrelang halten! -- C. +G. G. 29. Dez. 84.« Hart auf die Siegesbotschaft von Abu Klea trug +der Telegraph diese Kunde nach England, und alle Welt jubelte, daß +die Hilfe doch nicht zu spät gekommen sei, daß der tapfere Held sich +gehalten habe, und daß seine eigenen Dampfer in wenigen Tagen die +englischen Landsleute ihm zuführen würden. Daß Gordons Meldung darauf +abgesehen war, den Feind zu täuschen, daß sie das gerade Gegenteil +von dem bedeuteten, was ihr Wortlaut besagte, das mutmaßte man vor +übergroßer Freude nicht. + +Und doch war es so! Schon am 14. Dezember hatte ein Geheimbote die +(ebenfalls für den Feind bestimmte) Nachricht gebracht: »Alles +wohl in Khartum.« Aber eben derselbe Bote brachte dem britischen +Oberbefehlshaber eine Privatmeldung ganz anderer Art: + + »Wir sind auf drei Seiten belagert -- bei Omderman, Halfaja und Hoggi + Ali droht Angriff. Kampf ununterbrochen Tag und Nacht. Der Feind + kann uns nur aushungern. Haltet eure Truppen zusammen, der Feind ist + zahlreich. Bringt möglichst viel Truppen. Noch halten wir Omderman + und die Verschanzung gegenüber. + + Der Mahdi hat Erdwälle in Schußweite von Omderman aufwerfen lassen; + er selbst aber bleibt außerhalb der Schußweite. + + Vor ungefähr vier Wochen haben des Mahdi Truppen Omderman angegriffen + und einen Dampfer außer stand gesetzt. Wir haben dafür eine der + feindlichen Kanonen demontiert. + + Drei Tage später haben sie uns wieder auf der Südseite angegriffen; + wir haben sie zurückgeworfen. + + Saleh Bey und Slaten Bey sind gefangen in des Mahdi Lager. + + Unsere Truppen hier leiden Mangel. Was noch an Proviant da ist, ist + wenig; etwas Korn und Zwieback. + + Kommt sobald wie möglich; am besten über Metammeh oder Berber. Rückt + auf diesen beiden Linien vor. Versichert euch der Stadt Berber, ehe + ihr vorrückt. Hütet euch, den Feind euch im Rücken zu lassen, und + wenn ihr Berber habt, dann laßt mich's wissen. + + Haltet den Feind möglichst in Unwissenheit über eure Bewegungen. + + In Khartum giebt's weder Butter noch Datteln und sehr wenig Fleisch, + alle Lebensmittel sehr teuer.« + +Das klang anders, als »wir können noch jahrelang aushalten!« +Aber diese Meldung wurde nicht nach England telegraphiert; +oder, wahrscheinlich richtiger, man hielt für gut, sie in den +Regierungsbureaus zurückzuhalten. Wie ein Donnerschlag aus klarem +Himmel fiel daher am 5. Februar 1885 die Botschaft ins Land: Khartum +ist gefallen! + +Sir Charles Wilson war in guter Zuversicht mit zwei von Gordons +eigenen Dampfern von Metammeh abgefahren. Er erreichte das Ziel am 28. +Januar, zwei Tage zu spät; des Mahdi Geschütze begrüßten ihn bei der +Ankunft, er konnte sich nur wieder zurückziehen -- am 26. war Khartum +gefallen! + + + 7. Getreu bis in den Tod. + +Wer vermag es, die letzten drei Monate in ihrem ganzen Ernst sich +zu vergegenwärtigen, der nicht selbst als Augenzeuge mit in der +eingeschlossenen Stadt war! Das Bild wird sich erst dann völlig +entrollen, die Schlußszene von Gordons Leben wird erst dann mit voller +Klarheit beleuchtet sein, wenn die Bücher aufgethan werden, in denen +aller Menschen Thun verzeichnet steht. Einigermaßen aber sind wir, +weil im Besitz seiner Aufzeichnungen, dennoch wie Augenzeugen. + +Kehren wir zu der Zeit zurück, da er mit einem Heldensinn und einer +Großmut, die ihresgleichen sucht, die Gefährten ziehen ließ, um, wenn +möglich, ihr Leben zu retten und allein, der einzige seines Volkes, in +der unseligen Stadt zurückzubleiben. Wie oft hatte Gordon es früher +ausgesprochen, daß er bereit wäre, sein Leben hinzugeben für seine +»armen Schafe«, die Schwarzen im Sudan. Es war nicht bloße Redensart. +Er hat es gethan, sofern ein Mensch für andere sich opfern kann. Es +liegt ein merkwürdiger Brief von ihm vor, den er an die Freunde in +Jaffa richtete, als Khartum ernstlich bedroht war und er nicht wußte, +wie bald die Übermacht von außen, oder der Verrat von innen die Stadt +dem Feind überliefern würde. + + »Es ist eine Lage, in des man seine Hoffnung nur noch auf Gott setzen + kann,« schreibt er. »Zwar sollte dies uns genügen, aber wer nicht + selbst in der Lage war, kann kaum verstehen was es heißt: ›Wir wissen + nicht, was wir thun sollen, unsere Augen sehen nach dir‹ (2 Chron. + 20, 12). Der Aufruhr an sich wäre nichts, wenn wir nur ordentliche + Truppen hätten, aber die haben wir nicht, und ich muß mich daher ganz + auf Gott verlassen. Es klingt sonderbar, so zu schreiben, als ob Er + nicht genug wäre! Es ist meine Menschennatur, die so schwach ist, + daß der Mangel mich -- zwar nicht immer, aber manchmal -- bedrückt. + Was für veränderliche Geschöpfe sind wir doch und voll Widerspruch; + halb Fleisch, halb Geist. Und doch arbeitet Gott an uns und will uns + zu Bausteinen machen für seinen Tempel. Ich kann Ihnen nicht sagen, + wie ich zwischen zwei Seiten hin und herschwanke. ›Ist meine Hand + verkürzt?‹ heißt's auf der einen, und ›schlechterdings kein Ausweg + aus dieser Lage!‹ auf der andern. Es ist ein fortwährender Kampf. + Ich werde Ruhe finden im Grab. Denkt nicht, daß ich Euer vergesse; + denn als Hiob für seine Freunde bat, da wandte der Herr sein + Gefängnis (Hiob 42, 10). Lassen Sie Ihre Kinder für mich beten, denn + bei Menschen ist keine Hilfe. Wie wunderbar ist das Zurichten der + Bausteine, und wie ungern lassen wir uns behauen! Aber dennoch habe + ich es gewagt, vor Ihn zu treten, und habe es von Ihm begehrt, die + Sünden dieser auf mich zu legen, in Christo. Gott mit Euch. Habt Dank + für Eure Fürbitte.« + +Von allem, was wir über Gordon wissen -- und wie reich sind die +Zeugnisse -- ist dieser Brief wohl das Wunderbarste, etwas, das uns +tief ins Herz greift. Wie treu ist der Mann, der sein Leben einsetzt, +der mit der ganzen Bürde eines hilflosen Volkes auf seinen Schultern, +mit der Bitte vor seinen Herrn tritt, ihre Sünden auf ihn zu legen! +Wenn es wahr ist, daß er schließlich durch Verrat fiel, so fehlt nur, +daß er hinzugesetzt hätte: ~sie wissen nicht, was sie thun~! + +Noch hatte er das Volk auf seiner Seite, das in ihm seine Schutzmauer +erblickte; aber der Hunger kam, und der Zweifel that sein Werk, wie +aus seinen Worten hervorgeht: »die Leute mußten uns für Lügner +halten.« Die Engländer kommen, war lange der Trost; aber sie verzogen +und kamen nicht. Und dem Volk sank der Mut. + + »Während ihr eßt und trinkt und sicher in euren Betten schlaft,« + schreibt er, »wache ich mit meinen Leuten Tag und Nacht, ob es uns + gelingen möchte, uns gegen den falschen Propheten zu halten.« + +Und wenn selbst seine Leute schliefen, so wachte er. In der Mitte der +Stadt hatte er sich einen Turm errichtet, von dem er das Land weithin +übersah. Wenn der Tag graute und andere wachen konnten, dann ruhte +er. Den Tag über kämpfte er den Kampf mit dem Nahrungsmangel und dem +Kleinmut in der Stadt; und wenn die Nacht sich senkte, bestieg er +seinen Turm und hielt die Wache, allein unter dem Sternenhimmel mit +seinem Gott um den Sieg ringend, die Hilfe erflehend, die versagt +schien. Wer kann es ermessen, wie die Heldenseele in mancher langen +Nacht im Kampf für »dies Volk« sich erschöpfte und immer wieder zum +Anlauf bereit stand, wie oft auch ein neuer Tag heraufstieg und keine +Rettung brachte! + +Nichts tritt in den Tagebüchern klarer zu Tag, als daß Gordon, so +völlig er auch das Ende in eine höhere Hand legte, alles that, was +in seiner Macht stand, daß er die ihm anvertraute Stadt Schritt +um Schritt verteidigte. Nichts unterließ er, was er thun konnte; +sein Auge war überall, und sein heroischer Mut war sozusagen +täglich neu. Es war eine Zähigkeit in der Natur dieses Mannes, die +um so erstaunlicher ist, als er's nicht genug betonen kann, daß +Menschenhilfe kein nütze ist. Bis auf den letzten Blutstropfen ringt +er um das Geschick der Stadt, und doch geht sein Glaube von dem +Gedanken aus, daß eben dieses Geschick vorherbestimmt ist. Für den +einsichtsvollen Leser liegt hier durchaus kein Widerspruch vor. Er +erkennt es als seine Pflicht zu ringen, bis das ihm noch verborgene +Geschick sich erfüllt. Oder um abermals an sein Wort zu erinnern: +»~Wenn das Buch der Dinge, die sich ereignen sollen, einmal +aufgeschlagen ist, dann ist Ergebung für uns das Richtige; vorher +ist es etwas anderes. Und es kann niemand sagen, daß ich bei diesem +Glauben die Hände in den Schoß gelegt habe.~« + +Seine Ergebung in den Willen Gottes, wenn die Ereignisse einmal +erfüllt sind, hindert ihn z. B. auch durchaus nicht daran, in seinen +Aufzeichnungen der englischen Regierung ihren Anteil an der Schuld +recht gründlich unter die Augen zu halten. + + »Wenn ich nicht dächte, daß alles vorherbestimmt und zwar zum besten + bestimmt ist, so könnte ich ganze Oktavbände voll Zorn loslassen, so + oft ich auf dieses Thema komme. Ich sehe gar nicht ein, warum ich die + Stadt auf halbe Rationen setzen soll, nur um die Belagerung um so + viel zu verlängern; wenn ich es thäte, so hätten wir eine Katastrophe + noch vor der Zeit, wo eine solche bei ganzen Rationen zu erwarten + ist. Ich wäre ja ein Engel (unnötig zu bemerken, daß ich das nicht + bin), wenn ich nicht bitterbös auf unsere Regierung zu sprechen + wäre. Ich will suchen mich über diese Sudan-Wirtschaft und all diese + unentschlossene Politik zu beruhigen; aber wenn mir meine schönen + schwarzen Soldaten draufgehen, so möchte ich doch den sehen, der beim + Gedanken an unsere Machthaber den hellen Zorn unterdrücken könnte!« + +Der gutmütige Ausfall auf seine Schaf-Soldaten thut seiner Gesinnung +in diesem Stücke jedenfalls keinen Eintrag. Die Politik der Engländer, +sagte er, lasse sich kurz dahin zusammenfassen: sie weigerten sich, +den Ägyptern in der Sudan-Frage zu helfen, sie verboten den Ägyptern, +sich selbst zu helfen, und sie wollten nichts davon hören, daß +andere ihnen helfen. Er bestritt keineswegs das Recht der englischen +Regierung nach ihrer Einsicht zu handeln, das aber warf er ihr vor, +daß sie selber nicht wußte, was sie wollte, als es an der Zeit war, ja +oder nein zu sagen. Hören wir ihn in seinem Oktober-Tagebuch: + + »Was der gegenwärtige Hilfszug an Menschenleben und Geldopfern kosten + kann, ist nicht zu ermessen und wird vollständig zwecklos sein; die + Unschlüssigkeit unserer Regierung ist an allem schuld. Hätte man von + Anfang an gesagt: ›Es geht uns nichts an und wir regen keinen Finger, + wenn die Besatzungen im Sudan umkommen‹, hätte man nichts gethan um + Tokar zu entsetzen, hätte man mir nichts von Entsatz telegraphiert + (s. Telegramm vom 5. Mai, Suakim, und vom 29. April, Massaua), statt + dessen vielmehr die drei Worte: ~Hilf dir selber!~ dann könnte + kein Mensch sich beschweren. (Gordon fügt in Parenthese bei, daß, + während einerseits Baring im Namen der Regierung telegraphierte, + daß britische Truppen zum Entsatz Berbers ~nicht~ bewilligt + würden, der englische General Graham andererseits Befehl erhielt, + den Osman Digna anzugreifen.) Aber die Regierung wollte das nicht + sagen, daß sie die Besatzungen im Stich zu lassen gesonnen sei, und + darum unterblieb das ›Hilf dir selber‹. Das ist's, was uns die Hände + gebunden hat. Hätte ich die Flucht ergriffen, so wäre ich selbst + unserer Regierung gegenüber ein Deserteur gewesen; andererseits + freilich hat mein Bleiben den gegenwärtigen Hilfszug nötig gemacht. + Baring meldete mir klar und deutlich den Befehl, nicht ohne spezielle + Erlaubnis der Regierung an den Äquator zu gehen. (Wenn Gordon sich + nämlich hatte retten wollen, so wäre das sein Ausweg gewesen.) Ich + rechte durchaus nicht darüber mit der Regierung, daß sie den Sudan + hat fahren lassen. Es ist ein erbärmliches Land und nicht wert, daß + man es halte; aber das sage ich: die Regierung hätte im März den Mut + haben sollen zu sagen: ›Hilf dir selber!‹ Damals hätte ich es thun + können; jetzt bin ich Ehren halber an dies Volk gebunden, nachdem + sechs Monate in unnützem Widerstand hingegangen sind ... Ich sage + dies, weil niemand die Geld- und Menschenopfer dieses Hilfszugs + mehr beklagt als ich, und niemand kann die Schwierigkeiten besser + ermessen als ich; nach allem aber was hinter uns liegt und dank der + Unschlüssigkeit unserer Regierung haben wir keine andere Wahl. Es + handelt sich für uns jetzt darum, wie wir mit unserer Ehre und mit + möglichst geringen Opfern am besten davon kommen. Gebt das Land den + Türken, das ist die einzige Lösung der Frage. Hoffentlich denkt + niemand, daß ich aus Eigensinn Schwierigkeiten mache; wollte Gott, + ich wäre glücklich fort von hier, wo ich seit Februar keine ruhige + Stunde gehabt habe! ... Bis vor kurzem waren wir völlig im dunkeln, + ob die Regierung die Besatzungen im Stich lassen will oder nicht. + Hätte ich meinen Posten verlassen, so hätte man mich als Deserteur + darum zur Verantwortung ziehen können, weil ich die Dampfer und + Kriegsvorräte in des Mahdi Hand hätte fallen lassen. Denn wenn ich + Reißaus nehme, so dauerte es keine fünf Tage und der Mahdi wäre hier + ... Ich wiederhole, die englische Regierung wäre, sofern es mich + betrifft, aller Verantwortung ledig, hätte man mir nur den Entschluß + übermittelt: ›Hilf dir selber, wir lassen die Besatzungen im Stich.‹ + Dann hätte ich gewußt, woran ich bin, hätte den Leuten sagen können, + daß auf Hilfe nicht zu rechnen ist, und hätte keine sechs Wochen + gebraucht, um den Äquator zu erreichen. Und ich hätte das in Ehren + thun können; denn sobald es einmal feststand, daß man uns im Stich + ließ, mußte mein Hierbleiben darauf hinauslaufen, daß ich mit den + Khartumern eingeschlossen würde, was ihre Lage nicht bessern konnte, + im Gegenteil den Mahdi nur um so mehr aufbringen mußte.« + +Wir geben diese Stellen gern ausführlich, weil die Anklage damit am +besten widerlegt ist, die hin und wieder gegen Gordon laut geworden, +er habe sich die Folgen seines Bleibens selbst zuzuschreiben. + +Weiter sagt er: + + »Hätte ich einen Versuch gemacht mich zu retten, so hätten die Leute + hier etwa so geurteilt: ›Sie sind zu uns gekommen, und wir vertrauten + Ihnen; wären Sie nicht gekommen, so hätte wohl mancher von uns sein + Heil in der Flucht versucht, so aber verließen wir uns darauf, + was Sie für uns thun würden. Wir haben seit Monaten Entbehrung + über Entbehrung gelitten, um die Stadt zu halten. Wären Sie nicht + gekommen, so hätten wir uns dem Mahdi ergeben; jetzt aber, nach + unserm langen Widerstand, haben wir keine Barmherzigkeit von ihm zu + erwarten, und er wird das vergossene Blut bitter an uns rächen. Sie + haben unser Geld entlehnt und uns versprochen, es solle uns sicher + wieder gegeben werden; wenn Sie uns verlassen, so ist alles verloren. + Es ist Ihre Pflicht und Schuldigkeit, bei uns zu verharren und unser + Los zu teilen. Wenn die englische Regierung uns im Stich läßt, so + ist das kein Grund, daß Sie uns im Stich lassen, nachdem wir uns + all die Zeit her an Sie gehalten haben.‹ ›Und darum,‹ fügt Gordon + mit Nachdruck hinzu, ›~erkläre ich ein für allemal, daß ich den + Sudan nicht verlasse, bis jeder sich hat retten können, der's nötig + hat~, bis eine Regierung hier aufgerichtet ist, die mich meiner + Pflicht entbindet. Und wenn jetzt ein Befehl kommt, der mich gehen + heißt, ~so werde ich nicht gehorchen, sondern bleibe hier und falle + mit der Stadt und teile ihre Not~.‹« + +Er giebt anderswo zu: + + »Ich fürchte, ich bin ein allzu selbständiger Offizier, aber so bin + ich und kann's nicht ändern. Ich habe nicht einmal Verstecken mit + meinen Vorgesetzten gespielt! Wenn ich die Regierung wäre, würde ich + so einen, wie ich bin, nie anstellen; denn ich bin unverbesserlich.« + +Aber er sagt auch: + + »Ich bin mit dem Auftrag abgesandt worden, den Sudan zu räumen, und + nicht um Reißaus zu nehmen und die Besatzungen im Stich zu lassen.« + +Mit andern Worten, zu einem ehrlosen Auftrag hätte er sich nicht +bereit finden lassen, und nachdem er einmal abgesandt war, will er +die Hand zu einer Ehrlosigkeit nicht bieten. Sehr richtig macht er +auch darauf aufmerksam, daß, wenn die Regierung mit ihrer langen +Saumseligkeit recht hatte, es dann auch recht gewesen wäre, dabei zu +verharren. + + »Das ist mir ein Rätsel,« sagt er, »wenn es jetzt wohl gethan ist, + uns zu Hilfe zu kommen: warum war's nicht recht, das früher zu thun? + Es ist ganz schön von den Schwierigkeiten der Regierung zu reden, + aber das läßt sich nicht leicht wegerklären, daß eine stille Hoffnung + im Hintergrund war, ein Zuhilfekommen könnte durch unsern Fall + erspart werden! Was mich persönlich angeht, so will ich niemanden + Vorwürfe machen; aber es ist mir nicht sehr darum zu thun, mit + Verehrung von Leuten zu reden, seien sie wer sie wollen, die sich + mit solchen Hintergedanken abgeben können ... Ich weiß in der ganzen + Weltgeschichte kein Beispiel von ähnlicher Handlungsweise, wenn ich + nicht etwa auf David mit Uria dem Hethiter Bezug nehmen will, und da + war eine Eva im Spiel -- eine Entschuldigung, die im vorliegenden + Fall meines Wissens nicht existiert. Ich wiederhole, ich habe nichts + dagegen einzuwenden, wenn man den Besatzungen nicht helfen will, ich + verdamme nur die Unschlüssigkeit. Man hatte nicht den Mut ehrlich zu + sagen: wir lassen euch im Stich; man verhinderte es, daß ich an den + Äquator ging, mit dem stillen Vorsatz, mir nicht zu Hilfe zu kommen, + und -- soll ich sagen mit der Hoffnung? ... (›März, April u. s. w. + ~sechs Monate~! hält er noch immer aus?‹) ja, das ist's, was ich + der Regierung vorwerfe.« + +Es ist schwer, den Machthaber in London ein gerechteres Zeugnis über +ihr Verhalten zum Sudan auszustellen, als Gordon es hier thut, und der +Leser hat hoffentlich genug Beweise davon in diesem Buch, daß Gordon +nicht aus persönlichen Rücksichten so redet; für sich selbst begehrt +er nichts; er will heute sein Leben hingeben, wenn es sein muß, aber +schwarz will er nicht weiß nennen und Unehre nicht für Ehre gelten +lassen, und er wird nur gegen die bitter, die solches von ihm zu +erwarten scheinen. Er ist sich selbst treu geblieben, und das kostete +ihn sein Leben. Daß er nie wieder nach England zurückkehren und keinen +Heller Entschädigung annehmen werde, spricht er mehr denn einmal in +seinen Tagebüchern aus. Er hätte diesen Entschluß ohne Zweifel auch +ausgeführt. + +Daß des Mahdi Machtentfaltung auf den Fanatismus des Volks +zurückzuführen sei, giebt Gordon nicht zu; er sagt vielmehr, seiner +Erfahrung nach gebe es selbst in jenen fanatischen Ländern heutzutage +nicht viel reinen Fanatismus mehr. Es handle sich bei den meisten +Leuten vielmehr lediglich um den irdischen Besitz; es sei eher eine +Art Kommunismus unter der Flagge der Religion. Und Gordons alter Humor +macht sich geltend, als er erfährt, daß nicht einmal der Mahdi ein +ehrlicher Fanatiker, sondern ein »Humbug« sei. Ein aus dem feindlichen +Lager entronnener Grieche erzählte ihm nämlich, daß der Mahdi Pfeffer +unter den Fingernägeln habe, damit ihm Thränen zu Gebot stünden, wenn +er Audienz gebe. Auch begnüge er sich, wo er gesehen werde, mit ein +paar Körnlein Durra, in den verborgenen Räumen seiner Wohnung aber +lebe er herrlich und in Freuden und versage sich selbst geistige +Getränke nicht. + + »Ich muß gestehen,« sagt Gordon, »seit ich das weiß, habe ich + allen Geschmack am Mahdi verloren; bis jetzt konnte man sich doch + wenigstens damit trösten, daß man es mit einem anständigen Fanatiker + zu thun habe, der an seine Sendung glaubt. Wenn einer sich aber + mit Pfeffer unter den Fingernägeln abgiebt, so ist's wirklich eine + Demütigung, sich ihm ergeben zu sollen! ...« + +Da übrigens Thränen doch im allgemeinen als ein Beweis der +Aufrichtigkeit gelten, so setzte Gordon hinzu, das Rezept lasse sich +vielleicht auch Staatsministern empfehlen. + +Unter den Mohammedanern seiner nächsten Umgebung, nämlich seinen +Dienstboten, machte er ähnliche Entdeckungen. + + »Wenn sie nicht mit Essen beschäftigt sind, dann sind sie am Beten; + und wenn sie nicht beten, dann schlafen sie oder sind krank. Man + hat wirklich Mühe, sie in den Zwischenpausen zu kriegen; es ist + schlechterdings nichts mit ihnen anzufangen, wenn sie auf eine dieser + vier Festungen sich zurückziehen, essen, beten, schlafen oder krank + sein, und sie wissen es. Man wäre ja ein Bengel, wenn man sie daraus + verjagen wollte (was ich übrigens doch manchmal thue). Es gilt einen + Befehl abzufertigen, man sieht sich nach seinem Diener um, und der + Mensch hält seine Andacht. Ich muß sagen, es ist ein prächtiges + Land, um einen Geduld zu lehren! Es ist auch höchst seltsam, aber so + oft ich Ursache habe aufgebracht zu sein, was wohl täglich mehrmals + vorkommt, ist die ganze Dienerschaft mit ihren Gebetsverrichtungen + beschäftigt. Ihre Religion folgt sozusagen der Tonleiter meiner + Stimmungen. Sowie ich guter Laune bin, sind sie Heiden.« + +Gordons natürliches hitziges Temperament machte sich bis zuletzt +geltend; aber seine Zornausbrüche sind von so viel Gutmütigkeit +erfüllt, daß ihnen der Stachel genommen ist. Wie er selbst einmal +bemerkte, schienen ihn die Leute gerade dann am liebsten zu haben, +wenn ihm, wie das Sprichwort sagt, der Gaul durchging. So ereignete +es sich zwei Monate vor dem Ende, daß eines Abends spät durch drei +Sklaven die Nachricht nach Omderman gebracht wurde, die Araber +gedächten am folgenden Morgen einen Angriff zu machen. Es wurde +nach Khartum gemeldet, aber der Telegraphist meinte, es wäre auch +am andern Morgen noch Zeit, dem Generalgouverneur die Depesche +vorzulegen. In der Frühe wurde Gordon durch ein heftiges Schießen bei +Omderman geweckt, die Araber hatten in der That einen bedeutenden +Angriff gemacht, und Gordons Dampfer mußten erst noch geheizt werden. +Es folgten mehrere Stunden, die, wie er sagte, ihn um Jahre älter +machten -- es war das heißeste Gefecht, das die Belagerten bis +dahin ausgehalten hatten. Als Gordon vernahm, daß der Telegraphist +eine Hauptschuld trug, dem es oft genug eingeschärft worden war, zu +jeder Stunde Gordon nötigenfalls zu wecken, bestrafte ihn dieser mit +ein paar tüchtigen Ohrfeigen, die ihn aber alsbald reuten und ihn +veranlaßten, dem Geohrfeigten fünf Thaler zu schenken. Er dürfe ihn +totschlagen, erwiderte der Telegraphist, ein schwarzbrauner Jüngling, +denn er sei ja sein Vater! Ein andermal handelte es sich darum, einen +neugebauten Dampfer zu taufen. Die Leute wollten ihn »Gordon« nennen, +was er mit dem Bemerken ablehnte, es sei keine Gefahr vorhanden, daß +die Stadt ihn je vergessen werde, habe er doch die meisten von ihnen +auf alle mögliche Weise seinen Zorn schon fühlen lassen; sie sollten +den Dampfer lieber »Sebehr« heißen! + +Daß Gordon durch die ganze schwere Belagerungszeit dem Ausgange +ruhig entgegen sah, wissen wir; daß es nicht ohne viel innerliches +Leiden abging, spiegelt sich wieder und wieder in den Tagebüchern ab. +Merkwürdig ist folgende Stelle: + + »Oft, seit wir eingeschlossen sind, haben wir die Frage aufgeworfen, + ob es wirklich unmännlich ist, sich zu fürchten, wie die Welt sagt. + Ich sage offen, daß ich fortwährend in Furcht schwebe und zwar recht + gründlich. Ich fürchte die möglichen Folgen der Gefechte. Todesfurcht + ist's nicht, die habe ich gottlob ja längst überwunden; aber ich + fürchte Niederlagen und was sie bringen. Man spricht von ruhigen + Leuten, die sich durch nichts anfechten lassen -- es giebt keine, d. + h. es giebt Leute, die es äußerlich nicht zeigen, was sie innerlich + fühlen. Daraus folgere ich, daß ein Heerführer nicht in vertrautem + Umgang mit seinen Offizieren leben soll, denn sie beobachten ihn mit + Luchsaugen und nichts ist ansteckender als Furcht. Mich hat es schon + fuchswild gemacht, wenn ich etwa vor Besorgnis nicht essen konnte und + dann merkte, daß es meinen Tischgenossen ebenso ging.« + +Wenn Gordon auch nicht Furcht im gewöhnlichen Sinn, so doch Besorgnis +in reichlichem Maße kannte, so ist's kein Wunder. Er hat es öfters +ausgesprochen, daß es eine Art Verhängnis in seinem Leben war, in all +seinen Kriegsunternehmungen es mit mehr oder weniger wertlosen Truppen +zu thun zu haben. Das Jahr in Khartum setzte auch in dieser Hinsicht +seinem Leben die Krone auf; und was die Zivilverwaltung betrifft, so +stand es damit nicht besser. Wenn etwas geschehen sollte, so mußte er +selbst darnach sehen, und die Last eines jeden Departements lag auf +seiner Schulter. + + »Einen jeden Befehl, und wo sich's doch um das Interesse der Leute + selbst handelt, muß ich zwei-, dreimal wiederholen. Ich kann wahrlich + sagen, ich bin des Lebens müde; Tag und Nacht, Nacht und Tag ist's + ~eine~ fortdauernde Plage.« + +Von den Baschi-Bosuks, die ihm ja von jeher ein Dorn im Auge waren, +kann er zuletzt nur noch sagen, er werde sie in Watte einwickeln und +aufheben; all seine übrigen Ägypter, die Offiziere nicht ausgenommen, +ist er bereit, den heranziehenden Engländern zu schenken in der +Hoffnung, daß er sie dann nie wieder sehen möchte. Nachdem der +»Abbas« seine Gefährten davon getragen hatte, war nicht ein Mensch +in der Stadt, auf den er sich verlassen konnte; er nennt es eine +peinliche Lage. Der österreichische Konsul Hansal war zwar noch da; +als Gordon aber hörte, derselbe beabsichtige sich mit seinen sieben +Frauenspersonen zum Mahdi zu schlagen, hatte er nur die eine Antwort: +»Ich hoffe, er wird es thun!« + +Noch am 3. Dezember entwirft Gordon ein Programm, wie zu helfen +sei, und wenn auch von zweifelhafter Moral, so wäre es doch für die +Engländer der kürzeste Weg aus der Patsche: + + »Die britische Entsatz-Expedition kommt, um britische Unterthanen aus + der Not zu retten, ~lediglich aus diesem Grunde~; man findet, + daß einer dieser Unterthanen hier Befehlshaber ist; man rettet ihn, + und ehe er sich retten läßt, setzt er, an der Genehmigung des Khedive + nicht zweifelnd, Sebehr als seinen Nachfolger ein, dem es zufällig + verstattet worden war, sich als Privatmann in Familienangelegenheiten + nach Khartum zu begeben. Wer kann da der britischen Regierung einen + Vorwurf machen -- kein Mensch. Sie hat den Sebehr nicht eingesetzt, + und des Thewfik Regierung geht sie nichts an; man ist nur gekommen, + um die eigenen Unterthanen zu retten, und Gordon ist der Mann, der + die Ernennung Sebehrs zu verantworten hat! Nicht einmal Thewfik + hat eine Verantwortung in der Sache, denn Gordon hat es auf seine + eigene Verantwortung hin gethan! Ist das nicht ein prächtiger Plan? + Denn erstens reinigt er die britische Regierung von aller Schuld, + zweitens legt er mir die Schuld auf, und in dem Wetter, das über + mich ergehen wird, werde ich so gründlich übergossen werden, daß + man -- ich will nicht schimpfen, noch die Monate zählen -- sagen + wir, daß man den bisherigen Verzug dabei ganz übersehen wird. Ja man + wird am Ende gar die Regierung noch tadeln, einem solchen Subjekt + von britischem Unterthan überhaupt zu Hilfe gekommen zu sein. Das + Ministerium kann sich dann ins Fäustchen lachen, und die Fabel bleibt + aufrecht erhalten, daß der Sudan oder Ägypten uns nichts angeht. + Der Gegenpartei wird's der reine Verdruß sein, wenn die Regierung + auf eine so anständige Weise aus ihrer Patsche kommt, während + die Gesellschaft zur Unterdrückung des Sklavenhandels und alle + Tugendhelden in Europa die Schalen ihres Zorns über mich ausgießen. + Und ich entgehe auf diese Weise allen Ehren und Belohnungen, denn man + wird höhern Orts nur zu gern die Gelegenheit ergreifen und sagen: + ›Nach solch niederträchtiger Handlungsweise kann man den Mann ja + nimmer anstellen,‹ als ob sie nicht wüßten, daß er »Belohnungen« + so wie so nicht annähme! Es kann mir überhaupt gleichgültig sein, + was über mich gesagt wird, denn da ich nicht wieder nach England + zurückkehren will, so kann viel in die Zeitungen geschrieben werden, + was ich nicht sehe. Es ist in jeder Hinsicht ein vorzügliches + Programm!« + +Und weiter meint er, er wisse wohl, was über ihn gesagt werden würde, +jedenfalls ~einen~ wisse er, der ausrufen werde: + + »Mein lieber Gordon, wie kann man so handeln -- ~wären~ Sie doch + lieber gestorben, ehe Sie sich so weit vom Pfad der Rechtlichkeit + verirrten!« + +»Vergnügte Weihnachten!« setzte er trocken hinzu. + +Am Tag, da er dies schreibt, berichtet er von drei Schlachten, während +die Stadt fortwährend beschossen wird; und abends nach sieben fingen +die Araber noch einmal an, weil die Zinkenisten in der Stadt das +›Salaam Effendina‹ (das ägyptische ›Heil unserm Fürsten, Heil!‹) +aufspielten. Am 5. Dezember beschließt er einen Ausfall, um dem Fort +Omderman zu Hilfe zu kommen, das in bedrohter Lage war. + + »Ich habe nun fast alle Hoffnung aufgegeben, die Stadt zu retten,« + sagte er, »dieser Ausfall ist ein letzter Versuch, um die Verbindung + mit Fort Omderman wieder herzustellen.« Am folgenden Tage schrieb + er: »Ich habe den Gedanken aufgegeben, eine Landung bei Omderman + zu bewerkstelligen, wir haben keine Möglichkeit es zu thun.« Am + 7. Dezember: »Heute der zweihundertundsiebzigste Tag unseres + Eingeschlossenseins. Die Araber haben von ihren Kanonen bei Guba acht + Bomben abgeschossen, eine fiel in der Nähe des Palastes, richtete + aber keinen Schaden an.« + +Daß Gordon am zweihundertundsiebzigsten Tag seiner hoffnungslosen +Verteidigung der Stadt nicht leichten Herzens sein konnte, bedarf +gewiß nicht des Nachweises; dennoch kann er seine Belagerungsnotizen +an jenem Tag mit dem Satz unterbrechen: + + »Mein Truthahn hat eines seiner Weiber umgebracht, Grund unbekannt; + wahrscheinlich geheime Korrespondenz mit dem Mahdi, oder sonst eine + Haremstreulosigkeit.« + +Es war Gordons Art und Weise, einen unliebsamen Gegenstand mit einem +Gewaltsprung zu verlassen, als ob er einen Scherz machen müßte, um der +Sorge Herr zu werden. Gold aber wird durchs Feuer bewährt; auch Gordon +mußte hindurch. Was mag er innerlich gelitten haben im Blick auf die +ihn umgebende Not einerseits, in Gedanken an seine Landsleute und ihr +Verhalten andererseits! »~Der Allmächtige hilft mir durch!~« +schreibt Gordon. Hätte dies tapfere Herz nur gewußt, wie England, ja, +wie die ganze weite Welt in jenen Tagen um ihn sorgte -- aber es war +ihm versagt. Er stand im Feuer in großer Einsamkeit, der Allmächtige +allein war bei ihm. + +Die Belagerung stand nun im zehnten Monat, und nicht nur sah man +der Erschöpfung der Lebensmittel entgegen, sondern, was fast noch +schlimmer war, auch der Schießbedarf ging auf die Neige. Zwar wurde +unter Gordons Aufsicht Pulver bereitet und sein Arsenal lieferte +täglich mehrere tausend Patronen -- der Verbrauch aber war zu groß. Am +11. Dezember bringt sein Tagebuch die Notiz: + + »Ich habe der ganzen Besatzung Extralöhnung für einen Monat gegeben, + nachdem sie bereits solche für drei Monate erhalten hat; ja ich würde + nicht zögern, ihnen zwei Millionen Mark zu bewilligen, wenn ich + dächte, es hielte die Stadt.« + +Das sind inhaltsschwere Worte, nur noch mit Geld oder +Geldversprechungen war seine Mannschaft bei der Fahne zu halten! + +Am 14. Dezember schließen die Tagebücher folgendermaßen -- es ist +Gordons letzte Botschaft an seine Landsleute: + + »Die Araber haben heute früh zwei Bomben auf den Palast abgefeuert. + Vorrat: 546 Ardeb Durra und 83525 Oke Zwieback! Halb elf Uhr -- die + Dampfer sind bei Omderman mit den Arabern im Gefecht, und ich sitze + auf Kohlen. Halb zwölf Uhr -- die Dampfer sind zurück; den Bordeen + traf eine Bombe in die Batterie; nur ein Mann der Unsrigen verwundet. + Morgen soll der Bordeen mit diesem Tagebuch abgehen. Hätte ~ich~ + zweihundert Mann vom Entsatzzug zu befehligen, mehr sind nicht nötig, + so würde ich gerade unterhalb Halfaja die Araber angreifen und dann + nach Khartum vorrücken. Ich würde mich dann mit dem Nord-Fort in + Verbindung setzen und weiteres Handeln von den Umständen bestimmen + lassen. ~Das merkt euch~, wenn der Entsatz, und ich verlange + nicht mehr als zweihundert Mann, nicht in zehn Tagen hier ist, kann + ~die Stadt fallen~; und ich habe gethan, was ich konnte, für die + Ehre unseres Landes. Lebt wohl. + + C. G. Gordon.« + +Er hat die Stadt nicht zehn, sondern noch dreimal zehn Tage gehalten; +aber was nach dem 14. Dezember geschehen, wird schwerlich je in +völlig authentischer Weise bekannt werden. Ohne Zweifel hat er bis +zum letzten Tag seine Notizen niedergeschrieben, aber sein siebentes +Tagebuch ist entweder in die Hand des Mahdi geraten oder in der +allgemeinen Zerstörung zu Grunde gegangen. + +Gordon wußte wohl, daß die Besatzung zum äußersten gebracht war. +Allerlei Anzettelungen in der Stadt und geheime Unterhandlungen mit +dem Mahdi nahmen überhand. Es ist bemerkenswert, daß Gordon, selbst +eine redliche Seele wie wenige, sein Leben lang immer wieder die +Erfahrung machen mußte, daß andere ihn im Stich ließen oder gar +mit Treubruch ihm begegneten. Es bringt ihn zu dem Geständnis, daß +der Mensch von Natur ein trügerisches Geschöpf sei. Psalm 116, 11 +lautet in der englischen Übersetzung: ›Ich sprach in meiner Eile +(Übereilung): alle Menschen sind Lügner‹; das hätte der Psalmist auch +mit Bedacht sagen können, schrieb Gordon im September 1884. Ob die +Stadt durch direkten Verrat fiel, wie man in der ersten Zeit nach +der Katastrophe allgemein annahm, ist nicht klar erwiesen, so viel +nur ist gewiß, daß die ausgehungerte Besatzung zur Übergabe bereit +war, daß Gordon also allein stand in der großen Not. Der Mahdi war +durch Überläufer aufs genaueste von allem unterrichtet, und es war +seine Absicht, die Stadt zuletzt ohne Schwertstreich durch Hunger zu +bezwingen. + +Gordons Tagebuch unterm 14. Dezember enthielt die letzte bestimmte +Nachricht über Khartum. Die Lage der Stadt war schon damals eine +äußerst kritische, »sie kann in zehn Tagen fallen,« schrieb er. Den +noch vorhandenen Mundvorrat giebt er an jenem Tage auf 83525 Oke +Zwieback und 546 Ardeb Durra an. Nach seinen fast wöchentlichen +Angaben der Vorräte läßt sich berechnen, daß bei Einschränkung der +Durra-Rationen die Verabreichung des Zwiebacks an die Truppen bis zum +14. Dezember nicht geschmälert worden war, und daß der an diesem Tag +erwähnte Vorrat allein durch den Bedarf der Truppen in etwa achtzehn +Tagen erschöpft sein würde. Aber schon am 22. November hatte Gordon +den Armen der Stadt 9600 Pfund Zwieback verabreichen müssen. Er +bemerkte dabei: »Ich bin entschlossen, daß wenn die Stadt fällt, der +Mahdi blitzwenig hier zu essen finden soll.« Es unterliegt kaum einem +Zweifel, daß es von da ab nötig war, den ärmeren Einwohnern Rationen +zu bewilligen, und selbst bei größter Sparsamkeit mußte der Vorrat mit +dem 1. Januar 1885 so ziemlich auf der Neige sein. + +Man versetze sich in die Lage der von allen Seiten eingeschlossenen +Stadt an jenem 14. Dezember, dem 277sten Tag ihrer Not! Es war +fast auf die Stunde zu berechnen, wie lang die letzten ärmlichen +Nahrungsmittel noch ausreichen konnten, schon jetzt ist Hunger die +tägliche Losung, Entkräftung der Mannschaft und drohender Verrat +sein Gefolge. Keine Nachricht vom Entsatzheer, wie ängstlich man +desselben auch harrt, und täglich schwächer wird die Hoffnung, daß es +rechtzeitig eintreffe, täglich geringer wird der Mut der Mannschaft +und täglich giebt's Überläufer zum Feind. + +In all dieser Not, wie ein Fels in der Brandung, steht ~ein~ +Mann, äußerlich wohl auch geschwächt, aber innerlich mit stets +wachsendem Mut, mit seinem alten Gottvertrauen, seinem kindlichen +Glauben, die ~eine~ Zuversicht des erliegenden Volks -- +~ein~ Mann voll unbesiegbarer Widerstandskraft, allezeit +wachsam, allezeit erfinderisch, voll Hingabe seiner selbst, voll +Mitleid für ›dies Volk‹. »Ich halte aus,« kann er sagen, »aber die +Haare sind mir grau geworden vor übergroßer Sorge und Anstrengung.« +Wie nah ist die Hilfe -- er weiß es nicht. Bis fast zuletzt konnte er +sich retten -- er thut es nicht. Er steht auf seinem Posten, getreu +bis in den Tod. + +Etwa am 6. Januar erließ Gordon eine Verkündigung, in welcher er es +den Einwohnern freistellte, zum Mahdi zu gehen. Dieser Erlaubnis wurde +massenhaft Folge geleistet. Der hochherzige Gordon schrieb selbst an +den Mahdi und forderte ihn auf, diesen armen Moslem Schutz und Nahrung +zu gewähren, wie er selbst es seit neun Monaten gethan habe. Es ist +berechnet worden, daß von den im September gezählten 34000 Einwohnern +nur etwa 14000 zurückblieben. Den sinkenden Mut der Besatzung suchte +Gordon durch tägliche Ansprachen zu beleben, er verwies immer wieder +auf den nahenden Entsatzzug, er lobte seine Truppen, daß sie bisher +ausgehalten, und selbst diese armen Menschen mußten sich an seinem +eigenen unerschütterlichen Entschluß aufrichten, die Stadt nicht zu +übergeben. + +Am 13. Januar fiel Fort Omderman, ein schwerer Schlag für die +eingeschlossene Besatzung, die ihres Außenwerks auf der Westseite +des Weißen Nils damit verlustig ging; auch konnten die Araber durch +Errichten von Batterien den Weißen Nil jetzt gänzlich für Gordons +Dampfer schließen, während ihre eigene Position durch die gewonnene +Flußverbindung zwischen dem Dorf und Lager Omderman ungleich verstärkt +war. Am 18. Januar, nachdem die feindlichen Außenwerke bist fast an +die Stadt vorgeschoben waren, machten die Belagerten einen Ausfall +und ein verzweifelter Kampf fand statt. Von der Besatzung fielen etwa +zweihundert, und obgleich des Mahdi Verluste beträchtlich gewesen +sein sollen, so ist doch nicht ersichtlich, daß ein Vorteil für die +Belagerten errungen wurde. Nach der Rückkehr der Besatzung in die +Stadt hielt Gordon eine Anrede an die erschöpfte Mannschaft. Er lobte +ihren tapfern Widerstand und redete ihnen eindringlich zu, den Mut +nicht fallen zu lassen, Hilfe sei nahe, die Engländer könnten täglich +kommen und dann sei alles gut! Wie erschöpft mag er selbst gewesen +sein, der große Held, von dem gesagt wurde, daß er um diese Zeit nie +mehr schlief! + +Die Zustände innerhalb Khartums waren verzweifelte; alle Esel, Hunde, +Katzen, Ratten waren aufgezehrt, eine kleine Quantität Gummi wurde +täglich an die Truppen verabreicht, und aus der zerriebenen Holzfaser +einer Palmenart wurde Brot bereitet. Gordon berief die namhaftesten +Einwohner mehrmals zum Kriegsrat und ordnete an, daß die Stadt aufs +gründlichste nach Nahrung durchsucht wurde; das Ergebnis war aber ein +geringes, nur vier Ardeb Durra in der ganzen Stadt, und diese wurden +für die Truppen beschlagnahmt. + +Mittlerweile gelangte die Nachricht von der Niederlage der Kerntruppen +des Mahdi bei Abu Klea ins feindliche Lager und rief Bestürzung und +Zorn unter den Arabern hervor; auch ist gesagt worden, daß bei dieser +Gelegenheit Unzufriedenheit mit des Mahdi Regiment laut geworden sei. +Die Rebellen verlangten stürmisch einen Angriff auf die Stadt. Das +war am 20. Januar. Am 22. folgte die weitere Nachricht, daß die von +Abu Klea vordringenden Engländer den Nil bei Metammeh erreicht hätten +(wo Gordons Dampfer auf sie warteten), man schloß hieraus, daß dieser +Ort in ihren Händen sei, daß somit nichts am Vorrücken sie hindere, +und dies bestimmte den Mahdi zu einem sofortigen Angriff, ehe die +englische Hilfe Khartum erreichen könne. In Khartum selbst war ein +unklares Gerücht von der Schlacht bei Abu Klea und der Ankunft der +Engländer bei Metammeh laut geworden. Wie nah war die Erlösung, der +Lohn für alle Treue, die ruhmvolle Rechtfertigung des ausharrenden +Heldenmuts! + +Es sollte anders kommen. Gordons schwarze Truppen standen unter dem +Befehl von Farragh Pascha, einem freigelassenen Sklaven, der seine +Erhebung Gordon verdankte, und dieser ist's, den die Anklage traf, die +Stadt durch Verrat dem Mahdi überliefert zu haben. Wohl möglich, daß +es sich so verhält, nachgewiesen ist es nicht; nur so viel ist gewiß, +daß der Mahdi mit ihm unterhandelte, ihm Bedingungen zur Übergabe +machte. Es ist bekannt geworden, daß Gordon am 23. einen stürmischen +Auftritt mit Farragh Pascha hatte; ein den Fall Khartums überlebender +Augenzeuge erklärte als die Ursache desselben, daß Gordon ein Fort +am Weißen Nil, das unter Farraghs Befehl stand, ungenügend besetzt +gefunden habe. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Farragh bei dieser +Gelegenheit einen Vorschlag fallen ließ, die Stadt zu übergeben. +Gordon soll ihm mit einer Ohrfeige geantwortet und Farragh den Palast +in hohem Zorn verlassen haben. + +Am folgenden Tag berief Gordon abermals einen Kriegsrat. Höchst +wahrscheinlich kamen Farraghs Vorschläge bei dieser Gelegenheit +zur Sprache, und die Meinung, daß die Stadt nicht länger zu halten +sei, scheint die Oberhand gewonnen zu haben. Gordon aber erklärte, +~er~ werde sie halten. Am 25. war Gordon leicht erkrankt, es +war ein Sonntag, er zeigte sich nicht öffentlich, doch hatte er +verschiedene Unterredungen mit namhaften Leuten der Stadt. Er war +sich offenbar über das nahe Ende klar. Es ist gesagt worden, daß er +gegen Abend an Bord der »Ismailia« nach der Insel Tuti übergefahren +sei, um eine Mißhelligkeit der dortigen Besatzung beizulegen. Dadurch +entstand das Gerücht, daß er im letzten Augenblick an Bord seines +Dampfers entkommen sei. Der Umstand aber, daß beide Dampfer den +Siegern in die Hände fielen, ja daß die Ismailia vom Mahdi zu seinem +Einzug in Khartum benutzt wurde, sowie die genaue, von verschiedenen +Zeugen bekräftigte Nachricht von Gordons Tod machte es unmöglich, +jenem Gerücht lange Glauben zu schenken, ganz abgesehen davon, daß +Gordon nicht der Mann war, sich im letzten Augenblick zu retten. »Mit +Gottes Hilfe gedenke ich nicht lebend in ihre Hand zu fallen, somit +bleibt nur der Tod,« hatte er einige Wochen zuvor in sein Tagebuch +geschrieben. Wenn er an jenem Abend nach Tuti überfuhr, dann kehrte er +zu einer späten Stunde in seinen Palast nach Khartum zurück. + +In der Nacht vom 25. auf den 26. Januar verließen viele ausgehungerte +Soldaten ihre Posten auf den Wällen, um Nahrung in der Stadt zu +suchen, während andere vom langen Fasten zu schwach waren, für sie +einzutreten. Es wurde dies in der Stadt bekannt, und eine Anzahl der +erschreckten Einwohner bewaffnete sich und ihre Sklaven, um auf den +Wällen Dienst zu thun. Dies war nichts ungewöhnliches, nur daß in +dieser Nacht mehr Freiwillige als zuvor sich einfanden. So nahte der +verhängnisvolle 26. Vor Tagesgrauen geschah der feindliche Überfall. +Das Bourré-Thor am äußersten Ostende der Verteidigungslinie am Blauen +Nil und das Mesalamieh-Thor auf der Westseite gegen den Weißen +Nil waren die Hauptpunkte des Angriffs. An jenem Posten hielt die +Besatzung stand, am Mesalamieh-Thor hingegen gelang es den Arabern +in die Festungswerke einzudringen. Ob Verrat in dieser Stunde im +Werk war, ist nur zu mutmaßen, sicher ist, daß es der ausgehungerten +Mannschaft an aller Widerstandskraft gebrach. Die Feinde füllten den +Graben mit Stroh- und Reisigbündeln u. s. w. und erstiegen den Wall. + +Oberst Kitchener vom Entsatzzug, ein durch langen Aufenthalt im Sudan +mit den Arabern und der arabischen Sprache wohlvertrauter Offizier, +dessen Zusammenstellung der spärlichen Berichte obiges entnommen ist, +hält dafür, daß Khartum infolge des plötzlichen Angriffs fiel, als die +hungernde Besatzung zu erschöpft war, um sich hinreichend zur Wehre +setzen zu können. + +Nachdem die Araber in die Stadt eingedrungen waren, stürmten sie +tobend und mordend durch die Straßen, jeden niedermachend, der ihnen +in den Weg kam, was den Schrecken der Überfallenen nur erhöhte und +den letzten Versuch Widerstand zu leisten lahmte. Als der Morgen +gespensterbleich am fernen Horizont graute, stand die mordende +Horde in nächster Nähe des Palastes. Jetzt waren sie siegesgewiß. +Das gellende Geschrei, mit welchem die Streiter des Halbmonds dies +bekundeten, weckte Gordon aus dem kurzen Schlaf, den die frühe +Morgenstunde ihm gebracht hatte. Seit Monaten hatte er sich keine +Nachtruhe gegönnt, er der Wächter und Hüter der ihm anvertrauten +Stadt. Welch ein Weckruf! er wird ihm nicht unerwartet gekommen sein. +Er erhob sich, zum letztenmal nahm er eine Waffe zur Hand, er wußte, +daß er sie bald niederlegen werde, der lange Kampf war zu Ende. Gordon +verließ den Regierungspalast mit etlichen seiner Leute und machte den +Versuch, das Arsenal im katholischen Missionshaus zu erreichen; diesen +Ort hatte er längst für den letzten Kampf ausersehen und hergerichtet. + +Mit großer Ruhe und den Seinen etwas voraus nahte Gordon der +kleinen Kirche. Das kurze Zwielicht der Wüste wich dem aufdämmernden +Tag, über den hohen Palmen am Blauen Nil erglühte der Osthimmel +im Morgenrot. Noch hingen die Schatten der verhängnisvollen Nacht +über der verlorenen Stadt. Verworrenes Geschrei erscholl auf allen +Seiten von erbarmungslosen Siegern und hilflos Besiegten. Das Schwert +des Islam war aus der Scheide. Auf dem freien Platz zwischen dem +Regierungspalast und der kleinen Missionskirche stand Gordon mit +seiner Schar, als eine Bande von Arabern aus der nächsten Straße +hereinstürzte. Einen kurzen Augenblick standen beide einander +gegenüber, dann krachte ein Musketenfeuer, der aufgehende Tag +erzitterte, und Gordon fiel zum Tod getroffen. + +Die Wüste breitete ihr Schweigen über seine sterbliche Hülle, nichts +weiter hat verlautet. Des Mahdi Horden plünderten und mordeten in +der Stadt, das Blut der Besiegten floß in Strömen, und als der +entsetzlichen Arbeit Einhalt geschah, und die Stadt aus hundert Wunden +blutend, den Blick wieder erhob, war ihr Held, ihr Märtyrer, ja selbst +sein Leichnam, ihr entrückt. + +Die denkwürdige Belagerung von Khartum währte 317 Tage; nie war einer +erliegenden Besatzung die Hilfe so nahe, und kein Kriegsheld ging je +in einen schönern Tod. + + + 8. Die Krone der Ehren. + +Gordon wußte, daß er in den Tod ging, er schrieb verschiedene +Abschiedsbriefe, die ihre Bestimmung erreichten; es sind die Worte +eines, der das dunkle Thal schon vor sich sieht. Seiner Schwester +schrieb er: + + »Gott der Herr regiert, und da Er zu Seiner Ehre und unserem Besten + regiert, so geschehe Sein Wille. Ich hin ganz zufrieden und kann mit + Lawrence[16] sagen, ich habe versucht, meine Pflicht zu thun .... + Wenn Gott es einem Menschen geschenkt hat, viel im Umgang mit Ihm zu + leben, so kann der Tod für einen solchen nichts Schmerzliches sein; + ja, was ist der Tod für den gläubigen Christen!« + +Es steht wohl auf jeder Seite der Lebensgeschichte dieses Mannes +geschrieben, daß er seinem Gott vertraute -- in seltener Weise +vertraute. Sollte es Leser geben, die fragen, was hat ein Mann wie +Gordon nun vor anderen voraus, hat er nicht in schmählicher Weise, von +Freunden verlassen, von Feindeshand fallen müssen, und der Gott, dem +er vertraute, hat ihm ~nicht~ geholfen? so giebt Gordon selbst +die Antwort darauf in den tiefrührenden Worten an seine Schwester: + + »Du darfst nicht vergessen, daß unser Herr niemand versprochen hat, + ihn das Glück und den Frieden in diesem Leben finden zu lassen. + Er hat uns im Gegenteil Trübsal verheißen. Wenn es also ein übles + Ende nimmt nach dem Fleisch, so ist Er dennoch treu. Was Er thut, + geschieht in Liebe, und Sein Erbarmen ist über mir. Mein Teil ist + Ergebung in Seinen Willen, wie dunkel derselbe auch sei.« + +Einem fernerstehenden Freund schrieb er: + + »Alles vorbei. Ich erwarte die Katastrophe innerhalb zehn Tagen. Es + wäre nicht so gegangen, hätten unsere Leute besser dafür gesorgt, mir + Nachricht zukommen zu lassen. Lebt alle wohl. -- C. G. Gordon.« + +Dem Sir Charles Wilson, der ihm mit einem Teil der Entsatz-Mannschaft +die erste Hilfe bringen sollte, schrieb er, er hoffe, daß nach Gottes +Willen die Engländer rechtzeitig kommen könnten, um ihn und andere +zu retten, aber er fürchte, sie würden zu spät kommen; er wisse, daß +Verrat im Anschlag sei, und er könne es nicht hindern. Noch jetzt +stünde es in seiner Macht sich zu flüchten, aber das wolle er nicht; +er werde auf seinem Posten bleiben und nicht zuletzt noch davonlaufen. +Gefangen nehmen lassen werde er sich nicht; also bleibe der Tod. + +Und so starb der Held. Die heiße Schlacht war verloren er aber war +dennoch ein Sieger, einer von denen, die gekrönt werden nach dem +Kampf. Daß die unverwelkliche Krone ihm wurde, wer könnte daran +zweifeln! Aber auch eine irdische Krone der Ehren ist ihm behalten, +wie wenigen seines Geschlechts, in der Bewunderung, ja, in der Liebe +von Tausenden, die um ihn trauern wie um einen nahestehenden Freund. +Nicht nur England, die weite Welt erkannte den Verlust. Wie mit +leuchtenden Buchstaben stand es auf einmal vor aller Augen, dieser +Mann war ein Held in unserm Jahrhundert, wie sonst nur Sage und Sang +aus längst vergangenen Zeiten uns von Helden berichten, und er ist +tot! Die Kunde traf England ins Herz. Wer an jenem 5. Februar, der die +Nachricht brachte -- den »schwarzen Donnerstag« hat man ihn seither +genannt -- durch die Straßen von London ging, der konnte auf allen +Gesichtern lesen, daß Trauer auf das Land gefallen war. Seit der +indischen Meuterei hat nichts das Land in ähnlicher Weise erschüttert, +wie der Fall von Khartum. Es war, als handelte es sich für jeden um +einen persönlichen Verlust. Hoch und nieder, reich und arm hatten nur +die eine Klage: Gordon ist tot! Kein König ist je so betrauert worden. +England wußte es jetzt, was es an ihm verlor, und viele Tausende +schlugen dabei an ihre Brust. Was einer seiner Landsleute aussprach, +als es sich um ein Gordon-Denkmal handelte, war die Stimmung des +Volkes seinen Führern gegenüber: + + Ein Denkmal unserm Gordon -- gut! + So lang im Nil sich spiegelt Nacht und Tag, + Der in Khartum sich färbte rot mit Blut, + Sei nicht vergessen, wie der Held erlag. + + Ja, richtet ihm ein Denkmal auf, + Und wenn in Marmorstein sein Ruhm erblüht, + Schreibt auch als Denkschrift das Bekenntnis drauf: + »Aus Dankbarkeit das Volk, das ihn verriet!« + +Nur erwähnt sei die Thatsache, daß am Abend des Tages, der ganz +England mit Trauer erfüllte, einer am andern Morgen erschienenen +Zeitungsnotiz zufolge Gladstone die komische Oper mit seiner +Anwesenheit beehrte! Wie zu erwarten stand, hielt dieser Minister dem +gefallenen Helden Englands einen glänzenden Nachruf im Parlament; +als er aber mit einem namhaften Beitrag dem projektierten Denkmal +beitreten wollte, da lehnten sich Stimmen aus allen Volksklassen +in der Tagespresse dagegen auf. Was das Denkmal für eine Gestalt +annehmen solle, ob die eines Spitals in Port Said, oder in England +-- im Gedanken an Gordons »Prinzen« -- die eines Rettungshauses +für verwahrloste Knaben, darüber ist viel verhandelt worden. Ein +Ehrendenkmal von Stein ist äußerst bezeichnender Weise erst lang +nachher zu stand gekommen. Gordon braucht keines. Am 10. Mai 1886 +wurde eine Anstalt unter dem Namen »+The ›Gordon‹ Boys Home+« +eröffnet, in welcher verwahrloste Jungen im allgemeinen, wenn +auch nicht ohne Ausnahme für den Soldatenstand erzogen werden. +Schon im Herbst 1885 wurde ein Anfang dazu gemacht, die nötigen +Mittel flossen aber nur spärlich. Wäre eine ungenannte Dame nicht +mit der schönen Summe von hunderttausend Mark zu Hilfe gekommen, +welche Gabe sie bei der Eröffnung verdoppelt hat, die Anstalt wäre +vielleicht noch heute nicht eröffnet! Wie Gordons Bruder, Sir +Henry Gordon, übrigens treffend bemerkt hat, bestehen in England +bereits gegen fünfhundert derartige Rettungshäuser, und es hätte +dem bescheidenen und praktischen Sinn Gordons mehr entsprochen, die +Zinsen des eingegangenen Kapitals in unmittelbarer Weise für arme +Kinder zu verwenden, wenn man sie in bereits bestehenden Anstalten +untergebracht, oder sonst für ihr Fortkommen gesorgt hätte, wie Gordon +selbst in Gravesend gethan, als eine neue Anstalt zu errichten, +deren bloße Gründung die gezeichneten Mittel verschlingen mußte. +-- Vom englischen Parlament sind auf Wunsch der Königin Viktoria +vierhunderttausend Mark bewilligt worden, die Gordons verwitweten +Schwestern und Schwägerinnen, nach deren Tod aber seinen zahlreichen +Nichten und Neffen zu gut kommen sollen. Für diese Bestimmung diente +sein vor der Abreise nach Khartum verfaßtes Testament als Richtschnur. +Nicht als ob ~er~ viel zu hinterlassen gehabt hätte, nur den Wert +seines Offizierspatents, etwa zwölftausend Mark. Er konnte ja nie +Geld in der Hand behalten, so lang es Hilfsbedürftige gab, und wenn +er gerade bei Kasse war, so war eine ›milde Gabe‹ von zwei oder mehr +tausend Mark nichts ungewöhnliches bei ihm. + +Die Lebensgeschichte eines solchen Mannes ist ein Saatkorn im Acker +der Zeit; es wird aufgehen und Frucht bringen, und von Gordon gilt das +Wort: er redet noch, wiewohl er gestorben ist. Die Schönheit eines +solchen Lebens wird von allen anerkannt, selbst von denen, die am +wenigsten die Kraft besitzen, das darin gegebene Vorbild nachzuahmen. +Viele aber werden sich daran aufrichten und suchen, an ihrem Teil +etwas von der Kraft zu gewinnen, die Gordon stark machte. Im Kampf +stehen wir alle. Helden im großen Sinn können nicht alle sein; aber +die Selbstaufopferung, die Demut, die kerngesunde Aufrichtigkeit +des Mannes können auch andere erreichen. Das Wunderbare bei Gordon +war, daß der natürliche Mannesmut seines Wesens mit der christlichen +Demut eins wurde und ihn zum idealen Menschen gestaltete. Es ist ein +Beweis, daß das Christentum die natürliche Eigenart des Menschen +nicht vernichtet, sondern sie veredelt und zu ihrer schönsten Blüte +bringt. Und bei Gordon hat sich dies so völlig bewährt, daß ihm nicht +leicht ein ebenbürtiger Charakter an die Seite zu stellen ist. Wir +blicken auf und nieder in der Geschichte der Völker, wo finden wir +einen, in dem jede Gestalt der Selbstsucht so völlig unterdrückt war, +der in all seinem Denken und Thun nur um andere sorgte? wo einen, +der es sich so ernstlich angelegen sein ließ, sein Leben nach dem +Willen Gottes in der Nachfolge Christi zu gestalten? wo einen, der den +seltenen Mut in solchem Maße besaß, sich um Menschenurteil nicht zu +kümmern, wo es mit der Stimme des Gewissens oder dem Wort der Schrift +im Widerspruch steht? Reichtum, Ehre, die Würde hoher Stellung, +alles galt ihm nichts, oder doch nur so viel als er glaubte, dadurch +Gelegenheit zu finden, Gutes zu vollbringen. Von dem Verlangen, sich +einen guten Namen zu machen, das sonst auch vortrefflichen Menschen +selbst dann noch anhängt, wenn gröbere Gebrechen überwunden sind, war +er völlig frei. Sein einziger Ehrgeiz, wenn man es so nennen kann, +war der Wunsch, seinem Gott zu dienen und seinen Mitmenschen Gutes +zu thun. Und wie viel ließe sich von seinen anderen Eigenschaften +sagen, seinem unerschöpflichen Humor, seinem frischen Sinn, seiner +unendlichen Thatkraft, seinen Mut, seiner Tapferkeit, seiner +Menschenfreundlichkeit, seiner hochherzigen Treue! Ja, es ließe sich +das ganze Register menschlicher Tugenden aufzählen, und man hätte nur +wenige Gebrechen seines Wesens dagegen zu stellen, obschon er selbst +der erste war, sich mit Paulus unter den Sündern den vornehmsten zu +nennen. + +Es war nicht möglich, die Lebensgeschichte dieses Mannes zu schreiben, +ohne hervorzuheben, welch rückhaltlose Bewunderung er verdient. +Gordon selbst sagte einmal, und gewiß mit voller Aufrichtigkeit: +Lieber tot sein, als gelobt werden! Die edelsten Handlungen seines +Lebens hat er so angesehen, als ob sie sich von selbst verstünden; +sie waren auch nichts anderes, als die natürliche Frucht seines vom +Christentum durchdrungenen Wesens, und in diesem Sinn allerdings +selbstverständlich. Es ist gesagt worden, daß Gordon ein idealer +Mensch gewesen sei, der nicht recht ins neunzehnte Jahrhundert paßte; +wenn dem so wäre, dann müßte man das Jahrhundert bedauern und die +Menschen, die darin leben. So viel ist sicher, Gordon war einer von +den wenigen, die den Mut haben, ihr Ideal in allen Dingen, in jeder +Lage zur Geltung zu bringen, d. h. so zu leben, wie er es mit seinem +innersten und besten Wesen als gut erkannte. Gäbe es doch viele +Idealisten in diesem Sinn! + +Es gehört mit zu den Rätseln des Lebens, warum Menschen wie Gordon +oft in der Fülle ihrer Kraft abgerufen werden. Er war fast auf den +Tag zweiundfünfzig Jahre alt; wie viel hätte er noch hier thun können +beides zur Ehre Gottes und zum Besten seiner Mitmenschen! Aber, wie +Staupitz einst zu Luther sagte, es braucht der Herr auch in der andern +Welt tüchtige Leute, und wenn Er hier Arbeit für solche hat, nicht +minder dort. Der Himmel ist nicht nur ein Land der Harfen und Kronen +und des Ruhens von allem Jammer der Zeitlichkeit; wohl das, aber +er ist auch ein Land des völligeren Gottdienens, wo es, um mit den +Worten des Gleichnisses zu reden, Städte zu verwalten giebt, was diese +nun sein mögen. Und als Gordon aus dem Kampf seines Lebens in die +Wohnungen des Friedens einging, wird er wohl die Stimme seines Herrn +vernommen haben, die zu ihm sagte: + +»=Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu +gewesen, ich will dich über viel setzen. Gehe ein zu deines Herrn +Freude.=« + + [Illustration] + + +Fußnoten: + +[1] englische Meilen = 45 Kilometer. + +[2] Die Sohnestreue des Mannes giebt sich öfter kund. Ein Missionar, +der ihn im Sudan kennen lernte, sagt unter anderem: »Es ist seine Art, +rasch von einem Gegenstande zum andern überzugehen. Mitten im Gespräch +unterbrach er mich z. B. mit der Frage: Haben Sie an Ihre Mutter +geschrieben? Und auf meine bejahende Antwort fuhr er fort: Das ist +recht; lassen Sie nur immer Ihre Mutter wissen, wie's Ihnen geht. Wie +lieb hat meine Mutter mich gehabt!« + +[3] Schon vor Sebastopol hatte Gordon hievon einen Beweis gegeben. +Er kam einmal dazu, wie ein Korporal seine Leute zum Aufwerfen einer +Schanze mitten in den Kugelregen schickte, während er selbst gedeckt +stand. Gordon sprang ohne ein Wort zu sagen hinzu und legte mit den +Soldaten selbst Hand an. »Man muß die Leute nie etwas thun heißen, +wovor man sich selbst scheut,« belehrte er nach vollbrachter Arbeit den +Korporal. + +[4] »+Soldier of fortune+« sagte die Times -- »Held von Gottes Gnaden« +wäre richtiger. + +[5] Von Heinrich +IV.+ zur Belohnung für ausgezeichnete Kriegsdienste +gestiftet und so benannt, weil die Ritter als Sinnbild ihrer geistigen +Reinigung vor der Aufnahme ein Bad nehmen mußten. + +[6] »Die ihn angeschmiert haben,« sagte ein Armer, »haben's selber am +meisten bereut, wenn sie merkten wie gut er war; und erst recht leid +mußte es ihnen thun, als sie hörten, er sei tot!« + +[7] Obschon ein Kriegsheld wie wenige, so war er's doch keineswegs +aus Liebe zum Krieg. Er selbst sagt: »Die Leute irren sich, wenn sie +meinen, ein Krieg sei etwas Glorreiches. Es ist nichts anders als +organisierter Totschlag, Plünderung, Grausamkeit. Und es sind nicht die +Soldaten, auf die die schlimmste Last fällt, sondern Frauen und Kinder +und alte Leute. Man mag's betrachten wie man will, so ist der Krieg ein +rohes, grausames Handwerk.« + +[8] Diese etwas eigentümliche Begrüßungsformel beschreibt der englische +Afrikareisende Petherick folgendermaßen: »Der Häuptling ergriff meine +rechte Hand und spuckte herzhaft hinein; dann blickte er mir ernsthaft +ins Gesicht und wiederholte die Zeremonie mit aller Umständlichkeit. +Im ersten Augenblicke stand ich verblüfft, dann erfaßte mich ein +wütendes Verlangen, den Menschen durchzuprügeln; er guckte mich aber so +leutselig an, daß ich statt der ihm zugedachten Züchtigung mich damit +begnügte, ihm seinen Gruß mit gleicher Münze heimzugeben, und zwar mit +reichlichen Zinsen. Da überkam ihn eine gewaltige Freude: ich müsse ein +großer Häuptling sein! sagte er zu seinem Hofstaat.« + +[9] Sir Samuel Baker erzählt in seinem Buch »Ismailia«, daß der Thron +der Könige von Unyoro aus einem sehr kleinen und alten, aus Holz und +Kupfer verfertigten Stuhl besteht, der seit Generationen von König auf +König übergeht und als ein Talisman gilt. Gelänge es einem Feind, des +Stuhles habhaft zu werden, so würde der König so lange aller Autorität +verlustig sein, als der kostbare Sessel nicht wieder zurückerobert +würde. Der König und sein Sitz sind deshalb fast unzertrennlich; wo er +hingeht nimmt er ihn mit. + +[10] Als Streiflicht hierzu dient folgendes: Gordon schreibt auf dem +Weg nach Kairo anläßlich der von ihm nicht gebilligten Anstellung +eines jener europäischen ›Mitregenten‹: -- »Ich habe meinen Gehalt von +hundertzwanzigtausend Mark auf die Hälfte herabgesetzt; ich habe genug +mit sechzigtausend Mark, und die andern sechzigtausend können dem Land +das wieder ersetzen, was diese Anstellung kostet. Aber ich fürchte, +ich thue dies mehr aus Zorn als in Liebe ... Je älter man wird, um so +besser lernt man so an seinen Nebenmenschen handeln, als wären sie +leblose Gegenstände, d. h. für sie thun was man kann, ohne sich im +geringsten darum zu kümmern, ob sie es einem Dank wissen oder nicht. So +handelt Gott gegen uns. Er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. +Dank findet er selten; im Gegenteil, er wird selbst meist vergessen.« + +[11] Der ungenügende Zustand des Gesetzes ergiebt sich aus folgender +Mitteilung Gordons: »Ich besitze vier Erlasse, 1. einen persönlichen +Befehl des Khedive, alle Sklavenhändler mit dem Tod zu bestrafen; 2. +den Vertrag (zwischen der englischen und ägyptischen Regierung, zur +Unterdrückung des Sklavenhandels, Alexandrien 4. August 1877), welcher +Sklavenjagd als Raub, beziehentlich als Raubmord kennzeichnet; 3. eine +gleichzeitige Verordnung des Khedive, welche dieses Verbrechen mit +Gefängnis von fünf Monaten bis zu fünf Jahren bestraft haben will; +4. ein Telegramm des Nubar Pascha folgenden Wortlauts: >Der An- und +Verkauf von Sklaven in Ägypten ist gesetzlich gestattet‹«! + +[12] Mit welcher Klarheit Gordon in die Zukunft sah, ergiebt sich +aus diesem im April 1879 geschriebenen Satz: »Wenn die Befreiung +der Sklaven i. J. 1884 im eigentlichen Ägypten stattfindet, und die +Regierung in ihrem gegenwärtigen System verharrt, dann ist ein Aufstand +hier (im Sudan) zu erwarten; unsere (die englische) Neuerung aber +schläft ruhig weiter, bis es zu spät ist, und dann handelt man +à +l'improviste+.« + +[13] Die abessinische Kirche erhält seit Jahrhunderten ihren Abuna +von der koptischen Kirche in Alexandrien; durch die Mißhelligkeiten +zwischen den Regierungen entbehrte Abessinien zur Zeit dieses +Würdenträgers und der König hatte niemand, der ihm seine Feinde +exkommunizierte. + +[14] Leider hat in letzter Zeit der Branntweinhandel im Basutoland +Eingang gefunden mit traurigen Folgen für die Eingebornen. Nicht +ernstlich genug kann es den europäischen Regierungen, die in Afrika +Einfluß gewinnen, ans Herz gelegt werden, diesem verderblichen Handel +möglichst zu steuern. Das ist doch der geringste »Schutz,« den die +europäischen Machthaber den unwissenden Eingebornen Afrikas angedeihen +lassen können! + +[15] Gordons Aufzeichnungen, oder richtiger Stewarts Tagebuch aus +dieser Zeit, das, wie Gordon in seinen »Tagebüchern« bemerkt, auch +als ~sein~ Tagebuch anzusehen sei, ist, wie späterhin ersichtlich, +dem Mahdi in die Hände gefallen, weshalb über diese fünf Monate nur +spärliche Berichte vorliegen. + +[16] Sir Henry Lawrence, der in Indien vorzügliche Dienste leistete +und während der Meuterei bei der Verteidigung von Laknau fiel -- ein +tüchtiger Soldat und demütiger Christ. Er hatte den Wunsch geäußert, +daß man ihm keine andere Grabschrift setzen möge als: »Hier liegt Henry +Lawrence, der versucht hat, seine Pflicht zu thun.« + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75673 *** diff --git a/75673-h/75673-h.htm b/75673-h/75673-h.htm new file mode 100644 index 0000000..d83fb8b --- /dev/null +++ b/75673-h/75673-h.htm @@ -0,0 +1,12065 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> + <meta charset="UTF-8"> + <title> + Gordon | Project Gutenberg + </title> + <link rel="icon" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <style> + +body { + margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + text-indent: 1em;} + + h1,h2,h3 { + text-align: center; + clear: both; + font-weight: normal;} + +h1 {font-size: 240%} +h2,.s2 {font-size: 150%} +h3,.s3 {font-size: 110%} + .s4 {font-size: 90%} + .s5 {font-size: 80%} + .s6 {font-size: 65%} + +h1 { page-break-before: always} + +h2 { padding-top: 0; + page-break-before: avoid; + font-weight: normal;} + +p { margin-top: .51em; + text-align: justify; + margin-bottom: .49em;} + +.p0 {text-indent: 0em;} +.p2 {margin-top: 2em;} + +.mtop1 {margin-top: 1em;} +.mtop2 {margin-top: 2em;} + +.mbot2 {margin-bottom: 2em;} + +hr { width: 33%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + margin-left: 33.5%; + margin-right: 33.5%; + clear: both;} + +div.chapter {page-break-before: always;} + +hr.tb {width: 45%; margin-left: 27.5%; margin-right: 27.5%;} +hr.chap {width: 65%; margin-left: 17.5%; margin-right: 17.5%;} +@media print { hr.chap {display: none; visibility: hidden;} } + +div.chapter {page-break-before: always;} + +.pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */ + /* visibility: hidden; */ + position: absolute; + left: 92%; + font-size: small; + text-align: right; + font-style: normal; + font-weight: normal; + font-variant: normal; + text-indent: 0; +} /* page numbers */ + +.blockquot { + margin-left: 5%; + margin-right: 10%; + font-size: 90%; } + +.center {text-align: center;} + +.right {text-align: right;} + +.mright8 {text-align: right; + margin-right: 8em;} + +.mright4 {text-align: right; + margin-right: 4em;} + +.gesperrt {letter-spacing: 0.2em; + margin-right: -0.2em;} + +.x-ebookmaker .gesperrt { + letter-spacing: 0.15em; + margin-right: -0.25em;} + +em.gesperrt{font-style: normal;} + +.x-ebookmaker em.gesperrt { + font-family: sans-serif, serif; + font-size: 90%; + margin-right: 0;} + +.antiqua { + font-style: italic;} + +.caption {font-weight: bold;} + +/* Images */ + +img { + max-width: 100%; + height: auto; +} +img.w100 {width: 100%;} + +.figcenter { + margin: auto; + text-align: center; + page-break-inside: avoid; + max-width: 100%;} + + +/* Footnotes */ +.footnotes {border: 1px dashed;} + +.footnote {margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + font-size: 0.9em; + background-color: #E6E6E6; } + +.footnote .label {position: absolute; + right: 84%; + text-align: right;} + +.fnanchor {vertical-align: super; + font-size: .8em; + text-decoration: + none;} + +/* Poetry */ +.poetry-container {display: flex; justify-content: center;} +.poetry-container {text-align: center;} +.poetry {text-align: left; margin-left: 5%; margin-right: 5%;} +.poetry .stanza {margin: 1em auto;} +.poetry .verse {text-indent: -3em; padding-left: 3em;} + +.poetry .indent0 {text-indent: -3em;} +.poetry .indent2 {text-indent: -2em;} + +@media print { .poetry {display: block;} } +.x-ebookmaker .poetry { + margin-left: 2em; + display: block;} + +/* Transcriber's notes */ +.transnote {background-color: #E6E6FA; + color: black; + font-size:small; + padding:0.5em; + margin-bottom:5em; + font-family:sans-serif, serif;} + +/* Illustration classes */ +.illowe18 {width: 18em;} +.illowp46 {width: 46%;} +.illowp49 {width: 49%;} +.illowp52 {width: 52%;} + +.x-ebookmaker .illowe18 {width: 36%; margin: auto 32%;} +.x-ebookmaker .illowp46 {width: 100%;} +.x-ebookmaker .illowp49 {width: 100%;} +.x-ebookmaker .illowp52 {width: 100%;} + + </style> +</head> +<body> +<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75673 ***</div> + +<div class="transnote"> +<p class="s3">Anmerkungen zur Transkription</p> +<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion +des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler sind +stillschweigend korrigiert worden.</p> +<p class="p0">Worte in Antiquaschrift sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p> +</div> + +<figure class="figcenter illowp46" id="cover"> + <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt=""> +</figure> + +<h1 class="mtop2 mbot2"><b>Gordon</b><br> +<span class="p2 mbot2 s6">der Held von Khartum</span></h1> + +<figure class="figcenter illowp52" id="frontispiece" style="max-width: 37.5em;"> + <img class="w100" src="images/frontispiece.jpg" alt="Frontispiece"> + <figcaption class="caption">Frontispiece</figcaption> +</figure> + +<hr> + +<figure class="figcenter illowp49" id="title" style="max-width: 56.25em;"> + <img class="w100" src="images/title.jpg" alt="Titel"> +</figure> + +<p class="s4 center">Druck der Stuttgarter Vereins-Buchdruckerei.</p> + +<p class="s2 mtop2 center">Vorrede.</p> + +<p>Nachdem das vorliegende Buch in zwei Auflagen verbreitet worden ist, +tritt es nun in etwas veränderter Gestalt seinen Weg aufs neue an. Zu +Grunde liegen folgende Quellen:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>1) <em class="gesperrt">Die stets siegreiche Armee, eine Geschichte des chinesischen +Feldes unter Oberstlieutenant C. G. Gordon, sowie der Unterdrückung +des Taiping-Aufstandes, von Andrew Wilson.</em></p> + +<p>2) <em class="gesperrt">Die Geschichte des »Chinesen-Gordon« von A. Egmont Hake</em>, +zwei Bände.</p> + +<p>3) <em class="gesperrt">Oberstlieutenant Gordon in Zentral-Afrika (1874-1879) von G. +Birkbeck-Hill.</em> Letzteres Werk besteht hauptsächlich aus Gordons +Briefen aus der genannten Zeit.</p> + +<p>4) <em class="gesperrt">Die Tagebücher von Generalmajor C. G. Gordon zu Khartum, nach +dem Original-Manuskript gedruckt. Mit Einleitung und Noten von A. +Egmont Hake.</em></p> + +<p>5) <em class="gesperrt">Betrachtungen in Palästina von Charles George Gordon.</em></p> +</div> + +<p>Außer diesen Hilfsquellen ist eine ganze Reihe kleinerer Bücher +über Gordon, sowie eine nicht geringe Anzahl von Aufsätzen und +Zeitungsartikeln gelesen und zum Teil auch benutzt worden. Der +vorliegenden Auflage sind außerdem nachträglich bekannt gewordene +Charakterzüge und Streiflichter eingefügt worden. Da und dort ist +gekürzt, anderes hingegen ist ergänzt worden, so besonders die +Schlußzeit in Khartum. Es wurde nichts unterlassen, das Lebensbild +des trefflichen Mannes in gegebenen Grenzen zu einem möglichst +vollständigen und abgerundeten zu machen.</p> + +<p>Die neue Auflage tritt ihren Weg zu einer Zeit an, in welcher +das Interesse am dunklen Weltteil reger ist denn je. Auch +<em class="gesperrt">Deutschland</em> hat einen Beruf in Afrika. Männer voll Hingabe wie +Gordon, wie Emin Pascha, sind es, die Afrika nötig hat. Emin, der +wie bekannt s. Z. als Gordons Unterstatthalter an den Äquator ging, +schrieb uns unterm 2. April 1890 von Bagamojo: »Daß <em class="gesperrt">meine</em> +Kräfte bis zum Tod der Sache Afrikas und seiner schwarzen Kinder +gewidmet sind, versteht sich von selbst.« Hat Deutschland nicht noch +andere opferwillige Herzen und Hände, die für die große Arbeit der +Befreiung Afrikas mit einzutreten bereit sind? »Komm herüber und hilf +uns!« ist der Schrei des dunklen Weltteils. Hat die Christenheit kein +Ohr? Wann wird es heißen: Die Sklavenketten sind gefallen! Gordon war +wie Livingstone ein Stern am Nachthimmel Afrikas, und von beiden gilt +das Wort. »sie reden noch, wiewohl sie gestorben sind.« Möchte das +Lebensbild des Helden von Khartum laut reden, der darum ein Held war, +weil er ein ganzer Mann und ein ganzer Christ gewesen ist.</p> + +<p class="mtop1"><em class="gesperrt">London</em>, im September 1890.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_1">[S. 1]</span></p> +<h2 id="Erstes_Buch">Erstes Buch.<br> +<span class="s5"><b>Jugendzeit und Krimkrieg.</b></span></h2> +</div> + +<p>Die Gordons sind von alter schottischer Herkunft: Clan Gordon war seit +unvordenklichen Zeiten ein kriegerisches Hochlandsgeschlecht. Wer +mit schottischer Geschichte, oder auch nur mit Walter Scott bekannt +ist, der weiß, daß ein Clan sozusagen die erweiterte Familie ist; +der alte Stammverband, ob er nun nach Hunderten zählte oder nach +Tausenden, war von den Vätern her gemeinsamen Blutes, und Gordon +hießen im vorliegenden Fall alle vom adeligen Clanshaupt an bis zum +streitbaren Hirten. Im Laufe der Zeit hatte der Stamm übrigens auch +seine Ableger, die als Gordons von so und so je nach dem betreffenden +Wohnsitz sich nannten und sich so vom älteren Zweig unterschieden. +Lord Byron z. B. stammte mütterlicherseits von den Gordons von Gieght. +Unter dem britischen Adel giebt es jetzt noch mehrere Familien, die +dem alten Stamm angehören: die Grafen von Huntley, von Aberdeen u. +a. sind »Gordons«. In den kriegerischen Annalen Schottlands stößt +man allerwärts auf Gordons, und mancher Gordon zog als Glücksritter +in die weite Welt. Wo immer es Schlachten zu schlagen gab, da wurde +der Name bekannt, in Preußen, in Polen, in Schweden, in Rußland, in +Amerika. Vier Gordons fanden Lorbeeren unter Gustav Adolf. In weniger +rühmlicher, wenngleich eingreifender Weise findet sich ein Gordon in +Wallensteins Lager und bei Wallensteins Tod. Peter der Große lernte +einen Gordon in Moskau hoch schätzen, und der eiserne Zar vergoß +Thränen am Sterbebett dieses Fremdlings, der, nebenbei bemerkt, +Tagebücher von historischem Wert hinterlassen hat. In Schottland +selbst ehrte die englische Regierung das alte Geschlecht,<span class="pagenum" id="Seite_2">[S. 2]</span> indem sie +einem der neuen Regimenter, die aus dem Chaos des Thronfolgekriegs +hervorgingen, die Benennung »Gordon Highlanders« verlieh.</p> + +<p>Im Jakobitischen Aufstand des Jahres 1745 gab es Gordons auf beiden +Seiten. Lord Lewis Gordon und fünf Clanshäupter mit ihren Gordons +kämpften für den Kronprätendenten Prinz Charley (Stuart), während +ihr Verwandter David Gordon für die neue (hannoverische) Linie +stritt. In der Schlacht von Preston Pans wurde dieser David von den +Hochländern (seinen Vettern) gefangen genommen, später aber auf +Ehrenwort freigegeben. Wie er dazu gekommen war, gegen die Tradition +seiner Familie für die neue Königslinie einzutreten, ist jetzt nicht +zu ermitteln, jedenfalls stand er in Gunst beim Herzog von Cumberland +(dem zweiten Sohn des Königs Georg II.), der ihm ein Söhnchen aus der +Taufe gehoben hatte. Nach der Schlacht von Culloden, die der Sache des +Prätendenten den Todesstoß gab, verließ David Gordon mit seinem jungen +Sohn die alte Heimat und suchte Grund und Boden in der neuen Welt. +Sechs Jahre später fand er seinen Tod in Halifax, Neuschottland. Sein +Sohn, des Prinzen Patenkind, war allem nach ein »Häkchen«, das sich +frühzeitig in der angestammten Weise krümmte; denn kaum vierzehnjährig +schlägt sich der Jüngling schon in der britischen Armee. In seinem +vierundzwanzigsten Jahre, als er bereits ein erfahrener Soldat +war, und zuletzt unter General Wolfe bei Quebec mitgekämpft hatte, +kehrte der junge Schotte nach England zurück. In Hexham, Grafschaft +Northumberland, wo er in Quartier lag, fand er in der Schwester des +dortigen Geistlichen die Soldatenbraut, mit der er 1773 in die Ehe +trat. Drei Söhne und vier Töchter entsprangen diesem Bund. Die Söhne +verfolgten wiederum die militärische Laufbahn; der älteste fand +seinen frühen Tod am Kap, der jüngste hingegen, Henry William, ein +Artillerieoffizier, geb. 1786, erreichte ein hohes Alter und erlebte +die erstaunlichen Erfolge der »stets siegreichen Armee« unter seinem +zweitjüngsten Sohn; dieser aber, Charles George Gordon, ist unser Held.</p> + +<p>Henry William Gordon war s. Z. in Woolwich stationiert, und +Charles George wurde als der vierte von fünf Söhnen am<span class="pagenum" id="Seite_3">[S. 3]</span> 28. Januar +1833 daselbst geboren. Die Mutter stammte zwar nicht aus einer +Soldatenfamilie, Unternehmungsgeist war aber auch mütterlicherseits +ein ererbter Charakterzug. Ihr Vater war Samuel Enderby, ein +angesehener Kaufherr, dessen Walfischfahrer von sich reden machten. +Seine Schiffe befuhren ferne und unbekannte Meere; »Enderbys Land« im +antarktischen Ozean zeugt selbst von geographischer Entdeckung. Dem +unternehmenden Kaufherrn gehörten auch jene beiden von der englischen +Regierung mit Thee verfrachteten Schiffe, die im Jahre 1773 im Hafen +von Boston vor Anker lagen, als die Kolonisten erklärten: »Das Land +muß gerettet werden!« In jener Nacht bemächtigte sich ein Haufe von +Schein-Indianern der beiden Schiffe und leerte mit dem Thee die +aufgezwungene Steuer ins Meer. Das war der Anfang der amerikanischen +Freiheit.</p> + +<p>Gordons Mutter schildern solche, die sie gekannt haben, als eine +tüchtige Frau, die sich selbst in der Gewalt hatte und unter den +schwierigsten Umständen immer ihren Gleichmut bewahrte. Mit wahrhaft +genialem Takt habe sie immer alles zum besten zu wenden verstanden. Im +Krimkrieg waren drei ihrer Söhne und mehrere ihrer nächsten Verwandten +vor Sebastopol; man sah sie aber nie zaghaft, sondern immer nur damit +beschäftigt, ihren Angehörigen zu Hause, wie den fernen Kriegern Gutes +zu thun. Gordons Vater wird als origineller Mann, als tüchtiger Soldat +von festem Charakter und angenehmer Persönlichkeit geschildert. Er +hatte einen unerschöpflichen Humor, und Heiterkeit war sein Element. +Übrigens war das »Gesetzbuch der Ehre« seine Richtschnur für sich und +für andere. Soldat war er mit Leib und Seele, und zwar britischer +Soldat, für ihn das höchste Ideal auf der Erde; es war ihm daher trotz +der glänzenden Erfolge eine Enttäuschung, als sein Sohn späterhin in +fremde, nämlich in chinesische Dienste trat. Ein Gordon, meinte er, +sollte nur seinem eigenen Volk und Glauben dienen. Wer ihn kannte, +schätzte ihn, denn er war freundlich und großmütig in all seinem +Thun und von großer Gerechtigkeitsliebe; fürs übrige hatte er dies +mit seinem Sohn gemein, daß er von Natur eher dazu angethan war zu +befehlen als zu gehorchen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_4">[S. 4]</span></p> + +<p>Über Gordons Jugend liegt nur wenig vor. Die ersten zehn Jahre seines +Lebens verbrachte er mit seinen Eltern in Dublin, Leith und zuletzt +in Korfu, wo der Vater Festungskommandant war. Obschon wir die +Wahrheit des Dichterworts nicht verkennen, daß der Knabe des Mannes +Vater ist, so trifft dies bei Gordon doch nicht auf den ersten Blick +zu. Er soll als kleines Kind so zart und furchtsam gewesen sein, daß +Kanonenschüsse, ein tagtägliches Ereignis in seines Vaters Beruf, ihn +stets erzittern machten. Sehr bezeichnend ist indessen die Thatsache, +daß der neunjährige Junge, ehe er schwimmen konnte, sich in Korfu +öfter ins tiefe Meer warf mit der festen Zuversicht, seine größeren +Gefährten würden ihn nicht ertrinken lassen. Ein sogenannter »braver« +Junge war er durchaus nicht, vielmehr voller Schelmenstreiche. Sein +Vater wurde nach der Rückkehr von Korfu im königlichen Arsenal zu +Woolwich angestellt. Während der Schulferien geriet einst Charles +Gordon mit einem seiner Brüder auf die undenkbarsten Einfälle. Ihres +Vaters Wohnung lag der des Garnisonskommandanten gegenüber; es war +ein altes Haus und voller Mäuse. Diese wurden fleißig weggefangen und +in des Kommandanten Haus umquartiert. Viele Jahre später schreibt +Gordon (aus dem Sudan 1879) einer seiner Nichten, welche die ersten +zwanzig Jahre ihres Lebens im königlichen Arsenal verlebt hatte: »Es +freut mich zu hören, daß die Rasse der echten Gordons noch nicht +ausgestorben ist. Aber sicherlich hat keines von Euch die Arsenalleute +so umgetrieben wie wir seiner Zeit: sie ließen alles liegen und +stehen, wenn's galt uns zu Willen sein, sie verfertigten uns zum +Beispiel die herrlichsten Spritzen, die nichtsahnende Menschenkinder +bis auf die Haut durchnäßten. Und unsere Armbrüste waren einzig! Ich +weiß noch, wie's einmal an einem Sonntag Nachmittag im Hauptmagazin +siebenundzwanzig Scheiben gab, alle scharf durchschossen — ein +kleines rundes Loch zur Ventilation — und der Hauptmann konnte +von Glück sagen, daß wir ihn nicht mit unsern Bolzen an die Wand +nagelten.« Ob nicht solch jugendliche Kraftproben mit ihrem gutmütigen +Humor schon den spätern Mann erkennen lassen? Jedenfalls sieht man den +werdenden Charakter in einem Beispiel von Knabenstolz. Es ereignete<span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span> +sich einmal, daß er unverdienter Weise von seinen Mitschülern +ausgeschlossen werden sollte, als diese nach London durften, um +»englische Reiter« zu sehen; es ergab sich noch rechtzeitig, daß +der Junge die Strafe nicht verdient hatte, er war aber nicht dazu +zu bewegen, sich dem Klassenvergnügen, auf das er sich vorher doch +so sehr gefreut hatte, anzuschließen. In der Kadettenschule zu +Woolwich soll ein unverständiger Offizier dem Zögling einmal das Wort +hingeworfen haben: »Aus Ihnen wird Ihr Lebtag nichts Rechtes«, was +den jungen Hitzkopf so aufbrachte, daß er sich die Epauletten von +den Schultern riß und sie seinem Vorgesetzten vor die Füße warf. Man +sollte zwar denken, daß solche Insubordination den jungen Menschen +leicht seine Laufbahn hätte kosten können, und Gordon selbst war +im späteren Leben ein viel zu tüchtiger Soldat, als daß er diesen +Jugendstreich gebilligt hätte. Auch ist es nichts weniger als ein +Beweis von Unzulänglichkeit, daß er nach vollbrachter Kadettenzeit +den Royal Engineers einverleibt wurde, einem Regiment, das für seine +Offiziere bekanntlich eine hervorragende technische Ausbildung +voraussetzt.</p> + +<p>Im Juli 1852, also in seinem zwanzigsten Lebensjahre, erhielt er sein +Unterleutnantspatent. Er saß darnach zwei Jahre lang zu Pembroke am +Reißbrett. Dort gab es Pläne auszuarbeiten zur Befestigung des Hafens +(Milford), die seitdem ihre Verwirklichung gefunden haben. Diese +Beschäftigung wurde zuletzt zur ernstlichen Geduldsprobe für den +jungen Mann, dessen Kameraden ostwärts fuhren, gen Sebastopol. Aber +auch für ihn kam die Zeit, und am Neujahrstag 1855 trug das »Goldene +Vließ« ihn in den Hafen von Balaclawa. Er landete mitten im tiefsten +Winter.</p> + +<p>Die Belagerung von Sebastopol dauerte elf Monate, eine schlimme Zeit +für die britische Armee. Die Schlachten von Balaclawa und Inkerman +waren geschlagen (Okt. und Nov. 1854), ein Winter voll namenlosen +Elends folgte darauf. Wie mancher Soldat erfror in den Laufgräben! +Hunger, Kälte, Krankheit waren die Verbündeten des Feindes. Innerhalb +der russischen Festung gab's Nahrungsmittel, warme Kleidung, +Medikamente die Fülle, während die Belagerer draußen das Allernötigste +entbehrten.<span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span> Dem ausdauernden Mut der hungernden, zerlumpten Soldaten +ist kaum ein ähnliches Beispiel an die Seite zu stellen. Englische +Transportschiffe fuhren zwar mit ihren Ladungen von Zelten, Teppichen +und Proviant aller Art in nächster Nähe von einem Hafen zum andern, +aber den Kapitänen fehlten die richtigen Instruktionen, und die +Offiziere, die's mit ansahen, wußten nicht was die Schiffe enthielten!</p> + +<p>Das war die Zeit, in der der junge Gordon seine Feuertaufe erhielt. +Statt der glorreichen Erfolge sah er wochenlang nur den Jammer des +Kriegs. Als Ingenieur war seine Arbeit in den Laufgräben. Infolge des +Elends war da die Mannszucht nicht selten in Gefahr. Er war vielfach +dem russischen Feuer ausgesetzt, hin und wieder auch dem planlosen +Schießen seiner eigenen Leute. In gewisser Hinsicht war dies ein +Vorbild seiner Laufbahn. Wie oft hat er im Feuer gestanden zwischen +Freund und Feind, und seine wunderbarsten Leistungen waren nicht +selten die, welche er allein vollbrachte, nachdem die Seinen ihn im +Stich gelassen hatten.</p> + +<p>In seinen Briefen aus der Krim beschreibt er seine tägliche Arbeit und +erzählt von gefallenen Kameraden. Schon damals giebt er den ernsten +Sinn und die Ergebung in Gottes Willen zu erkennen, die ihn sein Leben +lang kennzeichneten. Der Lauf der Jahre hat bei ihm nur das vertieft, +was sich schon früh kund gab. Der Tod hatte keine Schrecken für ihn, +jeden Augenblick war er zum Sterben bereit. Wie alle gottvertrauenden +Menschen wußte er, daß der Tod nur dann kommt, wenn die dem Menschen +zugewiesene Lebensarbeit vollbracht ist, und in dieser Zuversicht +verfolgte er furchtlos die Bahn seiner Pflicht. Einmal sauste eine ihm +zugedachte russische Kugel hart an seinem Ohr vorüber; in einem Briefe +an seine Mutter erwähnte er der Sache aber nur mit der soldatischen +Bemerkung: »Die Russen zielen gut; ihre Kugeln sind groß und spitz.« +Einige Tage später fiel sein Hauptmann; er berichtet darüber in die +Heimat: »Es ist mir lieb zu wissen, daß er ein ernstgesinnter Mann +war. Die Bombe platzte über ihm, und ein Splitter traf ihn im Rücken +— <em class="gesperrt">durch einen Zufall, wie man's nennt</em>; er war augenblicklich +tot.«<span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span> Aus dem Sudan schreibt er zweiundzwanzig Jahre später im Blick +auf die Unterdrückung des Sklavenhandels: »Ich kann's vollbringen +mit Gottes Hilfe und habe die feste Überzeugung, daß er <em class="gesperrt">mich dazu +bestimmt hat</em>, denn sehr gegen meinen eigenen Willen bin ich hieher +gekommen ... Ich bin ein Fatalist geworden, wie's die Leute nennen, +das heißt: ich überlasse es dem lieben Gott mir durchzuhelfen.« Ein +andermal schreibt er: »Kein Trost kommt dem gleich, den ein Mensch +hat, der sich allezeit auf Gott verläßt, der glaubt und es nicht nur +mit dem Munde bekennt, sondern auch mit der That, daß <em class="gesperrt">alle</em> +Dinge vorher bestimmt sind. Wer so denkt, der hat den Tod schon +gekostet, und die Widerwärtigkeiten des Lebens fechten ihn nicht mehr +an.« Gordon hat seine Führung als eine im großen wie im kleinen von +Gott vorher bestimmte betrachtet, und das ist der Schlüssel zu seinem +ganzen Leben; dieser Glaube ist es, der ihn zum Helden gemacht hat. Er +that immer das Beste, was in seinen Kräften stand, dem Ausgang aber +sah er ruhig entgegen. »Wenn wir nur immer glauben könnten,« heißt's +in einem anderen Sudan-Brief, »daß alles von Gott bestimmt und zum +besten bestimmt ist, so wären wir mehr denn Überwinder; die Welt läge +zu unseren Füßen ... Unglück, das uns trifft, ist in Wirklichkeit +nie so schlimm als in der Erwartung, und wenn wir nur stillhalten +könnten, so trügen wir's leichter. Ich kann das Dasein Gottes von +seiner Vorherbestimmung und Leitung aller Dinge, der guten wie der +bösen, nicht trennen; das Böse läßt er zu, aber es bleibt unter seiner +Fügung.«</p> + +<p>Nach dem Tod des Zaren, im März 1855, schritt die Belagerung stetig +aber langsam vor. Ende April schreibt Gordon: »Wir schieben unsere +Batterien vor, können aber nicht viel thun, ehe die Franzosen Fort +Malakow eingenommen haben.« Bis Anfang Juni verharrten die Briten +ziemlich unthätig. Gordon hatte nicht viel zu berichten; eine Zeile +aber muß erwähnt werden: »Es ist sehr zu beklagen,« sagt der junge +Leutnant, »daß wir keine rechten Feldprediger haben; ich wüßte auch +nicht einen zu nennen, dem das Wohl der Soldaten wahrhaft am Herzen +läge.«</p> + +<p>Am 6. Juni eröffneten die Engländer das Feuer aus tausend Feldstücken; +aber obschon Gordon schreibt: »Ich glaube nicht, daß<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> sich Sebastopol +noch zehn Tage halten kann,« so hielt die Festung sich doch noch +zehnmal zehn Tage; und während dieser ganzen Zeit war der junge +Ingenieur-Offizier auf seinem Posten in den Gräben.</p> + +<p>Am 8. September erstürmten die Franzosen den Malakow. Die Engländer +pflanzten ihre Fahne auf Fort Redan auf, wurden aber nach einer Stunde +wieder daraus vertrieben. Zum wiederholten Angriff am folgenden Tage +kam es nicht, denn in der Nacht räumten die Russen die Festung. Gordon +schreibt:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»In der Nacht auf den 9. hörten wir eine furchtbare Explosion, +und als ich um vier Uhr morgens in die Gräben ging, sah ich ein +gewaltiges Schauspiel. Sebastopol war in Flammen, und als die +aufgehende Sonne die Zerstörung beleuchtete, war der Effekt in der +That wunderbar. Die Russen verließen die Stadt; alle Dreidecker +waren in den Grund gebohrt, nur die Dampfschiffe übrig. Viele Tonnen +Pulvers müssen in die Luft gesprengt worden sein. Morgens acht Uhr +erhielt ich Ordre, einen Plan der Festungswerke auszuführen, und +begab mich nach Fort Redan; dort hatte ich einen entsetzlichen +Anblick. Die Gefallenen wurden haufenweise beerdigt, Russen und +Engländer mit einander.«</p> +</div> + +<p>Nach dem Fall von Sebastopol war Gordon bis Februar 1856 fast +ausschließlich damit beschäftigt, die vom Brande verschonten +Festungswerke zu demolieren, und mit dieser wenig interessanten, aber +harten Arbeit schließt seine Zeit in der Krim.</p> + +<p>Aus Gordons eigenen Berichten läßt sich wenig oder nichts über seine +persönlichen Leistungen entnehmen; Oberst Chesney dagegen, ein +Offizier, der vielfach Gelegenheit hatte ihn zu beobachten, stellte +ihm nachmals folgendes Zeugnis aus: »In seiner bescheidenen Stellung +als Ingenieur-Leutnant hat er durch seine Tapferkeit und Energie die +Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich gezogen und überdies +eine spezielle strategische Tüchtigkeit an den Tag gelegt, die sich +in den Gräben vor Sebastopol in einer persönlichen Kenntnis der +feindlichen Taktik kundgab, wie kein anderer Offizier sie erlangte. +Wir beauftragten immer ihn damit, ausfindig zu machen, was die Russen +vorhatten!«</p> + +<p>Auch General Jones hob seine Verdienste hervor, aber das<span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span> war +vorläufig alles, was ihm von englischer Seite an Lorbeeren zu teil +wurde, da im Ingenieur-Korps das Avancement lediglich nach dem +Dienstalter erfolgt. Die Franzosen verliehen ihm das Kreuz der +Ehrenlegion. So jung er war, hatte er doch bereits einen guten Anfang +gemacht »sein Bestes zu thun«.</p> + +<p>Ehe wir die Krim verlassen, mag noch bemerkt werden, daß mit ihm in +den Laufgräben zwei andere junge Offiziere sich auszeichneten, die +berühmt geworden und neben Gordon auch im Sudan auf den Plan gekommen +sind: General Sir Gerald Graham und General Lord Wolseley, beide seine +lebenslänglichen Freunde.</p> + +<p>Im Frieden von Paris verlor Rußland, was es seither durch den Berliner +Kongreß wieder erlangt hat, nämlich einen Streifen Land, dessen Besitz +die Beherrschung der untern Donau bedeutet. Bis 1812 gehörte dieser +Landstrich den Türken. Jetzt sollte die alte Grenze wiederhergestellt +werden. Eine Kommission, bestehend aus englischen, französischen, +russischen und österreichischen Offizieren, wurde damit beauftragt. +Der britische Abgeordnete war Major Stanton, und unter ihm die +Leutnants James und Gordon. Im Sommer 1856 begab sich Gordon deshalb +nach Bessarabien.</p> + +<p>Diese neue Arbeit bot Abwechslung. Zwar waren die Salzsümpfe am +Schwarzen Meer kein angenehmer Aufenthalt und Kischinew, das +Hauptquartier der Grenzkommission, das schmutzigste Nest in +Südrußland. Gordon und James durchritten das Sumpfland fast ein +Jahr lang, heute als Grenzvermesser, die russische Landkarte +untersuchend und nötigenfalls verbessernd, morgen vielleicht nur als +Depeschenkuriere. Gordon fand diese Beschäftigung weit ansprechender +als den Krimkrieg; nichtsdestoweniger war es ihm unwillkommen, daß er +nach vollbrachter Grenzbestimmung zu einem ähnlichen Geschäft an die +asiatische Grenze versetzt wurde. Er hatte Verlangen nach der Heimat +und telegraphierte die Anfrage nach England, ob nicht ein anderer für +ihn eintreten könne. Aber seine Tüchtigkeit war bereits notorisch und +»Leutnant Gordon muß gehen«, lautete die Antwort.</p> + +<p>In Armenien kam er zum erstenmal mit unzivilisierten Völkerschaften +in Berührung und bewies schon damals durch den Takt, mit welchem er +mit den Kurden-Häuptlingen umging, daß<span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span> er ein besonderes Geschick +hatte, das Vertrauen solcher Stämme zu gewinnen und sie mächtig zu +beeinflussen. Sein Beruf führte ihn nach manchem interessanten Ort des +berühmten Landes. Er besuchte Erzerum, Kars, Eriwan, die Ruinen von +Arni, und bestieg auch den Ararat. In jenen Gegenden gewann er seinen +ersten Einblick in die Art und Weise, wie die Türkei dem Sklavenhandel +Vorschub leistet. Zwanzig Jahre später lernte er die Greuel der +Sklaverei an der Westgrenze der muhammedanischen Welt kennen, und die +schönste Arbeit seines Lebens war die, welche er der Unterdrückung +jenes schändlichen Handels gewidmet hat.</p> + +<p>Nach einem halben Jahr in jenem Land voll reicher Erinnerungen kehrte +er nach Konstantinopel zurück, wo die Grenzkommission tagte, um von +da nach dreijähriger Abwesenheit den Heimweg anzutreten. Im Frühjahr +1858 wurde er abermals nach Armenien geschickt, wo er bis zum Herbst +damit beschäftigt war, die neue Heerstraße zwischen den russischen und +türkischen Grenzländern zu untersuchen.</p> + +<p>Das folgende Jahr verbrachte er auf der englischen Militärstation +Chatham, wo er im April 1859 nach siebenjähriger Dienstzeit zum +Hauptmann avancierte.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<h2 id="Zweites_Buch">Zweites Buch.<br> +<span class="s5"><b>Gordon in China.</b></span></h2> +<h3>1. Die Taipings.</h3> + + +<p>Die nächsten mit dem Juli 1860 beginnenden vier Jahre umschließen in +dem Leben Gordons fast märchenhafte Ereignisse. Es ist die Zeit, die +ihm den Ehrennamen »Chinesen-Gordon« brachte. Folgen wir dem Manne in +den fernen Osten.</p> + +<p>In keinem Lande der Welt ist die Gegenwart so mit der Vergangenheit +verwachsen wie in China. Das hohe Alter des chinesischen Reiches +ist ein einzig dastehendes Beispiel in der Weltgeschichte, und +dieselben Grundsätze, die diesen Staat in seiner Jugend regierten, +sind noch jetzt die Haltpunkte des »schwarzhaarigen<span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span> Volkes«. Um eine +revolutionäre Bewegung der Neuzeit wie den Taiping-Aufstand richtig +zu verstehen, muß man wenigstens einen Blick gethan haben in die +Gedankenwelt der alten chinesischen Weisen. Bei uns wäre es müßig, die +Sachsenkriege eines Karl des Großen oder die italienischen Feldzüge +eines Barbarossa zu betrachten, um beispielshalber die Politik +eines Staatsmannes der Gegenwart ins richtige Licht zu setzen; in +China aber gehören Einst und Jetzt so zusammen, daß Yao und Schün, +die halbmythischen Kaiser, und der große Yü von vier Jahrtausenden +her heute noch das »blumige Land« beeinflussen. Konfucius, der +»thronlose König«, der »Lehrer von zehntausend Geschlechtern«, betont +es wiederholt, er bringe nichts Neues: »Ich selbst bin nicht die +Weisheit«, sagt er, »ich suche sie bei den Alten.« Und was lehrten +oder glaubten nun diese Alten? Wenn man das Schu-King, dieses wohl +4000 Jahre alte »Lehrbuch der Anfänge« fragt, so lautet die Antwort: +das ganze Weltall ruht auf einer göttlichen Harmonie, die im Herzen +des Menschen Widerhall findet. Dieser <em class="gesperrt">Gedanke des Harmonischen</em> +zieht sich durchs Schu-King und alle anderen chinesischen Klassiker +hin. So heißt's vom Kaiser Yao, daß, »nachdem er selbst harmonisch +geworden, er die Unterthanen zum Einklang gebracht habe«, und der +Kaiser Schün ist deshalb gewählt worden, weil er's verstanden hat, +»seinen Vater, seine Mutter, seine Brüder, ja alle dummen und +einfältigen Verwandten zu <em class="gesperrt">harmonisieren</em>«. Wenn das Land +zerrüttet ist, so sagt man in China: »die Leute sind nicht harmonisch«.</p> + +<p>In der Vorstellung der Harmonie wurzelt alles in China; es ist der +Tien oder Himmel des Konfucius, das Schang-ti oder Göttliche der +alten Schriften; und da nur der Weise wirkliches Verständnis dafür +hat, so ist es sein heiliges und besonderes Vorrecht, den Himmel der +Erde, die Gottheit den Menschen zu deuten. Er allein weiß, wie die +wahre Harmonie sich in irdischen Dingen kundgiebt, sei's nun zwischen +Herrscher und Unterthanen, zwischen Vater und Sohn oder Gatte und +Gattin, Freund und Freund. Der Weiseste soll Regent sein; er sei an +Gottes Statt der Beherrscher des blumigen Landes, der schwarzhaarigen +Menschen, ja der ganzen Welt. Er ist der Ebenbürtige des Himmels.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span></p> + +<p>Es ist ersichtlich, daß die chinesische Anschauung der elterlichen +Autorität, wie auch ihre althergebrachte Theorie, nur tüchtige +Menschen zu Amt und Herrschertum zuzulassen, lediglich Bruchteile +jenes Hauptgedankens der Harmonie sind, woraus die weitere Vorstellung +sich ergiebt, daß in allen Verhältnissen des Lebens, in aller +gemeinsamen Thätigkeit, gleichviel welche verschiedenartigen Kräfte in +derselben sich äußern, eine symmetrische Einheit das Endziel ist. Kein +Volk hat umfassendere Begriffe von Organisation und Zentralisation als +die Chinesen; aber die Anschauung ist lediglich die einer organischen +Einheit, in der das Niedere naturgemäß und willig dem Höheren sich +unterordnet, das Gegenteil also einer nur äußeren Einheit durch +Gewalt. Die Chinesen sind daher in Wahrheit ein demokratisches Volk. +Nichts ist irrtümlicher als anzunehmen, daß der Kaiser oder seine +Beamten, sei es theoretisch oder praktisch, eines unumschränkten +Herrschertums sich erfreuen. Konfucius und alle anderen Weisen Chinas +stimmen mit Plato überein, wenn er sagt: »Niemand thut <em class="gesperrt">gern</em> +Böses«. Daraus folgern sie, daß eine gute Regierung beim Volk willigen +Gehorsam erzeuge. »Wer's versteht, mich zu besänftigen, der ist mein +Fürst, wer mich unterdrückt, ist mein Feind, der Verworfene des +Himmels und der Menschen!«</p> + +<p>Über schlechte Regenten ergießt sich der göttliche Zorn und beschließt +ihren Untergang. Nach chinesischer Ansicht ist ein Unglück, welches +das Volk trifft, immer ein Beweis von der Untüchtigkeit oder Bosheit +des Herrschers. Der Himmel zürnt, und das Volk ist in Erwartung, daß +einer aufstehe, um den »Ausrottungsbefehl« zu vollziehen, und zwar +trifft dieser Befehl öfters einen »geringen« Menschen. Es ist daher +erklärlich, daß man sich bei politischen Bewegungen in China immer +auf einen göttlichen Auftrag bezieht, mit dem ein Rückblick auf die +Beispiele der Vergangenheit verbunden ist.</p> + +<p>Ehe wir nun zur Schilderung des Taiping-Aufstands übergehen, haben +wir noch zu beachten, in wie hohen Ehren die Chinesen alles Wissen +halten, ihre Ehrerbietung gegen das Alter, und die Verbreitung der +Bildung in allen Schichten des Volkes. Konfucius drückt die Meinung +des Landes, die heute noch gang<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span> und gäbe ist, aus, wenn er sagt: »Die +Alten, die erhabene Tugend im Reich zu verbreiten wünschten, sorgten +zuerst für Ordnung in der eigenen Familie; zu diesem Zweck veredelten +sie vor allen Dingen ihre eigene Person; um sich aber zu veredeln, +suchten sie ihr Herz zu bessern; um das Herz zu bessern, erstrebten +sie Aufrichtigkeit des Denkens; um aber aufrichtig und wahr zu denken, +erweiterten sie ihre Kenntnisse.« In diesem Zusammenhang von Bildung +und der so hochgeschätzten Harmonie wurzelt die Sitte der allgemeinen +Prüfungen in China, welche die besten Examinanden zum Beamtenstand +zulassen und selbst dem ärmsten Bauernsohn den Weg zu den höchsten +Staatswürden offen halten. Unter den zahllosen Millionen des Reiches +sind nur wenige, die nicht lesen und schreiben können; und selbst der +gewöhnliche Chinese nimmt lebhaften Anteil am Regierungswesen. Die +himmlische Regierung, vom Kaiser an durch den ganzen Beamtenstand, +weiß sich daher unter der Aufsicht einer öffentlichen Meinung, die +nicht zu mißachten ist.</p> + +<p>Der Kaiser ist der Stellvertreter des Himmels, aber nicht kraft seines +Amtes, sondern lediglich kraft der Art und Weise, wie er seines Amtes +waltet. »Das Volk ist die Hauptsache«, lehrt die alte chinesische +Weisheit; »darnach kommt der Grund und Boden; der Regent folgt +zuletzt.« Das ganze Regierungsgetriebe ist nicht sowohl das Mittel, um +des Kaisers Willen zur Geltung zu bringen, als eine Organisation, um +die Bedürfnisse des Volkes laut werden zu lassen. Jeder Familie, jedem +Dorf, jedem Distrikt, jeder Provinz in China liegt die Verpflichtung +ob, sich selbst zu »harmonisieren«, und die oberste Instanz, die +kaiserliche Regierung, mischt sich in nichts, wenn sie nicht speziell +von den betreffenden Weisen zur Entscheidung aufgefordert wird. Giebt +es Streitigkeiten, ja selbst Verbrechen in einer Familie, so ist es +Sache des Familienoberhauptes, sie zu richten. Giebt es Händel in +einer Dorfschaft, so haben die Ältesten eine beinahe unbegrenzte +Strafgewalt, und so weiter im Distrikt, in der Provinz. Dies erklärt +auch die chinesische Sitte, die Eltern für die Missethaten der Kinder +zu strafen und die Gesamtheit eines Distrikts für Verbrechen innerhalb +seiner Grenzen verantwortlich zu machen. Die ganze<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> Wirtschaftspolitik +beruht auf einem System gegenseitiger Verantwortlichkeit, was auch +gegenseitige Aufsicht bedingt. Selbst der Kaiser, obgleich nominell +unumschränkter Herrscher, hat einen heilsamen Respekt vor öffentlicher +Censur und eventuellem Volksaufstand.</p> + +<p>Nun geht es aber in China wie anderwärts: die Praxis bleibt oft hinter +der Theorie zurück, und das blumige Land ist keineswegs ein solcher +Musterstaat, wie das Ideal ihn aufstellt. Kommt das aber dem Chinesen +zum Bewußtsein, so ist ihm auch im voraus gewiß, daß die Regierung, +nicht aber das Volk an allen Mißständen schuld ist, und daß es Zeit +ist zur Revolution zu schreiten. So lange Wohlstand herrscht, ist man +zufrieden mit der Dynastie; kommen aber böse Zeiten, dann betraut der +Himmel einen mit dem Ausrottungsbefehl! So ist es von jeher gewesen, +und so war es, als <em class="gesperrt">Hung Siu-tsiuen</em>, der Taiping, sich erhob. +Seit den zwanziger Jahren unsres Jahrhunderts machten sich allerlei +Übelstände im Land fühlbar und dazu kamen noch die Verwicklungen mit +Europa, vorab mit England. Namentlich der sog. Opiumkrieg, den England +zu Anfang der vierziger Jahre aus durchaus ungerechtfertigten Ursachen +mit China führte, war von üblen Folgen für dieses Land. Die Macht der +Regierung hatte bislang großenteils auf einem gewissen »Prestige« +beruht. Durch die nötig gewordene Landmiliz lernte nun das Volk seine +Wehrkraft kennen, und wo vorher ein Mandarin mit seinen Bütteln +ausreichte, zogen jetzt bewaffnete Horden durch das Land. Die von +England verlangte Kriegsentschädigung von 84 Mill. Mark brachte eine +finanzielle Krisis. Verheerende Überschwemmungen des Gelben Flusses +und des Jangtsze steigerten das Elend und verringerten die Einkünfte +der Grundsteuer. Um allem Unglück die Krone aufzusetzen, suchte sich +die Regierung damit zu helfen, daß Sträflinge sich mit Geld loskaufen +konnten und die öffentlichen Ämter verkäuflich wurden. Infolge +davon nahmen die Verbrechen überhand, und die zahlreiche Klasse der +»Gebildeten« erachtete sich beeinträchtigt. So kam es, daß der Himmel +voll drohender Wolken hing, als im Jahre 1850 der Kaiser Tao-Kwang +starb und sein junger Sohn Hien-Fong an seiner Statt zu regieren +anfing.</p> + +<p>Da erhob sich ein seltsamer Mensch, der bereits genannte<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> +<em class="gesperrt">Hung Siu-tsiuen</em>, eine Verkörperung der im Volke gärenden +Umsturzgedanken.</p> + +<p><em class="gesperrt">Taiping</em> bedeutet »großer Friede«, und der ein neues himmlisches +Reich unter dieser Bezeichnung gründen wollte, war ein Dorfschullehrer +der Hakka oder Fremdlinge, eines ziemlich rohen Menschenschlags, der +vor zwei Jahrhunderten in die Provinz Kwang-tung gekommen und von den +Punti (d. h. Einwohnern) immer mit scheelen Augen angesehen worden +war. Seine verachtete Herkunft mochte mit der Grund sein, daß er im +höheren Examen durchfiel. Das machte ihn halb toll; er hatte Anfälle +von Epilepsie mit Zeiten der Verzückung, und in solchen Verzückungen +hatte er Gesichte. Bei alledem war er ein Chinese voll Aberglauben. +Aus seiner Enttäuschung entwickelte sich der Gedanke, warum sollte der +»Ausrottungsbefehl« des Himmels ihm nicht werden, wie schon so manchem +»Geringen« vor ihm? Nach seiner ersten vierzigtägigen Verzückung hatte +er nichts Eiligeres zu thun, als ein Manifest an seine Thorpfosten +zu nageln, betitelt: »Die edeln Grundsätze des himmlischen Königs, +des souveränen Königs Tsiuen.« Er wollte eine neue Religion einführen +und das Kaisertum stürzen. Und das Merkwürdige dabei ist, daß ein +Anflug von Christentum mit unterlief! Die Engländer bekriegten ja die +Regierung, die er haßte; er studierte daher christliche Traktate, +die ihm in die Hände fielen. Hung hatte in seinen Verzückungen alles +Mögliche gesehen und warf nun seine krankhaften Gesichte mit der neuen +Lehre zusammen. Ein alter Mann war ihm erschienen — das mußte der +Gott der Christen sein; er selbst war in jenen vierzig Tagen im Himmel +gewesen und nannte sich den himmlischen Sohn — Christus war deshalb +ohne Zweifel der ältere Bruder und er selbst der jüngere. Es ist nicht +zu vergessen, daß die Provinz weit und breit verheert war; Banditen +plünderten und geheime Gesellschaften unterwühlten das Land, all dies +infolge des Opiumkrieges. Das Volk war daher bereit, einen Retter +mit offenen Armen zu empfangen, besonders einen, der sich von der +altehrwürdigen vaterländischen Idee des »Ausrottungsbefehls« getragen +wähnte. Hungs christlicher Firnis über seinem barocken Heidentum hatte +den Reiz der Neuheit. Auch lag in den Ansprüchen<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> des Mannes, sowie +in seinem ganzen Auftreten etwas von der aller Vernunft spottenden +Gewalt und Anziehungskraft, wie sie ungewöhnlichen Menschen eigen ist. +Massenhaft fielen ihm die Leute zu. Daß es mit seinem Christentum +nicht weit her war, ergiebt sich aus der Thatsache, daß er sich bei +erster Gelegenheit bei einem hochgestellten Engländer erkundigte, +ob die Jungfrau Maria nicht eine hübsche Schwester habe, die sich +entschließen könnte, ihn, den himmlischen König, zu heiraten! Aber +mit mehr als gewöhnlicher Klugheit verstand er es, die neue Religion +zu seinen Gunsten auszubeuten. Und das Ergebnis ging in der That +weit über das Glück eines gewöhnlichen Betrügers hinaus. Daß sich +die Hakka um ihn scharten, ist begreiflich, aber auch das übrige +Volk rottete sich um ihn, und bald zählten die Taipings nach vielen +Tausenden. Mit Feuer und Schwert verwüstete er das große Thal des +Jangtsze und näherte sich der Kaiserstadt Peking. Aus seinen Gesichten +wurden himmlische Edikte, die das Los von Millionen entschieden und +selbst europäische Kabinette in Atem erhielten. Es kam so weit, daß +die schwarzhaarige Nation nahe daran war, samt und sonders von der +herrschenden Dynastie abzufallen. Und das war um so leichter möglich, +als ja (seit 1644 schon) diese Dynastie keine einheimische, sondern +eine mandschu-tatarische war und also im Geruch des Fremdländischen +stand. Jahrelang lag das Reich in Trümmern, und dann kam ein Ende +mit Schrecken. Hung Siu-tsiuen selbst beschloß seine Laufbahn als +Selbstmörder bei der Belagerung von Nanking; man fand seinen Leichnam +in der mit Drachen bestickten gelben Atlaskleidung, und ganz China +rief einstimmig: »Es giebt nicht Worte genug, um das Elend zu +beschreiben, das dieser Mensch angerichtet hat; das Maß seiner Bosheit +war voll, und der Zorn beider, der Götter und der Menschen, erhob +sich gegen ihn.« Sechzehn Provinzen und sechshundert Städte hatte er +verwüstet.</p> + +<p>In Nanking, im Schatten des Porzellanturmes, hatte er in königlichem +Glanze gethront. Nur Frauen durften ihn in seinem Schloß bedienen. +Es waren seine zahlreichen Weiber und noch zahlreicheren Kebsweiber. +Seine Verwandten machte er alle zu Wangs, d. h. zu Unterkönigen. Es +gab einen Tschung Wang oder<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> getreuen König, einen Ostkönig und einen +Westkönig, einen Kriegerkönig und einen Geleitskönig, das waren die +fünf ursprünglichen; aber bei den Taipings wurde schließlich jeder +ein Wang, der es verstand, sich geltend zu machen, und es gab ihrer +mit der Zeit über zweitausend. Hung selbst war zwar blutdürstig und +herrschsüchtig, aber ein Feigling; es lag daher immer für ihn die +Gefahr vor, daß ein im Kriegswesen tüchtigerer Wang ihn überflügeln +möchte. So verlor er im Jahre 1856 in purer Selbstverteidigung seine +rechte Hand, den Ostkönig. Der kam eines Tages mit der Erklärung, auch +er sehe Gesichte, und nannte sich den heiligen Geist; überdies brachte +er die fatale Nachricht vom Himmel, Gott Vater sei sehr böse über den +Tien Wang und zwar ganz besonders darüber, daß er seine schwangeren +Weiber mit Füßen trete; er, der heilige Geist, habe daher den Auftrag, +ihn mit vierzig Streichen zu züchtigen. Das war ein bißchen stark und +selbst für einen Taiping zuviel! Es handelte sich schließlich darum, +wer Herr sein sollte, ob der Tien Wang oder der Ostkönig, und obgleich +Hung es für politisch hielt, sich der Prügelstrafe zu unterziehen, +so traf er doch schleunige Maßregeln, sich des Ostkönigs und seiner +Botschaften ein für allemal zu entledigen. Der Nordkönig wurde damit +beauftragt, und die Folge war ein Blutbad.</p> + +<p>Der Bericht eines Engländers, der in jener Zeit Nanking besuchte und +Gelegenheit hatte, das Rebellenvolk zu beobachten, wie es den »großen +Frieden« mit sogenannten Gottesdiensten feierte, dürfte von Interesse +sein.</p> + +<p>»Wir wohnten einer nächtlichen Feier bei; es war ihr Sabbatanfang, +Freitag nachts zwölf Uhr. Die Versammlung fand in des Tschung Wang +Audienzsaal statt. Er selbst saß inmitten seines Gefolges — Frauen +waren nicht anwesend. Zuerst wurde gesungen; darnach wurde ein +geschriebenes Gebet verlesen und von einem Offizier verbrannt; dann +wurde wieder gesungen, und man ging auseinander. Der Tschung Wang +ließ mich vortreten, ehe er seinen Sitz verließ, und fragte mich, +ob ich ihren Gottesdienst verstünde. Ich entgegnete, daß ich einem +solchen eben zum erstenmal angewohnt hätte. Darauf wollte er wissen, +wie<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> wir es damit hielten. Ich sagte ihm, daß die Christen es sich +angelegen sein ließen, ihren Gottesdienst mit der heiligen Schrift +in Übereinstimmung zu bringen, und daß wir alles, was gegen die +Schrift wäre, verwerfen müßten. Darauf versuchte er mir zu erklären, +daß ihre Verschiedenheit von uns triftige Gründe habe. Der Tien +Wang sei im Himmel gewesen und habe mit Gott Vater selbst verkehrt. +Unsere Offenbarung sei achtzehnhundert Jahre alt; sie aber hätten +eine neue, eine vermehrte Offenbarung, und diese verstatte es ihnen, +ihren Gottesdienst nach einer bis jetzt noch nie dagewesenen Art +einzurichten ....</p> + +<p>»Mit Tagesanbruch setzte sich der Zug in Bewegung nach dem Palast +des Tien Wang. Der Prozession voraus wurden bunte Fahnen getragen +und dann folgte eine Reihe Bewaffneter; darauf kam der Tschung Wang +in einem großen Tragsessel mit gestickten gelben Atlasdecken. Ihm +folgten die Fremdlinge zu Pferd inmitten der berittenen Offiziere. +Unterwegs schlossen sich die anderen Könige an, jeder mit einem +ähnlichen Aufzug. Pauken und Trompeten verursachten einen Höllenlärm, +und neugierige Menschen standen Spalier. Einen »König« zu sehen +mochte nachgerade etwas alltägliches sein, aber über das Gebahren +dieser Menschen konnte sich das Volk offenbar nicht genug wundern +.... Der Palast des Tien Wang ist ein großes Gebäude nach Art der +Konfutsischen Tempel, nur viel umfangreicher. Wir begaben uns zuerst +in eine Nebenhalle, die den Namen »Morgenschloß« führte. Daselbst +wurden wir dem Tsau Wang und seinem Sohn und etlichen andern +vorgestellt. Nachdem man eine Weile geruht und es mit angesehen +hatte, wie zwei Bedienstete ihren Respekt vor den heiligen Räumen in +einem Zwischenakt damit bekundeten, daß sie sich gegenseitig in die +Haare fuhren, gings weiter nach dem Audienzsaal des Tien Wang. Hier +wurde ich seinen beiden Söhnen, zwei Neffen und einem Schwiegersohn +vorgestellt, die mit noch andern, welche ich bereits im Morgenschloß +gesehen, um den Eingang eines Alkovens saßen, über dem die Inschrift +stand: »das erhabene himmlische Thor«. Der Alkoven war tief, und ganz +im Hintergrund desselben zeigte man uns den Sitz des »himmlischen +Königs«, der aber vorläufig leer war .... Er<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> selbst, der Himmlische, +war nicht erschienen; und obgleich nach Beendigung der Feier noch eine +Zeit lang gewartet wurde, erschien er überhaupt nicht. Er mochte sich +eines bessern besonnen haben und es für ersprießlich erachten, sein +Antlitz vor Fremdlingen zu verbergen, auf deren guten Glauben nicht zu +rechnen war; vielleicht hatte der Tschung Wang ihm unsere Ansicht über +unechte Offenbarung berichtet, und er zog es vor, uns vorläufig nur +einen Vorgeschmack seiner Herrlichkeit zu verstatten in der Hoffnung, +unsere Einbildungskraft möchte bei dem leeren Sitze sich die abwesende +Majestät um so erhabener denken ....</p> + +<p>»Im Laufe des Nachmittags ließ der Tschung Wang mich zu einem +Privatgespräch zu sich bitten. Durch eine Reihe von Gemächern führte +man mich in sein Zimmer, wo er in einem luftigen Gewand von weißer +Seide in einem Armsessel lag und sich von einem hübschen Mädchen +fächeln ließ. Um den Kopf hatte er ein rotes Tuch gewunden mit einem +Juwel über der Stirne. Er lud mich zum Sitzen ein und fragte mich +allerlei über Maschinen, Landkarten, Ferngläser u. s. w., indem er +offenbar annahm, daß unser einer über alles Bescheid wisse. Er wurde +ganz vertraulich und war von Stund an bereit, mich jederzeit zu +sehen. Bei nächster Gelegenheit zeigte ich ihm verschiedene Stellen +im Neuen Testament, die mit der Lehre des Tien Wang in unverkennbarem +Widerspruch stehen. Er wies es kurzerhand von sich. Im allgemeinen +sprach er gern davon, daß alle Menschen Brüder wären, doch war leicht +zu sehen, daß seine Religion ihn kalt ließ. Er gab zu, daß die +Offenbarung des Tien Wang nicht mit der Bibel übereinstimme, jene sei +aber neuer und darum glaubwürdiger ....«</p> + +<p>Der Berichterstatter meldet weiter, es sei ihm im Verkehr mit +diesen Leuten einigermaßen verständlich geworden, wie Hungs +»Offenbarungen« von seinen Anhängern aufgefaßt wurden. Ihr Glaube an +den Ausrottungsbefehl schien ihr Gewissen gänzlich abgestumpft zu +haben und ihnen alle nur denkbaren Verbrechen gegen Andersgläubige +zu verstatten. Einen Anhänger der Mandschu-Dynastie zu berauben oder +zu ermorden, war ein gutes Werk. Wo sie hinkamen, führten sie die +jungen Männer der Landbevölkerung gefangen mit sich und machten sie zu +Rekruten, während<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> die vielen hübschen Mädchen und Weiber, die man bei +ihnen sah, den thatsächlichen Beweis lieferten, daß bei den Taipings +»großer Friede« sich recht wohl mit Weiberraub vertrug.</p> + +<p>Übrigens waren die Taipings bei all ihren Verkehrtheiten, um nicht +eine stärkere Bezeichnung zu gebrauchen, doch in einigen Punkten +zu loben. So war z. B. das Opium bei ihnen verpönt, ebenso der +Sklavenhandel. Die Füße der Weiber durften bei ihnen nicht verkrüppelt +werden; die Männer mußten sich das Haupthaar gleichmäßig wachsen +lassen; der rasierte Schädel mit dem Zopf galt ja als Zeichen der +Unterwürfigkeit gegen die Mandschu-Dynastie. Auch rühmten sich die +Anhänger des Ex-Schulmeisters, die allgemeine Bildung zu fördern; +aber damit war es nicht weit her. Das überall zur Schau getragene +Zerrbild des Christentums prägte sich auch dem Unterrichtswesen +auf, das als höchstes Wissen den Satz trieb: »Der himmlische Vater +und der himmlische Bruder (nämlich Hung) sind über alle Pflicht und +Sittlichkeit zu verehren.« Des Tien Wang Erlasse wurden als Lesebücher +benutzt, damit es der Jugend schon geläufig würde, in ihm den +Auserwählten zu erblicken, der zum Friedensherrscher über die ganze +Welt bestimmt sei.</p> + +<p>In gewissen Kreisen Englands hatte sich ein merkwürdiges Vorurteil +zu Gunsten Hungs eingeschlichen. Man fragte sich, ob die Taipings +nicht am Ende doch Schutz verdienten, ob das Rebellentum nicht +möglicherweise der Übergang zur Zivilisation, ja Verchristlichung des +Landes wäre. Erst nachdem einmal britische Niederlassungen gefährdet +waren, wurde man anderer Meinung.</p> + +<p>Die Briten hielten sich mit den Franzosen vorläufig neutral, und die +Feindseligkeiten bis zum Jahr 1860 verblieben lediglich zwischen +den Kaiserlichen und den Rotten des großen Friedens. Es war ein +Bürgerkrieg von staunenswerter, riesiger Ausdehnung.</p> + +<p>Im Jahr 1859 war die Sachlage die: die Mißhelligkeiten zwischen +England und China waren so ziemlich beigelegt, der Friede von Tientsin +war geplant und, von Kanton abgesehen, hatte das britische Militär das +Reich geräumt. Der Aufruhr, der nun in seinem neunten Jahre stand, +schien seine besten<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> Tage gesehen zu haben; die Taipings verloren +einen Ort nach dem andern und wurden wiederholt in der heiligen +Hauptstadt, ihrem Hauptsitze, angegriffen. »Nanking war härter +bedrängt denn je«, sagt der getreue Wang in den vor seiner Hinrichtung +verfaßten Erinnerungen. Hung ließ sich das aber nicht im geringsten +anfechten; mit größtem Gleichmut fuhr er fort, seinen Ministern +himmlische Befehle zu geben und innerhalb der belagerten Stadt auf die +Anzeichen des großen Friedens ringsum hinzuweisen. Der Tschung Wang, +der die Stumpfheit der Majestät offenbar nicht teilte, kann nur sagen: +»Die Zeit zur Ausrottung der himmlischen Dynastie war eben noch nicht +gekommen.« Fürs übrige war der Getreue ein thätiger Krieger, und nicht +weniger als sechsmal brachte er's zu stande, Nanking zu entsetzen.</p> + +<p>Die kaiserliche Regierung aber, anstatt nun alles aufzubieten, das +allmählich verglimmende Feuer des Aufstandes vollends auszutreten, +beging den großen Fehler, sich abermals mit den Engländern zu +überwerfen. Auf dem Wege nach Peking, wo der Friede unterzeichnet +werden sollte, sah sich der britische Gesandte an der Mündung des +Peiho-Flusses plötzlich einer chinesischen Streitmacht gegenüber. +Die Taku-Forts waren in aller Eile repariert worden, und man wollte +die britischen Schiffe nicht durchlassen. Als die Engländer trotzdem +vordrangen, erfolgte eine Salve aus verdeckten Feldstücken, und drei +Kanonenboote wurden in den Grund geschossen. Natürlich brüllte da der +englische Löwe ob dem chinesischen Treubruch und man stand alsbald +wieder auf dem Kriegsfuß. Die erneuten Angriffe der verbündeten +Engländer und Franzosen im folgenden Jahre übten selbstverständlich +ihre Rückwirkung auf den Aufruhr, der aufs neue um sich griff. Ein +ganz direktes Resultat war ein Angriff der Taipings auf Schanghai. +In dieser Stadt aber sind die englischen, resp. europäischen +Handelsinteressen mit den chinesischen verwachsen; daraus ergab sich +die Notwendigkeit englischer Intervention, mit andern Worten ein +direkter englischer Angriff auf die Rebellen. Auch traten britische +Offiziere in kaiserliche Dienste, und so wurde man mit der Zeit der +Taipings Herr. Es liegt hier ein Stück historischen Ausgleichs vor: +wie wir gesehen haben, wurzelte der Aufstand teilweise im<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> englischen +Opiumkrieg, und englische Waffen mußten schließlich dem zerrütteten +Lande wieder zum Frieden verhelfen.</p> + +<p>Eine solche Verwicklung der Dinge ist übrigens wohl nur in China +möglich, daß, während die zornmutigen Verbündeten noch damit +beschäftigt waren, ihre Truppenschiffe von Singapore und Hongkong +herauf zu bringen, um die Kaiserlichen in Peking zu züchtigen, der +General-Gouverneur von Kiangsu in Person in Schanghai eintraf und +die britischen und französischen Behörden daselbst um Hilfe gegen +die Rebellen anging. Unterm 30. Mai 1860 meldet der englische +Bevollmächtigte dem Ministerium Russell: »Ich beschloß im Einvernehmen +mit Mr. Bourboulon, daß es sich sowohl in politischer als humaner +Hinsicht empfiehlt, solchen Greuelscenen hier zuvorzukommen, wie sie +anderwärts stattgefunden haben ... und wir können die Küstenstädte +schützen, ohne anderweitig Partei zu nehmen.«</p> + +<p>Indessen hatten sich die reichen Kaufleute von Schanghai schon unter +der Hand nach Schutz gegen die zu erwartenden Taipings umgesehen. Ein +Amerikaner Namens Ward war erbötig, Truppen zu werben. Es war eine +Belohnung ausgesetzt, das etwa dreißig Kilometer entfernte Sung-Kiang +von den Rebellen zu säubern. Mit einer Bande von Matrosen machte Ward +den Anfang, denen sich zusammengelaufenes Volk aus aller Herren Länder +anschloß; auch Chinesen waren darunter, und dies war der Ursprung +jenes merkwürdigen Söldnerhaufens, der sich in nicht allzuferner Zeit +den Namen der »stets siegreichen Armee« erwarb und dann unter Gordon +dieser Bezeichnung auch alle Ehre machte. Vorläufig nannten sich Wards +Leute nach jener ersten Heldenthat das Sung-Kianger-Corps.</p> + +<p>Die Taipings, mittlerweile nicht müßig, unternahmen große Streifzüge +in diesem Jahr. Wie bereits erwähnt, hatte der <em class="gesperrt">getreue Wang</em> +Nanking zum sechstenmal entsetzt, was ihm übrigens nicht einmal ein +billigendes Wort von Hung eintrug, auch durfte der streitbare Minister +dem Himmlischen nicht vor die Augen kommen. Es ist kaum faßlich, wie +dieser Mensch sich seine Unterkönige botmäßig erhielt; aber die ganze +Bewegung ruhte ja eben auf den <em class="gesperrt">übermenschlichen</em> Ansprüchen des +wahnsinnigen Hung.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span></p> + +<p>Tschung Wang, der <em class="gesperrt">Getreue</em>, und Jing Wang, der Heroische, auch +als vieräugiger Hund bekannt, vertrieben nun die Kaiserlichen aus dem +ganzen Jangtsze-Thal, Schrecken zog vor ihnen her; in einer Stadt +zogen viele Einwohner es vor, ihrem Leben durch Selbstmord ein Ende zu +machen, als es hieß: die Taipings sind wieder da! Ein Distrikt nach +dem andern ergab sich, und »der Getreue« beschloß seinen Siegesmarsch +in Sutschau, der Hauptstadt der Provinz Kiangsu, einer der reichsten +Städte des blumigen Landes, die sich fast widerstandslos ergab.</p> + +<p>»Im Himmel ist das Paradies«, sagt ein chinesisches Sprichwort, +»aber auf Erden sind Su und Hang.« »Um in der Welt glücklich zu +sein«, sagt ein anderes, »muß man in Sutschau geboren sein«; denn +die Menschen dort sind vor allem ihrer Schönheit wegen berühmt — +nach chinesischen Begriffen vermutlich. Die Stadtmauern maßen 15 +Kilometer im Umkreis und außerhalb derselben erstreckten sich noch +vier ansehnliche Vorstädte. Man schätzte die Einwohnerzahl auf zwei +Millionen. In ganz China stand Sutschau in fabelhaftem Ruf wegen +der Pracht seiner antiken und modernen Marmorbauten, seiner schönen +Grabstätten, seiner Granitbrücken. Herrlich seien dort die Straßen, +die Gärten, die öffentlichen Plätze; verständiger als anderwärts die +Männer und schöner die Frauen. Auch die Handelsprodukte der Stadt +waren berühmt, kostbare Seidenstoffe insbesondere. In dieser Stadt +hielt der Getreue seinen Einzug, während die Kaiserlichen in heller +Flucht sie verließen, und durch die ganze Provinz Kiangsu schien damit +die Herrschaft des großen Friedens gesichert.</p> + +<p>Der Kan Wang oder Schildkönig war zu dieser Zeit Generalissimus; +dieser hatte vier Jahre in Hongkong gelebt und urteilte richtig, +wenn er meinte, daß es den Taipings förderlich sein dürfte, mit den +Ausländern anzuknüpfen. Wichtiger als der Besitz von Su und Hang +erschien es ihm, in der Richtung von Schanghai vorzudringen, um dort +europäische Dampfer zu erlangen, die auf dem Jangtsze dienlich sein +sollten. Er urteilte praktisch, der Schildkönig, denn die Stimmung +unter den Engländern und Amerikanern in den Hafenstädten war selbst +zu dieser Zeit noch eine geteilte. Überdies mochten die Taipings wohl +auf Beihilfe rechnen, denn<span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span> die Engländer und Franzosen waren schon +unterwegs, um in der Mandschurei ihre Streitkräfte zu vereinigen, +von dort aus den chinesischen Kaiser aus der Ruhe seines Palastes +aufzuschrecken und ihn für den bei den Taku-Forts erlittenen Schimpf +zu züchtigen. In der That war auch etwas wie ein Waffenstillstand +zwischen den Rebellen und den Verbündeten zu stande gekommen, wenn von +einem Waffenstillstande überhaupt da die Rede sein kann, wo aktive +Feindseligkeiten noch nicht ausgebrochen waren. Der englische Admiral +Hope war den Jangtsze hinaufgefahren, welcher Fluß durch den Vertrag +von Peking europäischen Schiffen zugängig war, und hatte unter den +Mauern Nankings mit dem Tien Wang selbst unterhandelt. Das Ergebnis +hievon war, daß die Rebellen sich verbindlich machten, Schanghai +auf Jahresfrist in Frieden zu lassen. Die Verbündeten konnten ruhig +nordwärts ziehen.</p> + +<p>Dies ist der Punkt, an welchem das Leben Gordons in den breiten Strom +der Weltgeschichte einmündet.</p> + +<p>Im Sommer 1860 war er nach China beordert worden und nahm nun teil +an der Operation gegen die Kaiserstadt. Er war dabei, als der +Sommerpalast in Brand gesteckt wurde. Hören wir darüber seine eigenen +Aufzeichnungen:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Am elften Oktober erhielten wir Befehl, in möglichster Eile Schanzen +aufzuwerfen und Batterien gegen die Stadt zu richten. Die Chinesen +verweigerten die Übergabe des Thores, und so lang dies der Fall +war, wollten wir nicht mit ihnen unterhandeln. Auch die Gefangenen +sollten ausgeliefert werden. Diese waren sehr mißhandelt worden, +und zwar, wie gesagt wird, im Sommerpalast selbst in Gegenwart des +Kaisers ... Wir waren bereit, die vierzig Fuß hohe Mauer zu stürmen; +die Chinesen hatten Bedenkzeit bis zum 13. mittags. Um halb zwölf +ergaben sie sich, und wir nahmen Besitz von der Stadt. Sie erhielten +weitere Frist bis zum 23., während welcher Zeit sie für jeden ihrer +Mißhandlung erlegenen Engländer 200000 Mk. beibringen mußten, und +10000 für jeden Eingeborenen. Die Strafgelder wurden auch richtig +gezahlt und der Vertrag gestern unterzeichnet.«</p> +</div> + +<p>Dem englischen General, Lord Elgin, blieb nun die Entscheidung, ein +Exempel zu statuieren. Die Stadt in Brand stecken,<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> hätte tausende +von Unschuldigen mit den Schuldigen getroffen. Im Sommerpalast aber +hatten sich genügende Beweise der daselbst verübten Grausamkeiten +vorgefunden; somit sollte der stattliche Palast zerstört werden. Und +so wurde der Juen-Ming-Juen (Garten der Gärten) in Brand gesteckt, +und der schwarze Rauch hing wie ein Trauermantel über Peking. Gordon +beschrieb und beklagte die Zerstörung:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Unsere Leute plünderten in fast vandalischer Weise, und was ein +Raub der Flammen wurde, wäre nicht durch 80 Millionen Mark wieder +herzustellen ... Die Pracht und Schönheit des Zerstörten ist kaum zu +beschreiben ... Es that einem im Herzen weh, den furchtbaren Brand +mit anzusehen ... es war ein entsetzlich entwürdigendes Geschäft für +eine Armee, jedermann wollte nur plündern ...«</p> +</div> + +<p>Die Franzosen hatten schon vorgesorgt mit der Verheerung und die +kostbarsten Gegenstände einfach zusammengeschlagen.</p> + +<p>Die beiden Armeen verzogen sich allmählich, die Engländer ins +Winterquartier nach Tientsin. Gordons Aufenthalt daselbst verlängerte +sich weit über sein Erwarten, nämlich bis zum Frühjahr 1862. Er war +damit beauftragt, die Umgegend aufzunehmen. Öfters gab's auch einen +Ritt nach den 220 Kilometer entfernten Takuforts, und einmal einen +beträchtlicheren Ausflug mit seinem Kameraden Cardew nach der großen +Mauer — ein ziemlich kühnes Unternehmen, denn sie durchritten da +weite Gegenden, die noch nie von Europäern betreten waren. Einen +vierzehnjährigen Jungen, der etwas Englisch verstand, nahmen sie mit +als Dolmetscher. Ein Zelt und Kochgerät führten sie auf einem Karren +mit sich. Bei Kalgan erreichten sie die 2000 Kilometer lange Mauer des +Schi Hoangi, die 240 Jahre älter ist als die christliche Zeitrechnung, +zweiundzwanzig Fuß hoch, und sechzehn dick. »Es war wunderschön,« +schreibt Gordon, »die endlose Mauerlinie sich über die Hügel hinziehen +zu sehen.« Von Kalgan schlugen sie eine westliche Richtung ein nach +Taitong, wo die Mauer nicht ganz so hoch ist. Daselbst sahen sie +riesige Karawanen von Kamelen, die Thee nach Rußland trugen. In dieser +Gegend fanden sie sich genötigt, die Achsen ihres Karrens verlängern +zu lassen; denn die<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span> Fuhrwerke in jenem Lande laufen breitspuriger als +anderswo, und ihre Räder paßten nicht in die ausgefahrenen Geleise der +Landstraßen! Der Hauptzweck ihrer Reise war, zu erkunden, ob außer +dem Tschatiau-Paß noch ein anderer vom russischen Gebiet nach Peking +führe. Auf einem großen Umweg in südwestlicher Richtung suchten sie +lange vergeblich die Straße übers Gebirge ostwärts; erst bei Taijuen +fanden sie ihren Rückweg nach Peking und Tientsin.</p> + +<p>Im Mai 1862 erhielt Gordon Befehl, sich mit einer Abteilung Infanterie +nach Schanghai zu werfen, weil dort die Taipings aufs neue die +Gegend unsicher machten. Der himmlische König hatte den Engländern +sagen lassen, er werde Schanghai angreifen, sobald das Jahr des +Waffenstillstandes um sei. Im Januar 1862 hatte er dann auch seinen +»Getreuen« in die Gegenden der Konsulatstadt geschickt, und von da an +datiert die feindliche Stellung der Engländer gegen die Rebellen.</p> + +<p>Mit dem militärischen Oberbefehl innerhalb des Distrikts betraut, +marschierte Gordon zuerst nach Singpu, erstürmte die Stadt und +vertrieb die Taipings aus verschiedenen Plätzen, wo sie sich +festgesetzt hatten. In erster Linie sollte Gordon dafür sorgen, daß +der sogenannte »dreißig Meilen Umkreis«<a id="FNAnker_1" href="#Fussnote_1" class="fnanchor">[1]</a> um Schanghai her von +feindlichen Überfällen gesichert bleibe.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wir hatten einen Besuch von den Taipings,« schreibt Gordon. »In +einzelnen Haufen kamen sie bis in die nächste Nähe des Stadtgebiets, +steckten in Brand was sie konnten und trieben die Landleute zu +Tausenden vor sich her. Wir zogen ihnen entgegen, aber ohne +viel Erfolg. Gräben und Sümpfe hindern allerwärts <em class="gesperrt">unser</em> +Fortkommen, die Rebellen sind uns in dieser Hinsicht weit überlegen +... Es ist unfaßlich, was für Haufen flüchtigen Landvolkes nach +Schanghai kommen, sobald die Taipings in der Nähe sind; mindestens +fünfzehntausend Flüchtlinge sind eben hier, und keineswegs nur Weiber +und Kinder, sondern stämmige Männer, die sich wohl wehren könnten, +aber die Angst lähmt ihnen alle Thatkraft. Weiterhin im Land haben +die Leute Unglaubliches zu leiden und viele sterben Hungers. Dieser +Aufruhr ist eine entsetzliche Landplage, und unsere Regierung<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> sollte +alles Ernstes eingreifen, um ihn zu unterdrücken. Worte können +nicht das Elend beschreiben, das überall herrscht, wo die Rebellen +hinkommen; die reiche Provinz ist zur Wüste geworden.«</p> +</div> + +<p>Für die Kaiserlichen hatte das Jahr 1861 schon einen Umschwung +gebracht. Der Kaiser Hien-Fong war am 21. August auf seinem +Jagdschloß in der Tartarei gestorben — im sechsundzwanzigsten +Jahre seines Lebens und im elften seiner unglücklichen Regierung. +Unfähig mit den großen Schwierigkeiten einer Übergangsperiode zu +kämpfen, hatte er wie manch anderer Fürstenschwächling sich durch +Befriedigung seiner Genußsucht zu entschädigen gesucht. Schließlich +aber »ergriff seine Krankheit ihn mit erneuter Heftigkeit, und am +siebzehnten Tage des Mondes schwang er sich auf mit dem Drachen als +Gast der oberen Räume.« Wohl mochte die arme Seele des untauglichen +Monarchen, dessen sterbliche Hülle in einem »cedernen Schloß« zur +Ruhe gebettet wurde, auf ihrem Drachenritt den vorangegangenen +Kaisern manches zu klagen haben. Elend und Aufruhr hatte während der +ganzen Regierungszeit dieses Jünglings das himmlische Reich verheert, +und Rebellen herrschten an seiner Statt; allerwärts hatte das Volk +sich von ihm losgesagt, der kaiserlichen Gewalt Trotz bietend, und +zur Vollstreckung der heiligen Befehle fanden sich nur schlechte +Statthalter, denen die eigene Größe mehr galt als die Wohlfahrt des +Volkes. Jahr um Jahr durchzogen die rebellischen Horden das Land; die +Brandfackel nächtlicher Zerstörung kündete ihren Weg, und der Rauch +brennender Städte und Dörfer verhüllte der Sonne Licht am hellen Tage. +Ein wahnwitziger Usurpator hatte es nicht nur gewagt, den Drachenthron +für sich zu begehren, sondern sich außerdem noch göttlicher Ehre +vermessen, während kriegerische Heervölker der abendländischen +Barbaren das Kaiserreich demütigten, ja die jungfräuliche Kaiserstadt +Peking bezwangen, die noch nie einem Fremdling sich erschlossen, und +den Palast des himmlischen Sohnes in Brand steckten.</p> + +<p>So mochte der arme Kaiserjüngling gedacht haben. Wir aber erkennen in +der mancherlei Trübsal die Wehen einer sich neu gestaltenden Zeit. +Des Monarchen Tod öffnete Thür und Thor für neue Dinge. Der Thronerbe +war ein Kind, und die Regentschaft<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> neben der Kaiserin-Witwe bestand +aus Vertretern der fremdenfeindlichen Partei. Als daher der Bruder +des verstorbenen Kaisers, ein weitsichtiger Prinz, der die Konvention +von Peking unterzeichnet hatte, an den Hof gerufen wurde, war die +Hoffnung, daß er lebendig zurückkehren würde, keineswegs stark. +Man hielt dafür, daß die Einladung nichts anderes bedeute, als die +höfliche Erlaubnis, wie sie einem irrenden Mitglied der kaiserlichen +Familie zukommt, sich in der Stille mittelst einer seidenen Schnur aus +der Welt zu befördern. Zum Glück fürs Land aber war die Hauptgewalt in +den Händen einer Frau von außergewöhnlichem Verstand und männlichem +Charakter, nämlich der Kaiserin-Witwe, und diese erkannte alsbald, daß +Prinz Kung sich besser auf die wahren Interessen des Landes verstehe, +als die Ratgeber des verstorbenen Kaisers. Und während jedermann von +seinem demnächstigen Selbstmord zu hören erwartete, griff er plötzlich +in den Gang der Dinge ein und stürzte sofort — gleichzeitig mit +dem Einzug des jungen Monarchen in Peking — durch den berühmten +Staatsstreich vom 2. November 1861 die fremdenfeindliche Partei. Ihre +Hauptvertreter wurden hingerichtet. Von da an datiert ein freundliches +Einvernehmen zwischen den ausländischen Bevollmächtigten und der +kaiserlichen Regierung. Die Zeit war in der That gekommen, da die +verschiedensten Interessen in natürlicher Weise zusammenwirkten, die +Taipings auszurotten und dem himmlischen Reich zu einem neuen besseren +Stand der Dinge zu verhelfen.</p> + +<h3>2. Die stets siegreiche Armee.</h3> + +<p>Das Jahr 1861 war britischerseits den Rebellen gegenüber eine Zeit +des Waffenstillstandes gewesen, in diesem Jahr aber hatten die +Taipings ihre erste empfindliche Niederlage erlitten, ja eine Reihe +von Niederlagen. Sie hatten versucht, sich des Jangtsze-Thales wieder +zu bemächtigen mit besonderen Absichten auf Hangtschau. Aber obgleich +dieses Jahr durch Hien-Fongs Tod eine innere Umwälzung der Monarchie +mit sich brachte, so hatte die Macht der Kaiserlichen doch stetig +gewonnen, und die Rebellen sahen sich mit Ende des Jahres wieder in +die Gegend<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> von Schanghai zurückgeworfen. Man darf die Vernichtung der +Taipings daher nicht ausschließlich britischen Waffen zuschreiben.</p> + +<p>Wie bereits erwähnt, hatten die Handelsherren von Schanghai es schon +vorher für geraten gehalten, sich durch ein Privatsöldnerheer gegen +Überfälle möglichst zu sichern. Der Amerikaner Ward, ein tüchtiger +Soldat, und nach ihm Burgevine, ein weniger tüchtiger Glücksritter, +befehligte diesen Truppenhaufen, der sich des hochtrabenden Titels der +»stets siegreichen Armee« erfreute.</p> + +<p>Die Leute des blumigen Landes haben eine Vorliebe für schöne +Redensarten. Ihre Flüsse sind alle wohllautplätschernd, ihre Berge +voll himmlischen Weihrauchs; das geringste Dörfchen fühlt sich als +eine Pflanzstätte süßduftenden Korns, und jeder gewöhnliche Nachen +ist ein Wunder der kristallenen Flut. Der Chinese findet solche +Benennungen keineswegs lächerlich, er hält im Gegenteil dafür, daß +der pure Wortlaut der Dinge irdisches Geschick beeinfluße. In den +chinesischen Klassikern wird nichts so sehr betont als die Thatsache, +daß Weisheit eine richtige Benutzung der Worte sei. Es fragte einmal +einer den alten Mencius, worin er sich auszeichne; »ich verstehe mit +Worten umzugehen«, war die tiefsinnige Antwort. Und anderswo wird +darauf hingewiesen, wie selbst tugend- und talentvolle Menschen durch +übelgesetzte Rede sich oft ganz in den Schatten stellen. Konfucius +erklärte, der erste Schritt zu einer wohlgeordneten Regierung sei, +»die Bezeichnung der Dinge zu verbessern«, und fügte bedeutungsvoll +hinzu: »einen unpassenden Namen haben heißt in ungünstiger Lage +verharren, allem Übel ausgesetzt.« Derlei Ideen sind gang und gäbe in +China, und jeder Schwarzhaarige läßt sich's daher angelegen sein, sich +und den Seinen schöne Namen zu gewinnen. Selbst die Regierung richtet +ihre Erlasse nach dem Geschmack des Volkes ein, ob nun vom Sohne der +Erde und des Himmels auf dem Drachenthron die Rede ist, oder vom +Büttel des geringsten Mandarins. Daher also die Bezeichnung Tschang +Seng Tschiun oder stets siegreiche Armee.</p> + +<p>Der General-Gouverneur der Kiang-Provinzen war Li Futai oder +Li-Hung-Tschang, ein tüchtiger Soldat und berühmter Staatsmann. +Tseng-kwo-fan, (der Vater des kürzlich verstorbenen, bekannten<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> +Marquis Tseng), der kaiserliche Generalissimus, hatte ihm den +Oberbefehl von Schanghai übertragen. Der englische General Staveley +erklärte ihm bei seiner Ankunft, daß, obgleich die Verbündeten den +Dreißig-Meilen-Umkreis verteidigen würden, die allgemeine Bekämpfung +des Aufstands doch nach wie vor den Chinesen überlassen bleibe. Li +machte sich sofort daran, die chinesischen Truppen auf europäische +Waffen einzuüben. Wards Söldner waren bislang ihren eigenen Weg +gegangen, erst nachdem er gefallen war und sein Nachfolger Burgevine +sich mit Li überworfen hatte, verschmolzen die fremden Söldner mit den +chinesischen Rekruten, und Li bat den englischen General, einem seiner +Offiziere den Oberbefehl zu übertragen.</p> + +<p>Der rechte Mann war bald gefunden in Gordon, der zwar noch nie im +Oberkommando gestanden, der aber mehr denn irgend ein anderer für den +verantwortungsvollen Posten geeignet war. Seinen Ruf von Sebastopol +her hatte er in Peking und Schanghai aufrecht erhalten, und es spricht +sehr für den Mann, daß er dem ehrenvollen Antrag keineswegs in blinder +Aufregung Folge leistete, sondern im Gegenteil den gelassenen Wunsch +vortrug, seine Arbeit der militärischen Kenntnisnahme des Terrains +innerhalb des Dreißig-Meilen-Umkreises zuerst zu Ende bringen zu +können, weil das für eventuelle Operationen jedenfalls von Wert +sei. In einem Offizier, Namens Holland, ernannte man darum einen +zeitweiligen Ersatzmann, unter dessen Führung die »stets siegreiche +Armee« von den Taipings bei Taitsan glänzend geschlagen wurde. Erst im +Frühjahr 1863 übernahm Gordon den Oberbefehl. Er schreibt darüber an +seine Eltern:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich fürchte, es wird Euch unlieb sein, daß ich das Kommando +übernommen habe; es geschah nicht ohne reifliche Überlegung +meinerseits. Ich halte dafür, daß es ein gutes Werk ist, diesen +Aufstand zu unterdrücken; es ist eine einfache Pflicht der +Menschlichkeit und kann außerdem dazu beitragen, dieses Land der +Zivilisation zugänglich zu machen. Ich will nicht tollkühn handeln, +und ich hoffe, bald nach England zurückkehren zu können — ich will +nicht vergessen, daß das Euer Wunsch ist. Ich kann wohl sagen, +daß, wenn ich mich geweigert hätte, den mir übertragenen Posten +anzunehmen, die Truppen sich verlaufen hätten und der Aufruhr<span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span> allem +Anschein nach das Land noch Jahre lang im Elend erhalten würde. Ich +hoffe, daß das nun nicht der Fall sein wird und daß ich Euch sehr +bald Beruhigendes werde schreiben können.<a id="FNAnker_2" href="#Fussnote_2" class="fnanchor">[2]</a> Ihr müßt es Euch nicht +zu nahe gehen lassen; ich glaube wirklich, daß ich das Rechte thue +.... Ihr seid mir stets gegenwärtig und dürft Euch darauf verlassen, +daß ich nichts Unbesonnenes thun will.«</p> +</div> + +<p>Gordon hatte gerade das dreißigste Jahr zurückgelegt. Sein Heer +zählte bei der Übernahme zwischen drei- und viertausend Mann mit etwa +hundertundfünfzig Offizieren, war aber später erheblich stärker. Die +Uniform war eine halb-europäische, aus dunklem Wollenzeug und grünem +Turban bestehend; die Soldaten waren anfänglich nichts weniger als +mit ihrer Montur einverstanden, denn ihre Landsleute erblickten in +ihnen nur »nachgemachte fremde Teufel«; unter der Bezeichnung »fremde +Teufel« fasst nämlich der Chinese alle Ausländer zusammen. Später +aber, als die Armee anfing, sich wirklich als die »stets siegreiche« +zu erweisen, wurden die Leute stolz auf ihre eigenartige Kleidung und +hätten sich dieselbe nicht wieder nehmen lassen. Ja, soweit ging die +gute Meinung eines chinesischen Statthalters, daß er dafür hielt, +schon ihren Fußstapfen folge der Sieg und demgemäß Entmutigung der +Rebellen; er ließ daher viele tausend Paare europäischen Schuhwerks +unter das Landvolk verteilen, um die Spuren von Gordons Truppen +möglichst zu vervielfältigen! Ein Oberst dieses Korps erhielt etwa +fünfzehnhundert Mark pro Monat, die Majore, Hauptleute, Adjutanten +u. s. w. eine entsprechende Summe in absteigender Linie bis zum +Leutnant, der sich auf sechshundert Mark stellte; die Unteroffiziere +circa hundert Mark in abnehmendem Verhältnis bis zum Gemeinen, dessen +Sold ungefähr vierzig Mark monatlich betrug. Im Feld verabfolgte man +außerdem noch Rationen. Der Oberbefehlshaber selbst erhielt eine<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> +stattliche Summe — 5200 Mark monatlich, also 62400 Mark im Jahr; — +»aber das ist sehr gleichgültig«, schreibt Gordon.</p> + +<p>Sämtliche Offiziere waren Ausländer. Amerikaner bildeten die Mehrzahl, +dann Engländer, Franzosen, Spanier, Deutsche. Im allgemeinen waren +es tapfere Leute, die sich rasch in eine gegebene Lage zu finden +wußten, im Feuer meist großen Mut entwickelten, im übrigen aber +leicht einander in die Haare gerieten. Die Disziplin war so scharf +wie thunlich, doch war es nicht oft nötig, summarisch einzugreifen, +Gordons persönlicher Einfluß machte sich bald fühlbar. Das +Schlimmste war die Trunksucht; innerhalb eines Monats starben einmal +elf Offiziere an <em class="antiqua">delirium tremens</em>. »Man mußte froh sein, +überhaupt Offiziere zu kriegen«, schrieb einer, der aus Erfahrung +reden konnte; »sie schlugen sich gut, und das war schließlich die +Hauptsache.« Ein anderer schreibt: »Es waren sogar offenkundige +Freunde der Rebellen unter ihnen und solche, die alle Landesgesetze +in den Wind schlugen; aber Offiziere wie Gemeine lernten sehr bald +einen Anführer respektieren, auf dessen Tapferkeit, Kriegsgeschick, +Gerechtigkeitsliebe und persönliche Güte sie alle Ursache hatten sich +jederzeit zu verlassen, einen, der sich nie selbst schonte<a id="FNAnker_3" href="#Fussnote_3" class="fnanchor">[3]</a>, wo es +Gefahr gab, und der mit fester Hand alle Privathändel darnieder zu +halten wußte, die bislang dem Erfolg oft hinderlich im Wege gestanden.«</p> + +<p>Der Kriegsschauplatz, auf welchem Gordon seine Armee innerhalb +anderthalb Jahren dreiunddreißigmal ins Gefecht führte, war die von +der Jangtsze-Mündung im Norden und von der Bucht von Hangtschau im +Süden begrenzte Provinz Kiangsu, eine stumpfe Halbinsel, die von +Hangtschau bis Nanking am Jangtsze, der Residenz des Taiping, über +zweihundert Kilometer breit ist, während der Querdurchschnitt in +der Mitte zwischen diesen beiden<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> Punkten bis zum Meer dreihundert +Kilometer beträgt. Am nordöstlichen Ende, etwa vierzig Kilometer vom +Ufer entfernt, liegt inmitten zahlloser Buchten die Stadt Schanghai. +Das von unzähligen Flüssen, Flüßchen und Kanälen durchzogene Land ist +von fast lagunenartigem Charakter und, abgesehen von den einzelnen +Hügeln, flach wie Holland, fruchtbar und reich an Dörfern und Städten. +Stellenweise liegt das Land tiefer als der Spiegel des Meeres, und +lange Strecken erheben sich nur wenige Fuß darüber. Der Verkehr +ist größtenteils zu Schiff. Zum Manövrieren in Kriegszeiten ist es +daher ein schwieriges Land, und es kam Gordon gut zu statten, daß +er sich eine so gründliche Kenntnis desselben verschafft hatte. Ja, +er war mit dem gesamten Kriegsschauplatz weit besser vertraut als +die Rebellen, die das Land seit zehn Jahren durchstreift hatten. Er +wußte genau, welche Kanäle zur Zeit schiffbar waren und welche nicht; +er wußte, wo der Boden Artillerie tragen würde und wo er versumpft +war. Er ging auch alsbald daran, sich durch eine kleine Flotte von +Kanonenbooten zu verstärken, die in dem wasserdurchfurchten Land +seiner Infanterie als Bedeckung dienen konnte und die überdies durch +rasche Truppenbeförderung seine viertausend Mann in der Meinung des +Feindes vervielfachte. Mit Gordons Korps kooperierte eine kaiserliche +Armee; der dieselbe befehligende General war Li Adong, ein Mann, vor +dessen militärischer Tüchtigkeit Gordon alle Achtung hatte. Gleichwohl +hatte sich Gordon völlige Unabhängigkeit vorbehalten, und die wurde +ihm auch zugestanden.</p> + +<p>Seine »Siegreichen« brannten vor Begier, die Scharte von Taitsan +auszuwetzen, er aber ließ nichts übereilen. Er hatte das eine +große Ziel im Auge, den Aufruhr schnell und gründlich aufs Haupt +zu schlagen, und wußte genug von den bisherigen Ergebnissen, um +einzusehen, daß hitziges Scharmützeln hier und dort, oder eine +Taktik der Defensive — wie z. B. das energische Sauberhalten des +Dreißig-Meilen-Umkreises — oder auch wiederholtes Angreifen des +Feindes in seinen Verschanzungen wie in Taitsan, durchaus ungenügend +sei, wenn es sich darum handle, dem ganzen Aufstand ein Ende zu +machen. Ihm erschienen plötzliche Überfälle an Orten, wo man ihn am +wenigsten erwartete, der geeignetste<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> Kriegsplan; denn nicht nur +gewannen seine Soldaten bei ziemlich sicheren Erfolgen immer mehr +an Selbstvertrauen, sondern er zwang die Rebellen sehr bald, sich +allerwärts seines Erscheinens gewärtig zu halten, zu einer Stellung +der Defensive also, und ließ ihnen weder Zeit noch Mut, Schanghai oder +die andern Hafenstädte zu beunruhigen.</p> + +<p>Nicht viele Tage gingen ins Land, ehe er mit zweihundert Mann +Artillerie und so viel Infanterie, als seine beiden Dampfer tragen +konnten, d. h. etwa tausend Mann, den Jangtsze hinaufdampfte. Etwa +hundert Kilometer aufwärts, am südlichen Ufer, liegt Fusan, ein +Piratennest, wo die Taipings sich befestigt und kurz zuvor einen +kaiserlichen Angriff zurückgeschlagen hatten. Die Kaiserlichen waren +dort verschanzt und unter ihrer Deckung brachte er seine Leute ruhig +ans Land, obgleich die Taipings in ziemlicher Stärke seinen Bewegungen +aus nächster Nähe zusahen. Er erreichte Fusan, und es gab eine +dreistündige Beschießung; einen Ansturm warteten die Taipings gar +nicht ab, sie wandten sich alsbald zurück. Fusan war der Schlüssel +zu dem fünfzehn Kilometer südlicher gelegenen Tschanzu, wo eine +kaiserliche Besatzung sich bisher tapfer gehalten hatte.</p> + +<p>Die Einwohner dieser Stadt waren selbst Rebellen gewesen, hatten sich +aber wieder der kaiserlichen Sache zugewandt. Der getreue Wang hatte +darauf die Stadt belagert und als Beweis, was er zu thun vermöchte, +die Köpfe von drei bei Taitsan erschlagenen europäischen Offizieren +über die Mauern werfen lassen; allein die Einwohnerschaft hielt aus. +Auf dem Wege dahin fand Gordon die Leichname von fünfunddreißig von +den Taipings gekreuzigten Kaiserlichen. Er vertrieb die Rebellen mit +einem Verlust von nur zwei Toten und sechs Verwundeten auf seiner +Seite. Der Feind zog sich nach Sutschau zurück; ein gut Stück Land war +somit den Rebellen abgenommen. Die Leute von Tschanzu empfingen ihren +Befreier mit großem Jubel und bedauerten lebhaft, ihm kein Geschenk +machen zu können. »Das sei nicht Mode bei ihm«, entgegnete Gordon.</p> + +<p>Der Kaiser übrigens lohnte den glänzenden Anfang damit, daß Gordon +den Titel Tsung-Ping erhielt, was annähernd durch<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> Brigadegeneral +wiederzugeben ist. Eine Besatzung von dreihundert Mann in Tschanzu +zurücklassend, kehrten die Siegreichen nach Sung-Kiang zurück.</p> + +<p>Nordwestlich von Schanghai liegt Taitsan, von wo in südwestlicher +Richtung der Weg durch Kuinsan nach Sutschau führt. Das waren die +drei Hauptorte der Rebellen, der letztere als Provinzialhauptstadt +der bedeutendste. Die Taipings hatten diese Stadt seit 1860 inne. +Gordon machte sich marschfertig. Es war unbekannt, welchen der drei +Orte er zuerst angreifen würde; man vermutete, Kuinsan sei das +Ziel. Dieser Ort, als Verbindungsglied zwischen den beiden anderen +Städten, war strategisch von großer Wichtigkeit; überdies hatten +die Rebellen daselbst unter einem hergelaufenen Engländer eine +Kugelgießerei in voller Thätigkeit. Auf dem Wege dahin erfuhr Gordon, +daß der Kommandant von Taitsan dem Gouverneur Li einen Vorschlag zur +Übergabe gemacht habe, daß demzufolge ein kaiserlicher Truppenteil als +Besatzung dahin abgezogen sei, daß der Taiping den Kaiserlichen aber +damit nur eine Falle gestellt und dreihundert derselben enthauptet +habe, deren Köpfe er als Beweis seiner Geschicklichkeit nach Sutschau +und Kuinsan sandte. Gordon nahm alsbald die verräterische Stadt aufs +Korn.</p> + +<p>Kein leichtes Unternehmen! Die feindliche Garnison war zehntausend +Mann stark, darunter waren zweitausend auserlesene Truppen mit +französischen, amerikanischen und englischen Überläufern bei den +Batterien, während er nur dreitausend Mann befehligte. Aber das +war ihm einerlei, er belagerte die Stadt sofort. Nach zwei Tagen +war Bresche geschossen und die Stürmenden in vollem Anmarsch. Der +erste Angriff wurde jedoch zurückgeschlagen. Darauf ließ Gordon +seine Artillerie die Bresche über den Köpfen der Stürmenden hinweg +beschießen. Dieser zweite Angriff war erfolgreicher; die Flagge der +Siegreichen wehte von den erstürmten Zinnen, und die Taipings retteten +sich in tollster Flucht. Gordon schreibt darüber an seine Mutter:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Am 24. April verließ ich Sung-Kiang mit etwa dreitausend Mann, um +Kuinsan anzugreifen, eine große Stadt zwischen Taitsan und Sutschau. +Ehe ich aber soweit kam, erfuhr ich, daß die Taipings<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> zu Taitsan +vorgegeben hatten, mit den Kaiserlichen unterhandeln zu wollen, die +abgesandte kaiserliche Besatzung aber verraten und vernichtet hatten. +Ich änderte daher alsbald meinen Plan und marschierte nach Taitsan; +am ersten Tag wurde die äußere Verschanzung angegriffen, am zweiten +Tag die Stadt selbst. Die Rebellen wehrten sich tüchtig, aber es +half nichts; die Stadt fiel. Taitsan ist ein wichtiger Ort und die +Einnahme nach dem verübten Verrat eine verdiente; der Kommandant +hat eine Kopfwunde davongetragen. Diese Stadt erschließt uns ein +großes Stück Land. Die chinesischen Behörden sind voll Lobes über +meine Leute. Ich bin jetzt ein Tsung-Ping Mandarin (die zweitoberste +Würde) und habe viel Einfluß. Nicht daß ich das an sich schätzte, +aber ich bin immer gewisser, daß ich recht daran that, das Kommando +zu übernehmen. Du würdest mir ebenfalls recht geben, könntest Du Dich +mit eigenen Augen von der Niederträchtigkeit der Rebellen überzeugen. +Taitsan war stark befestigt, es ist eine Fu oder Hauptstadt.«</p> +</div> + +<p>Die stets siegreiche Armee hatte ihrem Namen Ehre gemacht und ihr +Anführer sich als ein Befehlshaber erwiesen, der das wahre Geheimnis +der Kriegskunst kennt — das Wann, Wie und Wo des Draufschlagens. +Zwanzig Jahre später, als die Araber angefangen hatten, seinen Palast +in Khartum zu beschießen und er wußte, daß selbst etliche seiner zum +Mahdi überlaufenden Sudanesen die feindlichen Kanonen bedienten, +schrieb er in sein Tagebuch: »Es ist nicht das erstemal, daß meine +eigenen Leute auf mich schießen. In der Bresche vor Taitsan waren +zwei Engländer vom 31. Regiment unter den Rebellen. Der eine fiel, +der andere wurde verwundet und gefangen genommen. ›Herr Gordon! Herr +Gordon! lassen Sie mich nicht totschießen!‹ Lauter Befehl: ›Führt ihn +weg und jagt ihm eine Kugel durch den Kopf.‹ Leiser Befehl: ›Bringt +ihn in mein Boot, der Doktor soll nach ihm sehen; dann schickt ihn +nach Schanghai.‹ Der Mann lebt wohl heute noch.«</p> + +<p>Die kaiserlichen Mandarine nahmen ihre Privatrache an einigen der +Gefangenen, was zu Gerüchten Anlaß gab, die darauf berechnet waren, +Gordon zu verleumden. Dieser schreibt mit Bezugnahme hierauf unterm +15. Juli 1863 an den Herausgeber der Schanghaier Schiffszeitung:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich kann bezeugen, daß die Chinesen meines Korps nicht grausamer +sind als die Soldaten irgend einer christlichen Nation; als Beweis +erwähne ich die Thatsache, daß siebenhundert der bei Kuinsan +gefangen genommenen Taipings bei uns jetzt im Dienst stehen. Sie +haben sich freiwillig unsern Fahnen angeschlossen und sich bereits +gut gegen die Rebellen geschlagen. Nur <em class="gesperrt">eine</em> Hinrichtung ist +nötig gewesen; sie traf einen Rebellen, der es versuchte, seine +Kameraden gegen die Wache aufzuhetzen, und sofort erschossen wurde. +Es ist ein großer Irrtum, anzunehmen, daß dieses Korps aus lauter +gewissenlosen Menschen bestehe. In der Hitze des Gefechts schlagen +sie drauf und halten es für tapfer den Feind zu töten, wie andere +Soldaten auch; aber nach der Schlacht heißt es gleich wieder gut +Freund .... Wenn ein gewisser (ungenannter) »Augenzeuge« und jener +»Freund der Barmherzigkeit« ihre beiderseitigen Behauptungen mit +wirklichen Beweisen belegen könnten, so wäre es besser, als den +Zeitungen Zuschriften zu schicken, wie diejenigen, die den Bischof +von Viktoria beschäftigen. Und wenn irgend jemand der Meinung ist, +das Volk wäre mit der Rebellenwirtschaft zufrieden, so dürfte er +sich vom Augenschein hier leicht eines andern belehren lassen. +Ich überschätze die Zahl gewiß nicht, wenn ich sage, daß nach der +Einnahme von Kuinsan fünfzehnhundert der flüchtigen Rebellen von den +sich massenhaft erhebenden Landleuten erschlagen wurden.«</p> +</div> + +<p>Wir haben vorgegriffen. Daß die chinesischen Söldner in vollständiger +Mannszucht standen, ist kaum anzunehmen; Gordon war ja noch keine zwei +Monate im Kommando. Seine Soldaten hatten in Taitsan geplündert, was +gegen seine Kriegsverordnung war. Er strafte sie aber damit, daß er +ihnen keine Gelegenheit gab, ihre Beute zu verwerten; sie anderweitig +zu züchtigen, dafür war es kaum der geeignete Moment, nachdem sie +eben einen Sieg errungen, der, so glänzend er war, doch blutige Opfer +gekostet hatte. Er überließ es den Mandarinen, die gefallene Stadt zu +besetzen, und marschierte mit seinem Korps nach Sung-Kiang zurück. +Dort erließ er eine Proklamation, dankte den Truppen für ihre tapfere +Haltung, tadelte die Offiziere aber wegen allzu laxer Mannszucht. +Um diese zu bessern, ernannte er an der Gefallenen Statt mehrere +englische Offiziere aus einem in Schanghai liegenden Regiment, welche +Erlaubnis hatten, ihm ihre Dienste anzubieten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span></p> + +<p>Und nun ging's nach Kuinsan. Eine drohende Unbotmäßigkeit in seinem +Korps wich seiner Ruhe und Festigkeit. Kuinsan war nicht nur der +Schlüssel zum größeren Sutschau, sondern überhaupt zur Hälfte des +rebellischen Territoriums. Die Stadt hatte eine ausgezeichnete Lage; +in ihrer Mitte erhob sich inselartig, mit einer Pagode gekrönt, ein +Hügel. Der Angriff konnte somit genau beobachtet werden, und zwei oder +drei richtig aufgepflanzte Geschütze hätten die Stadt zur beinahe +unnahbaren Festung gemacht. Der Graben um die Stadt her war über +hundert Fuß breit. Die Garnison bestand aus zwölf- bis fünfzehntausend +Taipings unter einem Anführer Namens Moh Wang. Der kaiserliche General +Tsching war für einen Angriff von der Ostseite her, aber Gordons +Kriegsgenie geriet auf eine andere Taktik, und in der That fiel die +Stadt lediglich infolge seiner Manöver mit einem kleinen Flußdampfer.</p> + +<p>Er hatte bald entdeckt, daß Kuinsan bei seiner ausgezeichneten Lage +doch einen schwachen Punkt hatte, indem die Verbindung mit Sutschau in +einer einzigen Straße bestand, die teilweise an einem See hinführte, +teilweise zwischen einem Netz von Kanälen lag. Er brachte seinen +Dampfer Hyson zur Stelle, und die Verbindung zwischen den beiden +Städten war abgeschnitten. Der Hyson trug einen Zweiunddreißigpfünder +und einen zwölfpfündigen Mörser. Der Kapitän war ein kühner +Amerikaner, und ihm folgte eine Flottille von etwa fünfzig kleinen +Segelboten mit Kanonen. Der Hyson that gute Arbeit und säuberte sehr +bald die Wasserstraße von allen Taipings, als wäre er ein mächtiges +Kriegsschiff gewesen; ja einmal dampfte das kühne Boot mit Gordon an +Bord bis unter die Mauern von Sutschau.</p> + +<p>Mittlerweile fand im großen Kanal ein hitziges Gefecht statt. Die +Besatzung hatte nach Sonnenuntergang einen Ausfall gemacht. So +zahlreich und so verzweifelt waren die Taipings, daß sie unter +einem tüchtigen Anführer die »stets siegreiche Armee« völlig hätten +aufreiben können. Mitten im Getümmel erschien der Hyson mit dem +Aufblitzen und Donner seiner Geschütze, und — was den Taipings +offenbar einen tollen Schrecken einjagte — mit dem schrillen Pfiff +seiner Dampfmaschine. Der Feind geriet in verworrene<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> Flucht, und +ehe der Morgen tagte, war Kuinsan gefallen, ohne nur ein einzigesmal +gestürmt worden zu sein. Von da an hatten die Krieger des großen +Friedens eine heilsame Furcht vor dem Namen Gordon. Achthundert Mann +der feindlichen Besatzung wurden gefangen genommen, und die meisten +von diesen nahmen Dienst bei dem Sieger; doch war dies nicht der +zehnte Teil der Mannschaft, und nur wenige Flüchtlinge erreichten +Sutschau; der größte Teil muß unterwegs umgekommen sein. Gordon hatte +diesen wunderbaren Erfolg fast ohne Opfer erreicht; zwei im Kampf +Gefallene und fünf Ertrunkene war der ganze Verlust auf seiner Seite. +Gordons Grundsatz, alle Gefangenen, die es begehrten, in seine Reihen +aufzunehmen, bewährte sich glänzend. Feinde wurden zu Freunden. +Auch gestattete er, so viel an ihm lag, nie, daß die Kaiserlichen +Grausamkeiten verübten; Gefangene müßten so behandelt werden, sagte +er, wie es Soldaten zukomme, die sich einem britischen Offizier +ergeben. Sein eigener Bericht lautet:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Die Rebellen haben diesmal tüchtig Schläge gekriegt; ich glaube +nicht, daß sie sich noch lange zur Wehr setzen werden, da wir ihnen +durch unsere Dampfer so weit überlegen sind. Kuinsan ist eine große +Stadt, über fünf Kilometer im Umkreis, ihren Mittelpunkt bildet ein +sechshundert Fuß hoher Hügel, von dem man die Gegend stundenweit +beherrscht. Es ist ein merkwürdiges Land, voller Wasserstraßen und +von großem Reichtum. Durch die Eroberung dieser Stadt ist es der +kaiserlichen Regierung nun ermöglicht, die reichen Korndistrikte +u. s. w. zu beschützen; die Landleute sind so dankbar, daß es eine +Freude ist, sie zu sehen. Sie waren in schlimmer Lage vorher, mitten +zwischen den Rebellen und den Kaiserlichen; sie waren aber schlau +genug, sich einigermaßen dadurch zu helfen, daß jedes Dorf sich zwei +Bürgermeister hielt, einen kaiserlichen und einen, der vorgab, es mit +den Rebellen zu halten. Auf diese Weise entrichteten sie Steuern an +beide. Was ich nun weiter zu sagen habe, könnte für Prahlerei gelten, +aber ich weiß, daß Ihr alles hören wollt. Der Gouverneur der Provinz, +Prinz Kung, und alle Mandarine sind froh, daß ich die Anführerschaft +übernommen habe. Ich bin ein Tsung-Ping, d. h. ein Mandarin zum +roten Knopf; wie Ihr Euch denken könnt, trage ich die Kleidung aber +nicht. Sie schreiben mir sehr schmeichelhafte Briefe und sind äußerst +verbindlich.<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> Ich mag die Chinesen auch gut leiden, aber Takt ist +nötig im Umgang mit ihnen, und über ihr Phlegma zornig werden nützt +gar nichts; ich lasse es daher bleiben .... Sollten Gerüchte von +begangenen Grausamkeiten Euch erreichen, so glaubt sie nicht! Wir +haben an achthundert Gefangene gemacht; eine gute Anzahl derselben +ist jetzt meiner Garde eingereiht und hat seither gegen ihre alten +Freunde, die Rebellen, mitgefochten. Wenn ich Zeit hätte, könnte +ich lange Geschichten erzählen, wie Leute aus entfernten Provinzen +einander hier treffen, oder wie die Bauern unter meinen Soldaten +Rebellen erkennen, die vor noch nicht langer Zeit ihre Dörfer +geplündert haben — aber ich habe keine Zeit! Ich nahm einen Mandarin +gefangen, der drei Jahre lang bei den Rebellen war; er hat jetzt eine +Kugel in der Wange, die er sich neulich im Gefecht gegen die Taipings +geholt hat. Die Ex-Rebellen, die ich in meine Garde aufnahm, waren +alle Schlangenträger oder Hauptleute. Sowohl bei den Rebellen als bei +den Kaiserlichen sind die Schlangenstandarten nämlich die Abzeichen +der Anführer. Wo man eine sieht, ist immer ein Befehlshaber in der +Nähe. Ihr Verschwinden bedeutet den Rückzug des Feindes. In Taitsan +hielten die Schlangen auch bis zuletzt, das bewies, daß der Kampf +ein hartnäckiger war. Die Wangs wußten nach der Einnahme von Fusan, +daß ein »neuer Engländer im Kommando war, aber sie erwarteten ihn +nicht in Taitsan.« Äußerst seltsame Gerüchte sind im Umlauf, so z. B. +sollen die Rebellen mir vierzigtausend Mark geschenkt haben, damit +ich Kuinsan in Ruhe lasse. Alle Mandarine hatten davon gehört, und +wenn sie es glaubten, so mußte es sie wunder nehmen, daß wir trotzdem +vor Kuinsan erschienen. Bu Wang und zehn andere Wangs ertranken auf +dem Rückzug; jener war Befehlshaber von Sutschau und schrieb einen +großthuenden Brief an General Staveley, wir wären nur ein Krämervolk, +und er habe Soldaten wie Sand am Meer. Ich meinesteils hielt die +Rebellen nie für so stark als man annahm; es sind nicht viel tüchtige +Soldaten unter ihnen. Tschung Wang, der Getreue, ist anderwärts +beschäftigt und soll nicht beabsichtigen, wieder nach Sutschau +zurückzukehren. Die Einwohner von Sutschau haben ihre Weiber und ihre +Habe in die Wassergegend hinter die Stadt geflüchtet. Ich fürchte, +die Wangs werden lange Gesichter machen, wenn sie dort auf unsere +drei Dampfer stoßen, was ihnen leicht blühen kann.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span></p> + +<p>Eine gründliche Kenntnis des Landes ist unschätzbar, und ich habe +die Gegend genau studiert. Tschanzu ist etwa sechzig Kilometer von +hier. Ich bin öfters dort gewesen; die Leute fühlen sich jetzt sicher +dort, seit Kuinsan gefallen ist. Das Entsetzen der Rebellen über +unsere Dampfer ist ein großes, besonders wenn Signal gepfiffen wird, +das geht über ihr Fassungsvermögen .... Wir haben mehrere ehemalige +Diener des Bu Wang unter den Gefangenen, und ihre Berichte sind +ergötzlich. Die Wangs hatten beschlossen, meinen Dampfer in die Luft +zu sprengen, und erließen eine Proklamation, daß Pulver gelegt werde; +sie vergaßen nur die Hauptsache, nämlich <em class="gesperrt">wie</em> das geschehen +könnte — darüber hat allem nach nichts verlautet ...</p> + +<p>Ich habe mehrere englische Offiziere, und wir begnügen uns mit der +Montur, die wir auftreiben können; die Soldaten sind in hellen Lumpen +... Ja, es ist wie Du sagst, der Bezahlung wegen bin ich nicht +hier. Ich halte es immer mehr für ein gutes Werk, den Aufstand zu +unterdrücken, und Du würdest ebenso denken, könntest Du es nur einmal +mit ansehen, mit welch dankbarer Freude die Landleute ihre Freiheit +hinnehmen; die Rebellen sind ihre Tyrannen ... Die Verlegung des +Hauptquartiers war ein großes Stück Arbeit.«</p> +</div> + +<p>Gordon hatte nämlich beschlossen, Kuinsan jetzt zum Mittelpunkt seines +Unternehmens zu machen, und zwar ebensowohl der Lage wegen als mit +Rücksicht auf den nicht minder wichtigen Vorteil, daß er sein Korps +dort in strammerer Mannszucht würde halten können als in Sung-kiang, +wo die Tradition von Ward und Burgevine noch nachwirkte. Seine Leute +aber billigten den Beschluß keineswegs. In Sung-kiang konnten sie +etwaige Beute besser los werden, während das Plünderungsverbot in +Kuinsan überhaupt so leicht nicht mehr umgangen werden konnte. Die +Unbotmäßigkeit wuchs zur Meuterei. Die Artillerie weigerte sich +anzutreten. Sie würden die Offiziere zusammenschießen, ließen sie +Gordon schriftlich androhen. Dieser aber war ihnen gewachsen. Er rief +sofort sämtliche Unteroffiziere heraus, indem er nicht zweifelte, daß +unter diesen die Rädelsführer und Schreiber des frechen Schriftstücks +sich befänden. Wer den Brief geschrieben, verlangte er zu wissen, und +warum das Regiment sich dem ergangenen Befehl widersetze. Störriges +Schweigen war die Antwort.<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> Darauf erklärte Gordon mit ruhiger +Bestimmtheit, er werde je den fünften Mann erschießen lassen, was mit +wildem Murren aufgenommen wurde. Ein Korporal zeichnete sich hierbei +besonders aus. Mit dem ihm eigenen Scharfblick erkannte Gordon seinen +Mann. Mit eigener Hand zog er den Korporal aus der Reihe und ließ ihn +von zwei dabeistehenden Infanteriesoldaten ohne weiteres erschießen. +Die andern erhielten eine Stunde Arrest mit der Erklärung, daß, wenn +alsdann der Antritt nicht erfolge und der Verfasser des Briefes nicht +genannt würde, je der fünfte Mann unter ihnen erschossen werden +solle. Das wirkte; das Regiment trat an, und als Gordon die verlangte +Mitteilung erhielt, ergab sich's, daß der Rädelsführer eben jener +Korporal war, dem er die verdiente Strafe hatte werden lassen.</p> + +<p>Die Einnahme von Sutschau war das nächste Ziel, aber erst im Dezember +wurde es erreicht. Kuinsan war im Mai gefallen.</p> + +<p>Die Pagodenstadt Sutschau liegt am großen Kanal und ist von +Wasserwegen umgeben. Gordon beschloß, sie allmählich abzuschneiden, +indem er zu Wasser von allen Seiten näher rückte. Etwa fünfzehn +Kilometer südlich von Sutschau liegt Kahpu am Thaihusee, wo die +Rebellen zwei starke Forts innehatten, nicht weit davon die Stadt +Wokong. Als Schlüssel zu dem etwa achtzig Quadratkilometer großen +Thaihusee waren beide Orte von Wichtigkeit, außerdem beherrschten sie +die Verbindung zwischen Sutschau und den Taiping-Städten im Süden. +Dahin richtete Gordon deshalb seinen ersten Angriff und eroberte +beide Orte mit etwa zweitausendzweihundert Mann Infanterie und +Artillerie, sowie mit Hilfe zweier Kriegsboote, der »Feuerfliege« und +dem »Heimchen«. Auch hier zeigte es sich wieder, daß rasche Bewegung +Gordons Stärke war; so gab es z. B. einen ordentlichen Wettlauf nach +einer Verschanzung außerhalb Wokongs, welche die Rebellen vergessen +hatten zu besetzen. Als sie merkten, daß der Feind sich seine +Gelegenheit ersah, wollten sie das Versäumte geschwind noch nachholen +und machten sich kopfüber auf den Weg. Zwei Regimenter Gordons aber +waren hinter ihnen her, so daß die Taipings eigentlich nur sozusagen +zu einer Thür hinein und<span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span> zur andern wieder hinausgejagt wurden, den +Siegreichen den Posten überlassend.</p> + +<p>Viertausend Rebellen kapitulierten; fünfzehnhundert derselben sollte +Tsching unter seine Kaiserlichen aufnehmen, nachdem er sein Wort +gegeben hatte, sie gut zu behandeln. Es dauerte aber nicht lange, +da hörte Gordon, Tsching habe trotz seinem Versprechen etliche +derselben enthauptet, eine Wortbrüchigkeit, welche Gordons ganzen +Zorn herausforderte. Überdies war er unzufrieden, weil der Sold +seiner Truppen seit einiger Zeit im Rückstande war. Er hatte ihnen +das Plündern verwehrt mit dem Versprechen einer regelmäßigen Löhnung; +nun entbehrten sie beides, und allgemeines Murren wurde laut. Es ist +bezeichnend, daß nach der Einnahme von Kuinsan, einem Erfolg, der +europäische Truppen mit flammender Begeisterung erfüllt hätte, die +Siegreichen in ziemlicher Anzahl davonliefen! Auch hierin liegt ein +Grund, warum Gordon nicht anders konnte, als Taiping-Überläufer zu +Rekruten zu machen! Durch Tschings zwecklose Grausamkeit wurde das Maß +seines Unmuts voll; er beschloß sein Kommando niederzulegen, und ritt +in dieser Absicht nach Schanghai. Als er am dritten August dort ankam, +fand er indessen eine Nachricht vor, die ihn alsbald umstimmte.</p> + +<p>Burgevine mit etwa dreihundert Mann europäischen Pöbels und einem +kleinen Dampfer hatte eben die Stadt verlassen, um sich den Rebellen +anzuschließen. Burgevine ein Wang! das war allerdings eine Neuigkeit, +die den Leuten von Schanghai nicht ganz einerlei war, und Gordon sah, +daß er der kaiserlichen Sache nicht den Rücken wenden durfte, wenn er +es nicht riskieren wollte, daß die »stets siegreiche Armee« sich ihrem +alten Anführer zuwenden und mit ihm zu den Taipings übergehen sollte.</p> + +<p>Sofort kehrte er nach Kuinsan zurück, und ernste Gedanken mochten ihn +auf seinem einsamen Ritte begleiten. Wie viel hing von der Stimmung +seines Korps ab! Die Leute konnten es nicht vergessen haben, wie +Burgevine seiner Zeit den kaiserlichen Zahlmeister prügelte, weil er +im Rückstande war, und wie er nie Anstand nahm selbst Tempelraub zu +begehen, wenn sich's darum handelte, die Siegreichen zu löhnen. Kein +Wunder, daß Gordon<span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span> bei seiner Rückkehr großer Aufregung begegnete; +seine Macht über die Geister machte sich aber auch jetzt wieder +geltend. Er schickte sich alsbald an, seine Stellung bei Kahpu zu +verstärken, und nicht zu früh, denn die mutig gewordenen Taipings +machten einen Überfall, wurden aber zurückgeschlagen; doch verlor +Gordon ein Kanonenboot. Burgevine war übrigens nicht bei diesem +Angriff; es hieß, er bilde eine Fremdenlegion in Sutschau. Gordon +hielt sich fürs nächste auf der Defensive.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Daß Burgevine sich den Rebellen angeschlossen hat, wird den Aufstand +ohne Zweifel verlängern, der sonst, nach menschlichem Ermessen, wohl +noch in diesem Jahr unterdrückt worden wäre, oder doch spätestens +im Laufe des Winters. Ich habe zu wenig Leute, um überall sein zu +können, auch ist bei der gegenwärtigen Sachlage doppelte Vorsicht +nötig. Die Kaiserlichen leiden an der Einbildung, daß sie die +Rebellen im offenen Felde schlagen können, was nicht der Fall ist +... Man sucht mich zu überreden, alsbald die Offensive zu ergreifen, +allein das Leben der Leute ist mir anvertraut, und ich will nichts +thun, was ich von vornherein für tollkühn halten muß. So weit sind +wir gut weggekommen, wir hatten in all diesen Gefechten nicht mehr +als dreißig bis vierzig Tote bei sechzig bis achtzig Verwundeten. +Es wäre wohl ein Unternehmen, um von sich reden zu machen, wenn +ich Sutschau eroberte ohne Verstärkung abzuwarten; aber ich will +nichts derartiges riskieren. Wokong ist unser, damit ist schon viel +gewonnen, und wenn ich durch die Einnahme von Wusieh Sutschau von +aller Verbindung abschneiden kann, wird es wohl nicht nötig sein, +die Stadt zu stürmen. Ich denke, die Taipings werden sie von selbst +räumen. Burgevine ist ein Thor und sieht nicht, was für Elend er +übers Land bringt ....«</p> +</div> + +<p>Unterm 11. September heißt es weiter:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Burgevines kleiner Dolmetscher ist zu uns übergelaufen und sagt, +daß sein Herr den Wangs allerlei von uns erzähle, was sie höchlich +interessiere. Er sei in guter Gesundheit, aber träge. Seine Anhänger +sind größtenteils Gesindel aus Schanghai .... Die Gegenwart von +Europäern (bezw. Amerikanern) hat die Rebellen in nichts gebessert; +sie sengen und brennen nach wie vor, wo und was sie können, und wir +haben eine Menge ausgehungerter Leute hier ....«</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span></p> + +<p>Unterm 25. September schreibt er aus dem Lager bei Sutschau:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich habe nun Stellung genommen, um die Kaiserlichen zu decken, +die sich in einer Entfernung von etwa fünftausend Fuß vor Sutschau +verschanzt haben ... Burgevine ist in Schanghai gewesen« — nämlich +um sich Munition zu verschaffen, bei welch tollkühnem Unterfangen er +beinahe in Gefangenschaft geriet.</p> +</div> + +<p>Am 30. September konnte Gordon bereits von Erfolg berichten:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Da die Kaiserlichen durch die Patatschau-Schanzen gehindert waren, +so beschloß ich, dieselben einzunehmen. Die Verteidigung war schwach +und unser Verlust bei der Erstürmung ein kaum nennenswerter — +fünf Verwundete .... Bei Patatschau ist eine merkwürdige Brücke, +sie besteht aus dreiundfünfzig Bogen und ist dreihundert Fuß lang. +Ich bedaure sagen zu müssen, daß sechsundzwanzig der Bogen gestern +zusammenfielen wie ein Kartenhaus, wobei zwei meiner Leute ums Leben +kamen, zehn andere retteten sich nur durch schleunige Flucht. Die +Bogen stürzten einer nach dem andern mit kolossalem Lärm zusammen, +und mein Boot wurde schier mit zertrümmert. Es ist mir sehr leid, +denn die Brücke war einzig in ihrer Art und sehr alt, eine wahre +Sehenswürdigkeit. Ich fürchte, ich bin am Einsturz schuld; ich wollte +nämlich einen Bogen wegnehmen lassen, um Raum für den Durchgang +eines Dampfers nach dem Thaihusee zu gewinnen, da brach die ganze +Geschichte zusammen, weil ein Bogen vom andern getragen war ... Die +Lage der Rebellen wird immer schlimmer; ich denke, es wird nicht +lange mehr dauern, bis ich den Fall von Sutschau melden kann. Wir +sind hier etwa drei Kilometer davon entfernt, am großen Kanal. Die +Dampfer legen den Taipings doch das Handwerk bedeutend.«</p> +</div> + +<p>Was den Sturz der Brücke betrifft, so bedarf Gordons Bericht der +Ergänzung. Er saß eines Abends allein auf der Brüstung jener Brücke +und rauchte seine Zigarre, als zwei Kugeln nach einander neben ihm +auf den Stein schlugen und abprallten. Diese Flintenschüsse, die ganz +»zufällige« waren, kamen aus seinem eigenen Lager, wo man nicht wußte, +daß er sich gerade daselbst aufhielt. Nach dem zweiten Schuß erhob er +sich und schickte sich an, zurückzurudern, um zu sehen was es gäbe. +Er war noch keinen Steinwurf von der Stelle entfernt, als der Teil +der Brücke, auf dem er gesessen, mit großem Gekrach einstürzte und +sein Boot in<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> nicht geringe Gefahr brachte. Die Hauptgefahr, der er +soeben entronnen, war natürlich die gewesen, selbst mit der Brücke zu +stürzen. Es ist charakteristisch, daß er die Sache in seinem Briefe +mit keinem Wort erwähnt! Diese Begebenheit ist eines jener Ereignisse, +die seine Leute auf den Glauben brachten, sein Leben sei gefeit.</p> + +<p>Dieser Glaube hatte bei seinen Chinesen in der That tiefe Wurzel +gefaßt. In keinem Gefecht sah man ihn selbst Waffen tragen, obschon er +es meist nötig fand, den Angriff persönlich zu leiten. Seine Offiziere +waren ja im ganzen sehr tapfere Leute, aber nicht immer dazu angethan, +dem verzweifelten Feind stand zu halten. Bei solchen Gelegenheiten +konnte man Gordon oft sehen, wie er diesen oder jenen Offizier ruhig +am Arm nahm und ihn mit sich in den dicksten Kugelregen führte. Er +kannte keine Furcht; ihm galt ein Musketenfeuer nicht mehr als ein +Hagelwetter. Die einzige »Waffe«, die er im Treffen führte, war sein +kleines spanisches Rohr, womit er die Leute dirigierte; seine Soldaten +aber, die ihn fast nur als Sieger kannten und ihn mit Staunen immer +kaltblütig und unversehrt sahen, meinten, es habe mit dem Röhrchen +eine besondere Bewandtnis. Als »Gordons Zauberstab« stand dasselbe +denn auch in glänzendem Rufe. Und dieser Ruf war etwas wert.</p> + +<p>Die in der Festung eingeschlossenen Europäer fanden sich mittlerweile +unter der Herrschaft der Taipings aufs gründlichste enttäuscht; es +kam zu Unterhandlungen zwischen Gordon und Burgevine. Eine Brücke bei +Patatschau war der neutrale Boden der Zusammenkünfte.</p> + +<p>Burgevine war ein amerikanischer Abenteurer vom reinsten Wasser, +Sohn eines französischen Offiziers aus der Zeit des ersten Napoleon, +in Nord-Karolina geboren. Er war nicht ohne Bildung, und der Traum +seines Lebens scheint der gewesen zu sein, ein Kaiserreich zu +gründen. Kalifornien, Australien, Hawaii, Indien und schließlich +China waren der Schauplatz seiner Unternehmungen. Trunksucht soll +ihn schließlich zu Grunde gerichtet haben. Seine Entlassung aus dem +Sung-kiang-Corps hatte er nicht verwinden können, und er schloß sich +den Taipings an, nur<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> um sich an den Kaiserlichen zu rächen. In +seiner ersten Unterredung mit Gordon erklärte er, er sei der Rebellen +überdrüssig und wolle sie mit seinem Anhang wieder verlassen, wenn +er die Gewißheit erhalten könne, daß die Kaiserlichen ihn für seinen +Verrat nicht zur Verantwortung ziehen würden. Gordon übernahm es, die +Bürgschaft zu leisten, und war alsbald bereit, sowohl Burgevine als +andere Europäer, die dazu Lust hätten, unter seiner Fahne dienen zu +lassen. Als aber Gordon und Burgevine das zweitemal zusammenkamen, +gab der letztere seine wahre Gesinnung kund. Er und Gordon könnten +gemeinschaftliche Sache machen, meinte er, mit einander der Stadt +Sutschau habhaft werden, unter Ausschluß beider, der Rebellen und +der Kaiserlichen, sich der in dieser Stadt aufgehäuften Schätze +versichern, eine größere Armee heranbilden, nach Peking marschieren +und das geträumte Kaiserreich gründen. Man kann sich denken, was +Gordon dazu wird gesagt haben.</p> + +<p>Übrigens desertierten die Europäer in der Stadt einige Wochen später +massenweise, und zwar mit Gordons Hilfe. So groß war ihr Vertrauen zu +dem feindlichen Landsmann, daß sie ihm sagen ließen, sie gedächten +einen Ausfall zu machen in der Absicht, sich seinem Schutz zu ergeben. +Auf ein Raketensignal hin wollten sie den Dampfer Hyson entern. +Dies geschah denn auch mit solchem Eklat, daß Tausende von Taipings +hinter ihnen herstürmten, in der Meinung, es handle sich um einen +wirklichen Überfall; der Hyson aber trug die Flüchtlinge davon, deren +Abschiedsgrüße der Zweiunddreißig-Pfünder energisch vermittelte. +Burgevine mit etlichen anderen war indessen zurückgeblieben; der +Moh Wang habe Verdacht geschöpft, hieß es, weshalb sie die Sache +beschleunigt hätten, ohne auf die Säumigen zu warten.</p> + +<p>Die Mehrzahl dieser Überläufer waren Matrosen, die nach Sutschau +gelockt worden waren, ohne zu wissen, wohin sie gingen. Ausgehungert +und zerlumpt wie sie waren, wußten sie ihrer Dankbarkeit kein Ende, +und fast alle baten um die Erlaubnis, dieselbe dadurch mit der That +beweisen zu dürfen, daß sie sich der siegreichen Armee einreihen +ließen. Gordon aber, sobald er hörte, daß Burgevine in der Stadt +zurückgeblieben und somit der Rache<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> der Taipings hilflos überlassen +war, richtete (16. Okt.) folgende Zuschrift an die beiden Haupt-Wangs +der Belagerten:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es kann Ew. Exzellenzen nicht verborgen geblieben sein, daß ich +bei jeder Gelegenheit, wo es in meiner Macht stand, Ihren in unsere +Gefangenschaft geratenen Soldaten Barmherzigkeit erwiesen habe und +es mir habe angelegen sein lassen, die kaiserlichen Behörden vor +Grausamkeiten zurückzuhalten. Die Wahrheit dieser meiner Aussage kann +Ihnen von solchen, die persönliche Erfahrung haben, bestätigt werden; +denn mancher von Ihren Soldaten muß, nachdem Wokong in unsere Hände +gefallen war, wieder nach Sutschau zurückgekehrt sein, ich habe es +wenigstens keinem verwehrt, der es wünschte.</p> + +<p>»Hierauf Bezug nehmend, erlaube ich mir Ew. Exzellenzen zu ersuchen, +die Lage der Europäer in Ihren Diensten wohlwollend zu beurteilen. +Ein Soldat, er mag kämpfen für wen er will, muß von loyalen Gedanken +getragen werden, wenn er seine Pflicht thun soll. Und wenn einer +gegen seinen Willen zu irgend einer Fahne gezwungen wird, so wird +er nicht nur ein schlechter Soldat sein, sondern außerdem auch ein +Unruhestifter im Regiment, den man nur hüten muß. Sollten nun solche +Europäer in Sutschau sein, so erlaube ich mir, an Ew. Exzellenzen die +Frage zu richten, ob es nicht viel besser wäre, solche unbehindert +ziehen zu lassen, wenn das ihr Wunsch sein sollte. Sie selbst würden +damit eine ständige Ursache des Argwohns los werden und sich die +Billigung fremder Mächte erwerben; während Sie außerdem die Gewißheit +hätten, daß Ihnen nur von außen ein Feind droht und nicht auch im +eigenen Lager. Ew. Exzellenzen denken vielleicht, daß durch ein paar +Hinrichtungen innere Ruhe bald hergestellt wäre; Sie würden dann aber +ein Verbrechen auf sich laden, das sich früher oder später rächen +müßte. Bei meinen Truppen steht es den Offizieren wie den Gemeinen +frei, zu kommen und zu gehen wie es ihnen beliebt; und obschon das +manchmal unbequem ist, so bin ich doch andererseits dadurch vor +innerem Verrat sicher. Ew. Exzellenzen wollen sich darauf verlassen, +daß Sie es zu bereuen haben werden, wenn Sie den in Ihrem Dienst +sich befindenden Europäern ans Leben gehen oder sie wider ihren +Willen zurückhalten. Dieselben haben nichts verbrochen, sie haben +Ihnen im Gegenteil eine Zeit lang gedient; und wenn sie nun zu +entfliehen suchen, so ist das nichts anderes als was jeder Mensch, +ja jedes Tier in mißlicher Lage zu<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> thun strebt .... Persönlichen +Vorteil habe ich durchaus keinen dabei, ob die betreffenden in +der Stadt zurückgehalten werden oder dieselbe verlassen. Wenn ich +ihretwegen an Sie appelliere, so geschieht es lediglich aus Gründen +der Menschlichkeit .... Daß diese Europäer mir Mitteilungen machen +könnten, haben Ew. Exzellenzen durchaus nicht zu fürchten; Ihre +Truppenstärke und Kriegsmittel sind mir längst bekannt, ich brauche +mich daher nicht erst von ihnen belehren zu lassen.</p> + +<p>»Sollte ich hinsichtlich dieser Männer vergeblich an Sie appellieren, +so schicken Sie mir wenigstens die Verwundeten unter ihnen und +glauben Sie, daß Sie damit eine That thun, die Sie nie bereuen werden.</p> + +<p>»Ich schreibe dies eigenhändig, da ich mich nicht auf einen +dolmetschenden Schriftführer verlassen will. In der Hoffnung, daß Sie +meine Bitte gewähren, schließe ich</p> + +<p class="center">Ew. Exzellenzen gehorsamer Diener</p> + +<p class="right"><em class="gesperrt">C. G. Gordon</em>,<br> +Major-Kommandant.«</p><br> + +</div> + +<p>Burgevine, der diese Teilnahme an seinem Schicksal durchaus nicht +verdient hatte, wurde freigegeben und verschwand für immer. In einem +Brief an die Seinen beschreibt Gordon die Sache und fährt fort:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Moh Wang fragte den Boten genau aus, u. a. ob es möglich wäre, mich +zu bestechen, und mußte sich mit einem Nein begnügen. »Wird Gordon +die Stadt einnehmen?« »Jedenfalls«, lautete die Antwort, und er +schwieg nachdenklich. Ich höre, daß die Stadt in großer Verwirrung +ist; es ist nicht sowohl die Flucht der Europäer, was die Taipings +beunruhigt, als vielmehr das Bewußtsein, daß die Europäer die Sache +für verloren halten. Burgevine soll gut behandelt werden; ich werde +thun, was ich kann, ihn loszubringen, und dann, sobald sich einer +findet, der meine Stelle einzunehmen imstande ist, werde ich mich +zurückziehen ... an Ruhm und Ehren ist mir nicht gelegen ... Ich +hoffe, daß die chinesische Regierung sich hinlänglich davon überzeugt +hat, daß ich ehrlich an ihr gehandelt habe und daß nicht alle +Engländer von Geldgier beseelt sind. Daß sie diese Überzeugung in der +That gewonnen haben, das glaube ich; wenigstens kommen sie mir mit +vollem Vertrauen entgegen.«</p> +</div> + +<p>Die Tage von Sutschau waren gezählt. Die Kaiserlichen hatten +südwestlich um die Stadt her feste Stellungen inne, während<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> Gordon +mit seinem Belagerungstrain und vor allem mit dem Dampfer Hyson die +nördliche und östliche Seite gesperrt hielt. Der Hyson erwies sich +stets als vorzügliches Kampfmittel; bei einer Gelegenheit wurden +dreizehnhundert Taipings gefangen genommen, und ebensoviel ertranken +bei einem Fluchtversuch. Aber die kaiserlichen Verbündeten unter +ihrem Anführer Tsching waren es, die durch ungeschickte Taktik Gordon +immer wieder an der Ausführung eines umfassenden Planes hinderten. In +Schanghai und anderwärts wurden Stimmen laut, daß, wenn Gordon nicht +den Gesammtoberbefehl erhalte, man den Fall von Sutschau nie erleben +würde. Aber nicht nur hat er diesen Oberbefehl nie erhalten, sondern +sein eigenes Korps geriet wieder an den Rand der Meuterei und war +außerdem von Krankheit heimgesucht. Aber Gordon hatte in sich die +Kraft eines Kriegsheeres.</p> + +<p>Zwar wurden die Siegreichen nun mehrmals zurückgeworfen, einmal +lediglich infolge einer zur unrechten Zeit geleisteten Hilfe. Bald +aber kann Gordon wieder ein Gegenteil berichten.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wir mußten die Rebellen aufs neue aus Wokong verjagen, sie hatten +trotz ihrer neulichen gründlichen Niederlage daselbst die Kühnheit, +diesen Ort abermals zu besetzen. Ich schickte einen Dampfer hin, und +der Erfolg war ein glänzender Sieg, fast wie der bei Kuinsan und auch +aus ähnlicher Ursache. Die Rebellen waren nämlich genötigt, ihren +Rückzug auf einer engen Straße zwischen dem großen Kanal und anderen +Gewässern zu nehmen ...«</p> +</div> + +<p>Es war ein Weg, der oft lange Strecken nur drei bis vier Fuß breit +war und dann und wann kamen enge Brücken, die nur ein bis zwei Mann +auf einmal durchließen. Auf der ganzen Strecke des Rückzugs, fünfzehn +Kilometer weit, waren die Flüchtlinge unter dem Feuer der Dampfer und +hatten die verfolgenden Truppen hinter sich. Der Verlust der Taipings +war entsprechend.</p> + +<p>Am 1. November wurde Fort Liku erstürmt, etwa acht Kilometer nördlich +von Sutschau. Dabei ereignete sich folgendes: Einige Tage zuvor hatte +Gordon zufällig einen beschriebenen Zettel gefunden. Er erkannte +die Handschrift als die eines seiner Offiziere, Namens Perry, der +offenbar einem Rebellenfreund in Schanghai über das Korps berichtete. +Perry leugnete auch gar<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> nicht, entschuldigte sich aber damit, daß +seine Mitteilungen nicht aus böswilliger Absicht stammten, sondern +nur vertraulicherweise einem Bekannten gelten sollten. »Gut«, sagte +Gordon, »ich nehme Sie für diesmal bei Ihrem Wort und erwarte von +Ihnen, daß Sie beim nächsten ›hoffnungslosen‹ Gefecht vorne dran +sind.« Er selbst vergaß den Fall alsbald wieder, aber nach wenigen +Tagen waren beide nebeneinander vorne dran beim Erstürmen einer +Verschanzung. Eine Kugel traf Perry in den Mund, Gordon fing ihn in +seinen Armen auf — er war tot.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wir eroberten Liku im Sturmlauf«, berichtet Gordon. »Leutnant +Perry ist leider gefallen, er war ein guter Offizier. Sonst nur +drei Verwundete. Die Rebellen hielten tapfer Stand, hatten vierzig +bis sechzig Tote; wir machten sechzig Gefangene, eroberten drei +Kanonenboote und etwa vierzig andere Boote.«</p> +</div> + +<p>Zehn Tage später wurde ein anderer Ort Namens Wanti angegriffen, +der so mit Erdwällen verschanzt war, daß das Beschießen kaum einen +Eindruck machte; als Gordon aber den Ort eingeschlossen hatte, +stürzten die Taipings wie toll daraus hervor, es gab ein hitziges +Handgemenge, und nach einer Stunde war Wanti erobert. Gordon hatte +zwanzig Tote, darunter einen Offizier; die Rebellen dreihundertfünfzig +— sie waren nämlich unter das Feuer der Artillerie geraten — und +außerdem gab's sechshundert Gefangene.</p> + +<p>So wurde ein immer engerer Kreis um Sutschau gezogen. Die Wangs fingen +an, mutlos zu werden.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Uneinigkeit unter den Belagerten kann die Übergabe herbeiführen«, +schreibt Gordon; »sie haben nichts mehr als für zwei Monate Reis +... Mauding am großen Kanal beabsichtigte ich zunächst durch zwei +Dampfer angreifen zu lassen; es ist nur eine Stunde von hier und +die Rebellen dort haben gar keine andere Wahl als sich zu ergeben. +Die Kaiserlichen reden davon, ihnen Garantie anzubieten, daß ihnen +das Leben geschenkt werde; die meisten wären ohne weiteres damit +einverstanden!«</p> +</div> + +<p>Wir werden bald sehen, was es mit solchen Versprechungen +kaiserlicherseits auf sich hatte, und daß auch in China ein Treubruch +Böses nach sich zieht.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span></p> + +<h3>3. Der Fall von Sutschau und der Mord der Könige.</h3> + +<p>Die Belagerung war vollständig; an vierzehntausend Mann umschlossen +die Stadt, von denen drei- bis viertausend unter Gordons Befehl +standen. Außerdem waren noch etwa fünfundzwanzigtausend Mann +kaiserliche Truppen in der Nähe; Fusan war ihr Zentrum. Die Taipings +zählten vierzigtausend in der belagerten Stadt, zwanzigtausend in +Wusieh und weitere achtzehntausend zu Matantschiao, wo Tschung Wang, +der Getreue, den großen Kanal beherrschte.</p> + +<p>Gordon wußte all dies, aber er wußte auch, daß der Getreue nur auf die +Gefahr hin näher rücken konnte, Nanking bloßzustellen und Hangtschau +preiszugeben. Tschung selbst war sich darüber klar, daß Nanking hart +bedrängt war und daß der Fall der Hauptstadt dem »großen Frieden« +den Todesstoß versetzen würde. Die Außenwerke von Nanking waren zum +Teil schon in Feindeshand. Gordon wußte dies, denn die Kaiserlichen +hatten eine Staffette abgefangen; und er beschloß, Sutschau auf der +Nordseite zu stürmen. Der Angriff geschah nachts, mißlang aber, denn +die innere Reihe der Außenwerke war stark befestigt und wohl bemannt. +Die Angreifenden trugen weiße Turbane, um sich nächtlicherweile +untereinander zu erkennen. Es schien zuerst, als ob der Überfall +gelingen sollte. Gordon an der Spitze seiner Vorlinien hatte den +Wall schon erstiegen, aber ein mächtiges Feuer der plötzlich in +Masse erscheinenden Taipings hinderte seine Unterstützungskolonnen +am Vordringen, und so mußte auch er wieder zurückweichen. Ein Kampf +bei Nacht mochte den Rebellen übrigens nicht behagen; wirklichen Mut +schien nur noch der Moh Wang zu haben, der sich wie ein Löwe in den +vordersten Reihen wehrte, ohne Schuhe und ohne Strümpfe mitten unter +den Gemeinen kämpfend. Zwanzig Europäer hielten sich zu ihm.</p> + +<p>Am andern Morgen hatte General Tsching eine Unterredung mit dem +Taiping Kong Wang und erfuhr von diesem, daß unter den Wangs +in Sutschau große Uneinigkeit herrsche; außer dem Moh Wang und +fünfunddreißig zu ihm haltenden Unterbefehlshabern wären die Anführer +bereit, mit dreißigtausend Mann zu<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> kapitulieren. Denn trotz des +zurückgeschlagenen nächtlichen Angriffs wüßten die Wangs nur zu +gut, daß Sutschau fallen müsse; sie schlügen daher vor, daß Gordon, +um ihnen einen gewissen Schein zu retten, einen zweiten Angriff +aufs Ostthor mache, wobei sie dem Moh Wang den Rückweg in die +Stadt abzuschneiden gedächten, um dann ihrerseits mit dem Feind zu +unterhandeln.</p> + +<p>Am 29. November schoß Gordons Artillerie die Palissadenverschanzung +zusammen und der Angriff erfolgte. Es war eine heiße Arbeit. Gräben +voll Wasser mußten durchschwommen und Wälle erstiegen werden. Der +Getreue selbst war von Wusieh her zu Hilfe gekommen und verteidigte +die Stadt. Da ereignete es sich, daß Gordon, der mit einer Handvoll +Leute ungestüm vordrang, plötzlich einen Haufen Taipings im Rücken +hatte und so von den Seinen abgeschnitten war. Zurück konnte er +nicht, wollte es auch nicht, also vorwärts! Er eroberte eine Redoute +und hielt sich, bis Verstärkung sich zu ihm durchschlagen konnte. +Die errungene Position, die er fast allein gewonnen, kam einem +vollständigen Siege gleich, aber er war teuer erkauft. Neun Offiziere, +meist Engländer, waren gefallen, dazu fünfzig Gemeine und es gab viele +Verwundete. Aber am folgenden Tag konnte er eine Proklamation an seine +Leute erlassen des Inhaltes, daß Sutschau faktisch erobert sei.</p> + +<p>Es dauerte nicht lange, so hatten Gordon und der kaiserliche General +Tsching eine Zusammenkunft mit den Wangs. Immer noch besorgt, sich +den Schein zu wahren, schlugen diese jetzt vor, daß ein Angriff auf +die Stadt selbst geschähe, wobei sie versprachen, sich nicht bei der +Abwehr zu beteiligen, vorausgesetzt, daß die Kaiserlichen ihnen bei +der Einnahme die persönliche Sicherheit garantierten. Selbst unter +solchen Umständen war der Angriff mit Schwierigkeiten verbunden; die +Stürmenden konnten nicht viel über fünftausend Mann beibringen, ein +breiter Graben umgab die Stadt und vom Ostthore hin zog sich eine +unabsehbare Reihe von Schanzen. Als der Na Wang Gordon vorschlug, +die Stadt im Sturm zu nehmen, erklärte dieser daher rundweg, daß es +dann unmöglich sein würde, den Soldaten das Plündern und Brennen zu +verbieten, und fügte hinzu, wenn es den Wangs<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> wirklich ernst sei mit +ihren Vorschlägen, sie ihre Aufrichtigkeit damit bekunden sollten, daß +sie dem Feinde ein Thor überließen; wollten sie das nicht, so sollten +sie die Stadt entweder räumen oder um den Besitz fortkämpfen, so lange +sie sich würden halten können. Daraufhin erklärten sie sich bereit, +die Übergabe der Stadt durch Überlassen eines der Thore ins Werk +zu setzen; und während General Tsching die Unterhandlungen zu Ende +führte, machte Gordon sich alsbald auf den Weg, um beim Gouverneur die +Sicherheit der Besatzung zu beantragen.</p> + +<p>Übrigens war die Übergabe noch nicht vollzogen. Als der tapfere +Moh Wang erfuhr, was seine Mit-Wangs im Schild führten, erfaßte +ihn ein gewaltiger Ingrimm, und er versammelte sie alsbald um sich +zum Kriegsrat. Er war der Oberbefehlshaber der Stadt. Es mag eine +seltsame Szene gewesen sein, als nach der festlichen Mahlzeit und dem +obligatorischen Gottesdienst diese Würdenträger mit ihren Kronen und +Königsgewändern sich im Halbkreis um den Moh Wang scharten. Sofort kam +es zu einem Wortwechsel. »Übergabe!« schrien die Wangs durcheinander. +»Wir halten Sutschau bis zum letzten Mann!« entschied der Moh Wang. Da +fuhr der Kong Wang auf, den Königsmantel von sich werfend, und stieß +seinen Dolch dem Moh Wang neunmal in den Rücken. Miteinander trugen +sie den Gemordeten hinaus und zerstückten seinen Leichnam. Gordon +erfuhr diese Mordthat, als er eben von seinem Liebesritt zurückkehrte +und das Versprechen von Li mitbrachte, dem Moh Wang und seinen +Gefährten solle kein Leids geschehen. Er hatte den Moh Wang um seiner +mannhaften Tapferkeit willen hochgeschätzt.</p> + +<p>In jener Nacht ergab sich Sutschau.</p> + +<p>Um, wenigstens so viel an ihm lag, die Plünderung zu verhüten, +zog Gordon sein Korps auf einige Entfernung von der Stadt zurück, +verlangte aber in Anerkennung ihrer Leistungen doppelte Löhnung +für die Truppen auf zwei Monate. Allein Li handelte die Belohnung +auf einen Monat herunter, was die Soldaten so verdroß, daß ihr +unzufriedenes Gemurre fast in offene Meuterei überging. Ein paar +Stunden Plünderung wäre ihnen lieber gewesen als alle Löhnung. Gordon +konnte sich nur<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> damit helfen, daß er seine Siegreichen nach Kuinsan +zurück marschieren ließ.</p> + +<p>Was die nun folgenden Ereignisse betrifft, so mochte Gordon füglich +erwarten, daß er eine Stimme im Rat habe, besonders rücksichtlich des +Schicksals der Wangs. Ohne ihn und seine Leute hätten dieselben noch +lange stand gehalten; und er, der sein eignes Leben nie der Gefahr +entzog, dessen Todesverachtung die Armee mit Siegesmut erfüllte, +mochte wohl denken, daß er vor allen das Recht habe, dem überwundenen +Feind das Leben zu schenken. Li und Tsching wußten auch recht wohl, +daß eine menschliche Behandlung der Überwundenen nach europäischen, +bezw. nach christlichen Grundsätzen beobachtet werden müsse, wo Gordon +mitzureden hatte. Li hatte es diesem bestimmt zugesagt, daß Gnade +vor Recht ergehen solle, hatte ihm sozusagen das Leben der Wangs +geschenkt. Wie wurde aber dieses Versprechen gehalten!</p> + +<p>Von Kuinsan zurückkehrend, betrat Gordon, nichts ahnend, die gefallene +Stadt, von seinem jungen Dolmetscher begleitet. Er begab sich nach des +Na Wang Wohnung. Dort fand er sämtliche Wangs im Begriff aufzusitzen. +Li erwarte sie außerhalb der Stadt, um die Schlüssel der Thore von +ihnen entgegenzunehmen. Es sei alles in Ordnung, versicherte Na Wang, +und daraufhin sah Gordon sie ruhig ziehen, um so mehr, als Tsching ihn +erst kürzlich versichert hatte, der Gouverneur habe eine allgemeine +Amnestie erlassen. In aller Gemütsruhe schlenderte Gordon durch sie +Stadt, sorgte für des Moh Wang Begräbnis und erreichte nach einiger +Zeit das Ostthor, wo ein Haufe Kaiserlicher ihm lärmend entgegen kam. +Er blieb stehen und forderte die Soldaten zu ruhigerem Benehmen auf, +damit sie die Einwohner nicht unnötig alarmierten. Während er noch +redete, betrat der General Tsching selbst die Stadt und erblaßte, als +er Gordon sah. Dieser erkundigte sich alsbald nach den Wangs, die der +Zeit nach längst von ihrer Audienz zurück sein mußten, worauf Tsching +etwas hervorstotterte und sich in Ausreden verwirrte. Da schöpfte +Gordon Verdacht und kehrte eiligst nach des Na Wang Hause zurück. +Er fand es zerstört; die Plünderung hatte begonnen. Ein Oheim des +Na Wang, der ratlos umherlief, bat ihn inständig, mit ihm<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> in seine +Wohnung zu gehen, um ihm behilflich zu sein, die Frauen des Na Wang +in Sicherheit zu bringen. Er zögerte einen Augenblick, waffenlos wie +er war, allein das Weibervolk erbarmte ihn; er beschloß, der Bitte +Folge zu leisten und alsdann mit Hilfe seiner Leute dem Plündern der +Kaiserlichen wo möglich zu steuern.</p> + +<p>Man sollte denken, daß Li den heldenmütigen Gordon, dem er so viel +verdankte, wenigstens vor dem Betreten der Stadt hätte warnen +lassen; aber davon war keine Rede. So hatte sich Gordon in der That +unwissentlich als Geisel gestellt, während der treubrüchige Futai +die Wangs draußen enthaupten ließ. Die lärmenden Kaiserlichen, denen +er begegnete, kamen gerade von der Hinrichtung, der Tsching selbst +beigewohnt hatte. Gordons Lage war um so bedenklicher, als er sich +in völliger Unwissenheit befand. Hätten die Taipings, die alsbald +zu Tausenden das Haus umstellten, mehr gewußt als er, er wäre nicht +lebendig aus ihren Händen gekommen. So aber betrachteten sie ihn +als Geisel, bis sie ihre Anführer wieder sähen. Bis zum folgenden +Morgen befand er sich völlig hilflos unter den Taipings, die von der +vertragswidrigen Plünderung wohl auf Schlimmeres schließen mochten; +aber es geschah ihm kein Leid. Wer weiß, ob die Leute nicht halb +unbewußt in ihm den festen Mann erkannten, der ihnen Treue halten +würde, wenn alle anderen sie brächen. Jedenfalls hat wohl selten ein +Heerführer inmitten seiner geschlagenen Feinde dem Tod näher ins Auge +geschaut als er; allein über Gordon wachte ein Höherer, dem er diente +und der ihn zu noch Größerem brauchen wollte.</p> + +<p>Am nächsten Morgen hatte er die Taipings soweit gebracht, daß +sie ihm gestatteten, seinen Dolmetscher mit einem Brief an sein +Boot zu entsenden, das vor dem Südthor vor Anker lag. Nichts kann +bezeichnender für unsern Helden sein, als die Thatsache, daß das +Schreiben auch nicht ein Wort über seine eigene Lage enthielt, wohl +aber den Befehl an den Kapitän seiner Flottille, den Gouverneur +Li gefangen zu nehmen und ihn festzuhalten, bis die Wangs in +Sicherheit wären, ein prächtiger Plan, der aber leider mißlang. +Der Taipingführer, der den Dolmetscher begleitete, kam allein mit +der Nachricht zurück, die<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> Kaiserlichen hätten dem Jungen den +Brief abgenommen und denselben zerrissen. Darauf hin gestatteten +die Taipings ihrem Gefangenen, sich selbst auf den Weg zu machen. +Unterwegs wurde auch er von Kaiserlichen überfallen, die ihn wohl +nicht kannten, aber es gelang ihm von ihnen loszukommen und das +Ostthor zu erreichen, wo seine Leibwache lag. Diese entsandte er nun +sofort zum Schutze der Taipings, die ihn die Nacht durch festgehalten +hatten.</p> + +<p>Es war immer noch sein Vorsatz, den Li gefangen zu nehmen. Während er +zu diesem Zweck auf seinen Dampfer wartete, stellte Tsching sich zu +einer Unterredung ein; aber Gordon weigerte ihm das Wort. Da schickte +der General einen seiner Offiziere, aber diesem fehlte der Mut, dem +entrüsteten Briten die Wahrheit zu sagen. Auf Gordons Frage nach den +Wangs entgegnete er, er wisse nichts, doch sei des Na Wang junger Sohn +in der Nähe, der werde wohl Bescheid geben können. Und von dem Sohne +eines der Gemordeten erfuhr denn Gordon endlich, daß bei Gelegenheit +der Audienz die Hinrichtung stattgefunden hatte. Er ließ sich sofort +übers Wasser rudern und fand die kopflosen Leichname der Wangs +zerhackt und zerstückt.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich fand sechs Leichen«, schrieb er, »und erkannte des Na Wang Kopf.«</p> +</div> + +<p>Wohl selten in seinem Leben ist ihm etwas so nahe gegangen. Er +vergoß Thränen vor Leid und Entrüstung, vor Scham und Zorn. Überdies +erachtete er seine Ehre angegriffen durch die unmenschliche That. +Er hatte den Wangs zwar nicht sein Wort gegeben — das konnte er +nicht — aber er hatte von vornherein mit ihnen in der Voraussetzung +verhandelt, daß der Gouverneur sie anständig behandeln werde. Und +die Plünderung der Stadt gegen seinen Willen und Wissen war eine +weitere Kränkung. Seinem Mut und Kriegsgeschick war's in erster +Linie zu verdanken, daß Sutschau gefallen, und nun hatte man ihn +einfach beiseite gesetzt, ja ihn selbst in nicht geringe Lebensgefahr +gebracht. Diese perfide Handlungsweise der Chinesen, für die er sich +aufgeopfert, ergrimmte ihn so sehr, daß sein Zorn keine Grenzen +kannte, und wohl zum erstenmal in der ganzen blutigen Kriegszeit +nahm er<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> eine Waffe zur Hand. Er steckte seinen Revolver zu sich, +entschlossen, an des Gouverneurs eignem Leben Gericht zu üben, mochten +die Folgen für ihn selbst sein, welche sie wollten. Tsching aber war +ihm zuvorgekommen und hatte Li wissen lassen, daß er wohl daran thun +werde, dem zornmütigen Engländer aus dem Weg zu gehen. Als Gordon +das Boot des Li bestieg, fand er daher, daß dieser sich in die Stadt +geflüchtet hatte. Gordon verfolgte ihn dort und versuchte während +mehrerer Tage vergeblich, zuerst allein und dann mit Hilfe seiner +Garde, des flüchtigen Gouverneurs habhaft zu werden. In bitterm Mißmut +kehrte er nach Kuinsan zurück. Dort verlas er seinem versammelten +Korps einen Bericht über das Geschehene mit dem Anfügen, daß ein +britischer Offizier unter dem Gouverneur Li nicht länger dienen könne, +es sei denn, daß dieser vom Kaiser zur verdienten Strafe gezogen werde.</p> + +<p>Gordon schrieb an seine Angehörigen:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ihr werdet froh sein zu erfahren, daß wir wieder zu Kuinsan im +Quartier sind und es wohl so bald nicht wieder verlassen werden. +Ich habe weder Zeit noch Lust, Euch von dem Kampf am Ostthor zu +berichten, noch von dem kaiserlichen Verrat in Sutschau — die +Zeitungen werden genug darüber melden. Des Na Wang Sohn habe ich +bei mir. Er ist ein gescheiter junger Mensch und sehr lebhaft, etwa +achtzehnjährig. Sein armer Vater war ein recht guter Wang, besser als +die meisten Kaiserlichen, mit denen ich noch zu thun hatte. Ich kann +Euch nicht sagen, wie tief ich die neuesten Ereignisse beklage und +zwar um verschiedener Ursachen willen. Hätte man dem Feind, der sich +ergeben, Treue gehalten, so wäre es mit dem Aufstand wohl zu Ende, +und die anderen Städte, die noch aushalten, wären ohne Zweifel dem +Beispiel Sutschaus gefolgt. Wir hätten uns dann rühmen können, den +Aufruhr mit geringem, nicht zu umgehendem Blutvergießen unterdrückt +zu haben. Wenn <em class="gesperrt">ich</em> nicht mit dem Na Wang unterhandelt hätte, +wäre die Übergabe wohl so bald nicht erfolgt, und ich halte jetzt +all meine Mühe für verloren. Ich kann mich nur damit trösten, daß +<em class="gesperrt">alles</em> zum besten dienen muß! Unverständlich ist und bleibt mir +die Handlungsweise des Li; er kennt mich hinreichend um zu wissen, +daß ein solches Verfahren mich aufbringen muß, und er handelte mit +nicht<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> geringem persönlichem Risiko, denn meine Truppen waren in der +Nähe ....«</p> +</div> + +<p>Während von Regierungs wegen eine Untersuchung eingeleitet wurde, +verhielt sich Gordon völlig unthätig in seinem Quartier, — keine +leichte Sache bei der Stimmung seines Korps. Li aber hatte sich weiß +zu brennen gewußt; überhaupt wähnte man in Peking, das Hauptlob bei +der Einnahme von Sutschau gebühre ihm. Gordon hatte allerdings eine +Position nach der andern, die er mit seinen Siegreichen eroberte, +mit Kaiserlichen besetzt. In Anerkennung dieser Thatsache erhielt Li +mit der »gelben Jacke« die höchste militärische Auszeichnung. Doch +erinnerte man sich auch des englischen Anführers. Ein kaiserlicher +Erlaß bestimmte eine Medaille für den tapfern Tsung-Ping und außerdem +ein Geschenk von siebzigtausend Mark.</p> + +<p>Diese Summe mit vielen andern Geschenken und der Versicherung der +kaiserlichen Anerkennung wurde Gordon von Li übersandt, außerdem eine +erhebliche Extra-Löhnung für seine Truppen und eine besondere Summe +für die Verwundeten. Diese beiden letzten Beträge nahm Gordon an; +die für ihn bestimmte Summe aber wies er mit Entrüstung zurück. Ja, +als die buchstäblich mit Gold beladenen Schatzträger vor ihn traten, +kommandierte er: rechts umkehrt mit seinem spanischen Röhrchen. +Wahrlich keine schönere That läßt sich von dem »Zauberstab« berichten. +Die Chinesen wußten sich nicht zu fassen vor Verwunderung. Wo war's +erhört, daß einer solche Schätze von sich wies, und wer durfte es +wagen, den kaiserlichen Gesandten mit dem Kommandostab zu begegnen! +Der mit der Sendung betraute Mandarin brachte ihm außerdem vier +seidene Fähnchen als Ehrengabe, zwei von Li und zwei von Wang-tetai, +einem die Kanonenboote der Provinz befehligenden Mandarin. Li's +Ehrengabe schickte Gordon zurück, die Fähnchen des Wang-tetai nahm +er an, da derselbe nicht bei jenem Treubruch beteiligt war. Der +kaiserliche Erlaß wurde auf gelbem Atlas feierlich auf einen mit zwei +brennenden Kerzen versehenen Tisch gelegt und so zu Gordons Kenntnis +gebracht. Eine Übersetzung war dem Schriftstück beigegeben. Auf die +Rückseite derselben schrieb der uneigennützige Held stehenden Fußes +folgende Antwort:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Major Gordon nimmt Sr. Majestät des Kaisers huldvolle Billigung +mit Befriedigung entgegen, aber er kann es nur aufrichtig bedauern, +daß nach dem, was seit der Einnahme von Sutschau vorgefallen +ist, es nicht in seiner Macht steht, irgend welche Geschenke +kaiserlicher Gnade anzunehmen. Er entbietet kaiserlicher Majestät +seinen unterthänigsten Dank für die ihm zugedachte Belohnung, welche +abzulehnen man ihm gnädigst verstatten wolle.«</p> +</div> + +<p>In einem Brief an die Seinen spricht er sich so aus:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Um die Wahrheit zu sagen, begehre ich weder Lohn noch Ehre, weder +von den Chinesen, noch von unserer Regierung. Auszeichnung habe ich +nie gesucht. Ich habe das Bewußtsein, ein gutes Werk zu vollbringen, +und fürs übrige gewährt mir mein Beruf an sich Befriedigung ... +Ich würde das kaiserliche Geschenk auch dann zurückgewiesen haben, +wenn es mit Sutschau anders gegangen wäre ... Ich weiß, daß ihr +Verständnis habt für meine Lage, die keine leichte ist, und daß +meine Erfolge Euch freuen. Die Rebellen sind ein grausames Volk. Der +Tschung Wang hat zweitausend hilflose Menschen umbringen lassen, +die nach der Ermordung der Wangs zu ihm flüchteten. Dem Li habe ich +übrigens einen Denkzettel angehängt, den er so bald nicht vergessen +wird.«</p> +</div> + +<h3>4. Weitere Siege und das Ende des Aufstands.</h3> + +<p>Die Enthauptung der Wangs hatte Gordons Lage in der That zu einer +schwierigen gemacht. Seinen Kriegs- und Siegeszug nach der Gewaltthat +zu Ende führen, hieß den Treubruch seiner Kollegen billigen, während +andererseits seine bisherigen Erfolge vergeblich gewesen wären, wenn +er alles weitere den Kaiserlichen allein überlassen hätte. Im Korps +der Siegreichen gab es durch das zeitweilige Einstellen des Kampfes +bereits bedenkliche Unruhen. Sechzehn Offiziere hatten kassiert werden +müssen, während den Taipings offenbar der Mut wuchs. Gordon sah ein, +daß er jetzt nicht mit seinen Gefühlen zu Rate gehen durfte, und +beschloß deshalb, dem Gouverneur Li behufs weiterer gemeinschaftlicher +Arbeit die Hand der Versöhnung zu reichen.</p> + +<p>In den Augen chinesischer Machthaber war die Hinrichtung der Wangs ein +notwendiges Übel, und als Gordon bei ruhigerer<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> Stimmung anhörte, was +Li zu seiner Entschuldigung beibringen konnte, erschien ihm die That, +wenn auch immerhin verabscheuungswürdig, doch minder ruchlos. Nach +chinesischen Begriffen hätten die kapitulierenden Wangs sich nämlich +alsbald wieder als Kaiserliche gebärden sollen; sie aber erschienen +vor dem Gouverneur mit vollem Haarwuchs anstatt mit rasiertem Kopfe, +sie kamen auch bewehrt, und ihre Haltung war die von Männern, die +auch künftig noch zu herrschen gedachten. Das kam dem Li unerwartet. +Die Unterhandlungen aber aus diesem Grund abbrechen, war keineswegs +thunlich, ohne eine Katastrophe herbeizuführen. General Tsching, +selbst ein Ex-Rebell, kannte seine Leute und hatte dem Li dringend zur +Hinrichtung geraten. »Macht die Anführer unschädlich«, sagte er, »und +die Hunderttausende ihrer Anhänger gelten für nichts; so allein ist +Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.« Und so erfolgte die Hinrichtung.</p> + +<p>Um aber ehrlich und aufrichtig seinen Gang gehen zu können, +machte sich nun Gordon auf den Weg zu Li und forderte ihn auf, +eine Proklamation zu erlassen, die ihn von aller Teilnahme und +Mitwissenschaft der Hinrichtung losspräche; alsdann wolle er den +Kampf wieder aufnehmen. Es geschah, doch erst nachdem durch Hin- +und Herschreiben zwischen dem englischen Bevollmächtigten und den +chinesischen Behörden kostbare Zeit verloren gegangen war.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wenn ich meiner Neigung folgte,« schrieb Gordon damals an den +englischen Gesandten, »so würde ich das Kommando jetzt niederlegen. +Ich bin aus allen Gefahren unverletzt hervorgegangen, und schöne +Erfolge sind mein Lohn; aber das zusammengelaufene Volk, das unter +dem Namen der »stets siegreichen Armee« bekannt ist, ist eine +gefährliche Rotte, und ich halte es für meine Pflicht, das Korps +mit aller Vorsicht aufzulösen; so lange es aber besteht, soll es +der kaiserlichen Sache dienen ... Übrigens bin ich mir bewußt, daß +keinerlei persönliche Interessen mich bestimmen ....«</p> +</div> + +<p>Die Proklamation des Li war eine umfangreiche Darstellung der Dinge, +die Gordon volle Gerechtigkeit widerfahren ließ. Am 19. Februar 1864 +zog dieser abermals ins Feld.</p> + +<p>Die westlichen Distrikte waren noch immer in den Händen der Taipings +und von desperaten Rotten überlaufen. Eine von<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> Sutschau durch Jesing, +Lijang und Kintang westwärts gezogene Linie durchschneidet das +Rebellenland in zwei Teile, mit Nanking am obern Ende und Hangtschau +am untern. Gordon beschloß auf dieser Linie zu operieren, indem er +Hangtschau einem französisch-chinesischen Heeresteil unter einem +Offizier Namens d'Aiguibelle überließ, während einem Mandarin mit den +Kaiserlichen die Belagerung von Nanking oblag.</p> + +<p>Strategisch war dies sehr wohl geplant, aber die Ausführung war +mit Schwierigkeiten verbunden. Er verließ Kuinsan in Schnee und +Hagelwetter. Bisher war Schanghai sein Proviantmagazin gewesen, jetzt +in Feindesland war er lediglich auf sich selbst angewiesen, auch +konnten seine Schiffe ihm nicht überall hin folgen. Überdies bestanden +seine Truppen jetzt größtenteils aus Überläufern, die von Mannszucht +nichts wußten.</p> + +<p>Über Wusieh am großen Kanal ging es zuerst nach Jesing, ein trostloser +Zug durch Ländereien, welche die Taipings seit Jahren innegehabt und +verwüstet hatten. Der Einwohner waren nur wenige übrig geblieben — +ausgehungerte Skelette, die oft froh gewesen waren, an den Leichen +Verhungerter ihren eigenen Hunger zu stillen. Jesing wurde eingenommen +und Lijang, das nächste Ziel, ergab sich ohne Widerstand. An tausend +Mann der Garnison wurden dem Korps einverleibt. Glücklicherweise war +dieser Ort wohl verproviantiert, und Gordon that sein Möglichstes, +es den ausgehungerten Landleuten zu gute kommen zu lassen. Von +Lijang ging es nach Kintang. Hier schienen die Taipings entschlossen +standzuhalten. Gordon traf seine Vorbereitungen zur Eröffnung einer +Kanonade; als diese aber eben beginnen sollte, kam schlimme Kunde. +Siebentausend Taipings aus Tschantschufu, einer Stadt nordwestlich von +Sutschau, also in seinem Rücken, hatten die Kaiserlichen überflügelt, +Fusan überrumpelt, bedrohten Wusieh und belagerten Tschanzu, wo Gordon +seinen ersten Erfolg errungen hatte. Die Rebellen hatten somit wieder +im Dreißig-Meilen-Umkreis Fuß gefaßt. Gordon beschloß aber, sich vor +allen Dingen Kintangs zu versichern, wo eine ebenso grausame als +hartnäckige Garnison zu überwältigen war.</p> + +<p>Eine dreistündige Beschießung erzielte eine Bresche und Gordon<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> ließ +stürmen. Aber der erste und zweite Angriff wurde zurückgeworfen. Und +hier ereignete sich das in den Augen des Korps Unglaubliche: der +»unverwundbare« Anführer erhielt einen Schuß in die Wade. Es war seine +erste und einzige Verwundung. Einen seiner Gardisten, der neben ihm +stand, hieß er schweigen und fuhr fort, seine Befehle zu erteilen, bis +er vor Blutverlust fast ohnmächtig wurde. Daß auch der dritte Anlauf +mißlang, war ohne Zweifel eine Folge von Gordons Verwundung, die ihre +Rückwirkung nicht verfehlte. Nach einem Verlust von etwa hundert Toten +und Verwundeten mußte sich das Korps nach Lijang zurückziehen!</p> + +<p>Hier gab es eine neue Unglückspost; kein anderer als der Getreue in +Person hatte Fusan erobert. Nun hinderte zwar Gordon seine Verwundung +am Stehen, aber er konnte auch liegend Krieg führen, und die Zeit +drängte. Die Taipings erließen eine Proklamation um die andere, daß +Schanghai ihr Ziel wäre, und daß sie Sutschau auf dem Wege dahin zu +überfallen gedächten. Waren sie doch in Wusieh, keine drei Stunden +von Sutschau entfernt! Trotz seiner Verwundung machte Gordon sich +alsbald auf mit vierhundert Mann Artillerie und etwa sechshundert Mann +Infanterie, welch letztere samt und sonders nur wenige Tage zuvor noch +Rebellen gewesen, jetzt aber bereit waren, ihm überallhin zu folgen. +»Man weiß nicht, was das Erstaunlichere ist,« ruft hier mit Recht ein +englischer Berichterstatter aus, »ob der Mut, oder das Vertrauen des +verwundeten Anführers!«</p> + +<p>Das überall zu Tag tretende Elend aber war über alle Beschreibung +grauenhaft — ausgehungertes Landvolk auf allen Seiten; die noch +Lebenden hatten keine Kraft mehr, die Toten zu begraben, die überall +die Luft verpesteten. »Es ist entsetzlich!« schreibt ein Augenzeuge, +»von Kannibalen zu <em class="gesperrt">hören</em> ist schlimm genug, aber mit eigenen +Augen Tote zu <em class="gesperrt">sehen</em>, denen das Fleisch von den Knochen abgenagt +ist, das übersteigt die menschliche Kraft. Man kann hier vor Ekel kaum +mehr daran denken, seinen Hunger zu stillen. Die abgezehrten Leute +machen Augen wie Wölfe und laufen den Booten nach in der Hoffnung, +einigen Abfall zu finden.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span></p> + +<p>Die Taipings haben das Land rein ausgeplündert und alles Eßbare mit +fortgeschleppt.«</p> + +<p>Mit unglaublicher Geschwindigkeit drängte Gordon indessen weiter, und +aufs neue wurde nun Sieg um Sieg erfochten.</p> + +<p>Der letzte Schlag gegen die Rebellen geschah von Waisso aus. Die +Taipings zogen sich auf Tschantschufu zurück, allerorts aber erhob +sich das Landvolk in verzweifelter Rache, ihrer hunderte und tausende +erschlagend. Tschantschufu wurde von Li belagert, und Gordon zog +ihm mit dreitausend Mann zu Hilfe. Zwanzigtausend Taipings unter +dem Hu Wang oder Schutzkönig, gemeinhin auch »Scheel-Auge« genannt, +verteidigten die Stadt bis aufs Blut, sich tagelang wehrend. Aber +Li hatte eine Proklamation erlassen, in welcher er allen, welche +die Stadt verlassen würden, Pardon verhieß, den Hu Wang selbst +ausgenommen, und siehe da — die Überläufer kamen massenhaft. +Schließlich erstürmte Gordon die Stadt; etwa fünfzehnhundert Taipings +fielen, aber auch das siegreiche Korps litt große Verluste. Es war die +letzte Kriegsthat desselben. Kurz vor der Einnahme der Stadt hatte +Gordon an seine Mutter geschrieben:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich werde mich natürlich versichern, daß der Aufstand wirklich +unterdrückt ist, ehe ich meine Leute heimschicke, da ich sonst eine +große Verantwortlichkeit auf mich laden würde .... Auf Weihnachten +hoffe ich bei Euch zu sein. Unsere Verluste innerhalb dieser +sechzehn Monate waren doch bedeutend: von hundert Offizieren sind +achtundvierzig tot oder verwundet, von dreitausendfünfhundert +Gemeinen an eintausend tot oder verwundet; aber ich habe die große +Befriedigung zu wissen, daß, soweit es in menschlicher Berechnung +liegt, es wohl keine sechs Monate mehr dauert, bis auch die letzte +Handbreit Erde den Rebellen unter den Füßen weggezogen sein wird, +während der Aufruhr sonst leicht noch sechs Jahre hätte dauern +können. Meine Beförderung und das Lob der Leute ist mir sehr +gleichgültig, und im übrigen werde ich China so arm verlassen als +ich es betreten habe, doch darf ich das Bewußtsein mit mir nehmen, +daß ich als schwaches Werkzeug dazu dienen durfte, achtzig- bis +hunderttausend Menschenleben zu erhalten. Ich brauche keinen anderen +Lohn. Die Rebellen von Tschantschufu gehören zu den ursprünglichen +Anstiftern, und obgleich manch Unschuldiger mit dabei<span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span> sein mag, so +verdienen sie doch im allgemeinen das Los, das ihrer harrt. Hättest +Du eine Vorstellung von den haarsträubenden Grausamkeiten, die sie +verübten, so würdest Du wohl auch mit mir sagen: Strafe muß sein. Es +sind meist Ausreißer von Sutschau, Kuinsan, Taisan, Wusieh, Jefing u. +s. w., die sich hier schließlich zur Wehre setzen; sie halten täglich +mehrere Dutzend Hinrichtungen ab, um die mit ihnen in der Stadt +Eingeschlossenen an der Flucht zu hindern.«</p> +</div> + +<p>Am 11. Mai, zwei Stunden nach der Einnahme von Tschantschufu, sandte +er in aller Eile folgenden mit Bleistift geschriebenen Brief ab:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Liebste Mutter! Tschantschufu wurde um zwei Uhr heute von meinen +Truppen und den Kaiserlichen erstürmt. Übermorgen kehre ich nach +Kuinsan zurück und werde nicht mehr zu Feld ziehen. Die Rebellen sind +jetzt geliefert; sie haben nur noch Tajan und Nanking. Tajan wird +wohl in diesen Tagen fallen und Nanking kann sich höchstens noch zwei +Monate halten. Es freut mich, Dir zu sagen, daß ich wohlbehalten aus +dem Kampfe gekommen bin.</p> + +<p class="center">Dein treuer Sohn</p> +<p class="right">C. G. G.«</p><br> +</div> + +<p>Nach Kuinsan zurückgekehrt, fand er daselbst die Nachricht vor, daß +die Kabinetsordre, die es einem britischen Offizier verstattete, +unter der chinesischen Regierung zu dienen, aufgehoben war. Es war +ein Glück für China, daß Gordons rasche Züge das Werk in der kurzen +Zeit vollbrachten; die letzte morsche Stütze des Taipingtums konnte +ohne ihn zusammenbrechen. Mehrere feste Plätze der Rebellen ergaben +sich ohne weiteres auf die Kunde hin, daß Tschantschufu gefallen sei. +Nanking allein hielt noch aus, trotz Hungersnot. Aber Gordon konnte +dem endlichen Sieg dort nicht ohne Besorgnis entgegensehen, galt es +doch den Bestand seiner errungenen Erfolge. Er machte sich daher +selbst nach Nanking auf den Weg, wo Tseng Kwo-fan kommandierte. Von +einer Anhöhe oberhalb des Porzellanturmes besichtigte er die Stadt. +Die Mauer war vierzig Fuß hoch und dreißig Fuß breit. Er sah, wie +einige Taipings sich an Stricken herunterließen, um außerhalb Linsen +zu sammeln; man wehrte es ihnen nicht. Innerhalb der Stadt waren große +leere Plätze, und an vielen Stellen waren die Wälle ganz verlassen. +Die kaiserliche Belagerungslinie<span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span> erstreckte sich weithin mit einer +doppelten Reihe von Schanzen und einhundertvierzig Lehmforts, je +achtzehnhundert Fuß von einander entfernt und mit je fünfhundert Mann +Besatzung.</p> + +<p>Seine »stets siegreiche Armee« verabschiedete nun Gordon auf eigene +Verantwortung, jedoch im Einverständnis mit Li. Er entledigte +sich dieser seiner letzten Pflicht mit derselben Festigkeit und +Selbstlosigkeit, die ihn durchweg gekennzeichnet hat. Er behielt +sich vor, Offiziere wie Gemeine nach Verdienst zu belohnen, und die +chinesische Regierung gestattete ihm dies um so bereitwilliger, als er +für sich selbst auf allen Lohn verzichtete. Jeder Offizier, der eine +Verwundung davongetragen hatte, erhielt die Summe von achtzehntausend +Mark; die andern je nach Verhältnis. Ein Preuße, Namens Schamroffel, +der bei Sutschau um beide Augen kam, erhielt zweiunddreißigtausend +Mark. Die nicht verwundeten Gemeinen erhielten je einen Monat +Löhnung und Reisegeld in ihre Heimat. So wurde die stets siegreiche +Armee aufgelöst, die während der sechzehn Monate unter Gordons +Oberbefehl vier Hauptfestungen und ein Dutzend befestigte Plätze +eingenommen und in einer Reihe von Gefechten eine Anzahl von Feinden +außer Kampf gesetzt hatte, die, gering gerechnet, fünfzehnmal ihre +eigene Streitkraft überstieg. Und der Aufruhr, dem sie in voller +Blüte entgegengetreten, lag nun in den letzten Zügen: die hungernde +Hauptstadt des Usurpators konnte sich nicht mehr lange halten.</p> + +<p>Die kaiserliche Regierung hatte Gordon eine stattliche Belohnung +zugedacht — zweimalhunderttausend Mark; allein er wies sie zurück wie +vorher die siebzigtausend Mark. Und selbst von seiner während der 16 +Monate bezogenen Besoldung hatte er den größten Teil nicht für sich, +sondern für seine Soldaten ausgegeben. Mit Recht konnte er sagen: ich +verlasse China so arm wie ich es betreten!</p> + +<p>Li that was er konnte, seinem scheidenden Freunde mit Auszeichnung +zu begegnen. Nie war ihm ein solcher Mann in seinem eigenen Volke +vorgekommen, und die Ausländer, mit denen er zu thun gehabt, waren +immer Leute gewesen, die sich für etwaige Dienste gut hatten bezahlen +lassen. Nun lernte er die menschliche Natur von einer ganz neuen +Seite kennen — daß es die vom Christentum durchdrungene, erneute +menschliche Natur war, verstand<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> der Chinese nicht — und eine +lebenslängliche Bewunderung und Liebe für unseren Helden war das +Ergebnis. Li hat es bis heute nicht vergessen, daß Gordon ihn einst +im höchsten Zorn mit der Pistole verfolgte, weil er sich durch +Wortbrüchigkeit eine That hatte zu Schulden kommen lassen, die der +edle Sinn des Briten nicht verwinden konnte.</p> + +<p>Es bereitete der kaiserlichen Regierung einen ordentlichen Kummer, +daß Gordon sich nicht lohnen lassen wollte; ihn nach Möglichkeit zu +ehren, war ihr deshalb ein Anliegen. Er wurde zum Range eines Ti-tu +erhoben, d. h. zur obersten Mandarinenwürde, auch erhielt er die gelbe +Jacke mit der Pfauenfeder, was den höchsten Orden im europäischen +Sinne gleichkommt. »Mir liegt nichts an diesen Dingen,« schreibt er +an seine Eltern, »aber ich weiß, daß sie Euch Freude machen,« und er +nahm sie an, wie auch eine goldene Kette, die Prinz Kung von seinem +eigenen Halse löste mit den Worten: »Dies wenigstens sollen Sie mir +nicht abschlagen!« Gordon ließ sich die Kette umhängen, aber es +erging dieser Kostbarkeit nicht besser als manchen anderen, die er +erhalten hat. Auf der Heimreise nämlich begab es sich, daß für eine +arme Soldatenwitwe gesammelt wurde. Gordon ging in seine Kajüte, +und da er fand, daß seine Barschaft ihm nur eben bis in die Heimat +reichen würde, kam er mit jener Ehrenkette zurück und legte sie +stillschweigend auf den Teller der Witwe. Ja, selbst eine Medaille, +welche die Kaiserin-Mutter von China ihm mit ihrem besonderen Dank +übersandte und die er werthielt, verschwand nach einiger Zeit aus +seinem Besitz. Nicht einmal seine nächsten Angehörigen wußten, +was daraus geworden. Nach Jahren verriet es ein Zufall. Bei einer +Hungersnot unter den Fabrikarbeitern in Manchester, welche infolge +der Baumwollenkrisis während des amerikanischen Krieges ausgebrochen +war, hatte Gordon, dessen Kasse oft durch Liebeswerke erschöpft +war, sich seiner Medaille erinnert. Er vertilgte die Inschrift und +sandte die schwere Goldmünze als Beitrag an einen Geistlichen jener +Stadt. Einer, der ihn persönlich kannte, sagt von ihm, daß er sich +stets grundsätzlich von Dingen trennte, die ihm wert waren oder die +irgendwie der Eigenliebe Vorschub leisten konnten. »Man<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> muß sich auch +von seinen Medaillen trennen können,« war späterhin in Freundeskreisen +eine Redensart von ihm. In einem seiner Sudanbriefe aus dem Jahr +1874 findet sich folgende Stelle: »Wie ist mir's gelohnt worden, daß +ich damals die Inschrift (jener Medaille) vertilgte, tausendfältig +gelohnt! Es giebt jetzt nichts mehr auf der Welt, woran mein Herz +hängt. Ihre Ehren? sie sind hohl. Ihr sonstiger Tand? mir ganz +gleichgültig. So lang ich lebe, schätze ich die Gottesgabe Gesundheit, +das ist Reichtum genug.«</p> + +<p>Prinz Kung ließ Gordon nicht ziehen, ohne ein chinesisches Zeugnis +seiner Tüchtigkeit an die englische Regierung zu senden. »Wir wissen +uns nicht zu helfen,« sagte dieser Fürst zum britischen Botschafter, +»er nimmt kein Geld an, und was wir an Ehren ihm verleihen können, +ist geschehen; aber auch dies schlägt er gering an, und deshalb +habe ich Ihnen dies Schreiben an die Königin von England gebracht, +damit sie ihm einen Lohn gebe, der vielleicht mehr gilt in seinen +Augen.« Des Lobes und der Dankbarkeit in diesem Schreiben war in der +That kein Ende, und die Zuschrift an die britische Majestät schloß +mit den Worten: »Der Titel Ti-tu verleiht ihm den höchsten Rang in +der chinesischen Armee; der Prinz möchte aber hiermit die Hoffnung +aussprechen, daß wenn die englische Regierung dem Heimkehrenden irgend +welche Ehrenbeförderung kann zukommen lassen, der britische Minister +es nicht unterlassen möge, solche zu befürworten, damit alle Welt +erkenne, daß seine Heldenthaten und seine persönlichen Eigenschaften +nicht hoch genug zu schätzen sind.«</p> + +<p>Der chinesische Brief soll irgendwo »zu den Akten« gelegt worden +sein, ohne seine Bestimmung zu erreichen. Die Anerkennung seitens +der englischen Regierung war jedenfalls eine sehr langsame. Dem +damaligen Kriegsminister soll sogar der Name des Oberstleutnant +Gordon ganz unbekannt gewesen sein! Dafür ließ die Stimme des +Volkes sich hören, und »Chinesen-Gordon« lautet der aus jener Zeit +stammende Ehrentitel, der unserem Helden im Volksmund noch immer +anhängt. »Nie,« sagte die Times in jenen Tagen, »hat ein sogenannter +Glückssoldat<a id="FNAnker_4" href="#Fussnote_4" class="fnanchor">[4]</a> ein feineres Verständnis<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> für die militärische +Ehre an den Tag gelegt, als der Mann, der nach einer Reihe von +glänzenden Siegen soeben sein Schwert niedergelegt hat. Sein Heldenmut +gegenüber den Widerstandleistenden, seine Barmherzigkeit gegen die +Überwundenen werden nur durch sein selbstloses Außerachtlassen alles +dessen überboten, was ihm persönlichen Gewinn hätte bringen können +... Das Ergebnis seines chinesischen Feldzugs läßt sich kurz dahin +zusammenfassen: er fand die fruchtbarsten Distrikte Chinas verwüstet +und in den Händen von räuberischen Rebellen. Die reichen Gegenden der +Seidenzucht waren eine Stätte barbarischer Greuel; den altberühmten +Städten Hangtschau und Sutschau drohte das Los Nankings, sie waren +nahe daran, im Besitze der Rebellen zu Grunde zu gehen. Gordon hat +den Aufstand mitten entzweigeschnitten, die Städte erobert, die +Räuberhorden aufgelöst; und all dies nicht nur durch die Macht seines +Schwertes, sondern vielfach durch die bloße Wirkung seines Namens.«</p> + +<p>Sein Tagebuch hatte er vor seiner Abreise nach Hause gesandt.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich wünsche aber keine Veröffentlichung,« schreibt er dazu, »je +bälder diese Geschichte vergessen ist, desto besser; ich weiß +nämlich durchaus nicht, ob wir (die Engländer) ein Recht hatten uns +einzumischen. Meinesteils bin ich ruhig im Gedanken, ein Werk der +Menschlichkeit vollbracht zu haben, doch kann ich nicht erwarten, daß +Fernstehende es eben so ansehen und billigen.« —</p> +</div> + +<p>Gordon war dringend nach Peking eingeladen worden, aber er lehnte die +Aufforderung ab, wohl wissend, daß man ihn dort mit fürstlichen Ehren +empfangen würde. In Schanghai aber hielt er sich vor der Abreise noch +eine Zeit lang auf, um den Chinesen einigermaßen zu einer Armee nach +europäischem Begriff zu verhelfen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich mache hübsche Fortschritte, die chinesischen Offiziere +einzuüben,« heißt es in seinem letzten Brief aus China, »es geht +leichter, als ich dachte!«</p> +</div> + +<p>Und in eben jenen Tagen, während er als einfacher Exerziermeister +sich bestrebte, Nützliches zu hinterlassen, fiel Nanking. Jeden Fuß +breit, bis in den Palast des himmlischen Königs, verteidigten die +Taipings mit verzweifeltem Mut. Hung hatte seit Monaten in seiner +Teilnahmlosigkeit verharrt, die man nur<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> als eine Phase seines +Wahnsinns betrachten kann. Es durfte ihm niemand sagen, daß die Stadt +sich nicht werde halten können; und bis zuletzt bestand er auf seiner +göttlichen Herkunft. »Ich bin der Herr von zehntausend Völkern, +wen sollte ich fürchten?« rief er. »Ich habe Befehl von Schang-ti +(Gott) und von Jesus selbst, dies Reich zu regieren.« Als der Getreue +ihm einst dringend zur Flucht riet, entgegnete er: »Fürchtest du +den Tod? Ich, der wahre Herr, kann ohne Truppen bestimmen, daß +das Reich des großen Friedens sich bis an die äußersten Grenzen +erstrecke.« Die Berge, die Ströme, die Völker seien sein, sagte +er; und ließ die andern Wangs für sich kämpfen und seine Minister +schalten und walten, wie sie wollten. Nur in <em class="gesperrt">einem</em> war er +unerbittlich: nie durfte man ihn anders als in religiösen Phrasen +und mit kriechender Unterwürfigkeit anreden. Einem die Haut bei +lebendigem Körper abziehen, war von Anfang an seine Lieblingsstrafe +gewesen; jetzt wollte er jeden dazu noch gevierteilt sehen, der es +unterließ, von ihm anders als von dem »Himmlischen« zu reden. Die +letzten Monate seines unglücklichen Daseins verbrachte er unter seinen +Weibern mit religiösen Andachten. Als man ihm mitteilte, daß nur die +allerwohlhabendsten Leute der Stadt noch zu essen hätten, erließ er +eine Verordnung, daß die anderen sich von »duftenden Kräutern« nähren +sollten, wozu er selbst ein gutes Beispiel zu geben wähnte, indem er +Gemüse aus dem königlichen Garten zur Tafel befahl.</p> + +<p>Der getreue Wang wußte wohl, wie es stand, aber Untreue gegen seinen +Herrn scheint ihm nie als eine Möglichkeit vorgeschwebt zu haben. Nach +dem Fall von Sutschau war er zum letztenmal nach Nanking zurückgekehrt +in der Hoffnung, diese Stadt abermals zu entsetzen. Ihm selbst gelang +es, Eingang zu finden, aber seine Truppen hatte er eingebüßt, weil +es weithin an allem Proviant gebrach. Zu Ehren dieses Mannes sei's +gesagt, daß er sich mit Aufbietung all seiner Kräfte und Mittel nun +bestrebte, die Eingeschlossenen vor dem Verhungern zu schützen. Er +erzählt in seinem Tagebuch, daß man sich täglich dem Himmlischen zu +Füßen werfe, aber dieser gestattete keinem, das Wort Übergabe auch +nur in den Mund zu nehmen. Den Rat des Getreuen, die Weiber<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> und +Kinder fortzulassen, verachtete er und wandte sich dem Schildkönig +zu. Der Getreue aber that heimlich was er konnte, und zu tausenden +verließen Weiber und Kinder die Stadt. Der kaiserliche General Tseng +nahm alle auf und ließ ihnen Nahrung reichen. Der Schildkönig war ein +Banditenanführer, und täglich gab es Mord und Totschlag unter den +unglücklichen Taipings.</p> + +<p>Die Tage des großen Friedens waren gezählt. Ob der tolle Schulmeister +wohl je an seine Jugend zurückdachte, da er noch von keinem anderen +Ehrgeiz beseelt war, als im Examen zu bestehen? Ob er sich sein +bisheriges Leben vergegenwärtigte? Ströme von Blut bezeichneten seine +Laufbahn durch die Länge und Breite des blumigen Landes. Friedliche +Städte hatte er in Räuberhöhlen verwandelt, fruchttragende Felder in +Wüsteneien. Und nun das Maß voll war und er inmitten seiner wilden +Horden dem sicheren Tod ins Auge sah, krönte er sein entsetzliches +Leben damit, daß er eigenhändig seine Weiber aufhängte und dann Gift +nahm.</p> + +<p>Nach seinem Tod bestieg sein ältester Sohn, Hung Fu-tien, als der +»junge Herr« den angeblichen Thron; der aber war ein sechzehnjähriger +Jüngling, in vollständiger Unwissenheit aufgewachsen. Die Belagerer +bedrängten die Stadt mehr und mehr. Am 8. Juli wagte der Getreue einen +Ausfall, wurde aber zurückgeschlagen; am 19. gelang es den Belagerern, +mittelst einer Riesenmine, die vierzigtausend Pfund Pulver enthalten +haben soll, die Mauer zu sprengen; sie drangen unaufhaltsam in die +Stadt. Der Getreue leistete zum letztenmal Widerstand, aber die Stunde +der Taipings war gekommen; bis Mitternacht hatte er noch den Palast +des Tien Wang verteidigt, um den »jungen Herrn« und seine weinenden +Angehörigen zu schützen, und als alles zu Ende ging, hatte er den +Palast und seine eigene stattliche Wohnung in Brand gesteckt. In der +allgemeinen Verwirrung, zwischen Feuer, Totschlag und Fluchtversuchen, +legte er eine letzte Probe seiner seltenen Treue ab, indem er den +»jungen Herrn«, der mit zwei seiner Geschwister ihn flehentlich um +Rettung bat, auf sein eigenes tüchtiges Pferd setzte, während er +selbst auf einem ausgehungerten Klepper zu entfliehen versuchte. +»Obgleich der Tien Wang dahin<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> war und alles verloren,« heißt's +in seinem Tagebuch, »so konnte ich doch als einer, dem er einst +wohlwollte, nicht anders, als wenigstens den Versuch machen, seinen +Sohn zu retten.« Daß der Tien Wang ihm schließlich nur mit Undank +gelohnt hatte, schien dieser Edelste der Taipings in seiner schönen +Hingabe vergessen zu haben.</p> + +<p>Es gelang dem »jungen Herrn« sowie auch dem Getreuen und dem +Schildkönig, mit etwa tausend anderen zu entkommen; sie wurden aber +bald von einander getrennt. Als der Getreue fand, daß sein Tier ihn +nicht mehr tragen konnte, suchte er Schutz in einem Tempel; dort +wurde er von Landleuten erkannt, die ihn knieend baten, sich den +Kopf rasieren zu lassen und verkleidet zu entfliehen. »Ich bin der +Diener eines Königs, der nicht mehr ist,« entgegnete er, »es wäre ein +Unrecht an den Gefallenen, ließe ich mir das Haar scheren.« Er fiel +in die Gefangenschaft der Kaiserlichen und wurde samt dem Schildkönig +enthauptet. Während der letzten Tage seines Lebens schrieb er seine +Erinnerungen, die in gedrängter, klarer und durchaus glaubhafter +Darstellung den ganzen Aufstand schildern.</p> + +<p>Was den »jungen Herrn« betrifft, so brachte des Getreuen Pferd ihn +in vorläufige Sicherheit. Aber weder seine Erziehung noch sein +genußsüchtiges Leben in der Gesellschaft seiner jungen Königinnen +hatten ihn dazu geschickt gemacht, mit dem Unglück zu kämpfen. Nachdem +er sich etliche Wochen im Gebirg herumgetrieben und angefangen, im +Hunger sich den Tod zu wünschen, fiel auch er den Kaiserlichen in die +Hände. Trotz seiner inständigen Bitte, ihn am Leben zu lassen, »damit +er noch etwas lernen könne und sein Examen mache,« wurde er alsbald +hingerichtet.</p> + +<p>Im November des Jahres 1864 schickte sich Gordon zur Heimreise an. +Die Kaufleute von Schanghai faßten seine Verdienste um China in einer +äußerst anerkennenden Denkschrift zusammen, die besonders auch darauf +Wert legt, daß seine edle Selbstlosigkeit viel dazu beitragen werde, +die Chinesen von ihrem Mißtrauen gegen alle Ausländer zu heilen. Als +Gordons Tod bekannt wurde, kamen Zeugnisse aus dem fernen China, daß +man seiner dort in Liebe gedenke; und als Gordon in Khartum gefallen<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> +war, da schickten der Kaiser und Li und andere, die ihm ihren Dank +bewahrt hatten, erhebliche Beiträge zu dem Gedächtnisfonds, damit ein +würdiges Denkmal für den Helden erstehe.</p> + +<p>Aber das schönste Zeugnis stellt ihm ein Taipingführer aus, der nach +dem Fall von Sutschau geschrieben hat: »Fern sei es zu behaupten, daß +Gordon um die Greuelthaten wußte. Bei aller Kenntnis des brutalen +Verfahrens, dessen mancher, den Namen Engländer entehrend sich +schuldig macht, glauben wir doch keinen Augenblick, daß der ehrenwerte +Anführer der Armee, die sich die siegreiche nennt, jene mörderischen +Greuel guthieß ... Wir wissen, daß Gordon es stets bitter beklagte, +wenn Grausamkeiten verübt wurden, die er nicht verhindern konnte, und +daß in seinem Herzen der Gedanke brennen muß, wie in seinem Heimatland +solche Greuel vielleicht ihm zur Last gelegt werden. Möge es ihm eine +Genugthuung sein zu wissen, daß unter seinen Feinden, die lieber seine +Freunde wären, jene Thaten ihm nicht zugerechnet werden. Gefiele es +doch dem Himmel, daß irgend ein unwürdiger Abenteurer seine Stelle +einnähme, einer, den man nicht betrauern müßte, wenn er erschlagen +würde! Statt dessen kann ich es bezeugen und habe es mehrmals mit +eigenen Augen gesehen, wie im Schlachtgetümmel einem niederträchtigen +Engländer, den Geldgier in unsere Reihen führte, die Flinte aus der +Hand geschlagen wurde, wenn er von gedecktem Standpunkt aus auf den +stets furchtlos sich bloßstellenden Gordon zu zielen sich unterstand. +Und der solchem Meuchelmord wehrte, war immer einer unserer Anführer, +ja einmal kein anderer als der Schildkönig selbst!«</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> +<div class="chapter"> +<h2 id="Drittes_Buch">Drittes Buch.<br> +<span class="s5"><b>In der Stille.</b></span></h2> +</div> + +<p>»Es ist einer auf dem Heimweg,« schreibt Gordon an seine Mutter im +November 1864, »aber es ist ihm nicht darum zu thun, daß es bekannt +werde.« Gefeiert zu werden war, wie wir<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> wissen, nicht nach seinem +Geschmack; wozu auch? meinte er, er habe nur seine Pflicht gethan. +Der Geschichtschreiber der stets siegreichen Armee sagt, daß er über +die Persönlichkeit Gordons von ihm selbst wenig Auskunft erhalten +und daß der Leser, in dem die Berichte von Krieg und Sieg mit der +Verherrlichung Gordons unwillkürlich zusammenfließen, sich ohne +Zweifel wundern würde, wenn er den jungen Mann und seine ruhige, +zurückgezogene Art sehen könnte. Freude an energischer Thätigkeit, +Selbstaufopferung und Pflichtbewußtsein seien offenbar die Triebfedern +seines Wesens. Äußerlich aber habe der tief fromme Soldat nichts von +all dem an sich, was sonst den kühnen Anführer einer irregulären +Soldateska kennzeichne.</p> + +<p>Kaum war Gordon im Kreise der Seinigen in Southampton angelangt, da +regnete es auch schon Einladungen aus der vornehmen Welt. Er hatte +den Mut, sie alle abzulehnen. Im engen Familienkreise nur ließ er +sich herbei, seine chinesischen Erlebnisse zu beschreiben; und die +so glücklich waren, es mit anzuhören, fanden die Berichte fast +märchenhaft, fast wie eine Heldensage aus vergangener Zeit. Mit +Ingrimm konnte er da wohl die Greuel des Rebellentums beschreiben, +aber seine Stimme wurde stets leise, wenn von Sieg die Rede war, denn +dann gewann neben der Bescheidenheit des Erzählers Mitleid mit den +Überwundenen die Oberhand. Niedergeschrieben wurde nichts von all dem, +außer was bewunderndes Interesse in die Herzen der Hörer eingrub. +Selbst das Tagebuch, das Gordon aus China nach Hause gesandt hatte, +fiel seiner Demut zum Opfer. Er wünschte keine Veröffentlichung, wie +er bei der Übersendung schrieb. Leihweise fand es indessen seinen Weg +in die Hände eines der Minister, und dieser war daran, es privatim +drucken zu lassen, damit seine Kollegen es auch lesen könnten. Eines +Abends hörte Gordon zufällig davon und begab sich stehenden Fußes nach +der Wohnung des betreffenden Herrn, traf ihn aber nicht zu Hause; doch +erfuhr er den Namen des Druckers, eilte zu diesem und verlangte sein +Manuskript zurück mit dem Befehl, das bereits Gesetzte zu zerstören. +Was jenes Tagebuch betrifft, so hat es niemand je wieder gesehen. +»Ich besitze wenig auf der Welt,« pflegte er zu sagen,<span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span> »meinen Namen +könnten die Leute mir jedoch als Privateigentum lassen«. Von wie viel +tausend Zungen ist der Name Gordon seither mit Bewunderung genannt +worden!</p> + +<p>Im folgenden Jahre wurde ihm die Ernennung als königlicher +Ingenieur-Kommandant zu Gravesend, wo in Aussicht auf einen möglichen +Krieg mit Frankreich neue Forts an der Themse aufgeführt werden +sollten. In Anerkennung seiner Verdienste erhielt er um diese Zeit +den Ritterorden <em class="antiqua">of the Bath</em>.<a id="FNAnker_5" href="#Fussnote_5" class="fnanchor">[5]</a> Er war mittlerweile zum +Oberst-Leutnant avanciert.</p> + +<p>In Gravesend war er sechs Jahre, die schönste Zeit seines Lebens +— arm nach außen in den Augen der Welt, reich nach innen an den +christlichen Früchten der Hingabe und zwar unbewußter Hingabe und der +edelsten reinsten Menschenliebe. Er selbst hat es ausgesprochen, daß +es die glücklichsten, friedlichsten Tage seiner Wallfahrt waren, und +damit giebt er sich selbst ein hohes Zeugnis. Wie ergreifend, wie +herrlich ist das Bild des Mannes, der Thaten vollbracht wie wenige und +der nun seine ganze Freude darin findet, in der Stille an den Armen, +den Kranken, den Verlassenen, den leiblich und geistig Darbenden Gutes +zu thun. Als eine Art Heiliger soll der Mann keineswegs gezeichnet +werden; das wäre eine Übertreibung, die er selbst am meisten beklagt +hätte. Er hatte seine Gebrechen wie alle Menschen, so unterlag er z. +B. hin und wieder seiner Heftigkeit; seine Gleichgültigkeit gegen das +Urteil der Leute grenzte zuweilen ans Rücksichtslose, und wenn er sich +eine Meinung in den Kopf gesetzt hatte, so war es nicht immer leicht, +ihn eines anderen, vielleicht besseren, zu belehren; trotzdem aber +kann der Leser aus folgenden Zügen reichlich erkennen, daß Christus in +diesem Manne eine Gestalt gewonnen hatte, die den meisten Menschen, +ja den meisten Christen ein beschämendes, aber andererseits auch +aufmunterndes Beispiel sein kann.</p> + +<p>Gordon war ein ideal angelegter Mensch, aber das Ideale wurde in ihm +sofort real, praktisch. Sein Christentum war kein<span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span> enges, frömmelndes, +sondern eine große, tiefe, treue Liebe zu seinem Heiland, die alle +Menschen als Brüder umschloß, ein rechter Israeliter, in welchem kein +Falsch ist! Ob und wann es in seiner Lebensentwicklung einen Zeitpunkt +gab, den man seine »Bekehrung« nennen könnte, ist nicht ersichtlich +— ernste Eindrücke empfing er schon in Pembroke; das aber ist nicht +zu verkennen, daß ihm Gravesend zum Patmos wurde, wo sein Glaube sich +höher schwang und seine Liebe sich vertiefte, wo er nach dem Worte +lebte: »Simon Johanna, hast du mich lieb? Weide meine Schafe.«</p> + +<p>Er lebte nur für andere. Sein Haus — und es war ein großes, viel zu +groß für seine bescheidenen Junggesellenbedürfnisse — war Schule, +Kranken- und Armenhaus in einem; ein zufälliger Besucher hätte es +eher für die Behausung eines Stadtmissionars gehalten als für die +Dienstwohnung eines Offiziers. Kein Notleidender klopfte je vergebens +an seine Thür; alle Hilfsbedürftigen hatten ein Anrecht an ihn, aber +am meisten zog sein Herz ihn zu den sogenannten Straßenjungen. Nie +ging er an einem vorüber ohne ihn anzureden. Er lud sie ein, zu ihm +zu kommen, und versammelte sie bei sich in Klassen, wozu mehr als +ein Zimmer seines Hauses herhalten mußte. Die ganz verkommenen und +heimatlosen behielt er eine Zeit lang bei sich, kleidete und reinigte +sie, um sie dann, am liebsten als Schiffsjungen, unterzubringen. Er +nannte sie seine »Könige« — als Deutscher hätte er wohl »Prinzen« +gesagt. Einer seiner Bekannten, der ihn einmal besuchte, wunderte +sich, warum auf der Weltkarte in seinem Arbeitszimmer so viel +Stecknadeln mit Fähnchen angebracht waren, und erfuhr dann, daß +Gordon auf diese Weise seine »Prinzen« auf ihren Fahrten begleite; +und er vergaß keinen in seiner täglichen Fürbitte. Seine Prinzen +vergalten ihm die Liebe aber auch mit begeisterter Anhänglichkeit. Sie +vertrauten ihm und lernten von ihm mit der Wahrheit umgehen; und wenn +einer Unrecht that, so wußten sie, daß sein Mitleid immer größer war +als sein Mißfallen. Drei der Jungen hatten einmal das Scharlachfieber +in seinem Hause; er pflegte sie und verbrachte mehrere Stunden der +Nacht an ihrem Bette.</p> + +<p>Auch die Armenschule besuchte er; an den Sonntag-Nachmittagen konnte +man ihn sicher daselbst antreffen, und die es mit<span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span> Augen gesehen +haben, sagen, kein erhebenderes Bild lasse sich denken als den Helden +Chinas, der den armen Kindern mit heiliger Wärme biblische Geschichten +erzählte, ja mit einer Begeisterung, als führe er sie durch Kampf zum +Sieg. Für jedes einzelne interessierte er sich persönlich, kannte ihre +Lage, ihre Sorgen, suchte sie in ihrer Armut auf und ließ sie zu sich +kommen. Der Armenschule in Gravesend hat er auch seine chinesischen +Trophäen geschenkt, nämlich die seidenen Fahnen, die seine Siege +bekundeten. Ein anderer hätte sie allenfalls einem Monarchen zu Füßen +gelegt; ihn freute es, daß seine Armenschüler damit eine Auszeichnung +gewannen. Mehr als einer jener armen Jungen, der jetzt ein gemachter +Mann ist, und, was besser ist, ein Christ, dürfte ein schöneres +Denkmal für den gefallenen Helden sein, als irgend eines, das seine +Nation ihm zu errichten vermöchte.</p> + +<p>Einer seiner »Prinzen« schreibt unterm 12. März 1885: »Nichts freut +mich mehr, als es bezeugen zu dürfen, was der liebe gute General +für mich und andere gethan hat, während er in Gravesend lebte. Zu +der Zeit, als ich in seinem Hause Aufnahme fand, traf ich dort noch +eine Anzahl anderer Jungen, die alle gleich mir kränklich waren; +unsere Eltern hatten nicht die Mittel, uns hinreichende Nahrung +zu gewähren. Der General aber hatte uns fast täglich bei sich zum +Mittag- und Abendbrot, und wir durften mit ihm am selben Tisch essen. +Drei von uns (darunter ich), die es am nötigsten hatten, schickte +er in das Seebad-Krankenhaus nach Margate, wo er je 16 und 18 Mark +wöchentlich Kostgeld für uns zahlte. Ich war ein volles halbes Jahr +dort, die beiden anderen, ein Junge und ein Mädchen, jedes drei +Monate. Ich danke jetzt noch dem lieben Gott dafür; denn von jener +Zeit datiert meine Gesundheit ... Später hat er mich auch auf einem +Schiff untergebracht und die Lehre bezahlt; ich kann ihm nie genug +danken. Ein anderer Junge, der mit mir dort war, ist jetzt Lotse, und +das verdankt er auch dem General ... Es drängt mich, dies bekannt zu +machen als ein Beispiel von dem, was der liebe General an vielen that. +»Seine Jungen« nannte er uns. Kaum ein Abend verging, daß er nicht +ein Dutzend von uns bei sich hatte, meist Fischerjungen, die nicht +zur Schule gehen konnten;<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> er unterrichtete uns, und wenn das Lernen +vorbei war, durften wir Domino oder Schach spielen, und im Sommer +gab es Cricket. Wenn die Jungen alt genug waren, brachte er sie auf +Kauffahrteischiffen unter, manchmal auch in der Marine. Keinen ließ er +gehen, ohne ihn mit der nötigen Kleidung zu versorgen.«</p> + +<p>Auch später, als Gordon selbst wieder in weite Ferne zog, verlor +er keineswegs das Interesse an seinen »Prinzen«. Mit manchen +korrespondierte er, nach anderen erkundigte er sich, und wo Hilfe not +that, schickte er auch Geld. Hier sind einige Sätze aus einem der +vielen Briefe, die er an einen Freund in Gravesend richtete:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p class="right">Galatz, 27. Februar 1872.</p> + +<p>»Es freut mich zu hören, daß Georg P. verheiratet ist und daß Billy +Arbeit gefunden hat ... Ich habe meinen Wagen und die Pferde verkauft +— ganz unnötiger Luxus ... Meine Grüße an Birls und Ridley; diese +beiden Jungen könnten manchen aus den besseren Ständen zum Muster +dienen. Was den M. betrifft, so sollte er als Junggeselle bei 25 +Mark wöchentlichem Verdienst etwas zurücklegen können; ich lasse ihm +weniger Trunk und mehr Fleiß empfehlen. Ich bedaure, daß Sie, wie Sie +sagen, beinahe angeschwindelt worden sind. Weisheit in Geldsachen +geht uns beiden ab; doch ist es ein Trost, zu wissen, daß Gott uns +immer wieder durchhilft, und wenn wir nicht selbst manchmal Mangel +empfänden, so wüßten wir nicht, was <em class="gesperrt">Geben</em> ist; von unserem +Reichtum geben ist keine Kunst. Ich lasse dem Harry A. für seinen +Brief danken, es freute mich von ihm zu hören. Auch der Frau K. +meinen Dank — hat Karl Arbeit? Sie ist ein braves Frauchen, und es +würde ihr wohlthun, wenn Sie sie besuchen wollten. Auch nach dem +jungen Fordham könnten Sie sehen, erkundigen Sie sich doch, was er +vorhat; in seiner Schule wird es zu erfragen sein. Das Kunstwerk von +Brief ohne Unterschrift ist wohl von dem kleinen Arthur W..., sagen +Sie ihm, er müsse vor allen Dingen wachsen, bis er über den Tisch +sehen kann, und danken Sie ihm für den Brief. Sagen Sie der Frau M. +ein tröstliches Wort ...; es thut mir sehr leid, zu hören, daß E.. +seine Stelle verloren hat; sagen Sie es ihm mit einem herzlichen +Gruße ....«</p> +</div> + +<p>Es erhellt schon aus diesem Briefe, daß er sich nicht nur der Jungen +annahm. An Sonntagen hielt er regelmäßig eine<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> Bibelstunde für alle +Armen, die kommen wollten. Gepredigt im eigentlichen Sinne hat er +dabei nicht, aber wie er ihnen die Bibel auslegte und was er ihnen +von der Liebe Gottes sagte, das kam vom Herzen und ging zum Herzen. +Als er Gravesend verließ, haben die Armen, denen er auf diese Weise +Gutes gethan, aus eigenem Antrieb ihre Scherflein zusammengelegt und +ihm eine schöne Bibel geschenkt; es war eine Gabe dankbarer Liebe wie +selten etwas.</p> + +<p>Auch der Kranken nahm er sich an. Furcht vor Ansteckung kannte er +nicht; er besuchte Häuser in den Armenquartieren, wohin andere zu +gehen sich scheuten. Wenigstens einmal wöchentlich erschien er im +Armenspital, und nie kam er mit leeren Händen. Was seine Freunde +etwa ihm zuschickten, schöne Trauben oder Erdbeeren zu früher +Jahreszeit, das wanderte zu den Kranken. Und die Liebe, die aus seinen +Augen strahlte, und die liebliche Art seines Wesens war den Leuten +erquicklicher noch als seine Gaben. Da las er denn auch ein paar +Bibelworte und betete mit ihnen und verließ sie getröstet. Und sie +zählten die Tage bis er wieder kam, sie richteten sich auf an seiner +wahren Teilnahme, ja manches geprüfte Herz sah da den Himmel offen und +lernte an den Heiland glauben, der alle Schmerzen auf sich genommen +hat.</p> + +<p>Seine einzelnen Samariterdienste sind nicht zu zählen. Er hatte eine +leidenschaftliche Freude an Blumen, hatte auch einen schönen Garten +zu Gravesend, wo er sie pflegen konnte, aber wenn sie erblüht waren, +trug er sie in die Krankenzimmer der Armenquartiere. Er hört von +einer kranken Frau und geht hin, findet sie in Kälte und Elend, da +zündet er eigenhändig ein Feuer an und macht ihr eine Tasse Thee. Dann +schickt er ihr eine Wärterin und bezahlt den Doktor. Die Frau lebt +heute noch, voll Lobes über seine Liebesthat. Ein andermal hörte er, +daß eine Familie in Gefahr ist, aus ihrer Wohnung gewiesen zu werden; +er zahlt die rückständige Miete und entzieht sich dem Danke. Unter +seinen besonderen Schützlingen war ein alter Mann, der seit Jahren +gelähmt war: nur die linke Hand konnte er noch bewegen, auch konnte +er liegend lesen. Gordon sorgte dafür, daß<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> ihm täglich eine Zeitung +zukam. Derselbe gelähmte Mann klagte ihm einst, daß die Fliegen ihn so +quälten, weil er sich ihrer nicht erwehren könne. Gordon sagte nichts, +aber am andern Tage erschien ein den Leuten anfänglich unerklärliches, +mit Schleierstoff überzogenes Gestell. Es war eine Vorrichtung, den +Kopf des Mannes vor den Fliegen zu schützen, ohne ihn am Lesen zu +hindern.</p> + +<p>Ja die Armen und Kranken zu Gravesend, denen er nie vorpredigte, ihr +Elend sei der Wille Gottes, erinnern sich seiner mit lebenslänglicher +Dankbarkeit. Ein alter Mann erzählt, seiner damals leidenden Frau +seien kräftige Suppen und Wein verordnet worden, die er aus seinen +Mitteln nicht bezahlen konnte, aber der gute Oberst habe, als er davon +gehört, täglich eigenhändig Suppe oder Wein gebracht, und als es ihr +wieder besser ging hätte er ihnen aus der Bibel vorgelesen, und das +sei schön gewesen. Niemand beklagte seinen Tod aufrichtiger als dieser +alte Mann, wenn es nicht jene alte Frau war, an deren Jungen er Gutes +gethan hatte. Diese hatte schwer mit Armut zu kämpfen gehabt. Als es +bekannt wurde, Gordon sei tot, meinte die fromme Einfalt, sicherlich +würde er in London begraben werden, und schickte sich an, ihren ganzen +Besitz, ein paar Fischernetze, zu verkaufen, um die Mittel zu einer +Reise nach London aufzutreiben. »Ich muß sein liebes Gesicht noch +einmal sehen,« sagte sie, »es mag kosten was es will, und wenn ich +nachher Hungers sterbe.«</p> + +<p>Gordon war lange in Gravesend, ehe die Leute dahinter kamen, daß der +freundliche Oberst im Forthaus und der »Chinesen-Gordon« ein und +derselbe waren. Äußerst bezeichnend, sowohl für ihn als für gewisse +Leute, ist folgende kleine Thatsache. Er hatte von Anfang an Sonntags +seinen Sitz auf der Emporkirche unter den Armen genommen. Niemand +kümmerte sich darum; als es aber nach und nach bekannt wurde, was +für einen berühmten Mann man in der Gemeinde habe, würdigten die +Kirchenältesten ihn einer feierlichen Aufwartung und baten ihn, +er möge doch herunterkommen und sich eines der gepolsterten Sitze +bedienen, die für die Vornehmeren bestimmt sind. Er dankte für die +Rücksicht, zog es aber vor, unter den Armen auf hölzerner Bank sitzen +zu bleiben.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span></p> + +<p>Es ließen sich leicht noch Dutzende von Beispielen beibringen, die +sein Leben in der Stille kennzeichnen, doch dürfte das Vorstehende +genügen. Was eine zu Gravesend wohnende Dame, die ihn kannte, über ihn +schrieb, sei jedoch nicht unterdrückt:</p> + +<p>»Seine barmherzige Liebe umschloß alle; daß einer elend und arm +war, war ihm genug, er erkundigte sich nie, ob man seine Hilfe auch +verdiene. Wenn er dabei auch einmal hintergangen wurde, so war's nur +selten<a id="FNAnker_6" href="#Fussnote_6" class="fnanchor">[6]</a>, denn er hatte ein Auge, das die Leute zu durchschauen +schien, es schien nutzlos, ihn belügen zu wollen. Ich habe mich +oft gefragt, ob es seinem natürlichen Scharfblick zuzuschreiben +ist oder vielmehr der ihm eigenen Einfalt und Selbstlosigkeit, daß +er Menschen und Dinge meist in ihrem wahren Licht sah. Im Armen- +und Krankenhaus war er ein ständiger Gast, und Empfänger für seine +Liebesthaten gab's unzählige in der ganzen Umgegend. Mancher Sterbende +schickte lieber nach ihm als nach dem Pfarrer, und weder Entfernung +noch Wetter hielten ihn je ab, einem solchen Rufe zu folgen. Einen +Armengottesdienst zu leiten, dazu war er immer bereit, und wo man +die Hungernden zum Sichsattessen versammelte, ließ er sich nie +zweimal bitten, ihnen biblische Geschichten zu erzählen. Aber in +Versammlungen religiöser oder philanthropischer Art sah man ihn nie +als Vorsitzenden, und öffentliches Redenhalten haßte er, besonders +wenn es dazu dienen sollte, ihn persönlich zu verherrlichen. Und +nichts war ihm gleichgültiger, als Essen und Trinken, sofern es ihn +selbst betraf. Wir begegneten ihm einmal gegen Abend, und er nahm +uns mit nach Hause, wo der Tisch für ihn gedeckt stand — eine Kanne +Thee und ein trockenes Laibchen Brot. Ich machte eine scherzende +Bemerkung, ob er auf trockenes Brot reduziert sei; da nahm er das +Laibchen (kein großes), drückte es in ein Schüsselchen und goß den +Thee darüber. ›So, nun wird es bald weich sein,‹ sagte er, ›und nach +einer halben Stunde ist es einerlei, was ich gegessen habe.‹ Um ein +humoristisches oder witziges Wort war er nie<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> verlegen, und noch +seh' ich ihn mit den Augen zwinkern, als er mir erzählte, was für +enttäuschte Gesichter es manchmal unter seinen Jungen gebe, die, von +ihm aufgenommen, sich einbildeten, künftig herrlich und in Freuden +zu leben, und dann die Entdeckung machen mußten, daß Pöckelfleisch +und Kartoffeln auch ein gutes Mittagessen abgebe. Zu seinem Garten +überließ er uns freundlicher Weise den Schlüssel, damit unsere Kinder +darin spielen könnten. Als wir zum erstenmal davon Gebrauch machten, +bewunderten wir die frühen Erbsen und andere leckere Gemüse, die darin +wuchsen, und da eben seine Haushälterin hinzu trat, machten wir eine +darauf bezügliche Bemerkung. Sie erklärte uns alsbald, daß der Oberst +nie dergleichen auf seinem Tisch hätte; er überlasse fast den ganzen +Garten armen Leuten, die ihn anpflanzen und den Ertrag dann verkaufen +dürften. So kam es, daß es bei uns zu einer Redensart wurde, »der +Oberst hat kein Ich.« All sein Thun war selbstlos, und darin folgte er +seinem Herrn. Nie oder selten konnte man ihn dazu bringen, von sich +zu reden. In jener Zeit wurde das erste Buch über ihn geschrieben. +Er lud den Verfasser zu sich ein und half ihm nach Kräften, sofern +es die Einzelheiten über den Taiping-Krieg betraf, wozu er ihm seine +eigenen Aufzeichnungen gab. Als er aber, durch irgend eine Bemerkung, +die gemacht wurde, auf den Verdacht kam, daß in dem Buche von ihm +selbst und seinen Thaten viel die Rede sein könne, da bat er sich +das Manuskript aus und zerriß eine Seite nach der andern zu des +Verfassers nicht geringem Entsetzen. Es war mir ein Anliegen, den Mann +und seine ungewöhnliche Abneigung gegen alles Lob zu verstehen, und +so befragte ich ihn einmal darüber, indem ich hinzufügte, er habe ja +alles Recht, auf diese Dinge stolz zu sein. Da entgegnete er, niemand +habe ein Recht, auf irgend etwas stolz zu sein, da wir alles empfangen +hätten und von Natur in keinem Menschen Gutes wohne. Er setzte +hinzu, daß jeder nur immer alle Ursache habe, sich zu demütigen, +daß alles Medaillentragen, aller äußere Schmuck des Körpers, wie +überhaupt alle Selbstverherrlichung ganz übel angebracht sei. Auch +hätte keiner ein Recht, irgend etwas sein zu nennen, der sich ein +für allemal dem Herrn als Eigentum ergeben<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> habe. Was sollte er da +zurückbehalten? ›Des lieben Gottes Eigentum zu sein,‹ sagte er zu +mir, ›sollte auch Sie hindern, diese goldene Kette da zu tragen; sie +sollte für die Armen verkauft werden.' Indessen gab er zu, daß nicht +alle Menschen je nach ihrer verschiedenen Lage es so leicht finden +möchten wie er, irdischen Besitz in solchem Licht zu betrachten. +<em class="gesperrt">Sein</em> Geldbeutel war immer leer infolge seiner Freigebigkeit. +Ein silbernes Theeservice, das Geschenk seines Verwandten Sir William +Gordon, bewahre er auf, sagte er einmal; der Wert desselben werde +ausreichen, früher oder später seine Begräbniskosten zu bestreiten, +ohne anderen zur Last zu fallen. So verhaßt es ihm war, von seinen +Thaten zu reden, so freigebig war er mit seinen Gedanken, und manche +interessante Unterhaltung führten wir mit ihm. Ein gewisser mystischer +Zug, der ihm eigen war, verlieh seiner Rede einen eigenen Reiz; wir +haben viel von ihm gelernt. Er besuchte uns oft, aber es war eine +ausgemachte Sache, ohne daß je ein Wort darüber verloren worden wäre, +daß man ihn nie auffordern dürfe, länger zu bleiben, wenn er sich zum +Gehen anschickte. Ihn je zu Tisch zu bitten, wäre ordentlich eine +Beleidigung gewesen: ›Ladet die Armen und Kranken ein,‹ hätte man da +zur Antwort erhalten, ›ich kann zu Haus essen.‹«</p> + +<p>Daß er neben seinen Berufsarbeiten und täglicher fleißiger +Beschäftigung mit Gottes Wort so viel Zeit fand, Gutes zu thun, +verdankte er einerseits seiner Gewohnheit früh aufzustehen, +andererseits seinem methodischen Fleiß, der nie auf einen andern +Tag verschob, was sofort geschehen konnte. »Warum sollte man etwas +hängen lassen, was man gleich erledigen kann,« pflegte er zu sagen. +Immer beschäftigt sein, war offenbar die äußere Bedingung seiner +Zufriedenheit. Einer Dame, die sich bei ihm über die Langeweile des +Mode-Lebens beschwerte, gab er den guten Rat, sich doch einmal am +Waschzuber ordentlich müde zu schaffen. Einer seiner Untergebenen, der +über die Arbeiten seines Berufes in Gravesend berichtet hat, schreibt +unter anderem: »Wenn Gordon an der Arbeit war, dann <em class="gesperrt">war's</em> +Arbeit, und keiner von uns hätte es sich beikommen lassen, ihn auf +irgend etwas einen Augenblick länger warten zu lassen als absolut +nötig war. ›Schon<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> wieder fünf Minuten verloren, die wir nie wieder +haben werden!‹ konnte er ausrufen. Er hielt strenge Ordnung, aber das +hinderte keinen, mit völliger Liebe und Verehrung an ihm zu hängen.«</p> + +<p>Gordons äußere Erscheinung soll durchaus nichts Überwältigendes +gehabt haben. Er war nicht groß, hatte kein stattliches Auftreten; +man sah ihm den Soldaten nicht an. Wer ihm zum erstenmale begegnete, +konnte aus seinem bescheidenen Äußeren nicht schließen, daß er +es mit einem der tüchtigsten Offiziere zu thun habe. Daß er der +»Chinesen-Gordon« war, stand ihm nicht auf der Stirn geschrieben, +obgleich er der denkbar offenherzigste Mensch war. Ein gewisses +jugendliches Aussehen soll er bis ins mittlere Alter bewahrt haben. +Die ihn kannten, stimmten darin überein, daß seine Macht über die +Menschen von seinen blauen Augen ausging — »sein Gesichtsausdruck +hatte nichts bedeutendes, war aber von der Art, die es ›einem +anthut,‹« sagt einer seiner Mitoffiziere, ein langjähriger Freund, +»und im Umgang hatte er etwas unaussprechlich bezauberndes.« Man +habe sich mit unwiderstehlichem Vertrauen zu ihm hingezogen gefühlt +als zu einem Mann, der es gut mit einem meine; man habe ihm nur ins +Auge zu sehen brauchen um zu wissen, daß man sich felsenfest auf ihn +verlassen könne, selbst wenn alle andern einen im Stich ließen. Neben +der Sanftmut und Güte seines Wesens, die alle rühmen, die je mit ihm +zu thun hatten, konnte er aber auch herzhaft zornig werden, wie schon +angedeutet wurde. Er kannte diese seine schwache Seite wohl, und wenn +einer seiner Untergebenen einen Verweis verdiente, so suchte er für +den zu erlassenden Tadel gern einen Stellvertreter, aus Furcht, von +der Hitze mit fortgerissen zu werden.</p> + +<p>Wohl der schönste Zug seines Wesens war seine wunderbare Demut, die +nie heller leuchtete als im Umgang mit den Armen und Niedrigen. +Solchen erzählte er auch mit größter Bereitwilligkeit aus seinem +Leben in China und anderwärts, worüber seinesgleichen ihn nie reden +hörten. Er war höflich gegen den Geringsten und konnte einen Bettler +um Verzeihung bitten, wenn er ihm eine Münze hastig hingeworfen. Wer +zu jener Zeit in Gravesend wohnte, der konnte hin und wieder sehen, +wie er auf<span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span> der Straße plötzlich stehen blieb, um vielleicht einem +armen Waschweib ihre Last abzunehmen, sei's Bündel oder Korb, und ihr +tragen zu helfen, und war einer seiner Freunde in der Nähe, vornehm +oder gering, so konnte er gewärtig sein, auch aufgefordert zu werden, +mit Hand anzulegen.</p> + +<p>Gordon war ein Christ in des Wortes vollster Bedeutung, aber einer +besonderen Gemeinschaft im englischen Sinn hat er nicht angehört. Dies +ist schon durch seine Lebensführung begreiflich. Auch darf man wohl +sagen, daß einer, der so in der Allgegenwart, ja Gemeinschaft Gottes +wandelt, über die Unterschiede hinaus ist, die uns andere, die wir +noch Schüler sind, in Klassen abteilen. Er hat sein Leben, wie wir +gesehen haben, nach dem Wort eingerichtet: Ein reiner und unbefleckter +Gottesdienst vor Gott dem Vater ist der, die Waisen und Witwen in +ihrer Trübsal besuchen und sich von der Welt unbefleckt erhalten. +Übrigens hielt er dafür, daß das Christentum eines Menschen sich vor +allen Dingen in der gewöhnlichen Berufs- und Pflichterfüllung des +Lebens bethätigen müsse. Das ist's, was der seltenen Energie zu Grunde +liegt, die ihn zum großen Manne gemacht hat; das auch, was in der +Gerechtigkeit, Festigkeit, Milde und Umsicht seinen Ausdruck fand, die +seine Verwaltung des Sudan so rühmlich kennzeichneten. Er war überall +und in allen Dingen ein Christ. Sich selbst für besser halten als +andere, war nicht seine Sache. »Wir sind alle voll Schwären,« konnte +er sagen, »manche verdecken ihre Schäden mit seidenen Lappen, andere +haben nur Lumpen; reißt beides weg, und die Krankheit ist dieselbe.«</p> + +<p>Auf sein inneres Leben und seine Stellung zur christlichen Lehre +werden wir später zurückkommen. Die Früchte, die aus seinem Glauben +erblühten, sind mit der kurzen Schilderung aus Gravesend wohl zur +Genüge dargethan.</p> + +<p>Im Jahr 1871 wurde Gordon nach Galatz geschickt, in eine ihm nicht +unbekannte Gegend, wo er an der Donau-Mündung eine ähnliche Arbeit +ausführen sollte wie daheim an der Themse. Die »öffentliche Meinung« +aber fing an sich zu wundern, warum die Kräfte eines so eminent zum +Kriegführen geschaffenen Mannes wie Gordon an eine Arbeit verschwendet +würden, die jeder andere<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> Ingenieuroffizier auch erledigen könne. +Es war die Zeit der Asante-Sorgen, und die Zeitungen fingen an sich +zu erkundigen, wo der »Chinesen-Gordon« stecke und warum man nicht +ihn absende, um dem König Kofi das Handwerk zu legen. Unter den +vielen Zuschriften an die öffentlichen Blätter in jener Zeit verdient +ein »Mandarin« unterzeichneter Brief, den die Times brachte, hier +wenigstens im Auszug wiedergegeben zu werden.</p> + +<p>»Es ist zum Verwundern,« sagt der Schreiber, ein ehemaliger Offizier +der stets siegreichen Armee, »wie wenig die erstaunlichen Thaten +des Mannes, der als »Chinesen-Gordon« öfters genannt worden ist, +in diesem Land bekannt geworden sind. Als einer, der in der stets +siegreichen Armee unter ihm diente — welche Bezeichnung ganz gewiß +nicht aus seinem Munde stammt — könnte ich lange Spalten füllen mit +den Beweisen seiner unglaublichen Thatkraft, seiner über alles Lob +erhabenen Um- und Vorsicht, seiner anspruchslosen Bescheidenheit, +seiner Ausdauer und Herzensgüte, seines überlegenen Mutes, ja +Heldenmutes. Es ist die einfache Wahrheit, daß alle, die je unter ihm +gedient haben, seine militärische Tüchtigkeit, um nicht zu sagen sein +Kriegsgenie, in alle Himmel erheben. Es giebt nicht viele Heerführer, +denen ein ganzes Offizierkorps solch einstimmiges, begeistertes Lob +zollt. Und noch wunderbarer ist die völlige Hingabe, mit der die +chinesischen Truppen ihm anhingen, das unbedingte Vertrauen, das sie +in irgend welches Unternehmen setzten, wenn nur er es persönlich +leitete. In ihren Augen war er einfach ein Zauberer, dem alles möglich +war .... In ihrem Glauben an seine gefeite Unverwundbarkeit bestärkte +sie seine Gewohnheit plötzlich zu erscheinen, wenn die Truppen unter +Feuer waren, wo er dann im dichtesten Kugelregen ganz ruhig dastand. +Außer seinem spanischen Rohr, das die Soldaten seinen Zauberstab +nannten, trug er ein kurzes Fernrohr, nie Waffen; oder richtiger, +was er an Waffen trug, war unsichtbar.... Einmal nur erinnere ich +mich Zeuge gewesen zu sein, wie Gordon einen Revolver zog. Es war +bei Kuinsan, nachdem die Truppen ein Vierteljahr lang während der +Sommerhitze im Quartier gelegen hatten. Man benutzte diese Zeit, +sie einzuexerzieren, mit dem Gedanken an die geplante Einnahme<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> von +Sutschau. Die Hitze war entsetzlich. Ruhr und Cholera lichteten die +Reihen, und die Disziplin war nicht ganz so stramm wie sonst..... Als +gegen Ende September Befehl zum Abmarsch gegeben wurde — es galt +die Forts und Schanzenwerke zwischen Kuinsan und Sutschau — war's +besonders die Artillerie, die den Gehorsam weigerte. Eine Kompagnie +wurde störrig und wollte sich nicht einschiffen ... da erschien Gordon +mit seinem Dolmetscher. Er war zu Fuß, dem Anschein nach unbewaffnet +und wie gewöhnlich sehr gefaßt. Sobald er zur Stelle war, erließ er +durch den Dolmetscher die Ordre, daß jeder Soldat, der gesonnen sei, +sich nicht einzuschiffen, vortreten solle. Nur einer trat vor. Da zog +Gordon eine Pistole aus seiner Brusttasche, richtete sie gegen des +Mannes Kopf und ließ ihm durch den Dolmetscher zurufen: »Marsch!« Der +Mann gehorchte auf der Stelle und die ganze Kompagnie ihm nach. Sage +einer — das hätte jeder andere kaltblütige und entschlossene Offizier +auch erreicht! Durchaus nicht! Wenigstens gab's unter uns damals nur +<em class="gesperrt">eine</em> Meinung, daß der Gehorsam in diesem Fall lediglich der +grenzenlosen Achtung, ja Ehrfurcht zuzuschreiben war, mit welcher +das ganze Korps zu Gordon aufsah. In der That war die Stimmung der +Truppen damals eine solche, daß wenn irgend ein anderer Offizier es +gewagt hätte, zu handeln wie Gordon handelte, offene Meuterei und +die Ermordung der Offiziere die Folge gewesen wäre .... Die wahre +Ursache der beispiellosen Erfolge des Korps ist einerseits wohl in +der militärischen Tüchtigkeit des Anführers zu suchen, andererseits +aber in seinem Charakter und seinem ganzen Wesen, welches der Art +war, daß alle, die mit ihm in Berührung kamen, unbegrenztes Vertrauen +in seine Fähigkeit setzten neben dem festen Glauben, daß er mit +den besten ihm zu Gebot stehenden Mitteln die besten Resultate zu +gewinnen der Mann war.<a id="FNAnker_7" href="#Fussnote_7" class="fnanchor">[7]</a> Wer<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> Gordon kennt mit seiner anspruchslosen +Persönlichkeit, seiner ruhigen zurückhaltenden Art, kann von seinem +wunderbaren Einfluß über ein Heer von unwissenden Soldaten und aus +aller Herren Länder zusammengelaufenen Offizieren nur auf die höchsten +Eigenschaften seines Charakters schließen. Um einen Vergleich zu +ziehen, so möchte es scheinen, daß die unwissenden Chinesen den Mann +besser zu würdigen verstanden, als gewisse wohl unterrichtete Leute +hierzulande.«</p> + +<p>Allein die Regierung hatte taube Ohren; einer aus dem Ingenieurkorps, +und wäre er selbst der »stets siegreiche General«, wie das Volk +ihn neuerdings nannte, sei nicht fürs Kommando bestimmt, war die +Entschuldigung. Als der Khedive aber nach einiger Zeit einen +Kommandanten nötig hatte und sich dazu den Oberst Gordon ausersah, +hatte die englische Regierung nichts dagegen einzuwenden.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> +<div class="chapter"> +<h2 id="Viertes_Buch">Viertes Buch.<br> +<span class="s5"><b>Im Lande der Schwarzen.</b></span></h2> +</div> + +<p>Die Sudanländer sind insbesondere durch deutsche Reisende allgemeiner +bekannt geworden. Der Name »Sudan« bedeutet nichts anderes als das +<em class="gesperrt">Land der Schwarzen</em> und stimmt also mit der alten Bezeichnung +»Äthiopien« überein, woraus sich ergiebt, daß der Sudan, heutzutage +ein Land des Elends und der Knechtschaft, schon eine bessere +Vergangenheit gekannt hat. Wir erblicken in ihm das Mohrenland der +Bibel, das Land der Königin Kandaze. Im Propheten Jeremia ist zu +lesen: Lasset die Helden ausziehen, die Mohren! Memnon, ein König von +Äthiopien, zog mit zehntausend Mann den Trojanern zu Hilfe. Und auch +neuerdings haben sich die Sudanesen als Soldaten bewährt, mit denen +nicht zu spassen ist. Aber der Fluch Hams liegt auf dem Lande.</p> + +<p>Sudan ist ein Gemeinname, er umfaßt die ungeheuren mittelafrikanischen +Ländergebiete zwischen Ägypten im Norden und den Seen (Njansa) im +Süden, zwischen dem Roten Meer im Osten<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> und dem Lande Darfur im +Westen. Khartum am Zusammenfluß des Blauen und Weißen Nils liegt +so ziemlich in der Mitte zwischen dem Mittelländischen Meer und +dem Viktoria Njansa, von Meer und See je sechzehnhundert Kilometer +entfernt. Von Khartum nach der Ostgrenze des Sudans, nämlich bis +zu den Hafenstädten Suakim und Massaua am Roten Meer, beträgt die +Entfernung etwa sechshundert Kilometer, nach der Westgrenze bis +Darfur sind es zwölfhundert. Die Hauptstationen zwischen Khartum und +Ägypten sind Berber und Dongola, beide am Nil. In Berber mündet die +Wüstenstraße von Suakim her, und zwischen diesen beiden Orten ist die +Eisenbahnlinie projektiert, die den Sudan vom Roten Meer aus leichter +zugänglich machen soll. Um die Entfernungen durch einen Vergleich zu +veranschaulichen, so ist es von Kairo nicht weiter nach Petersburg +als nach Gondokoro, der Hauptstadt der ägyptischen Äquatorialprovinz, +während es von Khartum nach Gondokoro etwa so weit ist, als von +Berlin nach Rom. Khartum und Gondokoro sind durch den Nil verbunden, +durch den »Ssett« aber, eine Massenanhäufung von schwimmenden +Wassergewächsen, sind diese Städte trotz aller Dampfer oft monatelang +außer Verbindung.</p> + +<p>Ägypten hat sich während der letzten sechzig Jahre in den Sudanländern +ausgebreitet. Mehemet Ali mochte es redlich meinen oder nicht, als +er sich anschickte, an die Stelle der herrschenden Anarchie im +Sudan eine geregelte Regierung zu setzen, und seinen Sohn Ismail +mit einem Soldatenhaufen und etlichen Gelehrten hinsandte, um von +dem Lande Besitz zu nehmen. Dieser aber wurde mit samt seinem +Gefolge von einem Häuptling verbrannt. Man wußte sich furchtbar zu +rächen, und die ägyptische Gewaltherrschaft wurde aufgerichtet. Die +geregelte Regierung bekundete sich in Unterdrückung und Aufstand, +und die eingeführte Zivilisation beschränkte sich hauptsächlich +auf Elfenbeinhandel, wogegen nichts zu erinnern gewesen wäre, wenn +nicht auch das »schwarze Elfenbein«, der Negerhandel, zur Goldquelle +geworden wäre. Der Sklavenhandel nahm nach und nach so zu, daß er +zum offenkundigen Skandal wurde. Die arabischen Händler zahlten +eine beträchtliche Abgabe an die ägyptische Regierung, die deshalb +ein<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> Auge zudrückte. Das Elend im Land spottete aller Beschreibung; +ein ehrliches Gewerbe konnte neben dem Menschenraub nirgends +aufkommen. Europäische Händler waren die Urheber des Unfugs. Um +das Jahr 1860 mußten sich diese aber angesichts der öffentlichen +Meinung zurückziehen. Seither haben die Araber die Negerjagd und +den Negerhandel ins Unglaubliche getrieben. Die Einwohnerschaft der +Sudanländer besteht nämlich aus zwei Hauptklassen, von welchen die +eine, die eingewanderten Araberstämme, die natürliche Unterdrückerin +der andern, der Neger, ist. <em class="gesperrt">Schweinfurth</em> beobachtete die +Sklavenhändler mehrere Jahre lang. Vor zwanzig Jahren, schreibt +er, gab es Hunderte von Denka-Dörfern auf der östlichen Seite des +Flusses, jetzt ist die ganze Strecke zur Einöde geworden. Man stößt +allenthalben auf Spuren, daß Dörfer und angebaute Gegenden da zu +finden waren, wo jetzt alles verwüstet ist; die Bevölkerung muß +wenigstens um zwei Drittel abgenommen haben. Sir <em class="gesperrt">Samuel Baker</em> +ist der Ansicht, daß niemand anders als die ägyptischen Pascha an der +Verwüstung des Denka-Landes schuld seien. »Das Land ist vollständig +entvölkert infolge der Razzien der vom Statthalter von Faschoda +begünstigten Sklavenjäger.« Er durchreiste das Land nach allen +Richtungen und kam allerwärts auf Spuren zerstörter Dörfer. Im Jahre +1864 sah er die Gegend des Viktoria-Nils zum erstenmal; das Jahr +1872 brachte ihn wieder dahin. »Die in diesen Jahren stattgefundene +Veränderung ist nicht zu beschreiben; damals war die Landschaft ein +Garten, dicht bevölkert und voll reicher Produkte. Jetzt ist alles +zur Wüstenei geworden! Niemand ist schuld daran, als die Khartumer +Händler, welche Weiber und Kinder in die Sklaverei führen und plündern +und zerstören, wo sie hinkommen.« »Man sieht meilenweit keine +Menschenseele,« schreibt Gordon, als er den Sobat hinaufdampfte: »die +Sklavenhändler haben die ganze Bevölkerung aufgerieben und die Gegend +zur vollständigen Wildnis gemacht.«</p> + +<p>Während einer Reihe von Jahren geschah nichts, um dem schändlichen +Handel zu steuern. Zwar wurden Proklamationen erlassen, aber, +wie Schweinfurth sagt, schien eine unüberwindliche Neigung zum +Sklavenhandel jedem Türken oder Ägypter angeboren,<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> der im Dienste +der Regierung den Sudan verwalten half. Und als der Greuel dem +Khedive endlich zu arg wurde, war dies nicht sowohl eine Regung von +Mitleid mit den armen Negern, als vielmehr Furcht vor einem sich +erhebenden Machthaber, der seine Oberherrschaft im Sudan bedrohte. Die +Sklavenhändler zählten nach Tausenden; mit bewaffneten Horden zogen +sie durchs Land, ja so mächtig wurden sie, daß sie die Abgaben an die +Regierung nicht länger zu entrichten für nötig fanden. Auch das war +ein Grund, ihnen das Handwerk zu legen. Unter den Sklavenhändlern +war besonders einer, der durch seinen unglaublichen Reichtum, seine +aus Sklaven rekrutierten Truppen, sowie durch die beträchtliche +Anzahl seiner befestigten Stationen fast die Stellung eines Königs +einnahm. Es war dies der berüchtigte Sebehr Rachama, der schwarze +Pascha. Schweinfurth fand ihn von fürstlichem Hofstaat umgeben. Seine +Gäste wurden von reichgekleideten Sklaven in mit kostbaren Teppichen +behangene Vorzimmer geführt, und um den königlichen Glanz seiner +Umgebung zu erhöhen, wurden Löwen herbeigebracht. Sein Reichtum und +sein Aberglaube schienen einander die Waage zu halten, wenigstens wird +erzählt, daß er einmal fünfundzwanzigtausend Maria-Theresia-Thaler +einschmelzen ließ, um Kugeln aus Silber zu gießen, mit denen ein +Feind beschossen werden sollte, der angeblich gegen Blei gefeit +war. Ursprünglich ein Elfenbeinhändler, hatte er sich auf das +»schwarze Elfenbein« verlegt. Er war Herr von nicht weniger als +dreißig Stationen, die sich bis ins Innere von Afrika erstreckten, +und sein Name verbreitete Schrecken durch den ganzen Sudan. Von den +einzelnen Stationen aus wurden Streifzüge auf die Neger unternommen; +auf den Stationen fanden sich die Kleinhändler ein, welche ihm die +Sklaven abkauften und durch die Wüste an die Grenze schleppten. Als +Schweinfurth im Jahre 1871 die Raubhöhle Schekka, Sebehrs Hauptstation +an der Südgrenze Darfurs, besuchte, fand er daselbst nicht weniger +als zweitausendsiebenhundert solcher Händler, die gekommen waren, +um sich mit Sklaven zu versehen. Schon 1869 hatte es die ägyptische +Regierung versucht, Sebehrs großer Macht einen Zügel anzulegen. Eine +Truppenabteilung unter einem Anführer Namens Bellal<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> folgte dem +Sklavenräuber in die Bahr el Ghasal. Es kam auch zu einem Gefecht, +in welchem Bellal, sowie die meisten seiner Soldaten umkamen. +Sebehr selbst trug eine Fußwunde davon. Der Khedive war nicht wenig +entrüstet, mußte sich aber vorläufig damit zufrieden geben, daß nicht +er, sondern Sebehr Herr im Sudan war, den Tausende von Sklavenhändlern +als solchen anerkannten. Zwar dem Namen nach war Sebehr ägyptischer +Unterthan, aber in Wirklichkeit souveräner Herr.</p> + +<p>Die Eroberung Darfurs war eines der mit Bellals Unternehmen in +Aussicht genommenen Projekte. Dieses Land war damals noch frei. Es +hatte seit vierhundert Jahren seine eigenen Sultane. Darfur ist der +Kornspeicher für den westlichen Sudan, und der regierende Sultan hatte +dem drohenden Überfall Bellals eine Ausfuhrsperre entgegengesetzt, +was nicht nur seinem offenen Feinde, sondern auch den Sklavenhändlern +ungelegen kam. Sebehr war Manns genug, einen Gegenschlag zu führen. +Er plante seinerseits eine Einnahme Darfurs. Das konnte dem Khedive +nicht einerlei sein. Fiel Darfur in Sebehrs Hand, dann war nichts +wahrscheinlicher, als daß der ganze Sudan sich ihm ergeben würde. Der +Khedive nahm zur Politik der Feigheit seine Zuflucht und beschloß, +lieber mit als gegen Sebehr zu handeln, worauf ägyptische Truppen +unter Ismail Pascha Jakub vom Norden her in Darfur einfielen, während +die Sklavenhändler es im Süden bedrängten.</p> + +<p>In einer Schlacht wurde der Sultan von Darfur erschossen, und als +seine beiden Söhne den Leichnam decken wollten, fielen auch sie. Ihr +jüngerer Bruder war ein Kind, und ein entfernterer Verwandter Namens +Harun beanspruchte die Thronfolge. Darfur aber wurde unterjocht und +Sebehr zum Pascha gemacht. Diese Ehre war ihm keineswegs genügend; er +und seine Horden hätten das Land erobert, sagte er, ihm komme es daher +zu, als Generalgouverneur die neue Provinz zu verwalten. Er hatte +sogar die Kühnheit, selbst nach Kairo zu gehen, um seine Ansprüche +dort geltend zu machen. Zwei Millionen Mark soll er mit sich genommen +haben, um die Pascha zu bestechen. Es nützte ihm nichts, er wurde in +Kairo festgehalten. Soliman, Sebehrs Sohn,<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> beunruhigte an seines +Vaters Statt das Land und war die Seele eines gewaltigen Aufstandes. +Wie derselbe von Gordon und seinem kühnen Stellvertreter Gessi +unterdrückt wurde, werden wir später hören.</p> + +<p>Der Khedive, der den Sklavenhandel geduldet, wo nicht geschützt hatte, +so lange er ihm eine Rente abwarf, verfiel auf philanthropische +Motive, sobald seine Oberherrschaft gefährdet war. Durch ganz Europa +posaunte er die Nachricht, daß er gesonnen sei, den greulichen +Handel auszurotten. Nur zu diesem Ende habe er Sir Samuel Baker an +den Äquator geschickt und nun auch den genialen Gordon berufen. Das +ganze Nilbecken bis zu den Seen am Äquator wurde zu einem Teile von +Ägypten erklärt. Selbst an jenen äußersten Grenzen — so lautete das +vielverheißende Manifest — müßten Leib, Leben und Freiheit fürderhin +als heilige Dinge gelten. Unter dieser Maske der Menschenliebe wurde +Gordon, der als einer der aufrichtigsten Menschenfreunde, als einer +der kühnsten Heerführer bekannt war, für den neuen Gouverneurposten in +Aussicht genommen. Oberägypten sollte einen Regierungsbezirk für sich +bilden, und der Elfenbeinhandel innerhalb seiner Grenzen wurde zum +Staatsmonopol erklärt.</p> + +<p>Gordon war noch in Galatz, als ihm die neue Thätigkeit angeboten +wurde. Im Jahre 1872 war er in Konstantinopel mit dem ägyptischen +Minister Nubar Pascha zusammengetroffen, und dieser, von seiner +Tüchtigkeit überzeugt, hatte ihn gefragt, ob er nicht einen Nachfolger +für Baker zu empfehlen wisse. Gordon erblickte in dem sich eröffnenden +Wirkungskreise eine Möglichkeit, den geknechteten Schwarzen zu dienen, +und bot im folgenden Jahr seine Dienste an, vorausgesetzt, daß der +Khedive bei der englischen Regierung um ihn einkommen wolle und diese +nichts dawider habe. In England schien man seiner nicht zu bedürfen, +und so machte er sich auf den Weg zur Ausrichtung eines großen Berufs +im Innern des schwarzen Weltteils. Es war der Tag, der die Nachricht +vom Tode Livingstones nach England brachte, an welchem Gordon von +London aufbrach! Jener war mit dem Gebete auf den Lippen gestorben, +daß der Herr sich Afrikas erbarmen<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> und einen Befreier senden möge. +War es nicht wie eine Antwort auf diese Bitte, daß Gordon sich +rüstete, um den Kampf mit dem großen Unrecht aufzunehmen, das jener +ans Licht gebracht hatte? Die Namen Livingstone und Gordon sind wie +zwei Sterne an Nachthimmel Afrikas; beide sind untergegangen; wann +wird der Tag anbrechen?</p> + +<p>Der Khedive setzte seinem neuen Statthalter denselben Jahresgehalt +aus, den Baker bezogen hatte, nämlich zweimalhunderttausend Mark, +Gordon selbst aber bestimmte nur vierzigtausend. Das war dem Khedive +und noch andern Leuten ein Rätsel. Wer den Mann aber kannte und +überdies wußte, auf welche Weise Ismail seine Schatzkammer füllte, dem +war die Handlungsweise erklärlich. Gordon verabscheute einen Gewinn, +der, wie er wohl wußte, dem Schweiß der Fellahs erpreßt wurde; es +wäre ihm wie Blutgeld vorgekommen; er nahm daher nur so viel, als er +durchaus nötig hatte. »Wie Mose, so verachte auch ich den Reichtum +Ägyptens,« schreibt er. »Wir haben einen König, der mächtiger ist, +denn diese alle, und bessere Güter in ihm, als die Welt uns bieten +könnte. Ich beuge mich keinem Haman.«</p> + +<p>Gordons Auftrag bestand darin, eine fast unbekannte Provinz zu ordnen, +in der bewaffnete Händler ihr Wesen trieben und durch Elfenbein +und Schwarze sich bereicherten. Die eingeborenen Stämme hatten sie +grausam unterdrückt und gezwungen, mit ihnen Handel zu treiben, ob +sie wollten oder nicht. Einige dieser Tyrannen hatten Erlaubnis, +im Lande zu wohnen, vorausgesetzt, daß sie sich des Sklavenhandels +enthielten; man hatte sie dem Gouverneur vom Sudan unterstellt. Dieser +aber war von Khartum aus nicht im stande gewesen, seine Autorität +geltend zu machen, und aus diesem Grunde hatte der Khedive die neue +Äquatorialprovinz gebildet. Wenn der Sklavenhandel und das Raubwesen +erst einmal abgeschafft wäre, dann sollte aller rechtmäßige Handel +frei sein. Gordon sollte eine Kette von Stationen errichten, sollte +versuchen, das Vertrauen der Stämme zu gewinnen und der Sklavenjagd +auf alle mögliche Weise entgegenarbeiten.</p> + +<p>Aber bei seinem kurzen Aufenthalte in Kairo hatte er mit dem ihm +eigenen Scharfblick den Khedive und seine Pläne durchschaut.<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> »Ich +glaube, den wahren Beweggrund entdeckt zu haben,« schreibt er, +»man hofft, uns Engländern Sand in die Augen zu streuen.« Trotzdem +schwankte er keinen Augenblick. Er wußte, daß er in eines Höheren +Dienst stand, und das gab ihm Kraft. So schreibt er einmal:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wer dürfte es wagen, der nicht den allmächtigen Gott auf seiner +Seite hat? Ich kann es und will es thun, <em class="gesperrt">denn mein Leben achte +ich für nichts</em> — ich würde nur viel zeitlichen Verdruß mit dem +ewigen Frieden vertauschen!« Und weiter: »<em class="gesperrt">Wer doch den Tod immer +als Erlöser vor Augen hätte!</em> Welche Ruhe ist des Menschen Teil, +der so denkt, und was für Thaten kann er vollbringen — nichts kann +ihn mehr beunruhigen, in welchem Amt er auch stehe!«</p> +</div> + +<p>Es war Gordons Wunsch, als gewöhnlicher Passagier sich nach Suakim zu +begeben; allein Nubar Pascha erklärte, der Gouverneur von Oberägypten +müsse mit Gepränge reisen. Ein Gefolge wurde ernannt, und, von einem +Adjutanten des Khedive begleitet, sollte Gordon mit einem Extrazug +nach Suez fahren. Aber unterwegs versagte die Lokomotive, und die +Reise mußte mit dem gewöhnlichen Zug fortgesetzt werden — ein +Hauptspaß für Gordon. »Wir haben groß angefangen und dürfen klein +aufhören,« berichtet er darüber. Von Suakim ging's durch die Wüste +nach Berber; etwa zweihundertundzwanzig Mann Militär, die mit ihm +an Bord waren, bildeten die Eskorte für den vierzehntägigen Marsch, +dessen Länge Gordon keineswegs beklagte, denn es war ihm vor allen +Dingen darum zu thun, seinen Soldaten, die von Mannszucht nichts +wußten, Gelegenheit zu geben, ihn kennen zu lernen. Was persönlicher +Einfluß vermag, das wußte er von China her.</p> + +<p>Sein Generalstab bestand aus einem kühnen und in jeder Beziehung +tüchtigen Italiener, dem nachmals so rühmlich bekannt gewordenen +<em class="gesperrt">Romulus Gessi</em>, den er als Dolmetscher schon in der Krim kennen +gelernt hatte; ferner aus mehreren anderen Europäern, Namens Kemp, +Russell, Anson und zwei Brüdern Linant, dem Amerikaner Long und Abu +Saud, einem gewesenen Sklavenhändler und niederträchtigen Menschen, +den er in Kairo<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> als Gefangenen vorfand und dem er mit einem gewissen +Eigensinn zutraute, daß er sich künftighin der Redlichkeit befleißigen +und sich nützlich erweisen werde. Der Khedive wußte nicht recht, was +mit diesem Gefangenen anfangen, der am oberen Nil als »Sultan« bekannt +war, aber nichts weniger als einen guten Namen dort hinterlassen +hatte. Gordons Vorschlag, sich seiner Kenntnis des Landes zu bedienen, +hielt der Khedive für sehr gewagt; Gordon aber ließ sich in diesem +Vertrauen nicht irre machen, und der ehemalige Sklavenjäger wurde +seinem Stabe einverleibt. Die Gewohnheit Gordons, Feinde durch gutes +Zutrauen zu Freunden zu machen, hat sich in seinem Leben zwar oft +bewährt; Abu Saud aber hat die ihm entgegengebrachte gute Meinung +<em class="gesperrt">nicht</em> gerechtfertigt und Gordon viel zu schaffen gemacht, bis +dieser sich durch einen Machtspruch seiner wieder entledigte.</p> + +<p>Über Gordons Zeit im Sudan liegt ein umfangreicher Band seiner, +hauptsächlich an seine Schwester gerichteten Briefe vor; wir folgen +ihm ins Land der Schwarzen an der Hand dieser Briefe. Am 13. März 1874 +wurde Khartum erreicht.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Der Generalgouverneur kam in voller Uniform Deinem unter dem Donner +der Geschütze landenden Bruder entgegen. Gestern stand dieser noch +mit nackten Beinen im Nil und half das Boot flott machen — trotz +der Krokodile, die einem nichts thun, so lange man in Bewegung ist +— heute salutiert ihn die Garde, so oft er sich blicken läßt ... +Ich habe seit meiner Ankunft schon Musterung gehalten und das Spital +und die Schulen besucht; die kleinen Schwarzen lachten, als sie mich +sahen. Ich wollte, die Fliegen suchten sich ein anderes Quartier, als +die Augenwinkel dieser Kinder! Khartum ist eine schöne Stadt, was die +Lage betrifft. Die Häuser sind von Lehm und haben flache Dächer ... +Ich bin wohlauf bei ruhiger Zeit, trotz vieler Arbeit. Übrigens ist +es wahr, Herr Selbst ist der beste Diener, den man haben kann.«</p> +</div> + +<p>In Khartum scheint er seinen neuen Titel ausfindig gemacht zu +haben, und zwar keinen geringeren als »Se. Exzellenz General Oberst +Gordon, Generalgouverneur am Äquator«, ein Titel, den er mit Recht +ein sonderbares Gemisch nennt. Von Khartum aus erging auch sein +Erlaß an die neue Provinz, worin er den Elfenbeinhandel als Monopol +der Regierung erklärte, die Einfuhr von<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> Waffen und Pulver, sowie +unbefugtes Waffentragen überhaupt verbot und außerdem ankündigte, daß +in Zukunft niemand ohne Paß die Provinz bereisen dürfe.</p> + +<p>Am 22. März trat er die Reise nach seiner Hauptstadt <em class="gesperrt">Gondokoro</em> +an. Er erwähnt der großen glitzernden Krokodile, die allabendlich +mit weitoffenem Rachen auf dem Ufersand liegen, der vielen Zugvögel, +die sich anschickten, den brennenden Süden mit dem Norden zu +vertauschen. Hier gab es Störche, schwarze und weiße, zu Tausenden, +dort Pelikane und Flamingos, auch große Nilpferde — doch sieht +er vorläufig nur ihre Nasen, denn sie stehen mitten im Fluß. Die +Affen kommen herdenweise und tragen ihre kerzengerade in die Höhe +gerichteten Schwänze wie Speere hinter sich; die Giraffen erscheinen +ihm wie wandernde Türme. Offenbar hatte er seine Freude an all dem +Neuen, Ungewohnten, und beschreibt es gern der fernen Schwester. +Eines Abends, als er beim stillen Mondlicht die vor ihm liegenden +Schwierigkeiten zu vergessen sucht und halb träumerisch der Heimat +gedenkt, erschreckt ihn ein lautes Gelächter.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich war nahe daran, es für eine Beleidigung zu halten,« erklärt +er spaßhaft, »aber es waren nur ein paar überschlaue Vögel, die +guterdinge schienen und es gar zu lächerlich fanden, daß unsereiner +den Weg nach Gondokoro unternimmt in der Meinung, dort etwas Gutes zu +schaffen.«</p> +</div> + +<p>Nicht weit davon, in einer Felsenhöhle auf der Insel Abba, hielt sich +damals ein Derwisch auf, Namens Muhamed Achmet, der im Geruch der +Heiligkeit stand. Wie ahnungslos fuhr Gordon an ihm vorüber! Zehn +Jahre später ist dieser »Heilige«, der Mahdi, das Werkzeug seines +Todes geworden.</p> + +<p>An den ersten Wilden, die Gordon sieht, bemerkt er die Folgen der +Mißhandlung.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wir kamen an einem Dorfe der Schilluk vorüber, die sich über unsern +Anblick wunderten und erschreckt davonliefen, wenn man ein Fernrohr +auf sie richtete.«</p> +</div> + +<p>Am 22. April lief er in den Sobat ein, der oberhalb Faschoda in den +Weißen Nil mündet. Hier präsentierten sich ihm die ersten seiner +Unterthanen — ein Stamm der Denka. Es waren harmlose<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> Leute, ein +Hirtenvolk, deren Häuptling nur schwer dazu zu bringen war, an Bord zu +kommen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Dann aber erschien er in seinem ganzen und besten Staat — einer +Halskette von Glasperlen. Wir machten ihm einige Geschenke. Darauf +trat er auf mich zu, nahm erst meine rechte Hand und dann meine +linke, leckte sie tüchtig, packte mein Gesicht und that, als ob er +mich anspeien wollte.«<a id="FNAnker_8" href="#Fussnote_8" class="fnanchor">[8]</a></p> +</div> + +<p>Man trug zu essen auf; als Häuptling verzehrte er außer seinem auch +seines Nebenmannes Teil. Zum Dank wollte er Gordon die Füße küssen, +aber das wurde ihm nicht gestattet; er brüllte daher mit seinem +Gefolge einen Lobgesang und trug sein Geschenk, eine Kette Glasperlen, +vergnügt davon; d. h. der gewandlose Herrscher war viel zu erhaben, um +sie eigenhändig zu tragen, er überließ sie einem Geringeren, der sie +vor ihm hertrug.</p> + +<p>Wo der Bahr el Ghasal in den Weißen Nil einmündet, bildet das +Gewässer einen See und Sümpfe. Gordons Dampfer drang stetig vor. +Die Eingebornen, die er jetzt sah, hatten sich die Gesichter mit +eingeriebener Holzasche grau gefärbt, elende Menschen, die offenbar +kaum zu leben hatten.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es ist ein Rätsel, warum sie erschaffen sind! ... ihr Leben schwankt +zwischen Furcht und Not. Kein Wunder, daß sie den Tod nicht fürchten +... Ich freue mich auf meine Arbeit, denn ich glaube, ich werde +manche Gelegenheit finden, das Elend der armen Leute zu lindern.«</p> +</div> + +<p>Er fuhr an einer verlassenen österreichischen Missionsstation +vorüber, wo innerhalb dreizehn Jahren fünfzehn Missionare dem Klima +erlegen waren, ohne auch nur <em class="gesperrt">einen</em> Schwarzen gewonnen zu +haben; »die Sklavenhändler hatten den Teufel hingebracht,«<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> sagt ein +Berichterstatter. Die nächste Station war Bohr, ein Sklavenjägernest, +»wo man uns nicht allzu höflich empfing.« Am 16. April, also nach +einer Fahrt von dreiundzwanzig Tagen, ankerte das Boot bei Gondokoro +zum Erstaunen der Leute, die von ihrem neuernannten Gouverneur noch +gar nichts gehört hatten. Seine Residenzstadt fand er in verwahrlostem +Zustand, und unbewaffnet hätte er sich anfänglich in der nächsten +Umgebung nicht zeigen können; die Eingebornen waren durch lange +Mißhandlung allerwärts voll Mißtrauen. Gordon aber war der Hoffnung, +sie mit der Zeit zu gewinnen und bessere Zustände einzuführen.</p> + +<p>Man sieht aus seinen Briefen, wie er fleißig von Ort zu Ort zieht, +vorab darauf bedacht, sich die Herzen seiner schwarzen Unterthanen +geneigt zu machen. Hier schenkt er den Leuten Korn, dort bringt er sie +dazu, selbst Mais anzupflanzen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Sie verstehen es ganz gut und thaten es nur deshalb nicht, weil der +Ertrag ihnen gewaltsam entrissen wurde; sie pflanzen nur so viel, +daß sie nicht geradezu Hungers sterben, und dies nur in entfernt +liegenden versteckten Plätzen.«</p> +</div> + +<p>Die Schwarzen erkannten bald einen Helfer in ihm, und einer der ersten +Beweise des ihm entgegengebrachten Vertrauens war das Verlangen eines +Vaters, seine Kinder, die er nicht ernähren konnte, um eine Handvoll +Durra (eine Art Hirse) zu übernehmen! Gordon nahm die Kinder an und +kleidete sie. Der Vater aber kümmerte sich von Stund an nicht mehr um +dieselben und erkundigte sich nicht einmal nach ihnen, als er wieder +in die Nähe kam. Ein anderes Beispiel von elterlicher Gleichgültigkeit +erzählt Gordon so:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ein Mann mit seiner Frau und zwei Kindern (unsere ersten +Kolonisten!) haben sich nahe bei der Station niedergelassen. Ich +verabreiche ihnen täglich etwas Durra, bis das von ihnen gesäete Korn +zur Ernte reift. Ich hoffe, ihr Vertrauen zu gewinnen« ....</p> +</div> + +<p>Nach einiger Zeit lautet der weitere Bericht:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es scheint, daß der Mann, ehe er hierherkam, eine Kuh gestohlen +hatte und deshalb seinen Wohnsitz veränderte. Allein der Eigentümer +der Milchspenderin machte ihn ausfindig und verlangte<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> die längst +geschlachtete und verzehrte Kuh zurück. Auf meiner Runde kam ich bei +der Hütte vorüber und sah nur eins der Kinder. Das andere, erzählte +mir die Mutter mit befriedigtem Lächeln, hätten sie dem Mann gegeben, +dem sie die Kuh gestohlen hatten. Es wäre ihnen auch gar nicht leid, +sagte sie, die Kuh wäre besser!«</p> +</div> + +<p>Wenn die Mutter eine Spur von Verlangen nach ihrem Kind an den Tag +gelegt hätte, so würde Gordon es ihr wieder verschafft haben; aber +sie war nichts weniger als betrübt, der Verlust einer Handvoll Durra +wäre schmerzlicher gewesen. Um dieselbe Zeit kaufte Gordon einen +Jungen, dessen Bruder ihn um ein Körbchen voll Korn feilbot. Die +schwarzen Jünglinge hatten es offenbar mit einander ausgemacht, denn +der eine lächelte so vergnügt wie der andere. Gordon nennt derartige +Vorkommnisse Experimente; er wollte vor allen Dingen Land und Leute +kennen lernen.</p> + +<p>Die Sklaverei hat die Stämme so heruntergebracht, daß, wie es Gordon +scheinen will, die Eltern- und Kindesliebe bei ihnen wie ausgestorben +ist. »Organisierte Auswanderung wäre das Beste für dieses Land.« Aber +so elend das Leben jener Schwarzen ist, so hält Gordon doch mit Recht +dafür, daß es anderwärts trotz der gepriesenen Zivilisation im Grunde +oft nicht besser ist.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Für junge Leute ist dieses Klima ein äußerst niederdrückendes; wer +aber einmal über die Mittagshöhe hinaus ist und gelernt hat, das +Leben lediglich als eine Prüfungszeit zu würdigen, der erträgt es +und freut sich sogar der Einförmigkeit. Wir sind immer selbst daran +schuld, wenn wir unglücklich sind. Wir verlieren die besten Jahre +unseres Lebens, indem wir nach einem Glück jagen, das auf Erden +nicht zu finden ist. Das Geheimnis des Glücklichseins liegt darin, +daß wir lernen, mit dem zufrieden zu sein, was uns beschert ist ... +Die Schwarzen sind mit einer Handvoll Mais zufrieden; Wohlleben ist +ihnen ein unbekannter Zustand; sie haben kaum einen Fetzen, ihre +Blöße zu decken, und sind trotzdem glücklicher zu nennen als Hunderte +von unzufriedenen Menschen bei uns zu Lande mit ihrer erbärmlichen +Vergnügungssucht, wo alles hohl ist ... Heutzutage wäre niemand +weniger willkommen in der Welt als unser Heiland. Man würde ihn für +altmodisch erklären ... Wahres Glück besteht darin, daß man den +Willen Gottes annimmt, was<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> dieser auch sei. Wer so weit kommt, +hat die Welt und ihre Trübsal überwunden ... Der stille Friede im +Leben unseres Herrn wurzelte lediglich in seiner völligen Ergebung +in den Willen Gottes. Allerdings giebt es Zeiten, die uns Kampf +bringen, aber je nach der Größe des Kampfes ist dann auch das Maß der +verliehenen Kraft ... Ich habe kürzlich ein elendes klapperdürres +Weib aufgenommen und sie seither gefüttert; gestern hat der Tod sie +ganz still geholt, und jetzt weiß sie alle Dinge. Sie hatte ihren +Tabak bis zuletzt und starb sehr leicht. Welch ein Wechsel aus ihrem +Elend! Ich denke, sie genügte ihrem Lebensberuf so gut, wie eine +Königin Elisabeth.«</p> +</div> + +<p>Ein andermal erzählt er der Schwester:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es schwankt eine Gestalt die Straße herauf — so dünn, daß der Wind +nicht viel Mühe hat sie umzuwerfen; es ist eine Deiner schwarzen +Schwestern, ich sehe, sie bleibt stehen und läßt den Regen über sich +ergehen. Ich schicke ihr etwas Durra, das wird ihrem abgezehrten +Leichnam eine Freude sein. Sie hat nicht einmal einen baumwollenen +Rock an, ja ihre ganze Kleidung ist keinen halben Heller wert.«</p> +</div> + +<p>Am folgenden Tag heißt's weiter:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich muß Dir doch schreiben, wie's der schwarzen Dame ferner erging, +der ich gestern in Wind und Wetter zu helfen versuchte. Ich schickte +meinen Diener hinaus, daß er sie in einer der Hütten unterbringe, +und dachte nicht anders, als es wäre geschehen. Die Nacht war naß +und kalt und ich hörte mehrmals ein Kind schreien, stand deshalb +auf und ging hinaus; da lag Deine und meine Schwester tot in einer +Pfütze. Ihre schwarzen Brüder waren hin- und hergegangen und hatten +keine Notiz von ihr genommen. Ich ordnete an, daß sie begraben werde, +und ging weiter; fand ein etwa einjähriges Kind im Gras, das wohl +die ganze Nacht in der Nässe gelegen hatte, ohne Zweifel von seiner +eigenen Mutter ausgesetzt — Kinder sind hier immer eine Last! Ich +trug's zurück, und da die Leiche noch immer in der Pfütze lag, +machte ich mich selber daran, sie mit Hilfe einiger meiner Leute +zu beerdigen. Zu meiner Verwunderung fand ich das Geschöpf lebend, +brachte ihre schwarzen Brüder aber nur mit großem Mühe dazu, mit +Hand anzulegen, um sie aus der Pfütze aufzunehmen. Ich ließ sie in +eine Hütte tragen, ein Feuer anzünden, gab ihr etwas Branntwein ein +und wusch ihr den Sand aus ihren lebensmüden Augen. Nun liegt sie +da, kaum<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> sechzehn Jahre alt! Ich kann nicht anders als hoffen, ihr +Schiffchen schwimmt dem Hafen der Ruhe entgegen. Das Kind ist um +eine tägliche Portion Durra von einer Familie angenommen worden. +Ich zweifle nicht, bin sogar gewiß, daß Du Deine schwarze Schwester +einmal finden und dann von ihr hören wirst, daß die ewige Weisheit +alles wohl gemacht hat. Ich weiß, daß das nicht leicht zu glauben +ist, <em class="gesperrt">aber es ist doch wahr</em>! Ich meinesteils ziehe ein Leben +unter den Elenden einem Leben trägen Genusses vor. Und es giebt +überall Elend. Mancher ist in seinem Reichtum ganz so beklagenswert, +wie diese arme Sterbliche. Wie schlecht ist dieser Senf angemacht, +sagte einer meiner Offiziere neulich, während unsere schwarzen Brüder +um uns herumlaufen und man ihnen alle Rippen zählen kann!« ...</p> +</div> + +<p>Vierundzwanzig Stunden später:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Laß Dir's nicht zu nahe gehen. Deine schwarze Schwester ist heute +nachmittag aus diesem Leben erlöst worden, nur von mir betrauert; +ihre schwarzen Brüder sind froh, sie los zu sein.«</p> +</div> + +<p>Neben solchen Erlebnissen finden wir aber den Gouverneur alles +Ernstes damit beschäftigt, den Sklavenhändlern hinderlich zu sein; +bald macht er jedoch die Entdeckung, daß den Schurken durch die +Regierungsbeamten Vorschub geleistet wird. Ein seinem Dolmetscher in +die Hände gefallener Brief von einer Bande Menschenjäger an den Mudir +(Bezirksstatthalter) von Faschoda lautete folgendermaßen: »Wir sind +auf dem Weg mit zweitausend Kühen und allem anderen nach Wunsch.« Die +Kühe waren von verschiedenen Stämmen gestohlen, und das ›alles andere‹ +bedeutete eine Anzahl Sklaven. Die ganze Sendung wurde abgefangen, +und die Sklaven soweit es möglich war in ihre Heimat zurückgeschickt; +einen Teil derselben behielt er. Die Sklavenhändler erhielten +Gefängnisstrafe; nach einiger Zeit aber nahm er die brauchbaren unter +ihnen in seine Dienste, so z. B. einen gewissen Nassar, der ein +Haupttyrann in jener Gegend war. Diesem jagte er eine Karawane von +mehreren hundert Sklaven ab, die derselbe mit einer Bande bewaffneter +Schwarzer nach Faschoda zu bringen hoffte; ihn selbst setzte er +vierzehn Tage hinter Schloß und Riegel und schrieb dann:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich habe dem Hauptsklavenhändler Nassar verziehen und ihn in meinen +Dienst genommen; er ist nicht schlimmer als die andern, und die Leute +sind bisher nur in ihrem Thun bestärkt worden. Er ist ein tüchtiger +Mensch und kann was leisten.«</p> +</div> + +<p>Als er nach einiger Zeit seine Station an einen gesünderen Ort +verlegte, berichtete er:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Nicht ich hab's zu stande gebracht, sondern die gewesenen +Sklavenhändler, die ich in meinen Dienst genommen.«</p> +</div> + +<p>Wie mit den Taipings in China, so verfuhr er hier: zuerst überwältigte +er den Feind und dann benutzte er ihn.</p> + +<p>Im Mai hatte er den ganzen Weg nach Berber zurückmachen müssen, um +seine dort liegengebliebene Ausrüstung flott zu machen. Und dann +ging's wieder zurück nach dem Sobat. Es dauerte lange, bis seine +Dampfer ihm nachkamen. Mittlerweile aber ist er nicht müßig, gewinnt +mehr und mehr das Vertrauen der Schilluk und weiß sich in allen +Lagen zu helfen, von der Verfertigung einer Rattenfalle an bis zum +eigenhändigen Nähen einer Hose für einen seiner Schwarzen, an welchem +wohlgelungenen Kunstwerk er seinen Spaß hat. Und wenn alle anderen +in der trostlosen Wildnis mutlos werden, so bewahrt er die gute +Stimmung. »Ich bin längst über den Graben des Mißmuts hinaus,« kann er +sagen, denn sein Herz hat einen festen Ankerpunkt. Als er einst nach +viertägiger Abwesenheit auf seine Station zurückkam, umdrängten ihn +die Schwarzen, die er den Sklavenhändlern abgejagt hatte: sie wollten +ihm alle die Hand geben. Das freute ihn. »Ich kann jetzt allein +umhergehen und alle grüßen mich.« Kein Araber durfte das wagen, so +fürchteten sie die von ihnen unterdrückten Neger. Daß die Scheiks um +Gondokoro her sich ihm zuneigten, verdankte er übrigens teilweise dem +Einfluß Abu Sauds. Er machte ihn zu seinem Vakil oder Unterstatthalter.</p> + +<p>In Gondokoro geriet Gordon mit Rauf Bey in Konflikt; derselbe war +Statthalter gewesen, aber, nur auf seinen Gewinn bedacht, hatte er +nichts gethan, das Gordon ihm nachrühmen konnte. Zwischen ihm und +Abu Saud entspannen sich alsbald Eifersüchteleien und Zwistigkeiten. +Gordon fand es rätlich, ihn mit Briefen nach Kairo zu senden, d. h. +sich seiner zu entledigen. Und mit<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> Abu Saud mußte er bald ähnlich +verfahren. Dieser hatte sich allerlei Betrügereien zu schulden +kommen lassen, hatte Elfenbein unterschlagen, das für die Regierung +bestimmt war. Außerdem gebärdete er sich den andern Offizieren +gegenüber, als ob er Statthalter wäre. Gordon sah, daß er sich in +seinem Vertrauen getäuscht hatte. Er gab ihm den Laufpaß, nicht zu +früh, denn es stellte sich heraus, daß Abu Saud eine Meuterei unter +den von ihm befehligten schwarzen Truppen anzuzetteln im Begriff +war. Diese erklärten, sie würden ohne ihn nicht nach Dufile gehen, +wohin sie das Dampfboot in Teilen tragen sollten, damit es dort +wieder zusammengestellt werde. Gordon, der unlängst erklärt hatte, +daß die Losung der Provinz »Hurryat«, d. i. Freiheit, sei, erwiderte, +sie könnten bleiben wo sie wären, aber keine Macht der Welt würde +ihn zwingen, Abu Saud mit ihnen zu schicken, denn das würde seine +»Hurryat« beeinträchtigen. Da sie übrigens von der Regierung Sold +nähmen, so versähe er sich ihres Gehorsams. Seine feste Haltung +stellte die Ruhe her, und Abu Saud ging seiner Wege, ohne jedoch +sofort die Provinz zu verlassen. Nach einigen Wochen kamen Gessi +und einer der anderen Offiziere um seine Begnadigung ein, weil die +Kenntnisse des Schurken eben doch dienlich waren. Gordon gab nach; +»braucht doch jeder selbst Gnade,« schreibt er, »und kriegt sie auch, +so er darum einkommt.« Die Zurückberufung des Menschen war aber ein +Fehler; bald darauf mußte er doch nach Kairo geschickt werden.</p> + +<p>Auch mit Krankheit hatte Gordon zu kämpfen. Er selbst, zwar zu +einem Schatten abgemagert, war der einzige Gesunde unter all seinen +Offizieren. Sein Zelt nannte er ein Lazaret, und Tag und Nacht wartete +er der Siechen. Der eine der beiden Linant und zwei andere starben, +mehrere mußten zurückgeschickt werden. »Ich bin wohl, aber sehr +überreizt,« erklärte er, »was schlimm ist, wenn mir etwas quer kommt.« +Damit meinte er die kleinen Widerwärtigkeiten, die immer wieder einen +Teil seiner Last ausmachten. Er mußte sich um alles selbst kümmern.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Die Hauptsache ist, immer gerecht und gradaus zu verfahren; keinen +Menschen zu fürchten; alle Winkelzüge zu vermeiden, selbst wenn man +für den Augenblick dabei verlieren sollte, und allen, die<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> nicht +parieren wollen, mit vollster Strenge zu begegnen. Es ist nicht immer +leicht!«</p> +</div> + +<p>Auf dem Wege nach Rigaf oberhalb Gondokoros wurde er von einem Scheik +aufgefordert, bei ihm Quartier zu nehmen; er lehnte es ab und fand in +der Nacht sein Zelt von diesem Häuptling und seiner Gruppe umstellt. +Mit dem Gewehr in der Hand hieß er sie ihrer Wege gehen, und die +beträchtliche Anzahl gehorchte dem »zum Schatten abgemagerten« Mann.</p> + +<p>Ein großer Fortschritt bei den Eingebornen war, daß er ihnen den +Gebrauch des Geldes beibrachte. Vorher hatte nur Tauschhandel +existiert; und wenn ein Stamm zum Lasttragen bestellt war, so +beanspruchte der Häuptling den Lohn, Glasperlen oder Kattun, stets für +sich. Gordon entdeckte, daß die Leute schlecht dabei wegkamen, und +nahm sich vor, die Vorrechte des Scheiks in etwas zu verringern. Bei +nächster Gelegenheit gab er jedem Lastträger selbst einige Glasperlen; +am folgenden Tage lohnte er sie mit Kupfergeld ab — jeder erhielt +einen halben Piaster. Darnach bot er ihnen Glasperlen zum Verkauf an. +Sie merkten den Witz auch alsbald und erklärten, sie wollten erst noch +mehr Kupfer verdienen und sich dann eine größere Anzahl Perlen dafür +geben lassen. Er richtete einen förmlichen Laden ein, wo allerlei zu +haben war, was den Eingebornen begehrlich erschien; wie bei allen +Neuerungen ging es auch hier keineswegs ohne Widerspruch ab.</p> + +<p>Unter viel Krankheit der Stabsmannschaft ging das erste Jahr zu Ende. +Gordon beschloß, das Hauptquartier auf die andere Seite des Flusses +nach Lado zu verlegen, um der Sumpfluft bei Gondokoro zu entgehen. +Um diese Zeit kam sein Ingenieur Kemp, der in Dufile, zweihundert +Kilometer weiter oben am Nil, damit beschäftigt war, den Dampfer +zusammenzufügen, mit dem der Albert Njansa erreicht werden sollte, mit +der Nachricht zurück, daß von dem Unternehmen vorläufig abgestanden +werden müsse. Die Stämme waren mit seiner moralisch ganz ungenügenden +Mannschaft ins Treffen geraten. Doch brachte Long, der Amerikaner, +bessere Kunde, der mittlerweile bei dem König Mtesa von Uganda gewesen +war und sich einer guten Aufnahme bei der schwarzen Majestät erfreut<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> +hatte. Außerdem hatte er die Wasserverbindung zwischen Urondogani und +Foweira entdeckt, wofür ihm Gordon großes Lob zollte.</p> + +<p>Die eignen Erfolge Gordons faßt ein Sachverständiger mit folgenden +Worten zusammen: »Gordon hat Wunder vollbracht in der kurzen Zeit. Bei +seiner Ankunft fand er siebenhundert Mann Soldaten in Gondokoro vor, +die sich nur truppweise und bewaffnet in die nächste Umgebung wagten; +mit diesen hat er nicht weniger als acht Stationen besetzt. Sir Samuel +Bakers Äquatorzug hat die ägyptische Regierung über 20 Millionen Mark +gekostet, während Gordon bereits Geld genug nach Kairo geschickt +hat, um alle Unkosten seines Unternehmens nicht nur für dieses Jahr, +sondern auch für das kommende zu decken.« Es war dies lediglich ein +Resultat seiner getreuen und umsichtigen Verwaltung der rechtmäßigen +Einkünfte, hauptsächlich des Elfenbeinmonopols. Ein schönerer Erfolg +aber war der, daß trotz seiner Strenge gegen die Araber, oder vielmehr +gerade wegen dieser Strenge, die Schwarzen landauf landab angefangen +hatten, in ihm ihren einzigen Helfer gegen die Unterdrücker zu +erblicken. Er hatte ihr Vertrauen gewonnen, so unmöglich es anfangs +schien.</p> + +<p>Der Hauptplan für das Jahr 1875 war die Verbindung Gondokoros mit +dem südlicheren Foweira, die durch eine Reihe von befestigten, je +eine Tagereise von einander entfernten Stationen hergestellt werden +sollte. Foweira konnte zur Zeit nur durch eine beschwerliche, sechs +Monate in Anspruch nehmende Reise erreicht werden und eine Karawane +mußte mindestens hundert Mann stark sein. Später waren zehn Mann +ausreichend, um den Weg in Sicherheit zurückzulegen, und statt der +Monate genügten Wochen. Außerdem hoffte Gordon, den Äquatorbezirk von +einer neuen Richtung her zugänglich zu machen, hatte er doch selbst +die Schwierigkeiten der Verbindung mit Ägypten über Khartum reichlich +erfahren. Nach seinem Plan sollte die Mombasbay am indischen Ozean zur +Kopfstation werden, von wo aus eine Karawanenstraße durch Mtesas Land +an die großen Seen führen sollte. Dem Khedive war der Vorschlag nicht +unwillkommen, denn es stand mit auf seinem Programm, die ägyptische +Flagge auf dem Albert Njansa wehen zu lassen. Es wurde auch ein Anfang +gemacht,<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> nämlich ein Pascha entsandt, um den Plan zu verwirklichen; +zur Ausführung kam er aber nicht.</p> + +<p>Gordons nächste Briefe erzählen von einem König und einem Häuptling, +die ihm zu schaffen machten. Von Foweira war Nachricht gekommen, +daß Kaba Rega, der König von Unyoro, sich mit den Sklavenhändlern +verbündet hatte und einen Überfall auf jene Stadt beabsichtigte. +Er beschloß diesen Kaba Rega seines »Stuhls«<a id="FNAnker_9" href="#Fussnote_9" class="fnanchor">[9]</a> zu entsetzen, und +einen gewissen Rionga zum König zu machen; es war dies aber schon +der Entfernung wegen leichter geplant als ausgeführt und blieb +einstweilen ein Vorhaben. Der unruhige Häuptling, Scheik Bidden, war +näher bei der Hand; diesem hatte Gordon im Herbst einen Boten mit +Geschenken zugeschickt. Den nächsten Boten werde er umbringen, hatte +der schwarze Machthaber zurückmelden lassen. Bidden beherrschte einen +Distrikt in der Nähe von Rigaf, und Gordon sah, daß er nicht weit +würde vordringen können, ehe er sich Bidden botmäßig gemacht hätte, +der überdies ganz kürzlich einen dem Statthalter freundlich gesinnten +Häuptling überfallen hatte. Das einzige Mittel, ihn Respekt zu lehren, +bestand darin, ihm sein Vieh abzujagen. Gordon beschreibt diese Razzia +folgendermaßen:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich ließ sechzig Mann auf der Ostseite des Flusses vordringen +und hundert Mann auf der Westseite, während ich selbst mit einem +Offizier und zehn Mann ein Boot bestieg in der Absicht, nach den +Inseln zu rudern, wo die Umzäunungen für das Vieh sich befanden. Um +zehn Uhr abends stießen wir ab, es war eine wunderschöne Mondnacht. +Die Entfernung bis zu Biddens Inseln betrug etwa fünf Wegstunden; +und dort fangen die Stromschnellen an. Nach einiger Zeit geriet das +Boot in eine Untiefe und mußte zurückbleiben. Der Offizier mit acht +Soldaten marschierte voraus, mich zurücklassend ... Wir waren nicht +weit von einer der Inseln und man<span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span> konnte Stimmen unterscheiden. Ich +war allein mit nur zwei Mann und einem Dolmetscher! Wir gingen eine +Strecke weiter und setzten uns dann nieder ...«</p> +</div> + +<p>Sowohl die westliche als östliche Abteilung seiner Leute sollte hier +mit ihm zusammenstoßen; die sudanische Mannschaft war aber nicht sehr +zuverlässig. Es war vier Uhr, und in weniger als zwei Stunden mußte +es tagen. Gordon sagt, militärisch sei die Lage eine ganz schlimme +gewesen, aber sie war nicht zu ändern. Er legte sich daher ruhig hin +und schlief eine Weile; als er aufwachte, stand das Morgenrot am +Himmel und man hörte eine Trommel, das Signal zum Melken.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Das Vieh ist nur nachts in der Umzäunung; diese hat einen einzigen +Eingang, und die Krieger schlafen in der Mitte. Für den Angriff +empfiehlt sich folgende Methode; man postiert ein paar Mann am +Eingange, die bei Tagesanbruch, ehe die Herde hinausgetrieben wird, +mit drei Schüssen ein Zeichen geben. Wartete man, bis das Vieh im +Freien ist, so kriegte man nicht leicht ein Stück. Die Helden von +Herdenwächtern suchen das Weite, sobald sie schießen hören, geben +aber den Alarm mit der Kriegstrommel, wenn die Flucht keine zu eilige +ist. Die Umzäunung zu verteidigen, fällt ihnen nicht ein; und es +ist immer am besten, sie laufen zu lassen, denn die Kühe sind die +Hauptsache. Während ich also die rote Glut im Osten aufsteigen sah, +ertönten uns gegenüber drei Signalschüsse, und alsbald wirbelte die +Trommel. Es war aber ein schwacher Wirbel, und die anderen Trommeln +schwiegen dazu ... Nach einiger Zeit erschienen unsere Verbündeten, +der Scheik und seine Leute. Biddens Krieger, meldeten diese, hielten +stand inmitten ihrer Kühe und schossen ihre Pfeile ab. Bald aber +liefen sie doch davon, und die Herde war gewonnen. Ich entschädigte +den Scheik mit dem, was keineswegs unser Eigentum war« ...</p> +</div> + +<p>Die andere Abteilung hatte ähnlichen Erfolg, und so wurde der +widerspenstige Bidden ohne Blutvergießen oder Dorfverbrennen durch +einen Verlust von zweitausendsechshundert Stück Vieh gezüchtigt.</p> + +<p>Etwa vierzehn Tage später machte Gordon einen Ausritt und, auf einen +Trupp Eingeborner stoßend, fragte er sie, ob sie Biddens Leute wären. +Da wiesen sie auf einen alten Mann, der<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> unter einem Baume saß, und +sagten bedeutungsvoll: »Bidden!« Der gefürchtete Scheik war ein +blinder Greis! Gordon ging sofort auf ihn zu und schenkte ihm seine +Pfeife (übrigens ein Blas-, kein Rauchwerkzeug) und eine Portion +Tabak. Das freute den Alten, und er versprach dem Gouverneur einen +freundschaftlichen Gegenbesuch. Als er sich einfand, gab Gordon +ihm eine Anzahl seiner Kühe zurück, welche Großmut den günstigsten +Eindruck auf die Stämme machte. Bidden, der Greis, war indessen nur +dem Namen nach Scheik; der wirkliche Machthaber war sein Sohn.</p> + +<p>Seine Arbeit während der nächsten Monate faßt Gordon so zusammen:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Um es kurz zu sagen, ist's wenig genug — an einem Fluß hin +befestigte Stationen errichten und Bote durchzwingen, wo die +Schifffahrt fast unmöglich ist — das ist so ziemlich alles, und die +Mühe ist größer als der Erfolg.«</p> +</div> + +<p>Aber ob es auch wenig scheint, so weiß Gordon doch, daß durch +anscheinend geringe Dinge oft Großes erreicht wird. Zwar weiß er +nicht, daß er in der Vorbereitung auf Größeres steht, aber im Glauben, +daß Gott ihn an jenen Posten gestellt hat, dringt er vorwärts, und als +sein Motto für diese Zeit kann das Wort des Predigers gelten: »Alles, +was dir zu thun vorkommt, das thue frisch!« Der Held von China, der +Mann von Gravesend, thut überall sein Bestes, mag die übernommene +Arbeit äußerlich eine glanzvolle sein oder nicht.</p> + +<p>Die Nilbarken, »Nuggers« genannt, durch die Stromschnellen und +zwischen Felsen flußaufwärts zu bringen, scheint eine Riesenarbeit +gewesen zu sein; er spricht von sechzig bis achtzig kohlschwarzen, +atlashäutigen Eingebornen, die jedem Boot vorgespannt sind. Die Stämme +sahen es erstaunt mit an und ließen ihre Zauberer das Wasser schlagen, +teils freundlich, teils feindlich gesinnt. Und wenn die Lage oft eine +verzweifelte zu sein schien, so war sie doch so, daß Gordon in seiner +eigentümlichen Weise schreiben konnte:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich wußte mir selbst oft nur damit zu helfen, daß ich mir die +Nuggers herbetete, wie einst die Truppen in China, wenn sie nicht mir +nach in die Bresche wollten.«</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span></p> + +<p>Thatkraft und Glaube waren bei ihm eng verschwistert! Er hat in +jenen Tagen und Wochen lange Briefe geschrieben, die eine Kette von +Schwierigkeiten berichten, aber er bewältigte sie, und nacheinander +wurden die Stationen Kirri, Muggi, Labore und Dufile erreicht. Ob der +Khedive mit ihm zufrieden ist oder nicht, darnach fragt er nicht.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich danke Gott, daß ich's längst aufgegeben habe, mich um die Gunst +oder Ungunst von Menschen zu kümmern. Ich kann ehrlich sagen, ich +weiß keinen, der die Verbannung und Quälerei meines gegenwärtigen +Lebens ertrüge ... Ich thue mein Bestes, soweit mein Verstand mir's +zeigt, und suche gegen alle gerecht zu sein ... Was würde ich hier +zurücklassen, wenn es Gottes Wille wäre, daß man mich zurückriefe — +ein Zelt, Hitze bei Tag und feuchte Kälte bei Nacht, die geringste +Nahrung, die sich denken läßt: trockenen Zwieback, gedörrtes Fleisch, +etwas Maccaroni, das ist alles. Mit Tagesanbruch an die Arbeit +und früh zu Bett (ich lege mich schon um sieben oder acht Uhr der +Moskitos wegen, und wollte: sich legen hieße schlafen!) Nichts zu +lesen, <em class="gesperrt">ein</em> Buch ausgenommen, und dieses nicht so oft als +man wünschte, weil die Ruhe fehlt, die zu andächtiger Betrachtung +der göttlichen Geheimnisse nötig ist; den lieben langen Tag nichts +als Plackerei, an alles selbst denken, alles selbst thun, wenn's +geschehen soll, das ist zur Zeit mein Leben ... Die arme Exzellenz +ist der Hauptsklave.«</p> +</div> + +<p>Und während der ganzen Zeit lassen seine von Khartum ihm folgenden +Dampfer auf sich warten. Zuletzt kann er aber doch schreiben:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wie froh bin ich, daß die Verbindung hergestellt ist! Gestern kam +ein Mann allein von Bidden her; vor einiger Zeit wagten die Leute nur +zu zwanzig und dreißig den Weg. Die Schwarzen würden sich im hohen +Gras versteckt haben und hätten den Hintermann angespießt. Jetzt +sind sie ganz freundlich. Ein Bari in meinem Dienst hat dieser Tage +ein Schaf gestohlen, und alsbald kamen die Beschädigten zu mir, um +Recht und Gerechtigkeit zu erlangen, und sie kamen nicht umsonst. +Ist das nicht schön? Auch unter meinen Leuten hat eine Veränderung +stattgefunden; sie fürchten die Schwarzen nicht mehr wie früher, +es herrscht ein besseres Einverständnis ... Die Stämme haben viel +Verkehr miteinander, und auch solche, die uns nicht kennen, wissen es +jetzt, daß sie uns nicht zu fürchten brauchen.«</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span></p> + +<p>Allerdings hatte er die Eingebornen auch von der feindlichen Seite +kennen zu lernen, so z. B. schreibt er zwischen Muggi und Labore:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es herrscht große Aufregung auf der anderen Seite des Flusses; ein +Scheik in einem roten Hemd mit zwanzig Bewaffneten läuft hin und her +und Zauberfeuer sind zu sehen. Sonderbar, daß all dies Entsetzen +dadurch hervorgerufen scheint, daß ich in einem Nachen überfuhr. So +viel Vorstellung mußte der Anblick der Nuggers ihnen doch geben, daß +wir überfahren können, wenn wir wollen ... Mein Fernglas zeigte mir +eine Anzahl Eingeborne, die unter einem Baume saßen. Nach einiger +Zeit stand einer auf und wandte sich gegen Norden, pflückte einige +Kräuter und schwenkte sie fortwährend gegen unser Lager; darnach +lief er südwärts und machte eine ähnliche Bewegung, als ob er Hilfe +herbeiwinke. Ohne Zweifel war er ein Prophet, der Israel verfluchen +sollte. Sie waren etwa dritthalbtausend Fuß von uns entfernt. Um +ihnen ein bißchen Schrecken einzujagen, schoß ich eine Kugel so ab, +daß sie etwa fünfzig Schritte zu ihrer Rechten in den Boden schlug. +Da hörte das Zaubern sofort auf, und sie wunderten sich offenbar, +dabei ertappt zu sein.«</p> +</div> + +<p>Linant, der Bruder des in Gondokoro dem Fieber Erlegenen, kam um +diese Zeit von einem Streifzug nach Makade zurück. Vorher war er bei +Mtesa gewesen und hatte Stanley, den bekannten Afrikareisenden, dort +getroffen. Gordon sollte nun abermals erfahren, was seine Araber +wert waren. Er hatte an vierzig Mann über den Fluß geschickt, weil +Nachricht eingetroffen war, daß einer der längst erwarteten Dampfer +in einiger Entfernung fest säße. Kaum waren aber die Leute gelandet, +als sie von einem Trupp Eingeborner, die sich im hohen Grase verborgen +gehalten hatten, überfallen und zurückgeworfen wurden. Gordon fuhr +alsbald selbst über und versuchte, durch seinen Dolmetscher eine +Unterhandlung anzuknüpfen. Die Schwarzen wollten aber nichts davon +wissen. Als den »Häuptling« glaubten sie ihn an seinem Schirm zu +erkennen und suchten ihn zu umringen. Er ließ sie ruhig näher kommen +und schickte dann eine Ladung Kugeln unter sie. Zu treffen waren sie +übrigens nicht leicht, denn sobald sie den Feind schußfertig sahen, +lagen sie auch schon auf dem Leib. Am folgenden Morgen schlug Linant +vor, mit einem Teil<span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span> der Mannschaft überzusetzen und den Eingebornen +ein paar Häuser in Brand zu stecken. Gordon gab es zu, denn es war zu +fürchten, die kampflustigen Gesellen möchten den Dampfer überfallen. +Er selbst blieb zurück. Gegen Mittag hörte er schießen und erblickte +Linant, den er an seinem roten Hemd erkannte. Er konnte auch seine +Mannschaft beobachten, es waren gegen vierzig Mann. Mit einemmale +aber waren sie verschwunden, und sein Fernrohr zeigte ihm ungefähr +dreißig Schwarze, die eiligst flußabwärts liefen. Er vermutete, sie +suchten den Dampfer, und schickte einige Kugeln unter sie. Nach +einiger Zeit erblickt er einen einzelnen Mann von seinen Leuten, der +ohne Waffen daherkam; er sandte alsbald einen Nachen über den Fluß +und ließ ihn holen. Die Eingebornen hätten ihn entwaffnet, erklärte +er, und die andern wären alle tot. Gordon hatte nur noch dreißig Mann +bei sich, und diese waren hilflos vor Angst. Trotzdem beschloß er zu +handeln. Die Station war unbefestigt und es galt Weiber und Kinder +in Sicherheit zu bringen; er mußte sich nach der nächsten Station +durchschlagen. Dies ließen die Eingebornen ruhig geschehen, nur daß +ihr Zauberer von einem Felsen herunterschrie: »Ha ha! ta ta a!« soviel +als »Geschieht euch recht!« Gordon belehrte aber den Hexenmeister +mit einer Kugel, daß es unklug sei, den Feind in Schußweite zu +verwünschen. Leider stellte es sich heraus, daß nicht nur fast die +ganze Mannschaft, sondern Linant selbst dem Überfall erlegen war; und +zwar war dieser offenbar ein Opfer seines roten Hemdes geworden, das +den Schwarzen als begehrenswerte Beute erschien. Er fiel zuerst, von +seiner Mannschaft verlassen, die vor Schrecken zu schießen vergaß; +und als einer dahin und ein anderer dorthin lief, wurden die meisten +durchspeert. Gordon betrauerte Linant um so mehr, als er ihm das +unselige Hemd selbst geschenkt hatte. Aber trotz des empfindlichen +Verlustes kann er die Eingebornen nicht verdammen; er kann es +vielmehr begreifen, wenn sie sagen: »Wir brauchen eure Glasperlen und +euren Kattun nicht — laßt uns in Frieden.« Und er denkt daran, wie +ernsthaft sie zauberten, ehe sie den Überfall wagten; er sagt sogar, +er hätte eine Ahnung gehabt, daß der Sieg diesmal nicht auf seiner +Seite sein würde.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es war ihnen offenbar ernst mit ihrem Beten,« schreibt er, »sie +wußten, daß sie Hilfe nötig hatten, und wendeten sich an den +unbekannten Gott. Denn wenn der Schwarze auch den wahren Gott nicht +kennt, so kennt Gott doch ihn; und Gott ließ sie merken, daß sie +beten müssen, und erhörte ihr Gebet. Rosse werden zum Streittag +bereitet, aber der Sieg kommt vom Herrn.«</p> +</div> + +<p>Trotzdem er aber so denkt, weiß er, daß die Schwarzen gezüchtigt +werden müssen, was dadurch geschieht, daß er ihnen zweihundert Kühe +und fünfzehnhundert Schafe entführt. Da auch des Häuptlings Tochter +eingefangen wurde, ließ er dem Vater sagen, wenn er versprechen wolle, +sich künftig ruhig zu verhalten, könne er sie wieder haben. Die +Köpfe Linants und seiner Gefährten hatten die Schwarzen an Pfählen +aufgesteckt, die Leiber aber aus Furcht vor Gespenstern begraben. +Es blieb bei diesem einen Überfall, aber noch eine gute Strecke +begleiteten sie Gordon in gehöriger Entfernung am Ufer hin; und mehr +wie einmal konnte er »Balak und Bileam« auf den Anhöhen beobachten, +wie sie ihm von Herzen alles Böse wünschten.</p> + +<p>Im September endlich wurde Dufile erreicht, wo der Nil in einem engen +Thal zwischen Hügelreihen fließt; der Fluß, dessen Wassermassen an +mehreren Stellen einem See gleichen, ist dort nur etwa hundert Fuß +breit. <em class="gesperrt">Alles umsonst!</em> war Gordons erster Eindruck, als er nach +unsäglichen Mühen so weit gekommen war. Es hieß: bis hierher und nicht +weiter, die Folafälle waren die Grenze. Doch konnte er sich damit +trösten, daß er die Schifffahrt wenigstens bis dahin als möglich +nachgewiesen hatte, und die errichteten Stationen von bleibendem Wert +waren. Nachdem er sich vierzehn Tage in Dufile aufgehalten hatte, +das er als eine Insel in einem Meer von Riedgras beschreibt, zog er +landeinwärts nach Faschelie, wo er eine Bande Sklavenjäger aushob. +An diesem Ort erreichte ihn ein »kühler« Brief des Khedive. Gordon, +den es ohnehin verlangte, eine Statthalterschaft niederzulegen, die +ihn lediglich zum Entdeckungsreisenden machte, gab alsbald Befehl zu +packen und schickte sich an, eine Depesche abzufertigen, die seine +Rückkehr melden sollte. Als nach wenig Tagen aber ein Brief in anderer +Tonart von Kairo den ersten zu vernichten<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> schien, hatte er nicht +das Herz, sein Amt Knall und Fall niederzulegen. Dahin aber hatte er +sich entschlossen, daß er es einem seiner Untergebenen überlassen +wollte, zum erstenmal den <em class="gesperrt">Albert Njansa</em> zu befahren. Dieses +Zurücktreten von der Ehre, die sein Werk krönte, ist so bezeichnend +für den Mann, daß man ihn selbst darüber hören muß:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich wünsche einen Beweis zu liefern, wie wenig von den Lobhudeleien +zu halten ist, die man dem Führer einer Expedition zollt. Hat nicht +mein Schiffszimmermann das Seine gethan, daß wir die Nuggers so weit +gebracht haben? Es ist keine Kunst den Njansa zu befahren, wenn +die Boote zur Stelle sind. Es ist die Arbeit vieler und einer hat +die Ehre. N. N. schrieb mir neulich und gratulierte mir zu meinen +Lorbeeren. Da <em class="gesperrt">muß</em> ich ja zeigen, daß es nichts damit ist!«</p> +</div> + +<p>Am letzten Tag des Jahres kann er schreiben:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Endlich ist der Dampfer in Sicht, d. h. die Lastträger, welche die +einzelnen Teile daherschleppen. Die Arbeit war eine entsetzliche, und +das ganze Jahr ist eine Last gewesen, die manch sauren Schweißtropfen +gekostet hat.«</p> +</div> + +<p>Und Gordon erklärt seiner Schwester, die schönste Entdeckungsreise, +die er sich noch denken könne, wäre der Rückweg in die Heimat.</p> + +<p>Ein Ergebnis seines Fleißes in jener Zeit sind seine Nilkarten.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wir haben den Fluß (im halben Zollmaßstab per Meile) von Khartum bis +Dufile und wieder von Foweira bis Mruli, und ich hoffe, entweder ich +oder einer meiner Offiziere wird die Strecke von Dufile bis zu den +Murchisonfällen auch noch aufs Papier bringen.«</p> +</div> + +<p>Somit blieben drei Lücken: 1) von Kositza nach Mruli, 2) von Foweira +nach den Murchisonfällen und 3) der Albertsee. Trotz seinem Vorhaben, +nicht selbst den See zu befahren, füllte er diese Lücken noch aus. Die +Folafälle bei Dufile, wo der Fluß etwa eine Stunde lang durch tiefe +Schluchten sich stürzt, sind die einzige Strecke des ganzen Nils, die +er nicht zu durchschiffen vermochte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span></p> + +<figure class="figcenter illowp46" id="p115_map" style="max-width: 56.25em;"> + <img class="w100" src="images/p115_map.jpg" alt=""> +</figure> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span></p> + +<p>Ende Januar 1876 erreichte er Fatiko und Foweira im Lande Unyoro; +dort hörte er, daß Kaba Rega mitsamt seinem Sessel sich nach Massindi +davongemacht hatte. Foweira wurde nach einem</p> + +<p>fünftägigen Marsche durch dornenbewachsenes Land erreicht. Von dort +ging er nach Mruli, um dann nach Urondogani vorzudringen. Die kurze +Strecke von diesem Ort bis zum Viktoriasee ist das »einzige Stückchen« +Nil, das Gordon schließlich nicht selbst bereiste.</p> + +<p>Im Februar traf er mit seinem Unterbefehlshaber Gessi in Dufile +zusammen. Letzterer machte sich von dort mit zwei Booten nach den Seen +auf den Weg. Er umschiffte den Albert Njansa in neun Tagen und fand +ihn etwa zweihundert Kilometer lang und achtzig breit. Durch einen +Sturm wurde er an eine Insel verschlagen, die voll von Kaba Regas +Truppen war; diese weigerten sich aber mit seinen Leuten anzubinden, +weil sie den weißen Mann für einen Teufel hielten. Gessi errichtete +des Khedive Flagge am See, und die Stämme ergaben sich nacheinander. +Die Schwarzen in jener Gegend waren gekleidet, während in den vorher +durchreisten Nilstrecken die Menschen nackt gingen.</p> + +<p>Die nächsten Monate bis zum August waren für Gordon eine Zeit +verhältnismäßiger Ruhe; er reiste zwischen den gewonnenen Stationen +hin und her, und seine Briefe bezeugen es, daß seine Gedanken in +stillen Tagen sich am liebsten den ewigen Dingen zuwenden.</p> + +<p>Im September war er wieder auf dem Marsche nach Massindi. Kaba Rega +hatte die meisten seiner Anhänger verloren, während Rionga und ein +anderer Häuptling sich um die Herrschaft stritten. Längere Zeit vorher +hatte Gordon Mannschaft nach Massindi abgefertigt und aus erhaltener +Botschaft konnte er nur schließen, daß dieser Ort von den betreffenden +Truppen besetzt sei. Als er aber in die Nähe kam, fand er, daß seine +Araber ihn betrogen hatten und nie dort waren, obschon der Anführer +seine Meldungen von dorther datierte. Er selbst kam mit einer kleinen +Anzahl und geriet durch diesen Verrat der nichtswürdigen Mannschaft +förmlich in eine Falle.</p> + +<p>Die Stämme lauerten ihm von allen Seiten her auf.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich danke Gott nicht nur mit Worten, sondern aus tiefster Seele,« +schrieb er, »daß er uns glücklich durchbrachte.«</p> +</div> + +<p>Er hatte nicht hundert Leute bei sich, und von diesen war ein Drittel +kaum sechzehnjährig. Die Mannschaft, die er nach seinem<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> Befehl in +Massindi wähnte, lag die ganze Zeit auf der faulen Haut in Keroto, +eine Tagereise davon entfernt. Als er hinkam, brach er in einen +»wütenden« Zorn aus, dann aber beruhigte er sich.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Als einer, dem selbst Erbarmung widerfahren ist, konnte ich nur +Gnade vor Recht ergehen lassen,« sagte er. »Sie sind ein erbärmliches +Volk, was kann man von ihnen erwarten!«</p> +</div> + +<p>Während der nächsten Wochen errichtete er noch verschiedene Stationen, +von welchen aus der ägyptische Einfluß sich geltend machen sollte. Es +blieb den Besatzungen überlassen, den Kaba Rega in Ordnung zu halten.</p> + +<p>Die drei Jahre seiner persönlichen Statthalterschaft am Äquator waren +eine Zeit der Pionierarbeit und der Vorbereitung für weitere drei +Jahre, die nun folgten. Er sollte erst zu dem Kampf gestählt werden, +der ihm bevorstand. Nur durch innerliches Wachstum geht ein Mann wie +Gordon »von Kraft zu Kraft«.</p> + +<p>Am 29. Oktober schrieb er von Khartum aus: »Es giebt englische Spatzen +hier; was für eine Freude, sie zu sehen!« Anfangs Dezember war er in +Kairo, und am heiligen Abend des Jahres 1876 begrüßten ihn die Seinen +in der Heimat.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h2 id="Fuenftes_Buch">Fünftes Buch.<br> +<span class="s5"><b>Der General-Gouverneur des Sudan.</b></span></h2> +</div> + +<h3>1. Als Ritter ohne Furcht.</h3> + +<p>»Man wirft mir vor, den Engländern nicht zu trauen,« sagte der +alte Khedive Ismail, als es sich um seine Absetzung handelte, +»habe ich nicht noch immer dem Gordon Pascha vertraut? Der ist ein +ehrlicher Mann, ein guter Landverwalter und kein Diplomat!« Ismail +war darum auch keineswegs damit einverstanden, einen so tüchtigen +Mann zu verlieren. Gordon aber hatte erklärt, daß er nur dann +zurückkehren werde, wenn ihm die gesamte Statthalterschaft der +Sudanländer übertragen würde. Seine drei Jahre am Äquator waren +ja keineswegs verlorene Zeit gewesen, er hatte<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> die Sklavenjagd +in seinem Bezirk geschwächt, wenn nicht unterdrückt, aber von der +Hauptstadt Khartum aus hatte der General-Gouverneur Ismail Jakub +Pascha seinen Bestrebungen stets entgegengearbeitet. Er mußte in +Zukunft ganz freie Hand haben. Daß man ihm so weit entgegenkommen +werde, erwartete er keineswegs, als er sich zu einer Besprechung +nach Kairo begab; der Khedive aber war zu allem bereit. Jakub wurde +beseitigt, und Gordon verließ die Residenz als Oberstatthalter einer +von Südägypten bis zum Äquator, und vom Roten Meer bis Darfur sich +erstreckenden Provinz. Er sollte drei Vakile oder Unterstatthalter +haben, einen im eigentlichen Sudan, einen in Darfur, und einen am +Roten Meere. Als die beiden Hauptzwecke seiner Verwaltung war »die +Vervollkommnung der Verkehrsmittel und eine völlige Unterdrückung +des Sklavenhandels« in Aussicht genommen. Außerdem hieß es im neuen +königlichen Bestallungsschreiben: »An der abessinischen Grenze giebt +es Streitigkeiten; ich trage Ihnen auf, dieselben zu schlichten«.</p> + +<p>Am 18. Februar 1877 machte sich Gordon zum zweitenmal nach dem Sudan +auf den Weg, nicht auf sich selbst vertrauend, wohl aber stark in der +Kraft seines Herrn.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich ziehe allein hinauf mit dem allmächtigen Gott, der mich führen +und leiten wird; wie gut ist's, sich so völlig auf Ihn zu verlassen +und nichts zu fürchten, ja und des Gelingens gewiß zu sein!«</p> +</div> + +<p>Nach des Khedive Erklärung gab es Grenzstreitigkeiten mit +<em class="gesperrt">Abessinien</em>. Die Lage war kurz die: nach König Theodors Tod +hatte ein gewisser Kasa, unter dem Namen Johannes, sich zum Herrscher +aufgeworfen, allein Johannes war, wie Gordon treffend bemerkte, nur +da König, wo er sich gerade befand, anderwärts galt er nichts. Im +Trüben fischend hatten die Ägypter darauf Bogos annektiert, während +der rechtmäßige Regent, Walad el Michael, von Johannes gefangen +gehalten, aber aus Furcht vor dem allzunah heranrückenden Nachbar +unter der Bedingung freigelassen wurde, daß auch er sich gegen den +gemeinsamen Feind zur Wehre setzen werde. Die Abessinier hatten +zuerst die Oberhand. Walad aber ersah seine Gelegenheit, den Ägyptern +sich anzuschließen<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> und andere abessinische Häuptlinge aufzuwiegeln. +Als nun Johannes sich von Anarchie umgeben sah, schickte er einen +Gesandten nach Kairo und bot das südlich von Bogos gelegene Hamasen +als Friedensopfer an. In Kairo aber nahm man gar keine Notiz von +diesem Botschafter, ja man gestattete dem Pöbel, ihn auf offener +Straße zu beleidigen, dann schickte man ihn zurück! Natürlich war +Johannes voll Ingrimm, und im Bewußtsein, nicht zum besten gehandelt +zu haben, sandte der Khedive nun Gordon als Bevollmächtigten, die +Mißhelligkeiten beizulegen.</p> + +<p>In der Wüste zwischen Massaua am Roten Meer und Keren (Senheit) +spricht sich Gordon über seine Lage so aus:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Nun ich wieder in dieser weiten Einsamkeit auf meinem Kamel +bin, überdenke ich meine Lage. Dem Johannes habe ich annehmbare +Bedingungen geschickt und hoffe, mit seinem einflußreichen General +Alula in Senheit zusammenzutreffen. Gelingt es mir, die Sache +abzuwickeln, dann gehe ich alsbald nach Khartum und von dort nach +kurzem Aufenthalt nach Darfur, das in Aufruhr sein soll, doch glaube +ich das nicht recht ... Die Wohlgeneigtheit des Khedive ist über +alle Begriffe. Er hat Zeila, Berbera und Harrar meiner Provinz +beigefügt. »Was du wirst von mir bitten, will ich dir geben, bis +an die Hälfte meines Königreichs.« Was aber ist die Kehrseite? Das +Opfer eines Lebens, das man erst selbst durchkämpfen muß. Sein Leben +zu sofortigem Tod hingeben, ist nicht das schwerste! Aber ich habe +den Kampf übernommen und will mein Leben nicht in Anschlag bringen. +Und es ist mir dabei, als ob ich mit dem Khedive nichts mehr zu +thun hätte. Gott der Herr muß den Kampf selbst unternehmen, ich +bin zur Zeit sein Werkzeug. Die Ehre, die der Khedive mir erzeigt, +hat mich gar nicht, oder richtiger nur sehr wenig bewegt; ich bin +doch wohl ein bißchen stolz auf das Vertrauen, das er mir schenkt. +Mancher möchte die große Verantwortung scheuen, aus Furcht, ihr nicht +gewachsen zu sein; ich habe nicht daran gedacht. Ich weiß gewiß, daß +mir's gelingen wird, denn ich verlasse mich nicht auf meinen Verstand +— Er leitet meine Wege. Sind doch alle zukünftigen Ereignisse für +einen jeden von uns vorherbestimmt. Des Negers, des Arabers, des +Beduinen Laufbahn, ihr Zusammentreffen mit mir u. s. w. ist längst +beschlossen. Wie kann da einer sich viel darauf einbilden, wenn er +etwas zu stande bringt!« ...</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span></p> + +<p>Er hatte eine Zusammenkunft mit Walad, und kam durch Alula zu einem +Einverständnis mit Johannes, der mittlerweile von Menelek, dem König +von Schoa, im Süden bedrängt war; eigentliche Erfolge konnte er aber +nicht abwarten. Seine Anwesenheit in Khartum war dringend notwendig, +denn die Sklavenjäger im Sudan thaten ihr möglichstes, die noch +verstattete Frist auszunützen. Er beeilte sich daher. Schon auf dem +Wege verschaffte er den Leuten Recht, wo er konnte. Die Thatsache, +daß der neue Gouverneur einen jeden anhöre, der etwas zu klagen habe, +ging wie ein Lauffeuer durchs Land. Er mußte zuletzt einen wandernden +Briefkasten einführen, in welchen die Bittsteller ihr Anliegen an ihn +sozusagen zur Post geben konnten. Auch das Unangenehme der Würde eines +»großen Herrn« erfuhr er.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wenn ich absteigen will, so sind gleich acht oder zehn Mann bei der +Hand, mich vom Kamel zu heben, als ob ich ein Todkranker wäre. Und +wenn ich eine Zeit lang zu Fuß gehen möchte, so steigt die ganze +Karawane ab; dann werde ich ärgerlich und sitze wieder auf!«</p> +</div> + +<p>In <em class="gesperrt">Khartum</em> wurde er gleich einem Könige mit Kanonenschüssen +empfangen und eine feierliche Installierung fand statt. Anstatt aber +eine Thronrede zu halten, sagte er nur: »Mit Gottes Hilfe will ich +die Waage gerecht halten!« und das gefiel den Leuten besser als die +glänzendste Rede, war doch Gerechtigkeit das, was dem armen Lande am +meisten not that. Nach der Feier ließ er Geld an die Armen austeilen: +in drei Tagen hatte er an zwanzigtausend Mark aus seiner eigenen Kasse +verschenkt.</p> + +<p>Als Stellvertreter des Khedive hatte er einen überaus stattlichen +Palast mit einem Schwarm von Dienern, die ihn »hüteten wie einen +Klumpen Gold«; das verdroß ihn. Auch hier war es den Leuten etwas +ganz Neues, daß man den Statthalter sprechen konnte, ohne erst eine +Menge von Schranzen zu bestechen. Bald war er so von Hilfesuchenden +belagert, daß er auch hier einen Briefkasten einführen mußte, und +zwar an seiner eigenen Hausthüre, wo jeder sein Begehren schriftlich +einreichen konnte. Das erste, was er abschaffte, war die Peitsche +(Karbatsche), mittels welcher seine Vorgänger regiert hatten. +Gewaltherrschaft war nicht seine Sache. Übrigens war er nicht +allgemein populär; sein Vorgänger<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> Ismail Jakub hatte Verwandte in +Khartum, auch eine zornmütige Schwester, die zur Begrüßung des ihr +verhaßten neuen Statthalters an den Fenstern des Regierungspalastes +die Scheiben einschlug und in den Gemächern die Diwane durchlöcherte! +Auch sein Vakil, Halid Pascha, war von Anfang an widerspenstig. Mit +dem machte Gordon aber kurzen Prozeß, er telegraphierte nach Kairo und +verlangte, daß er entfernt werde; der Wunsch wurde gewährt.</p> + +<p>Die Aufgabe, den Sklavenhandel in einem Lande zu unterdrücken, +wo Menschenware seit Jahrhunderten als ein erlaubtes Mittel zum +Reichwerden galt, war in der That eine große; Gordon weiß das und +setzt hinzu:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wie Salomo bitte ich Gott um Weisheit, dies Land zu regieren; und +nicht nur sie wird er mir geben, sondern alles übrige dazu. Und +warum? Weil mir an dem übrigen nichts gelegen ist.«</p> +</div> + +<p>Aber er weiß auch, daß er die Sache nicht übers Knie abbrechen +läßt. Selbst Sklaven sind Besitz, der sich nicht ohne weiteres +antasten läßt. Ihre Freiheit soll mit der Zeit gesichert werden, +und mittlerweile sind's die Sklavenjäger, welche immer neue Zufuhr +bringen, denen er Krieg auf Tod und Leben ankündigt, er, der eine +Mann, kann man sagen, denn sein Militär ist fast wertlos. Sechstausend +türkische Baschi-Bosuks, seine Grenzwächter, beschließt er abzudanken; +denn er sieht, daß sie mit den Händlern unter <em class="gesperrt">einer</em> Decke +stecken. Sechstausend Soldaten aber den Laufpaß geben, in einem Lande, +wo sie sich alsbald wieder als Banditen zusammenrotten können —</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wer dürfte es wagen, der nicht den Allmächtigen auf seiner Seite +hat? Ich will es thun, denn mein Leben achte ich für nichts, ich +würde nur eine große Last mit der ewigen Ruhe vertauschen ... Ich +bin an des Khedive Statt hier, mit unumschränkter Gewalt, und weiß +es jetzt, wie machtlos er in Kairo dem Sklavenhandel gegenüber ist. +Aber mit Gottes Hilfe will ich's vollbringen und habe das Bewußtsein, +daß er mich dazu bestimmt hat ... Die Arbeit ist riesengroß, aber das +ficht mich nicht an ... ich kenne meine Schwäche und verlasse mich +auf Den, der stark ist. Ich kann nur gradaus meinen Weg gehen, den +Erfolg überlasse ich Ihm ... Es<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> ist in der That eine Riesenprovinz, +die ich zu verwalten habe; wie froh bin ich zu wissen, daß Gott +der Herr Verwalter ist; es ist sein Geschäft, nicht meines. Wenn +ich unterliege, so ist's sein Wille; gelingt es mir, so gebührt +Ihm die Ehre. Jedenfalls hat Er mir's gegeben, die Ehre der Welt +für nichts zu achten, und die Gemeinschaft mit Ihm über alle Dinge +hochzuschätzen. Möge mir alles mißlingen und ich in den Staub +gedemütigt werden, wenn nur Er verherrlicht wird. Die hohe Stellung, +die ich bekleide, will mich manchmal drücken, und ich kann mich nach +der Zeit sehnen, wo Er mich beiseite legen wird und einen andern Wurm +dies Werk thun läßt. Ich wollte, die Kampfhitze meines Lebens wäre +vorüber; aber Er hält mich aufrecht und wird mich davor bewahren, je +wieder an Irdisches mein Herz zu hängen.«</p> +</div> + +<p>Wer so denkt, wie kann der anders als große Thaten thun! Ein an Gott +sich haltender Mensch ist immer ein Held.</p> + +<p>Wir haben Gordon den Ritter ohne Furcht genannt. Wie ein Recke in +den alten Heldensagen zieht er aus, mit dem starken Arm seines +Gottvertrauens ein Beschützer seiner Herde zu werden, und das Los der +Armen in diesem traurigen Land zu mildern. Eine Armee hat er nicht, er +muß sie sich erst schaffen, und zwar aus erbärmlichem Material, und +einen Hauptsieg erringt er, wie wir sehen werden, ohne Armee. Er soll +die Bahr el Ghasal der Macht Sebehrs, des schwarzen Pascha, entreißen; +er soll einem Lande Frieden bringen und ehrlichen Handel einführen, wo +die Menschen durch Unterdrückung fast vertiert sind und die Religion +in Fanatismus besteht.</p> + +<p>Er war noch keine drei Wochen in Khartum, da konnte er bereits seiner +Schwester schreiben:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich glaube, die Leute haben mich gern; es ist auch schön, daß, wo +früher täglich zehn bis fünfzehn Menschen durchgepeitscht wurden, +jetzt dies nicht bei einem mehr vorkommt.«</p> +</div> + +<p>Damit ist nicht gesagt, daß er nicht strenge Ordnung hielt und Herr +war im Amt. Die erste äußere Wohlthat, die er der Stadt erwies, war +die Errichtung einer Wasserleitung; vorher mußte das Wasser aus +dem Fluß herauf getragen werden. Dabei geriet er mit katholischen +Missionaren in Konflikt, die flüchtigen Sklaven Versteck gewährten. +Als Gordon ihnen sagte, er brauche<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> dieselben zur Arbeit, begegneten +sie ihm mit Anmaßung. Da schrieb er einen Brief an den Papst mit +der Bitte, dieser möge seinen Dienern begreiflich machen, daß +Angelegenheiten der vizeköniglichen Regierung außerhalb ihres +Bereiches lägen. Als der Brief fort war, sagte er den Missionaren, er +habe nach Rom geschrieben, was sie zwar aufbrachte, die gewünschte +Wirkung aber nicht verfehlte.</p> + +<p>Ende Mai verließ er Khartum. Es war der Anfang eines fünfmonatlichen +Kamelrittes. Seine Anwesenheit in Darfur war dringend notwendig. +<em class="gesperrt">Darfur</em> hat eine in die graue Vorzeit zurückreichende +Geschichte. Es gab längst Sultane von Darfur, ehe es Kurfürsten +von Brandenburg gab. Auch einen alten Handel hat das Land — +Sklavenhandel. Jetzt aber war Darfur in Aufruhr, und die ägyptischen +Besatzungen der Städte Fascher, Darra, Kolkol u. a. von den Rebellen +eingeschlossen. Eine Heeresabteilung war schon im März nach Fascher +geschickt worden, von Erfolgen hatte aber noch nichts verlautet.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich rechne darauf, im Lauf dieses Jahres meine achttausend Kilometer +zu reiten,« schreibt Gordon. »Ich bin ganz allein, und das ist mir +lieb. Ich bin ein Fatalist geworden, wie die Leute es nennen; d. h. +ich überlasse es dem lieben Gott mir durchzuhelfen. <em class="gesperrt">Die großartige +Einsamkeit der Wüste läßt einen fühlen, wie schwach der Mensch ist. +Alles Gott anheimzustellen giebt allein Kraft</em>, und ich kann den +Tod als eine Erlösung erwarten, wenn es sein Wille ist. In meiner +gegenwärtigen Lage, auf manch langem, heißem Ritt kann ich meine +Gedanken um so besser ausdenken, weil ich allein bin. Ich gewöhne +mich nach und nach ans Kamel, es ist ein wunderbares Tier, das weich +und still geht wie auf Teppichen, recht angenehm.«</p> +</div> + +<p>Natürlich folgte ihm die statthalterliche Leibgarde von zweihundert +Berittenen. Sein Kamel, ein besonders schnelllaufendes Tier, trug ihn +aber öfters weit voraus, so z. B. ganz gegen seinen Willen wie im +Sturmlauf in die Grenzstadt Fodja, was ihn auf die Vermutung bringt, +daß die Kamele und die Gordons als eigensinnige Geschöpfe verwandter +Rasse sein möchten.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich habe ein prächtiges Tier, so giebt's keines mehr; es fliegt nur +so dahin, selbst zur Verwunderung der Araber. Wie ein Blitz<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> fuhr +ich in die Stadt hinein, und ehe die Besatzung sich recht besinnen +konnte, wie ich zu empfangen sei, war ich da. Nur ein Araber hatte +Schritt mit mir gehalten, und der sagte, es wäre der Telegraph! Die +andern kamen anderthalb Stunden später.«</p> +</div> + +<p>Gordon hatte im Gedanken an einen der Erwartung der Leute +entsprechenden Einzug seine Marschallsuniform angelegt.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Welch tolles Bild,« ruft er scherzend aus, »wenn die goldbetreßte +Exzellenz so im Sturm anlangt, als wären alle Feinde hinter ihr her! +Der Mudir war sprachlos!«</p> +</div> + +<p>Das Land nennt er eine elende, sandige, strauchbewachsene Wüste. Den +Aufruhr schreibt er lediglich schlechter Verwaltung zu. Wo vorher +<em class="gesperrt">ein</em> Mann den Weg nach Fascher allein zurücklegen konnte, +genügten bei der jetzigen Unsicherheit kaum zweitausend Mann Militär +von der Art, wie es ihm zu Gebot stand. In Omschanga findet er die +erste Nachricht von der Heeresabteilung vor, mit der er das Land +erobern soll. Die Truppen lagen hier und dort zerstreut, alles in +allem keine dreitausend Mann — Soldaten von der »unbeschreiblichen« +Sorte, mit denen er schließlich auch nichts ausrichten konnte. Doch +tröstet er sich.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich denke, <em class="gesperrt">Gott</em> wird mir's ermöglichen, die Stämme zu +gewinnen, und mit <em class="gesperrt">seiner</em> Hilfe werde ich dann mit den +Häuptlingen nach Fascher ziehen, die jetzt noch Rebellen sind.«</p> +</div> + +<p>Wo in der ganzen Weltgeschichte findet sich ein ähnliches Beispiel, +daß ein Feldherr auf seine Feinde rechnet, um mit ihnen Thaten zu +thun! Bei ihm ist das von jeher so gewesen; es ist der Sieg des +Rechts über das Unrecht, des Guten über das Böse. Und wie er in China +öfters mit überwundenen Taipings die Taipings besiegte, so verläßt er +sich mit seinem großartigen Vertrauen auch in Darfur auf die erst zu +überwältigenden aufrührerischen Stämme.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Nichts giebt mir größere Kraft,« sagt er, »als für die Leute zu +beten; und es ist wunderbar: <em class="gesperrt">wenn ich dann mit einem Häuptling +zusammenkomme, für den ich vorher gebetet habe, so ist es immer, +als ob er schon gewonnen wäre</em>. <em class="gesperrt">Darauf</em> gründe ich meine +Hoffnung auf einen siegreichen Zug nach Fascher. Truppen habe ich +lediglich keine, aber der Allerhöchste<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> geht mit mir, und ich +verlasse mich so viel lieber auf Ihn allein. Solches Vertrauen könnte +ich ja nicht haben, wenn er mir's nicht gäbe und mich nicht dazu +ermutigte; ich erachte daher, daß gerade dieses Vertrauen eine Art +Angeld auf Sieg ist.«</p> +</div> + +<p>Und bezüglich seines Vorhabens, mit gewonnenen Rebellen nach Fascher +zu ziehen, sagt er weiter:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Vielleicht läßt Er's auch nicht gelingen, und Kampf mag bevorstehen. +Die Herzen der Menschen sind in seiner Hand, und er lenkt sie wie +er will. Er <em class="gesperrt">kann</em> es aber thun, so es ihm wohlgefällt; und +wer möchte etwas anderes wünschen, als daß er nach Seiner Weisheit +alles leite. Die Gefahr für mich dabei ist die, daß es mich aufblasen +möchte, so er's thut. Aber auch das kann und wird er verhindern. +Ich mag meine Laufbahn überdenken wie ich will, so finde ich +nirgends besonderen Verstand, oder Geschicklichkeit, oder Weisheit +meinerseits. Meine Erfolge bisher waren eigentlich immer, was man +im gewöhnlichen Leben Glücksschüsse nennt ... Ich bin nichts, gar +nichts, als einer, der von Gott Almosen empfängt. Ein Sack voll Reis, +den ein Kamel durch die Wüste schleppt, kann soviel vollbringen als +ich oft meine, daß ich vollbringe. Aber wie verschieden urteilt die +Welt!! Ich meinesteils danke Gott, daß Er mich als ein Werkzeug +benutzt, und freue mich auf die vorbehaltene Ruhe. Und ich kann mich +freuen mit seiner Freude, wenn den armen Menschen Hilfe wird — durch +Ihn, nicht durch mich, obwohl Er sich meiner bedient.«</p> +</div> + +<p>Und so zog er durch die Wüste als ein unverwundbarer Glaubensheld, der +wie David mit seinem Gott über Mauern springt, der Völker besiegt und +Städte einnimmt und dabei meint, er vollbringe gar nichts, das ihm +selbst zur Ehre gereiche! Er war noch in Fodja, als ihn ein Telegramm +erreichte: man brauche in Kairo sofort eine halbe Million Mark +Einkünfte aus seiner Provinz! Über diese Erwartung seines irdischen +Oberherrn schreibt er in die Heimat:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Soviel ist sicher, daß ich vor der Hand in einem Sumpfe bin mit +dem Sudan, aber wenn ich bedenke, wer als mein Oberschatzmeister, +mein Heerführer, mein Landverwalter im Regiment sitzt, so wäre +es merkwürdig, wenn ich darin stecken bliebe. Ja, hätte ich den +Allmächtigen nicht zur Seite mit seiner Weisheit, ich wüßte mir +wahrlich keinen Rat!«</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span></p> + +<p>Dabei legt er aber nicht die Hände in den Schoß, sondern gürtet auch +in dieser Hinsicht seine Lenden zu dem ungleichen Kampfe.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Mit unsäglicher Anstrengung kann es mir gelingen, in zwei bis drei +Jahren aus diesem Lande eine ordentliche Provinz zu schaffen mit +einer tüchtigen Armee und regelmäßigen Einkünften, mit hergestelltem +Frieden und aufblühendem Handel, und vor allem mit unterdrückter +Sklavenjagd; und dann — ja dann gehe ich heim und lege mich ins Bett +und stehe nie auf bis Mittag, und marschiere nie mehr als höchstens +eine Meile per Tag. Und esse Austern zu Mittag!«</p> +</div> + +<p>Diese scherzenden Zeilen an seine Schwester beweisen nur, daß er eine +fast unübersteigliche Arbeitslast vor sich sieht.</p> + +<p>Während er noch in Omschanga durch seine »Unbeschreiblichen« +hingehalten war — keine geringe Geduldsprobe für den energischen Mann +— hatte er Zeit, sich die endlose Schwierigkeit der Sklavenbefreiung +weiter zu überdenken. Die Wüstenstrecken von Darfur und Kordofan +sind von Beduinenstämmen durchzogen, von denen mancher mehrere +tausend Krieger ins Feld stellen kann, die unter ihren kampfgeübten +Scheiks keine verächtliche Macht bilden. Diese Stämme haben von jeher +Streifzüge auf die Neger im Süden unternommen, oder sich Sklaven im +Tauschhandel mit anderen Stämmen verschafft. Zu Gordons Zeit wurden +die Sklaven selten in großen Karawanen, wohl aber von den Händlern in +vielen kleinen Trupps durchs Land getrieben. So begegnete er eines +Tages einem Manne, der sieben schwarze Weiber vor sich hertrieb und +sie samt und sonders für seine Eheweiber ausgab; die Kinder, die +nebenherliefen, nannte er seine Nachkommenschaft. Wer sollte ihm +das widerlegen! Vor der Hand aber war's fast noch mehr das von den +türkischen Grenzsoldaten übers Land gebrachte Elend, das Gordon +Tag und Nacht beschäftigte. Und als die unterdrückten Landbewohner +kamen und ihm demütig ihre Unterwerfung zu Füßen legten, sagte er +ihnen, wie's ihm ums Herz war, daß sie vielmehr erwarten könnten, +er, als Statthalter des Khedive, bäte sie um Verzeihung. Des Khedive +Grenzwächter, die Baschi-Bosuks, dankte er seinem Vorhaben gemäß ab.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich habe mich auf einen Felsen gestellt und thue was recht ist, ohne +mich um die Folgen zu kümmern ... Wenn Angestellte ihre Pflicht nicht +thun, so besinne ich mich keinen Augenblick, sie ihrer Wege gehen zu +heißen, mag man in Kairo denken was man will. Es ist jedenfalls ein +großer Vorteil, ganz furchtlos zu sein. Und wenn ich selbst abgesetzt +würde, so wäre es ja keine Strafe, denn ich opfere mein Leben in +diesem Land.«</p> +</div> + +<p>An vierzehn Tagen wartet er auf seine saumselige Mannschaft, ohne nur +zu wissen, wo die Helden sind. Er nennt's ein trostloses Geschäft, +und bei der furchtbaren Hitze in dem jammervollen Land ist's kein +Wunder, wenn er ausruft: »Wollte Gott, ich wäre in der andern Welt!« +Er meint, mehr als andere Menschen hätte er immer wieder durch die +Mangelhaftigkeit seiner Streit- und Arbeitskräfte zu leiden; so sei's +in China gewesen, und so sei's hier. Das unnötige Wartenmüssen ist es, +was dem thatkräftigen Mann so schwer fällt.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Aber es ist nicht recht, es hat jeder sein Kreuz zu tragen. Wir +sind alle Knechte; heute giebt der Herr uns Arbeit, und morgen will +er, daß wir warten können. Dieses Hinliegen ist mir aber sehr gegen +die Natur. Und ich kann auch gar nicht sehen, was in diesem Lande +schließlich zu gewinnen ist!«</p> +</div> + +<p>Endlich kamen fünfhundert seiner Helden. Fascher hatte er aber bereits +auf seine Weise ohne Schwertstreich gewonnen; die Stämme hatten sich +ihm einer nach dem andern ergeben. Nun machte er sich nach Tuescha +auf den Weg, von wo er eine Garnison von dreihundert mitnehmen will. +In Darra warten weitere zwölfhundert. Auf diese Art kann er ein Heer +von zweitausend Mann zusammenbringen. Unterwegs findet er allerwärts +Arbeit, das aufrührerische Banditenvolk aus seinen Schlupfwinkeln +zu vertreiben. Zuletzt beabsichtigt er, sich auf Schekka zu werfen, +das er die »Höhle von Adullam« nennt, wo Räuber und Mörder hausen, +nämlich die Horden Sebehr Paschas, des großen Sklavenhändlers, unter +dessen Sohn Soliman. Auch diesem gegenüber, der ihm mit elftausend +Mann begegnen kann, rechnet er auf keinen andern, als einen +<em class="gesperrt">innerlichen</em> Sieg.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich bin gar nicht unruhig,« schreibt er, »und hoffe, es wird ohne +Blutvergießen abgehen.«</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span></p> + +<p>Ins Gefecht geriet er nun allerdings; aber nicht sowohl seinen Waffen, +als seinem gewaltigen Geist und seiner demutstarken Seele wurde der +Sieg.</p> + +<p>In Tuescha fand er die dreihundertfünfzig Mann Garnison, welchen +seit drei Jahren kein Sold bezahlt worden, beinahe ausgehungert. +Das war nicht sehr ermutigend, aber Gordon war dergleichen gewohnt. +War's ihm doch gegeben, seine glänzendsten Thaten einem Chaos von +Unmöglichkeiten abzugewinnen. Der Aberglaube der Chinesen erblickte +in seiner Hand einen Zauberstab und nannte seine Erfolge Wunder. Wohl +hatte er einen Zauberstab: es war derselbe, mit dem einst Moses aus +dem Felsen Wasser schlug. Die Besatzung von Tuescha war in der That +so erbärmlich, daß er beschloß, ihrer Beihilfe zu entbehren, sie nach +Kordofan zu schicken und mit seinen ursprünglichen Fünfhundert samt +ihren schlechten Steinschloßgewehren weiterzuziehen. Ein Scheik, der +versprochen hatte zu ihm zu stoßen, ließ ihn im Stich, während die +Umgegend voll von kampflustigen Schwarzen war, die recht gut wußten, +daß der General-Gouverneur nur mit einer Handvoll Leute des Weges +komme, und ihn ernstlich bedrohten. Aber zu einem Angriff kam es +nicht. »Gottlob, die Gefahr ist vorüber,« kann er schreiben. Wie groß +sie war, weiß er nicht einmal; aber das weiß er, daß nur wenige es +begreifen können, was es heißt Truppen anführen, in die man keine Spur +von Vertrauen setzt.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich habe von ganzer Seele um einen Ausweg gebetet; es gab mir +ordentlich einen Stich ins Herz, wie damals, als ich mich bei +Massindi (S. 116 f.) verraten fand. Nicht, daß ich den Tod fürchte, +aber aus Kleinglauben fürchte ich die Folgen meines Todes; das ganze +Land stünde wieder in Aufruhr. In solcher Lage zu sein, kommt einem +wirklichen Schmerz gleich, es macht mich in einer Stunde um ein Jahr +älter ... Auch ist es eine Demütigung. Aber gottlob! es ist vorüber +... wohl sage ich mir, daß alles zum guten Ende führen wird, aber +das macht dergleichen nicht weniger peinlich. Ich glaube, ich habe +in dieser Hinsicht in meinem Leben mehr gelitten als die meisten +Menschen. Heute morgen z. B. (nach der überstandenen Gefahr) kam mir +ein Wild schußgerecht und ich ließ mir meine Flinte reichen. Der +Kerl, der sie trug, hatte sie mittlerweile<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> zerbrochen; also hätte +ich in einem Überfall nicht einmal meine Waffe gehabt!«</p> +</div> + +<p>Die Charakterzeichnung Gordons wäre eine unvollständige, wenn man zu +bemerken vergäße, wie er oft gerade in der schwierigsten Lage auch +eine komische Lichtseite erblickte, deren er gerne Erwähnung that. So +schließt der Brief, der von der vorübergegangenen Gefahr berichtet, +mit folgenden Worten:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wir hatten auch dreißig oder vierzig Esel bei uns. Und wenn einer +anfing, dann wußte ich, daß sie alle schreien mußten; es war +ordentlich eine Wohlthat, den vierzigsten endlich zu hören. Da fing +der erste die Reihe wieder an, und so ging's die Nacht durch! Der +Darfur-Esel brummt aber nur ganz tief in der Tonleiter; die hohen +Töne, die sein englischer Bruder aus frohem Herzen ausstößt, kennt er +offenbar nicht.«</p> +</div> + +<p>Als Gordon nach Darra kam, gab's auch dort Enttäuschung. Die +Hilfstruppe, auf die er gerechnet hatte, war ihm entgegen gezogen und +hatte den Weg verfehlt!</p> + + +<h3>2. In der Räuberhöhle.</h3> + +<p>Die Leute von Darra waren nicht wenig erstaunt, den Generalgouverneur +in ihrer Mitte zu erblicken; sie wußten sich seit einem halben Jahre +von der Außenwelt abgeschnitten. Die Stämme umher waren im Aufstand; +Harun, der als Anverwandter des gefallenen Sultans von Darfur die +Herrschaft beanspruchte, bedrohte die Stadt, und in Schekka saß +der Sohn Sebehrs mit sechstausend bewaffneten Sklaven. Gegen Harun +schickte Gordon eine ziemlich starke Truppenabteilung, die auch +ins Gefecht geriet und Beute machte, sonst aber keine Heldenthaten +verrichtete. Ein Offizier war damit beauftragt, eine zweite Abteilung +gegen die Stämme zu führen, und Gordon selbst blieb vorläufig in +Darra, um den schlimmsten der Feinde, Soliman, im Auge zu behalten. +Den Einwohnern der Stadt war seine Anwesenheit eine Schutzmauer, +aber sie fanden auch sonst noch Ursache, derselben froh zu sein. +So gab er ihnen z. B. ihre Moschee zurück, die von den Ägyptern in +ein Pulvermagazin verwandelt worden war;<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> freute es ihn doch, wenn +die Muselmänner Gottesdienst hielten, sofern sie es nur redlich +meinten. Das Land weithin war nach dreijähriger Anarchie im Elend der +Hungersnot. Er beschreibt die Kinder als »nur Bäuche mit Gliedmaßen +wie Fühlfäden« — eine Folge des Grasessens.</p> + +<p>Um Solimans habhaft zu werden, tauchten verschiedene Vorschläge auf. +Gordons schwarzer Schreiber z. B. ersann einen Plan, wie man ihn nach +Darra locken könne, um ihn daselbst, sofern er sich nicht ergeben +wolle, zu ermorden. Statt dieses »asiatischen« Einfalls, wie Gordon +sich ausdrückt, kam ihm selbst ein anderer, wie nur <em class="gesperrt">seine</em> +Großmut ihn ersinnen konnte: er wollte den Sohn Sebehrs durch +Vertrauen entwaffnen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es ist mir der gute Gedanke gekommen, den Soliman zum Statthalter +von Darra zu machen und ihn damit von dem Räubernest Schekka zu +entfernen. Das wird ihn auch an fernerer Sklavenjagd hindern, denn +seine sechstausend werden genug zu thun haben, das Land gegen die +Stämme zu halten.«</p> +</div> + +<p>Der Plan war nicht ausführbar; dennoch hoffte er Soliman ohne Waffen +zu besiegen. Aus der »Höhle Adullam« erhielt er mittlerweile durch +die Häuptlinge El Nur, Awad und Idris Kenntnis, die zwar Sebehrs +Herrschaft anerkannten, sich aber die Regierung geneigt zu machen +suchten, indem sie dem Statthalter verrieten, was dort vorging. So +wußte er z. B., daß Soliman beständige Verbindung mit seinem Vater +in Kairo unterhielt und daß der Aufruhr in Darfur aus Gehorsam gegen +Sebehr ins Werk gesetzt wurde, als dieser seinen Anhängern sagen ließ, +sie sollten »das jetzt ausführen, was unter dem Baum beschlossen +worden sei.« Der schwarze Pascha regierte selbst als Gefangener noch +das unglückliche Land.</p> + +<p>Ehe Sebehr nämlich mit seinen zwei Millionen »Bakschisch« (Trinkgeld) +nach Kairo ging, um die Pascha zu bestechen, hatte er alle +sklavenhandeltreibenden Häuptlinge seines Gebietes unter einem großen +Baum an der Straße zwischen Schekka und Obeid versammelt und ihnen +einen Eid auf den Koran abgenommen, daß sie sich allerorts gegen +die Regierung erheben sollten, wenn er ihnen das Wort sende. Als +nun Gordon nach seiner Arbeit<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> am Äquator die Statthalterschaft des +Sudan übernahm und sich nach kurzem Aufenthalt in Khartum aufmachte, +um die Sklavenhändler in ihrem bis jetzt sichersten Schlupfwinkel zu +bekämpfen, wo die Bande sich um Soliman geschart hatte, da wußte der +alte Menschenräuber, daß es damit seiner Hoffnung ans Leben ging, den +Handel, von dem er seine Macht und seinen Reichtum hatte, je wieder +zur alten Blüte zu bringen. So erging sein Mandat an die Raubgesellen +in Schekka.</p> + +<p>El Nur und Idris hatten sich beide mit Hinterlegung einer Strafsumme +aus Schekka fortgemacht. Von ihnen erfuhr Gordon, daß Soliman festsäße +bis nach der Regenzeit und sich in seiner »Höhle« vor einem Überfall +gesichert erachte. Daraus ergab sich indessen keine Ruhezeit für +unseren Helden. Er war noch nicht vierzehn Tage in Darra, als er +schrieb:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Heute haben sich sechshundert der Nazagats mit ihrem Scheik zu mir +geflüchtet.«</p> +</div> + +<p>Dieser Stamm hatte seinen Wohnsitz in der Nähe von Schekka und war +einer der gewaltigsten im Land, der siebentausend Krieger ins Feld +bringen konnte. Aber infolge der fortwährenden Plünderungen von +Sebehrs Bande fingen sie an, sich zu Gordon zu schlagen; und er hörte, +daß es nur der Anfang einer Einwanderung sei, indem noch andere Stämme +ähnliches beabsichtigten. Sie konnten über Nacht kommen, denn »Gepäck +haben sie keines und reiten wie der Blitz, ohne Bügel.« Der Vorteil +einer solchen Verstärkung war aber ein zweifelhafter — wo Nahrung +hernehmen für so viele in dem ausgeplünderten Land?</p> + +<p>Eine weitere Schwierigkeit, die sich ihm um diese Zeit darbot, +verstattet einen Einblick in die Ratlosigkeit, die ihn angesichts des +von ihm bekämpften Greuelwesens mehr wie einmal befiel. Eine seiner +Streifkolonnen hatte ihm zweihundertundzehn Sklaven in die Stadt +gebracht, ausgehungerte Menschen, die ihn so flehentlich anblickten, +daß ihm die Augen übergingen. Was soll er mit ihnen anfangen? wem +soll er sie überlassen? Selber behalten kann er sie nicht und füttern +kann er sie auch nicht. Selbstverständlich läßt er ihnen für den +Augenblick etwas Durra reichen, denn sie haben seit sechsunddreißig +Stunden nichts gegessen. »Ich wollte<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> heute mein Leben hinlegen,« ruft +er aus, »um das Elend dieser Menschen zu lindern; wie viel mehr muß +Gott sich ihrer erbarmen!« Und immer mehr wird es ihm zur Klarheit, +daß das Schwerste des von ihm unternommenen Kampfes nicht sowohl die +Unterdrückung der Händler selbst sei, als die Versorgung der hilflosen +Sklaven.</p> + +<p>Es ist ihm öfters zur Last gelegt worden, daß er selbst Sklaven, als +solche, seinen Truppen einverleibe, ja sie gegebenenfalls sogar kaufe. +Er, der sein Leben für nichts achtete in dem großen Kampf gegen das +Unrecht, konnte es ruhig der Zeit überlassen, sein Thun ins rechte +Licht zu setzen. Er braucht Truppen gegen die Sklavenhändler; woher +soll er sie nehmen? Wenn er es unterläßt, Sklaven zu nehmen und +ihre Eigentümer zu entschädigen, so gehören sie nach wie vor, d. h. +vertragsmäßig noch zwölf Jahre lang ihren jeweiligen Herren. Sie mit +Gewalt frei machen, hieß den Aufruhr verallgemeinern. Es schien ihm +der beste Weg, die Banden bewaffneter Sklaven im Land möglichst unter +seine Disziplin zu bringen. Das Urteil der Leute hatte ihn nie viel +angefochten. Seiner Schwester formuliert er Anklage und Entschuldigung +mit den kurzen Worten:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich möchte, daß Du es richtig verstehst — ›Oberst Gordon kauft +Sklaven an von Regierungs wegen und läßt die Gellaba nach wie vor +ihr Wesen treiben‹, heißt's in den Zeitungen. Ja, er thut's, denn +nur mit Hilfe von Sklaven kann er die Sklavenhändler bekämpfen +und die bewaffneten Banden unter sich bringen. Die Sklaven, die +ich kaufe, sind längst ihrer Heimat entrissen, ich kann sie nicht +zurückschicken, selbst wenn ich wollte. Es ist nicht, als ob ich dem +Handel dadurch Vorschub leistete, nicht einmal indirekt, denn gerade +dadurch gewinne ich ein Mittel, ihn zu unterdrücken.«</p> +</div> + +<p>Die Gellaba — er nennt sie selbst Geier — sind die kleinen Händler, +welche die Ware im einzelnen den Jägern abkaufen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wenn wir mit Rußland im Krieg sind,« sagt er, »benutzen wir diesen +Zeitpunkt nicht, um in Indien Mißstände zu unterdrücken? Ich wäre +tollkühn, wollte ich mir die kleinen Leute verfeinden, ehe ich mit +den Hauptsündern fertig bin.«</p> +</div> + +<p>Er weiß, daß in Schekka an viertausend Sklaven liegen, die ihm in die +Hände fallen werden, sobald er jenes Nest aushebt.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Was soll ich mit ihnen anfangen, mit Weibern und Kindern? Ich +kann sie nicht in ihre Heimat zurückschicken (weithin ins Innere +von Afrika, selbst wenn er im einzelnen Fall immer wüßte, wo die +Geraubten zu Hause sind!) ich kann sie nicht erhalten. Ich muß sie +entweder den Stämmen überlassen, oder meinen Truppen, oder den +kleinen Händlern. Ich habe keine andere Wahl. Wenn ich sie freigebe, +so überlaufen sie das Land, und ein herrenloser Sklave ist wie ein +verlorenes Schaf — das Eigentum dessen, der ihn findet. Ich muß +suchen den Ausweg zu ergreifen, der für die armen Sklaven der beste +ist. Was Europa dazu sagt, ist nicht die Hauptsache: es ist der +Sklave, der leidet, nicht der Europäer. Das weiß ich wohl, daß wenn +ich jene viertausend Sklaven den Stämmen oder den Gellaba, oder auch +meinen Truppen überlasse, man in den nächsten Monaten um so viel mehr +von Sklaventransport hören wird; aber dann ist wenigstens das damit +gewonnen, daß die Ärmsten auf die beste Art ihre Bestimmung erreichen +und nicht hier Hungers sterben.«</p> +</div> + +<p>Als ihre Bestimmung kann man neben dem Orient überhaupt auch Ägypten +betrachten, wo merkwürdigerweise der Ankauf von Sklaven auch dann noch +gestattet war, als der Handel im Sudan unterdrückt werden sollte.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich könnte die Verantwortung von mir abwälzen, und die Sache sich +selbst überlassen — das hieße die Sklaven dem sichern Elend und dem +Hungerstod preisgeben. Soll ich ein solcher Feigling sein, aus Furcht +vor der Meinung des besser unterrichteten Europa? Nein, ich werde +dem Transport fürs nächste Vorschub leisten. Die Leute sollen in die +Zeitungen schreiben, was sie wollen. Hier sind die Sklaven, um sie +her die Geier, und hier bin ich, der eine Mann, der keine Nahrung für +sie hat und keine Möglichkeit, sie in ihre Heimat zurückzuschicken. +Hätte ich einen tüchtigen Mann mit starkem Arm, der mir helfen +könnte, jeden einzelnen Sklaven nach seinem Wunsche zu behandeln — +es wäre mir lieber. Denn merkwürdigerweise haben selbst diese elenden +Sklaven noch Wünsche in dieser Hinsicht — manche vertrauen sich +lieber den Gellaba an, manche den Stämmen, manche meinen Truppen; +nach ihrer verwüsteten Heimat verlangen sie indessen nicht zurück, +denn sie wissen, daß sie dann nur anderen Stämmen zum Opfer fallen +und wieder Sklaven werden. Ihre Dörfer sind zerstört; es würde +lange dauern, ehe sie nur wieder auf eine Ernte hoffen könnten.... +Angesichts dieser Thatsachen steht man hilflos dem Erlaß gegenüber, +daß alle<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> Sklaven nach zwölf Jahren frei sein sollen. Wer will sie +frei machen? Man könnte gerade so gut erwarten, daß Steine und Bäume +das Gesetz erfüllen, als daß die Stämme unter sich ihre Sklaven +aufgeben. Man kann lediglich nichts thun, als sie an der Jagd auf +neue Sklaven hindern ... Ich habe so wenig Korn hier, daß ich nicht +weiß, was anfangen. Bei solcher Sorge vergeht einem der hohe Mut. +Aber das weiß ich, daß ich um keinen Gewinn der Welt die übernommene +Arbeit jetzt aufgebe; es wäre eine Feigheit ... Ich höre von Fascher, +daß nach einem Ausfall auf Harun das Volk zu Hunderten Hungers starb +oder den Pocken erlag — arme Kinder und Weiber, deren jedes sein +Leben lieb hat wie wir! Schön war, daß meine Araber ihre Gefangenen +freiließen — es seien ihrer zweihundertfünfunddreißig gewesen, die +Arm in Arm in einer langen Kette davonwankten. Es geschah in der +Hoffnung, sie vor den Gellabas zu retten, was hoffentlich gelungen +ist ...</p> + +<p>»Eine Truppe ausgehungerter Menschen ist in meinen Hof eingebrochen, +ich habe sie fortschicken müssen bis morgen, in der Hoffnung, bis +dahin etwas Durra aufzutreiben.«</p> +</div> + +<p>Mittlerweile verhielt sich der von Darra abgesandte Offizier ganz +unthätig, ja Gordon hörte, daß er sich vom Feind habe bestechen +lassen. Kein Wunder, daß Gordon allen Mut verlor, sich auf seine +Truppen zu verlassen. Er beugt sich unter diese Thatsache als unter +eine Fügung Gottes. Dies hindert ihn aber nicht, sich vorzunehmen, +den Mann im Betretungsfalle kriegsrechtlich erschießen zu lassen. Wie +seine Truppen sich ferner verhielten, ergiebt sich aus folgendem. +Die <em class="gesperrt">Leparden</em>, ein zahlreicher Stamm, hatten sich gegen +ihn aufgeworfen und die Verbindung zwischen Darra und Tuescha +abgeschnitten. Er beschloß daher, seinen Besuch in der Räuberhöhle +Schekka noch hinauszuschieben und mit einer Abteilung seiner +»Unbeschreiblichen« und einer Anzahl verbündeter Mascharins den +Leparden entgegenzuziehen. Es war eine schlimme Nacht, voll Sturm und +Regen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich zog meinen Mantel an und setzte mich unter meinen Schirm und +wünschte, es wäre Tag. Angenehm war die Lage nicht, aber ich wickelte +mich ein und konnte schlafen.«</p> +</div> + +<p>Es war ein Regen, der einem die halbe Kraft aus dem Körper spülte, +sagt Gordon, aber nichtsdestoweniger führt er seine<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> Leute am +folgenden Tage in den Kampf — den Teil wenigstens, der bei der Hand +war, und das waren <em class="gesperrt">nicht</em> seine »Unbeschreiblichen«, die langsam +hinterdrein kamen. Seine Verbündeten, die Mascharins, waren es, die, +obgleich geringzählig, sich nicht halten ließen und die Leparden, d. +h. ihre einhundertsechzig Mann starke Vorhut, gänzlich aufrieben. +Als seine Truppen herankamen, besetzten sie das gewonnene Lager +des feindlichen Stammes, und während Gordon mit dem Häuptling der +Mascharins Kriegsrat hielt, stürmten die Leparden in zwei Abteilungen +von je dreihundertfünfzig Mann daher. Sie wurden zurückgeworfen, aber +wieder nicht von seinen Truppen, sondern von den tapfern Mascharins, +deren Anführer Ahmed Nurra tödlich verwundet wurde. Seine Helden +hielten das Palissadenwerk von der sichern Seite! Gordon befand sich +in einem Zustand der peinlichsten Entrüstung. Das Einzige, was ihn +zurückhielt, sich selbst unter die anstürmenden Leparden zu werfen, +war der Gedanke, daß seine elenden Truppen dann gar nicht mehr wüßten, +was thun. Aber gründlich verhaßt wurden ihm die Baschi-Bosuks mit +ihrem Waffengeklirr, wenn der Feind nicht da war, und ihrer maßlosen +Feigheit, wo's Ernst galt.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Kein Mensch hat eine Vorstellung davon, was meine Offiziere und +Soldaten für Kerle sind — ihr bloßer Anblick regt mir die Galle auf!«</p> +</div> + +<p>Der kurze Feldzug endete damit, daß er die Leparden von drei +Wasserstationen abschnitt, so daß nur eine einzige, vierte Quelle +ihnen blieb. Den Feind in jenen Wüstenländern vom Wasser abschneiden, +heißt ihn besiegen. Die Brunnen liegen stundenweit auseinander.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Gern hätte ich's den Frauen und Kindern und dem armen Vieh erspart, +aber ich habe keine andere Wahl, wenn ich den Stamm bewältigen will.«</p> +</div> + +<p>In der glühenden Hitze kamen sie denn auch bald mit hängenden Zungen +und verdorrten Lippen und baten um Gnade. Gordon nahm ihnen die Speere +ab, ließ sie auf den Koran Treue schwören und schickte sie dann +allesamt an die nächste Quelle.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Sie waren einen Tag ohne Wasser, ich kann's nicht ändern. Der Krieg +ist ein grausames brutales Geschäft. Wie oft lesen wir in den Kriegen +Israels, dass das Volk ohne Wasser war. Es ging damals nicht anders +zu als jetzt.... Meine Berittenen fingen einen Scheik ein, er war +über die Maßen durstig; wie gern hab ich ihm Pardon gewährt und +ihn mit seinen Leuten ans Wasser geschickt ... er sagte, der Stamm +sei auseinandergesprengt. Auch des Häuptlings Sohn war dabei, ein +fünfzehnjähriger Junge, und wie sie gebunden in meinem Zelt hockten, +sah ich, wie der arme Bursche nach Wasser lechzte. Was für eine +Freude war's, ihn sich satt trinken zu lassen!«</p> +</div> + +<p>Aber auch Streitigkeiten mußte er beilegen. Der Zankapfel war oft nur +eine Handvoll Korn, oder ein irdener Topf. Ob solcher Beute gerieten +zwei hintereinander, die verschiedenen Stämmen angehörten, und der +eine erschoß den andern!</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich ließ die Stammesangehörigen des Getöteten vortreten und auch den +Gefangenen; und dann fragte ich sie, ob ich ihn erschießen sollte, +oder ob sie ihn haben wollten, damit er für die Hinterbliebenen des +Ermordeten arbeite. Und ich war froh, zu finden, daß sie auf den +letztgenannten Vorschlag eingingen. Der Mann war vorher schon der +Sklave eines der Soldaten (das Wort ist mir entschlüpft, ich wollte +ihn nicht so nennen!) ich habe ihn daher nur einem andern Herrn +gegeben. Das Entsetzen der Leute war unbeschreiblich, als ich mich +mit meinem Gewehr vor den schwarzen Mörder stellte und den Hahn +spannte — es war gar nicht geladen. Ich wußte auch, daß sie seinen +Tod nicht verlangen würden, denn selbst in diesen armen wilden +Menschenherzen wohnt Gutes. Sie glaubten aber fest, ich würde ihn +erschießen, wenn sie nicht um sein Leben einkämen, und so thaten +sie's einstimmig.«</p> +</div> + +<p>Die Leparden hielten nicht lange Frieden, kaum länger als bis ihr +Durst gestillt war, und dann entführten sie Gordons Verbündeten eine +Anzahl Sklaven, wofür er ihnen tausend Stück Vieh wegnahm und einen +weiteren Teil des Stammes entwaffnete. Er rückte durchs Lepardenland +nach Duggam vor, wo ein Gemisch von Stämmen hauste. Die Leparden +gingen nach Gebel Heres zurück; er zog ihnen nach und hörte, daß +Harun sie unterstützte, indem er ihnen vierzig Berittene nach Gebel +Heres zur Verstärkung<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> geschickt habe, während er selbst das Land +weiter nördlich verwüstete. Seinem Truppenteil, den er in jener +Gegend vorfand, kann Gordon das gewohnte Lob gänzlicher Untüchtigkeit +ausstellen. Eine ganze Menge Fragen hinsichtlich eingebrachter Sklaven +harrten seiner Erledigung.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich wollte, die Gesellschaft zur Unterdrückung der Sklaverei wäre +hier,« ruft er nicht ohne Ironie, »und sagte mir, was ich thun soll!«</p> +</div> + +<p>Während er seine erbärmlichen Streitkräfte beklagt, gab's Meuterei; +sein Leben war nicht sicher in ihrer Mitte. Fascher war so nahe, +daß man seine Wachtfeuer von der Stadt aus sehen mußte; dort waren +achttausend Mann ihm dienstpflichtiger Truppen eingesperrt — oder +sollten doch dort sein. Er machte sich auf den Weg, um ihnen das +Gewehr zu visitieren, und erreichte mit etlichen hundert Mann die +Stadt gegen Abend nach einem »schmählichen Ritt« durch Sumpfland. Man +hatte keine Ahnung von seinem Kommen und war »angenehm überrascht«. +In der Stadt selbst waren viermal so viel Truppen, als er bei sich +hatte, und zehnmal so viel kampierten unter Hassan Pascha Helmi +drei Tagmärsche entfernt; aber von diesem Militär war nicht der +geringste Versuch gemacht worden, sich nach Darra oder sonst wohin +durchzuschlagen, während der Feind noch vor kurzem bis in die Nähe von +Fascher Streifzüge unternommen hatte. Hassan Pascha, der die Besatzung +befehligte, hatte sich schon vor Wochen in aller Gemütsruhe mit dem +Hauptteil der Truppen davon gemacht. Gordon verschrieb sich den Mann. +Mittlerweile konnte er von einem anderen seiner Offiziere folgenden +Streich erzählen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ein Muezzin oder Gebetsrufer in der Stadt war gewohnt, die +Gebetsstunde nah bei der Stelle auszurufen, wo jetzt mein Zelt steht. +Mein Oberstlieutenant hieß ihn schweigen, weil es mich störte; zum +Glück erfuhr mein schwarzer Schreiber die Sache. Es lag nichts +anderes zu Grunde als der Wunsch, den Fanatismus der Leute gegen mich +aufzustacheln. Ich schenkte dem Ausrufer 40 Mark, meinen gefälligen +Freund, den Oberstlieutenant, aber schickte ich nach Kedaref in die +Verbannung, wo er Zeit finden wird, ähnliche Pläne auszuhecken. Ich +besinne mich nie einen Augenblick,<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> solche Kerle zu züchtigen. Der +Gebetsrufer schreit jetzt noch einmal so laut, eben während ich dies +schreibe.... Ich gebe mir alle Mühe, jenen anderen Tapfern, der sich +bestechen ließ, um den Feind nicht anzugreifen, und mich neunzehn +Tage in Darra hinhielt, seiner Thaten zu überführen; aber die Zeugen +sind nicht besser als er selber, so wird mir nichts übrig bleiben, +als meine despotische Gewalt in Anwendung zu bringen. Er nahm +viertausend Mark in Geld, den Wert von tausend Mark in Straußenfedern +und zehn Kamelladungen Durra als Geschenk hin, um den Stamm nicht +anzugreifen.... Sebehrs Sohn ist jetzt bereit, sich mir anzuschließen +in der Hoffnung, das Land um so besser zu plündern; und Harun +plündert auf seine Rechnung im Norden. Ich sitze mitten zwischen +diesen beiden, und um mich her sind die Stämme, die jenem feindlich +sind und teilweise auch mir feindlich, während sie dem Harun günstig +sind und von mir erwarten, daß ich ihnen gegen Sebehrs Sohn beistehe +— das nennt man einen dreiseitigen Zweikampf.«</p> +</div> + +<p>Es war in der That eine unerquickliche Lage, die täglich schwieriger +wurde. Von den drei Feinden, mit denen er im Zweikampf stand, wäre +der selbstgekrönte Sultan ohne Zweifel am leichtesten zu unterwerfen +gewesen, wenn er ihn nur im offenen Felde hätte stellen können; aber +abgesehen von seinem Mangel an tüchtiger Mannschaft, war er anderwärts +zu sehr in Anspruch genommen, und Hassan Pascha mit seinen fünftausend +Unthätigen hatte nicht den Mut, ohne die Gegenwart Gordons den Angriff +zu wagen.</p> + +<p>Es waren die eingebornen Stämme, die dem Feldherrn so hinderlich +waren. Manche in nächster Nähe verhielten sich noch feindlich, und +die entfernteren thaten ihr Bestes, die von ihm zur Ruhe gebrachten +wieder aufzustacheln. Außerdem wurde sein Schreiber krank und für +alle Einzelheiten der Verwaltung mußte er selbst einstehen. Wegen +jeder Kleinigkeit drängten sich die Leute unangemeldet in des +Generalgouverneurs Zelt und meinten, er könne sich ihrer nicht schnell +genug annehmen. Erteilte er aber einen Befehl, so erfüllte man +denselben im Leichenschritt. Seine Diener waren nicht besser als seine +Soldaten. »Ich erledige täglich einen Berg von Geschäften,« schreibt +er, trotz der furchtbaren Hitze, die so sengt und brennt, daß er »alle +vierzehn Tage eine neue Haut<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> im Gesicht hat.« Und wenn er von einem +Ausritt müde heimkommt, so findet er Skorpione in seinem Zelt, oder +dasselbe von einem Sturmwind umgeblasen, während seine Diener dabei +sitzen, als ob es sich von selbst wieder aufrichten müsse. Dann ist er +wohl manchmal niedergeschlagen und meint, es helfe alles nichts, er +müsse dieses verzweifelte Land sich selbst überlassen, aber sein hoher +Mut gewinnt auch in solcher Lage die Oberhand und er sieht durch den +Wolkenhimmel doch wieder die Sonne scheinen.</p> + +<p>Er hatte sein Hauptaugenmerk zur Zeit auf Harun gerichtet, denn +der Verdacht war ihm gekommen, ob Hassan mit seinen fünftausend +nicht ähnlichen Verrat treibe, wie jener andere, der sich hatte +bestechen lassen. Und obschon es fast täglich Unternehmungen gegen +die feindlichen Stämme oder Streifzüge auf höchstnötigen Proviant zu +leiten gab, so traf er doch energische Vorbereitungen, einer etwaigen +Krisis zuvorzukommen. Da hieß es mit einemmal, der »Sultan« sei +verschwunden und niemand wisse wohin. Somit hatte er neben verlorener +Mühe vorläufig das Nachsehen.</p> + +<p>Während er so sein Bestes thut, der kleinen wie der großen +Mühseligkeiten Herr zu werden, kommt ihm die Nachricht, daß sein +schlimmster Feind ausgebrochen ist und sich anschickt, Darra zu +belagern. Gordon weiß, daß Soliman sechstausend bewaffnete Sklaven mit +sich führt, während er selbst zwar seine »unbeschreiblichen« Helden +hat, sich aber nicht im geringsten auf sie verlassen kann, — eine +Wendung der Dinge, vor der alle bisherigen Schwierigkeiten erblaßten. +Gordons Genie aber erweist sich nie glänzender als in einer Lage, die +völlig hilflos erscheint. Da gürtet sich der Held zum Einzelkampf und +erringt einen Sieg, der durch Waffen allein nicht zu gewinnen wäre. +Schrieben wir einen Roman, es ließe sich nichts Romantischeres denken, +als solche Siege über große Bedrängnis; da es sich aber um Thatsachen +handelt, so ist es eben die großartige Kindeseinfalt des heroischen +Mannes, die stets mitten ins Feuer geht, den Umstand vergessend, daß +er einer ist gegen viele. Gordon verlor keinen Augenblick. Seine +Armee und alles zurücklassend, bestieg er sein Kamel und ritt allein +und unbewaffnet nach Darra. Von diesem gewaltigen<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> Ritt, eine der +wunderbarsten Leistungen in seiner ganzen wunderbaren Laufbahn, lassen +wir ihn selbst an seine Schwester berichten. Es ist hierbei nur zu +bemerken, was übrigens von allen seinen Briefen gilt, daß er stets +frisch nach der That schrieb und nicht im entfernteren daran dachte, +daß je ein größerer Leserkreis an seinen Berichten sich erfreuen würde.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Etwa um vier Uhr nachmittags erreichte ich Darra, lang vor meinem +Gefolge, nachdem ich in anderthalb Tagen 140 Kilometer zurückgelegt +hatte. Etwa zwei Stunden vor Darra geriet ich in einen Schwarm von +Fliegen, die mich und mein Kamel so quälten, daß wir mit immer +größerer Eile vorwärts drängten. Ich denke mir, die Königin des +Geschmeißes muß darunter gewesen sein. Wenigstens dreihundert +umschwärmten den Kopf des Kamels und ich ritt einfach in einer +Wolke. So hatte ich doch wenigstens ein Gefolge von Fliegen, wenn +sonst keines. Die Leute in Darra waren sprachlos, ich überfiel +sie wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Als sie sich erholt hatten, +feuerten sie eine Salve ab. Mein armes Gefolge! wo das war, wußte +kein Mensch. Denke Dir Deinen Bruder, einen einzelnen, staubigen, +sonnverbrannten Menschen auf seinem Kamel und über und über mit +Fliegen bedeckt, wie er so ganz unerwartet im Divan erscheint. Die +Leute starrten mich an wie gelähmt. Zu essen gab's nicht viel nach +meinem langen Ritt, aber eine ruhige Nacht, in der ich alles Elend +vergessen konnte. Bei Tagesgrauen stand ich auf, zog die goldene +Uniform an, die der Khedive mir geschenkt hatte, und ging hinaus, um +meine Truppen zu besichtigen. Darnach bestieg ich mein Pferd, und +mit einem Geleit von <em class="gesperrt">meinen</em> Räubern von Baschi-Bosuks ritt +ich hinaus in das Lager der anderen Räuber, das ich in einer halben +Stunde erreichte. Der Sohn Sebehrs kam mir entgegen — ein ganz +hübscher Junge, etwa zwanzigjährig — und ich ritt mit ihm durch das +Räuberlager. Ich schätzte, es waren ihrer dreitausend, Männer und +Burschen, die er bei sich hatte. Ich ritt mit ihm bis an sein Zelt; +dort waren die Häuptlinge versammelt und nicht wenig überrascht, +mich in ihrer Mitte zu sehen. Ich ließ mir ein Glas Wasser geben +und kehrte dann zurück, indem ich den Sohn Sebehrs einlud, mich mit +seinen Angehörigen in meinem Divan zu besuchen. Sie kamen denn auch +richtig und hockten im Halbkreis um mich her, während ich ihnen in +gewähltem Arabisch meine Meinung beibrachte: erstens, daß ich wohl +wüßte, daß sie neuen Aufruhr gegen die Regierung<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> im Schild führten, +und zweitens, daß sie mir glauben dürften, daß ich lediglich dazu +gekommen sei, sie zu entwaffnen und zu vernichten. Diesen Bescheid +nahmen sie stillschweigend entgegen und entfernten sich dann, um +sich's zu überlegen. Es dauerte nicht lange, so erhielt ich ein +Schreiben mit der Zusicherung ihrer Unterwerfung und dankte Gott +dafür! Rings umher haben sie das Land verwüstet, und ich konnte es +nicht ändern. Mich dauern nur die armen Leute, die es traf, darunter +die mir Verbündeten, die mit mir nach Wadar (gegen die Leparden) +zogen und ihr Eigentum unbeschützt zurückließen. Was für Jammer +überall! Aber der Allerhöchste sieht es, und er kann helfen. Ich +kann's nicht. Die verblümten Gesichter der Schurken, als sie meine +Anklagen vernahmen, und die merkwürdige Gebärdensprache bei meinem +ungenügenden Arabisch hättest Du mit ansehen sollen! Es ist noch +keine drei Tage her, daß Sebehrs Sohn seine Pistole dreimal auf +meinen Kavaß (eine Art Polizeisoldat) abfeuerte, weil der Ärmste +krank war und ihm nicht entgegenkommen konnte ... Du hättest sein +Gesicht sehen sollen und seine Versicherungen der Treue mit anhören, +als ich ihm dies vorrückte. Schließlich habe ich ihm verziehen. +Maduppa Bey hat mir seither erzählt, daß der Sohn Sebehrs sich nach +der Unterredung mit mir hingelegt und kein Wort gesprochen hätte, +so daß die Araber meinten, ich hätte ihn mit Kaffee vergiftet! ... +Man sieht ihm an, daß er ein verwöhntes Kind ist, dem die Rute nicht +schaden würde. Ich habe mir Mühe gegeben, freundlich mit ihm zu +reden, aber er wirft mir nur wütende Blicke zu. Armer Junge! er wird +noch manch bittere Erfahrung machen müssen, ehe er die Nichtigkeit +des Irdischen erkennt; bisher war er Herr inmitten einer kriechenden +Schar von Sklaven, konnte thun was er wollte, Leute umbringen, wann +es ihm einfiel, und soll nun auf einmal <em class="gesperrt">nichts</em> sein! Indessen +— ›fahret mir säuberlich mit dem Knaben Absalom‹ — ich will suchen, +nach diesem Wort zu handeln. Es ist ein zierlicher Bursche in einer +Jockei-Jacke von blauem Sammet. Die ganze Sippschaft kam bis an die +Zähne bewaffnet, als sie sich in meinem Divan einstellten.«</p> +</div> + +<p>Nachdem Gordon Soliman und seiner Horde den Standpunkt klargemacht, +beschloß er, die »Höhle Adullam« auszufegen, und sandte eine Abteilung +seiner Truppen ab, um Schekka zu besetzen. Im feindlichen Lager +war man übrigens keineswegs <em class="gesperrt">einer</em> Meinung: ein Teil der +Sklavenjäger war für Unterwerfung, der<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> andere für Krieg. Soliman +selber war in einem Zustand unbändigster Wut, und wenn er nur die +Scheiks zu gemeinsamem Handeln hätte bringen können, so wäre ein neuer +Aufstand erfolgt. Die Leute waren aber moralisch überwältigt: einer +nach dem andern erklärte dem Generalgouverneur seine Unterwerfung, und +dem Sohne Sebehrs blieb zuletzt nichts übrig, als sich Gordons Befehl +zu fügen, der ihn nach Schekka zurückkehren hieß. Er wolle das thun, +sagte der Bursche, wenn Gordon ihm zuerst Feierkleider schenke nach +dem herkömmlichen Brauch und als Beweis, daß er mit ihm zufrieden sei. +»Ich habe keine Feierkleider,« erwiderte jener und fügte hinzu, daß +sein Betragen ein viel zu anmaßendes sei; er wisse ja nicht einmal, +was sich des Khedive Statthalter gegenüber schicke, der ihn — einen +eingebildeten Jungen — mit ganz unverdienter Milde behandle. Das war +dem Sohne Sebehrs eine bittere Pille, aber er mußte sie schlucken. +Von Schekka aus sandte er dann einen Brief, in dem er sich Gordons +getreuen Sohn nannte und eine Statthalterschaft begehrte. Darauf wurde +ihm die Antwort, daß ehe er in Kairo gewesen sei, um sich dem Khedive +persönlich zu unterwerfen oder sonst eine nicht mißzuverstehende Probe +der Treue abgelegt habe, der General-Gouverneur ihm keinen Posten +anvertrauen werde, und wenn es ihn sein Leben koste. Diesen Bescheid +schickte ihm Gordon durch die Scheiks. Ehe diese sich verabschiedeten, +fragte Gordon einen derselben, ob er Kinder habe; der Mann bejahte +es. »Nun,« rief Gordon, »sagen Sie selber, ob eine Tracht Schläge dem +Burschen nicht heilsam wäre!« Und der Scheik gab es zu.</p> + +<p>Während er so mit den Sklavenhändlern fertig wurde, hörte er, daß +sein schwarzer Schreiber, dem er bis dahin vollkommen getraut hatte, +ebensowenig »bakschischfest« war, als die meisten seiner Untergebenen: +er hatte sechstausend Mark Bestechungsgelder angenommen. Dergleichen +Erfahrungen waren Gordon ein wahrer Schmerz. Dann kam ein Eilbote +von Fascher, wo er doch über fünftausend Mann Militär wußte, mit der +Nachricht, daß ein panischer Schrecken die Stadt befallen habe; Harun +hatte nämlich von weither von sich hören lassen. Da verlor Gordon ob +solcher bodenloser Feigheit die Geduld. Er ließ ihnen zurücksagen,<span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span> +sie sollten nicht sterben vor Angst, die Sklavenhändler würden ihnen +demnächst zu Hilfe kommen.</p> + +<p>In der zweiten Septemberwoche machte er sich selber nach Schekka auf +den Weg. Als Soliman von seinem Kommen hörte, lud er ihn ein, in +seinem Hause abzusteigen, was Gordon auch ohne weiteres annahm. Er und +die anderen Raubgesellen empfingen ihn mit aller Unterwürfigkeit, ja +sie kamen ihm wie ihrem König entgegen. Sebehrs Sohn war sogar ganz +bescheiden und trug diesmal keine Sammetjacke; seinen Wunsch nach +einer Statthalterschaft konnte er jedoch nicht unterdrücken. Gordon +ließ sich aber nicht durch Unterthänigkeit bestechen, sondern erklärte +dem Bittsteller, er müsse vor allen Dingen Vertrauen zu verdienen +suchen. Doch war er persönlich freundlich gegen diesen »Absalom«, wie +er ihn nannte, und schenkte ihm sogar sein eigenes Gewehr.</p> + +<p>Übrigens blieb er nur zwei Tage in dem Räubernest, und das war gut, +denn er hatte keine Schutzwache bei sich, und, wie sich später +herausstellte, wurde während seiner Anwesenheit Kriegsrat gehalten, ob +es thunlich und ratsam sei, sich an ihm zu vergreifen! Daß es nicht +geschah, ist ein Wunder, das sich nur damit erklären läßt, daß seine +vollständige Gleichgültigkeit gegen persönliche Gefahr wie lähmend auf +seine Feinde wirkte; es war die Großartigkeit seines Wesens, die sie +entwaffnete. Und wie Daniel aus der Löwengrube, so ging er aus dem +Nest der Sklavenräuber hervor.</p> + +<p>Es war auf dem Weg nach Schekka, daß er folgenden Brief schrieb:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Weiterhin im Land hausen noch an sechstausend Sklavenhändler, +die sich wohl ergeben werden, nun ich den Sohn Sebehrs und seine +Häuptlinge überwältigt habe. Es ist nicht zu sagen, wie groß die +Schwierigkeit ist, mit all diesen bewaffneten Horden das Rechte zu +treffen. Ich trenne sie in einzelne Haufen und hoffe sie so mit der +Zeit zu bewältigen. Man kann sie doch nicht alle totschießen! Haben +sie nicht auch ihre Rechte, die man berücksichtigen muß? Hatten die +Pflanzer (in Amerika) keine Rechte? Hat nicht selbst unsere Regierung +einst Sklavenhandel gestattet? Ich hätte viel darum gegeben, Sie und +die Herren von der Gesellschaft zur<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> Unterdrückung des Sklavenhandels +in jenen drei Tagen in Darra zu haben, als man nicht wußte, ob +die Sklavenhändler sich zur Wehre setzen würden oder nicht. Eine +schlechtbefestigte Stadt, eine feige Besatzung, unter der nicht einer +war, der nicht vor Angst zitterte; und auf der andern Seite eine +handfeste entschlossene Bande, die sich aufs Kriegshandwerk versteht, +gut schießen kann und zwei Feldstücke bei sich hat. Ich hätte gern +gehört, was Sie und die anderen dazu gesagt hätten! Ich sage dies +nicht, um mich zu rühmen, denn Gott weiß, wie groß meine Sorge war +— nicht um <em class="gesperrt">mein</em> Leben, denn ich bin längst dem abgestorben, +was einem das Leben lieb macht, den Annehmlichkeiten und der Ehre +und Pracht dieser Welt — sondern meiner armen Schafe wegen hier +in Darfur und anderwärts. Ihr sagt dies und das und handelt nicht +darnach; ihr gebt Beiträge und meint, ihr habt eure Pflicht gethan; +ihr lobt einander u. s. w. Es ist auch natürlich. Gott hat euch Dinge +gegeben, die euch an diese Welt binden, ihr habt Frauen und Kinder. +Ich habe keine und bin frei — gottlob. Verstehen Sie mich recht: +wo es mir nötig erscheint, da kaufe ich Sklaven und ich hindere es +nicht, wenn gefangene Sklaven nach Ägypten verbracht werden; und +im Punkte der dienstpflichtigen Sklaven will ich Freiheit haben, +das zu thun, was mir recht scheint und was Gott selbst in seiner +Barmherzigkeit mir nahe legt; aber den Sklavenjägern will ich das +Genick brechen, und wenn es mich mein Leben kostet. Ich kaufe Sklaven +für meine Armee und mache sie zu Soldaten gegen ihren Willen, damit +sie mir helfen die Sklavenjagd unterdrücken. Ich thue dies am hellen +Tag aller Welt gegenüber, und trotz all euren Beschlüssen. Meint ihr, +es würde mir das Herz brechen, meiner Würden entsetzt zu werden? ich +würde mich zurücksehnen nach der entsetzlichen Ermüdung des ewigen +Kamelreitens, nach all dem Elend, das ich mit ansehen muß, nach der +Hitze, und nach der Plackerei meines persönlichen Lebens? Stellt +euch einmal meine Reisen vor in diesen sieben Monaten! Tausende von +Kilometer zu Kamel, und es wird so fortgehen, wenigstens noch ein +Jahr lang. Sie finden es nur hie und da nötig, sich auf Gott zu +verlassen — ich fortwährend, Tag und Nacht. Ich will damit sagen, +daß Sie nur hie und da eine schwere Prüfung haben — etwa wenn Ihnen +ein Kind krank ist — die Sie erkennen läßt, wie völlig schwach und +hilflos Sie sind. Ich bin fortwährend in solcher Lage. Der Körper +lehnt sich dagegen auf — es ist oft mehr als man tragen kann.</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>Zeigen Sie mir den Mann — und ich will mir von ihm helfen lassen +— der Geld, Ruhm, Ehre verachtet, dem es einerlei ist, ob er je +seine Heimat wieder sieht, der sich allein auf Gott verläßt als die +Quelle alles Guten und den Machthaber über alles Böse, einen, der bei +gesundem Körper und mit thatkräftigem Geist dem Tod entgegensieht, +der ihn einst von allem erlösen wird. — Sie sagen, Sie wissen +keinen? nun dann lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe wahrlich genug an +meinem Leben zu tragen und brauche keine weitere Last.</p> + +<p>»Auf einen Unterschied zwischen hier und Amerika muß ich Sie +aufmerksam machen: man hört hier nie davon, daß Eigentümer ihre +Sklaven zu harter Feldarbeit benutzen. Sie sind entweder Dienstboten +oder im Truppendienst der Händler; es sind meist muntere flinke +Kerle, gewandt wie Antilopen, auch wieder wild und schonungslos, +ein Schrecken dieser Länder, und mit einem Prestige weit über das +Militär der Regierung hinaus. Sie sind die Stärke der Sklavenhändler. +— In Kedaref sollen sich ein paar Griechen niedergelassen haben, +die eine Menge Sklaven auf Plantagen beschäftigen. Ich habe vor, sie +aufzugreifen. Kurz, der Zustand der Neger hier ist weit besser, als +er je in Westindien war, und ich behaupte, daß die Leute hier nicht +so herzlos sind, als einst die Pflanzer mit all ihrer Bildung und +ihrem Christentum.</p> + +<p>»Ihre Ansicht über den Mohammedanismus teile ich nicht. Nach meiner +Ansicht giebt es Muselmänner, die christlicher sind als manche +Christen. Wir alle sind mehr oder weniger Heiden. Haben Sie je das +Buch gelesen »Das moderne Christentum ein zivilisiertes Heidentum«? +Ich war dieser Ansicht lange, ehe ich es las. Ich mag einen rechten +Muselmann wohl leiden; er schämt sich seines Gottes nicht und sein +Privatleben ist ein ziemlich reines; allerdings erlaubt er sich +viele Weiber, auf der anderen Seite aber begnügt er sich mit seinen +eigenen. Kann man das immer von den Christen sagen?</p> + +<p>»Was geht mich das Ministerium des Äußeren an, oder ich das +Ministerium? Ich brauche seine Hilfe nicht; es wäre unrecht gegen +den Khedive, wollte ich sie annehmen. Außerdem »derer ist mehr, die +bei mir sind, denn derer, die bei ihnen sind.« Ich brauche keine +Helfer außer dem Allmächtigen ... Nein, mein Lieber — richten Sie +Ihr Leben in Wahrheit nach dem Christentum ein, dann erst wird es +Sie befriedigen. Das Christentum der meisten<span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span> Leute ist ein schales, +kraftloses Ding und führt zu gar nichts. Ein gutes Mittagessen ist +ihnen wichtiger; es giebt nur einige wenige, die Gott dazu antreibt, +sich wirklich um ihre schwarzen Brüder zu kümmern. ›Ach die armen +Sklaven!‹ und ›darf ich Ihnen noch ein Stückchen Salm anbieten?‹ +heißt es da in einem Atem.«</p> +</div> + +<p>Mitte September zog er nach Obeid, weil sein Diener das feuchte Klima +bei Schekka nicht ertragen konnte. Da kam es ihm vor, als erhielte +seine Karawane einen ungewöhnlichen Zuwachs und es dauerte nicht +lange, so entdeckte er den Sachverhalt — etwa achtzig Männer und +Weiber und Kinder in Ketten. Natürlich packte er den Sklavenhändler; +es war einer jener Geier. Und da hieß es denn, es sei dessen eigene +Familie! Hätte Gordon sie befreit, so wären sie liegen geblieben und +Hungers gestorben. So blieb nichts übrig, als einem Sklaventransport +den oberstatthalterlichen Schutz zu gewähren! nur daß den armen +Geschöpfen die Ketten abgenommen wurden.</p> + +<p>Diese Reise scheint besonders ermüdend gewesen zu sein.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Keine Sonntage für mich,« schreibt er, »es ist Last und Hitze jeden +Tag, ob ich auf meinem Kamel bin oder im Zelt.«</p> +</div> + +<p>Und überall Sklaven; manche kauft er, andere, die in der Glut fast +verdursten, schickt er ans Wasser. Ihr Elend bekümmert ihn, und er +hätte sein Leben gelassen, nicht <em class="gesperrt">einmal</em>, sondern wieder und +wieder, um den Handel mit Menschenware von der Erde zu vertilgen. Und +doch weiß es niemand besser als er, daß er nichts thun kann, als neue +Einfuhr möglichst verhindern. Daß er mit dem Räubernest in Schekka +fertig geworden war, leuchtete wie ein Stern am Horizont seines Lebens +und gab ihm die Hoffnung, daß bessere Tage kommen würden.</p> + +<p>Ende September gelangte er nach Obeid und war vierzehn Tage später in +Khartum. Der Ruhm seines Siegeszugs war vor ihm hergegangen. Die Leute +konnten sich nicht genug über seine Kühnheit wundern; solcher Mut, +solche Willenskraft, solche unwiderstehliche Energie war den schlaffen +Menschen in diesem schlaffen Land unfaßlich. Und die Geschwindigkeit, +mit der er seine riesengroße Provinz bereiste, wäre jedem andern als +eine Unmöglichkeit erschienen. Seine Beamten fühlten sich ordentlich +ihrer Trägheit<span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span> nicht mehr sicher. »Der Pascha kommt!« war ihnen ein +Schreckschuß, der besser wirkte, als Aussicht auf die Peitsche. So +beherrschte der freundliche, wohlwollende Mann mit seinem felsenfesten +Willen das Land.</p> + + +<h3>3. Weitere Kämpfe und der Aufstand in der Bahr el Ghasal.</h3> + +<p>Am 14. Oktober 1877 war Gordon nach Khartum zurückgekehrt und schon +am 23. begab er sich auf eine neue Reise. Die Arbeitslast, die er +vorfand, hatte er in einer Woche bewältigt. Er sei nur noch ein +Schatten seiner selbst, schreibt er; und jene Woche nennt sogar er +eine harte Zeit. Auf Schritt und Tritt belagerten ihn die Leute mit +Bittschriften, ihn mit Geschrei verfolgend. Sich ihrer mit Gewalt +entledigen, das brachte er nicht über sich.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich lasse sie eben schreien, denn wie kann ich jedem seinen +Willen thun oder jeden Gefangenen frei geben? Hätte ich nicht +meinen Gott zum Trost,« fährt er fort, »und das Bewußtsein, daß Er +Generalgouverneur ist, wie sollte ich's weiter führen?«</p> +</div> + +<p>Nachdem er seine Regierungsgeschäfte in Khartum erledigt und einen +Mörder hatte hinrichten lassen, machte er sich über Berber nach Hellal +auf den Weg, um daselbst mit Walad el Michael zu verhandeln. Die Reise +den Nil hinunter war die erste wirkliche Ruhezeit, die ihm seit dem +Vorfrühling 1874 im Sudan zu teil wurde. Und während er so mit stillem +Gemüt den Nil hinabsegelt, spricht er sich brieflich über seinen +Beruf aus. Sein englischer Biograph bemerkt hierzu, man höre da zum +erstenmal ein Wort von ihm, das für Selbstüberhebung gelten könnte.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wie köstlich war die Ruhe heute auf dem Nilboot. Voriges Jahr um +diese Zeit war ich auf meiner Heimreise vom Äquator her. Wieviel +ist seither geschehen, bei Dir, bei mir, und in Europa! Mir ist so +wohl zu Mut. Wenn ein Stern seine Höhe erreicht, so sagt man: er +kulminiert; nun, mir ist auch, als ob ich kulminiert hätte — ich +möchte weiter und höher hinauf. Doch weiß ich, daß ich hier bin, so +lange es Gottes Wille ist; mit diesem Bewußtsein fuße ich wie auf +einem Felsen und bin zufrieden. Mancher andere<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> möchte wohl auch hoch +steigen, aber ohne die damit verbundene Last; mir macht umgekehrt die +Last die Ehre lieb und ich danke Gott dafür. Er hat mir's gelingen +lassen, und wenn's auch kein sehr glänzender Erfolg ist, so ist's ein +handgreiflicher, der bleibenden Wert hat. <em class="gesperrt">Jene Stelle im Propheten +Jesaia habe ich mir zugeeignet, und soweit es in meiner Macht steht, +suche ich sie zu bewahrheiten.</em>«</p> +</div> + +<p>Er meinte die Stelle Jesaia 19, 20:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Welcher wird ein Zeichen und Zeugnis sein dem Herrn Zebaoth in +Ägyptenland. Denn sie werden zum Herrn schreien vor den Beleidigern; +so wird er ihnen senden einen Heiland und Meister, der sie errette.«</p> +</div> + +<p>Warum aber soll das Selbstüberhebung sein? Ist es nicht vielmehr +die Rede eines Menschen, der mit Paulus sagen kann: »Ich habe mehr +gearbeitet denn sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die +mit mir ist?«</p> + +<p>In Berber wurde zu seiner Ankunft die Stadt festlich erleuchtet, +und der Generalgouverneur, »der Beklagenswerte, mußte zwei Stunden +umherlaufen und den Leuten zulieb ihre trüb brennenden Ampeln +bewundern — ein wahres Opfer!« Darein fügte er sich, die acht oder +zehn Hofschranzen aber, mit denen man ihn umgab, hieß er ihrer Wege +gehen. Sich bewachen lassen, war nicht seine Art. Auch in Berber +war an Arbeit kein Mangel — Bittschriften, Briefe, Telegramme zu +Dutzenden. Im ganzen Land meinten die Leute, er sei nur dazu da, +ihre Privatangelegenheiten zu erledigen. Von fünfzig Stunden her +telegraphiert einer, es sei ihm ein Sklave entlaufen; ein anderer, er +habe Händel mit seiner Frau und ein Nachbar hätte sich drein gelegt +— als ob es nirgends Bezirksgouverneure gäbe. Jenem flüchtigen +Sklaven wird der Generalgouverneur nicht nachgegangen sein, auch jene +Ehehändel nicht geschlichtet haben; Spital und Gefängnis aber ließ er +nicht unbesucht.</p> + +<p>Auf der Weiterreise nach Dongola mußte er sich über schlechte +Kamele beklagen, die Ruhe und Stille der Wüste mit ihren klaren +taulosen Nächten war ihm indessen eine wahre Erquickung nach der +langen Kampfzeit und nach der feuchten Hitze in Darfur.<span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span> In Meraui, +dem angeblich südlichsten Grenzpunkt altägyptischer Zivilisation, +erreichte er den Fluß wieder. Hier hatten die Leute seit Jahren keinen +Statthalter zu Gesicht bekommen und verfolgten ihn mit Klaggeschrei. +In Dongola hörte er, daß Walad el Michael Senheit bedrohe, und Gordon +hatte keine Truppen. Auch ein Telegramm vom Khedive fand er vor, in +welchem seine Anwesenheit in Kairo begehrt wurde. Er machte sich daher +nach Ägypten auf den Weg, aber schon nach einer Tagreise bestürmten +ihn Telegramme vom Sudan mit der Nachricht eines abessinischen +Einfalls. Ras Arya, ein Heerführer des Johannes, bedrohte Sennaar +und Fazolie, südlich von Khartum. Es schien ihm unglaublich; aber +in Khartum war auch nicht ein Mensch, auf den er sich nötigenfalls +hätte verlassen können; so eilte er denn nach Dongola zurück und von +dort durch die Bajuda-Wüste in fünftägigem Ritt nach Khartum. Es war +blinder Lärm gewesen; man hatte ein paar abessinische Grenzmänner +gesehen und sie auch zurückgeworfen.</p> + +<p>Drei Tage hielt er sich in Khartum auf, dann bestieg er abermals +sein Kamel, um über Abu Haras, Kedaref und Kassala nun doch erst den +Walad el Michael aufzusuchen, ehe er nach Kairo ging. Gordon hätte +gewünscht, den König Johannes zu einem Einverständnis mit Walad zu +bringen, wonach der König dem unruhigen Häuptling Hamasen überließe, +das überdies sein angestammtes Erbe war, allein Johannes war ein +Starrkopf. Walad war für die Ägypter ein böser Grenznachbar; man war +seiner nie sicher. Das einfachste wäre gewesen, ihn dem abessinischen +König in die Hände zu liefern, aber selbst ägyptische Politik hätte +nach dem Vorausgegangenen dies für schmählich gehalten. Man hoffte, +Gordon würde es zu stande bringen, die ägyptische Ehre mit möglichstem +Gewinn zu retten. Somit war er denn auf dem Wege nach Senheit, wo +Walad lag.</p> + +<p>Unterwegs fand er wie gewöhnlich Ursache, sich über sein Gefolge zu +beschweren; er hatte es zu eilig für seine gemächlichen Araber, und wo +sie konnten, erwiesen sie sich hinderlich.</p> + +<p>In Kassala sah er den Heiligen, Scherief Seid Hakim, einen Abkömmling +Mohammeds, mit dem er schon einmal zusammengetroffen<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> war, und der +sich damals in seiner Würde verletzt fand, weil sein unwissender +europäischer Gast sich neben ihn auf den Ehrendivan setzte. Diesmal +war der Heilige etwas herablassender und ließ sich sogar eine +Zwanzigpfundnote (400 Mark) schenken. Als Gegengeschenk that er Gordon +die Ehre an, ihn zu bitten, sich zum Turban zu bekehren und ein +Muselmann zu werden. Er war nicht der erste, der dem Generalgouverneur +diese Bitte vortrug!</p> + +<p>Als er Senheit erreichte, fand er, daß Walad sich in seinem Lager zu +Hellal befand, und mußte zwei hohe Berge übersteigen, um dasselbe zu +erreichen. Es war ein ähnliches Unternehmen wie sein Besuch in der +Räuberhöhle zu Schekka.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Die Leute in Senheit waren so furchtsam, daß ich beschloß, mich +in Gottes Hand zu stellen und hierher zu reiten. Der Weg über zwei +Berge war über alle Beschreibung; den zweiten zu übersteigen war eine +entsetzliche Arbeit. Walad el Michael und seine Banditen lagen auf +einem hohen Berg. Er hat volle siebentausend Mann bei sich, die alle +bewehrt sind. Sie standen in Reih und Glied, um mich zu empfangen, +und sein Sohn kam mir entgegen. Michael, hieß es, sei krank, oder gab +vor es zu sein. Darnach begrüßte mich ein Trupp Priester mit heiligen +Bildern. Michael empfing mich liegend — er habe ein böses Knie; +aber die Leute zu Senheit sagen, es wäre nicht wahr. Dann führte man +mich in mein Zelt, und ich muß sagen, ich gedachte der Löwengrube. +Wir waren miteinander in einer zehn Fuß hohen Umzäunung eingesperrt. +Ich wurde zornig, denn ich sah wohl, was meine Leute (zehn Soldaten) +davon hielten. Ich wandte mich an den Dolmetscher und sagte ihm, daß +wenn Michael vorhabe, mich als Gefangenen zu betrachten, es ihm frei +stünde, daß er es aber würde büßen müssen. Das war Kleinglaube von +mir, dies zu sagen! Der Dolmetscher und Michaels Sohn waren indessen +so überaus höflich und voller Entschuldigungen, daß ich vorläufig +wohl noch kein Gefangener bin. Ich erläuterte meine Bemerkung dahin, +daß wenn es in Senheit bekannt würde, wie man mich hier logiere, +man dort allerdings für meine Sicherheit fürchten müßte, und der +Telegraph würde solches nach Kairo melden.«</p> +</div> + +<p>Die Nacht verlief ungestört, abgesehen von quälenden Flöhen, welches +Ungeziefer in jenen Himmelsstrichen nur in hoher Bergluft gedeiht. In +der Morgenfrühe sammelten sich die Priester<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> um des Gastes Gefängnis +her und sangen ihre Hymnen — »wahrscheinlich um den bösen Geist zu +bannen,« meinte Gordon. In einem späteren Brief heißt es übrigens:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Die Priester (in Abessinien) versammeln sich morgens um drei Uhr und +singen eine Stunde lang in eigentümlich melodischer Weise davidische +Psalmen. Es hat für den aus dem Schlaf erwachenden Hörer etwas tief +Ergreifendes.«</p> +</div> + +<p>Am folgenden Tag hatte er eine Unterredung mit Walad und machte ihm +den Vorschlag, beim König von Abessinien um Pardon einzukommen. Der +»Patient« wies dies energisch von sich und meinte im Gegenteil, +die ägyptische Regierung thäte wohl daran, ihm weitere Distrikte +(zum Plündern) zu überlassen; auch erklärte er sich bereit, die +abessinische Stadt Adowa zu überfallen. Zwar wußte Gordon, daß er den +listigen Verbündeten auf diese Weise leicht dem Johannes in die Hände +spielen könnte, aber Verrat war nicht seine Sache, und er brachte +Walad durch eine beträchtliche Geldsumme fürs nächste zur Ruhe.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wie verhaßt mir diese Abessinier sind,« schreibt er, »den Walad +mitgerechnet; sie haben auch gar nichts Anziehendes. Ihr Christentum +ist ein totes; und was ihre Zivilisation betrifft, so sind sie nicht +viel besser als die Stämme am Äquator. Wäre es nicht der europäischen +Regierungen wegen, ich kümmerte mich nicht um diesen Johannes. +Meine Beduinen von Darfur und hier herum sind andere Leute. Manche +der jüngeren Leute haben eine Haltung, die man ordentlich beneiden +möchte. Ich könnte nie durch mein Äußeres imponieren, aber diese +jungen Ismaels sind lauter Prinzen.«</p> +</div> + +<p>Den König Johannes nennt er anderswo »einen richtigen Pharisäer«, +und sagt von ihm, er führe eine Sprache wie das alte Testament, +abends betrinke er sich und am frühen Morgen singe er Psalmen; wenn +er in England wäre, ginge er zu den Methodisten und hätte eine +Bibel so groß wie ein Handkoffer. Gordon war offenbar froh, den +Abessiniern den Rücken kehren zu können und begab sich nach Massaua +am Roten Meer, um dort eine Antwort von Ras Barin, dem abessinischen +Grenzgeneral, abzuwarten. Er hatte nämlich dem Könige den Vorschlag +gemacht, wenigstens Walad el Michaels Truppen Pardon zu gewähren,<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> +damit sie sich nach Abessinien flüchten könnten, wenn er sich etwa +zu einem Angriff genötigt sehen sollte. Die Antwort aber blieb aus. +Johannes lag zu Feld gegen Menelek, den König von Schoa, und so wenig +umfangreich das Land ist, wußte niemand genau zu sagen, wo das wäre. +Gordon wartete eine Zeit lang und trat dann über Suakim und Berber +den Rückweg nach Khartum an. Unterwegs erhielt er einen zweiten +Befehl vom Khedive, sich in Kairo einzufinden, um an Finanzberatungen +teilzunehmen. Der bloße Gedanke daran war ihm verhaßt; überdies meinte +er, nach seinem Nomadenleben im Sudan sei er weniger als je dazu +geeignet, an höfischem Leben Gefallen zu finden. Es war Ende Dezember; +über sechstausend Kilometer Wüstenritt lagen hinter ihm in diesem +Jahr, und leider hatte er unterlassen, die Binde um Brust und Hüfte +zu tragen, die beim Kamelreiten der fortwährenden Erschütterung wegen +nötig ist. Die schlimmen Folgen zeigten sich nun.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich habe mir das Herz oder die Lungen verrüttelt und habe ein +Gefühl in der Brust als ob alles verrenkt wäre ... Wahrlich, obwohl +ich lieber hier bin, als sonstwo auf der Welt, es wäre besser tot +sein, als dies Leben führen. Ich habe meinem Schreiber mit der Bitte +Entsetzen verursacht, mich zu begraben wo ich sterbe und jeden Araber +einen Stein auf mein Grab werfen zu lassen, damit ich doch auch +ein Denkmal hätte. Es ist sonderbar, so gute Fatalisten die Leute +hier sind, eine solche Anspielung ist ihnen doch ein Greuel; sie +meinen, es hieße den Tod mit Namen rufen, obschon sie zugeben, daß es +vorherbestimmt ist, wann einer sterben soll.«</p> +</div> + +<p>Gordon begab sich nach Kairo. Mit Dampf und Segel ging's nilabwärts +und die Residenz wurde anfangs März erreicht. Der Khedive hatte seinem +Oberstatthalter eine Aufforderung zur Hoftafel entgegentelegraphiert, +aber der Zug hatte Verspätung, und als Gordon den vizeköniglichen +Palast erreichte, fand sich's, daß die Hoheit anderthalb Stunden auf +ihren Gast gewartet hatte. Staubig wie er war, mußte Gordon sich +zu Tisch setzen, und alle Auszeichnung wurde ihm zu teil. Er wurde +aufgefordert, als Präsident der Finanzkommission zu figurieren. Sein +Platz bei der Tafel war zur Rechten des Khedive, und sein Quartier<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> +war ein Palast, in dem sonst nur fürstliche Gäste untergebracht +werden. Aber die Pracht seiner Umgebung und die glänzende Bedienung +waren für Gordon verlorene Liebesmüh.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Meine Leute wissen sich nicht zu helfen vor Verwunderung, und ich +auch nicht. Ich wollte, ich wäre wieder glücklich auf meinem Kamel.«</p> +</div> + +<p>Einem Engländer, der ihn besuchte, erklärte er, er komme sich vor +wie eine Fliege in diesem großen Haus. Und seiner Schwester schrieb +er, es sei die helle Quälerei; er lege sich um acht Uhr schlafen, +das sei noch das beste, denn er gehe abends nicht in Gesellschaft. +Ismail hoffte, Gordon werde ihm aus seiner bedrängten Lage helfen. +»Ich kenne keinen, zu dem ich größeres Vertrauen hätte,« schrieb +der Khedive, allein die Geldangelegenheiten Ägyptens sind in den +Händen europäischer Kapitalisten; englische und französische +Koupon-Abschneider hatten mitzureden; wie hätte der ehrliche Gordon +da mit seinem Rat durchdringen können, der kurz und gut der war, die +Zinsen der europäischen Anleihen von 7 auf 4 Prozent herabzusetzen!? +Kein Wunder, daß er die ganze Bande von Diplomaten und Juden +gegen sich hatte, die in Kairo mitregieren. Nein, Gordon war kein +Finanzrat<a id="FNAnker_10" href="#Fussnote_10" class="fnanchor">[10]</a> und war froh, wieder seine Wege zu gehen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich verließ Kairo wie ein gewöhnlicher Sterblicher, ohne Extrazug, +und bezahlte mein Billet. Die Sonne, die so glanzvoll aufging, hatte +einen ganz bescheidenen Untergang ... Die Last ist groß — ich +wünsche, die Zeit der Ruhe wäre da; aber die kommt nicht, bis ich +<em class="gesperrt">sein</em> Werk vollbracht habe. Hier bin ich — sende mich!«</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p> + +<p>Die Reise ging über Suez, Aden, Zeila nach Harrar; er wollte den Raouf +Pascha, der als grausamer Tyrann dort schaltete, abermals seines Amtes +entsetzen; es war derselbe, dem er vier Jahre vorher eine Züchtigung +hatte zu teil werden lassen. In Harrar blieb er nur so lang als nötig +war, um Ordnung zu schaffen; dann kehrte er nach Zeila zurück, wo er +nach »achttägigem fürchterlichem Marsch« am 9. Mai 1878 anlangte. +Müde wie er war, ging's alsbald weiter nach Massaua und Berber. Ihn +verlangte nach Khartum zurück, wo ein Berg von Arbeit seiner harrte. +Das Volk freute sich seiner Rückkehr und treulose Beamte zitterten; +nicht weniger als acht seiner hochgestellten Untergebenen entsetzte +er ihren Würden. Aber nur zu gut wußte er, daß er mit eingefleischter +Veruntreuung im ungleichen Kampf stand, weil Ägypten wie die Türkei +im Regierungswesen von oben bis unten durch und durch faul ist; und +Menschenkraft, selbst die eines Gordon, reicht da nicht aus, auf die +Dauer zu bessern.</p> + +<p>Die erste Nachricht von außen, die ihn in Khartum erreichte, war die, +daß Walad el Michael in Abessinien eingefallen sei und sich des Ras +Bariu bemächtigt habe. Somit waren Gordons Briefe an Johannes jetzt in +Walads Hand, was dem Schreiber übrigens kein großer Kummer war. Walad +wußte nun, wessen er sich zu versehen hatte, und daß Gordon, obschon +er sich von ihm lossagte, bei Johannes um sein Leben eingekommen war.</p> + +<p>Die zweite ungleich bedenklichere Nachricht war ein erneuter und +verstärkter Aufstand der Sklavenjäger. Soliman hatte sich in die Bahr +el Ghasal zurückgezogen, wo die ganze Bande der aus ihren Nestern +verjagten Sklavenhändler sich zur letzten verzweifelten Gegenwehr um +ihn scharte. Während Gordon den Menschenhandel im Norden im Schach +hielt und die Verbindungen der Räuber mit ihren Märkten abschnitt, +erhob sich Soliman im Süden, und seine Horden überfluteten die Bahr el +Ghasal.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich habe den ganzen Besitz der Sebehrfamilie konfisziert,« schrieb +Gordon, als er dies vernommen, »und sende eine Truppenabteilung gegen +den Sohn.«</p> +</div> + +<p>Diese Unterwerfung persönlich zu leiten war ihm schon deshalb nicht +möglich, weil durch Anhäufung des Ssett in den<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> Flüssen und Seen die +Verbindung der Bahr el Ghasal mit Khartum oft monatelang abgeschnitten +ist. Der Generalgouverneur durfte seine Provinz auf eine solche +Möglichkeit hin nicht verlassen. Aber außerdem war eine Zeit der +Schwierigkeiten angebrochen, der selbst seine Energie oft manchmal +erliegen wollte. Die Paschas in Ägypten arbeiteten ihm geradezu +entgegen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich stehe so ziemlich mit ganz Kairo auf dem Kriegsfuß, und Dornen +sind mein Teil. Aber diese Arbeit ist mir nun einmal übertragen, ich +will sie durchführen, und Gott wird mich von allem Übel erlösen. Wenn +man sich von den irdischen Dingen nur immer innerlich frei halten und +sie dem göttlichen Walten überlassen könnte, wie viel leichter wäre +dann alles! Ich verzweifle nicht, aber wenn ich sehe, daß trotz aller +Anstrengung kein wirklicher Fortschritt erreicht wird, dann überfällt +mich ein Überdruß und ich wollte ich wäre daheim ... Seit die +einsamen Kamelritte hinter mir liegen, habe ich keine erquicklichen +Gedanken mehr ... Die fortwährenden Händel sind sehr niederdrückend +und täglich möchte ich rufen: Wie lang, Herr, wie lang! Ich habe nie +einen ruhigen Tag ... Aber so schwer es auf mir liegt, so ist es doch +besser hier arbeiten, als anderwärts ein nutzloses Leben führen.«</p> +</div> + +<p>Man sieht hieraus und aus ähnlichen Stellen, daß selbst ein +Glaubensheld wie Gordon seine Stunden hat, wo er innerlich gebrochen +ist und wie David und Hiob und andere Gottesknechte zu Zeiten meint, +daß das Böse siegen werde. Auch körperlich hatte er zu leiden.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich war mehrere Tage recht unwohl und so allein in meinem großen +einsamen Haus. Und dann schleppte ich mich von einem Zimmer ins +andere, weil die Gedanken mir keine Ruhe ließen. Bei all dem habe +ich den großen Trost, mich nie vor dem Tod zu fürchten.« Und einige +Wochen später: »Gottlob ich bin fast wieder wohl, aber ich war zwei +Tage recht elend. Die ganze Stadt ist krank dieses Jahr. Aber so +krank ich war (und zwar gleichzeitig mit meiner Dienerschaft — +alles lag darnieder), war es mir doch lieb, in meinem großen Haus +allein zu sein und niemand zur Last zu fallen ... Ich glaube, mein +armer Kopf hat nie mehr nutzlose Arbeit vollbracht als in jenen +beiden Nächten. Bittschriften verfolgten mich und wenn ich meinte sie +erledigt zu haben, so waren sie von neuem da; es war entsetzlich.« +Und hieran knüpft er die nicht leicht zu<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> beantwortende Frage an +seine Schwester: »Was möchtest du lieber, nach einem kampflosen +Leben die ewige Seligkeit in geringerem Maße erreichen, oder durch +ein Heer von Prüfungen hier durch müssen, um die ewige Seligkeit in +größerem Umfang zu gewinnen? Merke, die ewige Seligkeit, als eine +vollständige, in beiden Fällen! Ich weiß nicht, was ich wählen würde, +ich möchte lieber nicht wählen, obschon ich ein abgehärteter Mann +bin, denn dies Leben ist eine <em class="gesperrt">fürchterliche</em> Schule.«</p> +</div> + +<p>Unter den äußeren Schwierigkeiten, mit denen er zu kämpfen hatte, war +der trostlose Zustand der Finanzen nicht die geringste: das Volk war +über und über besteuert, aber mehr als zwei Drittel der Schatzung +ging nie ein. Die Steuereinnehmer waren wie die weiland römischen +Zöllner, die nebenher ihre eigenen Geschäfte machten. Gebt uns ein +Sechstel als »Bakschisch«, sagten sie den Leuten, dann stellen wir +euch ein Zeugnis aus, daß ihr nicht mehr zahlen könnt. Als Gordon +die Verwaltung antrat, fand er, daß es vorher allgemein üblich war, +den Gouverneur zu bestechen, um z.B. eine Stelle zu erhalten, und +zwar so, daß ein Bewerber zwölftausend Mark »Bakschisch« für eine +Anstellung zahlte, die ihm kaum mehr als ein Drittel dieser Summe +an Jahresgehalt eintrug. Natürlich lag der Schluß nahe, daß die +Beamten auf ganz andere Einkünfte als ihren Gehalt ihr Augenmerk +richteten. Gordons Wachsamkeit legte manchem das Handwerk; das System +war aber so eingerissen, daß er sich anfänglich der ihm zukommenden +»Bakschisch«-Gelder gar nicht erwehren konnte; er legte sie in die +Verwaltungskasse. Aber Ägypten selber betrachtete das abhängige +Land nur als eine Geldquelle, und nicht zufrieden mit rechtmäßigen +Einkünften, wie z. B. dem Ertrag des Elfenbeins, war es unter den +ägyptischen Paschas ganz üblich, ihr eigenes Defizit aus dem Sudan zu +decken. Selbst der Khedive telegraphierte seinem Statthalter Gordon, +so oft er sich in Geldverlegenheit befand.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich bin hinter den Büchern gewesen,« schreibt dieser, »und habe +einen guten Streich geführt. Die Finanzverwaltung von Kairo +telegraphierte um eine halbe Million Mark, die der Sudan dorthin +schulde. Ich habe die (alten) Abrechnungen nachgesehen und finde, das +umgekehrt Kairo dem Sudan hundertachtzigtausend Mark schuldet!«</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span></p> + +<p>Er ließ sich nie dran kriegen, von keinem Vizekönig und keinem +Minister. Im ersten Jahr seiner Verwaltung fand er ein Defizit von +über fünf Millionen Mark in seinen Finanzen, im zweiten Jahr hatte +er's auf eine Million heruntergebracht, und mit der Zeit hoffte er der +Schulden ganz Herr zu werden und rechtmäßige Überschüsse nach Kairo zu +schicken. Er hatte oft Ebbe in der Kasse und dabei die fortwährenden +Schwierigkeiten mit dem Sklavenhandel — »wahrlich, man ist hier nicht +auf Rosen gebettet!« rief er aus.</p> + +<p>Denn bei aller übrigen Not hatte er ein wachsames Auge auf die +Sklavenwirtschaft. Im Juli z. B. meldete er:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wir haben in diesen zwei Monaten zwölf Sklaventransporte abgefangen; +auch ist mir ein Brief von einem Händler in der Bahr el Ghasal in die +Hände gefallen, worin dieser seinen Abnehmern schreibt, er habe eine +Menge Sklaven bereit, wisse aber nicht, wie sie landabwärts bringen. +Er wird sich wundern, die Antwort von <em class="gesperrt">mir</em> zu erhalten ... So +weit es in meiner Macht steht, soll dieser Handel aufhören.«</p> +</div> + +<p>Einige Wochen später wurde von seinen Leuten eine Karawane von +neunzig Sklaven aufgefangen, die Überbleibsel von einer viermal +größeren Anzahl, die über achthundert Kilometer weit durch die Wüste +hergeschleppt worden waren; die wenigsten davon waren über sechzehn +Jahre alt, die meisten ganz junge Kinder.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es fällt mir schwer, die Händler nicht nach Verdienst zu züchtigen +(ihm selbst waren ja die Hände über ein gewisses Maß hinaus +gebunden); aber ich darf nicht vergessen, daß Gott es zuläßt, und ich +muß nach dem Gesetz handeln. Ich thue mein Bestes, und fürs übrige +ist Er Generalgouverneur.«</p> +</div> + +<p>In der Bahr el Ghasal waren, wie bereits gemeldet, die Sklavenjäger in +erneutem Aufstand, und zwar abermals infolge eines geheimen Aufruhrs +Sebehrs, jener Geißel Zentral-Afrikas, von welchem der ganze Greuel +ausging. Der schwarze Pascha hoffte seiner Gefangenschaft in Kairo +dadurch ledig zu werden, daß man ihn als den einen Mann, der die Bahr +el Ghasal zu beschwichtigen vermöchte, nach dem Sitz des von ihm +selbst hervorgerufenen Aufruhrs schicken würde. Sein Sohn Soliman +war<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> sein Stellvertreter. Und daß er so rechnete, war keineswegs +weit vom Ziel geschossen; Gordon erlebte es in den nächsten Monaten, +daß rücksichtlich des Sudaner Budgets Nubar Pascha ihm von Kairo +aus den Vorschlag machte, ihm den Sebehr als eine Art Finanzbeirat +zu schicken. Derselbe hoffte den Sudan so zur Blüte zu bringen, daß +Ägypten in kurzer Zeit auf eine halbe Million Mark Einkünfte von +dorther werde rechnen können. Gordon meldete zurück: ja, eine halbe +Million aus Sklaventransporten, er begehre solcher Hilfe nicht.</p> + +<p>Der Umfang des Aufstandes war anfänglich weder in Kairo noch +in Khartum bekannt; später stellte es sich heraus, daß die +Hauptsklavenhändler die Provinzen des Sudan von vornherein unter +sich verlost hatten und sich mit der Hoffnung trugen, ihre Fahnen +auf den Mauern Kairos wehen zu lassen. Keineswegs ein unmöglicher +Traum! Auch als jener Aufstand unterdrückt war, erklärte es Gordon +als seine Meinung, daß irgend ein entschlossener Anführer den Sudan +gegen Ägypten aufwiegeln könne, wie das ja auch durch den Mahdi +seither geschehen ist. Es sind nicht nur die Sklavenjäger, die das +Brandmaterial in jenen unglücklichen Ländereien ausmachen, obschon +diese an sich zu jener Zeit mächtig genug waren, um Ägypten in Atem +zu erhalten, ein weiterer Zündstoff ist in den arabischen Stämmen +vorhanden, die vor Hunderten von Jahren übers Rote Meer herüberkamen +und sich im Innern von Afrika festsetzten. Diese Araber sind +kriegstüchtige Leute, stolz auf ihre Abkunft und nach moslemischen +Begriffen von sittlicher Lebensart. Diese sind es hauptsächlich, die +sich dem Mahdi anschlossen, um die verhaßten Ägypter zu vertreiben, +und sie waren es, die in jenem Aufstand Solimans Horden verdoppelten +und verdreifachten. Fürs übrige stehen sie den Negern näher als den +Ägyptern; sie selbst aber treiben Sklavenhandel, und Solimans Banditen +waren zum Teil Angehörige dieser Stämme. »Unser ist das Land,« war der +Schlachtruf jener Araber, »wir brauchen keinen Effendina (Khedive) +hier!« »Wären Sebehr und seine Leute nicht so verruchte Sklavenjäger,« +schrieb Gordon, »und hätten sie sich nicht solch furchtbare +Grausamkeiten zu schulden kommen lassen, es wäre für den Sudan +vielleicht<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> besser gewesen, die Aufrührer hätten ihren Zweck erreicht. +Und — fügte er fernsichtig bei, — wenn England und Frankreich sich +nicht besser vorsehen und für eine gerechte Verwaltung sorgen, so ist +ein Sichlosreißen des Sudan von Ägypten nur noch eine Frage der Zeit.«</p> + +<p>Gordon verlor keinen Augenblick, den Aufruhr zu dämpfen, und da +er nicht selbst den Rebellen entgegenziehen konnte, so entsandte +er <em class="gesperrt">Gessi</em>, seine rechte Hand, einen tüchtigen Soldaten, der +uns schon vom Äquator her bekannt ist und den Gordon bei dieser +Gelegenheit folgendermaßen beschreibt:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Romulus Gessi, Italiener, neunundvierzig Jahre alt; kurz, von +gedrungener Gestalt; ein kaltblütiger, entschlossener Mann, und in +praktischen Dingen ein geborenes Genie.«</p> +</div> + +<p>Auf seinem Wege nilaufwärts stieß dieser tapfere Soldat auf reichliche +Beweise, daß die ägyptischen Beamten eigenen Gewinnes halber mit den +Händlern unter <em class="gesperrt">einer</em> Decke steckten. Nicht nur begegneten ihm +bei jeder Wendung mit Menschenware beladene Boote, sondern sogar +Dampfer, die unter der Flagge der Regierung dem Sklaventransport +Vorschub leisteten. Auf einem der Boote fand er an dreihundert +Schwarze und unter diesen einige Lastträger, die als freie Menschen +mit Ladungen von Elfenbein und Getreide nach Lado gekommen waren. +Ibrahim Fansi aber, der dortige Statthalter, bemächtigte sich ihrer +und verschiffte sie auf seine Rechnung in die Sklaverei. Zum Glück +begegneten sie einem handfesten Befreier. Gessi war auf dem Wege nach +den Äquatorialdistrikten, um auf den verschiedenen Stationen seine +Streitmacht zu vervollständigen. Auf dem Rückwege landete er seine +Mannschaft in Gaba Schambil, aber erst mit Anfang September konnte +er durch das überschwemmte Land westwärts ziehen und infolge der +Regenzeit mußte er wochenlang in Rumbehk am Bahr el Rohl bleiben. Dort +erreichte ihn die Nachricht, daß der Sohn Sebehrs sich zum Herrn der +Bahr el Ghasal aufgeworfen habe, daß er in Dem Idris die ägyptische +Besatzung überfallen und vernichtet habe, wodurch ein beträchtlicher +Vorrat von Kriegsbedarf in seine Hände gefallen sei. Die Häuptlinge +der Araber in der Umgegend wandten sich ihm auf diesen Erfolg hin +massenweise<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> zu, und solche, die es nicht thaten, metzelte er nieder. +Weiber und Kinder erlagen entweder seiner Grausamkeit oder wurden +in die Sklaverei geschickt. Rings umher hatte er die Leute ihrer +Kornvorräte beraubt, so daß sie zu Hunderten Hungers starben.</p> + +<p>Soliman hatte sechstausend Mann, und es verlautete, er beabsichtige +einen Überfall auf Rumbehk; Gessi hatte nur dreihundert reguläre +Truppen mit zwei Feldstücken und etwa siebenhundert schlechtbewaffnete +Irreguläre. Er erwartete noch bis dreihundert Mann Verstärkung +und machte sich alsbald daran, Rumbehk zu befestigen. Seine von +Gordon erwartete Hilfe blieb aber aus, weil sein Schreiben an den +Generalgouverneur fünf Monate lang nach Khartum unterwegs war! +Hilfe von den benachbarten Bezirksstatthaltern erhielt er nicht. +An Beamten scheint die Provinz keinen Mangel gelitten zu haben. +In Dem Idris hatte sich eine »fabelhafte Anzahl« derselben die +Langeweile mit Tricktrackspielen vertrieben, während Jussuf Bey, +der Bezirksgouverneur, ein ruchloses Leben führte, worin seine +Untergebenen, sämtlich seine Neffen und Vettern, ihn nach Kräften +unterstützten. Ägyptische Wirtschaft! Am 17. November verließ Gessi +seine feste Stellung, und das war der Anfang eines Kriegs- und +Siegesmarsches, das Ergebnis einer Energie, wie sie nur aus Gordons +Schule hervorgehen konnte. Unaufhaltsam durch das Land der Ströme +vorwärtsdringend und auf Flößen übersetzend — einmal inmitten von +Krokodilen — verschanzte er sich in dem am gleichnamigen Fluß +gelegenen Dorfe Wau. Dort kamen ihm die Eingebornen Hilfe suchend von +allen Seiten entgegen. Über zehntausend Menschen hatte Soliman aus +den Dörfern der Bahr el Ghasal geraubt. Ein Araberhäuptling schloß +sich ihm mit siebenhundert Bewaffneten an und nun warf er sich auf +Dem Idris, welche Stadt er befestigte, eines Überfalls von Soliman +gewärtig.</p> + +<p>Der Sohn Sebehrs aber hatte sich überraschen lassen; bei dem +überschwemmten Lande wähnte er Gessi noch in weiter Ferne und war +selbst im Begriff, in seine Höhle zu Schekka zurückzukehren. Als +ihm aber die Nachricht von der Nähe des Feindes kam, sammelte er +rasch seine Streitkräfte, über zehntausend Mann, und warf sich auf +Dem Idris. So sicher war er seiner Sache,<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> daß er schon die Stricke +in Bereitschaft hielt, um Gessi und seine Handvoll Leute zu binden. +Viermal kam es zum Angriff, und viermal wurde er zurückgeschlagen, das +erstemal am 27. Dezember, wobei er tausend Tote und fünf Standarten +zurückließ. Aus Mangel an Munition konnte Gessi den zurückgeworfenen +Feind nicht verfolgen. Dieser machte vierzehn Tage später einen +neuen Angriff und wurde abermals zurückgeschlagen. Soliman und seine +Häuptlinge hatten sich vorher im Kriegsrat mit einem Eidschwur auf +den Koran zu Sieg oder Tod verbündet. Durch Überläufer wußte Gessi +davon und verband sich seinerseits mit seinen Leuten, ihr Leben so +teuer als möglich zu verkaufen. So wenig Kriegsbedarf hatte Gessi, +daß er nach dem ersten Angriff die Kugeln des Feindes sammeln und +wieder gießen lassen mußte. Er sah aber, daß den schwarzen Soldaten +der Sklavenhändler der Mut gebrach, daß die Araber mit gezückten +Schwertern hinter ihnen standen und den Zagenden den Garaus machten. +Am folgenden Morgen kam es zum dritten Angriff und sieben Stunden +lang wütete der Kampf. Endlich wichen die Horden Solimans. Dieser +war in verzweifelter Wut von seinem Pferd gesprungen und weigerte +sich zu fliehen; wenn der Tod ihn nicht finde, wolle er ihn suchen, +schrie er, aber seine Leute schleppten ihn mit Gewalt davon. Abermals +nach vierzehn Tagen, in der Nacht des 28. Januar 1879, stürmte der +Feind heran. Eine von Solimans Bomben setzte ein Strohdach in Brand, +und das Lager stand in Flammen. Gessi war dadurch gezwungen, den +Kampf im offenen Feld zu wagen, aber nach drei Stunden hatte er die +Sklavenhändler in die Flucht geschlagen.</p> + +<p>Im März erhielt er Zufuhr von Pulver und Blei und konnte es wagen, den +Feind in seiner Verschanzung anzugreifen. Solimans Lager bestand aus +einem Verhau von Baumstämmen, im Zentrum war eine feste Verschanzung, +die sechs- bis achttausend Mann deckte, und darum her standen statt +der Zelte Reisighütten. Eine Rakete der Angreifenden fiel ins Lager, +und im Augenblick brannte alles lichterloh. Die Rebellen suchten mit +verzweifelten Anstrengungen des Feuers Herr zu werden, aber bald +stand auch die äußere Einpfählung in Flammen, und den<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> Banditen blieb +keine Wahl als einen Ausfall zu machen. Sie wurden auf ihr brennendes +Lager zurückgeworfen und retteten sich zuletzt in wilder Flucht. Ihr +Verlust war ein beträchtlicher. Die Nacht senkte sich auf Gessis müde +Schar, die seit dreizehn Stunden der Nahrung ermangelte. Am andern +Morgen bemächtigten sie sich des halbverbrannten Lagers; verkohlte +Leichen bedeckten die Stätte und weithin lagen die auf der Flucht +Umgekommenen. Mangel an Schießbedarf verhinderte Gessi abermals, +seinen Sieg auszubeuten. Der Statthalter von Schekka, als der nächste, +der Zufuhr hätte verschaffen können, ließ ihn im Stich, und als die +Pocken in Dem Idris ausbrachen, war seine Lage in der That eine +traurige.</p> + +<p>Während der tapfere Italiener den Sohn Sebehrs auf diese Weise im +Schach hielt, war Gordon, wie wir gesehen haben, an der Arbeit +in Khartum. Der Anfang 1879 brachte ihm nicht weniger als drei +Einladungen nach Kairo; er umging sie mit der Antwort, daß der +Zeitpunkt ein kritischer und eine Folgeleistung für ihn mit der +Niederlegung seines Amtes gleichbedeutend sei. Während er täglich +seine wirkliche Rückberufung erwartete, erhielt er die Nachricht vom +Fall seines Gegners, des Nubar Pascha selbst. Gordon hatte dem Gessi +deshalb keine Verstärkung schicken können, weil Nubar ihm das Militär +verweigert hatte. Es war bei dieser Gelegenheit, daß dieser ihm statt +eines dringend nötigen Regiments Soldaten den Sebehr anbot! Gordons +Sorge um Gessi nahm täglich zu, und wiederholt telegraphierte er dem +Khedive um Genehmigung eines Zuges seinerseits nach Kordofan und +Darfur. Mitte März machte er sich dann nach Schekka auf den Weg.</p> + +<p>Den Zweck seines die Unterstützung Gessis bezweckenden Unternehmens +beschreibt Gordon folgendermaßen:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Erstens galt es, die Anhänger des Sohnes Sebehrs in Kordofan zu +verhindern, den Sklavenhändlern Hilfe zuzuführen; zweitens, dem +Feind den Rückzug abzuschneiden und Sebehrs Horden zu verhindern, in +Darfur einzufallen und sich daselbst mit dem angeblichen Sultan zu +vereinigen, der im Hügelland noch sein aufrührerisches Wesen trieb; +und drittens, Gessi moralischen Beistand zu gewähren sowie ihm den +nötigen Kriegsbedarf zukommen zu lassen.«</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span></p> + +<p>In größter Eile drang Gordon vorwärts nach Schekka. Durch Gluthitze +bei Tag und empfindliche Kälte bei Nacht, über sandige Strecken und +verdorrtes Gras trug sein Kamel ihn durch die wasserlose Wüste. Der +Weg ging über Obeid, wo die Leute »sauer sahen, weil er Handel und +Gewerbe durch Unterdrückung der Sklavenjagd beeinträchtigte.« Da und +dort faßte er unterwegs Sklavenkarawanen ab, konnte die Händler aber +nur durchpeitschen und ihnen die verbotene Ware abnehmen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>Persönlich hatte er »keinen sehnlicheren Wunsch, als sie zu +erschießen,« — es war lediglich das Gesetz,<a id="FNAnker_11" href="#Fussnote_11" class="fnanchor">[11]</a> das ihn daran +verhinderte.</p> +</div> + +<p>Auf einem nächtlichen Ritt in jener Zeit aber sah er einen Ausweg, den +Greuel besser als bisher zu unterdrücken.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Von gestern abend halb sieben bis halb vier diesen Morgen habe ich +auf meinem Kamel gesessen. Und auf diesem langen Ritt zeigte sich mir +eine Möglichkeit den Sklavenhandel zu vernichten, dadurch nämlich: 1) +<em class="gesperrt">wer im Lande Darfur wohnt, muß eine Aufenthaltskarte haben</em>; 2) +<em class="gesperrt">niemand darf das Land betreten oder es verlassen ohne Paß für sich +und sein Gefolge</em>. Auf diese Weise kann niemand im Land verweilen, +ohne seine Erwerbsquelle nachzuweisen, und niemand kann ohne +Kenntnisnahme der Regierung darin umherreisen. Ein Zuwiderhandeln +dieser Verordnung wird mit Gefängnis oder durch Beschlagnahme des +Besitzes der Schuldigen bestraft.«</p> +</div> + +<p>Er berichtete dies der Schwester als einen guten Nachtgedanken, den +er aber nicht seinem eigenen klugen Kopf zuschrieb, denn es steht +in Klammern daneben: »So aber jemand unter euch Weisheit mangelt, +der bitte von Gott, der da giebt einfältiglich<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> jedermann, und +rückt es niemand auf.« Allerdings sieht er nur zu bald ein, daß +sein Nachtgedanke zwar theoretisch gut, aber praktisch unausführbar +ist; denn wer sollte der Paßanwendung Nachdruck verleihen? Am 8. +April erreichte er Schekka, »diese Sündenhöhle.« »Das Entsetzen der +Sklavenhändler« — es waren ihrer mehrere hundert beisammen — »war +groß«.</p> + +<p>Am Tage vorher hatte ihn die Nachricht von Gessis Erfolgen erreicht, +dem um diese Zeit auch die ersehnte Verstärkung geworden war. Während +Gordon in Schekka dem Greuel den Boden sozusagen unter den Füßen +wegzog, errang Gessi in der Bahr el Ghasal neue Siege. Die armen +Schwarzen wußten sich nicht zu fassen vor Glück! Ein Dorf ums andere +wurde ihnen zurückerobert, und ihre grausamen Unterdrücker fanden die +verdiente Strafe. Mehr als zehntausend jener Unglücklichen schenkte er +ihre Heimat wieder. Einmal brachten seine Späher ihm acht Sklavenjäger +ins Lager und mit ihnen achtundzwanzig zusammengekoppelte Kinder. Er +ließ die Schurken sofort erschießen. Ein paar Tage später hängte er +eine ganze Reihe derselben im Wald auf. Kein Tag verging, daß nicht +ein Negerhäuptling kam und sich ihm mit Dankesthränen zu Füßen warf; +jetzt endlich konnten sie's glauben, daß es eine Regierung gebe, der +es obliege, sie zu schützen.</p> + +<p>Am 1. Mai verließ er Dem Idris und suchte den Sohn Sebehrs in seinem +eigenen Nest auf, das seinen Namen trug — Dem (d. h. Stadt) Soliman. +Der Überfall war in Plan und Ausführung ein so glänzender, daß der +junge Bandit ums Haar in seine Hände gefallen wäre. Die Stadt wurde +erobert, und die reichen Vorräte kamen Gessis Truppen sehr zu statten. +Der Sohn Sebehrs aber war zu einem andern Sklavenjäger, einem der +mächtigsten Rebellen, Namens Rabi, entkommen. Mit sechshundert Mann +machte sich Gessi auf den Weg, ihn zu verfolgen. Durch das verwüstete +Land, das nach Rache gegen den Feind schrie, drängte der Rächer. +Der Hunger folgte ihm auf den Fersen, zog vor ihm her, er achtete +es nicht. Er erreichte ein Dorf, das noch die Spuren der vor kurzem +verschwundenen Einwohner trug; es war spät am Abend, er fand Obdach +vor dem<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> strömenden Regen, aber nicht eine Handvoll Durra. Da ging +seinen Leuten der Mut aus. Mit Tagesanbruch rief er sie zusammen +und sagte ihnen, daß er keine Nahrung für sie habe, daß aber der +Feind nicht weit sei, und was sie ihm abjagen könnten, gehöre +ihnen. Da feuerte der Hunger die Mannschaft an und weiter ging's im +Sturmschritt. Sie kamen an Gräbern vorüber und scheuchten Raubvögel +von ihrem Fraß auf, fanden unbeerdigte Leichen und frische Fußstapfen, +dann Häuser und ein ausgestorbenes Dorf. Da stürzte ihnen ein weißes +Weib mit aufgelöstem Haar und fast ohne Kleidung entgegen, sie +trug ein Kind an der Brust, und ihr abgehärmtes Gesicht sprach von +Schrecken und Jammer. Mit strömenden Thränen sank sie dem Anführer zu +Füßen. Ihr Mann, ein ägyptischer Offizier, war bei dem Überfall von +Dem Idris niedergemetzelt und sie als Beute entführt worden. Von ihr +erfuhr Gessi auch, daß der Feind nicht weit war.</p> + +<p>In den Häusern gab's wenigstens genug Durra, die ausgehungerten +Soldaten zu sättigen. In der folgenden Nacht lagerten sie in einem +dichten Wald; Kundschafter wurden ausgeschickt. Die brachten nach +zwei Stunden Nachricht von weithin leuchtenden Wachtfeuern. Gessi +hielt dafür, daß er auf eine Sklavenkarawane gestoßen sei, denn die +Hauptbande vermutete er in einem noch entfernteren Dorfe. Er teilte +seine Mannschaft in der Absicht, die Karawane zu umgehen und sich +zuerst der Rebellen zu versichern; aber die eine Abteilung verfehlte +ihren Weg und kam mit Sklavenhändlern ins Gemenge. Schüsse fielen, +und in wenig Augenblicken war die Bande auseinandergesprengt. Einige +Händler fielen ihnen in die Hände, und diesen wurden nun dieselben +Ketten angelegt, unter denen eben noch ihre Opfer geseufzt hatten. +Ihr Anführer war Abu Snep, einer der berüchtigtsten Sklavenhändler in +der ganzen Bahr el Ghasal. Aber der Rebellenhaufe hatte die Schüsse +vernommen, und plötzlich — es war noch dunkle Nacht — erleuchtete +eine Feuersbrunst den Himmel; die flüchtigen Banditen hatten das Dorf +angezündet, und als Gessi es in der Morgenfrühe erreichte, fand er +einen rauchenden Trümmerhaufen. Nirgends eine Menschenseele, nur ein +kleines Sklavenbübchen, das<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> sich in der Verwirrung versteckt hatte. +Das Kind berichtete, daß Soliman selbst keine vierundzwanzig Stunden +vorher im Dorf gelagert hatte.</p> + +<p>In der folgenden Nacht stellten sich sieben Männer in Gessis +absichtlich nicht erleuchtetem Verhau ein, seine Truppen für die Bande +Rabis haltend, die sie in der Nähe wußten; sie sagten, sie seien vom +<em class="gesperrt">Sultan Idris</em> entsandt, der alsbald hinterdrein käme und Rabi +möchte ihn zum Anschluß erwarten. Gessi schickte durch einen der +sieben die Antwort, daß er den Sultan da und da zu sehen hoffe. Die +anderen sechs wurden zu Gast gebeten und sahen sich in kurzem als +Gefangene.</p> + +<p>Gessis Plan war alsbald entworfen; er beabsichtigte sich Rabis zu +versichern und dann den nachkommenden Sultan Idris zu empfangen. In +größter Eile ging's vorwärts. Mit Tagesanbruch überfiel er jenen in +seinem Lager, vernichtete seine Horde, bemächtigte sich aller seiner +Vorräte und seiner Flagge, und nur der Häuptling selber entkam durch +die Schnelligkeit seines Pferdes. Dann, in der Richtung zurückfallend, +wo er seinen »Verbündeten« wußte, ließ er sein Zelt aufschlagen und +Rabis Standarte daneben pflanzen. Seine Leute legte er im Umkreis in +Hinterhalt; darnach schickte er ein halb Dutzend Schwarzer aus, die +wie von ungefähr dem Sultan in die Hände gerieten. Wem sie gehörten? +war die Frage. Dem Rabi, lautete die Antwort, und sie wären auf der +Jagd. Da sandte Idris sie zurück, um seine Ankunft binnen einer Stunde +zu melden. Ein plötzlicher Sturmwind und Regenguß trieb ihn und seine +Leute vorwärts, und Schutz suchend, lief die Bande im Durcheinander in +die Falle. Da krachte ein Signalschuß und Musketenfeuer knatterte um +sie her. So groß war ihre Verwirrung, daß nicht einer die Gegenwehr +versuchte. Idris und etliche seiner Araber waren die einzigen, die +entkamen, und das nur, weil sie sich im Wetter unter einen Baum +geflüchtet hatten und dadurch etwas zurückgeblieben waren. Reiche +Beute fiel in Gessis Hand. Er kehrte nach Dem Soliman zurück, das er +vor neun Tagen verlassen hatte, seine Rückkehr glich einem Triumphzug. +Die Sklavenhändler in der Umgegend schienen in alle Winde zerstreut. +Das Volk hatte sich erhoben und die<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> Flüchtigen mit Pfeil und Speer +verfolgt. Die gefangenen Anführer brachte Gessi in Ketten mit sich, +während die besiegte Mannschaft Lasten von erbeutetem Elfenbein hinter +ihm herschleppte. In Dem Soliman fanden die Rächer eine wohlverdiente +Ruhe.</p> + +<p>Indessen hatte Gordon in Schekka mit den fast unbezwingbaren +Schwierigkeiten seiner Verwaltung ritterlich weiter gekämpft. +Auch um diese Zeit schrieb man ihm wieder von Kairo und begehrte +zweihundertundvierzigtausend Mark aus dem Sudan. Er meldete zurück: +»Wenn die zerlumpten Truppen hier Kleidung und Löhnung haben, dann +kann man wieder davon reden.«</p> + +<p>In Darfur fand er die alte Mißwirtschaft: »Ich verzweifle am +ägyptischen Regiment!«<a id="FNAnker_12" href="#Fussnote_12" class="fnanchor">[12]</a> Immer wieder ist's ihm sonnenklar, daß das +Hauptelend des Landes von der Gewinnsucht der Beamten ausgeht.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich habe dem Khedive telegraphiert, den Sohn des Sultans Ibrahim +herzuschicken (der in Kairo festgehalten wurde) und mit ihm die +rechtmäßige Sultansfamilie hier wieder einzusetzen, denn mit diesem +Diebspersonal von Beamten ist eine gerechte Regierung unmöglich.... +Mich kennen die Leute von Darfur und haben Vertrauen zu mir ... ich +werde dann dem Harun, der noch immer seine Ansprüche behauptet, +schreiben, daß es ihn nichts nützt, länger gegen Ägypten und den +rechtmäßigen Sultan aufkommen zu wollen, daß ich ihn angreifen +könnte, daß das aber nur neues Elend übers Land bringen würde und ich +ihn deshalb auffordere, mir zu helfen, Land und Leute für den jungen +Sultan zu gewinnen.«</p> +</div> + +<p>Es war immer wieder Gordons Politik, mit Großmut den Feind zu +gewinnen, dem geschlagenen Feinde voran zum nächsten Siege zu eilen +und den noch gegen ihn ankämpfenden aufzufordern, <em class="gesperrt">ihm zu helfen, zu +thun, was recht ist</em>! Oft ist ihm diese wunderbare Taktik gelungen, +manchmal auch nicht. Harun wollte nichts davon wissen. Wir werden +später sehen,<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> wie gerade an dieser hochherzigen Gewohnheit Gordons, +Feinde zu seinen Mitarbeitern zu machen, die ihm entgegentretende +Politik ihre Handhabe fand, ihn dem Verderben zu überlassen. Seine +Großmut war oft zu gut für die Welt und darum ihr unverständlich; +Krämerseelen nannten ihn einen Enthusiasten. Ja, es war der göttliche +Enthusiasmus, der den Sünder für seine Sünde züchtigt, ihn selbst aber +wieder aufrichtet, der den Saulus zu Boden schlägt und im Paulus sein +Rüstzeug gewinnt.</p> + +<p>Und wieder der Sklavenhandel:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Gott ist mein Zeuge, wenn ich diesen Greuel vernichten könnte, ich +ließe mich heute nacht noch erschießen; dies beweist wenigstens mein +heißes Verlangen, aber ich mag kämpfen wie ich will, ich sehe wenig +Hoffnung, dieses Übel zu bewältigen.«</p> +</div> + +<p>In Stunden des Kleinmuts war ihm in dieser Zeit der erste Gedanke +gekommen, sein Amt als Generalgouverneur niederzulegen, weil er +fühlte, daß er das Land nicht so regieren konnte, wie es seinem +eigenen Herzen genügte. Daran knüpfte sich für ihn die Frage: soll +er, wenn er die glänzendere Würde niederlegt, sich nach Darfur +zurückziehen und sein Leben dort opfern? Durch dauernde Anwesenheit in +jenem Land, in dem das ganze Greuelwesen wurzelt, könnte er vielleicht +das ersehnte Ziel erreichen. Manch einer (besonders wenn die Frage ihm +nicht selbst gilt) möchte hier sagen, das ist ja ein schöner Beruf, +für den man gern sterben könnte! Es ist auch nicht der Tod, den Gordon +fürchtet, sondern die »lange Kreuzigung in diesem fürchterlichen +Land.« Seine Körperkräfte sind geschwächt und der physische Mut +gebricht ihm, solch ein Kreuz auf sich zu nehmen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»In den Tod gehen, ja, aber ach! es wäre ein langes, langes +Hinsterben, und ich vermag es nicht!«</p> +</div> + +<p>Mittlerweile ist er rüstig wie immer, wenigstens das Beste zu thun, +was in seiner Kraft steht.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Diesen Abend wurden sieben eingefangene Händler mit dreiundzwanzig +Sklaven vor mich gebracht; das Elend dieser letzteren war unsäglich +— es waren Kinder von kaum drei Jahren darunter, die durch diese +Wüste hergetrieben worden sind, vor der es mir auf meinem Kamel +bangt ... Ich höre, daß andere auf dem Weg sind,<span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span> und manche von den +armen Weibern haben nicht einen Fetzen, um sich zu decken. Wir haben +in diesen neun Monaten wenigstens zweitausend abgefangen, und das +ist wohl nicht der fünfte Teil der Karawanen, die hier durch sind. +Und wie viele sind unterwegs umgekommen? ... Ich habe mit einigen +Häuptlingen gesprochen, es ist trostlos zu hören, daß mehr als ein +Drittel der Bewohner dieses Landes in die Sklaverei geschleppt worden +ist ... Ich höre, daß Kalaka in großer Aufregung ist, seit mein +Kommen in Aussicht steht. Ein Sklavenhändler dort soll einen Mann +erschossen haben; ich werde ihn dafür erschießen lassen, wenn ich +hinkomme. Ich werde wohl eine beträchtliche Anzahl dort wegfangen. +Sie wissen sich nicht zu helfen, kein Schlupfwinkel ist mehr übrig, +denn die Beduinen helfen mit.«</p> +</div> + +<p>Diese notgedrungenen Freunde fingen eine Menge Händler weg, und +die Sklaven liefen umher wie herrenlose Schafe, wurden auch immer +wieder von Händlern aufgeschnappt, die sie gern als ihr Eigentum +betrachteten. Die aufgegriffenen Sklavenhändler züchtigte Gordon stets +nach dem — zwar ungenügenden — Gesetz; er ließ sie durchpeitschen +und setzte sie, wo er konnte, hinter Schloß und Riegel.</p> + +<p>Ehe er Schekka verließ, um nach Kalaka weiter zu ziehen, hörte er +noch von Gessis namhaften Erfolgen. Die Straße nach Kalaka trug +überall Spuren, daß die Händler des Weges gezogen waren. An manchen +Orten bleichten Schädel und Menschenskelette zu Hunderten; hier +und dort lagen die Schädel aufgehäuft, ein grauenhaftes Denkmal +des entsetzlichen Handels. Wie viele Tausende von armen Schwarzen +mochten da vorbeigetrieben worden sein! Man fragt sich, wohin +sie nur alle geschleppt werden? Ein Teil wird als Dienstsklaven +verwendet, besonders in den Küstenländern des Roten Meeres; die +ganze mohammedanische Welt aber ist, teils offenkundig, teils +heimlich, eine Empfangsstätte für Sklaven, meist Weiber und Kinder. +Das Haremswesen verschlingt alljährlich eine große Anzahl. Im Blick +auf dieses Endziel des schändlichen Handels möchte man fast sagen: +es ist ein Glück, daß die meisten unterwegs erliegen! In Kalaka hob +er ein ganzes Nest von Händlern aus und wenigstens tausend Sklaven, +welch letztere er den eingebornen Stämmen überlassen mußte. Und<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> +weiter ging's durch die Wüste nach Darra, nach Fascher und Kobeh an +der obersten Grenze des Landes. Was für Reisen! Er sagte einmal in +jener Zeit: nur kraft seines Kamels sei er einigermaßen Herr im Land. +Auf dem Weg nach Kolkol an der äußersten Nordwestgrenze wurde er +mit seiner Schar von etwa hundertundfünfzig Banditen überfallen und +mehrere Stunden lang ging es ihm mit seinen Leuten »hinderlich«, wie +er sagte; aber schließlich zogen die Räuber, die »seine Kamele und +seine Sachen« wollten, den kürzeren. In Kolkol angekommen, hatte er +die Länge und Breite der ägyptischen Herrschaft durchreist. Er faßt +seine Eindrücke in die Worte zusammen: »Das Elend dieser verkommenen +Länder ist unsäglich — die Regierung selbst hat sie in eine Wüstenei +verwandelt.« Kolkol nannte er ein Gefängnis; es hatte seit zwei Jahren +niemand den Weg dahin gefunden. Die Garnison war in entsetzlichem +Zustand. Aus diesem verlassenen Nest sandte er eine ganze Bande +hilfloser Besatzung nach Khartum, vierhundert Araber mit Weibern und +Kindern. Von dieser äußersten Grenze des Elends trat er den Rückweg +nach Khartum an, zunächst über Fascher, Omschanga und Tuescha. Während +seiner kurzen Abwesenheit hatten sich die Banditen wieder in Schekka +gesammelt und von dort sich ins Innere des Landes geschlagen. Obschon +er auf diesem Zuge mehrere tausend Sklaven weggefangen und viele +Händler bestraft hatte, so stand der greuliche Betrieb doch alsbald +wieder in Blüte.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es ist anzunehmen, daß in diesen zwei Jahren allwöchentlich etwa 600 +Sklaven hier durch sind! Während meiner Amtszeit! Habe ich da Ursache +stolz zu sein?«</p> +</div> + +<p>Bei dem vorhandenen Wassermangel war das Elend der Ärmsten oft über +alle Beschreibung; und meist konnte er mit den Befreiten nichts +anfangen, als sie den Eingebornen überlassen. So ging's auch mit ein +paar hundert Sklaven, die er in und um Tuescha aufgegriffen hatte. Er +ließ sie vor sich kommen und sagte ihnen, daß er keine Möglichkeit +hätte, sie in ihre Heimat zurückzuschaffen, daß sie aber jetzt frei +wären. Sie waren alle damit einverstanden, sich den Leuten dort +anzuschließen. Drei schwarze Weiber wurden vor ihn gebracht, um über +die Händler<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> ausgefragt zu werden, und als Beweis, daß selbst im +größten Elend die Eitelkeit oft oben auf ist, erzählt er, daß eine +derselben sorgfältig eine Ecke des schmutzigen Fetzens aufknöpfte, den +sie als Kleidungsstück um sich gewickelt hatte, und etliche Glasperlen +daraus zum Vorschein brachte; die hing sie sich um den Hals und guckte +dann um so zufriedener in die Welt. Aber von anderen, besonders von +einem kaum vierjährigen Bübchen sagt er, daß das Lachen ein Ding sei, +das ihn nie ankäme, die Bitterkeit seines jungen Lebens sei zu groß!</p> + +<p>In Tuescha sah er Gessi wieder, der ihm um Jahre gealtert schien; +vielleicht konnte Gessi dasselbe von ihm sagen. Wie wir gesehen +haben, hatte Gessi dem Räubervolk in der Bahr el Ghasal tüchtige +Schläge versetzt und nebenbei reiche Ladungen an Elfenbein erobert. +Nur Soliman selbst war ihm bis jetzt noch immer entkommen; doch waren +seine Tage gezählt! Gordon belohnte den heldenmütigen Italiener, +indem er ihn zum Pascha der Osmanlie zweiter Klasse ernannte und +ihm vierzigtausend Mark dazu schenkte. Während er selbst nach +Khartum zurückkehrte, wandte sich der neue Pascha wieder seinem +Kampfgebiet zu. Schon nach wenigen Tagen brachte ein Überläufer +ihm die Nachricht, daß Soliman im Schild führe, sich mit Harun zu +vereinigen. Alsbald machte er sich auf, dies zu verhindern. Der Sohn +Sebehrs versuchte sein Heil in der Flucht in der Richtung von Gebel +Marah, einem schwierigen und wenig bekannten Hügelland. Neunhundert +seines Gesindels waren mit ihm: Rabi mit siebenhundert entrann auf +andern Wegen. Gessi, der seine Streitkräfte noch nicht zusammengezogen +hatte, konnte mit nur zweihundertundneunzig Mann zur Verfolgung sich +aufmachen; aber diese waren wohlbewaffnet und durch die unlängst +errungenen Siege innerlich gehoben. Durch einen mit bewundernswerter +Kühnheit ausgeführten Eilmarsch überraschte er Soliman und die Seinen +in einem Dorf Namens Gara zu früher Morgenstunde im Schlaf. Drei Tage +und drei Nächte hatte der unaufhaltsame Pascha sich und seiner Schar +kaum Ruhe gegönnt und dem Feind auf Querpfaden den Weg abgeschnitten. +Wie manches friedliche Dorf hatte die ruchlose Horde Solimans auf +ähnliche Weise zur Nachtzeit überfallen!<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> Wie manche Wohnstätte hatten +sie mit Feuer verwüstet und die nichts ahnenden Bewohner mit sich +geschleppt! Das Blut war in Strömen geflossen, und viele Tausende von +Menschen waren durch sie dem Elend der Sklaverei verfallen. Jetzt war +die Stunde der Rache gekommen.</p> + +<p>Mit seiner geringen Streitmacht wagte Gessi es nicht, das Dorf zu +umstellen. Er wagte es nicht einmal, sie dem Feind zu zeigen, sondern +hielt sie im Wald zurück, um jenen über die Anzahl zu täuschen. Dem +Soliman gab er zehn Minuten Bedenkzeit, die Waffen zu strecken; ergebe +er sich in der kurzen Frist nicht, so habe er keine Gnade zu erwarten. +Die schlaftrunkene Bande glaubte sich von Gessis ganzer Streitkraft +umringt und ergab sich im Schrecken der Überraschung. Einige der +Sklavenhändler hatten sich beim ersten Alarm in den Wald geflüchtet, +die meisten aber, unter ihnen Soliman selbst, gehorchten dem Befehl +und legten ihre Waffen nieder. Als der Sohn Sebehrs entdeckte, mit +wie wenig Leuten Gessi ihn überwältigt hatte, erfaßte ihn ein wilder +Ingrimm. »War das eure ganze Anzahl?« schrie er. »Sie genügte!« +entgegnete ihm Gessi kaltblütig. Da brach jener in Zornesthränen aus +— »wäre mein Vater hier gewesen, wir wären nie erlegen! Es sind +ihrer nur dreihundert, und ihr (seine Häuptlinge) meintet, es wären +dreitausend!«</p> + +<p>Den Tag über ließ Gessi sie im Dorf bewachen und sie verhielten sich +ruhig; als es aber dunkel wurde, schien Leben über sie zu kommen, +und er vermutete, daß Botschaft zwischen ihnen und ihren entlaufenen +Gefährten hin- und hergehe. Sie planten ein Entkommen in der Nacht, +in der Hoffnung, ihren Verbündeten Abdulgassin zu erreichen, der mit +seiner Bande nicht allzuweit entfernt war. Gessi entdeckte die Pferde +seiner Gefangenen, die gesattelt bereit standen. »Nun,« schrieb er, +»sah ich, daß die Zeit gekommen war, diese Schurken ein für allemal +unschädlich zu machen.« Er traf eine Auswahl. Ihren bewaffneten +Sklaven war er erbötig Leben und Freiheit zu schenken, wenn sie zu +ihren Stämmen zurückkehren wollten. Dazu waren sie mehr als bereit +und er ließ sie unter dem Geleite seiner Mannschaft ziehen. Die +kleineren Sklavenhändler, etwa hundertfünfzig an der Zahl, machte<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> +er zu Gefangenen. Die Haupträdelsführer aber, d. h. Soliman und zehn +andere, wurden erschossen. Dazu hatte er Gordons Vollmacht. Zwei Jahre +vorher in der »Höhle Adullam« hatte dieser sie gewarnt, daß sie die +Sklavenjagd mit ihrem Leben würden büßen müssen, sofern sie nicht +davon abließen. Sie hatten die Warnung in den Wind geschlagen, und nun +war das Maß ihrer Bosheit voll. Keiner zeigte Reue. Dem Sohn Sebehrs +schien der Mut zu entfallen, denn er sank vor dem Schuß zu Boden; ein +anderer vergoß Thränen; die übrigen aber gingen ohne Spur von Rührung +in den Tod. Auf diese Nachricht versprengte der Schrecken Abdulgassins +Horde und auch Rabi mit den Seinen floh.</p> + +<p>Damit war der Sklavenhandel für den Augenblick aufs Haupt geschlagen, +und da die Eingebornen sich nun auch allerwärts gegen ihre +Bedrücker erhoben, so fanden die flüchtigen Händler nirgends einen +Schlupfwinkel. Abdulgassin, die Hyäne dieses Landes, der ganze Dörfer +entvölkert hatte, wurde später eingefangen und erschossen. Rabi entkam +— wohin wußte niemand. Nun war Friede und eine Zeit der Ruhe kam über +die gequälten Neger, die sich in ihren Heimstätten wieder ansiedeln +konnten; sie wußten ihrer Freude kein Ende, schrieb Gessi.</p> + +<p>So wurde die Macht Sebehrs in seinem Sohne gebrochen, aber noch war +er selber unbestraft. Der schwarze Pascha war ein König gewesen, der +mächtigste aller Sklavenhändler in der Welt. Weithin, bis ins Innere +von Afrika hinein, hatte er seine festen Plätze und Raubhöhlen; +ganze Länder hatte er verwüstet, wo vorher die schwarzen Stämme in +verhältnismäßigem Wohlstand ihr Naturleben führten. Mit fürstlichem +Glanz hatte der greuliche Menschenräuber im Lande geherrscht; aus +einem Strom von Thränen und Blut war sein Reichtum gewonnen worden, +und nun war der Strom versiegt. Ihm selbst schien der verdiente Lohn +zu werden; denn unter dem Nachlaß seines Sohnes fanden sich Briefe +von seiner Hand, die ihn als den Anstifter des ganzen Aufstandes +verrieten. Er wurde in Kairo vor Gericht gestellt und zum Tode +verurteilt. »Es wird ihm nichts geschehen,« sagte Gordon, als er's +vernahm; und so war es! Er blieb nicht nur<span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span> am Leben, sondern wurde +sogar eines Gnadengehaltes für würdig erachtet. Warum? muß ein Rätsel +bleiben. Der abgesetzte König der Sklavenhändler wurde nach wie +vor in Kairo festgehalten und hat seine zweitausend Mark monatlich +aus der vizeköniglichen Kasse bezogen! Die verkehrte Schwäche, die +ihm das Leben schenkte, hat viel dazu beigetragen, daß Gordons und +Gessis glänzende Erfolge den greulichen Menschenhandel im Sudan zwar +zu unterdrücken, aber nicht auszurotten vermochten. Sebehr war und +blieb eine Macht der Finsternis, und die Schlußszene von Gordons +Lebensdrama, die tieftragische, ist zweifelsohne mit sein Werk.</p> + + +<h3>4. Als Gesandter in Abessinien.</h3> + +<p>Auf dem Rückweg nach Khartum erfuhr Gordon in Fodja, daß Gessi den +Soliman und seine Genossen überwältigt und erschossen hatte. Er +selbst hatte dem Sklavenhandel in Darfur mehr wie einen empfindlichen +Schlag versetzt. Zwar war er zu der Überzeugung gekommen, daß eine +völlige Vernichtung des Unwesens ein Ding der Unmöglichkeit war, +insolange nämlich als die ägyptische Regierung nicht von Grund aus +eine andere würde; aber für den Augenblick lag der Greuel am Boden +und das gequälte Land atmete auf. In Fodja erreichte ihn auch die +zweite Nachricht, daß die seit Monaten drohende Umwälzung in Kairo +stattgefunden und daß Ismail zu Gunsten seines Sohnes Thewfik +abgedankt hatte. Es lag ihm ob, den Regierungsantritt des neuen +Khedive in den Sudanländern zu verkündigen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es ließ mich kühl,« sagte Gordon, »ich telegraphierte an die +verschiedenen Unterstatthalter und quittierte dem Cherif Pascha den +Empfang der Anzeige — damit begnügte ich mich.«</p> +</div> + +<p>Ismails Glückswechsel ließ ihn übrigens nicht kalt, er nahm +aufrichtigen Anteil an seiner Demütigung, obschon er seine Politik +öfters beklagt, ja getadelt hatte. Die Veränderungen in Kairo, welche +mit dem neuen Khedive die dem Sklavenhandel freundlichen Pascha wieder +ans Ruder brachten, bestärkten ihn aber ohne Zweifel in seinem bereits +gefaßten Vorsatz, sein Amt niederzulegen. Er hatte das übernommene +Werk vollbracht, so weit es ihm möglich schien;<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> die Würde an sich +hatte keinen Reiz für ihn. Mit diesen Gedanken kehrte er nach Khartum +zurück.</p> + +<p>Um diese Zeit erhielt er einen Brief von seinem alten Freunde, dem +Gouverneur Li in China, folgenden Inhalts:</p> + +<p>»Sehr freute es mich von Ihnen zu hören. Es sind vierzehn Jahre, seit +wir uns trennten, und wenn ich Ihnen auch bisher nicht geschrieben +habe, so spreche ich doch oft von Ihnen und gedenke Ihrer mit +großer Teilnahme. Die Wohlthaten, die Sie China erwiesen haben, +verschwanden nicht mit Ihrer Person, sondern sind jetzt noch in den +Gegenden fühlbar, in denen Sie eine so wichtige und thatkräftige +Rolle spielten. Das Volk segnet Sie um des Friedens und des Gedeihens +willen, dessen es sich seither erfreute. Ihre Erfolge in Ägypten +sind durch die Welt erschollen; ich lese oft in den Zeitungen von +Ihrem edlen Werk am obern Nil. Sie sind ein Mann, der sich stets zu +helfen weiß, in was für Lagen Sie sich auch befinden. Ich hoffe, daß +Ihnen ein langes Leben geschenkt werde, denn Sie verbreiten Segen +um sich her, wohin auch immer Ihr Beruf Sie führt. Ich lasse es mir +ernstlich angelegen sein, mein Volk auf eine höhere Stufe zu bringen +und dieses Land mit andern Ländern innerhalb der »vier Meere« in einem +Bruderbündnis zu vereinigen. Ich beantworte Ihre Fragen: — Kwoh Sung +Ling hat sich vom öffentlichen Leben zurückgezogen und erfreut sich +der Ruhe. Jang Ta Jen ist schon lang gestorben. Dem Sohn des Na Wang +geht es gut, er ist Regimentsoberst mit fünfhundert Leuten unter ihm. +Die Pataschau-Brücke, die Sie teilweise zerstörten, ist bald nach +Ihrer Abreise wieder aufgebaut worden und ist in recht gutem Zustand. +— Kwoh Ta Jen, der chinesische Minister, schrieb mir, daß er die +Freude hatte, Sie in London zu sehen. Ich wollte, ich wäre auch dabei +gewesen; aber die Pflichten dieses Lebens führen die verschiedenen +Menschen in verschiedene Teile der Welt und es ist eine weise +Einrichtung der Vorsehung, daß wir nicht alle am selben Orte sind. +Ihnen Glück und Segen wünschend meinen Gruß.«</p> + +<p>An diesem Brief des alten Chinesen kann man nur seine Freude haben; +steht es doch nicht bloß <em class="gesperrt">zwischen</em> den Zeilen zu lesen, daß +Gordons Werk dort ein bleibendes war.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span></p> + +<p>Gordon verließ Khartum Ende Juli und erreichte Kairo am 23. August. +Acht Tage später begab er sich als außerordentlicher Gesandter zum +König von Abessinien. Thewfik setzte offenbar Vertrauen in ihn, +obschon er halb und halb gefürchtet hatte, daß Gordon beabsichtige, +sich als Sultan im Sudan aufzuwerfen. »Das würde unser einem aber doch +nicht passen,« meinte Gordon. Seine abessinische Reise bezog sich auf +die alten Wirren. Mit ihm ging sein schwarzer Schreiber Berzati Bey, +der in seinem Dienst stand seit er jenen anderen der Bestechlichkeit +wegen entlassen hatte und dem er nachrühmte, daß er die unschätzbare +Eigenschaft besessen habe, es ihn wissen zu lassen, wenn er +anderer Meinung war als er. Dieser Berzati stammte aus einer alten +muselmännischen, in Khartum ansässigen Familie. Als Schüler eines +namhaften Gelehrten dieser Stadt erlangte er eine tüchtige Bildung. +Die Geschichte des Landes kannte er von Grund aus und verstand sich +auf verschiedene Geheimschriften. »Er war in diesen drei Jahren mein +bester Freund,« sagt Gordon, »obwohl wir manchmal hintereinander +gerieten. Ich verdanke ihm viel; denn ob er zwar ein guter Patriot und +fester Muselman war, riet er mir doch stets ehrlich zum Besten des +Volkes .... Er hat übrigens seine Last — vier Weiber; hat mancher +doch an <em class="gesperrt">einer</em> genug. Ein paar Männer wie Berzati Bey könnten +Ägypten aufhelfen; aber solche sind selten. Spötter nennen ihn den +›schwarzen Gnomen.‹«</p> + +<p>Die Abessinier hatten das Grenzland Bogos inne. Am 11. September 1879 +machte sich Gordon von Massaua zu einer Zusammenkunft mit dem in Gura +lagernden Alula auf den Weg. Unterwegs schrieb Gordon:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wir sind einer Karawane begegnet, die von Gura kommt ... Sie brachte +die Bestätigung der Nachricht, daß Alula auf des Königs Befehl den +Walad el Michael und alle seine Offiziere gefangen genommen habe, und +daß Walads Sohn, Metfin, erschlagen sei. In Massaua traf mich die +Kunde, daß Abdulgassin, der letzte der Anführer von Sebehrs Banditen, +eingefangen und auf meinen Befehl erschossen worden sei. Er war +jener Schurke, der einen Negerknaben umbrachte und in dessen Blut +seine Flagge tauchte. (Bei der Einnahme von Dem Idris, um den Himmel +günstig zu stimmen!) So<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> giebt's immer mehr Lücken in meiner Fürbitte +für die Feinde. Sebehrs Anführer und Walads Sohn, sie waren alle in +mein Gebet eingeschlossen. Ich gestehe, ich bin dieses Leben müde, es +wäre mir kein Kummer, wenn Walads Bande mir unterwegs auflauerte.«</p> +</div> + +<p>Wie charakteristisch ist dieser Brief für den Schreiber! Als Soldat +giebt er den Schurken ihren verdienten Lohn, er läßt sie erschießen; +als Christ hat er es nie unterlassen, sie mit Namen in seiner Fürbitte +vor Gott zu bringen!</p> + +<p>Gordon litt auf dieser Reise viel von der Hitze. Er nennt sich einen +Hiob voll Schwären. Aber wenn auch der Körper schwach ist, seine +Aufgabe führt er durch und entwirft sich seine Pläne auf dem Ritt +durch die Wüste.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich bin entschlossen, entweder mit oder ohne des Königs Hilfe mit +Walad und seinen Leuten fertig zu werden und dann mit Johannes selbst +ins reine zu kommen.«</p> +</div> + +<p>Unter Hilfe verstand er nicht Waffen, sondern ein Versprechen, daß +Walads Truppen, wenn sie Bogos räumten, eine Zuflucht gewährt werde. +Wo Barmherzigkeit am Platze war, unterließ er es gewiß nicht, darauf +hinzuarbeiten! Er erreichte Gura halbtot von seinem Wüstenritt und +vernahm, daß Alulas Lager auf einem steilen Berg sich befand, und weil +sein Lasttier erschöpft war, so erstieg er die Höhe mühsam zu Fuß. Er +fand den abessinischen Befehlshaber in einem niedern, langen Gezelt +von Baumzweigen, an dessen oberem Ende Alula auf einem Diwan saß, wie +eine Mumie in weiße Tücher gewickelt, die nur die Nase sichtbar ließen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Feierliche Stille herrschte; und alle Anwesenden waren gleich ihm +vermummt, als ob meine Nähe sie vergiften könnte. Die Figur auf dem +Diwan regte sich nicht, und war wirklich so eingewickelt, daß mich +ein Verlangen ankam, dem Mann nach dem Puls zu fühlen. Der Mensch muß +krank sein, dachte ich. Durchaus nicht — es war Freund Alula!«</p> +</div> + +<p>Und Gordon sah, als Alula nach einiger Zeit die weiße Hülle etwas +fallen ließ, daß er ein ganz kräftiger, sogar hübscher junger Mann +von etwa dreißig Jahren war. Auch den andern schien nach und nach die +Furcht vor Gift zu vergehen. Gordon fand die Audienz aber tödlich +langweilig, denn Alula schien ihm durch<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> Schweigen imponieren zu +wollen. Nach langer Pause gestattete er ihm zu rauchen, was eine +besondere Vergünstigung war, indem der König einen Befehl erlassen +hatte, allen Rauchern die Nase abzuschneiden. Gordon lehnte es ab +und betrachtete sich einstweilen die Priester, die den Hofstaat +vervollständigten. Viel erreicht wurde bei dieser Gelegenheit darum +nicht, weil Alula vorläufig nur den einen Zweck verfolgte, dem +Gesandten mit wenig Höflichkeit zu begegnen. Ägypten hatte Abessinien +schlecht behandelt, Gordon wußte sich daher über den unmanierlichen +Empfang zu trösten.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Bei der nächsten Audienz aber werde ich meinen sudanischen +Thronsessel mitbringen, sowie einen geeigneten Sitz für den schwarzen +Gnomen.«</p> +</div> + +<p>Als Alula jedoch verlangte, daß der Gesandte am Fuße des Berges +kampiere und täglich zu ihm hinaufklettere, schlug ihm Gordon dies +rundweg ab; das wisse er im voraus, daß er in diesem Falle dann stets +schlechter Laune zur Audienz kommen würde, was den Verhandlungen +gewiß schädlich wäre. Alula gab dies zu und ließ ihm ein Zelt neben +sich aufschlagen. Als ägyptischer Gesandter war Gordon in der +Feldmarschallsuniform. Die Audienzen führten zu dem Beschluß, daß +Gordon zum König Johannes selbst reisen sollte und daß Alula bis auf +weiteres sich der Feindseligkeiten zu enthalten versprach.</p> + +<p>Der König befand sich in Debra Tabor bei Gondar, zwölf Tagereisen von +Gura entfernt. Aber geduldig wie immer, wenn's Arbeit gab, machte +Gordon sich auf den Weg durch ein entsetzliches Land und über die +steilsten Berge »über die Kruste des Erdballs hinschleichend.« Bei +Adowa kam er an der Bergeinöde vorüber, in der Walad el Michael +festgehalten wurde.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Die Abessinier setzen ihre Staatsgefangenen nämlich auf +unzugängliche Berge, die Amba genannt werden. Es giebt deren drei +verschiedene Arten: erstens solche, die so steil sind, daß der +Gefangene in einem Korb durch einen Flaschenzug hinaufgeschafft wird; +zweitens, andere, die durch einen einzigen Fußweg zugänglich sind; +und drittens solche, deren Höhe auf zwei oder drei Wegen erreicht +werden kann. Auf diesen Amba befindet sich kultivierbares Feld<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> und +auch Wasser. Ein Gefangener kann da existieren und in Vergessenheit +seine Sünden bereuen, bis eine neue Revolution ihn vielleicht auf den +Thron setzt.«</p> +</div> + +<p>Unterwegs vernahm Gordon, daß ein aufrührerischer Häuptling ihn zu +überfallen gedenke, aber trotzdem gelangte er ungefährdet nach Debra +Tabor. Der König selbst gab zu, daß er auf den denkbar schlechtesten +Wegen zu ihm geführt worden war. Gordon schloß daraus, daß Alula +den Gesandten auf diese liebenswürdige Weise von der Unwegsamkeit +des Landes zu überzeugen hoffte, damit dieser Ägypten von etwaigen +Kriegsgedanken zu heilen vermöchte.</p> + +<p>Als er den abessinischen Hof erreichte, wurde er alsbald vorgelassen. +Der König saß auf seinem Thron, neben ihm stand Ras Arya, sein Vater, +der Itagé oder Hohepriester, und ein Stuhl war für den Gesandten +hingestellt. Da ertönten Kanonenschüsse, »das ist Ihnen zu Ehren,« +erklärte der König und bedeutete ihm alsbald, er sei entlassen. Ein +paar erbärmliche, halbfertige Hütten waren das Gesandtschaftsquartier. +Bei Tagesanbruch erscholl das Psalmensingen, das Gordon in Alulas +Lager früher schon vernommen hatte.</p> + +<p>Von dieser Audienz hat außerdem folgendes verlautet. Der König saß auf +seinem Thronsessel, und der für den Gesandten bestimmte Stuhl stand +auf niederer Stufe in ziemlicher Entfernung; Gordon hatte den Stuhl +genommen und sich in die Nähe des Königs gesetzt, um ihm begreiflich +zu machen, daß er als Ägyptens Vertreter von der abessinischen +Majestät nicht allzu geringschätzig zu behandeln sei. Da fuhr der +König ihn an: »Wissen Sie nicht, Gordon Pascha, daß ich Sie dafür auf +der Stelle hinrichten lassen kann?« »Gewiß,« sagte Gordon, »ich bin +auch bereit dazu, wenn es des Königs Wille ist.« »Was — bereit zu +sterben?« rief Johannes entsetzt. »Ich bin immer bereit,« entgegnete +der Pascha ruhig; »der König würde mir durch einen gewaltsamen Tod +sogar einen Dienst erweisen, den meine Religion mir selbst nicht +gestattet, indem ich dadurch von aller Not erlöst würde, welche die +Zukunft mir noch bringen kann.« Da erblaßte Johannes vor Entsetzen. +»Dann hat meine Gewalt keine Schrecken für Sie?!« stammelte<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> er. +»Durchaus keine,« war die kurze Antwort. Worauf der König: »Sie sind +entlassen!«</p> + +<p>Die Verhandlungen waren ganz unbefriedigender Natur und mitten darin +erklärte Johannes, er müsse sie abbrechen und Gesundbrunnen trinken, +»ganz <em class="antiqua">à la mode</em>,« sagt Gordon; »der Brunnen sprudelt durch +ein Bambusrohr in einer alten Hütte.« Auch dort wurde nichts weiter +erreicht. Johannes hatte vielerlei Begehren: Bogos, Massaua und andere +Städte, dann einen Abuna<a id="FNAnker_13" href="#Fussnote_13" class="fnanchor">[13]</a> (Erzbischof) und zwanzig bis vierzig +Millionen Mark, wollte aber seinerseits lediglich nichts einräumen. +Gordon versprach den Abuna, indem er seinen Privateinfluß geltend +machen wolle, aber Bogos und sonstige Ländereien werde Ägypten nicht +abtreten. Er wahrte die ihm anvertrauten Interessen und betrachtete +sich lediglich als des Khedive Sendboten. Johannes glaubte ihm in +persönlicher Weise beikommen zu können. »Sie sind ein Engländer und +ein Christ,« sagte er, worauf ihm Gordon rasch entgegnete: »Hier +bin ich ein Ägypter und Muselmann.« Als der Gesandte seine Bitten +zu Gunsten der Soldaten vorbrachte, wurde Johannes zornig und hieß +ihn seiner Wege gehen. Einen Brief an den Khedive werde er ihm +nachschicken.</p> + +<p>Und so begab sich Gordon auf den Rückweg. Der Brief wurde ihm auch +nachgesandt; er lautete folgendermaßen: »Ich habe das Schreiben +erhalten, das Sie mir durch <em class="gesperrt">jenen Menschen</em> sandten; ich will +keinen geheimen Frieden mit Ihnen schließen. Wollen Sie Frieden, so +wenden Sie sich an die Sultane von Europa.« Auf dem Rückweg wurde +Gordon, sei es mit, sei es ohne des Königs besonderen Befehl, von +dessen Vater mit hundert und zwanzig Abessiniern überfallen und +gefangen genommen. Mehrere Tage lang wurde er im Lande hin- und +hergeschleppt und mußte sich viel Widerwärtigkeiten gefallen lassen. +Geld erwies<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> sich als den Schlüssel, der ihn schließlich durchließ; es +kostete ihn achtundzwanzigtausend Mark, Massaua zu erreichen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Das durchgemachte Elend lasse ich unbeschrieben,« sagt Gordon, +»Gottlob, es ist vorüber. Zwischen zwei Abessiniern zu schlafen, ist +kein Vergnügen, und so verbrachte ich meine letzte Nacht in diesem +Land.«</p> +</div> + +<p>Den König Johannes schildert Gordon als einen grausamen, +halbverrückten Menschen.</p> + +<p>So endete diese ganz nutzlose Mission, und Gordon kehrte nach +Ägypten zurück. Auch in diesem Jahre (1879) lagen über dreitausend +Kilometer Kamelritt hinter ihm und zwölfhundert hatte er in +Abessinien auf Maultieren zurückgelegt. In den drei Jahren seiner +Oberstatthalterschaft beliefen sich seine Kamelreisen auf etwa +vierzehntausend Kilometer. Abgesehen von den Schwierigkeiten, dem +neuen Khedive zu dienen, war es Zeit, daß er sein Amt niederlegte; der +britische Konsulatsarzt in Kairo fand seine Nervenkraft erschöpft und +ihn auch sonst leidend; die körperliche Übermüdung, die vielen Sorgen +und die ungenügende Nahrung der letzten drei Jahre hatten selbst +einer eisernen Gesundheit, wie der seinigen zugesetzt. Er sollte +nach England zurückkehren und ruhen. Der Abschied von Kairo war kein +angenehmer; es gab noch Verhandlungen mit den Pascha, denen er stets +die Wahrheit sagte. Aber er konnte Ägypten nicht anders machen als es +war; einem der Pascha schickte er zu guterletzt noch telegraphisch +das Wort: »Mene Mene Tekel Upharsin«, und dann schiffte er sich nach +England ein. Mochten die Pascha denken was sie wollten, die Wünsche +von Tausenden geleiteten ihn. Im Sudan blieb er dem Volk in dankbarer +Erinnerung als <em class="gesperrt">der gute</em> Pascha. So lang er da war, waltete +Gerechtigkeit im Land; als er fort war, wußten es die Unterdrückten +nur zu gut, was sie an ihm verloren hatten.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span></p> + +<h2 id="Sechstes_Buch">Sechstes Buch.<br> +<span class="s5"><b>Zwischenzeit.</b></span></h2> +</div> + +<p>Gordon sollte in England der Ruhe pflegen. Das war leichter gesagt, +als gethan. Energischen Naturen ist oft nichts eine größere Last als +das Nichtsthun. Gordons Erholungszeit war eine kurze. England empfing +seinen Helden mit Genugthuung, die Presse sprach von ihm als dem +»ungekrönten König«. Man wußte von seinem heroischen Kampf gegen den +Sklavenhandel, man bewunderte den unscheinbaren bescheidenen Mann, +der waffenlos das Werk einer Armee vollbracht, den Held von Gottes +Gnaden; man ärgerte sich über den Khedive, der seinen besten Diener +so wenig zu schätzen wußte, und man sagte sich, daß wenn ausländische +Einflüsse sich nicht geltend machten, der Sklavenhandel alsbald aufs +neue erblühen werde, da Gordon Afrika den Rücken gewandt habe. Daß +nicht viele Jahre vergingen, ehe das Land in schlimmerer Lage war als +vorher, ist eine bekannte Thatsache.</p> + +<p>Im Grunde aber kannte England seinen Helden doch nicht; erst seit +es ihn verloren, hat das Land ihn wirklich schätzen lernen. Daß +man seiner in englischen Diensten nicht zu bedürfen schien, ist +erklärlich, wenn man bedenkt, was für ein Mann er war. Seine Stärke +lag in dem Glauben, der Berge versetzt; höheren Orts mochte er als +eine Art Fanatiker gelten, der nicht überall zu brauchen war: Paule, +du rasest! Auch bei seiner diesmaligen Anwesenheit in England ging +Gordon geflissentlich allen Ehren aus dem Wege; mit wahrer Kriegslist +soll er die Leute umgangen haben, die ihn gern eingeladen und zum +großen Mann gemacht hätten. Er verbrachte mehrere Wochen mit den +Seinen und zog sich dann (im Winter 1880) nach Lausanne zurück. Einen +Sohn seines kurz vorher verstorbenen Bruders nahm er mit sich.</p> + +<p>Ein englischer Geistlicher, der ihn daselbst kennen lernte, beschreibt +ihn folgendermaßen: »Der Fremde war von nur mittlerer Größe und +wohl gebaut; sein Gesicht von tiefen Linien durchfurcht; seine +schöne breite Stirn und ein sehr entschlossener Mund<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> schienen auf +ungewöhnlichen Ernst des Denkens, sowie auf praktischen Verstand zu +deuten. Er schien beides, sanft und stark; eine gewisse Weichheit +lag in seiner wohllautenden kraftvollen Stimme und sprach aus seinen +ausdrucksvollen blauen Augen. Nach einiger Zeit redete er mich an, +und da ich leidend war, so erbot er sich mir zur Begleitung auf +kurzen Spaziergängen. Unsere Unterhaltung wandte sich bald auf Dinge +des Glaubens, und die Unmittelbarkeit, die Einfachheit und der tiefe +Ernst, mit dem er sich darüber aussprach, machte einen großen Eindruck +auf mich.« Mehrere Tage vergingen und sein neuer Freund erfuhr zwar +seinen Namen, hatte aber keine Ahnung, daß er es mit dem Gordon Chinas +und des Sudans zu thun habe. Weder sein Gespräch, noch sein Aussehen +verriet es. Als der Geistliche eines Tages in sein Zimmer trat, fand +er ihn über arabischen Dokumenten. »Das sind Todesurteile,« sagte +Gordon aufsehend. »Todesurteile! ei, wer sind Sie denn?« rief der +Geistliche fast entsetzt. »Wissen Sie das nicht?« entgegnete er ruhig; +»ich war Generalgouverneur vom Sudan, und bin es noch dem Namen nach; +indem ich nun diese Schriftstücke unterzeichne, ist's damit zu Ende.« +Gordon stand damals in seinem achtundvierzigsten Jahr.</p> + +<p>Nach London zurückgekehrt bot sich ihm neue Arbeit an. Die +Leute trauten ihren Ohren nicht, als sie hörten, der gewesene +Generalgouverneur vom Sudan hätte die Stelle eines Privatsekretärs +unter dem neuernannten Generalgouverneur von Indien, Lord Ripon, +angenommen. Daß er damit sozusagen vom Herrn zum Diener wurde, das +war, sofern es Gordon betraf, nicht das Erstaunliche, denn er schätzte +eine Stellung überhaupt nur, insoweit sie ihm einen Wirkungskreis bot, +Gutes zu schaffen; aber es war ein verfehlter Schritt, und bald genug +sollte er das selbst einsehen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»In einer schwachen Stunde,« schrieb er, »hatte ich die Stelle +angenommen. Aber kaum war ich in Bombay gelandet, so sah ich auch, +daß ich auf einem solchen unverantwortlichen Posten nicht hoffen +konnte, einen guten Zweck zu erreichen. Überdies war es mir alsbald +klar, daß meine Ansichten mit denen der übrigen Beamten durchaus +nicht harmonierten, und so legte ich die Stelle nieder ... Es war +besser, die Sache rasch vom Zaun zu brechen, noch ehe ich<span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span> von +Staatsgeheimnissen Kenntnis erhielt, die mich unter diesen Umständen +nichts angingen. Ich hätte ja freilich ein paar Monate bleiben können +und dann einen bösen Finger oder sonst was kriegen, was meinen +Abschied motiviert hätte. Aber die übernommene Arbeit war mir eine so +verhaßte, daß es besser war, sie sofort niederzulegen, um so mehr, +als das Urteil der Welt mir ganz gleichgültig ist ... Es gehört mit +zu den Geheimnissen der Vorsehung, daß wir Menschen manchmal (in +gutem Glauben) Schritte thun und sie alsbald bereuen; so ging es mir, +indem ich diese Stelle annahm.«</p> +</div> + +<p>Die wahre Erklärung ist die, daß ihm klar wurde, er werde sich nie mit +einer Verwaltung einigen können, die dem reichen Indien große Schätze +entzieht, ja fürstliche Gehälter für englische Beamten, während über +Millionen Hindu ein übers anderemal Hungersnot hereinbricht. Mit +derlei Regierungsresultaten konnte er »durchaus nicht harmonieren«. +Er hat übrigens mit dem ihm eigenen Humor folgendes als Grund seines +Rücktritts angegeben: »Wie kann ich einen Posten bekleiden, auf dem +fortwährend Toilette zu machen ist — Frack zu Festessen, Frack zu +Soireen, Frack zu Bällen, Frack und Orden, Orden und Frack — kein +Wunder, daß ich davonlief!«</p> + +<p>Er beschäftigte sich als nächstes mit dem Gedanken, sich nach Sansibar +einzuschiffen, um den dortigen Sultan zu einem Unternehmen gegen die +Sklavenhändler zu bewegen, als ihm eine Aufforderung von seinen alten +Freunden in China zuging, sie zu besuchen. Das Telegramm lautete: +»Bitte, kommen Sie und urteilen Sie selbst. Es ist eine Gelegenheit +Gutes zu thun, die benutzt werden sollte. Arbeit, Stellung, +Bedingungen lassen sich gewiß zu Ihrer Befriedigung ordnen, wenn Sie +hier sind. Nehmen Sie sechs Monate Urlaub und kommen Sie!« Die Antwort +des »ungekrönten Königs« war seiner würdig:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Gordon kommt mit erster Gelegenheit nach Shanghai — Bedingungen ihm +gleichgültig.«</p> +</div> + +<p>Seine Regierung zögerte mit dem Urlaub, da man nicht recht wußte, +was zu Grunde lag. Hierauf erklärte er dem Kriegsministerium seinen +Wunsch, aus englischen Diensten entlassen<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> zu werden, und schiffte +sich nach Hongkong ein. Er wußte selbst nicht, was er in China etwa +für Arbeit finden würde — es war eine Zeit drohender Feindseligkeiten +zwischen den Chinesen und Russen — das aber wußte er und hatte +es auch seiner Eingabe beigefügt, daß er Friede und nicht Krieg +zu befürworten gedachte. Endlich gewährte man ihm den gewünschten +Urlaub und gab ihm sein Entlassungsgesuch zurück. In Petersburg +war die Aufregung nicht gering, als es bekannt wurde, daß der +»Chinesen-Gordon« nach China unterwegs sei. <em class="gesperrt">Der</em> Mann war ja +eine bedenkliche Verstärkung des Feindes.</p> + +<p>In China traf Gordon mit seinem alten Kampfgenossen, dem Staatsmann +Li, zusammen und ließ sich die Sachlage von ihm erklären. Da schien +es ihm abermals das allein Richtige, seine Stellung als englischer +Offizier niederzulegen, um zu Rat und That freie Hand zu haben. Er +telegraphierte nach London:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Nach Unterredung mit Li-Hung-Tschang wünscht derselbe mein +Hierbleiben. Ich kann China in dieser Krisis nicht im Stich lassen +und wünsche Freiheit, nach Gutdünken zu handeln. Ich bitte daher mein +Abschiedsgesuch zu gewähren.«</p> +</div> + +<p>Sein Aufenthalt in China war zwar ein kurzer, aber lang genug, +um nicht nur jenem Land, sondern einem ganzen Weltteil einen +unschätzbaren Dienst zu leisten; denn ihm ist es zu verdanken, daß +ein Völkerkrieg zwischen Rußland und China nicht zum Ausbruch kam. Er +war ein Militärgenie, wie es wenige giebt; er hatte es aber längst +gelernt, kriegerische Ehren für nichts zu achten, und freute sich, +einen Einfluß zu besitzen, der einem großen Land den Frieden erhielt. +Er hinterließ außerdem den Chinesen allerlei guten Rat; man hatte dort +nicht vergessen, was man diesem Manne verdankte, und hörte ihn gern. +An Li hatte er jetzt seine Freude. Dieser hatte seit der Taipingszeit +Gordons gute Meinung gerechtfertigt und sich als einen der tüchtigsten +Berater der Regierung im blumigen Land erwiesen. Und was China seither +an Fortschritt erreicht hat, ist sein Werk. Als er den Mann wieder +sah, von dem er so viel gelernt hatte, fiel er ihm um den Hals und +küßte ihn. Der stets siegreiche General ist seither aus dem Kampf +dieser Welt in den »großen Frieden«<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> hinübergegangen, in China aber +ist sein Einfluß, wie Li in jenem Brief sagte, mit seiner Person nicht +verschwunden.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h2 id="Siebentes_Buch">Siebentes Buch.<br> +<span class="s5"><b>Bei den Basuto.</b></span></h2> +</div> + +<p>Im Winter 1881 finden wir Gordon wieder in England. Die +Zeitungsschreiber fingen an sich zu wundern, was man wohl als nächstes +von ihm hören werde. Das Kriegsministerium hatte auch sein zweites +Entlassungsgesuch nicht angenommen. Er hätte am liebsten schon damals +einen langgehegten Plan ausgeführt und sich im heiligen Lande eine +Zeit der Ruhe gegönnt, aber noch lagen andere Dinge dazwischen. Es +war das Jahr der irischen Wirren. Er machte einen Besuch auf der +Schwesterinsel und fand, daß die niederen Volksschichten daselbst — +aus was für Ursache war ihm gleichgültig — elender und verkommener +sind als die Armen irgend eines andern ihm bekannten Landes. Der +hoffnungslose Zustand Irlands schnitt ihm ins Herz. Mit seiner +gewohnten Freimütigkeit veröffentlichte er seine Ansichten in der +Times, die von dem Gedanken ausgingen, daß eine Nation, die s. Z. +vierhundert Millionen Mark für die westindischen Neger erübrigen +konnte, ein ähnliches für die Irländer zu thun im stande sein dürfte. +Seine an sich höchst beachtenswerten Vorschläge waren aber viel zu +opferwillig, als daß sie den maßgebenden Kreisen eingeleuchtet hätten. +In gewohnter Weise leerte er seinen eigenen Beutel in Irland und mußte +sich von einem Bekannten in Dublin zur Rückreise nach London aushelfen +lassen.</p> + +<p>Um diese Zeit erreichte eine Todesnachricht England, die ihn tief +betrübte: am 30. April 1881 war Romulus <em class="gesperrt">Gessi</em> im französischen +Spital zu Suez nach längerem Leiden gestorben. Der tapfere Italiener +war ein Opfer des Landes geworden, für das er mit Gordon sein Leben +eingesetzt hatte. Kehren wir für einen Augenblick in die Bahr el +Ghasal zurück. Nachdem Gessi dort<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> den Sklavenhändlern den Garaus +gemacht hatte, blieb er daselbst als Statthalter. Nun das Greuelwesen +unterdrückt war, konnte er das fruchtbare Land einen Garten nennen. +Die Schwarzen hielten sich zu ihm und Land und Leute schienen sich +von dem Jammer zu erholen. Gordons Nachfolger in Khartum aber, kein +anderer als jener berüchtigte Rauf, den Gordon früher wegen Tyrannei +zweimal gezüchtigt hatte und in welchem die ägyptische Regierung +ihren Ersatzmann zu erblicken schien, als sie Gordon verlor, machte +es ihm unmöglich, in seiner Stellung zu verbleiben. Am 25. September +1880 legte er sie nieder, als gerade ein Dampfer die Reise nilabwärts +unternahm. Lassen wir ihn das entsetzliche Ende selbst erzählen:</p> + +<p>»Zu spät sah ich meine Thorheit ein. Die Grasverstopfungen im Nil +hatten sich aufs neue angehäuft, und das Boot war der schweren Arbeit, +sich durch den Ssett zu ringen, nicht gewachsen. Die Maschine war +eine schwache, nur vierzig Pferdekraft, und durch die Nachlässigkeit +des Kapitäns war sowohl der Holzvorrat als die Zahl der Matrosen +viel zu gering. Die vorhandene Nahrung war für fünfundzwanzig Tage +berechnet, wir waren drei Monate unterwegs; fünfhundertsechzig Seelen +waren an Bord, und obgleich wir Tag und Nacht arbeiteten, war an kein +Vorwärtskommen zu denken. Die Nahrung ging zu Ende. Meine Soldaten +wurden mutlos; weithin nichts als Sümpfe, und Hungersnot in der +schrecklichsten Lage war unser Los. Es waren einige Sklavenhändler +an Bord, die ich sehr gegen ihren Willen nach Khartum mitnahm; diese +verbreiteten die Nachricht, daß ich sechzig Säcke voll Korn versteckt +hielte; ich konnte die Soldaten nur heißen, das Schiff durchsuchen +und essen was sie fänden. Dann behaupteten die Händler, ich hätte +das Korn (vor der Abfahrt) verkauft; Drohungen wurden laut, und von +da an ging ich nur mit geladener Pistole umher. Die Hungersnot nahm +zu. Zuerst wurden die Lederüberzüge der Betten gegessen und dann +das Schuhwerk. Im Fluß fand sich hie und da eine nahrungshaltige +Pflanze, aber leider in geringer Menge. Und zuletzt nährten sich die +Lebendigen von den Toten. Was mich am Leben erhielt, war zuweilen +ein Fisch, den meine Diener mit einem gebogenen Draht<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> fingen. Ein +Nugger begleitete uns, und so lange der Besitzer desselben Nahrung +hatte, teilte er sie großmütig mit mir. Gern wären wir zurückgekehrt, +aber vor uns und hinter uns hatte der Wind die entsetzlichen Massen +zusammengetrieben, und weithin war durch heftigen Regen das Land ein +See. Das Holz gebrach und wir verbrannten ein Boot. Der Tod lichtete +unsere Reihen täglich; zuerst starben die Kinder, dann die Weiber. Der +Truppenbefehlshaber schloß sich in seine Kajüte ein und erwartete sein +Schicksal. Niemand wollte mehr arbeiten; nur der Kapitän, zwei Heizer, +vier Matrosen und der Steuermann unterstützten mich noch. Langsam +brachten wir das Schiff vorwärts, aber es war wenig genug, was wir mit +ausgehungertem Körper leisten konnten. Soweit das Auge reichte, saß +das Boot wie in einer dichten Wiese fest. Überall um uns her lagen die +Toten; niemand rührte einen Finger, die Leichen zu entfernen. Die Luft +war verpestet und das Wasser auch. Aasvögel waren unsere Gäste. Von +den fünfhundertfünfzig Seelen, welche die Reise antraten, waren nach +zwei Monaten noch hundert übrig — hundert Skelette, nicht menschliche +Körper. Am letzten Tag des Jahres machte ich mein Testament und +legte es auf den Tisch in meiner Kajüte. Nach zwei Tagen hörte ich +Schüsse, es war ein Signal des Dampfers »Bordeen« von Khartum. +Unsere Abreise dorthin war telegraphisch gemeldet worden; aber der +Generalgouverneur besann sich lang, bis er uns Hilfe entgegenschickte. +Der »Bordeen« hatte eine tüchtige Maschine und schleppte uns bald +durch den Ssett. Auf dem uns erlösenden Dampfer fanden wir eine Bande +von Sklavenhändlern, die landaufwärts wollten, um aufs neue ihre +Menschenjagd zu beginnen: neues Elend, Raub, Mord und Qualen jeder Art +erwartete die armen Stämme, die kaum angefangen hatten, aufzuatmen. +Um ein bißchen Elfenbein zu erlangen, sollte wieder Blut in Strömen +fließen. An einer Station fanden wir eine Herde gestohlener Ochsen +und tausend Sklaven. Die Händler, die sich wie Heuschrecken von allen +Seiten her einfanden, kauften die Armen und trieben sie vor sich her.«</p> + +<p>Gordon wußte nur zu gut, daß menschlich geredet sowohl er als Gessi +vergeblich gearbeitet hatte. Auf seinem Weg nach<span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span> Mauritius kehrte er +in Suez ein und besuchte das Grab seines Kampfgenossen.</p> + +<p>Gordons nächster Aufenthaltsort nämlich war die Insel Mauritius; er +begab sich dahin als Ingenieur-Kommandant. Einer seiner Mitoffiziere +war zu dem Posten ausersehen, fand sich aber aus Familienrücksichten +bewogen, einen Ersatzmann zu suchen, was nicht gegen die englische +Militäreinrichtung verstößt. Jeder andere hätte sich mit der auf diese +Weise übernommenen Stelle einer schönen Geldentschädigung erfreut. +Gordon machte hiervon eine Ausnahme; ihm genügte es, einem andern +einen Gefallen zu erweisen. Die zehn Monate, die er auf der schönen +Insel verbrachte, waren äußerlich eine stille und friedliche Zeit für +ihn. Berufsmäßig machte er verschiedene Vorlagen zur Beherrschung des +indischen Ozeans. Er besuchte die Seyschellen, deren Schönheit ihn so +entzückte, daß er schrieb: »Ich habe den Ort gefunden, wo einst der +Paradiesgarten war!« Seines Erachtens sind diese Inseln die Überreste +eines versunkenen Landes. Im März 1882 wurde er Generalmajor, und im +folgenden Monat begab er sich ans Kap.</p> + +<p>Die Verbindung zwischen der Insel Mauritius und der Kapstadt ist +keine sehr rege, aufs nächste Passagierboot hätte er wochenlang +warten müssen, das paßte nicht in Gordons Plan, er benutzte deshalb +ein kleines Frachtsegelschiff, das zufällig in Mauritius vor Anker +lag. Von dieser Reise, die einen vollen Monat in Anspruch nahm, +liegt ein hübscher Bericht vor. Der Kapitän, ein Schotte, führte ein +Tagebuch, in welchem allerlei Charakteristisches über Gordon seine +Stelle fand. So z. B. war Gordon, der sich auf vier Uhr nachmittags +angesagt hatte, erst um Mitternacht erschienen; er habe erfahren, +sagte er, daß man ihm in der Stadt ein Abschiedsfest zugedacht +hatte, er hasse dergleichen, habe daher am Morgen einen heimlichen +Ausflug aufs Land unternommen und sei erst bei Nacht und Nebel +zurückgekehrt. Am andern Vormittag war der zur Abfahrt sich richtende +Schoner nichtsdestoweniger von Gordons Freunden umlagert, die ihn +nicht fortließen, ohne ihm Lebewohl zu wünschen, und zwar waren diese +»Freunde« keineswegs nur seine Mitoffiziere oder Notabilitäten<span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span> +der Stadt, vielmehr Arme, denen er gewohntermaßen Gutes gethan, +und Kinder! Unter den Kleinen, die ihm da ihre Anhänglichkeit +bekundeten, war ein Büblein, das Gordon der Schiffsmannschaft +als »mein Lieblingsschäfchen« vorführte. Das Bübchen brachte dem +berühmten Mann als Abschiedsgabe zwei Flaschen Wein, die Gordon mit +dem freundlichsten Lächeln von der Welt annahm, aber nicht selbst +trank; er soll selten ein Glas Wein getrunken haben. Kindern und +großen Kindern, d. h. Eingebornen, hat er allem nach seine beste Liebe +zugewandt. Der Generalgouverneur von Sudan hat sich mehr denn einmal +unter seine Schwarzen auf den Boden gesetzt und mit Thränen in den +Augen angehört, was sie ihm aus ihrem Leben erzählten. Kein Wunder, +hatte er solche Macht über sie! Einer englischen Dame, die er einst +in ihrer Kinderstube traf, sagte er: »Sie können wohl nichts im Leben +schwer nehmen mit diesen kleinen Geschöpfen um Sie her.« Man fragt +unwillkürlich, warum ging dieser Mann <em class="gesperrt">allein</em> durchs Leben? Die +Gattin des Kapitäns auf jener Reise, die ihren Mann auf seinen Fahrten +begleitete, wagte eines Tages die Frage an ihren Gast, warum er sich +denn nicht verheiratet habe. Gordon schwieg ein paar Augenblicke, +dann sagte er langsam: »Ich habe nie eine kennen gelernt, die aus +Liebe zu mir bereit gewesen wäre, die Annehmlichkeiten des heimischen +Herdes und vielleicht liebe Verwandte zu verlassen, um mich dahin +zu begleiten, wohin die Pflicht mich ruft, vielleicht mit raschem +Entschluß ans Ende der Welt, eine, die bereit gewesen wäre, Gefahren +und Schwierigkeiten mit mir zu teilen, vielleicht mich zu stärken in +Stunden der Not. Solch eine habe ich nie kennen gelernt, und nur eine +solche könnte mein Weib sein!«</p> + +<p>Darauf ist nichts weiter zu sagen.</p> + +<p>Gordon litt sehr an Seekrankheit auf dieser Reise, und wollte +mehrmals ans Land gesetzt sein. Der Kapitän schreibt darüber in sein +Tagebuch: »Wie viel verschiedene Arten von Mut muß es doch geben!« +Ihn wunderte, daß den tapfern Gordon, doch gewiß ein mutvoller Mann +sondergleichen, die Seekrankheit so anfocht. Nach überstandenem Jammer +war es aber wieder Gordon, welcher aller Herzen auf dem Schiff gewann, +der kranken Matrosen wartete<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> (es gab allerlei Krankheit an Bord) +ihnen vorlas und Stückchen aus seinem Leben erzählte. Dem Kapitän +gestand er eines Tags, tausend Mark sei zur Zeit sein ganzer irdischer +Besitz, und diese Summe hatte er dem Schotten angeboten, wenn er den +Kurs ändere und ihn ans Land setze. Unter seiner »fahrenden Habe« +befand sich eine Kiste, über deren Inhalt der Kapitän und seine Frau +vergeblich sich den Kopf zerbrachen: sie war voll Holz »vom Baum der +Erkenntnis des Guten und Bösen«, wie Gordon gelegentlich versicherte; +auf den Seychellen-Inseln wachse nämlich ein merkwürdiger Baum, +der sonst auf der ganzen Welt nicht anzutreffen sei, das müsse der +Baum des Paradieses sein. Die Stücke Holz, die er mit sich führte, +schätzte Gordon darum über alles! Diese zuversichtliche Idee wird +seinem »wahren Gottesdienst« keinen Eintrag gethan haben. Die +Schiffsmannschaft, die an jener Kiste ungläubig vorüberging, sah +Gordon auch mit seiner Bibel auf Deck, oft stundenlang in Gedanken +versunken, den Blick wie träumend aufs weite Meer geheftet. In solchen +Stunden wird das in ihm gewachsen sein, was ihn zum mutvollen Mann und +Helden von Khartum gemacht hat.</p> + +<p>Das südafrikanische Stück seiner Laufbahn ist als ein fruchtloses +bezeichnet worden, aber mit Unrecht; es sind nicht immer die äußeren +Erfolge, die den Wert einer Sache ausmachen. Der selbständige und +selten großmütige Charakter des Mannes tritt nie klarer zu Tag, als in +diesen kurzen Monaten seines sogenannten Mißlingens.</p> + +<p>Es ist bekannt, daß die Engländer seit einer Reihe von Jahren sich +sowohl mit den Boeren als auch mit den Eingebornen von Südafrika +überworfen hatten; verschiedene Kriege sind die Folge gewesen. Es +war besonders einer derselben, der Gordons Interesse erregte. Schon +im Frühjahr 1881 telegraphierte er an den Minister des Kaplandes: +»Der ›Chinesen-Gordon‹ bietet seine Dienste auf zwei Jahre an, um +Basutoland zu beruhigen,« d. h. den Krieg zu beendigen und die Basuto +im Wege der Verwaltung zu friedlichen Verhältnissen zurückzubringen. +Dieses Anerbieten blieb vorläufig unbeantwortet. Ein Jahr vorher +hatte die Regierung ihm die Befehlshaberschaft der Kaptruppen mit +einem<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span> Gehalt von dreißigtausend Mark angeboten, welchen Posten er +als einen rein militärischen abgelehnt hatte. Im Frühjahr 1882 nun, +als die Lage im Basutoland zu einer ernsten sich gestaltet hatte, +sprach man ihm telegraphisch den Wunsch aus, sein Anerbieten annehmen +zu wollen. Lediglich im Gedanken, daß er Gutes wirken könnte, +war er alsbald bereit, sich den Basuto zu widmen, und setzte mit +charakteristischer Selbstlosigkeit seinen Gehalt auf etwa die Hälfte +der angebotenen Summe herunter, »weil die Verhältnisse des Kaplandes +mehr nicht rechtfertigten!« Als er aber nach seiner unerquicklichen +Segelschiffreise die Kapstadt betrat, übertrug man ihm gerade jenen +Oberbefehlshaberposten über die Kolonialtruppen, den er zwei Jahre +vorher von England aus abgelehnt hatte, während er doch gekommen war, +sich der Basutofrage anzunehmen. Es scheint, daß ein anderer damit +beschäftigt war, die Angelegenheiten der Basuto zu verwalten oder +mißzuverwalten, und daß die Regierung den Mut nicht hatte, jenen +andern zu entfernen. Gordon ließ sich's in der Hoffnung gefallen, daß +die Umstände ihm den Weg bahnen würden. Es dauerte auch nicht lange, +so gestaltete sich die Grenzlage zu einer so drohenden, daß man ihn +beauftragte, sich durch eigene Anschauung hinsichtlich der Überfälle +der Boeren und der Unruhen im Basutoland zu orientieren. Das war im +Juni.</p> + +<p>Die Basuto sind ein interessanter Zweig der Kafferrasse, und zwar +der volkreichste und vorgeschrittenste, letzteres aus dem einfachen +Grund, weil das Christentum bei ihnen Eingang gefunden hat. Vor etwa +fünfzig Jahren hatte der Stamm einen Oberhäuptling Namens Moschesch, +auch »Herr des Berges« genannt, weil er einen Berg mit einer kleinen +Festung versehen hatte, die ihm und seinen Getreuen als Zuflucht +im Krieg dienen sollte. Die andern Stämme und selbst seine eigenen +Häuptlinge verwickelten ihn oft in Kämpfe; er selbst aber, obschon +tapfer und furchtlos, war ein friedliebender Mann. Er hatte von +<em class="antiqua">Dr.</em> Moffat und anderen Missionaren gehört, die in benachbarten +Gegenden und besonders unter den Korannas arbeiteten, welcher Stamm, +von Natur ein kriegerischer, sich neuerdings friedlich verhielt. +Da schickte er dem Häuptling der Korannas eine Anzahl Ochsen zum<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> +Geschenk mit der Bitte, ihm dafür »einen Beter zu senden, der die +Basuto in der Religion unterrichten könne, welche die Leute friedlich +stimme.« Evangelische Missionare aus Paris, die nicht lange vorher in +Südafrika angekommen waren und einen Wirkungskreis suchten, hörten +davon und besetzten das neue Arbeitsfeld. Moschesch empfing sie mit +Freuden und bestimmte selbst den Platz für ihre erste Station, am Fuß +seines Festungsberges. Moschesch lebte bis 1870. Vor seinem Scheiden +glaubte er Anzeichen einer besseren Zukunft für sein Land und Volk zu +erblicken. Eins seiner letzten Worte an die Missionare war: »Lasset +mich zu meinem Vater gehen, ich bin schon ganz bereit dazu!« Sein +letzter Wille lautete: »Laßt die Missionare nicht müde werden, mein +Volk zu unterrichten, besonders aber meine Söhne.«<a id="FNAnker_14" href="#Fussnote_14" class="fnanchor">[14]</a></p> + +<p>Schon vorher hatten sich die Basuto im Pitso (jährliche +Volksversammlung) mit Begeisterung für »unsere Mutter die Königin +von England erklärt.« Man kann es nur bedauern, daß die britische +Kolonialpolitik dieses Volk gegen seinen Willen von der Kapstadt +aus regiert haben will. Sie hatten sich freiwillig der englischen +Regierung unterstellt unter Vorbehalt ihrer Rechte. Sie entrichteten +eine Kraalsteuer und waren es zufrieden, daß britische Beamten im +Land weilten. Indem aber ihr Wohlstand wuchs und ihre Zahl zunahm, +verdoppelte und verdreifachte sich die Steuer; anstatt nun den +Ertrag derselben zum Besten des Landes zu verwenden, bereicherte +derselbe vertragswidrig den Säckel der Kapregierung. Aber das allein +war's nicht, was die Basuto aufbrachte. Bekanntlich sind vor etwa +zwanzig Jahren ergiebige Diamantenfelder in Südafrika entdeckt +worden. Die Basuto strömten herzu, um als Taglöhner in den Gruben +zu arbeiten; statt in Geld bestand ihre Löhnung aber in Flinten +und Schießbedarf,<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> ohne Zweifel ausgediente Militärwaffen, welche +die Eigentümer der Felder billig gekauft hatten. Die Kapregierung +wußte um diese Waffenverbreitung, ja sie hatte dieselbe genehmigt. +Auf diese Weise erlangten die Basuto beträchtlichen Kriegsbedarf. +Nach zehn oder zwölf Jahren entdeckte die Kapregierung das Mißliche +dieser Sache und erließ ein Entwaffnungsgesetz, die Basuto sollten +die Waffen ausliefern, welche sie durch ihrer Hände Arbeit und mit +dem Vorwissen der Regierung redlich erworben hatten! Es war eine +Ungerechtigkeit sondergleichen, und die Basuto verweigerten den +Gehorsam. So verwickelte sich die Kapregierung in einen Krieg, an +dem sie allein die Schuld trug und in welchem sie einen Vorteil +fürs nächste nicht erringen konnte. Das war die Sachlage, als sie +Gordon berief, der wie überall so auch hier mit seinem gerechten Sinn +alsbald auf den Grund sah. Er verfaßte einen Bericht, in welchem er +es unumwunden als seine Meinung erklärte, daß die Basuto weniger zu +tadeln wären als die Kapregierung; diese habe vor allen Dingen ihr +Unrecht gut zu machen und dann erst könne sie die Basuto zum Frieden +mahnen; übrigens liege der Hauptfehler darin, daß man die Basuto gegen +ihren Willen der unmittelbaren Regierung Englands entzogen und sie +der mittelbaren der Kapregierung unterstellt habe. Er schlug vor, +diesen Fehler dadurch gut zu machen, daß man die Basuto-Häuptlinge +zusammenberufe und die Bedingungen ihrer Unterwerfung unter die +Kapregierung mit ihnen berate. Außerdem riet er dringend, die loyale +Gesinnung der Basuto dadurch zu ehren, daß man ihnen das Bewußtsein +der unmittelbaren Verbindung mit England zu erhalten suche, indem +man einen Bevollmächtigten der britischen Krone in Basutoland wohnen +lasse. Man gab ihm keine Antwort.</p> + +<p>Die Mißhelligkeiten zogen sich hin, aber Gordons wärmste Teilnahme war +auf Seite der »feindlichen« Eingebornen, wie aus folgender Depesche +ersichtlich ist:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es ist mir unmöglich, gegen Stämme zu kämpfen, gegen die +meines Erachtens ungerecht verfahren wird. Der Sekretär für die +Angelegenheiten der Eingebornen hat das Unrecht zugestanden, aber ein +solches Zugeständnis allein genügt meinem Gewissen nicht.«</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span></p> + +<p>Es kann hiernach nicht wunder nehmen, daß Gordon nach wenigen +Monaten seine Stelle niederlegte. Ehe er jedoch vollständig mit der +Kapregierung brach, wurde er aufgefordert, als <em class="gesperrt">Privatmann</em> nach +Basutoland zu gehen und mit dem Häuptling Masupha zu verhandeln. Er +nahm die Sendung an und ging allein und unbewaffnet. Daß er unversehrt +zurückkam, ist ein Wunder; denn während Gordon als Friedensbote bei +den Basuto verweilte, benutzte ein Kapminister die Gelegenheit, +einen andern Häuptling gegen Masupha aufzuhetzen. Es ist lediglich +Gordons persönlichem Einfluß zuzuschreiben, mit dem er stets das volle +Vertrauen der Eingebornen zu gewinnen wußte, daß er aus dieser Lage +unversehrt hervorging. Masupha sah, daß sein Gast an diesem Verrat +keinen Anteil hatte, und ließ es ihn nur mit verdoppelter Hochachtung +entgelten. Wenn solche Dinge in Südafrika seitens der Regierung +vorfallen, dann kann man sich nur mit Gordon auf Seite der Eingebornen +schlagen. Daß er daraufhin seinen Abschied einsandte und bei seiner +Abreise nach England die Kapstadt links liegen ließ, ist nicht mehr, +als von ihm zu erwarten war.</p> + +<p>Als Beweis, wie wichtig es ihm erschien, die Basuto auf +freundschaftlichem Wege bei ihrer Loyalität zu erhalten, bot er sich +selbst an und war willens, sich zwei Jahre lang um den geringen Gehalt +von sechstausend Mark bei dem Häuptling Masupha niederzulassen. Es war +ein Opfer der Uneigennützigkeit, dessen man jedoch entbehren zu können +glaubte. Zum Schluß noch seine Abschiedsrede an die Basuto, die ihn +durchaus als den gebornen Beherrscher von Eingebornen, ja als einen +Hirten der schwarzen Herde kennzeichnet:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Als ein Freund der Basuto bin ich hier; ich habe mich als ihr Freund +erwiesen, denn als man mich als Feind schicken wollte, um sie zu +bekämpfen, weigerte ich mich zu kommen. Nun ich aber hier bin, möchte +ich den Basuto Gutes thun. Die Basuto sind zum Rechten geneigt. Ich +frage den Häuptling und sein Volk: Wie kann Basutoland für die Basuto +erhalten bleiben? Und ich sage, daß die (britische) Regierung es +wohl meint mit dem Land. Die Königin wünscht nicht, daß die Kolonie +den Basuto ihr Land<span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span> nehme; aber sowohl die Kolonie, als die Königin +fürchten, daß die Basuto von den Boeren aufgegessen werden, wenn sie +sich von ihnen zurückzieht. Ich mag die Boeren gut leiden, sie sind +tapfer und wollen unabhängig sein; als sie kämpften, war es für ihre +Freiheit. England hätte sie schlagen können, aber es wäre unrecht +gewesen. Was aber glauben die Basuto, daß den Boeren lieber ist — +die Basuto oder ihr Land? Ihr Land meine ich wohl. Wenn nun die +Kolonie dieses Land sich selbst überließe, so hätten die Basuto bald +Not mit den Boeren und es gäbe Krieg. Ich blicke zehn Jahre voraus +und sehe boerische Anpflanzungen hier: das gefällt mir nicht, es +gefällt der Kolonie nicht, und der Königin nicht, und dem Basuto gar +nicht. Deshalb sage ich zu den Basuto: haltet euch an die Regierung. +Sagen die Basuto: Wir sind stark und können uns wehren und brauchen +niemand über uns, und wollen keine Steuern zahlen, so antworte ich: +mir persönlich ist es einerlei, ob sie Steuern zahlen oder nicht. Ich +kann sie nicht dazu zwingen. Aber mein Herz ist betrübt, wenn ich +an die Basuto denke. Ich sehe die Boeren hier, wie sie das Land an +sich reißen. Ich versetze mich in Masuphas Lage und frage mich: was +ist das Beste für mein Land und mein Volk. Ich weiß wohl, daß es in +Basutoland Leute giebt mit zwei Zungen. Ich aber denke, daß einer mit +<em class="gesperrt">einer</em> Zunge die Wahrheit spricht. Ich glaube, daß Gott euch +zu Christen gemacht hat. Ihr seid Schafe unseres Herrn Jesu und Er +hat euch lieb. Wenn die Boeren euch aus eurem Lande verdrängen, so +ist es mir kein Verlust und kann uns allen gleichgültig sein, sobald +wir einmal begraben sind. Darin aber wünsche ich, daß die Basuto mir +folgen. Habt alle nur <em class="gesperrt">eine</em> Zunge. Ich kann mich nicht schwarz +machen; ich kann den Masupha und sein Volk nicht zwingen zu thun, +was mir gut scheint, ich überlasse es dem Herrn Jesus, der alles +recht macht. Das ist's, was ich euch sagen wollte: thut, was euch gut +dünkt, aber überlegt es wohl, und bittet Jesus um Rat.«</p> +</div> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> +<div class="chapter"> +<h2 id="Achtes_Buch">Achtes Buch.<br> +<span class="s5"><b>Gordons Christentum.</b></span></h2> +</div> + +<p>Eine Zeit der Ruhe war endlich für Gordon gekommen: er verbrachte sie +nicht »im Bett bis Mittag« und dann mit »Austernessen«,<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> wie er's im +Sudan einmal scherzweise als sein Ideal hingestellt hatte, sondern er +nahm seine Bibel und seine Meßinstrumente und ging nach Jerusalem, um +die Topographie der heiligen Stätten zu erforschen. Und zwar that er +dies ebenso sehr mit dem geschulten Auge des Ingenieurs, als mit dem +gläubigen Herzen des Christen. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen +waren originell, wie alles an diesem Mann. Seinen eigentümlichen +Ideen über Dinge, die er in Jerusalem gesehen, kann zwar nicht jeder +folgen; sie sind zum Teil absonderlich; der lebendige Glaube aber, der +dabei sein Herz erfüllt, ist ein leuchtendes Vorbild für uns alle. +Der Bischof von Derry sagt schön: »Gordon ist zwar kein berufsmäßiger +Theologe, aber er ist etwas viel Besseres; und ich meinesteils würde +mich scheuen, einen zu kritisieren, an dem ich in jeder Hinsicht nur +hinaufsehen kann, selbst wenn ich seiner Beweisführung nicht immer +vernunftmäßig beizutreten im stande bin. Er ist uns allen ein Vorbild +des Glaubens an den lebendigen Gott.«</p> + +<p>Vier Punkte waren es hauptsächlich, die Gordon beschäftigten; erstens +der wirkliche Ort der Kreuzigung; zweitens die Grenzlinie zwischen +den Stämmen Benjamin und Juda; drittens die Frage, wo die Hebroniter +wohnten, und viertens die Lage des Gartens Eden. Wie einer von Gordons +englischen Biographen treffend bemerkt, ist's der gläubige Christ +und der Mann vom Sappeur-Korps, den wir hier in einer eigentümlichen +Verschmelzung von Mystizismus und mathematischem Vermessungstrieb +begegnen; für den einsichtsvollen Kritiker ist es interessant, Gordons +originellen, wenn gleich etwas seltsamen Gedanken zu folgen. Wir +begnügen uns mit nachgehendem von mehr allgemeinem Wert.</p> + +<p>Gordon hat in Palästina fleißig mit der Feder hantiert und im Laufe +eines Jahres mehrere Tausend Briefseiten nach England geschickt. +Etliche seiner Freunde, insbesondere jener Geistliche, den er in +Lausanne kennen gelernt hatte, stellten dann aus diesen Briefen ein +Büchlein: »Betrachtungen in Palästina« (London 1884) zusammen, das +mit seinem Wissen und Willen bald nach seiner Abreise nach Khartum +veröffentlicht wurde. Die Herausgabe des kleinen Buches war eine Art +Vermächtnis, denn es ist bekannt<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> geworden, daß Gordon die letzte +Reise nach Khartum mit dem bestimmten Vorgefühl antrat, er werde +England nicht wieder sehen. Von dem Büchlein hoffte er, es möchte +»manchen Gläubigen zu neuen Gedanken anregen und dazu beitragen, +daß Gottes Wohnungmachen in uns mit mehr Klarheit erfaßt werde. +Das ist das große Geheimnis (Ps. 25). Er schuf uns, um ein Haus — +einen Tempel — zu haben, in dem Er wohnen kann. Ohne uns ist er +wohnungslos. Er bedarf unser, und wie sehr bedürfen wir seiner! Es ist +mir ein Trost in meiner Schwachheit hier (in Khartum 3. März 1884) +zu wissen, daß Er alles leitet, und es ist die reinste Meuterei, im +Herzen oder gar mit der That gegen Seine Führung sich aufzulehnen. +Möge Sein Name verherrlicht werden; möge dieses arme Volk hier +gesegnet und getröstet werden; möge ich selbst gedemütigt werden, +damit ich die Gegenwart Seines Geistes in meinem Herzen um so gewisser +erfahren darf! Das ist mein ernstliches Gebet.«</p> + +<p>Gordon ging weiter als die meisten Christen, die sozusagen damit +zufrieden sind, daß Christus für sie genug gethan hat. Er suchte +Wachstum und fand die Heiligung in der Gemeinschaft mit Gott in +und durch Jesus. Daher erkannte er in den Sakramenten den von Gott +verordneten Weg, dieses große Ziel zu erreichen. Nicht, daß er in +der heiligen Taufe und im heiligen Abendmahl den <em class="gesperrt">einzigen</em> Weg +erblickte, auf dem Gottes Gnade dem Sünder zu teil werden kann, aber +er verkündet ihren hohen Wert als wesentliche Bestandteile des Heiles +und des christlichen Glaubenslebens. Ihm steht es fest, daß jeder +Christ, Mann, Weib oder Kind, zur Priesterschaft Gottes berufen ist, +und daß die Glieder der wahren Gemeinde selbst vor den Engeln durch +die Gegenwart des heiligen Geistes ausgezeichnet sind, ja, daß sie wie +beim Pfingstfeste des heiligen Geistes voll werden können.</p> + +<p>Was die nachfolgende Übersetzung von Gordons Ansicht über die +Sakramente anlangt, so machen wir nochmals darauf aufmerksam, daß +wir es mit einem Teil der aus seinen Briefen zusammengestellten +»Betrachtungen« zu thun haben, also mit seinen eigenen von Freunden +zusammengetragenen Worten. Er ist daher nicht gerade für die +Zusammenstellung verantwortlich, doch hat<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> er von Khartum aus die +ihm mitgeteilten Korrekturbogen gebilligt. Aus diesem Grund ist das +Nachstehende auch nicht als eine erschöpfende Betrachtung anzusehen, +wohl aber sind es tiefe Gedanken, die für den deutschen Leser um so +merkwürdiger sind, als weder die Wiedergeburt in der heiligen Taufe, +noch die wirkliche Gegenwart des Leibes und Blutes Jesu Christi im +heiligen Abendmahl im allgemeinen von den englischen Christen geglaubt +wird.</p> + +<h3>Die heilige Taufe.</h3> + +<p>Die Taufe geht dem heiligen Abendmahl voraus; ihr Vorbild muß daher +auch in der Geschichte der ersten Menschen dem Essen der verbotenen +Frucht voraus gehen.</p> + +<p>Das Essen des Leibes und Blutes (Brot und Wein) im Sakrament dient +zur Ernährung und Belebung des neuen Menschen. Es bedingt sichtbare +Gestalt und äußerliche Handlung. Es schließt ein die Handlung eines +Wiedergeborenen. Die Taufe wird Wiedergeburt genannt. Sie ist das +Siegel der Einverleibung in den Leib Christi, die Kirche; sie wird +auch ein Begrabenwerden und Auferstehen genannt, ein Ablegen des +fleischlichen Leibes (Kol. 2, 11-12).</p> + +<p>Adams Geschichte besteht aus Geschaffenwerden, Essen, Tod. Die +heilenden Sakramente, Taufe und Abendmahl, sind die Fortsetzung dieser +Geschichte. Nach dem Genuß der verbotenen Frucht war der Mensch tot in +Übertretung und Sünde, von Gott getrennt und daher der innewohnenden +Gegenwart des heiligen Geistes verlustig. Die Taufe ist das Sakrament, +das den toten Menschen belebt — seine Auferweckung; der Genuß des +Abendmahls erhält ihn am Leben.</p> + +<p>Durch das verbotene Essen verfiel der Mensch dem Tode; die Taufe +erweckt ihn aus dem Tode und das heilige Abendmahl nährt ihn vom Baum +des Lebens.</p> + +<p>In der Taufe wird ein Element — Wasser — eine materielle Substanz +mit des Menschen Leib in äußerliche Berührung gebracht; im Abendmahl +werden die Elemente, Brot und Wein, in des Menschen Leib aufgenommen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span></p> + +<p>Im Essen liegt die Verbindung des heiligen Abendmahls mit dem Baum der +Erkenntnis des Guten und Bösen.</p> + +<p>Im Wasser liegt die Verbindung der Taufe mit einem vorsündlichen +Ereignis, und dieses Ereignis ist die Schöpfung. Die Geschichte +des Menschen ist Geschaffenwerden, Essen, Tod; Auferstehung oder +Neuschaffung oder Wiedergeburt, Essen und ewiges Leben. In der +Schöpfung müssen wir daher die Erklärung der Taufe suchen. »Im Anfang +schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer und der +Geist Gottes schwebete auf den Wassern.«</p> + +<p>Durch das Wort Gottes wurde die Erde aus den Wassern gerufen. Das ist +die Schöpfung, und wie des Menschen Leib aus Erde gemacht ist, so darf +man sagen, daß er aus den Wassern hervorgerufen worden ist durch das +Wort Gottes, durch den heiligen Geist.</p> + +<p>Hierin liegt die Analogie zwischen der Schöpfung, dem Ruf ins Leben, +und der Taufe. Die Erde war tot sozusagen bis sie ins Leben gerufen +wurde. So ist der Mensch tot sozusagen bis er wiedergeboren wird. +Der Zustand der Erde vor der Schöpfung war ein <em class="gesperrt">toter</em>. Der +fleischliche Mensch ist <em class="gesperrt">tot</em>. Der Zustand der Erde vor der +Schöpfung war gleich dem Zustand des Menschen, als der Engel ihn aus +dem Garten trieb.</p> + +<p>Was Gottes Wort durch den heiligen Geist an der Erde vollbrachte, als +es wüste, leer und finster auf der Tiefe war, das muß am fleischlichen +Menschen vollbracht werden, ehe er leben kann. Durch den Ruf Christi +und die Arbeit des Geistes kommt er zur Erkenntnis, daß er in einem +Zustand der Sünde und Finsternis tot ist; und das äußere Zeichen +solcher Erkenntnis ist, daß er getauft, bildlich untergetaucht wird +ins Wasser, das seine Rückkehr ins Nichtssein bedeutet und somit die +Neuschaffung ermöglicht.</p> + +<p>Und wie die Erde einst mit Wasser bedeckt und tot war, so bedeckt die +Taufe den Menschen bildlich mit Wasser, um seinen Tod anzudeuten, um +öffentlich zu bezeugen, daß er den Tod als seinen Lohn anerkennt; und +wie die Erde als eine neue Schöpfung aus dem Wasser hervorging, so ist +der Mensch nach der Taufe<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> eine neue Kreatur und dazu geschickt, vom +Baum des Lebens im heiligen Abendmahl sich zu nähren.</p> + +<p>Ich sage damit nicht, daß die Taufe als äußerliche Handlung den +Menschen vom Tod errettet, wie ich auch nicht sage, daß das Abendmahl +einem andern als dem gläubigen Empfänger ein Genuß zum Leben ist. Die +Taufe ist ein Auferstehen vom Tod, und das Abendmahl ist ein Genuß +zum ewigen Leben. Die Taufe an sich macht den Menschen nicht zum +Christen. Wer nicht vorher ein Christ ist, der wird es nicht durch +die Taufhandlung. Nach Röm. 4, 10. 11 war die Beschneidung das Siegel +eines Bundes, dem Abraham durch den Glauben schon angehörte; ebenso +ist die Taufe das Siegel eines bereits bestehenden Bundes, welcher ist +ein Bund des Glaubens und des Innewohnens des heiligen Geistes.</p> + +<p>Und wie der Gläubige im Abendmahl des Leibes und Blutes Christi +teilhaftig wird, so wird der Gläubige in der Taufe aus dem Tod +erweckt, er empfängt im Wasserbad die Vergebung der Sünde und die +Einwohnung des heiligen Geistes, der schon an ihm gearbeitet hat; denn +wie könnte er glauben, wenn der heilige Geist seine Seele nicht in den +Stand setzte, zu bekennen, daß Jesus der Herr ist!</p> + +<p>Ich hebe es noch einmal hervor, daß 1) in der heiligen Taufe das +Element des Wassers mit dem Körper in äußerliche Berührung gebracht +wird; daß 2) im heiligen Abendmahl Brot und Wein in den Körper +aufgenommen werden; daß 3) das heilige Abendmahl in dem ersten Essen +(der verbotenen Frucht) sein Gegen- und Vorbild hat und daß es 4) +höchst wahrscheinlich ist, daß das andere Sakrament, die Taufe, in +analoger Weise auf ein vorsündliches Ereignis sich bezieht. Mir ist +schon lange der Gedanke gegeben worden, daß das dritte Kapitel des +Evangeliums Johannes so zu verstehen ist, daß zwischen der natürlichen +und der neuen Geburt ein Sterben liegt. Nikodemus verstand das nicht +(V. 4), so klar es scheint. Er meinte, daß das Fleisch geheilt und für +den Himmel geschickt gemacht werden könnte. Es war ihm unverständlich, +daß der natürliche Mensch, weil getrennt von Gott, wirklich tot ist. +Die Taufe ist also ein<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> offenes Bekenntnis, daß der natürliche Mensch +hoffnungslos schlecht und tot ist und nichts Gutes zu thun vermag; und +daß sie bildlich ein Begrabenwerden des natürlichen Menschen und eine +Neuschaffung oder Auferstehung vom Tod enthält. Im Abendmahl verkünden +wir Christi Tod; die Taufe verkündet, daß der Mensch im natürlichen +Zustand tot ist und vom Tod erstehen muß. Ein neugeborenes Kind ist +tot in Gottes Augen, die Eltern aber, die es im Glauben zur Taufe +bringen, empfangen (an seiner Statt) die Verheißung.</p> + +<p>Ich kann nicht umhin, dafür zu halten, daß beide, die Taufe und +das heilige Abendmahl, mit des Menschen Leib zu thun haben, denn +die Elemente in beiden Fällen sind von dem Leib nicht zu trennen. +Die Elemente werden in der Taufe äußerlich, im Abendmahl innerlich +angewandt.</p> + +<p>Der aber ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das +nicht eine Beschneidung, die auswendig im Fleische geschieht (Röm. +2, 28. 29). Und ebenso bei der Taufe: der Mensch ist nicht darum ein +Christ, weil er getauft ist. Kann einer nicht glauben ohne getauft +zu sein, und kann in diesem Fall sein Nichtgetauftsein nicht als +Getauftsein angesehen werden? Es giebt viele Stellen in der Schrift, +die es klar zeigen, daß die Taufe an sich ohne Glaube kein nütze ist; +und daraus erkennen wir, warum viele, die getauft sind, den heiligen +Geist nicht haben.</p> + +<p>Meiner Meinung nach hätten sich die Ausleger, welche über Taufe und +Abendmahl geschrieben haben, manchen Irrweg gespart, wenn sie die +drei ersten Kapitel des ersten Buches Mose besser erwogen hätten. Mir +hat es seit Jahren Gedanken gemacht, was von der Taufe zu halten ist, +doch ist es mir schon vor etlichen Jahren klar geworden, daß zwischen +zwei Geburten ein Tod liegen muß (Joh. 3). Ich halte dafür, daß im +Taufwasser die Sündenschuld zurückbleibt, so wie natürliches Wasser +die Unreinigkeit der Gegenstände zurückbehält, die darin gewaschen +werden. Es scheint mir aber nicht, daß der heilige Geist das Wasser +in anderer Weise als Träger benutzt, als indem er es wirksam macht, +die Sünde abzuwaschen. Als Jesus<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> (der, obgleich ohne Sünde, sich +als Mensch der Taufe unterzog) aus dem Wasser heraufstieg, kam der +heilige Geist über ihn. Gott ist aber nicht an die Taufe gebunden, +denn Johannes war voll des heiligen Geistes von Mutterleibe an, und +Kornelius hatte den heiligen Geist empfangen vor der Taufe. Die +Gläubigen gehen als Kinder Adams ins Taufwasser und gehen als Kinder +Gottes daraus hervor.</p> + +<p>Die Unterlassung der Taufe in gewissen Fällen anlangend, so fiel +der heilige Geist auf Kornelius, ehe er getauft war (Apostelgesch. +10, 44). Mag auch jemand das Wasser wehren, daß dieser nicht +getauft werde? Als Petrus und Johannes hinunter nach Samaria gingen +(Apostelgesch. 8, 15-16), fanden sie, daß auf des Philippus Predigt +hin die Leute glaubten und sich taufen ließen, sie empfingen den +heiligen Geist aber erst durch der Apostel Handauflegung.</p> + +<p>Aus diesen beiden Stellen ersehen wir, daß der heilige Geist nicht +notwendigerweise mit der Taufe dem Täufling gegeben wurde, daß er aber +auch nicht dem gläubigen Ungetauften versagt war. Paulus beschnitt +Timotheus um der Juden willen (Apostelgesch. 16, 3). Die Beschneidung +ist nichts und die Vorhaut ist nichts, sondern Gottes Gebot halten +(1 Kor. 7, 19). Um der Juden willen beschneidet Paulus zwar den +Timotheus, den Titus aber (Gal. 2, 3) will er nicht beschneiden. +Dies zeigt, daß er nach der jedesmal von Gott ihm gegebenen Einsicht +handelte. Indem er den Timotheus beschnitt, fügte er sich dem Urteil +der Juden, gegen welches zu verstoßen er sich gewissermaßen fürchtete; +oder warum hätte er sonst diesen jüdischen Gebrauch vollzogen? Wenn +ich sage, daß er fürchtete, den Juden Anstoß zu geben, so meine ich +damit, daß Gott ihm die Einsicht verlieh, daß es, um weiser Absichten +willen und zur Vermeidung der Uneinigkeit recht sei, sich zu fügen. +Ich glaube daher, daß wir z. B. gerechtfertigt wären, die Taufe bis +auf weiteres zu unterlassen, wo der öffentliche Fanatismus sich +dagegen auflehnt. Denn die Taufe macht einen nicht zum Christen, +so wenig wie die Beschneidung einen zum Juden macht. Das bildliche +Ausziehen des Fleisches durch die äußerliche Taufe ist nicht mehr +nütze,<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> als das bildliche Abthun der Unreinigkeit des Fleisches durch +die äußerliche Beschneidung.</p> + +<p>Wie bereitwillig gewährte Paulus dem Kerkermeister die Taufe +(Apostelgesch. 16, 33). In derselben Stunde der Nacht, als dieser +ihm die Striemen abwusch, verkündete ihm Paulus das Wort des Herrn +und taufte ihn alsbald. Der Kerkermeister wusch des Apostels +Striemen, und der Apostel wäscht ihm im Wasserbad die Sünden ab. Die +Apostelgeschichte ist in erster Linie ein Missionslehrbuch; warum +sind wir denn so vorsichtig mit der Taufe unter den Heiden? Fehlt uns +selber der rechte Glaube? Paulus taufte in jener Nacht nicht nur den +Kerkermeister, sondern alle, die in seinem Hause waren. Zu Philippi, +der Hauptstadt des Landes (Apostelgesch. 16, 12), war das Gefängnis +gewiß groß und es waren ohne Zweifel viel Leute in des Kerkermeisters +Haus. Da drängt sich einem wohl die Frage auf, ob der Kerkermeister +und alle, die in seinem Hause waren, alle die Katechismusfragen +unserer heutigen Missionare hätten beantworten können!</p> + +<p>Was hat der Mensch durch jenes erste verbotene Essen verloren? (Ich +brauche nicht gern das Wort »Sündenfall« — die Schrift nennt es +nicht so.) Er verlor den heiligen Geist. Was gewinnt der Mensch im +andern Essen? Er gewinnt den heiligen Geist. Es ist von Wert hierüber +nachzudenken.</p> + +<p>Der Verlust des heiligen Geistes ist Trennung von Gott, Tod; so sind +wir in Gottes Augen von Natur tot, und wenn wir in das Taufwasser +untergetaucht werden, so bekennen wir uns bildlich tot bei dem +Begräbnis im Wasser.</p> + +<p>Adam, der erste Mensch, entstieg dem Wasser der ersten Schöpfung. Er +sündigte, das ganze menschliche Geschlecht war in ihm und starb in +ihm, somit sind wir alle tot in den Augen Christi und verfallen damit +der Gemeinstatt aller, dem Grab, dem Orte der Toten. Wir bekennen, daß +wir beim Hineingehen ins Wasser der Taufe dasselbe sind, was Adam war. +Wir gehen mit dem neuen Adam, Christus, als neue Kreatur aus der Taufe +hervor. In ihm sind wir nicht länger tot; wir leben. Unser Hervorgehen +aus der Taufe ist unser Auferstehen, und in Ihm<span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span> erhalten wir (was wir +vorher verloren hatten) den heiligen Geist, welcher unser Leben ist.</p> + +<p>In Adam sind alle Menschen geschaffen, sie sterben mit ihm, werden +zu Staub und gelangen an einen Ort, aus welchem sie alle kamen. Was +ist der Sammelplatz aller Menschen? — Das Grab. Christus aber, der +zweite Adam, versammelt uns aus dem Grab in ihm selber, in der neuen +Geburt. Indem wir im Taufwasser untertauchen, verbildlichen wir +unsern Zustand; und indem wir uns so bildlich ins Grab des Wassers +legen, können wir daraus als neuer Mensch zu Christus gesammelt +werden. (Im Griechischen steht das Wort [Greek: synagôgê] [Sammlung], +gebraucht von dem Sammeln der Wasser ebenso wie [Joh. 11, 52] für das +<em class="gesperrt">Zusammenbringen</em> der Kinder Gottes, die zerstreut waren.) Die +Taufe besagt im Bild, daß wir im Taufwasser in den ersten Zustand 1 +Mos. 1 zurückkehren, und im neuen Adam, Christus, gehen wir daraus +hervor. Wir kosten vom Baum des Lebens. Wir gelangen zur Auferstehung, +die sich im 22. Kapitel der Offenbarung abspiegelt, wo von einem Strom +die Rede ist und vom Baum (Holz) des Lebens, von Gott und dem Lamme.</p> + +<p>Ehe der heilige Geist in uns erneut wird (es ist auf dieses Wort zu +achten, denn es deutet an, daß der Mensch ihn einmal besessen und dann +verloren hat), müssen wir im Bild begraben werden, müssen unsern Tod +und unsern hoffnungslosen Zustand erkennen. Denn wie das Salböl nicht +aus das Fleisch gegossen werden kann, so kann der Fleischlichgesinnte +den heiligen Geist nicht empfangen. Fleischlichgesinntsein ist eine +Feindschaft wider Gott und kann den heiligen Geist nicht empfangen +(Röm. 8, 7 und 9, ein gar ernstes Wort!).</p> + +<p>In der Taufe wird der natürliche Leib in der Erwartung gesäet, daß +der geistliche Leib auferstehe. In der Taufe bekennen wir uns zur +Notwendigkeit solchen Säens; wir bekennen, daß wir in natürlichem +Zustand zu nichts nütze sind als (mit dem verweslichen Körper) gesäet +und begraben zu werden.</p> + +<p>Der erste Adam wurde ins Leben gerufen und starb und ist bildlich +in der Taufe begraben. Der zweite oder letzte Adam,<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> Christus, ist +der lebendigmachende Geist (der Herr vom Himmel), der von den Toten +auferweckt.</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">Die Taufe ist eine Auferstehung aus der Verwesung.</div> + <div class="verse indent0">Die Taufe ist eine Auferstehung aus der Unehre.</div> + <div class="verse indent0">Die Taufe ist eine Auferstehung aus der Schwachheit.</div> + </div> +</div> +</div> + +<p class="right mright8">(1 Kor. 15.)</p><br> + +<p>Wir ersehen hieraus, daß die Taufe eine wichtige Sache ist. Denn die +wahre Taufe, sei es bei unmündigen Kindern durch ihre Stellvertreter, +die Paten, so diese gläubig sind, sei es bei Erwachsenen, ist der +Bedeutung nach <em class="gesperrt">nichts anderes als ein Bekenntnis, daß das Fleisch +nichts Gutes zu vollbringen vermag</em>. Und mir scheint, daß diese +Ansicht eine Stütze für die Kindertaufe ist, denn es handelt sich +darum, etwas das tot ist und das sich nicht selbst helfen kann zu +begraben. Ein kleines Kind ist tot hinsichtlich des eigenen Willens u. +s. w.; indem es nun bildlich durch seine gläubigen Stellvertreter in +der Taufe begraben wird, ergiebt sich hieraus die Hoffnung, daß es in +Christo auferstehen wird — ja unser Glaube an Gott kann nicht anders +als dies glauben.</p> + +<p>Wenn es sich um einen Erwachsenen handelt, der von seiner +fleischlichen Natur frei werden möchte, an Christus glaubt und +getauft wird, so glaube ich, daß ein solcher den heiligen Geist in +seinem <em class="gesperrt">Leibe</em> empfängt. Die Elemente des Segens, dessen er in +seinem <em class="gesperrt">Leibe</em> teilhaftig wird, sind in dem einen Falle Brot und +Wein, in dem andern ist es Wasser, in welchem er den fleischlichen +<em class="gesperrt">Leib</em> ablegt. In beiden Sakramenten sind die Elemente stofflich, +und beide sind geheiligt für den Leib durch den heiligen Geist: +das eine zur Erhaltung des neuen Lebens in Christo, das andere zur +Auferstehung von den Toten in Christo, welcher ist der neue Adam.</p> + +<p>War nicht das Essen der verbotenen Frucht ein Zerreißen der Einheit +mit Gott und, infolge davon, die Bildung einer Einheit mit dem Satan? +Und was ist der Glaube anderes als eine Fähigkeit, die unmittelbar +aus der Gegenwart des heiligen Geistes kommt? »Niemand kann Christus +einen Herrn heißen, ohne durch den heiligen Geist,« auch andere +Stellen beweisen dies. Der<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> Glaube ist eine unmittelbare Wirkung der +Einwohnung des heiligen Geistes. Da kann kein Glaube sein, wo der +heilige Geist nicht seine Wohnung hat. Einer der sagt, er glaube an +Christus, aber nicht an die Gegenwart des heiligen Geistes in ihm +selber, ist entweder ein Lügner und Ungläubiger, oder er macht Gott +zum Lügner.</p> + +<p>Daraus folgere ich, daß jedes Wort, jede That, jeder Gedanke, der +nicht aus der Gemeinschaft mit Christus durch den heiligen Geist +entspringt, genau dasselbe ist, was das Essen der verbotenen Frucht +war. Andererseits ist jedes Wort, jede That, jeder Gedanke, der durch +den heiligen Geist in der Gemeinschaft mit Christus wurzelt, ein Essen +vom Baum des Lebens.</p> + +<p>Ferner, gleichwie das Essen der verbotenen Frucht sowohl durch Wort +oder Gedanken, als durch die That geschehen kann (im verbotenen Essen +im Paradies gipfelten Gedanke und Wort in der That), so kann das +Essen von dem Baum des Lebens, Christus, auch durch Wort und Gedanke +geschehen, ist aber wesentlich eine That. Das Einssein mit Christus +durch die Einwohnung des heiligen Geistes ist das A und O alles +Lebens, und diese Anschauung empfiehlt sich selbst unserer Vernunft. +Das Ergebnis dieses Einsseins ist ein Fruchtbringen. Es bedarf keiner +Anstrengung; wenn wir das Einssein suchen und pflegen, so müssen die +Früchte des heiligen Geistes die natürliche Folge sein.</p> + +<p>Nur durch den heiligen Geist ist Leben oder Gemeinschaft mit Christo +möglich. Die Erlösung oder die Wohlthat des Sühnopfers unseres Herrn +kann nur dann von uns erfaßt werden oder uns zu gute kommen, wenn der +heilige Geist in uns wohnt. »Wer aber Christi Geist nicht hat, der +ist nicht sein.« Röm. 8, 9. Wer das nicht hat, was die Gemeinschaft +ausmacht, kann nicht mit Christo vereinigt sein. Und es ist klar, daß +die Ausgießung des heiligen Geistes erst die Folge von Christi Leiden +war; er konnte nicht eher herkommen, als bis Christus aufgefahren war. +Nach Christi Himmelfahrt kam der heilige Geist hernieder, nicht vorher.</p> + +<p>Wie mancher bekümmerten Seele wäre es ein unaussprechlicher Segen +zu wissen, daß der einzige Weg, um heilig oder<span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span> Christus ähnlich zu +werden, der ist, die Gegenwart des heiligen Geistes in uns zu suchen +und zu pflegen. Die Früchte leugnen, welche der heilige Geist bringt, +hieße die Gottheit des heiligen Geistes leugnen. Wenn ich daran denke, +wie lange ich in der Irre ging und wie nutzlos ich mich abmühte am +alten Menschen zu flicken, so kann ich nicht genug Nachdruck hierauf +legen. Menschlich geredet, was für ein Segen wäre es für mich gewesen, +wenn einer mir mit dem Wort zu Hilfe gekommen wäre (es steht übrigens +deutlich genug in der Bibel): ›<em class="gesperrt">Suche du des heiligen Geistes in +dir selbst gewiß zu werden und kümmere dich sonst um nichts!</em>‹ Wer +an Christum glaubt, der hat Gott den heiligen Geist lebendig in sich. +Diese Wahrheit im täglichen Leben zu pflegen ist alles was wir nötig +haben, und Er nährt uns durch die Schrift. Alles übrige kommt dann von +selbst.</p> + +<h3>Über die Verbindung zwischen dem Sündenfall und dem heiligen Abendmahl.</h3> + +<p>In einem jüdischen Schulbuch fand ich die Geschichte des sog. +Sündenfalles ausgelassen, und als ich einen Rabbiner darüber +fragte, sagte er mir, daß die Juden dieselbe nicht als etwas +Wirkliches anerkennen, sondern alle ihre Gebrechen aufs goldene +Kalb zurückführen. Das ist begreiflich, denn sie meinen, sie können +durchs Gesetz gerecht werden, indem sie aber das goldene Kalb als +den Grund ihres Sündenfalles ansehen, ist ihnen der Sündenfall ein +jüdisch-nationales Ereignis.</p> + +<p>Betrachten wir den Sündenfall.</p> + +<p>Der Baum des Erkenntnisses des Guten und Bösen war ein Baum, an dem +man lernen konnte, was gut und was böse ist. Indem der Mensch von +diesem Baum aß, wurde er wie Gott, denn Gott der Herr sprach: Siehe +Adam ist geworden wie unser einer und weiß, was gut und böse ist.</p> + +<p>Auch ist zu bemerken, daß das Verbot, von dem Baum zu essen, gegeben +wurde, <em class="gesperrt">ehe</em> das Weib aus Adams Rippe gebaut war; so daß Eva +<em class="gesperrt">im</em> Garten erschaffen wurde und Adam <em class="gesperrt">außerhalb</em> desselben. +Und <em class="gesperrt">Adam</em> wurde aus dem Garten getrieben;<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> der Eva geschieht +dabei keine besondere Erwähnung. Dem Weib wurde kein Grund angegeben. +Zu Adam sprach Gott: »dieweil du gegessen hast.« Die Strafe des +Essens, der Tod, »du mußt sterben,« muß in Beziehung gebracht werden +zu dem Worte »weil du gegessen hast, verflucht ist der Acker, bis daß +du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde +und sollst zu Erde werden.«</p> + +<p>Eph. 2, 2. »In welchen (Sünden) ihr weiland gehandelt habt, nach dem +Lauf dieser Welt, nach dem Fürsten, der in der Luft herrschet, nämlich +nach dem Geist, der zu dieser Zeit sein Werk hat in den Kindern des +Unglaubens.« Der Fürst, der in der Luft herrschet, der Satan, hat also +sein Werk in den Kindern des Unglaubens (Ungehorsams), und er begann +dieses Werk im Menschen, als der Mensch im Ungehorsam gegen Gott von +der verbotenen Frucht aß.</p> + +<p>Wir dürfen annehmen, daß wenn Gott dem Menschen mit einer einzigen +Ausnahme alles gewährte, eben diese Ausnahme ihren Grund in dem +dem Menschen drohenden Schaden hatte. Hätte Eva nicht von dem, was +verboten war, gegessen, dann hätte der Geist des Ungehorsams, Satan, +sein Werk in ihr nicht beginnen können. Und wir mögen es betrachten +wie wir wollen, so viel ist klar, daß sie durch die Thatsache ihres +Essens dem Satan die Thür öffnete und er in ihrem Herzen Eingang fand.</p> + +<p>1 Kor. 10, 20 zeigt, daß den Götzen opfern einer Gemeinschaft mit +den Teufeln gleichkommt: »was die Heiden opfern, das opfern sie den +Teufeln und nicht Gott. Nun will ich nicht, daß ihr in der Teufel +Gemeinschaft sein sollt«.</p> + +<p>Der gesegnete Kelch aber ist die Gemeinschaft oder das +Teilhaftigwerden des Blutes Christi. Das Brot, das wir brechen, ist +die Gemeinschaft oder das Teilhaftigwerden des Leibes Christi, 1 Kor. +10, 16.</p> + +<p>Das Trinken vom Kelch des Herrn ist die Anteilnahme an des Herrn +Tisch; und das Trinken von der Teufel Kelch ist die Anteilnahme +an der Teufel Tisch. Durch dieses ganze Kapitel zieht sich die +Gegenüberstellung von zweierlei Essen, von zweierlei Opfern, und von +zweierlei Folgen solchen Essens (d. i. solcher<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> Anteilnahme), von +zwei Genossenschaften, zwei Gemeinschaften, welche in der Thatsache +von zweierlei Essen und den Folgen solchen Essens gipfeln, nämlich +die Gemeinschaft mit dem Wesen, an dessen Tisch der Mensch sozusagen +sich setzt, welche Gemeinschaft ein Teilhaftigwerden der Eigenschaften +dieses Wesens bedeutet.</p> + +<p>Mögen wir nun über die Bedeutung der Worte streiten wie wir wollen, +so läßt sich's nicht hinwegerklären, daß nach Joh. 6, 56 Christus in +<em class="gesperrt">dem</em> Menschen wohnet, der sein Fleisch ißt und sein Blut trinkt; +und nach dem 53. Vers dieses Kapitels haben wir kein Leben in uns, +so wir das nicht thun. Darnach ist es klar, daß dieses Essen sein +Wohnungmachen in uns bedeutet; während nach 1 Kor. 10 ebenfalls klar +ist, daß solche, die den Teufeln opfern (oder mit ihnen Gemeinschaft +haben, was nach V. 20 dasselbe ist), auch den Teufeln in sich Wohnung +verstatten. Nun kann darüber kein Zweifel sein, daß Evas Essen +vom verbotenen Baum eine Gemeinschaft mit dem Teufel war, erstens +darum, weil der Satan wirklich mit ihr verkehrte, zweitens weil es +nicht eine Gemeinschaft mit Gott war, und drittens weil es im Geist +des Ungehorsams geschah. Dabei lasse ich alle Opfer des mosaischen +Ceremonialgesetzes außer Frage und beschäftige mich nur mit dem +Sündenfall und der Wiederherstellung des Zustandes vor dem Fall, in +welcher der Hauptpunkt das Sakrament ist, durch welches wir des Herrn +Tod verkünden, bis daß Er kommt.</p> + +<p>Wir glauben, daß Brot und Wein kraft göttlicher Einsetzung die +werkzeugliche Ursache des geheimnisvollen Teilhaftigwerdens Christi +ist, wodurch Er ganz unser wird und wir so eng mit ihm verbunden +werden, als sein Fleisch <em class="gesperrt">sein</em> Fleisch und sein Blut <em class="gesperrt">sein</em> +Blut ist. Durch Brot und Wein, durch das Essen und Trinken seines +Leibes und Blutes, d. h. durch die thatsächliche Handlung solcher +Nießung wird das feste Band geknüpft. Dabei glauben wir nicht, daß das +Brot Fleisch wird und der Wein Blut, so wenig als die verbotene Frucht +verwandelt worden ist.</p> + +<p>Ich denke, es steht fest, daß der Fürst, der in der Luft herrschet, +darum Eingang in uns fand und in den Kindern des Unglaubens sein Werk +hat, weil Eva und Adam von der verbotenen Frucht aßen. Sie traten +aus der Gemeinschaft mit Gott<span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span> und wurden der Gegenwart des heiligen +Geistes verlustig, durch den wir Gemeinschaft mit Gott haben. Dies +führt zur Wiederherstellung in Christo, wenn er uns die Gemeinschaft +mit dem heiligen Geist wiederherstellt, »die Verheißung des Vaters« +und ein Unterpfand des Erbes. Nach Rom. 8, 11 wird der Geist des, +der Jesum von den Toten auferwecket hat, unsere sterblichen Leiber +lebendig machen durch den Geist, der in uns wohnet. Ich denke mir, daß +der heilige Geist zuerst mit der Seele in Gemeinschaft ist, und daß +Er dann durch die erweckte Seele den sterblichen Leib auferweckt. Da +der heilige Geist nur in geistiger Weise an der Seele arbeiten kann, +die geistiger Natur ist, so fragen wir, auf welche Weise kann der Leib +erfaßt werden, der durch eine thatsächliche Handlung (durch Essen) +der Gewalt des Bösen anheimfiel? Ich beantworte diese Frage mit aller +Vorsicht, aber es erscheint mir sowohl vernunft- als schriftgemäß, +daß er durch dasselbe Mittel auch wieder geheilt wird, das den Fall +bewirkte und dem Teufel den Zugang verstattete, nämlich <em class="gesperrt">durch +Essen</em>.</p> + +<p>Das Sakrament von des Herrn Nachtmahl steht in enger Verbindung mit +der Auferstehung des Leibes. »Wer mein Fleisch isset und trinket mein +Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am jüngsten Tage +auferwecken.« Und wir wissen, daß, so wir würdig zu seinem Sakrament +kommen, wir seinen Leib in unsern Leib und sein Blut in unser Blut +empfangen zur Reinigung von aller Sünde. Wäre es denkbar, daß unsere +Leiber je umkommen könnten, nachdem sie einer so engen Gemeinschaft +mit der Gottheit teilhaftig geworden sind, als das Essen seines Leibes +und das Trinken seines Blutes in sich schließt?</p> + +<p>Wir müssen annehmen, daß der Leib beim Sündenfall in vorzüglichem Maße +thätig war, denn er genoß thatsächlich, was verboten war, und hier bei +diesem zweiten Essen ist ebenfalls der Leib in demselben Maße thätig. +Beim ersten Essen brachte der Leib die Seele zum Opfer (denn der Seele +konnte es an sich nichts verschlagen, ob gegessen wurde oder nicht); +beim zweiten Essen bringt die Seele den Leib zum Opfer. Beim ersten +Essen trug der Leib den Sieg davon; beim zweiten Essen bleibt der +Seele der Sieg.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span></p> + +<p>Warum sind wir alle so tot? Warum wird unser Fleisch nicht belebt? +Viele unter uns sind wahre, ernste Christen. Warum sind sie so +trübselig? Sie haben die Barmherzigkeit Gottes in Christo erfahren, +aber es ist, als ob die Seele bei ihnen an einen Leichnam gefesselt +wäre — an ihren Leib. Sie glauben oder hoffen, daß sie ihrer +Seligkeit gewiß sind, aber sie werden dieser Gewißheit nicht froh. +Warum schleppen sie den toten Leib mit sich herum? Er atmet den Geruch +des Verderbens aus, er ist träge und beschwerlich. Kann er nicht zum +Leben gebracht werden? Wahrlich ich glaube, <em class="gesperrt">der Grund des Übels +liegt in der Mißachtung des heiligen Abendmahls</em>. Wenn er auch +ein toter Leib ist, so kann er doch essen; und wenn die Seele durch +den heiligen Geist zum Leben erweckt ist, warum sollte sie den toten +Leichnam nicht zu bewegen suchen, den Leib und das Blut Christi in +sich aufzunehmen, woraus ihm Leben zu teil werden wird. Es mag zuerst +nur ein schwaches Fünklein sein, ja es mag scheinen, als ob er nur um +so mehr Verwesung von sich ausscheide, aber er wird bald voll Leben +sein und dieses Leben wird das ewige Leben sein. Er wird den Tod nicht +schauen, sondern die Auferstehung des Lebens.</p> + +<p>Was für Vorbereitung ist nötig um zu essen? Ich meine, wenn <em class="gesperrt">ein</em> +Baum mit einem Zaun zu umgeben ist, so ist es der Baum der Erkenntnis +des Guten und Bösen, denn dieser Baum existiert noch immer. Aber +hüten wir uns, den Baum des Lebens einhegen zu wollen! Gott selbst +hat uns den Weg dazu in Christo bereitet. Es ist gar nichts nötig +als das eine: »Ich bin krank; ich möchte gesund werden; ich hasse +und verabscheue mich selbst; ich habe nur schwache Hoffnung, daß es +mir Segen bringen wird, aber ich will Ihm vertrauen, und zu seinem +Gedächtnis will ich thun, was Er mich thun heißt.« Kann jemand am +Erfolg zweifeln? In Summa — nichts ist nötig als erstens Kranksein, +zweitens Verlangen nach Gesundheit und drittens Gehorsam gegen des +Herrn Gebot.</p> + +<p>Ich glaube, die meisten geben das erste und das zweite zu. Warum nicht +auch das dritte? Es ist so gar wenig, und wie unendlich ist der Segen. +Zweifelst du, so laß mich dich an die<span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span> verbotene Frucht erinnern; wie +gering schien die Übertretung, und die Folgen waren derartige, daß der +allmächtige Gott selbst ins Fleisch kommen und den Tod leiden mußte, +um den Schaden zu heilen.</p> + + +<h3>Du solltst nicht davon essen. — Nehmet, esset.</h3> + +<p>Was für Anstrengungen machen die Menschen, um körperliche Leiden +zu heilen, was für Summen läßt man es sich kosten. Welche +Krankheitsdiagnosen werden gemacht und doch — selbst die wirksamsten +Arzneien können das sichere unausbleibliche Ende nur um ein kurzes +hinausschieben. Wahrlich, wenn man es sich so angelegen sein läßt, +körperliche Leiden zu untersuchen, wie viel mehr sollte man die +Ursache und das Heilmittel der geistlichen Krankheit erforschen. Denn +daß wir geistlich krank und nicht so sind, wie wir sein sollten, daran +zweifelt wohl keiner.</p> + +<p>Wenn im natürlichen Leben ein Gift in den menschlichen Körper geraten +ist und ihn mit seiner schädlichen Wirkung durchdringt, so muß in +denselben Körper ein Gegengift aufgenommen werden, um mit seinen +heilenden Kräften jene bösen Folgen zu vernichten.</p> + +<p>Einer, der vergiftet ist, fragt nicht lange, auf welche Weise das +Gegengift wirkt; er versteht die gute Wirkung des Gegengiftes +vielleicht so wenig, als er die schädliche Wirkung des Giftes zu +erklären weiß; er weiß nur, daß er leidet und geheilt werden möchte. +Er nimmt das Gegengift in gutem Glauben; vielleicht hat er auch das +Gift sozusagen in gutem Glauben genommen, denn im allgemeinen sucht +der Mensch sich nicht selbst zu vergiften. Der Mensch sucht auch nie +das Böse, weil es böse ist; er sucht vielmehr etwas (vermeintlich) +Gutes im Bösen. Es genügt dem Menschen also zu wissen, daß er +geistlich vergiftet ist, um Heilung zu begehren.</p> + +<p>Ist es ein Zufall, daß das erste Gebot Gottes, das Er dem Menschen +gab, und eines der letzten Gebote Christi an seine Jünger, und durch +sie an die ganze Welt, beides von einem Essen handelt? Gott sprach: +»<em class="gesperrt">Du sollst nicht davon essen</em>« — Jesus spricht: »<em class="gesperrt">Nehmet, +esset, das ist mein Leib!</em>«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span></p> + +<p>Eine wirkliche Substanz (Brot) soll in den vergifteten Körper +aufgenommen werden, und zwar nach dem <em class="gesperrt">Gebot</em> des Herrn, und sie +ist der Träger, durch welchen Christus dem vergifteten Körper seine +göttlichen Eigenschaften mitteilt; gerade so, wie die <em class="gesperrt">verbotene</em> +Frucht der Träger war, durch welchen der Teufel dem Körper seine bösen +Eigenschaften mitteilte und ihn vergiftete.</p> + +<p>Der Mensch aß in völliger Unwissenheit hinsichtlich der Folgen des +Essens von der verbotenen Frucht, denn er konnte nicht wissen, +<em class="gesperrt">was</em> der Tod sei; ebenso kann der Mensch in völliger +Unwissenheit hinsichtlich der Folgen vom Brot des Sakraments essen.</p> + +<p>In jenem Fall aß er im Vertrauen auf sich selbst und im Mißtrauen +gegen Gott und in Gemeinschaft mit dem Teufel.</p> + +<p>In diesem Fall soll er im Vertrauen auf Gott und im Mißtrauen gegen +sich selbst essen und in Gemeinschaft mit Gott.</p> + +<p>Der Welt ist dieses wie jenes eine Thorheit, aber es ist Weisheit bei +Gott.</p> + +<p>Wir sagten vorhin, der Mensch sucht nie Böses, weil er böse ist, +sondern er sucht (vermeintlich) Gutes im Bösen. Eva suchte Gutes in +der verbotenen Frucht, aber sie suchte es im Vertrauen auf sich selbst +und im Mißtrauen gegen Gott.</p> + +<p>Ein kleines Kind kann verstehen, daß es ein Heilmittel braucht, +wenn es krank ist, und nimmt selbst eine widrige Arznei von seiner +Mutter, weil es ihr vertraut. Der Mensch kann deshalb das sakramentale +Gegengift verstehen, wenn er weiß, daß er geistlich vergiftet ist; +aber der höchste Verstand kann weder ergründen die Tiefe des ersten +Bundes mit Satan, noch die des zweiten Bundes mit Christus.</p> + +<p>Ich frage nun, <em class="gesperrt">was ist nötig, damit der Mensch esse von diesem +Sakrament</em>? Nichts, als daß er seine geistliche Krankheit erkenne +und geheilt werden möchte. Die meisten Menschen wissen es auch wohl, +daß sie krank sind, und wären auch gern gesund.</p> + +<p>Warum wird das Gegengift im Sakrament so vernachlässigt? weil es so +einfach ist, darum hält es die Welt für Thorheit und des Herrn Tisch +ist verachtet. (Mal. 1, 7.)</p> + +<p>Zum Schluß noch die Frage: ist nicht das Abendmahl des<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Herrn das +einzige aus der sichtbaren Kirche, was auch im Himmel bleiben wird? +(Luk. 22, 18.) Es ist wesentlich das Hochzeitsmahl der Kirche; es ist +das äußerliche Pfand des gegenseitigen Einwohnens des Menschen in Gott +und Gottes im Menschen. (Offenb. 3, 20.)</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Mit solchen Gedanken beschäftigte sich Gordon während jenes Ruhejahres +im heiligen Land. Im Juli schrieb er seinem Freund: »Es ist ein Gefühl +der Ermattung über mich gekommen, <em class="gesperrt">nicht der Unzufriedenheit</em>, +aber ein Verlangen, die Bürde abzuwerfen. Ich glaube, daß es gut für +mich ist, hier zu sein, sonst wäre ich ja nicht hier, und Gott schenkt +mir tröstliche Gedanken, aber der Körper ermattet, und es scheint +mir ein selbstsüchtiges Leben. Doch sind alle Forschungen, die ich +hier mache, interessant, und mein gottgeschenkter Glaube verhindert +mich, es für ein nutzloses Leben zu halten.« Es ist die Energie des +Mannes, die hier zum Vorschein kommt; er will nicht nur glauben, er +will seinen Glauben auch bethätigen. Bei den Londoner Maiversammlungen +1885 hat Missionar Hall aus Jaffa einer großen Versammlung unter +atemloser Stille von seinem acht Monate langen Umgang mit Gordon +erzählt. In den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft sagte Gordon zu ihm: +»Ich habe keine rechte Ruhe, ich bin in dieses Land gekommen, um eine +Zeit lang in der Stille zu sein, mich mehr mit dem Wort Gottes zu +beschädigen und nebenher die heiligen Stätten zu untersuchen. Aber +es befriedigt mich nicht; ich bin unruhig, ich muß etwas für Gott +thun. Glauben Sie, wenn ich nach Jaffa käme, daß ich dort Arbeit +finden könnte?« Die Folge der bejahenden Antwort des Missionars +war, daß Gordon sich in Jaffa einmietete. »Eines Tages,« erzählte +Hall, »erhielt ich ein Schreiben von dem Komitee des Inhalts, daß +ein Missionshaus in Nablus (Sichem) errichtet werden sollte und daß +Baupläne einzusenden seien. Ich schrieb an den Missionar Fallscheer +in Nablus, worauf dieser mich in Jaffa besuchte und es beklagte, daß +er nichts vom Baufach verstehe. In Jaffa gebe es keinen Baumeister, +und sich bei einem Baumeister in Jerusalem Rats zu holen, sei eine +kostspielige Sache. Ich gab das zu und<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> entgegnete: »Es ist eben ein +Mann hier, der sich aufs Planzeichnen versteht; ich weiß zwar nicht, +ob man ihn damit belästigen darf — wir wollen es aber versuchen.« +Und so begaben wir uns in Gordons Wohnung. Wir hatten uns nicht den +günstigsten Augenblick gewählt, denn es war vormittags, welche Zeit +Gordon der Betrachtung des Wortes Gottes widmete. Wir fanden ihn in +Hemdärmeln an seinem Tisch sitzen. Er erkundigte sich nach unserm +Begehren. »Wir möchten Ihren Rat holen wegen eines Missionshauses, +das in Nablus gebaut werden soll,« sagte ich, und um unserm Bedürfnis +nach Bauplänen näher zu kommen, fügte ich dies und jenes hinzu. Da +unterbrach er mich: ›Ich weiß, was Sie wollen — Sie brauchen nicht so +vorsichtig mit mir zu reden; Sie möchten einen Beitrag haben.‹ Darauf +erwiderte ich, daß wir keinen Beitrag von ihm wollten, wohl aber etwas +Besseres als Geld, nämlich die Baupläne, wenn er sie uns entwerfen +wolle. ›Baupläne,‹ rief er, ›ei gern!‹ und nahm sofort Papier und +Bleistift zur Hand, notierte sich wie viel Zimmer nötig seien, was +für Fenster und Thüren, was die Lage des Bauplatzes sei u. s. w. Noch +am Abend desselben Tages brachte er uns die schönsten Pläne, die man +sich denken konnte. Am andern Tage bestellten wir Handwerksleute, +und Gordon machte einen Kostenüberschlag für jeden. Das Missionshaus +steht jetzt in Nablus. Einige Zeit später sagte ich ihm, daß ich +mich fast gefürchtet hätte, ihn um die Baupläne zu bitten. ›Meinen +Sie, ich hätte Ihre Bitte übel genommen,‹ sagte er. ›Wozu bin ich +denn nach Jaffa gekommen, habe ich Ihnen nicht gesagt, daß, wenn Sie +mir etwas für das Reich Gottes zu thun geben könnten, Sie mir einen +Dienst erweisen würden? Ich war nicht recht mit mir zufrieden, weil +ich mich ins heilige Land zurückgezogen hatte, anstatt mit meinen +Kräften mich in Gottes Arbeit zu stellen.‹ In diesem Sinn hatte er +die Pläne entworfen.« Missionar Hall fügte dem bei, daß er von Gordon +mehr Aufschluß über geistliche Dinge erhalten habe, als sonst von +irgend einem Menschen, mit dem er je in seinem Leben zu thun gehabt. +Gordon fand auch sonst in Jaffa Arbeit von der Art, wie er sie in +Gravesend gefunden hatte. Ein bekannter schottischer Geistlicher, der +kürzlich in Palästina<span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span> reiste, kam mit einem armen Dragoman zusammen, +der ihm nicht genug davon sagen konnte, wie Gordon ihn und seine Frau +in Krankheit besucht und in Ermangelung eines Stuhles sich mit seinem +neuen Testament auf den Boden gesetzt habe, um ihnen von Christus +zu erzählen. Dabei hatte er ausfindig gemacht, daß sie eine große +Doktorrechnung hätten, und diese in aller Stille bezahlt. In Jerusalem +und den Dörfern umher habe er den Armen viel Gutes gethan, und diese +trauerten um ihn, wie um ihren Vater.</p> + +<p>Überall wo Gordon hinkam, dasselbe Urteil über ihn! Er aber sagt: »Wie +wenig Christus-ähnliche Menschen giebt es doch — wer unter uns ist +Ihm gleich? Keiner, bis alles von uns genommen ist; dann erst können +wir werden wie Er und eins sein mit Ihm. ›Selig sind die geistlich +Armen, denn das Himmelreich ist ihr,‹ heißt es; und nur die Armen ohne +Geld und ohne Ansehen im vollen Sinne des Wortes können durch die +dunkle Grabesthüre zu der Ruhe eingehen, die uns behalten ist .... Ich +wollte, daß alle die Gewißheit des ewigen Lebens hätten! Es ist ja +gerade, <em class="gesperrt">weil</em> wir arm und unwert sind, daß wir Eingang finden. +So lange wir uns für besser halten als andere, sind wir weit vom +Himmelreich entfernt. Wir müssen den Gedanken fahren lassen, daß wir +im geringsten bei Gott etwas zu gut haben könnten, wir sind ja <em class="gesperrt">alle +und nur</em> seine Schuldner. Nach Ephes. 2, 10 sind wir zu guten +Werken geschaffen, in denen wir wandeln sollen. Wenn uns Gott also +vorher dazu bereitet hat, daß wir dies oder jenes Gute vollbringen, +wo bleibt da noch Ehre für uns?« Nicht genug kann er es betonen, daß +man alles, im großen wie im kleinen, Gott anheimstellen soll; es gäbe +nicht so viel unzufriedene Gesichter in der Welt, meint er, wenn die +Leute das lernten. Der Glaube, daß Gott im Regiment sitzt, sei ihm +sein lebenlang eine unversiegbare Quelle der Kraft gewesen, die ihn +nicht nur für die Gegenwart und Zukunft stark mache, sondern die ihm +selbst das Vergangene zurecht bringe. Das sei es ja, was der Herr +von uns haben möchte, daß wir ›seine Freunde‹ seien, und nicht seine +Knechte. Und wenn Er uns in eine schmerzliche Lage geraten lasse, so +geschehe dies darum, damit<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> wir Ihn um so besser kennen lernten und +an uns selber erführen, wie stark Er ist, zu helfen. Gordons völlige +Gleichgültigkeit gegen das Urteil der Menschen ist die Kehrseite +dieser Gotteszuversicht, und Menschenlob nennt er eine Trennungswand +zwischen der Seele und ihrem Gott (Joh. 12, 43).</p> + +<p>Aus einem Briefe vom 4. Juli 1876:</p> + +<p>»Das menschliche Leben ist eine Rückreise zu unserm Urquell, Gott, +der sich uns als die ewige Wahrheit, Liebe, Weisheit und Allmacht +offenbart hat. Als Begriffe erkennen wir diese seine Eigenschaften +bereitwillig an; das ist aber kein Herzensglaube. Wir stoßen auf +Widersprüche, wir sind blind. Er öffnet uns die Augen nach und nach, +und hilft uns durch manches sogenannte Unglück ihn immer besser kennen +lernen. Er offenbart sich verschiedenen Menschen in verschiedener +Weise, aber das Endziel aller ist, <em class="gesperrt">Ihn zu erkennen</em>. So wie der +Mensch in diese Welt geboren ist, hängt ein Schleier vor seinen Augen, +der ihm Gott verhüllt. Dem in der Christenheit aufwachsenden Menschen +tritt Gott in beidem, im geschriebenen und im Mensch gewordenen Wort +nahe, aber wenn er dies auch mit seinem Verstand erfaßt, so ist in +diesem Leben doch vieles unverständlich, und der Schleier bleibt. Jede +schmerzliche Erfahrung aber und jede Prüfung macht einen Riß in die +Hülle und er <em class="gesperrt">sieht</em> dann, was er vorher nur als toten Buchstaben +geglaubt hatte ... Ein Samenkorn göttlichen Wesens ist in unser Herz +gelegt; und dieses Gottgeborene in uns sollte dem Ausgang des Kampfes +zwischen Fleisch und Geist ruhig entgegensehen können. So oft der +Geist über das Fleisch Herr wird, so oft giebt es einen weiteren Riß +in der Hülle und wir erkennen Gott immer besser. Wenn dem Fleisch der +Sieg bleibt, so verdichtet sich der Schleier. Zuletzt aber, wenn das +Unausbleibliche, der Tod eintritt, dann reißt der Schleier mitten +entzwei und das völlige Schauen beginnt. Das Fleisch ist überwunden, +der Geist aber lebt.«</p> + +<p>Geben wir noch ein Schlußwort Gordons. Es ist ein Wort, das er vor +einer Reihe von Jahren geschrieben hat, er hätte es in jenen letzten +Monaten schreiben können, als er von seinem Volk verlassen, mit seinem +nie wankenden Heldenmut in Khartum eingeschlossen war:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span></p> + +<p>»Die Welt ist ein weites Gefängnis mit grausamen Hütern. Einsam und +verlassen sitzen wir in unseren Zellen und warten auf Erlösung. An den +Wassern der irdischen Freude und vollen Genüge weilen wir — so denkt +das Fleisch und der Irdischgesinnte; aber es sind die Wasser zu Babel +voll Jammer für unsere Seele, und wir sitzen und weinen, wenn wir der +Heimat gedenken, von der ein so schmaler Strom, der Tod, uns trennt.</p> + +<p>»Unsere Harfen hängen an den Weiden, und unsere Widersacher heißen uns +fröhlich sein, wir sollen ihnen ein Lied singen, als wären wir daheim. +Wie aber sollen wir des Lammes Lied singen im fremden Lande, die wir +in der Wildnis sind, wo niemand uns kennt?</p> + +<p>»O wären wir doch daheim, wo die Gottlosen aufhören mit ihrem Toben, +und <em class="gesperrt">die</em> ruhen, die viele Mühe gehabt haben; wo der Kampf zu +Ende ist und die heiße Arbeit vorüber, wo die Krone des Lebens uns +werden wird; wo wir Ihn schauen werden, der all unsere Not kannte, +der unser Elend mit uns trug, der unserer müden Seele Trost gab. Und +siehe, es ist kein neuer Freund, es ist der alte!</p> + +<p>»Bist du müde? Er war es auch. Bist du betrübt? Er war es auch. +Findest du dich in deiner Liebe unverstanden und begegnet man dir mit +Kälte? Ihm ging es nicht besser.</p> + +<p>»In Seinem großen Erbarmen hat Er sich unter all Seine Brüder +erniedrigt. Wie müde, wie einsam, wie betrübt war Er auf dieser Erde; +ein Mann der Schmerzen, der Leid trug mit Geschrei und Thränen. Und +sollten wir über unser Elend murren, das doch bald vorüber ist? Bringt +nicht jeder Tag uns der Heimat näher? Kein dunkler Fluß, sondern +zerteilte Wasser liegen vor uns; und der Welt bleibt ihr Lohn. Sie ist +Erde, und wir schütteln ihren Staub von den Füßen.</p> + +<p>»Ich hörte eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Schreibe, selig sind +die Toten, die in dem Herrn sterben. Ja der Geist spricht, daß sie +ruhen von ihrer Arbeit — ruhen von Trübsal, von Mühe und Last, von +Herzweh, Thränen, Hunger, von all dem Jammer seufzender Seelen, die +hier im Gefängnis, ohne Frieden sind, von Krieg und Kriegsgeschrei und +allem Hader.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span></p> + +<p>»Es ist eine lange, mühselige Reise, aber schon sehen wir das Ziel. +Die Meilenzeiger unserer Jahre fliegen dahin, und für die Last jedes +Tages wird uns die Kraft gegeben, die uns not ist (5 Mos. 33, 25. +englische Übersetzung). Wer weiß wie nahe das Ende, wie bald der +Pilger daheim sein wird im schönen Lande, wo Ströme lebendigen Wassers +fließen, wo keine Not mehr sein wird, noch Leid, noch Schmerzen, und +wo er ewig ruhen darf bei seinem himmlischen Freund.</p> + +<p>»Der Sand verrinnt — Tag und Nacht, Nacht und Tag — schüttle du +nicht das Glas. Trage deine Last, leide wie Er litt.«</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h2 id="Neuntes_Buch">Neuntes Buch.<br> +<span class="s5"><b>Khartum.</b></span></h2> +</div> + +<h3>1. Der Mahdi.</h3> + +<p>Während Gordon sein stilles Jahr in Palästina verlebte, gelangte man +daheim zur Erkenntnis, daß der Zustand in den Armenquartieren der +reichen »City« ein Schandfleck für England sei. Es war das Jahr, +in dem »der bittere Notschrei Londons« in allen Ohren wiederklang. +Es wurden Untersuchungen eingeleitet, und die Enthüllungen, die +es gab, entsetzten die feine Welt. Wohl war es teilweise ein +Sensationsinteresse, es lag ein gewisser Kitzel darin, die sogenannten +untersten Schichten aufzuwühlen, aber man fing doch ernstlich an, auf +Besserung der Zustände zu drängen. Es wurden Komitees ernannt und +Sitzungen gehalten, auch in der Folge mancherlei gethan. Ob das Los +der Armen seither ein merklich gebessertes ist, bleibe dahingestellt; +dergleichen wird wohl weniger durch Komitees, als durch einzelne +Menschen erreicht, denen die Liebe gegeben ist, unter den Elenden zu +leben. Es giebt solche, aber ihrer sind wenig. Der Notschrei drang +bis ins heilige Land, und Gordon lieh ihm ein williges Ohr; ja er +fing an, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob es in Whitechapel<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span> +und Spitalfields nicht eine ähnliche Arbeit für ihn gebe, wie s. Z. +zu Gravesend, ob ein Leben der Samariterliebe im Herzen von London +nicht die Lösung für seine Zukunft wäre, die ihn nur um so völliger in +Anspruch nehmen würde, als der Jammer in jenen Höhlen der krassesten +Armut und Verkommenheit weit über dem steht, was in der kleinen +Themsestadt zu finden ist, deren Gassenjungen seine »Prinzen« waren.</p> + +<p>Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Während Gordon sich in Gedanken +mit seinen armen Brüdern und Schwestern in der englischen Hauptstadt +beschäftigte und die Aussicht ihm eine liebe wurde, sich dieser +»Innern Mission« zu widmen, brachte anderswo ein König ganz andere +Pläne zu Papier und versah sich des Träumers in Palästina, als des +Mannes, der sie ihm verwirklichen sollte.</p> + +<p>Es war der König von Belgien, der in Gordon den Mann erblickte, +welcher als Stanleys Nachfolger die Hoffnungen des »freien +Kongostaats« ihrem Ziel entgegen führen sollte. Wahrscheinlich +hat Stanley selbst auf Gordon hingewiesen; und dieser war zu +allem bereit, was dazu dienen konnte, dem Sklavenhandel im Innern +von Afrika entgegen zu arbeiten und den umnachteten Weltteil den +Einflüssen christlicher Zivilisation zu erschließen. Der Plan war kein +geringerer, als vom Kongo aus dem Njamnjamlande und den Gebieten +der Rituellen beizukommen und auf diese Weise die verschiedensten +Negerstämme zu einem Bund gegen die Sklavenwirtschaft im Sudan zu +vereinigen. Es war gegen Ende des Jahres 1883, daß die belgische +Aufforderung Gordon erreichte. Schon drei Jahre vorher, als er sein +Amt im Sudan niederlegte, hatte er bei Gelegenheit einer Audienz in +Brüssel seine Bereitwilligkeit ausgesprochen, dem König in dieser +Sache zu dienen, wenn es sich so fügen sollte, daß man seiner +bedürfe. Und als dieser ihn nun an sein Versprechen mit dem Bemerken +erinnerte, daß der Zeitpunkt gekommen sei, der unter Gordons Leitung +zu den schönsten Hoffnungen am Kongo berechtige, war es die gewohnte +Schlagfertigkeit des Mannes, die stehenden Fußes die palästinischen +Studien abbrach und die Pläne hinsichtlich der Armen Londons auf +eine künftige Zeit verschob. Er wartete<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> nicht einmal ein richtiges +Passagierboot ab, sondern verließ Jaffa bei erster bester Gelegenheit +mit einem Frachtschiff, das ihn um ein kleines mit samt der Ladung +auf den Meeresboden gebettet hätte. Am letzten Abend des Jahres 1883 +erreichte er Genua und nahm den Schnellzug durch die Neujahrsnacht +nach Brüssel. Es war der Anfang des für ihn so verhängnisvollen Jahres +1884, aber noch ahnte er nicht, daß Khartum sein Ziel war. Er gedachte +der Kongo-Arbeit, die seiner harrte, und seine Seele war stille zu +Gott.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich war allein in meinem Koupé,« schrieb er den Freunden in Jaffa, +»und habe auch <em class="gesperrt">an euch alle gedacht</em>!«</p> +</div> + +<p>Und die Freunde in Jaffa wußten, was er damit sagen wollte. Sie +gehörten mit zu der Liste von etlichen hundert ihm Nahestehender, +deren er vor Gott gedachte. Wer diese Liste hätte durchsehen können +— ein König hier, ein alter Netzstricker dort, die seine Fürbitte +brauchten!</p> + +<p>Der belgische König war entzückt, einen so trefflichen +Bevollmächtigten gewonnen zu haben, und Gordon ging nach England, um +sich von den Seinen zu verabschieden. Sein Entlassungsgesuch aus dem +englischen Dienst hatte er eingesandt. Noch vor Ende Januar wollte +er wieder in Brüssel sein, um von dort die Reise nach dem Kongo +anzutreten. Wie ganz anders sollte es kommen!</p> + +<p>Daß im Sudan alles drunter und drüber ging, wußte er. Kein Jahr war +vergangen, nachdem er seine Statthalterschaft niedergelegt hatte, +da kamen Hilferufe genug von Khartum her, welche den guten Pascha +zurückverlangten, der allein im stande war, dem geknechteten Volk +eine Schutzmauer gegen seine Unterdrücker zu sein. Der Sklavenhandel +war neu aufgeblüht und von Ägypten war keine Rettung zu erwarten. Die +englische Bevormundung der ägyptischen Frage, die sich kurzer Hand als +eine Koupon-Politik bezeichnen läßt, hatte nicht viel Gutes erreicht; +und sowohl die englischen als die ägyptischen Minister waren viel zu +sehr von dem Arabi-Aufstand in Anspruch genommen, als daß man Zeit +gehabt hätte, im Sudan zum Rechten zu sehen. Dort war unter Gordons +Nachfolger in der Statthalterschaft, jenem<span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span> berüchtigten Rauf Pascha, +eine böse Zeit angebrochen. Die Erpressung seitens der Beamten war +ärger denn je, und als im Mahdi ein angeblicher Befreier sich erhob, +war der Zündstoff im Lande in einer Weise angehäuft, daß der Aufruhr +wild empor loderte.</p> + +<p>Wie es mit der Gelderpressung durch übermäßige Besteuerung aussah, +beschrieb der Times-Korrespondent Power, den Gordon in Khartum +vorfand, und der einer der drei Engländer war (Gordon und Stewart die +beiden andern), die des Landes Märtyrer wurden.</p> + +<p>»Wenn die Leute hier ihre Acker bebauen wollen,« lautete der Bericht, +»so müssen sie eine Steuer zahlen; und um Wasser aus dem Nil auf +ihre Äcker zu leiten, ohne welches das Land nutzlos ist, müssen sie +eine zweite Steuer zahlen. Wenn das Korn dann geerntet ist, kommt +die dritte Steuer, ehe sie es verkaufen dürfen. Ist die Ernte gut, +so wird die Steuer verdoppelt, damit neben der Regierungskasse +der Privatbeutel des Pascha nicht zu kurz komme. Lassen die Leute +unter diesen Umständen den Ackerbau liegen, dann kriegen sie die +Karbatsche aus guter Rhinozeroshaut. Wenn der Bauer für Weib oder +Kind ein armseliges Kleidungsstück kauft oder seine Lotterfalle von +Haus wetterfest zu machen sich getraut, dann heißt's, er müsse Geld +versteckt haben, das noch nicht besteuert sei. Kurz, die Leute müssen +zahlen und zahlen und wieder zahlen, ob sie wollen oder nicht, ob sie +können oder nicht; und wer nicht arbeitet, wird bis aufs Blut gequält, +bis er mithilft, die Beamten zu bereichern. Wer ein Boot auf dem Nil +hat, muß achtzig Mark zahlen, wenn er nicht unter ägyptischer Flagge +fährt, und die Erlaubnis, die Flagge zu führen, kostet ebenfalls +achtzig Mark. Dies ist's, was in erster Linie am Aufruhr schuld ist, +nicht der Mahdi; und ich wünsche aus tiefster Seele, daß jeder Ägypter +aus dem Land gejagt werde. Die Zustände der Sklavenwirtschaft, so +beklagenswert sie sind, sind immerhin noch besser, als solch ein +Regiment ägyptischer Blutsauger.«</p> + +<p>Zwischen dem Mahdi des Sudan und jenem Schulmeisterkönig des großen +Friedens in China ist eine gewisse Ähnlichkeit<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span> unverkennbar; der +Aufstand war beidemal der eines falschen Propheten, welcher eine +himmlische Sendung vorgiebt, um ein im Elend verkommenes Volk für +seine Zwecke zu gewinnen. Beiden gelang es in erstaunlicher Weise, mit +ihren Horden das Land zu verheeren und Träume einer goldenen Zukunft +auszustreuen.</p> + +<p>Der Mahdi wollte nichts Geringeres sein, als der Messias der +moslemitischen Völker.</p> + +<p>Die zum Islam »Bekehrten« sind in Zentral-Afrika nach Millionen zu +rechnen, und mit der Lehre Mohammeds hatte sich in jenen Ländern +auch die Erwartung verbreitet, daß in der Fülle der Zeit ein Mahdi, +d. h. Führer, erscheinen werde, dem es vorbehalten sei, das Werk des +Propheten mit Schwerteskraft zu vollenden, um die Gottlosigkeit von +der Erde zu vertilgen, das unschuldig vergossene Blut der Imams zu +rächen und ein Reich der Gerechtigkeit aufzurichten.</p> + +<p>Es hat zu verschiedenen Zeiten Mahdi gegeben, und der, dem es +neuerdings gelang, die Messiashoffnungen seiner Glaubensgenossen zu +seinen Gunsten auszubeuten und die unterdrückten Stämme bis zu seinem +im Sommer 1885 erfolgten Tode um sich zu scharen, war ein Eingeborner +der Provinz Dongola, ein noch nicht vierzigjähriger Mann von hoher +geschmeidiger Gestalt, schwarzem Bart und hellbrauner Gesichtsfarbe. +Er hieß Mohammed Achmet und war der Sohn eines Schiffszimmermanns +Namens Abdallah. Mohammed war der jüngere von mehreren Brüdern +und wurde in seiner Jugend gleich diesen zum väterlichen Handwerk +angehalten. Eine Abneigung dagegen machte sich jedoch früh bei ihm +bemerkbar; er zog sich gern von den Menschen zurück und beschäftigte +sich stundenlang mit dem Koran. Als junger Mensch entlief er der +Heimat infolge einer Tracht Prügel; ging nach Khartum und schloß sich +der »Medressu« oder freien Schule eines Fakir an, der zu Hoghali, +einem Dorfe östlich von Khartum, dem Lehrwesen oblag. Diese Schule +gehörte zum Grab des Scheik Hoghali, des hochverehrten Schutzheiligen +von Khartum; und der Hüter des Schreins, obschon er für die freie +Schule aufkommt und die Armen speist, erfreut sich einer schönen +Einnahme seitens der andächtigen Wallfahrer. Er giebt vor, ein<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> +Abkömmling des ursprünglichen Hoghali und durch diesen Mohammeds +selbst zu sein. Hier also ließ Mohammed Achmet sich nieder und +befleißigte sich des Studiums der Religion. Nach einiger Zeit begab +er sich nach Berber und besuchte die Schule des Scheik Ghubusch, +der ebenfalls eines Heiligenschreins wartete. Im Jahr 1870 schloß +er sich einem andern Fakir an, dem Scheik Nur el Daim (das ewige +Licht). Dieser fand ihn soweit vorgerückt in der Religion, daß er ihn +selbst zum Scheik oder Fakir bestellte, worauf der neue Lehrer sich +auf die Insel Abba im Weißen Nil zurückzog. Dort lebte er eine Zeit +lang in beschaulicher Stille, indem er sich in einer Höhle verbarg +und stundenlang den Namen Gottes hersagte, viel fastete und Weihrauch +verbrannte. Bald stand er im Geruch absonderlicher Heiligkeit; es +sammelten sich Derwische um ihn, er wurde reich und heiratete eine +Menge Weiber, die er sich umsichtigerweise unter den Töchtern der +angesehensten Scheiks erwählte. Allerdings soll der wahre Moslem mit +vier Weibern sich begnügen, und der kluge Heilige that dies auch, +indem er, so oft er aufs neue Hochzeit hielt, eine der überzähligen +älteren Gattinnen der Ehre seines Harems verlustig erklärte.</p> + +<p>Im Frühjahr 1881 schrieb er an alle übrigen Fakire und offenbarte sich +ihnen als den vom Propheten verheißenen Mahdi: er habe göttlichen +Befehl erhalten, den Islam zu erneuern, derselbe müsse die Religion +der Welt werden, <em class="gesperrt">ein</em> Gesetz, <em class="gesperrt">eine</em> Freiheit müsse die +Gläubigen verbinden, und wer nicht gesonnen sei ihn anzuerkennen, +sei er Christ, Heide oder Mohammedaner, müsse von der Erde vertilgt +werden. Dieses Manifest richtete er u. a. auch an Mohammed Saleh, +den gelehrten und einflußreichen Fakir von Dongola, indem er ihn +aufforderte, mit seinen Derwischen in Abba zu ihm zu stoßen. Dieser +aber benachrichtigte die Regierung von dem Vorhaben Mohammed Achmets +und fügte als sein Privaturteil die Anmerkung bei, der Mensch müsse +geistig gestört sein. Auch die Ulema von Khartum erklärten sich gegen +ihn, ebenso wurde er in Kairo und Konstantinopel verworfen und als +falscher Prophet gebrandmarkt. Gleichwohl fand der Mahdi Anhänger +genug; ihm schlossen sich alle an, die das ägyptische<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> Regiment +haßten, vorab die Sklavenhändler, die wohl wußten, daß sie unter einem +Aufruhrregiment ihr Raubwesen nur um so besser würden treiben können. +Ja Gordon war der Ansicht, daß Sebehr von Anfang an die Hand mit im +Spiel hatte, daß er den Mahdi, wenn er ihn nicht förmlich anstiftete, +so doch jedenfalls bestärkte, alles, um durch Aufruhr und Anarchie +in den Sudanländern seine Freilassung und Rücksendung zu erzwingen. +Jedenfalls gehörte ein Verwandter Sebehrs von Anfang an zu des Mahdi +Helfershelfern.</p> + +<p>So viel ist sicher, daß der Glaube an die wahre Mission des Mahdi +rasch um sich griff. Rauf Pascha konnte das bedenkliche Wachstum +seiner Macht kaum unbeachtet lassen und schickte einen Botschafter +nach der Insel Abba. »Als ich dieselbe erreichte,« berichtete dieser, +»empfing mich Mohammed Achmet inmitten von mehreren Hunderten seiner +Getreuen; in der Rechten hielt jeder ein Schwert. Der Mahdi saß auf +einem erhöhten Thron, mit dem Stab des Propheten in der Hand. Auf +meine Frage, was er beabsichtige, beschrieb er mir seine angebliche +Sendung. Ich erwiderte ihm, daß wir alle so gut Muselmänner wären, +als er selber. Das bestritt er, weil wir den Christen gestatteten, +auf ihre Weise Gottesdienst zu halten, und weil unsere Regierung +Steuern erhebe. Ich riet ihm, seine Pläne ruhen zu lassen, denn er +könne doch nichts gegen eine Regierung ausrichten, die über Truppen +und Schießbedarf und Dampfer verfüge. Darauf entgegnete er: ›Wenn eure +Soldaten auf uns schießen, so werden ihre Kugeln uns nicht treffen; +und wenn ihr mit euren Dampfern kommt, so werden diese untergehen.‹«</p> + +<p>Die Kriegs- und Eroberungszüge des Mahdi während der Jahre 1881-83 zu +verfolgen würde zu weit führen. Es genüge zu sagen, daß eine Provinz +nach der andern, eine Stadt nach der andern ihm zufiel. Es war die +Zeit der Arabi-Wirren in Ägypten; man war dort kaum in der Lage, sich +viel um den Mahdi zu kümmern. Die wichtige Stadt Obeid ergab sich ihm +im Anfang des Jahres 1883.</p> + +<p>Erst nachdem Arabi mit Hilfe der Engländer nach Ceylon verschifft war, +konnte man sich ägyptischerseits gegen den Mahdi<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> wenden. Derselbe +hatte verkündigt, daß er mit der Zeit auch berufen sei, Kairo und +Konstantinopel zu seiner Sendung zu bekehren. Was die Statthalter +im Sudan bisher gegen ihn unternommen hatten, war meist mißglückt +und schon im August 1882 hatte Khartum in Belagerungszustand erklärt +werden müssen. In diesem Jahr wurde das ägyptische Militär der Provinz +unter die Anführerschaft des englischen Obersten Hicks gestellt, +der mit noch andern Briten und verschiedenen sonstigen Europäern, +darunter auch ein Deutscher, Major von Seckendorff, in des Khedive +Dienste trat; denn da der Mahdi an alle wahren Moslemin appellierte, +so hielt man es für geraten, ihm mit nichtmohammedanischen Kräften +entgegenzutreten. Hicks Pascha war ein tüchtiger Offizier, der in +Indien gedient hatte. Nach verschiedenen erfolgreichen Voroperationen +verließ Hicks Khartum im September 1883 an der Spitze von zehntausend +Mann mit der Absicht, den Mahdi aus Obeid zu vertreiben. Es war der +unglücklichste Kriegszug, der je unternommen wurde. Ob und inwieweit +Hicks der Unvorsichtigkeit zu beschuldigen war, ist nicht zu sagen, +denn die näheren Einzelheiten der furchtbaren Katastrophe werden wohl +nie ans Tageslicht treten. Das einzige, was verlautete, waren die +Worte eines Zeitungskorrespondenten: »Wir wagen kein Geringes, indem +wir unsere Verbindungslinien verlassen und über dreihundert Kilometer +weit in ein unbekanntes Land vordringen. Die Brücke hinter uns ist +sozusagen abgebrochen. Der Feind zieht sich vor uns zurück und das +Land ist ausgeplündert. Wassermangel ist unsere große Sorge; die +Kamele halten's nicht aus.« Und Schweigen umhüllte die Unternehmung, +bis nach Wochen die Schreckensnachricht in Khartum einlief, daß Hicks +Pascha mit seinen Zehntausend bis auf den letzten Mann aufgerieben +sei. Der Mahdi hatte sie in eine wasserlose Wüste gelockt. Es soll +eine dreitägige Schlacht stattgefunden, Hicks selber, als einer der +letzten, seinen Tod gefunden haben. Gordon war der Ansicht, daß die +Armee großenteils verdurstet sei. So viel ist sicher, daß nicht +<em class="gesperrt">ein</em> Europäer entkam und daß die ägyptischen Truppen bis auf +wenige Mann aufgerieben wurden; oder wahrscheinlich richtiger — denn +es war ägyptisches Militär von der »unbeschreiblichen«<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> Sorte — was +von den Truppen überblieb, schloß sich dem Mahdi an. Es war eine +Niederlage wie im Teutoburger Wald, und ein Schrei des Entsetzens +hallte durch England. Der 1., 2. und 3. November 1883 ist das +mutmaßliche Datum der verhängnisvollen Schlacht.</p> + +<p>Nach dieser Unglückspost waren noch zwei Engländer im Sudan: der +bereits erwähnte Times-Korrespondent Power und Oberst Coëtlogon, +der krank in Khartum zurückgeblieben war, als Hicks den unseligen +Marsch unternahm. Die Folgen des Sieges für den Mahdi waren kaum zu +überschätzen. Darfur war für den Khedive verloren; was an Provinzen +oder Stämmen bis jetzt noch loyal war, ging zu den Rebellen über. Ein +panischer Schrecken hatte das Land befallen; er machte sich in Kairo +geltend, und im fernen England erlitten die ägyptischen Papiere aufs +neue eine bedenkliche Baisse.</p> + +<p>Ägypten wird nicht in Kairo, sondern in London regiert. Das Kabinet +Gladstone hatte sich bis jetzt geweigert, dem Mahdi mit englischer +Macht zu begegnen, und als nach Hicks Niederlage der Sudan einem +unentwirrbaren Knäuel von Schwierigkeiten glich, erging seitens des +britischen Ministeriums der einem Befehl gleichkommende gute Rat nach +Kairo, die Sudan-Provinzen fahren zu lassen. Sir Evelyn Baring, der +englische Agent in Ägypten, sollte den Khedive dahin beeinflussen, daß +eine feste Stellung auf der Suakimlinie vorläufig das Beste wäre. Wenn +der Mahdi erst einmal diese Linie überschritten hätte, dann wäre es +den Friedensministern an der Themse immerhin noch früh genug gewesen, +ihm mit Heeresmacht zu begegnen. Die englischen Interessen in Ägypten +freilich mußten sicher gestellt werden; der Kontre-Admiral Hewett im +Roten Meer und Baker Pascha zu Land sollten dieselben wahren.</p> + +<p>Die Macht des Mahdi wuchs unterdessen lawinenartig, und nicht nur +in Ägypten wurde die Meinung laut, daß eine Räumungspolitik nicht +das Beste wäre. Daß des Khedive Grenztruppen den fanatischen Horden +des falschen Propheten gewachsen sein würden, glaubte niemand; +englisches oder türkisches Militär allein konnte sein Vordringen +hindern. Aber auf englische Truppen sollte nicht<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> gerechnet werden, +und was die Türken beträfe, meinten die Ratgeber, wie sollte man es +dem Beherrscher der Gläubigen selbst zumuten, einen heiligen Krieg +mit Waffen zu unterdrücken? Denn daß es ein heiliger Krieg sei, das +glaubten Tausende; und die Begeisterung in den Sudanländern nahm +überhand, nun der längstverheißene Befreier gekommen schien. Die +plötzliche Machtentfaltung des Mahdi hatte den Unterdrückten Thür +und Thor geöffnet; er sprach von Freiheit und das seufzende Land +erhob sich gegen das Joch der verhaßten Ägypter. Gordon hatte dies +vorausgesehen. Hatte er nicht vor Jahren gesagt, daß ein beherzter +Anführer jederzeit die Sudan-Völker zu einem gewaltigen Aufstand +würde vereinigen können? Er hatte damals auch gesagt, daß gewisse +Leute schlafen würden, bis es zu spät sei. Es waren nicht nur die +Sklavenhändler, sondern vielmehr noch die zahllosen bewaffneten +Araberstämme, in denen Gordon das Brandmaterial erblickte. Ein +Anführer war erschienen, und allem nach einer, dem es an Mut nicht +fehlte.</p> + +<p>In England also war beschlossen worden, die Sudan-Provinzen zu räumen; +welche Anarchie alsdann daselbst herrschen würde, das fragte man sich +vorläufig nicht. Ein lebhafter Depeschen-Wechsel zwischen London +und Kairo fand statt. In Ägypten nämlich stieß die Räumungspolitik +auf Widerstand. Das Ministerium Cherif erklärte, die Verwaltung des +Sudan sei ihnen von der Pforte anvertraut, und die Räumung lasse +sich deshalb nicht so ohne weiteres vollziehen. Cherif Pascha fügte +seinerseits hinzu: »Wir haben Tausende von getreuen Unterthanen im +Sudan, und nichts auf der Welt soll mich dazu bringen, diese Leute dem +Mahdi zu überantworten. Ich bin überzeugt, daß ich recht habe; die +Zukunft wird zwischen mir und dem Kabinet Gladstone in dieser Sache +richten.«</p> + +<p>Damit legte das Ministerium Cherif sein Amt nieder und ein +neues Kabinet unter Nubar Pascha trat ans Ruder. Als man diesem +glückwünschend die Meinung aussprach, daß das neue Ministerium +im Hinblick auf die vorhandene Krisis ein von der Klugheit +zusammengerufenes zu sein scheine, entgegnete er trocken, dem sei +ohne Zweifel so, das Wort Minister werde in<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> Ägypten zur Zeit nur +leider von dem lateinischen Wort <em class="antiqua">minus</em> hergeleitet, das weniger +als nichts bedeute. So viel war aber sicher, daß, obschon das neue +Ministerium bereit war, sich seine Aufgabe von England diktieren zu +lassen, damit noch keineswegs Mittel und Wege gefunden waren, die +ägyptischen Besatzungen, um die es sich handelte, aus den dem Aufruhr +überladenen Sudanländern zurückzuziehen. An Vorschlägen fehlte es +nicht, aber der eine war so unausführbar wie der andere.</p> + +<p>Zwischen Dongola und Gondokoro standen etwa zwanzigtausend Mann +ägyptischer Truppen mit Weib und Kind, und in allen Bezirken gab's +Beamte, die das Brot der Regierung aßen und deren Lage täglich +kritischer wurde. Unter den verschiedenen Garnisonsplätzen war Khartum +selbst der Hauptort, dessen elftausend ägyptische Unterthanen einen +Hilferuf nach dem andern ergehen ließen — inständige Bitten, einen +Rückzug ins Werk zu setzen. Khartum war damals schon wie eine von +allem Verkehr abgeschnittene Insel; jene elftausend Menschen hätten +sich unmöglich selbst nach Ägypten durchschlagen können. Das Land +umher war dem Mahdi zugefallen, und fürs übrige benutzten die zum +Feind sich schlagenden Stämme gern die Gelegenheit, den Ägyptern alle +bisherige Unterdrückung mit Zinsen heimzugeben. Daß damit manchem sein +verdienter Lohn geworden, unterliegt keinem Zweifel; aber, wie es +immer geht, leiden mit einem Schuldigen zehn Unschuldige.</p> + +<p>Übrigens war nicht einmal das Nubar-Ministerium bereit, Khartum ohne +weiteres fahren zu lassen; man hoffte diese Stadt für den Khedive +halten zu können, selbst wenn man das Land dem Mahdi überließe — +eine thörichte Hoffnung, welche die Schritte für den Rückzug der +Besatzungen so lange verzögerte, bis es zu spät war.</p> + +<p>Daß England eine Verantwortung in der Sache hatte, liegt auf der +Hand; die Räumungspolitik war britischer guter Rat; und es gab in +England Leute genug, die sich für die Besatzungen ereiferten und es +für schmählich erklärten, diese im Stich zu lassen. In jenen Tagen +sprach Gladstone selbst das Wort aus: »Darin sind wir alle einig, +daß Maßregeln getroffen werden müssen, um<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> den sichern Rückzug der +Besatzungen zu ermöglichen.« Die einzige Maßregel, zu welcher das +britische Kabinet sich bis dahin aber verstehen konnte, war die +Grenzverteidigung unter Baker Pascha, ein klägliches Auskunftsmittel +angesichts der Sachlage. Denn auch im östlichen Sudan griff der +Aufruhr mit Riesenschritten um sich. Die Küstendistrikte des Roten +Meeres fielen nacheinander der Rebellion anheim, während die +Besatzungen von Suakim, Tokar, Trinkitat und Sinkat täglich in +schlimmere Not gerieten. Jede Post brachte bedenklichere Nachrichten. +Das englische Volk wurde ungeduldig und erklärte, die britische Ehre +stehe auf dem Spiel. Da fiel wie ein Blitzstrahl eines Morgens die +Nachricht ins Land — <em class="gesperrt">Gordon geht nach Khartum</em>!</p> + + +<h3>2. Der Kriegsheld als Friedensbote.</h3> + +<p>Noch während Gordon in Jaffa weilte, waren Stimmen in England laut +geworden, daß er der Mann sei, der allein im stande wäre, der Lage im +Sudan Herr zu werden. Auf Engelrat könne man zwar heutzutage nicht +warten, meinte eine dieser Stimmen, allein es wäre wünschenswert, +daß die öffentliche Meinung zu Gladstone spreche: »So sende nun +hin gen Joppen und laß herrufen einen Gordon, mit dem Zunamen der +Chinese; der wird dir sagen, was du thun sollst.« Und als Gordon nach +seiner Brüsseler Audienz in der ersten Januarwoche 1884 in England +eintraf und es bestimmt schien, daß er nach wenigen Tagen nach dem +Kongo abreisen werde, da ging ein Sturm durch die Zeitungen, daß man +diesen Mann verlieren könne; er habe sich zwar dem König von Belgien +verbindlich gemacht, allein das sei kein Hindernis, König Leopold +werde jedenfalls zurücktreten, wenn England seines Sohnes bedürfe. Auf +diesen Wink der Presse hin antwortete die Regierung vorläufig damit, +daß sie es nicht für nötig fand, Gordon aus dem englischen Dienste +zu entlassen, wenn er als Bevollmächtigter des Königs von Belgien an +den Kongo gehen sollte; fürs übrige ließ man ihn am 16. Januar nach +Brüssel abreisen. Keine zwölf Stunden aber vergingen, da berief man +ihn telegraphisch zurück, und frühmorgens am 18. war er wieder in +London. Außer den<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span> Ministern wußte kein Mensch davon. Nachmittags um 3 +Uhr hatte er Audienz, die er selbst folgendermaßen beschrieb:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wolseley (der bekannte General) brachte mich ins Ministerium und +ließ mich im Vorzimmer warten; dann kam er zurück und sagte: ›Es ist +beschlossen, den Sudan zu räumen, und England will für die künftige +Regierung der Sudanländer keinerlei Gewähr leisten. Wollen Sie +gehen?‹ ›Ja,‹ sagte ich. Da hieß er mich eintreten, und ich sah die +Minister. ›Hat Wolseley Ihnen unsere Wünsche mitgeteilt?‹ fragten +sie. ›Ja,‹ entgegnete ich, ›England will für die künftige Regierung +des Sudans keine Gewähr bieten, und ich soll gehen und das Land +räumen.‹ — ›Das ist's,‹ sagten sie; ›wie bald können Sie gehen?‹ — +›Sofort,‹ entgegnete ich und reiste am selben Abend ab.«</p> +</div> + +<p>Das war eine frohe Stunde am andern Morgen, als es hieß: »Gordon +ist nach Khartum abgereist!« Die Zeitungen überboten einander mit +Glückwünschen, und wie die Times sagte, war es unmöglich, das Gefühl +der Erleichterung zu beschreiben, welches das Land auf und nieder +bei der Nachricht erfüllte, daß Gordon es übernommen habe, als +Friedensbote nach dem Sudan zu gehen. Mit diesen Worten ist auch +die diesem übertragene eigenartige Mission charakterisiert. Die +englische Regierung, die keine Truppen senden wollte, um dem Mahdi +zu begegnen, war wissentlich oder unwissentlich von dem allgemeinen +Glauben angesteckt, daß Gordon an sich ein Heer sei, und so schickte +man ihn, um durch seinen persönlichen Einfluß ein Ziel zu erreichen, +wozu man sonst Armeen und Millionen braucht. Nicht um einen Krieg zu +führen, zog der Held aus, sondern um auf seine Weise den Sudan aus dem +Aufruhr zu retten; er sollte den ägyptischen Unterthanen den Rückzug +ermöglichen, mit dem Mahdi unterhandeln und das Land sozusagen an +die Sudanesen zurückgeben. Es lag etwas so Romantisches in diesem +Ausziehen eines für viele, daß das Herz des Volkes davon ergriffen +wurde und die Wünsche aller ihn begleiteten. Gordon selbst soll gesagt +haben: »Ich soll dem Hund den Schwanz abschneiden, und ich will es +thun, es mag kosten was es will.« Einen einzigen Kampfgenossen hatte +er, Oberst Stewart, den er sich zum Begleiter ausgebeten hatte, +derselbe, der früher schon von Regierungswegen im Sudan gewesen war.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span></p> + +<p>Nur wer Gordon nicht kannte, mochte sich wundern, wie er so schnell +zur Abreise bereit sein konnte; der Leser aber versteht es wohl jetzt, +daß dieser Mann allezeit und in allen Lagen reisefertig war. Auf Erden +angewachsen war er nirgend und seine persönliche Ausrüstung kümmerte +ihn wenig. Es hat ihn an jenem Nachmittag des 18. Januar einer +gefragt: »Haben Sie denn auch alles, was Sie brauchen?« Die Antwort +lautete: »Ich habe, was ich immer habe, dieser Anzug ist gut genug. +Ich gehe wie ich bin.« »Ja, aber haben Sie auch Reisegeld?« »Das hätte +ich beinahe vergessen. Der König von Belgien hat mir vierhundert Mark +geliehen; die muß er wieder haben, und ohne Geld kann ich natürlich +nicht fort.« Als man ihm aber vierzigtausend Mark mitgeben wollte, +meinte er, das brauche er nicht, viertausend thäten es auch.</p> + +<p>Daß es keine leichte Mission war, die er übernommen, daß Gefahren +aller Art vor ihm lagen, wußte niemand besser als Gordon selbst, aber +das focht ihn nicht an. Sein letztes Wort auf englischer Erde war ein +Telegramm an seinen Freund, jenen Geistlichen, welchen er in Lausanne +kennen gelernt hatte:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich gehe nach Khartum; wenn er mit mir geht, ist alles wohl.«</p> +</div> + +<p>Der Telegraphist hatte er und nicht Er gesetzt; aber der Empfänger +dieser Botschaft sagte mit Recht, daß in diesen kurzen Worten Gordons +Lebensgeschichte niedergelegt sei. Gordon ging allein und nicht +allein; »der Herr der Heerscharen geht mit mir,« schrieb er unterwegs.</p> + +<p>Unterwegs, an Bord der Tanjore, zwischen Brindisi und Port Said, +brachte er den Zweck seiner Sendung im Licht des ministeriellen +Auftrags zu Papier, in welchem Schriftstücke er betonte, daß es +seitens des englischen Kabinets ausgemacht sei, für die künftige +Regierung des Sudan keinerlei Gewähr zu leisten, daß England es +aber unternommen habe, dem Land seine Unabhängigkeit zurückzugeben +und ägyptische Unterdrückung nicht länger zu dulden; daß bei dieser +Absicht sein Auftrag darin bestehe, einen sicheren Rückzug der +Garnisonen und anderer ägyptischen Unterthanen zu bewerkstelligen und +daß die Art und Weise dieses<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> Rückzuges von den Umständen abhängen +werde. Nachdem er damit seine Mission gekennzeichnet hatte, zeigte +er weiter, wie sich dieselbe am besten ausführen lasse. Er schlug +vor, daß man das Land den Erben der verschiedenen Sultane übergeben +könne, die vor der ägyptischen Eroberung die Sudan-Provinzen +beherrschten, und daß es diesen überlassen bleiben müsse, den Mahdi +anzuerkennen oder nicht. Ferner machte er darauf aufmerksam, daß die +Rückzugskolonnen eines Angriffs seitens des Mahdi wohl gewärtig sein +müßten, in welchem Fall er voraussetzte, daß die Regierung es billigen +würde, wenn er zu den Waffen griffe.</p> + +<p>Es war Gordons Absicht, sich direkt durch den Suezkanal nach Suakim +zu begeben und von dort durch die Wüste und über Berber nach Khartum +zu gelangen. Er glaubte seiner Sendung als Friedensbote an das +unglückliche Land besser genügen zu können, wenn er direkt hinkomme, +ohne sich erst mit Ägypten ins Einvernehmen zu setzen. Als er aber +in Port Said eintraf, war Sir E. Baring mit noch anderen von Kairo +gekommen, um ihn aufzufordern, sich dahin zu begeben. Auch war die +Nachricht angelangt, daß die Suakim-Route nun vollständig in den +Händen der Rebellen und somit abgeschnitten sei. Er fügte sich den +Umständen und hielt sich zwei Tage in Kairo auf. Großer Freundlichkeit +seitens des Khedive hatte er sich nicht versehen, denn mit seiner +Meinung über dessen Politik hatte er nie und nirgend hinter dem Berg +gehalten; trotzdem sprach jener ihm seine volle Befriedigung darüber +aus, daß er die Beruhigung des Sudan übernommen habe, und verlieh ihm +zu diesem Zweck seine alte Oberstatthalterwürde. Allerdings war dies +unter den vorliegenden Umständen mehr Form als Inhalt; des Khedive +Firman aber beauftragte ihn nicht nur mit der Räumung des Landes, +sondern mit der Reorganisation desselben, wenn es möglich wäre, die +Provinzen der Anarchie zu entreißen. Gordon ging also einerseits als +englischer Friedensbote nach Khartum, andererseits aber kehrte er in +diese Hauptstadt als der Generalgouverneur der Provinz zurück, um sie +so lange zu halten, bis man den Sudan sich selbst überlassen könne. +Es lag kein Widerspruch in dieser doppelten Sendung, war doch der +Zweck beider derselbe. Die englische<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> Regierung billigte die Haltung +des Khedive, und Sir E. Baring versicherte Gordon, daß der völlige +Beistand beider, der englischen wie der ägyptischen, Behörden zu Kairo +ihm gewiß sei.</p> + +<p>Ehe Gordon die ägyptische Hauptstadt verließ, empfahl er die +Wiederernennung eines Sultans von Darfur als ein Stück richtiger +Taktik gegenüber dem Mahdi. Infolge dieses Rates wurde Emir Abdel +Schakur, der rechtmäßige Erbe, vom Khedive als Beherrscher der Provinz +anerkannt, die seinem Vater vor Jahren entrissen worden war. Der junge +in Ägypten aufgewachsene Sultan verließ Kairo unter Gordons Schutz, +entpuppte sich unterwegs aber als ein unfähiger Weichling. Am 26. +Januar wurde die Reise nach Khartum angetreten. Der Weg sollte über +Assuan nach Wady Halfa gehen, von wo aus Gordon durch die nubische +Wüste nach Abu Hamed zu ziehen gedachte, um von da aus Khartum mit +einem Nilboot zu erreichen.</p> + +<p>Ob Gordon aber die bedrängte Stadt je sehen werde, das wurde nicht +nur in England, sondern alsbald durch die ganze Welt zur Tagesfrage; +der Held auf seinem Ritt durch die Wüste war ein Gegenstand der +lebhafteren Teilnahme. Wußte man doch, daß der Feind in allen +Richtungen streifte, daß aufrührerische Scheiks mit ihren Stämmen den +Friedensboten stündlich überfallen konnten. Es war eine Wüstenstrecke +von vierhundert Kilometer, die der furchtlose Gordon mit seinem +Geleitsmann Stewart und einem geringen Gefolge von nicht zehn Mann +auf raschen Kamelen zu durcheilen gedachte. Khartum war von Kairo aus +benachrichtigt worden, daß Gordon in drei Wochen daselbst einzutreffen +gedenke. »Es ist erstaunlich,« rief der junge Power, der ihn dort +sehnlichst erwartete; »es hat noch nie einer diese Reise unter einem +Monat gemacht. Gordon aber mit Schwert und Bibel fährt wie ein Wirbel +durchs Land.«</p> + +<p>Kein Feind belästigte ihn, der alte Zauber zog vor ihm her, oder wie +er es nannte, ihn geleitete die Wolke bei Tag, die Feuersäule bei +Nacht, und er war sicher in Feindesland. Eine friedliche Begegnung +hatte er auf dem halben Wege, nämlich den letzten Flüchtling von +Khartum, dem es gelang Kairo zu erreichen; es war dies ein Deutscher, +Namens Bohndorff, der mit <em class="antiqua">Dr.</em> Junker<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> im Njamnjamlande +wissenschaftliches Forschungen obgelegen hatte, bis es fast zu spät +war zu entkommen. Sie waren alte Bekannte; Gordon hatte mit diesem +Deutschen früher schon am Weißen Nil verkehrt. Bohndorff beschrieb +die Begegnung: eine Staubwolke am Horizont und ein sich daraus +loslösender Reitertrupp, der Anführer voraus, und man erkannte von +weitem den ernsten Eifer, der ihn seinem Ziele entgegentrug. Von +Bohndorff erfuhr Gordon, wie es in Khartum stehe, daß außer den beiden +Engländern Power und Coëtlogon nur ein Europäer noch dort sei, nämlich +der österreichische Konsul Hansal, welche Bemerkung übrigens eine +Anzahl ansässiger Griechen außer acht ließ. An sechzigtausend Seelen, +worunter zahlreiche Flüchtlinge aus der Umgegend, wären in der Stadt +— ein Bild der Sorge und Niedergeschlagenheit — doch werde die Ruhe +aufrecht erhalten, und Oberst Coëtlogon lasse sich die Befestigung +angelegen sein.</p> + +<p>Wenn man in England und anderwärts um Gordon sorgte, so war dies +nicht ohne Grund, denn die Nachrichten aus dem östlichen Sudan +waren nichts weniger als beruhigend. Am 4. Februar erlitt Baker +Pascha mit seinen vierthalbtausend Ägyptern und etlichen englischen +Offizieren eine gründliche Niederlage bei Trinkitat, als er einen +Versuch machte, Tokar und Sinkat zu entsetzen. Er hatte sein Bestes +gethan, die erbärmliche Mannschaft, welche ihm zu Gebote stand, +einen zusammengeworfenen Haufen ägyptischer Gendarmerie, türkischer +Baschi-Bosuks und Schwarzer aus dem Sudan, annähernd kriegstüchtig zu +machen; aber gleich beim ersten Zusammenstoß mit des Mahdi Heerführer, +Osman Digna, überfiel die Helden eine Todesangst, und sie machten +nicht einmal den Versuch Stand zu halten. Die einen schossen ihre +Flinten ab und schrieen um Gnade, während die anderen ihre Waffen von +sich warfen und in wilder Flucht davon stürzten. An hundert Offiziere, +darunter die Mehrzahl der englischen Offiziere, kamen um, und nur ein +kleiner Teil der Truppen gelangte nach der Uferstadt Trinkitat zurück, +von wo sie ausgezogen waren. Baker selbst kam nur wie durch ein Wunder +davon, nachdem er sich vergeblich bemüht hatte, seine flüchtigen +Helden zum Stehen zu bringen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span></p> + +<p>Osman Digna war der Mann, diesen Sieg auszubeuten. Man erwartete, +daß er sich auf Suakim werfen werde. Ringsumher hatte er die Stämme +gewonnen, und selbst in dieser Hafenstadt brachte der Schrecken viele +dazu, sich für den Mahdi zu erklären. Sinkat fiel; die Besatzung hatte +sich gehalten, bis der letzte Hund verzehrt war. Man schlachtete die +Pferde; noch ein Sack voll Korn war übrig, und der tapfere Kommandant +Thewsik Bey hatte erklärt, daß wenn bis zum achten Februar keine Hilfe +komme, er den letzten verzweifelten Ausfall machen müsse, um einen +besseren Tod zu finden, als das Verhungern innerhalb der Mauern. Er +erfuhr nichts von Baker Paschas Niederlage, und nachdem auch sein +letzter Hilferuf ungehört verhallt war, vernahm die Welt, daß die +Belagerung von Sinkat mit einem todesmutigen Ausfall der Besatzung +geendet habe, der ägyptischen Truppen ein weit rühmlicheres Zeugnis +ausstellte, als man seither zu hören gewohnt war.</p> + +<p>Das war Wasser auf die Mühle der Opposition in England; es gab eine +heiße Debatte im Parlament. Gladstone erklärte, man sei deshalb der +Besatzung von Sinkat nicht zu Hilfe gekommen, weil man nichts thun +wolle, was irgendwie von Folgen für jene anderen Besatzungen sein +könne, die Gordon zu retten versuche. Es sei geboten, sich ruhig zu +verhalten. Angesichts dieser Erklärung jedoch und unter dem Drucke der +öffentlichen Meinung wurde der britische General Graham, zur Zeit in +Kairo, damit beauftragt, Tokar zu entsetzen. Noch ehe derselbe aber +mit seiner Mannschaft in Trinkitat gelandet war, hatte Tokar sich +ergeben, und die Besatzung war zum Feind übergegangen. Der Fall von +Kassala wurde als das nächste erwartet, und auch die Ufer-Distrikte +um Massaua her schienen dem Mahdi zuzufallen; es blieb nichts übrig, +als die Araber unter Osman Digna bei Suakim zu erwarten und von dort +zurückzuwerfen.</p> + +<p>Osman Digna war ein tüchtiger Soldat; er war Sklavenhändler gewesen +und jetzt die rechte Hand des falschen Propheten. Dieser hatte ihn auf +dem Sklavenmarkt zu Obeid kennen gelernt und mit großem Scharfblick +seine Brauchbarkeit erkannt; er hatte ihn für seine Pläne gewonnen, +worauf er ihm den Ost-Sudan<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> übertrug, damit er dort Land und Leute +für seine angebliche Mission gewinne. Mit siegreichen Waffen hatte +Osman Digna des Propheten Werk seither ausgerichtet; jetzt aber galt +es einem englischen General und englischen Linientruppen stand zu +halten; er erlitt seine erste Niederlage und wurde ins Innere des +Landes zurückgeworfen. Keineswegs aber streckte er die Waffen, und so +spann sich ein englischer Separatkrieg im Ost-Sudan hin, während die +Räumung des Landes auf friedlichem Weg ins Werk gesetzt werden sollte! +Osman Digna bekämpfte man, den Mahdi wollte man nicht bekämpfen, und +die Parteien stritten sich im Parlament.</p> + +<p>Und Gordon? Er wußte von all dem nichts. In felsenfestem Vertrauen +eilte er durch die Wüste, unbesorgt um seine eigene Sicherheit, +während man auf Kanzeln und Rednerbühnen seiner gedachte, während viel +tausend Herzen ihm ein Engelgeleit in den Gefahren wünschten, die ihn +umgaben. Gefahren? Er sah sie nicht! Einem Scheik, der ihm quer kam, +sagte er: »Wenn ihr Frieden wollt, ich bringe ihn; sucht ihr Krieg, +so bin ich bereit.« Und der verzagenden Khartumer Garnison meldete er +telegraphisch seine Nähe mit den Worten: »Ihr seid Männer und nicht +Weiber. Seid guten Muts, ich komme.«</p> + + +<h3>3. Gordon im Land.</h3> + +<p>War schon in England die Befriedigung eine allgemeine gewesen, als +Gordon nach Khartum sich auf den Weg machte, so war's noch ein +anderes in Ägypten. Eine Begeisterung sondergleichen erfüllte Land +und Leute bei seinem Kommen. Man wußte dort ungleich besser, was +man an ihm hatte, als daheim in England. Die Thaten seiner früheren +Statthalterschaft waren auf aller Lippen; man sprach von ihm als einem +Unüberwindlichen, dessen bloße Gegenwart Wunder wirken werde in dem +zerrütteten Land. Des Mahdi Kriegsheer werde in nichts zerstieben wie +Dunst vor der Sonne, rief das Volk, und des guten Pascha feste Hand +werde alle Wunden heilen, die jener geschlagen. »Ich gehe, um die +Ehre Ägyptens zu retten,« war Gordons letztes Wort an Nubar; daß er +Englands Ehre in seiner Hand trug, wußte<span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span> er nicht minder. Auf jenem +Wüstenritt nach Abu Hamed durchstritt er im Geist die Kämpfe, die es +zu liefern geben würde, und hätte er nur verwirklichen können, was +sein hoher Sinn und sein unbefangenes Auge als das richtige erkannten, +hätte man ihm nur freie Hand gelassen, es ließe sich wohl ein anderes +Lied singen von der Heldenzeit in Khartum. Als die glitzernde +Sandwüste hinter ihm lag, wußte er, was er zu thun habe, und stand +gegürtet zur Schlacht.</p> + +<p>Er brauchte nicht weit vorzudringen, um Beweise zu finden, daß +ägyptische Beamtenwirtschaft des Mahdi Handlangerin war; diesen +hielt er übrigens für weniger stark als die Sage ging. So fand er +die Eisenbahnarbeiter zu Assuan in größter Armut, weil ihre Löhnung +seit Monaten im Rückstand blieb; der Hunger hatte da dem Propheten +Glauben verschafft, und Gordon telegraphierte alsbald an Sir E. +Baring, er solle den Leuten ohne weiteren Verzug ihr Geld schicken. +Ebenso entdeckte er, daß der Aufstand zwischen Suakim und Kassala +lediglich der Habsucht zweier Paschas zuzuschreiben war. Diese +waren mit den Scheiks des Hadendoa-Stammes eins geworden, ihnen für +Truppentransporte sieben Thaler für jedes Kamel zu geben; als die +Hadendoas aber etwa zehntausend Mann durch die Wüste befördert hatten, +erhielten sie je einen Thaler, während die übrigen sechs ganz ohne +Zweifel im Privatbeutel der Pascha stecken blieben. Da erhob sich +der Stamm, schloß sich Osman Digna an, und das Resultat war Bakers +Niederlage.</p> + +<p>Als erste Abschlagszahlung in der Räumungspolitik hatte Gordon schon +von Korosko aus an Nubar Pascha telegraphiert:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Eine Anzahl Weiber und Kinder sind nach Ägypten auf dem Weg; suchen +Sie einen menschenfreundlichen Mann, daß er sich ihrer annehme.«</p> +</div> + +<p>Und nachdem er in Abu Hamed an die englische Regierung berichtet und +darauf hingewiesen hatte, daß es so unpraktisch wie unrecht wäre, den +Sudan sich selbst zu überlassen, ehe man von geordneten Verhältnissen +daselbst reden könne, bestieg er ein Nilboot und erreichte Berber am +11. Februar.</p> + +<p>Hier erließ er seine Proklamationen. Den Einwohnern der<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span> Stadt Berber +sagte er, daß er gekommen sei, Frieden zu bringen, ja Freiheit von +aller Unterdrückung, daß er bereit sei ihnen zu helfen, Ruhe und +Ordnung herzustellen, und daß er ihnen zeigen wolle, wie das Land sich +künftighin selber regieren könne. Alle vorenthaltenen Rechte sollten +ihnen wieder werden; er habe nur den einen Wunsch, Gerechtigkeit +walten zu lassen und Blutvergießen zu verhindern. Alle rückständigen +Steuern bis zum Ende des Jahres 1883 seien gestrichen und alle Steuern +des laufenden Jahres auf die Hälfte reduziert. Der Sudan gehörte nicht +fremden Erpressern, sondern von jetzt ab den Kindern des Landes. Der +beste Beweis, daß man ihm glaubte, liegt wohl darin, daß etliche +hundert Leute sich um Ämter bei ihm meldeten; von großer Freude +erfüllt illuminierten sie ihm zu Ehren ihre Stadt. Der englischen +Regierung, die ihn gewarnt hatte, sich ja nicht in unnötige Gefahr +zu begeben, konnte er hierauf erwidern, es habe keine Not, die Leute +wären im Gegenteil froh und dankbar, von einer Oberherrschaft befreit +zu werden, die ihnen nur Elend gebracht habe. Er hielt sich nur wenige +Tage in Berber auf, aber es genügte, um seinen alten Einfluß geltend +zu machen und ihm das volle Vertrauen der Stadt zu sichern. Und nun +gar die Weiterreise nach Khartum! In englischen Zeitungen war die +Besorgnis oben auf, wie sich Gordon durch die aufrührerischen Stämme +durchschlagen werde; der Weg durch die Wüste sei nichts gewesen gegen +die weit größere Gefahr der Nilreise, lägen doch die schwarzbraunen +Feinde im Hinterhalt an beiden Ufern des Flusses, ihre Speere seien +lang und ihre Hinterlist groß. Nichts dergleichen! Sie bildeten +Spalier am Fluß hin für den Befreier des Landes, der sich auch gar +nicht scheute, unter ihnen umher zu gehen. Sie kannten ihn alle. Und +je weiter er vordrang, um so größer die Begeisterung; das Volk empfing +seinen Retter mit Frohlocken, gleich einem Schutzengel, der eine Weile +entschwunden war und nun zurückkommt aus der unbekannten Welt des +Friedens, nach der man sich sehnt.</p> + +<p>Auch in Khartum wußte man, wessen man sich zu ihm zu versehen habe. +Sein Manifest war ihm vorausgeeilt. Es lautete folgendermaßen:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Vernehmet, daß ich gekommen bin, das Land aus der Not zu befreien, +in die es geraten ist, Ruhe herzustellen und Blutvergießen der +Moslems zu verhindern, den Einwohnern einen geordneten Wohlstand zu +sichern, Weib und Kind ihnen zu schützen und all der Ungerechtigkeit +und Unterdrückung zu steuern, die an diesem Aufruhr schuld sind.</p> + +<p>»Ich habe aus diesem Grund alle rückständigen Steuern vergangener +Jahre erlassen und habe die Steuern des laufenden Jahres, sowie +alle unter Rauf Pascha eingeführte Besteuerung auf die Hälfte +herabgesetzt. Ich will euch vor Ungerechtigkeit schützen, damit der +Ackerbau und Handel erblühe und Wohlstand gedeihe. Ich gebe euch das +Recht zurück, die Sklaven, die in eurem Dienste sind, zu behalten, +und weder die Regierung noch sonst jemand wird es euch künftighin +wehren. Haltet Frieden; gebt euch nicht dem Verderben hin und bleibt +fern von des Teufels Weg. Benachrichtigt alle Einwohner von der guten +Kunde, auf daß sie den Weg der Gerechtigkeit betreten und vom Bösen +sich abwenden.</p> + +<p class="center">»Wer mich sehen will, der komme und fürchte nichts.</p> + +<p class="mright8"><em class="gesperrt">Gordon</em></p> +<p class="mright4">Generalgouverneur des Sudan.«</p> + +</div> + +<p>In Khartum herrschte nur Freude, in England aber gab's böses Blut, als +diese Proklamation bekannt wurde. Was, der will den Leuten im Sudan +erlauben ihre Sklaven zu behalten, anstatt ihnen von der Freiheit der +christlichen Zivilisation zu sagen, die alle frei macht! Der Sturm, +der bei dieser Erklärung in gewissen Kreisen losbrach, lieferte den +ersten Beweis davon, daß England seinen Gordon noch nicht kannte. +Unbegreiflicher Mensch dieser Gordon, glaubt der, mit schlechten +Mitteln könne man Gutes thun? England, das in aller Welt sich als den +Befreier von Sklavenketten rühme, sei durch solche Haltung geschändet. +Die wenigsten Leute hatten die kühle Überlegung, Gordons Urteil zu +verstehen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Was für tolles Zeug!« rief er aus, als ihm die Nachricht von dem +Entsetzen kam, das sein Manifest in England hervorgerufen. »Ist es +nicht offenkundig erklärt worden, daß der Sudan geräumt werde und die +Sudanesen sich selbst überlassen bleiben sollten? Wenn das Volk aber +hier seinen Willen hat, so hält es Sklaven. Was hätte es genutzt, +die Leute an den kraftlosen Vertrag von 1877<span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span> zu erinnern, wenn man +sie sich selbst überlassen will? Und ist nicht der <em class="gesperrt">eine</em> Zweck +meiner Sendung der, die Garnisonen und andere ägyptische Flüchtlinge +womöglich ohne Blutvergießen aus dem Land zu bringen? Was ich den +Leuten über die Sklaven gesagt habe, war nicht mehr und nicht weniger +als eine Plattheit!«</p> +</div> + +<p>Und anderswo erinnert er seine Ankläger daran, daß er während +der Jahre seiner Kämpfe mit den Sklavenjägern nicht einen Finger +geregt habe, die Sklaven im Hausstand, d. h. die <em class="gesperrt">leibeigenen +Dienstboten</em>, zu befreien, während er doch mehr wie einmal sein +Leben einsetzte, der Sklaven<em class="gesperrt">jagd</em> das Genick zu brechen. Gordon +hat immer dafür gehalten, daß es ein Unrecht an den Leuten wäre, +ihnen zwangsweise und ohne Vergütung die hergebrachten Dienstsklaven +zu nehmen, und es war ein zu klar denkender Kopf, um sich über die +Zukunft des Landes, das er räumen sollte, auch nur einen Augenblick +einer Täuschung hinzugeben. Die harmlose Ansicht, daß der sich +selbst überlassene Sudanese keine Sklaven halten werde, konnte ihn +nicht beeinflussen, und nur ein Fanatiker hätte nach Khartum gehen +können und sagen: »Hier bin ich und bringe euch im Namen zweier +Nationen eure Unabhängigkeit zurück. Das Land sei künftighin euch +überlassen, lebt darin nach eurem herkömmlichen Brauch. Haltet Frieden +miteinander und Gott schenke euch Gedeihen, aber daß ihr euch nicht +untersteht, eure Dienstboten als Sklaven zu betrachten« — wenn doch +der altherkömmliche Brauch den dienenden Stand leibeigen macht! Der +bemittelte Sudanese hält Sklaven wie die Juden und Römer im Altertum. +Gordon wußte das; vielleicht dachte er auch daran, daß Paulus dem +Philemon seinen entlaufenen Sklaven zurückschickte. Hoffentlich denkt +niemand, man wolle hiermit der Sklaverei das Wort reden; es soll nur +der sentimentale Eifer damit ins Licht gestellt werden, der sich +berufen fand, Gordon unbesehen zu verdammen.</p> + +<p>Am 18. Februar erreichte er Khartum. Als er durch die Straßen ging, +drängten sich die Leute zu Hunderten um ihn; alle wollten ihm die Hand +küssen. Einige freudetolle Weiber gingen so weit, ihm die Füße küssen +zu wollen, und zweimal lag der Generalgouverneur am Boden, ehe er +sich's versah. Er hatte<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> nur wenige Worte gesprochen, aber es waren +Worte voll goldener Hoffnung: »Ich bin ohne Soldaten, aber mit Gott zu +euch gekommen, um der Not dieses Landes zu steuern,« sagte er. »Ich +will nicht mit Waffen, sondern durch Gerechtigkeit hier kämpfen. Die +Zeit der Baschi-Bosuks ist vorüber.«</p> + +<p>Das war ein Jubel! Kein Wunder, daß Power schon nach wenig Tagen +schreiben konnte: »Gordon hat aller Herzen gewonnen. Er ist Diktator +hier; der Mahdi gilt nichts mehr. Es ist erstaunlich, den Einfluß +dieses einen Mannes über Tausende zu sehen. Mütter bringen ihm ihre +kranken Kinder, daß er sie anrühre.« Wo er sich blicken ließ, rief +das Volk: Sultan! Vater! Retter! und wer etwas zu klagen hatte, dem +lieh er sein Ohr. Noch ehe die Sonne unterging, die seinen Einzug +beleuchtete, ließ er alle Rechnungsbücher der ägyptischen Regierung, +alle Peitschen und Marterwerkzeuge auf dem freien Platz vor seinem +Palast aufhäufen und anzünden; es war das Autodafé der Unterdrückung, +lachend und weinend tanzten die Leute um dasselbe her. Er besuchte +das Gefängnis und ließ alle Ketten fallen; Hunderte schmachteten +da, Männer, Weiber und Kinder, Schuldige und Unschuldige — er gab +ihnen allen die Freiheit. Ein alter Scheik wurde aus einem Tragbett +vor ihn gebracht; der Ex-Statthalter Hussein Pascha Cherif hatte den +Ärmsten bastonnieren lassen, bis seine Füße nur noch unförmliche +Massen blutenden Fleisches waren. Gordon sagte nicht viel, aber er +telegraphierte alsbald nach Kairo und forderte, daß jenem Hussein +tausend Mark von seinem Gehalt abgezogen würden, die dem Opfer +seiner Grausamkeit zu gut kommen sollten. Dann ließ er das Gefängnis +anzünden, und weit in die Nacht hinein verkündeten die Flammen, daß es +mit solcher Tyrannei auf immer vorbei sei.</p> + +<p>So that der weise Mann was er konnte, um die Mithilfe des Volkes für +die große Arbeit zu gewinnen, die er übernommen hatte. Er öffnete die +Thore der Stadt und erklärte den Markt frei, der bisher nur durch +»Bakschisch« den Händlern offen stand. Und gleich vom ersten Tag an +sahen die Leute die ihnen von früher in angenehmer Erinnerung stehende +Brieflade wieder, welche an der Hauptthüre des Regierungspalastes zu +dem Zweck angebracht<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> war, daß jeder, auch der geringste, mit dem +Oberstatthalter verkehren könne, so er es begehre. Als nach einiger +Zeit Oberst Coëtlogon Khartum verließ, um seinen Weg nach Ägypten und +England zurückzufinden, gab Gordon ihm die Versicherung mit, daß die +Zurückbleibenden in der Stadt so sicher wären wie ein Spaziergänger +im Kensington Park. Was den jungen Power betrifft, so hat sich dieser +so für Gordon begeistert, daß er sich für Khartum entschied, so lang +Gordon bleibe. »Er vollbringt Wunder hier,« meldete er der Times.</p> + +<p>Militärische Änderungen anlangend, so hatte Gordon bestimmt, daß +die eingeborenen Truppen in Khartum verbleiben, während die weiße +Mannschaft nach Fort Omderman auf der anderen Seite des Weißen Nils +sich zurückziehen sollte, wo sie mit ihren Familien und den andern +auf »Reisegelegenheit« wartenden Ägyptern bleiben würden, bis man +sie nilabwärts schaffen könnte. Einen Neger, der sich unter Bazaine +in Mexiko das Kreuz der Ehrenlegion erworben hatte, ernannte er zum +Truppenbefehlshaber, was allgemeine Befriedigung hervorrief. Seinen +Geleitsmann, den Oberst Stewart, ließ er den Weißen Nil hinauf +dampfen, damit er rekognosziere und Gordons Proklamation auch dort +bekannt mache. Auf der ersten Strecke, etwa sieben Stunden weit, +schien das Land ruhig; dann erreichte er ein aufrührerisches Dorf, +wo die Leute übrigens froh waren zu hören, daß er Frieden bringe. +Es lagen etwa fünfhundert Mann bewaffnete Rebellen in demselben. In +einem Dorf weiterhin fand sich ein Scheik, der kurz zuvor vom Mahdi +zum Bezirksstatthalter ernannt worden war, damit er die Gegend für +den Propheten gewinne. Andere Scheiks, mit denen Stewart verkehrte, +erklärten ihm, daß ihnen nichts übrig bleibe, als sich dem Mahdi +anzuschließen, wenn ihnen nicht von einer tüchtigen Regierung Schutz +würde. Ganz Gordons Ansicht, die er bis zuletzt festhielt; den Sudan +sich selbst überlassen, ehe der Mahdi aufs Haupt geschlagen ist, heißt +nichts anders, als die Leute zwingen, ihn anzuerkennen.</p> + +<p>Der Mahdi saß zur Zeit noch in Obeid, etwa dreihundert Kilometer von +Khartum entfernt. Dort hingen ihm die Araberstämme an, deren jeder +sechs- bis achttausend Berittene ins Feld<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> bringen konnte. Seine Macht +war zwar allem nach überschätzt worden, aber Gordon verlor keine Zeit, +es der englischen Regierung nahe zu legen, daß sein Einfluß, oder +vielmehr die Furcht vor ihm, das Land regiere, und daß es dringend +geboten sei, ihm entgegenzutreten; eine geringe Abteilung indischer +Truppen nach Wady Halfa zu beordern, würde vorläufig genügen. Man nahm +seinen Rat nicht an!</p> + +<p>Gordons Friedensbotschaft war nun allerdings von bester Wirkung +gewesen, allein diese Wirkung erstreckte sich nicht weit über Khartum +hinaus, und selbst in dieser Stadt wurde ein Nachlassen der guten +Stimmung fühlbar, wie aus einer Proklamation hervorgeht, die Gordon +schon Ende Februar erließ, worin er strengere Maßregeln ankündigte +und solchen, die im geheimen die Rebellen begünstigten, anzeigte, daß +er ein Auge auf sie habe. Viele Stämme um Khartum her, und wiederum +zwischen dieser Stadt und Berber und Dongola, waren aufrührerisch und +mehr oder weniger eine wachsende Quelle der Sorge für ihn; während die +Bevölkerung zwischen Suakim und Kassala teils in offenem Aufruhr war, +teils den Lauf der Dinge abwartete, um an den Sieger sich zu halten. +Es war ihm klar, daß Khartum selber früher oder später keine andere +Wahl haben würde. Khartum würde sich halten, so lange er dort sei, +was aber, wenn er die Besatzungen zurückgezogen und das Land geräumt +habe? Er würde die Anarchie zurücklassen und nichts würde dem Volk +übrig bleiben, als den Mahdi anzuerkennen. Er betonte es in seinen +Depeschen immer schärfer, daß England die Verpflichtung obliege, dem +Volk die Möglichkeit einer Regierung an die Hand zu geben, die sich +werde behaupten können; es müsse dies ein Mann sein, der dem falschen +Propheten gewachsen sei, einer der Einfluß im Land habe, der die +persönliche Macht besäße, sich als Herrscher geltend zu machen, der +das Volk zusammenhalten würde, selbst wenn er es durch Furcht regiere. +Es galt zwischen zwei Übeln zu wählen, und der Mahdi war für das Land +von zwei Machthabern weitaus der schlimmere. In der Art und Weise, +wie das Volk ihm selber zugefallen war, hatte Gordon erkannt, daß es +sich nach einem kraftvollen Herrscher sehne und einem solchen sich<span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span> +mit Freuden ergeben würde; er sah sich vergebens nach einem solchen +um, unter den Scheiks und kleinen Sultanen war keiner, der Manns genug +gewesen wäre, sich nur einen Tag zu halten. Er blickte weiter und sah +nur einen, der im stande wäre in die Bresche zu treten, und Gordon +schlug ihn vor — <em class="gesperrt">es war sein Todfeind Sebehr Rachama</em>.</p> + + +<h3>4. Im Stich gelassen.</h3> + +<p>Wenn eine Bombe aus blauem Himmel in die englische Welt gefallen +wäre, es hätte kein größeres Erstaunen verursacht, als die über Kairo +in London eingelaufene Nachricht, daß Gordon als beste Lösung der +Frage, wie der Sudan zu Ruhe und Ordnung zurückzubringen sei, der +britischen Regierung vorgeschlagen habe, den alten Sklavenhändler +Sebehr ins Land zu setzen, damit er es gegen den Mahdi halte. Gordons +Rat, dessen Ausführung er bis zuletzt für den richtigen, weil einzig +möglichen Ausweg hielt, ging dahin, daß England dem schwarzen Pascha +einen moralischen Halt gewähren sollte — wie es beim Amir von +Afghanistan geschieht — und dazu auf zwei Jahre einen jährlichen +Beitrag von zwei Millionen Mark. Zwar könne man den Türken das Land +überlassen, aber diese müßten dann noch ganz anders unterstützt +werden, abgesehen davon, daß man damit wieder eine Fremdherrschaft +aufrichte. Sebehr sei der eine Mann aus den Sudanländern selbst, der +dem Mahdi gewachsen sei; dieser könne dann immerhin als »Papst« sich +geltend machen, wenn jener als Sultan die weltliche Herrschaft in +fester Hand halte. Die Sudanesen würden ihn als ihren Landsmann mit +Freuden anerkennen und seiner Überlegenheit sich fügen, wodurch eine +einigermaßen ordnungsmäßige Regierung möglich werde, während sonst +alles in Anarchie versinke. Was die Sklavenjagd betreffe, so sei sie +einst schlimm genug unter dem schwarzen Pascha gewesen, sie würde aber +zehnmal schlimmer werden unter dem Mahdi; Sebehr sei also auch in +diesem Stück das geringere Übel von zweien. Fürs übrige wollte Gordon +den Sebehr teilweise durch Vertrauen gewonnen haben. Sebehr sollte +die ihm zugedachte<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> Würde unter der Bedingung annehmen, daß er als +Beherrscher des Sudans kein Sklavenjäger sein werde, und Gordon wollte +es selbst übernehmen, daß diese Bedingung darum jenem nicht allzuviel +freie Wahl ließe, weil er, Gordon, die eigentlichen Jagdreviere +am Äquator seine eigene Sorge hätte sein lassen, indem er dort im +Auftrag des Königs von Belgien den Kongostaat weiter ausgestaltet und +die hilflosen Negerstämme um sich gesammelt hätte. Es war die alte +Politik Gordons, wo anderes fehlschlug, durch seine Feinde selbst das +gesteckte Ziel zu erreichen; diese Politik mag den wenigsten Leuten +einleuchten, man kann aber nur daran erinnern, daß es in Gordons +Leben an Belegen nicht fehlt, wie gerade diese Taktik zu glänzenden +Erfolgen geführt hat. Gordon war der letzte, der Sebehrs früheres +Leben guthieß, und besser als sonst jemand kannte er die Geschichte +verübter Greuel, die dieser zu verantworten hatte, ja, die er durch +den Tod seines Sohnes und seine eigene zehnjährige Gefangenschaft +hatte büßen müssen; dies aber hinderte ihn nicht, die politische +Tüchtigkeit des Mannes anzuerkennen, und da seine Energie, seine +Umsicht und sein Organisationsvermögen jetzt zu Besserem zu gebrauchen +waren als zu Aufwiegelungen und Sklavenrazzien, so riet er, diese +Eigenschaften zum Besten des Landes zu verwenden. Daß Sebehr ihn als +seinen Züchtiger haßte und unter Umständen mit eigener Hand erstochen +hätte, das kümmerte ihn keinen Augenblick, ja er ging so weit, den +Vorschlag zu machen, er und Sebehr miteinander wollten die gewünschte +Ordnung im Sudan aufrichten und miteinander würde es ihnen gelingen. +Nur ein Mann wie Gordon konnte auf solche Pläne geraten, und hätte +man ihm freie Hand gelassen, er hätte sie sicherlich ausgeführt! Daß +die überklugen Diplomaten, die seinen Antrag im Kabinettsrat mit der +Lupe der Staatswissenschaft untersuchten, sich nicht mit ihm einigen +konnten, ist begreiflich; man kann sie auch aus Gründen der Theorie +nicht tadeln, man kann aber darauf hinweisen, daß ihre Klugheit in +der Folge zu Schanden geworden ist. Freilich hätte auch Gordon eine +Täuschung erleben können, wenn man ihm Sebehr bewilligt haben würde, +aber selbst dann hätten die Resultate kaum so sein können, wie sie +jetzt geworden<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span> sind. Welche Ströme Blutes sind nicht geflossen, seit +die staatsmännische Vorsicht ihr Verdikt gesprochen hat, und wie sehr +ist der Sudan zur Zeit ein Chaos der Anarchie und Sklavenräuberei!</p> + +<p>Der schwarze Pascha war hiernach der Punkt, wo die Meinungen +auseinandergingen, und von da ab entwickelte sich die Haltung der +englischen Politik, welche Gordon im Stich ließ.</p> + +<p>Wie wenig Gordon bei seinen Ratschlägen der Blindheit beschuldigt +werden kann, geht aus seinem Hinweis hervor, daß die von ihm +befürwortete Ernennung Sebehrs zum Beherrscher des Sudan die reinste +Ironie des Schicksals wäre. Hatte doch Sebehr von jeher gegen die +ägyptische Regierung agiert und Aufstände angezettelt, um seine +Rücksendung zu erzwingen.</p> + +<p>In Gordons Tagebüchern vom September und Oktober heißt es:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Hätte man uns den Sebehr Pascha geschickt, als ich es beantragte, +so wäre Berber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gefallen, und man +stünde jetzt mit einer Regierung im Sudan dem Mahdi gegenüber. Man +hielt für gut, es wegen seiner Vorgeschichte als Sklavenhändler zu +verweigern. Angenommen, der Grund sei ein triftiger, so ist er in +solange trotzdem ein ganz thörichter, als wir keine Schritte thun, +den Sklavenhandel künftighin in diesen Ländern zu hindern. Es kommt +einfach darauf hinaus: Ich schicke den A. nicht hin, weil er das +und das thun könnte, aber ich lasse den B. dort, der ebenfalls so +handelt.«</p> + +<p>»Ich bin nicht dafür, den Sudan zu halten, es ist ein ganz nutzloses +Land, das wir nicht verwalten könnten, und die Ägypter nach den +neuesten Ereignissen noch weniger. Ich suche nur den Weg, <em class="gesperrt">wie +man sich mit Ehren und mit möglichst geringen Unkosten daraus +zurückziehen kann</em> (wir dürfen nicht vergessen, daß wir an all +diesem Wirrsal schuld sind) ... es ist für mich lediglich die Frage, +sich mit <em class="gesperrt">Anstand zurückzuziehen</em>. Sebehr würde die Schaggyeh +(einen Beduinen-Stamm) und die Khartumer beruhigen und er würde mit +dem Mahdi ins reine kommen. Dann könnten wir das Land verlassen ... +Soviel ist sicher, daß ihr nur mit Hilfe Sebehrs (oder der Türken) +vor dem November 85 auf Rückzug rechnen könnt!! Die Türken wären<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> +unter den jetzigen Umständen die beste, wenn auch kostspieligste +Lösung. <em class="gesperrt">Die könnten den Sudan halten</em>; gebt ihnen vierzig +Millionen. Nach den Türken ist Sebehr mit zehn Millionen das Beste; +er würde den Sudan <em class="gesperrt">eine Zeit lang</em> halten. In beiden Fällen +giebt's hier Sklavenhandel. Aber Ägypten wäre gesichert und ihr +könntet bis Januar 85 hier fertig sein. Ist euch keiner dieser +Auswege recht, dann seid darauf gefaßt, daß es hier noch gerade genug +Plackerei geben und euer Feldzug schließlich <em class="gesperrt">ein völlig zweck- und +glanzloser sein wird</em>.«</p> +</div> + +<p>Hat je ein Prophet den Ausgang eines Unternehmens bestimmter +vorhergesagt?</p> + +<p>Unterm 8. November heißt es in dem Tagebuch weiter:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es liegt auf der Hand, daß wenn Sebehr mit euch käme und in quasi +unabhängiger Stellung zum Regenten ernannt würde ... ihm die Leute +massenhaft zufielen, die den Mahdi und seine Derwische herzlich satt +haben, sich aber an ihn halten müssen, weil ihr das Land räumen +wollt; sogar unsere Anhänger werfen wir dem Mahdi in die Arme. +Sebehrs Einsetzung würde euch auch die Arbeit in der Sennar-Gegend +sparen ... Mit den Booten, die ihr habt, hätte er die Nil-Verbindung +bald hergestellt. Und was den Sklavenhandel betrifft, so ist der +Mahdi zehnmal schlimmer als Sebehr, auf den man durch Hilfsgelder +einwirken könnte, daß er in Schranken bliebe. Sebehr wäre für uns +eine Art Vermittelung zwischen dem Davonlaufen und der fortwährenden +Gegenwart von Truppen im Land. Der Mahdi wäre nie im stand, das Volk +gegen Sebehr aufzuhetzen. Nur weil man den Leuten keinen Mittelpunkt +bietet, <em class="gesperrt">müssen</em> sie sich an jenen halten. Hätte man den Sebehr +kommen lassen, der Mahdi hätte lange nicht so viel Anhang; und wäre +er hier gewesen, so wäre Berber nicht gefallen.«</p> +</div> + +<p>Wir haben vorgegriffen, doch ist aus diesen Mitteilungen ersichtlich, +daß Gordons Vorschlag keine plötzliche Eingebung, keine Unüberlegtheit +war; es war vielmehr ein Gedanke, der durch jede neue Erfahrung bei +ihm sich vertiefte. Es folgt hier eine frühere Depesche an Sir E. +Baring, den Vertreter Englands in Kairo, die in gedrängten Sätzen +Gordons Ansicht in der Sebehrfrage klar und eingehend darlegt.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span></p> + + +<div class="blockquot"> +<p> +Khartum, den 8. März 1884.<br> +</p> + +<p>»Die Ernennung Sebehrs ist gleichbedeutend mit der Möglichkeit +des Rückzugs der ägyptischen Angestellten von Khartum, sowie der +Besatzungen von Sennar und Kassala.</p> + +<p>Ich sehe keine andere Möglichkeit, dies ins Werk zu setzen, als eben +durch ihn, der als ein Eingeborner dieses Landes ein Mittelpunkt für +die Bessergesinnten werden wird, die sich um so eher ihm anschließen +werden, weil sie wissen, daß er sich hier in seiner Heimat +niederlassen wird.</p> + +<p>Ich bin nicht der Ansicht, daß die Thatsache, dem Sebehr auf +zwei Jahre Hilfsgelder zu bewilligen, mit der Räumungspolitik +unverträglich wäre.</p> + +<p>Was das Halten von Sklaven betrifft, so könnten wir es auch dann +nicht unterdrücken, wenn wir selbst im Sudan blieben. Ich habe immer +gesagt, daß der Vertrag vom Jahre 1877 unausführbar ist, also würde +Sebehrs Ernennung in dieser Hinsicht durchaus keinen Unterschied +machen.</p> + +<p>Mit der Sklavenjagd hätte es nach Räumung der Bahr el Ghasal und der +Äquator-Provinzen von selbst ein Ende.</p> + +<p>Sollte Sebehr nach Ablauf von zwei Jahren und nachdem er Hilfsgelder +eingesteckt hat, sich jener Gegenden zu bemächtigen suchen, so +könnten wir leicht von Suakim her einen Druck auf ihn ausüben, +welcher Ort nach wie vor in unserer Hand bliebe.</p> + +<p>Ich halte dafür, daß Sebehr mit dem Sudan selbst und mit der +Befestigung seiner Stellung zu viel zu thun haben wird, als daß ihm +Zeit bliebe, sich um jene Gegenden zu kümmern.</p> + +<p>Was die Sicherheit Ägyptens betrifft, so war Sebehr lange genug in +Kairo, um unsere Macht kennen gelernt zu haben; er würde es sich +nicht leicht beikommen lassen, etwas gegen Ägypten zu unternehmen. +Ich glaube im Gegenteil, daß er Handelsvorteile in einem Bündnis +suchen würde, denn er ist ein geborener Krämer.</p> + +<p>Das Zurückziehen der Besatzungen anlangend, so habe ich bis jetzt +nur das erreicht, daß die Invaliden, die Witwen und Kinder der in +Kordofan Gebliebenen flußabwärts geschickt werden.</p> + +<p>Nach heutigem Bericht ist Sennar ruhig.</p> + +<p>Auch Kassala wird sich infolge von Grahams Sieg ohne Mühe halten, +aber die Verbindung ist abgeschnitten, sowie auch die Verbindung mit +Sennar.</p> + +<p>Es wird unmöglich sein, der Straße nach Kassala und Sennar<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> Herr zu +werden oder die ägyptischen Truppen von hier weg zu befördern, wenn +Sebehr nicht kommt. Sein Kommen würde die ganze Sachlage ändern.</p> + +<p>Die Äquator-Provinzen und die Bahr el Ghasal sind soweit sicher, aber +ich kann die dortigen Besatzungen nicht zurückziehen, ehe der Nil +steigt, was in zwei Monaten zu erwarten ist.</p> + +<p>Dongola und Berber sind ruhig, aber ich fürchte, daß der Weg zwischen +Berber und Khartum nicht lange mehr offen sein wird, denn auf der +ganzen Strecke treiben des Mahdi Anhänger ihr Wesen.</p> + +<p>Am Blauen Nil ist eine Besatzung von tausend Mann von den Rebellen +eingeschlossen, doch fehlt es ihnen nicht an Proviant; ehe der Nil +steigt, kann ich ihnen nicht zu Hilfe kommen.</p> + +<p>Auch Darfur, soweit ich Nachricht habe, ist ruhig; der neueingesetzte +Sultan läßt sich hoffentlich angelegen sein, Anhang unter den Stämmen +zu gewinnen.</p> + +<p>Es ist ganz unmöglich, einen andern Mann als Sebehr mit Erfolg hier +einsetzen zu wollen. Kein anderer hat soviel Einfluß wie er. Hussein +Pascha Khalifa könnte nur mit Dongola und Berber fertig werden.</p> + +<p>Wird Sebehr nicht hierher geschickt, dann fehlt alle Aussicht, die +Besatzung zu retten; das fällt schwer ins Gewicht zu seinen Gunsten.</p> + +<p>Auch ist es unmöglich, das Land zwischen Sebehr und anderen +Häuptlingen zu teilen; keiner der andern könnte sich auch nur einen +Tag gegen die Helfershelfer des Mahdi halten; auch Hussein Pascha +Khalifa würde fallen.</p> + +<p>Die Häuptlinge weigern sich, gemeinsame Sache zu machen; Loyale und +Rebellen stehen einander gegenüber.</p> + +<p>Es ist durchaus nicht zu fürchten, daß Sebehr sich je mit dem Mahdi +unter eine Decke stecken werde. Sebehr wird hier weit größere +Macht besitzen als der Mahdi und wird sich nicht scheuen, ihm dies +begreiflich zu machen.</p> + +<p>Der Mahdi ist mit dem Papst zu vergleichen, Sebehr aber würde Sultan +sein; da ist keine Gefahr, daß die zwei sich einigen.</p> + +<p>Sebehr ist dem Mahdi fünfzigmal gewachsen. Er ist auch aus guter +Familie (ein direkter Abkömmling der Abassiden), genießt Ansehen und +würde die Sultanwürde gut bekleiden; der Mahdi ist von all dem das +Gegenteil und ein Fanatiker dazu.</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>Ich zweifle gar nicht, daß Sebehr, dem die Stämme verhaßt sind, die +Aufruhrsaat gesäet hat und zwar in der Hoffnung, daß man ihn dann +hier nötig haben würde, um Ordnung zu schaffen.</p> + +<p>Es ist die Ironie des Schicksals, die ihm seinen Wunsch erfüllt, wenn +er hierher geschickt wird.«</p> +</div> + +<p>Gordon predigte mit dieser klaren Auseinandersetzung tauben Ohren, die +Minister im fernen England und außer Zusammenhang mit Land und Leuten, +erklärten Sebehrs Ernennung für eine Unmöglichkeit; die öffentliche +Meinung würde sich dagegen auflehnen, hieß es. Und als Berber von +den Rebellen bedroht wurde, zog man sich auf den Standpunkt der +Friedenspolitik zurück und verweigerte eine Truppensendung.</p> + +<p>Schon im März 1884 war die Lage Khartums eine bedenkliche geworden. +Etliche Kilometer nördlich von der Stadt befindet sich das kleine +Halfaja, woselbst eine Truppenabteilung von achthundert Mann, +welche Gordon mit Waffen versehen hatte, von viertausend Rebellen +eingeschlossen war. Der Ort liegt am Fluß, aber neuerdings war auch +die Schiffahrt abgeschnitten. Die Besatzung hielt mutig aus und +Gordon beschloß, ihr zu Hilfe zu kommen. Die Rebellen wurden täglich +kühner und waren der Stadt selbst schon so nahe gerückt, daß ihre +Kugeln den Palast erreichten. Es schien, als ob man sich auf die +Verteidigung Khartums beschränken müsse, allein der Versuch, jene +Getreuen zu entsetzen, sollte gemacht werden. Gordon hatte drei +Dampfer kriegstüchtig gemacht und mit Geschütz versehen; mit diesen +und zwölftausend Mann zog er aus. Nach zwei Tagen hatte er mit +Verlust von zwei Mann die Belagerten entsetzt, und mit der Besatzung +von Halfaja, ihren Kamelen und Pferden und einem beträchtlichen +Vorrat von Kriegsbedarf kehrte er nach Khartum zurück. Der Jubel in +der Stadt soll keine Grenzen gekannt haben, aber nur zu bald stand +der öffentlichen Freude die Unglückspost gegenüber, daß Schendi den +Rebellen erlegen und Berber bedroht sei. Die Khartumer selbst erlebten +auf ihren Sieg eine böse Niederlage. Denn als die Rebellen fortfuhren, +sich in der Nähe der Stadt zu postieren und den Palast zu beschießen, +beschloß Gordon einen zweiten Ausfall, den er den ägyptischen Truppen +unter ihren eigenen Offizieren übertrug.<span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span> Er selbst beobachtete die +Bewegungen vom Dach des Palastes aus. Die feindliche Linie erstreckte +sich mehrere Kilometer weit am Blauen Nil hin. Die Ägypter drangen +stetig vor und der Feind zog sich hinter die Dünen zurück, die, +teilweise mit Bäumen und Strauchwerk bewachsen, eine natürliche +Schutzwehr bilden. Es schien, als ob die Rebellen den Kampf weigern +wollten, und die andern rückten ihnen nach, ihre Anführer voraus, +bis diese wie von einem plötzlichen Schrecken ergriffen unversehens +kehrt machten und auf ihre eigene Mannschaft eindrangen. Es entstand +Unordnung; in die gebrochenen Reihen stürzten sich die berittenen +Rebellen und die Flucht der Ägypter war die Folge. Ein Rebell +durchrannte mit seinem Speere sieben Flüchtlinge in sieben Minunten. +Das fürchterlichste Gemetzel zog sich bis in die Nähe von Khartum. Es +war in jeder Hinsicht eine schimpfliche Niederlage. Die überbleibende +Mannschaft aber war laut in der Anklage gegen ihre beiden Anführer, +welche den ganzen Reißaus ins Werk gesetzt hatten. Es wurden sogar +Beweise beigebracht, daß einer derselben einen Kanonier zu Boden +schlug, der sein Geschütz gegen den Feind richten wollte. Sieben +Stunden nach dem Gefecht lagen noch Verwundete umher; zum Glück waren +es nur zwanzig, denn die Araber machten den Verwundeten den Garaus wo +sie konnten. Oberst Stewart holte sie heim mit einem der Dampfer und +brachte sie ins Lazaret. Weithin lagen die Erschlagenen, zweihundert +an der Zahl, während der Feind nur vier Mann eingebüßt hatte.</p> + +<p>Den beiden Anführern wurde übrigens ihr Lohn zu teil; die Leute +brandmarkten sie einstimmig als Verräter, welche absichtlich +gegen ihre Mannschaft kehrt gemacht hatten, um für den Feind eine +Öffnung zu gewinnen. Beide Pascha, Said und Hassan, wurden vor ein +Kriegsgericht gestellt und erschossen. In Hassans Wohnung fand sich +ein beträchtlicher Waffenvorrat vor, und es ergab sich überdies, daß +beide den Truppen ihre Löhnung vorenthalten und selbst eingesteckt +hatten. Sie hatten es offenbar darauf abgesehen, früher oder später +zum Feinde überzugehen. Die Stimmung Khartums litt übrigens nicht +durch diese Niederlage. Die Bevölkerung war voll guter Zuversicht zu +ihrem Statthalter und es fehlte nicht an handgreiflichen Beweisen +der Opferwilligkeit.<span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span> Ein wohlhabender Araber bot Gordon ein +unverzinsliches Darlehen von siebentausend Thaler an, ein anderer war +erbötig, zweihundert Mann auf eigene Kosten zu bewaffnen. Die Stadt +war bereit, sich an Gordon zu halten, der sie seinerseits nicht im +Stich lassen würde. Die Rebellen schickten täglich ihre Grüße über die +Mauern und schienen es besonders auf den Regierungspalast abgesehen zu +haben, der nach kurzer Zeit mit Kugeln gespickt war. Den Statthalter +selbst, der viele Stunden auf seinem Dach verbrachte, traf keine; +sie fielen zu seiner Rechten, sie fielen zu seiner Linken, er selbst +schien gefeit wie früher.</p> + +<p>Dem falschen Propheten hatte Gordon anbieten lassen, er wolle ihn zum +Sultan von Kordofan ernennen, wenn er zu unterhandeln bereit sei. +»Ich bin der Mahdi,« lautete die großartige Antwort. Drei bewaffnete +Derwische erschienen eines Tages vor Khartum und begehrten Audienz. +Sie wurden vor Gordon gebracht. Ihr Auftrag war, die Feierkleider +zurückzubringen, die dieser dem Mahdi als Friedensgeschenk übersandt +hatte. Darauf produzierte sie ein Derwischgewand, das Gordon anlegen +sollte, um sich damit als Muselman und Anhänger des Propheten Mohammed +Achmet, des Mahdi, zu bekennen. Es läßt sich denken, daß jener mit +nicht allzuviel Zeremonie für die zugedachte Ehre sich bedankt hat. +Von Stund an war es klar, daß von einer Räumung des Landes keine +Rede sein konnte, wenn nicht der Mahdi wie einst Pharao mit Gewalt, +im gegenwärtigen Falle mit Waffengewalt, belehrt wurde, daß er diese +Leute müsse ziehen lassen. Auf britische Truppen aber war nicht +zu rechnen und Gordon sah, daß ihm nichts weiter übrig blieb, als +selbst zu handeln; auch war er rasch entschlossen und erließ an alle +ägyptischen Truppen, welche durch die Wüste nordwärts zogen, den +telegraphischen Befehl zurückzukehren.</p> + +<p>Es läßt sich hier passender Weise Gordons Ansicht über den Abfall vom +Glauben einschalten. Vorausgeschickt sei die Bemerkung, daß der Mahdi +nicht alle Europäer in diesem Stück so fest fand wie unsern Helden. +Als Obeid in die Hände des falschen Propheten fiel, soll nur einer +der dortigen römischen Missionspriester Treue gehalten haben, alle +andern mitsamt den Nonnen trieb die Angst<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> dem Mohammedanismus in die +Arme. Die letzteren gingen sogar noch weiter, und traten mit dortigen +Griechen in ein nominelles Ehebündnis, um sich vor Gewalt zu schützen. +Da wird der Papst einen schönen Lärm schlagen, meinte Gordon, das ist +ja eine Union der katholischen Kirchen. Es ist übrigens nicht dieser +Scherz, worauf wir hinweisen wollten, sondern auf folgende Stelle in +seinem Septembertagebuch:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Was die an den Mahdi und an verschiedene Araber-Häuptlinge +geschriebenen Briefe anlangt, so gebe ich zu, daß sie scharf waren, +aber es ist keine Kleinigkeit, wenn ein Europäer aus Furcht vor dem +Tod seinem Glauben abschwört; es war nicht so vor alters, und sollte +auch heute nicht so leicht von statten gehen, wie das Vertauschen +eines Rockes mit einem andern. Wenn der christliche Glaube auf +Einbildung beruht, dann werft ihn immerhin ab; aber es ist niedrig +und ehrlos das zu thun, um sein Leben zu retten, wenn man ihn für +den wahren Glauben hält. Was kann stärker sein als diese Worte: ›Wer +mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen +vor meinem himmlischen Vater!‹ Die alten Märtyrer betrachteten solche +als ihre Feinde, die sie davon abzuhalten suchten, ihren Glauben frei +zu bekennen. Und was für Männer hatten wir in England zur Zeit der +Glaubensverfolgungen, als die Reformation sich Bahn brach, und damals +galt es nicht um das, um was es hier gilt; es handelte sich dort nur +um die Messe, während es sich hier um unsern Herrn und sein Leiden +handelt.... In politischer wie moralischer Hinsicht ist es besser für +uns, nichts mit den abtrünnigen Europäern im arabischen Feldlager zu +thun zu haben. Verrat führt nie zu gutem Ende, und mag es uns gehen +wie es will, so ist es besser wir fallen mit reinen Händen ..... Mit +Ehren zu erliegen, ist besser als ein Sieg mit Unehren, und auch die +Ulema in der Stadt sind dieser Meinung. Sie wollen nichts mit Verrat +zu thun haben.«</p> +</div> + +<p>Wo im obigen Punkte stehen, hatte Gordon angemerkt, wenn die +Tagebücher je gedruckt würden, sei es vielleicht gut, die ganze Stelle +zu unterdrücken, denn kein Mensch habe das Recht, einen andern zu +richten.</p> + +<p>Es mag eine schwere Zeit inneren Kampfes für Gordon gewesen sein, als +es ihm aus den englischen Depeschen immer klarer wurde, daß man ihm +nicht nur die Hilfe Sebehrs verweigerte,<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> sondern überhaupt gesonnen +war, ihn sich selbst zu überlassen — Krieg sollte vermieden werden; +und das Schlimmste war noch, daß die Hälfte der abgesandten Depeschen +ihn gar nicht erreichte. Es fehlte nicht an dringenden Vorstellungen +seinerseits, und wochenlang schien Schweigen die Antwort zu sein. Wohl +war er mit dem Gedanken ausgezogen, daß er als ein Friedensapostel +kraft seines persönlichen Einflusses die ihm übertragene Mission +erfüllen solle. Daß seine Regierung ihm aber gegebenen Falls unter die +Arme greifen, daß sie ihn mindestens nicht im Stich lassen würde, das +sollte keiner Vorversprechungen bedurft haben! Gordon hatte wieder und +wieder erklärt, daß es ganz unmöglich wäre, die ägyptische Besatzung +von Khartum zurückzuziehen, ohne die Stadt dem Mahdi zu überantworten +und, was noch schlimmer wäre, die ägyptischen Besatzungen von Kassala, +Sennar, Berber, Dongola und weiterhin in der Bahr el Ghasal ihrem +Schicksal zu überlassen; dies aber erschien ihm als eine Feigheit, +zu der er die Hand nicht bieten wollte. Was den Aufstand an sich +betrifft, so war Gordon der Ansicht, daß es zu jener Zeit noch +nicht tausend Mann englischer Truppen bedurft hätte, um gründlich +aufzuräumen. Und als es klar war, daß englisches Militär zu diesem +Zweck nicht vorhanden sei, kam er um die Erlaubnis ein, an die Türken +zu appellieren; auch dies wurde ihm verweigert. Es war um diese Zeit, +im März, daß der verlassene Held in einer eigentümlichen Depesche der +englischen Regierung wie den ägyptischen Behörden seinen Dank für +alle bisherige Beihilfe aussprach und die Erklärung beifügte, die +betreffenden Machthaber hätten alles gethan, was von ihnen zu erwarten +sei. Gordons englischer Biograph, Hake, macht darauf aufmerksam, daß +diese Worte, so satirisch sie auf den ersten Blick erscheinen, auch +nicht die Spur von Hohn enthalten, daß sich vielmehr die einfache +und männliche Haltung des Mannes darin auspräge, von Stund an die +Verantwortung der Lage auf <em class="gesperrt">seine</em> Schultern zu nehmen als einer, +der sich gezwungen sieht, der Übermacht der Umstände nach bestem +Ermessen in eigener Kraft entgegen zu treten. In der Freiheit des +Handelns aber lag die eine Hoffnung, die Tausende zu retten, deren +Ankerpunkt er war. Es liegt etwas unendlich<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span> Rührendes darin, daß +Gordon sich, abgesehen von seinem Pflichtgefühl überhaupt, für die +ägyptischen Besatzungen aufopferte, für Menschen, die er im besten +Fall immer nur als »Schafe« kennen gelernt hatte und von denen er +nie viel Gutes sagen konnte. Diese Thatsache ist nicht der geringste +Edelstein in der Krone des unvergleichlichen Mannes. Ein schönes +Streiflicht hiezu giebt uns sein Tagebuch unterm 27. Oktober:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Nicht weil ich dieses Volk hochachte, befürworte ich es, ihnen +zu helfen, sondern weil sie ein so kraftloses, selbstsüchtiges +Geschlecht sind, und weil dies die Frage unserer Pflicht ihnen +gegenüber nicht beeinflussen kann. Die Erlösung der Menschen hätte +nicht stattgefunden, käme unser Verdienst dabei in Betracht.« Und +anderswo: »es ist ja gerade, <em class="gesperrt">weil</em> wir so unwert sind, daß der +Herr uns erlöst hat.«</p> +</div> + +<p>Selbst im eigenen Lager war Gordon vor Verrat nicht sicher, und die +Wohlgesinnten waren ein verzagtes Volk. Hake vergleicht ihn treffend +mit dem kühnen Schiffsführer, der mit fester Hand ans Steuer tritt, +um, so es möglich ist, die ihm anvertrauten Seelen in der Sturmnot +zu retten. Ein Segel am Horizont war in Sicht gewesen, ja die eigene +englische Flagge, aber trotz seiner Notsignale beharrte der ferne +Segler auf seiner Bahn. Man hatte ihm nur zurücksignalisiert: »Ihr +habt Boote und könnt euch davonmachen; laßt das Schiff sinken, es +ist doch nicht zu retten.« Nicht so der Tapfere; trug sein Schiff +doch kostbare Dinge, Schätze, die er nicht gering achtete, als da +sind die Ehre des Mannes und die des Volkes, dem er angehört, und +Gerechtigkeit, ja Erbarmung gegen die Hilflosen, die an ihn sich +halten. Ist sein Schiff anderen nicht so viel wert, daß sie es retten, +so will er thun was er kann, und lieber mit versinken, als ehrlos +davongehen. Er ruft sein Schiffsvolk zusammen und sagt ihnen: »Selbst +ist der Mann!« Er heißt sie die nutzlose Notflagge einziehen und zeigt +ihnen, wie das lecke Schiff noch flott zu halten ist. Er beseelt sie +mit einem Heldenmut und die Verzagenden legen Hand an, seiner Führung +vertrauend. Wohl hätten sie Rettungsboote, sagt er ihnen, aber nicht +für alle, und wer die eigene Haut retten wolle, der könne es immerhin +versuchen. Die Sturmflut steigt, Wellen türmen sich auf Wellen,<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> und +zwischen den Wogen gähnt das Grab. Das ferne Segel, die ihm teure +Flagge verschwindet am Horizont. Wohl kostet es ihn bitteren Schmerz, +doch wächst der Mut ihm mit der Not. Noch ist es Tag, er will thun, +was er kann als Schiffsherr und Steuermann; und kommt die Nacht, so +ist Gott über ihm und ist auch dann noch da, wenn kein Polarstern mehr +leuchtet.</p> + +<p>Und Gordon blieb in Khartum, als englische Saumseligkeit sich +zurückzog. Wer will es ihm verargen, daß die Haltung der Regierung, +auf die er sich verlassen hatte, ihn mit Entrüstung erfüllte? Mit +nackten Worten meldete er derselben, daß, möchten sie thun, was sie +verantworten könnten, er nie und nimmer eine Besatzung verlassen +werde, die an ihn sich klammere, daß er allen und jeden Versuch machen +werde sie zu retten, ob solche Versuche auf den Leisten der Diplomatie +paßten oder nicht. Die Khartumer hätten ihm ihr Geld geliehen, er +hätte sie veranlaßt ihr Getreide billig zu verkaufen, er könne sein +Schicksal von dem ihren nicht trennen.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Soweit ich die Lage beurteilen kann,« telegraphierte er am 5. Mai +an Sir E. Baring, der für ihn die englische Regierung vertrat, »ist +sie einfach die: Sie erklären es als Ihre Absicht, weder Khartum +noch Berber mit Truppen zu Hilfe zu kommen, und Sie verweigern mir +Sebehr. Ich betrachte mich unter diesen Umständen frei, zu handeln +wie die Lage gebietet. So lange es möglich ist, werde ich hier +feststehen, und wenn ich den Aufruhr unterdrücken kann, werde ich +es thun. Vermag ich es nicht, dann ziehe ich mich an den Äquator +zurück und <em class="gesperrt">überlasse Ihnen den unauslöschlichen Schimpf, die +Besatzungen von Sennar, Kassala, Berber und Dongola im Stich gelassen +zu haben, mit der Gewißheit obendrein, daß Sie den Mahdi früher oder +später doch noch werden vernichten müssen — und dann unter größeren +Schwierigkeiten als jetzt — wenn Sie anders Ägypten nicht auch +fahren lassen wollen.</em>«</p> +</div> + +<p>Dieses Telegramm war sozusagen Gordons letzter Hilferuf an die +englischen Minister; er verhallte ungehört. Die Stimme des Volkes +zwar erhob sich und wollte den Helden nicht verlassen sehen. Auch im +Parlament kam die Sache wieder und wieder zur Sprache. Lord Granville +erklärte, daß wenn Gordon sich verlassen fühle, es nur deshalb +sein könne, weil die englischen<span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span> Telegramme ihn nicht erreichten; +und Gladstone gab die keiner Auslegung bedürfende Erklärung ab, +daß es Gordon jederzeit frei stünde, seinen Auftrag niederzulegen +und nach England zurückzukehren! Die öffentliche Meinung in jenen +Tagen glich einer wogenden See; Gordons Telegramm konnte nichts +anderes als Teilnahme hervorrufen. In einer Versammlung englischer +Bürger wurde einstimmig erklärt: »Wir verwerfen die Politik, die im +Begriff ist, Gordon im Stich zu lassen, als eine unwürdige und das +Land entehrende.« Und sowohl in dieser Versammlung als anderwärts +wurde darauf hingewiesen, daß Gordons eigenartige Mission selbst den +Ministern gegenüber von der Voraussetzung nicht zu trennen wäre, daß +er nach seiner Einsicht handeln müsse, und daß man ihm, als er die +Sendung übernahm, zu verstehen gegeben hätte, Unterstützung würde +ihm nötigenfalls werden. Es seien leere Versprechungen gewesen; er +habe um Geldmittel telegraphiert, man habe sie ihm verweigert; er +habe nachgewiesen, daß Sebehr die beste Lösung der Frage sei, man sei +ihm entgegengetreten; er habe um Truppen nachgesucht, man habe ihn +benachrichtigt: er dürfe nicht darauf rechnen.</p> + +<p>Selbst Privatpersonen erklärten sich bereit, für die Regierung +in die Bresche zu treten. Eine wohlhabende Dame bot in der Times +hunderttausend Mark an, in der Hoffnung, daß durch freiwillige +Beiträge eine genügende Summe zusammenkommen würde; anderthalb +Millionen Mark wurden gezeichnet, eine Schar Freiwilliger sollte +ausziehen, um England die Schande zu ersparen, den Helden und seine +beiden opferwilligen Gefährten umkommen zu lassen, es wurde nicht +genehmigt. Der Horizont wurde täglich dunkler. Dringende Mahnrufe +ergingen an die Regierung von dem belagerten Berber; man könne nicht +helfen, hieß es. Hilfe thue dort in sechzehn Stunden not, und ein +Zuzug brauche ebenso viele Wochen. Daher unterblieb er. Das letzte, +was man von Berber hörte, war die Botschaft, daß Hussein Khalifa +die Stadt nur noch mit der Hoffnung halte, daß englischer Entsatz +auf dem Wege sei; und als sich die Hoffnung als eine leere erwies, +hieß es auch dort: Wir sind verlassen, wenn Gott uns nicht hilft. +Von Kairo war Nachricht nach London gekommen, daß in Berber<span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span> ein +panischer Schrecken den Rebellen in die Hände arbeite, und wenn die +telegraphische Verbindung nach Khartum noch einmal benutzt werden +solle, dann sei keine Zeit zu verlieren.</p> + +<p>Und Berber fiel, unter Greuelszenen, wie sie den Sudan-Krieg +kennzeichnen. Es war das Vorspiel für Khartum. Es war die Brandglocke. +Noch wäre es Zeit gewesen, um dort zu löschen, allein man schlief +ruhig weiter, ob nicht ein Regenguß vom Himmel, oder sonst was zu +Hilfe käme und eigene Anstrengung ersparte. Und Schweigen fiel auf +die verlassene Stadt. Depeschen blieben aus, man wußte nicht mehr +wie es dort ging. Fünf Monate lang keine Nachricht oder doch nur +unzuverlässige Gerüchte. Doch das wußte, wer es wissen wollte — sein +vergangenes Leben bürgte dafür — daß Gordon die Pflicht für sein Volk +wie ein Held erfüllte. Hatten die Seinen ihn verlassen, so war Gott +mit ihm, und er wagte den Kampf.</p> + + +<h3>5. Mannhaft auf dem Posten.</h3> + +<p>Gordon verlor keine Zeit, die Verteidigung Khartums ins Werk zu +setzen. Seine erste Sorge war der Proviant. Es ergab sich, daß die +Stadt eine fünfmonatliche Belagerung würde aushalten können. Den Armen +wurde eine tägliche Ration bewilligt. Der leeren Kasse half er durch +Papiergeld auf, und es beweist das Vertrauen der Leute, daß ihnen sein +Wort für Zahlung galt. Auf diese Weise hielt er sein unzuverlässiges +Militär zusammen und verhinderte wenigstens um jene Zeit das +Desertieren. Um die Stadt her legte er Sprengminen, und in Erwartung +der unbeschuhten Füße etwaiger Sturmläufer war der Boden weithin mit +Glasscherben und zu ähnlichen Zwecken angefertigten Stachelnüssen +bestreut, nämlich mit eisernen Nüssen, die, wie sie auch fallen, eine +oder mehrere ihrer Spitzen nach oben kehren. Zwischen den Minen waren +Drahtangeln angebracht, um den anlaufenden Feind zu Fall zu bringen. +Gordon war entschlossen, sich und die Stadt so teuer als möglich zu +verkaufen. An Schießbedarf fehlte es glücklicherweise nicht. Auch ließ +die Gesundheit der Stadt nichts zu wünschen übrig, und der Nil war im +Steigen;<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> letzteres war ein Hauptfaktor in Gordons Berechnung, welcher +sich bei dem Angriff auf die Rebellen hauptsächlich auf seine Dampfer +verließ.</p> + +<p>Keine Woche verging, ehe er die Scharte der Dünen-Niederlage +auswetzte, und zwar eben durch einen der Dampfer, der mit einer +Kruppkanone unter den Rebellen aufräumte. Es war Gordons Genie, +das aus gewöhnlichen Nilbooten Kriegsschiffe schuf, die ihrem +Zweck vollkommen genügten. Manchen heißen Arbeitstag verwandte +er selbst darauf, diese Schiffe mit Eisenplatten und mehrfach +übereinandergelegten Holzdielen zu panzern und zum Spießrutenlaufen +zwischen den von den Rebellen besetzten Ufern kugelfest zu machen. +Seine Dampfer begleiteten sechs Barken, auf denen er zwanzig Fuß hohe +Türme errichtete, die seine Schützen trugen. Die Flotte muß einen +seltsamen Anblick gewährt haben, Gordon war aber offenbar stolz auf +ihre Tüchtigkeit.</p> + +<p>Saati Bey war Flottenführer. Fast täglich wagte das kleine Geschwader +den Ausfall aus der blockierten Stadt und kehrte öfters mit Beute +— Vieh und Getreide — zurück, was nicht mit Geld aufzuwiegen war. +Überhaupt konnte Gordon nur auf die Schiffe rechnen, wie aus seiner +nicht ohne bitteren Humor abgefaßten Notiz hervorgeht:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Unsere Dampfer halten sich prächtig; das ist ein Vorteil zu Wasser, +daß die Mannschaft nicht davonlaufen kann, sondern wohl oder übel +stand halten muß!«</p> +</div> + +<p>Es fehlte auch nicht an kleinen Gefechten, wodurch wenigstens das +erreicht wurde, daß man sich die Rebellen auf Armslänge vom Leibe +hielt; einen Angriff auf die Stadt selbst wagten dieselben nicht +mehr, nachdem sie mit den Sprengminen Bekanntschaft gemacht hatten. +Als Berber gefallen war, schlossen sich an den Mahdi auch die +Schaggyeh-Beduinen an, die das Land nordwärts von Khartum inne hatten. +Damit war die Isolierung der Stadt eine vollständige.</p> + +<p>Die Spannung in England nahm mit den Sommermonaten zu. Bei dem +Ausbleiben aller glaubwürdigen Nachrichten malte man sich die Lage der +Stadt noch schlimmer aus, als sie damals in Wirklichkeit war; man sah +sie dem hohläugigen Hunger einerseits,<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> den fanatischen Horden des +Mahdi andererseits in die Arme fallen, man sah den heroischen Gordon +mit seinen tapferen Gefährten, wie sie, von aller Welt verlassen, +den sinkenden Mut von Tausenden aufrecht erhielten, obschon ihnen +selbst kein Hoffnungsstern leuchtete. Und als endlich verlautete, der +Regierung habe das Gewissen geschlagen und Entsatzungstruppen würden +abgehen, da hielt mancher dafür, wie es sich ja leider auch als wahr +erwiesen hat, daß das Ministerium der Verspätungsmaßregeln auch hier +wieder mit dem guten Willen hinterdrein kommen werde.</p> + +<p>Am 29. September, nach fünfmonatelangem Schweigen brachte die Times +Nachrichten von Khartum. Die Aufzeichnungen Powers<a id="FNAnker_15" href="#Fussnote_15" class="fnanchor">[15]</a> waren am Abend +vorher angelangt, und das englische Volk las mit klopfendem Herzen, +wie es den drei Söhnen Englands in der belagerten Nilstadt erging; +hatte man doch die Hoffnung aufgegeben, je wieder Beruhigendes von +ihnen zu vernehmen. Die hier folgenden Notizen zeigen mit der Kürze +von Depeschen, wie Gordon, Stewart und Power zwischen dem ersten Mai +und letzten Juli mannhaft auf ihrem Posten standen und Khartum bis +dahin gehalten hatten.</p> + +<p>»1. Mai. — Der befehlende Offizier der Sappeurs legte eine Sprengmine +mit achtundsiebzig Pfund Pulver, trat aber unglücklicherweise selbst +darauf und wurde mit sechs seiner Leute zerschmettert.</p> + +<p>»3. Mai. — Ein Mann berichtet von einer englischen Armee in Berber.</p> + +<p>»6. Mai. — Energischer Angriff seitens der Araber auf die +Befestigungen am Blauen Nil; die Minen, die wir bei Buri legten, +brachten ihnen große Verluste.</p> + +<p>»7. Mai. — Starker Angriff von einem gegenüberliegenden Dorf; +neun Minen explodierten und wir hörten nachher, daß es die +Rebellen einhundertundfünfzehn Tote kostete. Die Araber<span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span> schossen +ununterbrochen. Oberst Stewart vertrieb sie mit zwei prächtigen Salven +aus einem vor dem Palast aufgestellten Kruppschen Zwanzigpfünder +aus ihrer wichtigsten Stellung. Während der Nacht brachen sie +Schießscharten in die Mauern, aber am 9. verjagten wir sie, nachdem +sie das Dorf drei Tage innegehabt hatten.</p> + +<p>»25. Mai. — Oberst Stewart, durch eine feindliche Kugel verwundet, +während er eine Mitrailleuse vor dem Palast leitete, ist jetzt wieder +hergestellt.</p> + +<p>»26. Mai. — Bei einem Manöver auf dem Weißen Nil schoß Saati Bey eine +Bombe in ein arabisches Pulvermagazin. Gewaltige Explosion, an sechzig +Bomben platzten.</p> + +<p>»Während der Monate Mai und Juni tägliche Dampferexpeditionen unter +Saati Bey. Unsere Verluste unerheblich. Viel Vieh eingebracht.</p> + +<p>»25. Juni. — Cuzzi, der englische Konsul von Berber, der bei den +Rebellen ist, brachte unsern Linien Bericht vom Fall Berbers. Er ist +auf dem Weg nach Kordofan.</p> + +<p>»30. Juni. — Saati Bey hat den Rebellen vierzig Ardeb Korn abgejagt, +und zweihundert Araber sind dabei gefallen.</p> + +<p>»10. Juli. — Saati Bey machte einen Angriff auf Gatareeb, nachdem er +Kalkala und drei andere Dörfer in Brand gesteckt hatte; er und drei +seiner Offiziere fielen. Saatis Verlust ist keine Kleinigkeit.</p> + +<p>»29. Juli. — Wir haben die Rebellen aus Buri am Blauen Nil verjagt; +es hat sie viel Tote gekostet, uns ziemlich Munition und achtzig +Gewehre eingetragen. Die Dampfer rückten bis El-Efan vor, säuberten +dreizehn Schanzen und zerschmetterten zwei Kanonen. Die ganze +Belagerung bisher hat uns keine siebenhundert Mann gekostet.</p> + +<p>»31. Juli. — Mit dem heutigen schließt der fünfte Monat der +Belagerung. Gestern schickte ich über Kassala einen übersichtlichen +Bericht über unsere Lage und die hauptsächlichsten Ereignisse seit dem +25. März. Bis 23. April ging wöchentlich mehrmals Nachricht ab; nach +diesem Datum war's unmöglich Botschaft nach Berber zu bringen. Wir +sind jetzt seit fünf Monaten<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> eng belagert, die arabischen Geschosse +erreichen den Palast von allen Seiten.</p> + +<p>»Seit 17. März ist kein Tag ohne Beschießung vergangen, trotzdem +berechnen sich unsere Toten von Anfang an höchstens auf siebenhundert. +Verwundungen, die im ganzen leicht sind, gab's viele. Seit die Stadt +eingeschlossen ist, läßt General Gordon den Armen Zwieback und Korn +verabreichen, und bis jetzt hat niemand ernstlich Not gelitten. Aber +Teuerung herrscht, und die Lebensmittel sind enorm im Preis gestiegen; +Fleisch, wenn man's überhaupt kriegen kann, kostet acht oder neun +Schilling per Ober. Die Klassen, die sich nicht unterstützen lassen +können, leiden am meisten.</p> + +<p>»Mit der Nachricht, die uns vorgestern erreichte, ist unsere letzte +Hoffnung dahin, daß unsere Regierung uns zu Hilfe kommen werde. Wir +haben noch Mundvorrat auf zwei Monate, und dann bleibt uns nicht +übrig als zu fallen. Mit den Truppen, die uns zu Gebot stehen, und +den vielen Weibern und Kindern ist es ganz unmöglich daran zu denken, +sich durch die Araber durchzuschlagen. Wir haben nicht genug Dampfer, +um alle fortzuschaffen, und nur mit Hilfe der Dampfer können wir den +Rebellen begegnen.</p> + +<p>»Ein berittener Araber genügt, um zweihundert von unserer Mannschaft +in die Flucht zu schlagen. Als Saati Bey fiel, hatten ihrer acht mit +Speeren zweihundert der unsern angegriffen, deren jeder sein Gewehr +trug. Die Kerle nahmen sofort Reißaus und kümmerten sich nicht darum, +daß Saati und sein Vakil erschlagen wurde. Ein schwarzer Offizier hieb +drei jener Araber zusammen, und die anderen fünf genügten, die ganze +Truppe der unsern davonzujagen. Ein Berittener, der dazu kam, sprengte +durch die flüchtige Schar und schlug sieben zu Boden. Oberst Stewart, +der keine Waffen trug, kam wie durch ein Wunder davon; die Araber +hatten ihn nicht gesehen. Was kann man mit solchen Truppen anfangen? +Die Neger sind die einzigen, auf die wir uns verlassen können.</p> + +<p>»Der Ausfall der schwarzen Mannschaft unter Mehemet Ali Pascha am +28. dieses war glänzend; die Araber müssen schwere Verluste gehabt +haben. General Gordon hat es den Soldaten<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> verboten, die Köpfe der +erschlagenen Rebellen einzubringen, die Zahl läßt sich daher nur +mutmaßen. Wir eroberten bei dieser Gelegenheit sechzehn Bomben, +ziemlich viel Kartätschen und Patronen, eine schöne Anzahl Gewehre, an +zweihundert Lanzen, sechzig Schwerter und einige Pferde. Wir hatten +vier Tote und etliche Leichtverwundete. Dieser Sieg hat uns die +Rebellen eine Zeit lang vom Hals geschafft, die unsere Linien bei Buri +am Blauen Nil unablässig, selbst nachts, beschossen.</p> + +<p>»Den folgenden Tag, am 29. dieses, rückte unser Geschwader, d. h. fünf +Kriegsdampfer und vier mit Türmchen und Geschütz versehene Barken, +nach Giraffa am Blauen Nil vor. Ich ging mit. Wir säuberten dreizehn +kleine Forts, stießen aber bei Giraffa auf zwei beträchtlichere +Verschanzungen — Erdwälle mit starken Palissaden aus Palmstämmen. +Die eine trug zwei Kanonen. Wir beschossen diese Verschanzungen acht +Stunden lang, bis wir die beiden Kanonen mit unserem Kruppschen +Zwanzigpfünder endlich zum Schweigen brachten. Die Gewehre der +Araber knatterten unaufhörlich; unsere Panzerboote aber können einen +Kugelregen aushalten, und so hatten wir nur drei Tote bei zwölf oder +dreizehn Verwundeten. Gegen Abend verjagten wir die Rebellen, die +ziemlich zahlreich waren.</p> + +<p>»In etwa drei Tagen beabsichtigt General Gordon zwei Dampfer gegen +Sennar zu schicken. Wir hoffen, daß sie den Dampfer »Mehemet Ali« +wieder kapern, den die Rebellen dem Saleh Bey neulich abjagten. +General Gordon ist wohl auf, und Oberst Stewarts Wunde ist wieder +heil. Auch ich bin wohl und guter Dinge.«</p> + +<p>Man atmete auf in England bei dieser Nachricht und war stolz auf +die drei Tapferen, die sich so rühmlich hielten. Und ob der Freude +vergaß man im ersten Augenblick, wie lange die Botschaft unterwegs +war! »<em class="gesperrt">Wir haben noch Mundvorrat auf zwei Monate und dann bleibt +uns nichts übrig, als zu fallen</em>,« so schrieb man am 31. Juli in +Khartum, und am 29. September wiederhallten diese Worte in England. +Noch ein Tag fehlte an der gesteckten Frist. Wie stand es jetzt um +Khartum?</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span></p> + + +<p>Am 30. Juli schrieb Gordon an Sir E. Baring:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Besten Dank für Ihre guten Wünsche. Der Nil ist jetzt hoch, und wir +hoffen, in wenigen Tagen offene Route nach Sennar zu haben. Unsere +Verluste bis jetzt sind nicht ernstlicher Art. Stewart war leicht +verwundet, ist aber wieder hergestellt. Seien Sie überzeugt, daß +wir diese Gefechte nicht suchen, aber wir haben keine andere Wahl, +denn der Rückzug wäre nur dann möglich, wenn wir die Zivilbeamten +und ihre Familien im Stich ließen, wogegen die allgemeine Stimmung +der Truppen sich auflehnt. Ich habe keinen Rat zu geben. Wenn wir +Sennar entsetzen und den Blauen Nil säubern können, wären wir stark +genug, Berber zurückzuerobern, d. h. wenn Dongola sich halten kann. +Nicht ein Pfund von Ihren Hilfsgeldern ist hier angelangt; es ist +dem Feind in Berber in die Hände gefallen. Und ich mißgönne es +den Arabern nicht, denn es ist doch nur ein Teil von dem, was die +ägyptischen Pascha dem Land erpreßt haben. Es sollten vier Millionen +Mark nach Kassala geschickt werden; man muß diesen Besatzungen +wenigstens mit Geld zu Hilfe kommen. Khartum kostet zehntausend Mark +per Tag. Wenn der Weg nach Berber frei wird, werde ich Stewart mit +dem Tagebuch hinschicken, d. h. wenn er einwilligt. Das dürfen Sie +glauben, wenn es irgend eine Möglichkeit gäbe, dieses erbärmliche +Scharmützeln einzustellen, so würde ich sie ergreifen, denn mir ist +der ganze Krieg verhaßt. Die Leute sind dagegen, daß ich die Stadt +verlasse, aus Furcht, daß alles noch schlimmer würde, wenn mir +etwas zustieße; so sitze ich immer auf Sohlen, wenn die Mannschaft +draußen ist. Wenn ich irgend jemand hier ans Ruder stellen könnte, +so würde ich es thun, aber es ist niemand da; alle tüchtigen Kräfte +zogen mit Hicks aus und sind geblieben. Als Beweis, wie gut die +Araber schießen, hat der eine Dampfer neunhundertundsiebzig und der +andere achthundertundsechzig Verletzungen im Rumpf. Seit unserer +Niederlage am 16. März haben wir nur etwa dreißig Tote und fünfzig +oder sechzig Verwundete gehabt, was sehr wenig ist. Wir haben wohl +eine halbe Million Patronen verschossen. Die Leute halten sich +im ganzen gut ... Es mag taktlos klingen, aber wenn wir je davon +kommen, so geben Sie dem Stewart einen Orden, aber nur mir nicht. +Ersparen Sie mir die Unannehmlichkeit es abzulehnen, aber ich hasse +solches Zeug. <em class="gesperrt">Wenn</em> wir davonkommen, so ist es lediglich durch +Gebetserhörung und nicht aus eigener Kraft; fürs übrige ist's dann +eine Genugthuung, hier gewesen<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> zu sein, so trostlos es manchmal ist. +Stewarts Tagebuch ist sehr ausführlich. Ich will nur hoffen, daß es +Sie erreicht, wenn ich's schicken kann. Landminen werden künftig +unsere beste Verteidigung sein; wir haben die Außenwerke damit +bedeckt, bis jetzt haben sie allen Angriff abgehalten und tüchtig +aufgeräumt ... Wir haben einen Khartum-Orden von drei Graden — +Silber mit Vergoldung, Silber und Zinn — eingeführt, eine Granate +mit der Umschrift »die Belagerung von Khartum«. Sogar Frauen und +Schulkinder haben ihn schon erhalten; ich bin daher sehr populär bei +den schwarzen Damen. Wir haben Papiergeld im Wert von einer halben +Million Mark in Umlauf gesetzt, und von Kaufleuten habe ich eine +Million geliehen, beides auf <em class="gesperrt">Ihren</em> Kredit hin! Auch habe ich +einhundertundsechzigtausend Mark Papiergeld nach Sennar geschickt. +Was die Steuern betrifft, so zahlt man uns nur in Blei, woraus Sie +abnehmen mögen, daß Sie eine schöne Rechnung hier zusammenkriegen. +Die Truppen und die Leute im ganzen sind gutes Muts ... Ich glaube, +daß eine schreckliche Hungersnot durchs ganze Land das Finale sein +wird. Ein Spion brachte gestern die Nachricht, die ›Königin von +England‹ sei in Korosko — vielleicht ist es ein Schiff. Sieben Mann, +ich mitgerechnet, sind die ganze Verstärkung, deren der Sudan seit +der Hicks-Niederlage sich rühmen kann! während wir euch sechshundert +Mann Militär und zweitausend Mann Zivil zugeschickt haben — wir +lachen manchmal darüber. Ich werde Khartum nicht verlassen, ehe ich +jemand an meine Stelle setzen kann. Wenn die Europäer, die hier sind, +suchen wollen, den Äquator zu erreichen, so will ich ihnen mit den +Dampfern dazu behilflich sein; aber nach all dem, was hinter uns +liegt, kann ich die Leute nicht im Stich lassen. — Ich habe Ihnen ja +gesagt, daß der Weg über Wady Halfa am rechten Nilufer hin der beste +wäre; hätte Berber sich gehalten, so wäre es eine Vergnügungsfahrt. +Eine andere Möglichkeit wäre, von Senheit nach Kassala und von da +nach Abu Haraz am Blauen Nil; jedenfalls sicher bis Kassala, aber ich +fürchte, es ist <em class="gesperrt">zu spät</em>. Wir müssen uns selber durchhelfen, so +gut wir können. Wenn Gott uns seinen Segen dazu giebt, so wird uns +der Sieg; wenn es nicht sein Wille ist, so ist es auch recht ...</p> + +<p>»Warum benutzen Sie die Geheimschrift? Ist ganz unnötig, die Araber +haben ja keine Dolmetscher. Sie sagen, es sei Ihr Ziel, den Sudan zu +räumen; gut, aber die Araber haben auch ein Wort<span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span> dreinzureden, ehe +sie die Ägypter ziehen lassen. Es wird alles zum besten dienen. Ich +wiederhole zum Schluß, wir verteidigen uns so lang wir können, und +ich lasse Khartum nicht im Stich. Noch hoffe ich, wenn ich auch bis +jetzt kein Wie sehe, daß Gott uns einen Ausweg zeigen wird.«</p> +</div> + +<p>In einer Nachschrift heißt es:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Sie fragen in Ihrem Telegramm vom 5. Mai: warum ich darauf bestehe, +hier zu bleiben, wenn doch England sich zurückziehe? Antwort: ich +bleibe hier, weil die Araber uns eingeschlossen haben und niemand +durchlassen. Überdies würden mich die Leute festhalten, wenn ich +ihnen nicht vorher zu einer Regierung verhälfe oder sie mitnähme, was +nicht möglich ist. Niemand verließe das Land lieber als ich, wenn es +sein könnte.«</p> +</div> + +<p>Im Laufe des August schreibt er an einen Offizier der königlichen +Marine zu Massaua:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>».... Eine ganze Reihe kleiner Gefechte mit den Arabern, die wir +gottlob zurückgeschlagen haben. Der Weg nach Sennar ist jetzt offen, +und wir haben im Augenblick nichts von den Arabern zu befürchten. +Wir beabsichtigen morgen einen Angriff und wollen einen Ausfall auf +Berber machen; Stewart und die beiden Konsuln (der Engländer Power +und der Franzose Herbin) wollen den Versuch wagen, nach Dongola +zu entkommen. Wir würden Berber zerstören und wieder auf unser +Piratennest zurückfallen ... Ich denke, wir halten Khartum in alle +Ewigkeit, wir sind dem Mahdi gewachsen. Hat er Reiterei, so haben wir +Dampfer. Wir sind sehr bös auf euch zu sprechen, denn seit dem 29. +März hat kein Sterbenswort von der Außenwelt uns erreicht. Ich habe +schon zweitausendachthundert Mark für einen Spion hingelegt, und ihr +habt dem armen Teufel zwanzig Thaler gegeben (wenigstens behauptet +er das), um von Massaua nach Khartum zurückzugelangen. Ich habe ihm +vierhundert Mark draufgelegt ... Wir haben wieder Mundvorrat auf fünf +Monate und hoffen noch mehr wegzufangen ... Unser Vaterland spielt +keine sehr edle Rolle, weder Ägypten noch dem Sudan gegenüber. Ich +wollte, ich hätte ein paar von euren Artilleristen hier, denn unsere +Kanonade ist erbärmlich. Meine Empfehlung an die Offiziere.«</p> + +<p>Und weiter am 26.: »Ich schrieb Ihnen vorgestern, daß wir einen +Ausfall auf die Araber machen wollten. Es ist uns gottlob<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> gelungen, +das feindliche Lager einzunehmen. Der arabische Befehlshaber ist +gefallen (<em class="antiqua">R. I. P.</em>). Unsere Verluste noch unbekannt. Der +Sieg hat uns auf drei Seiten, wenigstens in nächster Nähe, Luft +verschafft. Übrigens können die Araber ihre Niederlage teilweise den +Deserteuren zuschreiben, die im Augenblick des Angriffs in ziemlich +großer Anzahl zu uns überliefen. Meine Flotte hat sich glänzend +gehalten, worauf meine Freunde von der königl. britischen Marine +stolz sein können ... Wir und die hiesigen Truppen haben wenigstens +<em class="gesperrt">ein</em> Band, das uns zusammenhält; sie wissen, daß sie in die +Sklaverei verkauft werden, wenn die Stadt fällt, und wir wissen, +daß wir nur durch eine Verleugnung unseres Herrn unser Leben retten +könnten. Und ich glaube, uns ist diese Alternative noch verhaßter +als den Soldaten jene. So Gott will, wollen wir den Sieg erringen +ohne Hilfe von außen. Spione von Kordofan melden, daß der Mahdi mit +sechsundzwanzig Kanonen auf Khartum loszieht. Das ist nicht mehr +als ich erwartete; ich habe von Anfang an gedacht, daß es hier zur +Entscheidung kommen wird. Will's Gott, ist der Erfolg nicht auf +seiner Seite; wir haben gethan, was wir konnten, um Khartum wohl zu +befestigen. Mißglückt es ihm, dann ist es auch mit ihm zu Ende.«</p> +</div> + +<p>Daß Gordons tapferer Mut aufrecht blieb, ergiebt sich aus diesen +Briefen. Sie zeigen auch, daß er sich entschlossen hatte, seine +beiden Gefährten Stewart und Power ziehen zu lassen und allein +zurückzubleiben; es hatte dies einen doppelten Grund. Zum ersten war +Gordon wohl schon damals zur Gewißheit gelangt, daß es einen harten +Kampf ums Leben gelten würde, und er wollte seinen Waffengefährten +Gelegenheit geben, dem fast sichern Tod zu entgehen; zum andern aber +hoffte er, durch ihre Berichte die saumselige Regierung zum Handeln zu +bringen. Denn daß man in London zu einem Entschluß in dieser Richtung +gekommen war, davon hatte er damals noch keine Kenntnis. Warum er sich +seinen Gefährten nicht anschloß, bedarf keiner weiteren Erklärung. +Er blieb zurück in reinster Selbstaufopferung. Daß er sich solchen +Edelsinn nicht selbst beimaß, erhöht nur die Größe seines Handelns. Er +selbst spricht sich in seiner Weise so darüber aus:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Was man auch sagen mag über unser hiesiges Aushalten, es ist bares +Geschwätz, wir hatten ja keine andere Wahl; und wenn<span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span> man wissen +will, warum ich mich nicht mit Stewart aus dem Staub gemacht habe, so +ist die Antwort einfach die, daß die Leute hier nicht so dumm gewesen +wären, mich gehen zu lassen, also was hat sich's da mit Großthaten +und Selbstaufopferung!«</p> +</div> + +<p>Dennoch war's ein vollkommenes Opfer in jeder Hinsicht, ja ein +Opfer im eigentlichsten Sinn, und Gordon wußte das! Während seines +Aufenthaltes in Jerusalem hatte er hinsichtlich der englischen +Beamtenwirtschaft in Ägypten geschrieben: »Mir ist, als ob dies +Unrecht nur mit Blut zu sühnen wäre.« Und im März schrieb er von +Khartum: »Wolle Gott diese Sünde nicht an unserem Volk heimsuchen, +möge die Strafe auf mich fallen, geborgen in Christo. Das ist meine +Bitte! Und möge Er sich des Volkes hier erbarmen, ihnen Friede +schenken.« Übrigens konnte Gordon nur <em class="gesperrt">hoffen</em>, daß der Dampfer +»Abbas« die kleine Schar sicher durch die feindlichen Linien tragen +würde, er weigerte sich daher ihre Abreise anzubefehlen; er setzte +ihnen auseinander, daß sie durch ihr Bleiben die Lage von Khartum +nicht zu bessern vermöchten, während sie möglicherweise durch ihr +Gehen der belagerten Stadt einen großen Dienst erweisen könnten. Beide +Genossen entschlossen sich unter der Bedingung zu gehen, daß Gordon +ihnen nicht nachsagen würde, sie hätten ihn in der Not verlassen. Es +war ein Wettstreit der Großmut. Stewart wollte absolut nicht ohne den +direkten Befehl seines Vorgesetzten gehen. »Nein,« sagte dieser, »zwar +fürchte ich die Verantwortlichkeit nicht, aber ich will Sie nicht in +eine mögliche Gefahr schicken, die ich nicht mit Ihnen teile.« Bei +der Abreise von London hatte er den ihn an den Bahnhof begleitenden +Freunden gesagt:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»So viel ist sicher, daß wo er in Gefahr sein wird, ich sie teilen +werde; und wo ich in Gefahr gerate, wird er nicht weit davon sein.«</p> +</div> + +<p>Aber alles war so ganz anders gegangen, als man es damals hoffte +und erwartete, und die Kampfgenossen trennten sich. Gordon that zu +ihrer Sicherheit, was er konnte, indem sein Geschwader ihnen über +Berber hinaus das Geleite gab; auch ermahnte er sie, sich in der +Mitte des Stromes zu halten und wegen Holzbedarf nur an einsamen +Orten zu landen. Am<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> 10. September verließ seine Mannschaft die Stadt +und kehrte nach einem Siege über die Rebellen dahin zurück, während +der Dampfer »Abbas« Stewart und Power mit noch etwa vierzig anderen +stromabwärts trug.</p> + +<p>Schon anfangs Oktober gelangte die Unglückspost nach England, daß +der »Abbas« im Nil gestrandet und seine Mannschaft dem Feind in die +Hände gefallen sei. Man hoffte eine Zeit lang, Stewart sei mit dem +Leben davon gekommen, aber nach wenigen Wochen war's auch mit dieser +Hoffnung zu Ende. Monate vergingen jedoch, ehe man die Einzelheiten +mit Gewißheit erfuhr, und zwar durch den Heizer des Dampfers, der aus +der arabischen Gefangenschaft entkam und folgendes berichtete:</p> + +<p>Nachdem das Geschwader Berber bombardiert hatte, kehrte die kleine +Flotte nach Khartum zurück, und der »Abbas« setzte seine Reise fort, +gelangte auch sicher bis über Abu Hamed. Am 18. September aber stieß +der Dampfer auf den Grund. Es war in des Scheik Wad Gamrs Land, +und man hatte seit einiger Zeit bemerkt, daß die Leute auf beiden +Seiten landeinwärts den Hügeln zu liefen. Als es sich ergab, daß der +»Abbas« festsaß, wurde ein Rettungsboot mit dem Nötigsten beladen +und als Landungsplatz eine nahe Insel in Aussicht genommen; das Boot +ging viermal hin und her. Darnach vernagelte Oberst Stewart selbst +die Kanonen und ließ sie über Bord werfen; ebenso die Kisten mit +Schießbedarf. Die Eingeborenen hatten sich mittlerweile in großer +Anzahl auf dem rechten Ufer versammelt und schrieen: »Gebt uns Frieden +und Korn!« »Friede,« riefen die Gestrandeten zurück. Soliman Wad Gamr, +der Scheik, war in einem kleinen Haus in der Nähe; auch er fand sich +am Ufer ein und rief den Schiffbrüchigen zu, sie sollten nur furchtlos +herüber kommen, die Soldaten müßten aber ihre Waffen niederlegen, +sonst würden seine Leute sich fürchten. Und nachdem Oberst Stewart +mit seinen Gefährten beraten hatte, setzte er mit den beiden Konsuln +(Power und Herbin) und einigen andern über und betrat das Haus eines +blinden Fakirs Namens Etman, um daselbst mit dem Scheik über den +Ankauf von Kamelen zu unterhandeln. Er gedachte den Weg nach Dongola +durch die Wüste<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> fortzusetzen. Außer Stewart, der einen Revolver trug, +hatte niemand Waffen. Und während er und seine Begleiter mit dem +Scheik verhandelten, beschäftigten sich die übrigen mit der Landung. +Es dauerte nicht lange, da bemerkten diese, daß Soliman aus dem Hause +stürzte und seinen Stammesangehörigen, die in einem Haufen beisammen +standen, mit einem Wassereimer, den er hin und her schwenkte, ein +Zeichen gab. Da warfen sich diese mit ihren Speeren teils auf die +Mannschaft am Ufer, teils auf das Haus. Der Heizer versteckte sich mit +einigen anderen und wurde später gefangen genommen. Oberst Stewart +und seine Gefährten aber wurden unbarmherzig niedergemacht und ihre +Leichen in den Fluß geworfen. Dann teilten sich die Mörder in die +Beute. Es war selbst nach arabischen Begriffen ein schändlicher +Verrat. Stewarts Tagebuch über den bisherigen Verlauf der Belagerung +Khartums, das Gordon als einen Schatz bezeichnete, wurde mit allen +übrigen Schriftstücken, Briefen u. s. w., die der »Abbas« trug, dem +Mahdi ausgeliefert.</p> + +<p>Gordons »Tagebücher« beginnen mit dem Tag, an dem er sich von seinen +Gefährten trennte. Die vier ersten sind an Stewart gerichtet, die +beiden letzten an den befehlenden General des Entsatzheeres. Es +sind diese Tagebücher einfach die niedergeschriebenen Gedanken +eines Menschen, der niemand mehr hat, gegen den er sich aussprechen +kann. Er bespricht darin die Sachlage von allen Seiten, keinen +möglichen Einwurf läßt er unbeantwortet; er bringt die militärische +Stellung zu Papier und arbeitet die zu verfolgende Taktik aus. Er +macht Aufzeichnungen der täglichen Nebendinge, die nicht selten +humoristischer Art sind — z. B. seine Gewohnheit, schwarze Überläufer +mit den Spiegeln im Palast Bekanntschaft machen zu lassen, damit die +Leute sich doch auch einmal selbst zu Gesicht bekämen. Die Tagebücher +sind daher umfangreich, obschon sie nur einen Zeitraum von drei +Monaten umschließen. Er stellt darin auch das Verfahren der Regierung +in ein helles Licht, aber er thut es mit der Ruhe eines Menschen, +der sich in einer höheren Hand weiß, als in der der irdischen +Machthaber und dem Ausgang, so oder so, ohne viel Aufregung entgegen +sieht. Nichts steht deutlicher in diesen Aufzeichnungen, als daß der +Schreiber<span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span> bis zuletzt an dem seltenen Gottvertrauen festhielt, das +manche nur als Fatalismus zu belächeln wissen, das er selbst aber +treffend dahin kennzeichnet:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wenn das Buch unseres Geschickes einmal aufgeschlagen ist, dann ist +Ergebung unsere Pflicht, in der Zuversicht, daß uns alles zum besten +dienen soll. So lang dieses Buch noch mit Siegeln versiegelt ist, +ist es etwas anderes. Und es kann mir niemand nachsagen, daß ich +mit diesem Glauben die Hände in den Schoß legte und alles über mich +ergehen ließ.«</p> +</div> + +<p>Es war sein Gottvertrauen und nichts anderes, das ihn dazu befähigte, +die Gefährten ziehen zu lassen und allein weiterzukämpfen, und wie +er überhaupt immer mehr an alles andere als sich selbst dachte, +so erwähnte er dieses Alleinseins mit keinem Wort. Wohl mag er's +empfunden haben! Wenn er aber schreibt: »Eine Maus hat jetzt bei Tisch +Stewarts Platz eingenommen, sie scheint sich nicht zu fürchten, denn +sie holt sich kecklich aus meinem Teller, was ihr gefällt,« so meinen +wir, er hätte nicht leicht mit wenig Worten mehr sagen können.</p> + +<p>Ja, Gordon war allein, aber die Stadt will er halten, ob Hilfe noch +komme.</p> + + +<h3>6. Menschenhilfe.</h3> + +<p>Es war in der ersten Augustwoche 1884, als Gladstone, dem Drängen des +Volkes nachgebend, sich anschickte, eine Entsatz-Expedition ins Werk +zu setzen; bisher war standhaft erklärt worden, die Notwendigkeit +zu militärischen Operationen liege nicht vor. Das Kriegsministerium +that sein Möglichstes, die verlorene Zeit nachzuholen. Am letzten +August verließ der erwählte Heerführer, Lord Wolseley, London unter +den Zurufen und Glückwünschen einer Menge Volks, die sich am Bahnhof +versammelt hatte.</p> + +<p>Wolseleys Instruktionen sind beachtenswert. Es gelte, Gordon zu +retten, sagte die Regierung, ihrer Politik getreu bleibend, daß der +Sudan England nichts angehe. Das Entsatzheer solle sich daher aller +und jeder offensiven Operationen enthalten. Der Auftrag erstreckte +sich nicht auf die Besatzungen von Kassala und<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> Sennar, noch weniger +auf die Bahr el Ghasal oder die Äquator-Provinzen. Die Regierung +setzte sogar Zweifel darein, daß es sich als nötig erweisen werde, bis +Khartum vorzurücken; jedenfalls sollten die britischen Operationen +möglichst beschränkt werden. Einigermaßen in Widerspruch mit dieser +Vorschrift folgte die weitere Anordnung, daß, nachdem ein sicherer +Rückzug für General Gordon und Oberst Stewart, sowie für die +ägyptischen Truppen und Zivilbeamten in Khartum gewonnen sei, General +Wolseley Vorkehrungen treffen solle, um dem Sudan, insbesondere +aber der Stadt Khartum, eine geordnete Regierung für die Zukunft zu +sichern. Bezeichnender Weise erhielt dieser Sudan-Entsatzzug den Namen +»Expedition zur Rettung Gordons«.</p> + +<p>Der Held in Khartum erfuhr davon auf eigentümliche Weise. Er erzählt +in seinem Novembertagebuch, daß eine Post ihn erreicht habe. Die +Briefe waren in alte Zeitungen gewickelt, darunter war der »Standard« +vom 1. September, und »nicht mit Gold aufzuwiegen,« sagt Gordon, +»waren wir doch seit dem 24. Februar ohne alle und jede Nachricht!« +Dieses Zeitungsblatt aber beschreibt die Abreise Lord Wolseleys, um +Gordon zu befreien. »Nichts dergleichen,« erklärt Gordon, »sondern um +die eingeschlossenen Truppen zu entsetzen!« Anderswo spricht er sich +so aus:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Nicht energisch genug kann ich es ablehnen, daß dieser Zug +meinetwegen ins Werk gesetzt wird. Es geschieht lediglich, <em class="gesperrt">um +die Ehre Englands zu retten</em>, um die Besatzungen und andere aus +einer Lage zu befreien, in welche die englische Politik in Ägypten +sie gebracht hat. Ich unternahm den ersten Zug zum Entsatz, was +jetzt kommt, ist der zweite. Was mich betrifft, so könnte ich mich +ja jederzeit davon machen, wenn das alles wäre. Überlegt euch aber +einmal, was es auf sich hätte, wenn die erste Expedition davon liefe +und ihre Dampfer in des Mahdi Hände fallen ließe, wäre das nicht eine +böse Vorarbeit für die zweite Expedition, welche Englands Ehre retten +will, indem sie die Besatzungen befreit? <em class="gesperrt">Beide</em> Expeditionen +gelten der Ehre Englands, das liegt auf der Hand. Ich bin gekommen, +um die Besatzungen zu retten und es ist mir nicht gelungen. Nun +kommt Earle (der mit Wolseley kam); hoffen wir, es gelingt ihm. Zu +<em class="gesperrt">meiner</em> Befreiung kommt er aber nicht! Mit dem Entsatz der +Garnison, das gab von Anfang an jeder zu, stand<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> unsere nationale +Ehre auf dem Spiel. Wenn Earle nun das gewünschte Resultat erreicht, +so verpflichtet er sich die »nationale Ehre«, die ihn hoffentlich +auch belohnen wird; mich geht das nichts an, ich bin höchstens zu +tadeln, daß es mir nicht gelungen ist. Jedenfalls bin ich nicht das +<em class="gesperrt">gerettete Lamm</em> und wills's nicht sein.«</p> +</div> + +<p>Gordon baute überhaupt nicht auf die Erfolge des Feldzugs, der vier +Monate früher hätte unternommen werden sollen. Es ist auch nicht +leicht zu erklären, warum man sich im April nicht zu den Maßregeln +verstehen konnte, die man im August doch ergriff!</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Die Möglichkeit liegt natürlich auf der Hand,« schrieb Gordon, »daß +Khartum der Expedition noch vor der Nase weggeschnappt wird; man wird +gerade noch dazu kommen, d. h. zu spät. Vielleicht hält man es dann +für nötig, die Stadt zurückzuerobern, aber das wäre ganz nutzlose +Mühe und würde auf beiden Seiten nur unnötig viel Blut kosten. Wenn +es so weit kommt, dann kann das Entsatzheer nichts besseres thun, +als den Schwanz einziehen und ganz still wieder umkehren. Denn wenn +Khartum einmal gefallen ist, dann ist die Sonne untergegangen und +die Leute werden sich nicht viel um die Planeten (d. h. die andern +Garnisonsstädte) kümmern.«</p> +</div> + +<p>Der Leser weiß, daß, wie Gordon ahnte, Wolseleys Truppen »gerade noch +dazu kamen«; man weiß auch, daß sie unverrichteter Dinge umgekehrt +sind. Und zwar trifft Offiziere und Mannschaft kein Tadel; manch +Tapferer hat sein Leben gelassen, und die Geldopfer berechnen sich +nach Millionen. Der Fehler war der, daß es von Anfang an <em class="gesperrt">zu +spät</em> war.</p> + +<p>Von Kairo nach Assiut wurden die Truppen per Bahn befördert und von +dort per Nildampfer nach Assuan, wo die Schwierigkeiten der Expedition +ihren Anfang nahmen. Ende September trafen die Flußboote von England +dort ein, mit welchen man die Mannschaft und den Kriegsbedarf nach +Dongola zu verbringen beabsichtigte, und vierhundert kanadische +Bootsleute waren ihrer besonderen Tüchtigkeit halber auf Wolseleys +Wunsch dazu verschrieben worden. Die Boote durch die Nilschnellen +oberhalb Wady Halfa zu bringen, bot fast unübersteigliche Hindernisse +und die Beförderung durch die Wüste mit Kamelen nicht minder;<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span> und +als die Truppen endlich in Dongola angelangt waren, lag schon eine +Riesenarbeit hinter ihnen, obgleich sie vom Feinde selbst noch nichts +gesehen hatten.</p> + +<p>Dongola wurde anfangs November erreicht, und am 14. dieses Monats +erhielt Wolseley Nachricht von Gordon vom 4., die ihm abermals zu +wissen that, daß keine Zeit zu verlieren sei. Er benachrichtigt den +britischen Heerführer, daß in Metammeh fünf Dampfer mit neun Kanonen +seiner Befehle harren. Mit andern Worten, sobald er hört, daß der +Hilfszug im Anmarsch ist, kommt er selbst seinen angeblichen Rettern +zu Hilfe!</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»<em class="gesperrt">Noch vierzig Tage können wir aushalten</em>,« berichtet er, +»darnach wird's schwer sein ... Der Mahdi ist etwa acht Meilen von +hier ... Sennar ist ruhig, und man weiß dort, daß Ihr kommt ...«</p> +</div> + +<p>Wolseley that sein möglichstes, das Vorrücken zu beschleunigen, +auch bedurfte es kaum seiner packenden Proklamation, die Truppen +anzufeuern. Daß Gordon die Stadt bis zu ihrem Kommen halte, das war +Offizieren wie Gemeinen genug. Durch den Mudir von Dongola hörte man +ferner aus der belagerten Stadt, daß, als der Bote Khartum verließ, +dreißig Barken voll Korn vom Blauen Nil eingebracht worden seien, +und daß die Leute all ihre Hoffnung auf Gordon setzten; daß sogar +aus des Mahdi Lager Überläufer zu ihm kämen; daß er seinen Bedarf +an Schießpulver selbst fabriziere, daß er zwölf Dampfer auf dem +Fluß habe, und daß das Volk anfange, sein Regiment dem des Mahdi +vorzuziehen. Was letztere Behauptung und die Nachricht von Überläufern +aus des Mahdis Lager betrifft, so erklärt Gordon in seinem Tagebuch +dies damit, daß es überall an Nahrung gebreche und der Glaube im +Umlauf sei, in Khartum leide man nicht Mangel; der Bauch regiere die +Welt.</p> + +<p>So viel war sicher, daß der Mahdi Obeid verlassen und bei Omderman +angesichts der belagerten Stadt seine Stellung genommen hatte. Es war +der 21. Oktober, das Neujahr der Moslem, als Gordon das Geschick der +Abbas, den Tod Stewarts und Powers erfuhr; es bekümmerte ihn tief. +Nach Omderman aber, woher ihm die Nachricht gekommen, telegraphierte +er: »Ich<span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span> lasse dem Mahdi sagen, daß es mir nichts ausmacht und wenn +er mir den Untergang von zwanzigtausend Dampfern wie die Abbas, den +Tod von zwanzigtausend Offizieren wie Stewart Pascha meldet. Ich hoffe +den englischen Entsatzzug bald hier zu sehen, wenn der Mahdi mir aber +zu wissen thut, daß die Engländer den Schwierigkeiten erlegen sind, so +ist mir auch das einerlei. <em class="gesperrt">Ich</em> bin hier wie Eisen!«</p> + +<p>Der Mahdi machte einen Angriff auf die Stadt. Gordon begegnete +ihm mit seinen Dampfern und achthundert Schwarzen; es kostete +einen achtstündigen heißen Kampf, aber es gelang ihm, die Araber +zurückzuwerfen und sie durch seine Sprengminen aus ihrer Stellung +zu vertreiben. Der geschlagene Mahdi hat hierauf für gut gehalten, +sein Angesicht eine Zeit lang zu verbergen und sich in eine Höhle +zurückzuziehen. In dieser weissagte er, man werde sich sechzig Tage +lang ruhig verhalten, darnach aber werde das Blut in Strömen fließen. +Diese »Weissagung« ist so ziemlich auf den Tag in Erfüllung gegangen.</p> + +<p>Weihnachten und Neujahr ging vorüber, da schien es endlich Ernst +werden zu wollen. Das englische Heer rückte in zwei Kolonnen, die +eine unter Earle, die andere unter Sir Herbert Stewart durch die +Bajuda-Wüste vor. Das Ziel Stewarts waren die Gakdul-Brunnen, die +auch erreicht wurden; hier wurde eine feste Stellung gewonnen. Am 15. +Januar 1885 bewegte sich der Zug weiter nach den Abu Klea-Quellen, +etwa hundertundzwanzig Kilometer von Metammeh und Shendi am Nil. Dort +kam es zur Schlacht. Hoffnungsvoll waren die Truppen vorgerückt; +einzelne Araber, auf die sie unterwegs stießen, rissen des Mahdi +Abzeichen von ihren Gewändern und erklärten, sie würden den falschen +Propheten nie anerkannt haben, hätten sie gewußt, daß die Engländer +kämen. Bei Abu Klea war der Feind zehntausend Mann stark. Die +englische Kolonne zählte nicht viel über tausend. Es gab eine heiße +Arbeit, aber den Briten blieb der Sieg; doch kostete er schwere +Opfer. Sir Herbert Stewart selbst wurde tödlich verwundet; neun +andere Offiziere fielen, darunter etliche der tapfersten, die England +aufzuweisen hatte, außerdem gab es an Toten fünfundsechzig Gemeine, +und fünfundachtzig Verwundete.<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span> Über tausend Araber bedeckten das +Schlachtfeld. Unter Sir Charles Wilson, dem nach Stewarts Verwundung +der Oberbefehl zufiel, erreichte die britische Abteilung den Nil, +wo Gordons Dampfer der Befreier mit der frappanten Meldung harrten: +»Alles wohl in Khartum; wir können uns noch jahrelang halten! — C. +G. G. 29. Dez. 84.« Hart auf die Siegesbotschaft von Abu Klea trug +der Telegraph diese Kunde nach England, und alle Welt jubelte, daß +die Hilfe doch nicht zu spät gekommen sei, daß der tapfere Held sich +gehalten habe, und daß seine eigenen Dampfer in wenigen Tagen die +englischen Landsleute ihm zuführen würden. Daß Gordons Meldung darauf +abgesehen war, den Feind zu täuschen, daß sie das gerade Gegenteil +von dem bedeuteten, was ihr Wortlaut besagte, das mutmaßte man vor +übergroßer Freude nicht.</p> + +<p>Und doch war es so! Schon am 14. Dezember hatte ein Geheimbote die +(ebenfalls für den Feind bestimmte) Nachricht gebracht: »Alles +wohl in Khartum.« Aber eben derselbe Bote brachte dem britischen +Oberbefehlshaber eine Privatmeldung ganz anderer Art:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wir sind auf drei Seiten belagert — bei Omderman, Halfaja und Hoggi +Ali droht Angriff. Kampf ununterbrochen Tag und Nacht. Der Feind +kann uns nur aushungern. Haltet eure Truppen zusammen, der Feind ist +zahlreich. Bringt möglichst viel Truppen. Noch halten wir Omderman +und die Verschanzung gegenüber.</p> + +<p>Der Mahdi hat Erdwälle in Schußweite von Omderman aufwerfen lassen; +er selbst aber bleibt außerhalb der Schußweite.</p> + +<p>Vor ungefähr vier Wochen haben des Mahdi Truppen Omderman angegriffen +und einen Dampfer außer stand gesetzt. Wir haben dafür eine der +feindlichen Kanonen demontiert.</p> + +<p>Drei Tage später haben sie uns wieder auf der Südseite angegriffen; +wir haben sie zurückgeworfen.</p> + +<p>Saleh Bey und Slaten Bey sind gefangen in des Mahdi Lager.</p> + +<p>Unsere Truppen hier leiden Mangel. Was noch an Proviant da ist, ist +wenig; etwas Korn und Zwieback.</p> + +<p>Kommt sobald wie möglich; am besten über Metammeh oder Berber. Rückt +auf diesen beiden Linien vor. Versichert euch der Stadt Berber, ehe +ihr vorrückt. Hütet euch, den Feind euch im Rücken zu lassen, und +wenn ihr Berber habt, dann laßt mich's wissen.</p> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>Haltet den Feind möglichst in Unwissenheit über eure Bewegungen.</p> + +<p>In Khartum giebt's weder Butter noch Datteln und sehr wenig Fleisch, +alle Lebensmittel sehr teuer.«</p> +</div> + +<p>Das klang anders, als »wir können noch jahrelang aushalten!« +Aber diese Meldung wurde nicht nach England telegraphiert; +oder, wahrscheinlich richtiger, man hielt für gut, sie in den +Regierungsbureaus zurückzuhalten. Wie ein Donnerschlag aus klarem +Himmel fiel daher am 5. Februar 1885 die Botschaft ins Land: Khartum +ist gefallen!</p> + +<p>Sir Charles Wilson war in guter Zuversicht mit zwei von Gordons +eigenen Dampfern von Metammeh abgefahren. Er erreichte das Ziel am 28. +Januar, zwei Tage zu spät; des Mahdi Geschütze begrüßten ihn bei der +Ankunft, er konnte sich nur wieder zurückziehen — am 26. war Khartum +gefallen!</p> + + +<h3>7. Getreu bis in den Tod.</h3> + +<p>Wer vermag es, die letzten drei Monate in ihrem ganzen Ernst sich +zu vergegenwärtigen, der nicht selbst als Augenzeuge mit in der +eingeschlossenen Stadt war! Das Bild wird sich erst dann völlig +entrollen, die Schlußszene von Gordons Leben wird erst dann mit voller +Klarheit beleuchtet sein, wenn die Bücher aufgethan werden, in denen +aller Menschen Thun verzeichnet steht. Einigermaßen aber sind wir, +weil im Besitz seiner Aufzeichnungen, dennoch wie Augenzeugen.</p> + +<p>Kehren wir zu der Zeit zurück, da er mit einem Heldensinn und einer +Großmut, die ihresgleichen sucht, die Gefährten ziehen ließ, um, wenn +möglich, ihr Leben zu retten und allein, der einzige seines Volkes, in +der unseligen Stadt zurückzubleiben. Wie oft hatte Gordon es früher +ausgesprochen, daß er bereit wäre, sein Leben hinzugeben für seine +»armen Schafe«, die Schwarzen im Sudan. Es war nicht bloße Redensart. +Er hat es gethan, sofern ein Mensch für andere sich opfern kann. Es +liegt ein merkwürdiger Brief von ihm vor, den er an die Freunde in +Jaffa richtete, als Khartum ernstlich bedroht war und er nicht wußte,<span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span> +wie bald die Übermacht von außen, oder der Verrat von innen die Stadt +dem Feind überliefern würde.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Es ist eine Lage, in des man seine Hoffnung nur noch auf Gott setzen +kann,« schreibt er. »Zwar sollte dies uns genügen, aber wer nicht +selbst in der Lage war, kann kaum verstehen was es heißt: ›Wir wissen +nicht, was wir thun sollen, unsere Augen sehen nach dir‹ (2 Chron. +20, 12). Der Aufruhr an sich wäre nichts, wenn wir nur ordentliche +Truppen hätten, aber die haben wir nicht, und ich muß mich daher ganz +auf Gott verlassen. Es klingt sonderbar, so zu schreiben, als ob Er +nicht genug wäre! Es ist meine Menschennatur, die so schwach ist, +daß der Mangel mich — zwar nicht immer, aber manchmal — bedrückt. +Was für veränderliche Geschöpfe sind wir doch und voll Widerspruch; +halb Fleisch, halb Geist. Und doch arbeitet Gott an uns und will uns +zu Bausteinen machen für seinen Tempel. Ich kann Ihnen nicht sagen, +wie ich zwischen zwei Seiten hin und herschwanke. ›Ist meine Hand +verkürzt?‹ heißt's auf der einen, und ›schlechterdings kein Ausweg +aus dieser Lage!‹ auf der andern. Es ist ein fortwährender Kampf. +Ich werde Ruhe finden im Grab. Denkt nicht, daß ich Euer vergesse; +denn als Hiob für seine Freunde bat, da wandte der Herr sein +Gefängnis (Hiob 42, 10). Lassen Sie Ihre Kinder für mich beten, denn +bei Menschen ist keine Hilfe. Wie wunderbar ist das Zurichten der +Bausteine, und wie ungern lassen wir uns behauen! Aber dennoch habe +ich es gewagt, vor Ihn zu treten, und habe es von Ihm begehrt, die +Sünden dieser auf mich zu legen, in Christo. Gott mit Euch. Habt Dank +für Eure Fürbitte.«</p> +</div> + +<p>Von allem, was wir über Gordon wissen — und wie reich sind die +Zeugnisse — ist dieser Brief wohl das Wunderbarste, etwas, das uns +tief ins Herz greift. Wie treu ist der Mann, der sein Leben einsetzt, +der mit der ganzen Bürde eines hilflosen Volkes auf seinen Schultern, +mit der Bitte vor seinen Herrn tritt, ihre Sünden auf ihn zu legen! +Wenn es wahr ist, daß er schließlich durch Verrat fiel, so fehlt nur, +daß er hinzugesetzt hätte: <em class="gesperrt">sie wissen nicht, was sie thun</em>!</p> + +<p>Noch hatte er das Volk auf seiner Seite, das in ihm seine Schutzmauer +erblickte; aber der Hunger kam, und der Zweifel that sein Werk, wie +aus seinen Worten hervorgeht: »die Leute<span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span> mußten uns für Lügner +halten.« Die Engländer kommen, war lange der Trost; aber sie verzogen +und kamen nicht. Und dem Volk sank der Mut.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Während ihr eßt und trinkt und sicher in euren Betten schlaft,« +schreibt er, »wache ich mit meinen Leuten Tag und Nacht, ob es uns +gelingen möchte, uns gegen den falschen Propheten zu halten.«</p> +</div> + +<p>Und wenn selbst seine Leute schliefen, so wachte er. In der Mitte der +Stadt hatte er sich einen Turm errichtet, von dem er das Land weithin +übersah. Wenn der Tag graute und andere wachen konnten, dann ruhte +er. Den Tag über kämpfte er den Kampf mit dem Nahrungsmangel und dem +Kleinmut in der Stadt; und wenn die Nacht sich senkte, bestieg er +seinen Turm und hielt die Wache, allein unter dem Sternenhimmel mit +seinem Gott um den Sieg ringend, die Hilfe erflehend, die versagt +schien. Wer kann es ermessen, wie die Heldenseele in mancher langen +Nacht im Kampf für »dies Volk« sich erschöpfte und immer wieder zum +Anlauf bereit stand, wie oft auch ein neuer Tag heraufstieg und keine +Rettung brachte!</p> + +<p>Nichts tritt in den Tagebüchern klarer zu Tag, als daß Gordon, so +völlig er auch das Ende in eine höhere Hand legte, alles that, was +in seiner Macht stand, daß er die ihm anvertraute Stadt Schritt +um Schritt verteidigte. Nichts unterließ er, was er thun konnte; +sein Auge war überall, und sein heroischer Mut war sozusagen +täglich neu. Es war eine Zähigkeit in der Natur dieses Mannes, die +um so erstaunlicher ist, als er's nicht genug betonen kann, daß +Menschenhilfe kein nütze ist. Bis auf den letzten Blutstropfen ringt +er um das Geschick der Stadt, und doch geht sein Glaube von dem +Gedanken aus, daß eben dieses Geschick vorherbestimmt ist. Für den +einsichtsvollen Leser liegt hier durchaus kein Widerspruch vor. Er +erkennt es als seine Pflicht zu ringen, bis das ihm noch verborgene +Geschick sich erfüllt. Oder um abermals an sein Wort zu erinnern: +»<em class="gesperrt">Wenn das Buch der Dinge, die sich ereignen sollen, einmal +aufgeschlagen ist, dann ist Ergebung für uns das Richtige; vorher +ist es etwas anderes. Und es kann<span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span> niemand sagen, daß ich bei diesem +Glauben die Hände in den Schoß gelegt habe.</em>«</p> + +<p>Seine Ergebung in den Willen Gottes, wenn die Ereignisse einmal +erfüllt sind, hindert ihn z. B. auch durchaus nicht daran, in seinen +Aufzeichnungen der englischen Regierung ihren Anteil an der Schuld +recht gründlich unter die Augen zu halten.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wenn ich nicht dächte, daß alles vorherbestimmt und zwar zum besten +bestimmt ist, so könnte ich ganze Oktavbände voll Zorn loslassen, so +oft ich auf dieses Thema komme. Ich sehe gar nicht ein, warum ich die +Stadt auf halbe Rationen setzen soll, nur um die Belagerung um so +viel zu verlängern; wenn ich es thäte, so hätten wir eine Katastrophe +noch vor der Zeit, wo eine solche bei ganzen Rationen zu erwarten +ist. Ich wäre ja ein Engel (unnötig zu bemerken, daß ich das nicht +bin), wenn ich nicht bitterbös auf unsere Regierung zu sprechen +wäre. Ich will suchen mich über diese Sudan-Wirtschaft und all diese +unentschlossene Politik zu beruhigen; aber wenn mir meine schönen +schwarzen Soldaten draufgehen, so möchte ich doch den sehen, der beim +Gedanken an unsere Machthaber den hellen Zorn unterdrücken könnte!«</p> +</div> + +<p>Der gutmütige Ausfall auf seine Schaf-Soldaten thut seiner Gesinnung +in diesem Stücke jedenfalls keinen Eintrag. Die Politik der Engländer, +sagte er, lasse sich kurz dahin zusammenfassen: sie weigerten sich, +den Ägyptern in der Sudan-Frage zu helfen, sie verboten den Ägyptern, +sich selbst zu helfen, und sie wollten nichts davon hören, daß +andere ihnen helfen. Er bestritt keineswegs das Recht der englischen +Regierung nach ihrer Einsicht zu handeln, das aber warf er ihr vor, +daß sie selber nicht wußte, was sie wollte, als es an der Zeit war, ja +oder nein zu sagen. Hören wir ihn in seinem Oktober-Tagebuch:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Was der gegenwärtige Hilfszug an Menschenleben und Geldopfern kosten +kann, ist nicht zu ermessen und wird vollständig zwecklos sein; die +Unschlüssigkeit unserer Regierung ist an allem schuld. Hätte man von +Anfang an gesagt: ›Es geht uns nichts an und wir regen keinen Finger, +wenn die Besatzungen im Sudan umkommen‹, hätte man nichts gethan um +Tokar zu entsetzen, hätte man mir nichts von Entsatz telegraphiert +(s. Telegramm vom 5. Mai, Suakim, und vom 29. April, Massaua), statt +dessen vielmehr die drei Worte:<span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span> <em class="gesperrt">Hilf dir selber!</em> dann könnte +kein Mensch sich beschweren. (Gordon fügt in Parenthese bei, daß, +während einerseits Baring im Namen der Regierung telegraphierte, +daß britische Truppen zum Entsatz Berbers <em class="gesperrt">nicht</em> bewilligt +würden, der englische General Graham andererseits Befehl erhielt, +den Osman Digna anzugreifen.) Aber die Regierung wollte das nicht +sagen, daß sie die Besatzungen im Stich zu lassen gesonnen sei, und +darum unterblieb das ›Hilf dir selber‹. Das ist's, was uns die Hände +gebunden hat. Hätte ich die Flucht ergriffen, so wäre ich selbst +unserer Regierung gegenüber ein Deserteur gewesen; andererseits +freilich hat mein Bleiben den gegenwärtigen Hilfszug nötig gemacht. +Baring meldete mir klar und deutlich den Befehl, nicht ohne spezielle +Erlaubnis der Regierung an den Äquator zu gehen. (Wenn Gordon sich +nämlich hatte retten wollen, so wäre das sein Ausweg gewesen.) Ich +rechte durchaus nicht darüber mit der Regierung, daß sie den Sudan +hat fahren lassen. Es ist ein erbärmliches Land und nicht wert, daß +man es halte; aber das sage ich: die Regierung hätte im März den Mut +haben sollen zu sagen: ›Hilf dir selber!‹ Damals hätte ich es thun +können; jetzt bin ich Ehren halber an dies Volk gebunden, nachdem +sechs Monate in unnützem Widerstand hingegangen sind ... Ich sage +dies, weil niemand die Geld- und Menschenopfer dieses Hilfszugs +mehr beklagt als ich, und niemand kann die Schwierigkeiten besser +ermessen als ich; nach allem aber was hinter uns liegt und dank der +Unschlüssigkeit unserer Regierung haben wir keine andere Wahl. Es +handelt sich für uns jetzt darum, wie wir mit unserer Ehre und mit +möglichst geringen Opfern am besten davon kommen. Gebt das Land den +Türken, das ist die einzige Lösung der Frage. Hoffentlich denkt +niemand, daß ich aus Eigensinn Schwierigkeiten mache; wollte Gott, +ich wäre glücklich fort von hier, wo ich seit Februar keine ruhige +Stunde gehabt habe! ... Bis vor kurzem waren wir völlig im dunkeln, +ob die Regierung die Besatzungen im Stich lassen will oder nicht. +Hätte ich meinen Posten verlassen, so hätte man mich als Deserteur +darum zur Verantwortung ziehen können, weil ich die Dampfer und +Kriegsvorräte in des Mahdi Hand hätte fallen lassen. Denn wenn ich +Reißaus nehme, so dauerte es keine fünf Tage und der Mahdi wäre hier +... Ich wiederhole, die englische Regierung wäre, sofern es mich +betrifft, aller Verantwortung ledig, hätte man mir nur den Entschluß +übermittelt: ›Hilf dir selber, wir lassen die Besatzungen im Stich.‹ +Dann hätte ich<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> gewußt, woran ich bin, hätte den Leuten sagen können, +daß auf Hilfe nicht zu rechnen ist, und hätte keine sechs Wochen +gebraucht, um den Äquator zu erreichen. Und ich hätte das in Ehren +thun können; denn sobald es einmal feststand, daß man uns im Stich +ließ, mußte mein Hierbleiben darauf hinauslaufen, daß ich mit den +Khartumern eingeschlossen würde, was ihre Lage nicht bessern konnte, +im Gegenteil den Mahdi nur um so mehr aufbringen mußte.«</p> +</div> + +<p>Wir geben diese Stellen gern ausführlich, weil die Anklage damit am +besten widerlegt ist, die hin und wieder gegen Gordon laut geworden, +er habe sich die Folgen seines Bleibens selbst zuzuschreiben.</p> + +<p>Weiter sagt er:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Hätte ich einen Versuch gemacht mich zu retten, so hätten die Leute +hier etwa so geurteilt: ›Sie sind zu uns gekommen, und wir vertrauten +Ihnen; wären Sie nicht gekommen, so hätte wohl mancher von uns sein +Heil in der Flucht versucht, so aber verließen wir uns darauf, +was Sie für uns thun würden. Wir haben seit Monaten Entbehrung +über Entbehrung gelitten, um die Stadt zu halten. Wären Sie nicht +gekommen, so hätten wir uns dem Mahdi ergeben; jetzt aber, nach +unserm langen Widerstand, haben wir keine Barmherzigkeit von ihm zu +erwarten, und er wird das vergossene Blut bitter an uns rächen. Sie +haben unser Geld entlehnt und uns versprochen, es solle uns sicher +wieder gegeben werden; wenn Sie uns verlassen, so ist alles verloren. +Es ist Ihre Pflicht und Schuldigkeit, bei uns zu verharren und unser +Los zu teilen. Wenn die englische Regierung uns im Stich läßt, so +ist das kein Grund, daß Sie uns im Stich lassen, nachdem wir uns +all die Zeit her an Sie gehalten haben.‹ ›Und darum,‹ fügt Gordon +mit Nachdruck hinzu, ›<em class="gesperrt">erkläre ich ein für allemal, daß ich den +Sudan nicht verlasse, bis jeder sich hat retten können, der's nötig +hat</em>, bis eine Regierung hier aufgerichtet ist, die mich meiner +Pflicht entbindet. Und wenn jetzt ein Befehl kommt, der mich gehen +heißt, <em class="gesperrt">so werde ich nicht gehorchen, sondern bleibe hier und falle +mit der Stadt und teile ihre Not</em>.‹«</p> +</div> + +<p>Er giebt anderswo zu:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich fürchte, ich bin ein allzu selbständiger Offizier, aber so bin +ich und kann's nicht ändern. Ich habe nicht einmal Verstecken mit +meinen Vorgesetzten gespielt! Wenn ich die Regierung wäre,<span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span> würde ich +so einen, wie ich bin, nie anstellen; denn ich bin unverbesserlich.«</p> +</div> + +<p>Aber er sagt auch:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich bin mit dem Auftrag abgesandt worden, den Sudan zu räumen, und +nicht um Reißaus zu nehmen und die Besatzungen im Stich zu lassen.«</p> +</div> + +<p>Mit andern Worten, zu einem ehrlosen Auftrag hätte er sich nicht +bereit finden lassen, und nachdem er einmal abgesandt war, will er +die Hand zu einer Ehrlosigkeit nicht bieten. Sehr richtig macht er +auch darauf aufmerksam, daß, wenn die Regierung mit ihrer langen +Saumseligkeit recht hatte, es dann auch recht gewesen wäre, dabei zu +verharren.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Das ist mir ein Rätsel,« sagt er, »wenn es jetzt wohl gethan ist, +uns zu Hilfe zu kommen: warum war's nicht recht, das früher zu thun? +Es ist ganz schön von den Schwierigkeiten der Regierung zu reden, +aber das läßt sich nicht leicht wegerklären, daß eine stille Hoffnung +im Hintergrund war, ein Zuhilfekommen könnte durch unsern Fall +erspart werden! Was mich persönlich angeht, so will ich niemanden +Vorwürfe machen; aber es ist mir nicht sehr darum zu thun, mit +Verehrung von Leuten zu reden, seien sie wer sie wollen, die sich +mit solchen Hintergedanken abgeben können ... Ich weiß in der ganzen +Weltgeschichte kein Beispiel von ähnlicher Handlungsweise, wenn ich +nicht etwa auf David mit Uria dem Hethiter Bezug nehmen will, und da +war eine Eva im Spiel — eine Entschuldigung, die im vorliegenden +Fall meines Wissens nicht existiert. Ich wiederhole, ich habe nichts +dagegen einzuwenden, wenn man den Besatzungen nicht helfen will, ich +verdamme nur die Unschlüssigkeit. Man hatte nicht den Mut ehrlich zu +sagen: wir lassen euch im Stich; man verhinderte es, daß ich an den +Äquator ging, mit dem stillen Vorsatz, mir nicht zu Hilfe zu kommen, +und — soll ich sagen mit der Hoffnung? ... (›März, April u. s. w. +<em class="gesperrt">sechs Monate</em>! hält er noch immer aus?‹) ja, das ist's, was ich +der Regierung vorwerfe.«</p> +</div> + +<p>Es ist schwer, den Machthaber in London ein gerechteres Zeugnis über +ihr Verhalten zum Sudan auszustellen, als Gordon es hier thut, und der +Leser hat hoffentlich genug Beweise davon in diesem Buch, daß Gordon +nicht aus persönlichen Rücksichten<span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span> so redet; für sich selbst begehrt +er nichts; er will heute sein Leben hingeben, wenn es sein muß, aber +schwarz will er nicht weiß nennen und Unehre nicht für Ehre gelten +lassen, und er wird nur gegen die bitter, die solches von ihm zu +erwarten scheinen. Er ist sich selbst treu geblieben, und das kostete +ihn sein Leben. Daß er nie wieder nach England zurückkehren und keinen +Heller Entschädigung annehmen werde, spricht er mehr denn einmal in +seinen Tagebüchern aus. Er hätte diesen Entschluß ohne Zweifel auch +ausgeführt.</p> + +<p>Daß des Mahdi Machtentfaltung auf den Fanatismus des Volks +zurückzuführen sei, giebt Gordon nicht zu; er sagt vielmehr, seiner +Erfahrung nach gebe es selbst in jenen fanatischen Ländern heutzutage +nicht viel reinen Fanatismus mehr. Es handle sich bei den meisten +Leuten vielmehr lediglich um den irdischen Besitz; es sei eher eine +Art Kommunismus unter der Flagge der Religion. Und Gordons alter Humor +macht sich geltend, als er erfährt, daß nicht einmal der Mahdi ein +ehrlicher Fanatiker, sondern ein »Humbug« sei. Ein aus dem feindlichen +Lager entronnener Grieche erzählte ihm nämlich, daß der Mahdi Pfeffer +unter den Fingernägeln habe, damit ihm Thränen zu Gebot stünden, wenn +er Audienz gebe. Auch begnüge er sich, wo er gesehen werde, mit ein +paar Körnlein Durra, in den verborgenen Räumen seiner Wohnung aber +lebe er herrlich und in Freuden und versage sich selbst geistige +Getränke nicht.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich muß gestehen,« sagt Gordon, »seit ich das weiß, habe ich +allen Geschmack am Mahdi verloren; bis jetzt konnte man sich doch +wenigstens damit trösten, daß man es mit einem anständigen Fanatiker +zu thun habe, der an seine Sendung glaubt. Wenn einer sich aber +mit Pfeffer unter den Fingernägeln abgiebt, so ist's wirklich eine +Demütigung, sich ihm ergeben zu sollen! ...«</p> +</div> + +<p>Da übrigens Thränen doch im allgemeinen als ein Beweis der +Aufrichtigkeit gelten, so setzte Gordon hinzu, das Rezept lasse sich +vielleicht auch Staatsministern empfehlen.</p> + +<p>Unter den Mohammedanern seiner nächsten Umgebung, nämlich seinen +Dienstboten, machte er ähnliche Entdeckungen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Wenn sie nicht mit Essen beschäftigt sind, dann sind sie am Beten; +und wenn sie nicht beten, dann schlafen sie oder sind krank. Man +hat wirklich Mühe, sie in den Zwischenpausen zu kriegen; es ist +schlechterdings nichts mit ihnen anzufangen, wenn sie auf eine dieser +vier Festungen sich zurückziehen, essen, beten, schlafen oder krank +sein, und sie wissen es. Man wäre ja ein Bengel, wenn man sie daraus +verjagen wollte (was ich übrigens doch manchmal thue). Es gilt einen +Befehl abzufertigen, man sieht sich nach seinem Diener um, und der +Mensch hält seine Andacht. Ich muß sagen, es ist ein prächtiges +Land, um einen Geduld zu lehren! Es ist auch höchst seltsam, aber so +oft ich Ursache habe aufgebracht zu sein, was wohl täglich mehrmals +vorkommt, ist die ganze Dienerschaft mit ihren Gebetsverrichtungen +beschäftigt. Ihre Religion folgt sozusagen der Tonleiter meiner +Stimmungen. Sowie ich guter Laune bin, sind sie Heiden.«</p> +</div> + +<p>Gordons natürliches hitziges Temperament machte sich bis zuletzt +geltend; aber seine Zornausbrüche sind von so viel Gutmütigkeit +erfüllt, daß ihnen der Stachel genommen ist. Wie er selbst einmal +bemerkte, schienen ihn die Leute gerade dann am liebsten zu haben, +wenn ihm, wie das Sprichwort sagt, der Gaul durchging. So ereignete +es sich zwei Monate vor dem Ende, daß eines Abends spät durch drei +Sklaven die Nachricht nach Omderman gebracht wurde, die Araber +gedächten am folgenden Morgen einen Angriff zu machen. Es wurde +nach Khartum gemeldet, aber der Telegraphist meinte, es wäre auch +am andern Morgen noch Zeit, dem Generalgouverneur die Depesche +vorzulegen. In der Frühe wurde Gordon durch ein heftiges Schießen bei +Omderman geweckt, die Araber hatten in der That einen bedeutenden +Angriff gemacht, und Gordons Dampfer mußten erst noch geheizt werden. +Es folgten mehrere Stunden, die, wie er sagte, ihn um Jahre älter +machten — es war das heißeste Gefecht, das die Belagerten bis +dahin ausgehalten hatten. Als Gordon vernahm, daß der Telegraphist +eine Hauptschuld trug, dem es oft genug eingeschärft worden war, zu +jeder Stunde Gordon nötigenfalls zu wecken, bestrafte ihn dieser mit +ein paar tüchtigen Ohrfeigen, die ihn aber alsbald reuten und ihn +veranlaßten, dem Geohrfeigten fünf Thaler zu schenken. Er dürfe<span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span> ihn +totschlagen, erwiderte der Telegraphist, ein schwarzbrauner Jüngling, +denn er sei ja sein Vater! Ein andermal handelte es sich darum, einen +neugebauten Dampfer zu taufen. Die Leute wollten ihn »Gordon« nennen, +was er mit dem Bemerken ablehnte, es sei keine Gefahr vorhanden, daß +die Stadt ihn je vergessen werde, habe er doch die meisten von ihnen +auf alle mögliche Weise seinen Zorn schon fühlen lassen; sie sollten +den Dampfer lieber »Sebehr« heißen!</p> + +<p>Daß Gordon durch die ganze schwere Belagerungszeit dem Ausgange +ruhig entgegen sah, wissen wir; daß es nicht ohne viel innerliches +Leiden abging, spiegelt sich wieder und wieder in den Tagebüchern ab. +Merkwürdig ist folgende Stelle:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Oft, seit wir eingeschlossen sind, haben wir die Frage aufgeworfen, +ob es wirklich unmännlich ist, sich zu fürchten, wie die Welt sagt. +Ich sage offen, daß ich fortwährend in Furcht schwebe und zwar recht +gründlich. Ich fürchte die möglichen Folgen der Gefechte. Todesfurcht +ist's nicht, die habe ich gottlob ja längst überwunden; aber ich +fürchte Niederlagen und was sie bringen. Man spricht von ruhigen +Leuten, die sich durch nichts anfechten lassen — es giebt keine, d. +h. es giebt Leute, die es äußerlich nicht zeigen, was sie innerlich +fühlen. Daraus folgere ich, daß ein Heerführer nicht in vertrautem +Umgang mit seinen Offizieren leben soll, denn sie beobachten ihn mit +Luchsaugen und nichts ist ansteckender als Furcht. Mich hat es schon +fuchswild gemacht, wenn ich etwa vor Besorgnis nicht essen konnte und +dann merkte, daß es meinen Tischgenossen ebenso ging.«</p> +</div> + +<p>Wenn Gordon auch nicht Furcht im gewöhnlichen Sinn, so doch Besorgnis +in reichlichem Maße kannte, so ist's kein Wunder. Er hat es öfters +ausgesprochen, daß es eine Art Verhängnis in seinem Leben war, in all +seinen Kriegsunternehmungen es mit mehr oder weniger wertlosen Truppen +zu thun zu haben. Das Jahr in Khartum setzte auch in dieser Hinsicht +seinem Leben die Krone auf; und was die Zivilverwaltung betrifft, so +stand es damit nicht besser. Wenn etwas geschehen sollte, so mußte er +selbst darnach sehen, und die Last eines jeden Departements lag auf +seiner Schulter.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Einen jeden Befehl, und wo sich's doch um das Interesse der Leute +selbst handelt, muß ich zwei-, dreimal wiederholen. Ich kann wahrlich +sagen, ich bin des Lebens müde; Tag und Nacht, Nacht und Tag ist's +<em class="gesperrt">eine</em> fortdauernde Plage.«</p> +</div> + +<p>Von den Baschi-Bosuks, die ihm ja von jeher ein Dorn im Auge waren, +kann er zuletzt nur noch sagen, er werde sie in Watte einwickeln und +aufheben; all seine übrigen Ägypter, die Offiziere nicht ausgenommen, +ist er bereit, den heranziehenden Engländern zu schenken in der +Hoffnung, daß er sie dann nie wieder sehen möchte. Nachdem der +»Abbas« seine Gefährten davon getragen hatte, war nicht ein Mensch +in der Stadt, auf den er sich verlassen konnte; er nennt es eine +peinliche Lage. Der österreichische Konsul Hansal war zwar noch da; +als Gordon aber hörte, derselbe beabsichtige sich mit seinen sieben +Frauenspersonen zum Mahdi zu schlagen, hatte er nur die eine Antwort: +»Ich hoffe, er wird es thun!«</p> + +<p>Noch am 3. Dezember entwirft Gordon ein Programm, wie zu helfen +sei, und wenn auch von zweifelhafter Moral, so wäre es doch für die +Engländer der kürzeste Weg aus der Patsche:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Die britische Entsatz-Expedition kommt, um britische Unterthanen aus +der Not zu retten, <em class="gesperrt">lediglich aus diesem Grunde</em>; man findet, +daß einer dieser Unterthanen hier Befehlshaber ist; man rettet ihn, +und ehe er sich retten läßt, setzt er, an der Genehmigung des Khedive +nicht zweifelnd, Sebehr als seinen Nachfolger ein, dem es zufällig +verstattet worden war, sich als Privatmann in Familienangelegenheiten +nach Khartum zu begeben. Wer kann da der britischen Regierung einen +Vorwurf machen — kein Mensch. Sie hat den Sebehr nicht eingesetzt, +und des Thewfik Regierung geht sie nichts an; man ist nur gekommen, +um die eigenen Unterthanen zu retten, und Gordon ist der Mann, der +die Ernennung Sebehrs zu verantworten hat! Nicht einmal Thewfik +hat eine Verantwortung in der Sache, denn Gordon hat es auf seine +eigene Verantwortung hin gethan! Ist das nicht ein prächtiger Plan? +Denn erstens reinigt er die britische Regierung von aller Schuld, +zweitens legt er mir die Schuld auf, und in dem Wetter, das über +mich ergehen wird, werde ich so gründlich übergossen werden, daß +man — ich will nicht schimpfen, noch die Monate zählen — sagen<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> +wir, daß man den bisherigen Verzug dabei ganz übersehen wird. Ja man +wird am Ende gar die Regierung noch tadeln, einem solchen Subjekt +von britischem Unterthan überhaupt zu Hilfe gekommen zu sein. Das +Ministerium kann sich dann ins Fäustchen lachen, und die Fabel bleibt +aufrecht erhalten, daß der Sudan oder Ägypten uns nichts angeht. +Der Gegenpartei wird's der reine Verdruß sein, wenn die Regierung +auf eine so anständige Weise aus ihrer Patsche kommt, während +die Gesellschaft zur Unterdrückung des Sklavenhandels und alle +Tugendhelden in Europa die Schalen ihres Zorns über mich ausgießen. +Und ich entgehe auf diese Weise allen Ehren und Belohnungen, denn man +wird höhern Orts nur zu gern die Gelegenheit ergreifen und sagen: +›Nach solch niederträchtiger Handlungsweise kann man den Mann ja +nimmer anstellen,‹ als ob sie nicht wüßten, daß er »Belohnungen« +so wie so nicht annähme! Es kann mir überhaupt gleichgültig sein, +was über mich gesagt wird, denn da ich nicht wieder nach England +zurückkehren will, so kann viel in die Zeitungen geschrieben werden, +was ich nicht sehe. Es ist in jeder Hinsicht ein vorzügliches +Programm!«</p> +</div> + +<p>Und weiter meint er, er wisse wohl, was über ihn gesagt werden würde, +jedenfalls <em class="gesperrt">einen</em> wisse er, der ausrufen werde:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Mein lieber Gordon, wie kann man so handeln — <em class="gesperrt">wären</em> Sie doch +lieber gestorben, ehe Sie sich so weit vom Pfad der Rechtlichkeit +verirrten!«</p> +</div> + +<p>»Vergnügte Weihnachten!« setzte er trocken hinzu.</p> + +<p>Am Tag, da er dies schreibt, berichtet er von drei Schlachten, während +die Stadt fortwährend beschossen wird; und abends nach sieben fingen +die Araber noch einmal an, weil die Zinkenisten in der Stadt das +›Salaam Effendina‹ (das ägyptische ›Heil unserm Fürsten, Heil!‹) +aufspielten. Am 5. Dezember beschließt er einen Ausfall, um dem Fort +Omderman zu Hilfe zu kommen, das in bedrohter Lage war.</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich habe nun fast alle Hoffnung aufgegeben, die Stadt zu retten,« +sagte er, »dieser Ausfall ist ein letzter Versuch, um die Verbindung +mit Fort Omderman wieder herzustellen.« Am folgenden Tage schrieb +er: »Ich habe den Gedanken aufgegeben, eine Landung bei Omderman +zu bewerkstelligen, wir haben keine Möglichkeit es zu thun.« Am +7. Dezember: »Heute der zweihundertundsiebzigste<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span> Tag unseres +Eingeschlossenseins. Die Araber haben von ihren Kanonen bei Guba acht +Bomben abgeschossen, eine fiel in der Nähe des Palastes, richtete +aber keinen Schaden an.«</p> +</div> + +<p>Daß Gordon am zweihundertundsiebzigsten Tag seiner hoffnungslosen +Verteidigung der Stadt nicht leichten Herzens sein konnte, bedarf +gewiß nicht des Nachweises; dennoch kann er seine Belagerungsnotizen +an jenem Tag mit dem Satz unterbrechen:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Mein Truthahn hat eines seiner Weiber umgebracht, Grund unbekannt; +wahrscheinlich geheime Korrespondenz mit dem Mahdi, oder sonst eine +Haremstreulosigkeit.«</p> +</div> + +<p>Es war Gordons Art und Weise, einen unliebsamen Gegenstand mit einem +Gewaltsprung zu verlassen, als ob er einen Scherz machen müßte, um der +Sorge Herr zu werden. Gold aber wird durchs Feuer bewährt; auch Gordon +mußte hindurch. Was mag er innerlich gelitten haben im Blick auf die +ihn umgebende Not einerseits, in Gedanken an seine Landsleute und ihr +Verhalten andererseits! »<em class="gesperrt">Der Allmächtige hilft mir durch!</em>« +schreibt Gordon. Hätte dies tapfere Herz nur gewußt, wie England, ja, +wie die ganze weite Welt in jenen Tagen um ihn sorgte — aber es war +ihm versagt. Er stand im Feuer in großer Einsamkeit, der Allmächtige +allein war bei ihm.</p> + +<p>Die Belagerung stand nun im zehnten Monat, und nicht nur sah man +der Erschöpfung der Lebensmittel entgegen, sondern, was fast noch +schlimmer war, auch der Schießbedarf ging auf die Neige. Zwar wurde +unter Gordons Aufsicht Pulver bereitet und sein Arsenal lieferte +täglich mehrere tausend Patronen — der Verbrauch aber war zu groß. Am +11. Dezember bringt sein Tagebuch die Notiz:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Ich habe der ganzen Besatzung Extralöhnung für einen Monat gegeben, +nachdem sie bereits solche für drei Monate erhalten hat; ja ich würde +nicht zögern, ihnen zwei Millionen Mark zu bewilligen, wenn ich +dächte, es hielte die Stadt.«</p> +</div> + +<p>Das sind inhaltsschwere Worte, nur noch mit Geld oder +Geldversprechungen war seine Mannschaft bei der Fahne zu halten!</p> + +<p>Am 14. Dezember schließen die Tagebücher folgendermaßen — es ist +Gordons letzte Botschaft an seine Landsleute:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Die Araber haben heute früh zwei Bomben auf den Palast abgefeuert. +Vorrat: 546 Ardeb Durra und 83525 Oke Zwieback! Halb elf Uhr — die +Dampfer sind bei Omderman mit den Arabern im Gefecht, und ich sitze +auf Kohlen. Halb zwölf Uhr — die Dampfer sind zurück; den Bordeen +traf eine Bombe in die Batterie; nur ein Mann der Unsrigen verwundet. +Morgen soll der Bordeen mit diesem Tagebuch abgehen. Hätte <em class="gesperrt">ich</em> +zweihundert Mann vom Entsatzzug zu befehligen, mehr sind nicht nötig, +so würde ich gerade unterhalb Halfaja die Araber angreifen und dann +nach Khartum vorrücken. Ich würde mich dann mit dem Nord-Fort in +Verbindung setzen und weiteres Handeln von den Umständen bestimmen +lassen. <em class="gesperrt">Das merkt euch</em>, wenn der Entsatz, und ich verlange +nicht mehr als zweihundert Mann, nicht in zehn Tagen hier ist, kann +<em class="gesperrt">die Stadt fallen</em>; und ich habe gethan, was ich konnte, für die +Ehre unseres Landes. Lebt wohl.</p> + +<p> +C. G. Gordon.«<br> +</p> +</div> + +<p>Er hat die Stadt nicht zehn, sondern noch dreimal zehn Tage gehalten; +aber was nach dem 14. Dezember geschehen, wird schwerlich je in +völlig authentischer Weise bekannt werden. Ohne Zweifel hat er bis +zum letzten Tag seine Notizen niedergeschrieben, aber sein siebentes +Tagebuch ist entweder in die Hand des Mahdi geraten oder in der +allgemeinen Zerstörung zu Grunde gegangen.</p> + +<p>Gordon wußte wohl, daß die Besatzung zum äußersten gebracht war. +Allerlei Anzettelungen in der Stadt und geheime Unterhandlungen mit +dem Mahdi nahmen überhand. Es ist bemerkenswert, daß Gordon, selbst +eine redliche Seele wie wenige, sein Leben lang immer wieder die +Erfahrung machen mußte, daß andere ihn im Stich ließen oder gar +mit Treubruch ihm begegneten. Es bringt ihn zu dem Geständnis, daß +der Mensch von Natur ein trügerisches Geschöpf sei. Psalm 116, 11 +lautet in der englischen Übersetzung: ›Ich sprach in meiner Eile +(Übereilung): alle Menschen sind Lügner‹; das hätte der Psalmist auch +mit Bedacht sagen können, schrieb Gordon im September 1884. Ob die +Stadt durch direkten Verrat fiel, wie man in der ersten Zeit nach +der Katastrophe allgemein annahm, ist nicht klar erwiesen, so viel +nur ist gewiß, daß die ausgehungerte Besatzung zur Übergabe bereit +war, daß Gordon also allein stand in der großen<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span> Not. Der Mahdi war +durch Überläufer aufs genaueste von allem unterrichtet, und es war +seine Absicht, die Stadt zuletzt ohne Schwertstreich durch Hunger zu +bezwingen.</p> + +<p>Gordons Tagebuch unterm 14. Dezember enthielt die letzte bestimmte +Nachricht über Khartum. Die Lage der Stadt war schon damals eine +äußerst kritische, »sie kann in zehn Tagen fallen,« schrieb er. Den +noch vorhandenen Mundvorrat giebt er an jenem Tage auf 83525 Oke +Zwieback und 546 Ardeb Durra an. Nach seinen fast wöchentlichen +Angaben der Vorräte läßt sich berechnen, daß bei Einschränkung der +Durra-Rationen die Verabreichung des Zwiebacks an die Truppen bis zum +14. Dezember nicht geschmälert worden war, und daß der an diesem Tag +erwähnte Vorrat allein durch den Bedarf der Truppen in etwa achtzehn +Tagen erschöpft sein würde. Aber schon am 22. November hatte Gordon +den Armen der Stadt 9600 Pfund Zwieback verabreichen müssen. Er +bemerkte dabei: »Ich bin entschlossen, daß wenn die Stadt fällt, der +Mahdi blitzwenig hier zu essen finden soll.« Es unterliegt kaum einem +Zweifel, daß es von da ab nötig war, den ärmeren Einwohnern Rationen +zu bewilligen, und selbst bei größter Sparsamkeit mußte der Vorrat mit +dem 1. Januar 1885 so ziemlich auf der Neige sein.</p> + +<p>Man versetze sich in die Lage der von allen Seiten eingeschlossenen +Stadt an jenem 14. Dezember, dem 277sten Tag ihrer Not! Es war +fast auf die Stunde zu berechnen, wie lang die letzten ärmlichen +Nahrungsmittel noch ausreichen konnten, schon jetzt ist Hunger die +tägliche Losung, Entkräftung der Mannschaft und drohender Verrat +sein Gefolge. Keine Nachricht vom Entsatzheer, wie ängstlich man +desselben auch harrt, und täglich schwächer wird die Hoffnung, daß es +rechtzeitig eintreffe, täglich geringer wird der Mut der Mannschaft +und täglich giebt's Überläufer zum Feind.</p> + +<p>In all dieser Not, wie ein Fels in der Brandung, steht <em class="gesperrt">ein</em> +Mann, äußerlich wohl auch geschwächt, aber innerlich mit stets +wachsendem Mut, mit seinem alten Gottvertrauen, seinem kindlichen +Glauben, die <em class="gesperrt">eine</em> Zuversicht des erliegenden Volks — +<em class="gesperrt">ein</em> Mann voll unbesiegbarer Widerstandskraft, allezeit +wachsam,<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span> allezeit erfinderisch, voll Hingabe seiner selbst, voll +Mitleid für ›dies Volk‹. »Ich halte aus,« kann er sagen, »aber die +Haare sind mir grau geworden vor übergroßer Sorge und Anstrengung.« +Wie nah ist die Hilfe — er weiß es nicht. Bis fast zuletzt konnte er +sich retten — er thut es nicht. Er steht auf seinem Posten, getreu +bis in den Tod.</p> + +<p>Etwa am 6. Januar erließ Gordon eine Verkündigung, in welcher er es +den Einwohnern freistellte, zum Mahdi zu gehen. Dieser Erlaubnis wurde +massenhaft Folge geleistet. Der hochherzige Gordon schrieb selbst an +den Mahdi und forderte ihn auf, diesen armen Moslem Schutz und Nahrung +zu gewähren, wie er selbst es seit neun Monaten gethan habe. Es ist +berechnet worden, daß von den im September gezählten 34000 Einwohnern +nur etwa 14000 zurückblieben. Den sinkenden Mut der Besatzung suchte +Gordon durch tägliche Ansprachen zu beleben, er verwies immer wieder +auf den nahenden Entsatzzug, er lobte seine Truppen, daß sie bisher +ausgehalten, und selbst diese armen Menschen mußten sich an seinem +eigenen unerschütterlichen Entschluß aufrichten, die Stadt nicht zu +übergeben.</p> + +<p>Am 13. Januar fiel Fort Omderman, ein schwerer Schlag für die +eingeschlossene Besatzung, die ihres Außenwerks auf der Westseite +des Weißen Nils damit verlustig ging; auch konnten die Araber durch +Errichten von Batterien den Weißen Nil jetzt gänzlich für Gordons +Dampfer schließen, während ihre eigene Position durch die gewonnene +Flußverbindung zwischen dem Dorf und Lager Omderman ungleich verstärkt +war. Am 18. Januar, nachdem die feindlichen Außenwerke bist fast an +die Stadt vorgeschoben waren, machten die Belagerten einen Ausfall +und ein verzweifelter Kampf fand statt. Von der Besatzung fielen etwa +zweihundert, und obgleich des Mahdi Verluste beträchtlich gewesen +sein sollen, so ist doch nicht ersichtlich, daß ein Vorteil für die +Belagerten errungen wurde. Nach der Rückkehr der Besatzung in die +Stadt hielt Gordon eine Anrede an die erschöpfte Mannschaft. Er lobte +ihren tapfern Widerstand und redete ihnen eindringlich zu, den Mut +nicht fallen zu lassen, Hilfe sei nahe, die Engländer könnten täglich +kommen und dann sei alles gut! Wie erschöpft mag er selbst gewesen<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span> +sein, der große Held, von dem gesagt wurde, daß er um diese Zeit nie +mehr schlief!</p> + +<p>Die Zustände innerhalb Khartums waren verzweifelte; alle Esel, Hunde, +Katzen, Ratten waren aufgezehrt, eine kleine Quantität Gummi wurde +täglich an die Truppen verabreicht, und aus der zerriebenen Holzfaser +einer Palmenart wurde Brot bereitet. Gordon berief die namhaftesten +Einwohner mehrmals zum Kriegsrat und ordnete an, daß die Stadt aufs +gründlichste nach Nahrung durchsucht wurde; das Ergebnis war aber ein +geringes, nur vier Ardeb Durra in der ganzen Stadt, und diese wurden +für die Truppen beschlagnahmt.</p> + +<p>Mittlerweile gelangte die Nachricht von der Niederlage der Kerntruppen +des Mahdi bei Abu Klea ins feindliche Lager und rief Bestürzung und +Zorn unter den Arabern hervor; auch ist gesagt worden, daß bei dieser +Gelegenheit Unzufriedenheit mit des Mahdi Regiment laut geworden sei. +Die Rebellen verlangten stürmisch einen Angriff auf die Stadt. Das +war am 20. Januar. Am 22. folgte die weitere Nachricht, daß die von +Abu Klea vordringenden Engländer den Nil bei Metammeh erreicht hätten +(wo Gordons Dampfer auf sie warteten), man schloß hieraus, daß dieser +Ort in ihren Händen sei, daß somit nichts am Vorrücken sie hindere, +und dies bestimmte den Mahdi zu einem sofortigen Angriff, ehe die +englische Hilfe Khartum erreichen könne. In Khartum selbst war ein +unklares Gerücht von der Schlacht bei Abu Klea und der Ankunft der +Engländer bei Metammeh laut geworden. Wie nah war die Erlösung, der +Lohn für alle Treue, die ruhmvolle Rechtfertigung des ausharrenden +Heldenmuts!</p> + +<p>Es sollte anders kommen. Gordons schwarze Truppen standen unter dem +Befehl von Farragh Pascha, einem freigelassenen Sklaven, der seine +Erhebung Gordon verdankte, und dieser ist's, den die Anklage traf, die +Stadt durch Verrat dem Mahdi überliefert zu haben. Wohl möglich, daß +es sich so verhält, nachgewiesen ist es nicht; nur so viel ist gewiß, +daß der Mahdi mit ihm unterhandelte, ihm Bedingungen zur Übergabe +machte. Es ist bekannt geworden, daß Gordon am 23. einen stürmischen +Auftritt mit Farragh Pascha hatte; ein den Fall Khartums überlebender +Augenzeuge<span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span> erklärte als die Ursache desselben, daß Gordon ein Fort +am Weißen Nil, das unter Farraghs Befehl stand, ungenügend besetzt +gefunden habe. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Farragh bei dieser +Gelegenheit einen Vorschlag fallen ließ, die Stadt zu übergeben. +Gordon soll ihm mit einer Ohrfeige geantwortet und Farragh den Palast +in hohem Zorn verlassen haben.</p> + +<p>Am folgenden Tag berief Gordon abermals einen Kriegsrat. Höchst +wahrscheinlich kamen Farraghs Vorschläge bei dieser Gelegenheit +zur Sprache, und die Meinung, daß die Stadt nicht länger zu halten +sei, scheint die Oberhand gewonnen zu haben. Gordon aber erklärte, +<em class="gesperrt">er</em> werde sie halten. Am 25. war Gordon leicht erkrankt, es +war ein Sonntag, er zeigte sich nicht öffentlich, doch hatte er +verschiedene Unterredungen mit namhaften Leuten der Stadt. Er war +sich offenbar über das nahe Ende klar. Es ist gesagt worden, daß er +gegen Abend an Bord der »Ismailia« nach der Insel Tuti übergefahren +sei, um eine Mißhelligkeit der dortigen Besatzung beizulegen. Dadurch +entstand das Gerücht, daß er im letzten Augenblick an Bord seines +Dampfers entkommen sei. Der Umstand aber, daß beide Dampfer den +Siegern in die Hände fielen, ja daß die Ismailia vom Mahdi zu seinem +Einzug in Khartum benutzt wurde, sowie die genaue, von verschiedenen +Zeugen bekräftigte Nachricht von Gordons Tod machte es unmöglich, +jenem Gerücht lange Glauben zu schenken, ganz abgesehen davon, daß +Gordon nicht der Mann war, sich im letzten Augenblick zu retten. »Mit +Gottes Hilfe gedenke ich nicht lebend in ihre Hand zu fallen, somit +bleibt nur der Tod,« hatte er einige Wochen zuvor in sein Tagebuch +geschrieben. Wenn er an jenem Abend nach Tuti überfuhr, dann kehrte er +zu einer späten Stunde in seinen Palast nach Khartum zurück.</p> + +<p>In der Nacht vom 25. auf den 26. Januar verließen viele ausgehungerte +Soldaten ihre Posten auf den Wällen, um Nahrung in der Stadt zu +suchen, während andere vom langen Fasten zu schwach waren, für sie +einzutreten. Es wurde dies in der Stadt bekannt, und eine Anzahl der +erschreckten Einwohner bewaffnete sich und ihre Sklaven, um auf den +Wällen Dienst zu thun. Dies war nichts ungewöhnliches, nur daß in +dieser Nacht mehr Freiwillige<span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span> als zuvor sich einfanden. So nahte der +verhängnisvolle 26. Vor Tagesgrauen geschah der feindliche Überfall. +Das Bourré-Thor am äußersten Ostende der Verteidigungslinie am Blauen +Nil und das Mesalamieh-Thor auf der Westseite gegen den Weißen +Nil waren die Hauptpunkte des Angriffs. An jenem Posten hielt die +Besatzung stand, am Mesalamieh-Thor hingegen gelang es den Arabern +in die Festungswerke einzudringen. Ob Verrat in dieser Stunde im +Werk war, ist nur zu mutmaßen, sicher ist, daß es der ausgehungerten +Mannschaft an aller Widerstandskraft gebrach. Die Feinde füllten den +Graben mit Stroh- und Reisigbündeln u. s. w. und erstiegen den Wall.</p> + +<p>Oberst Kitchener vom Entsatzzug, ein durch langen Aufenthalt im Sudan +mit den Arabern und der arabischen Sprache wohlvertrauter Offizier, +dessen Zusammenstellung der spärlichen Berichte obiges entnommen ist, +hält dafür, daß Khartum infolge des plötzlichen Angriffs fiel, als die +hungernde Besatzung zu erschöpft war, um sich hinreichend zur Wehre +setzen zu können.</p> + +<p>Nachdem die Araber in die Stadt eingedrungen waren, stürmten sie +tobend und mordend durch die Straßen, jeden niedermachend, der ihnen +in den Weg kam, was den Schrecken der Überfallenen nur erhöhte und +den letzten Versuch Widerstand zu leisten lahmte. Als der Morgen +gespensterbleich am fernen Horizont graute, stand die mordende +Horde in nächster Nähe des Palastes. Jetzt waren sie siegesgewiß. +Das gellende Geschrei, mit welchem die Streiter des Halbmonds dies +bekundeten, weckte Gordon aus dem kurzen Schlaf, den die frühe +Morgenstunde ihm gebracht hatte. Seit Monaten hatte er sich keine +Nachtruhe gegönnt, er der Wächter und Hüter der ihm anvertrauten +Stadt. Welch ein Weckruf! er wird ihm nicht unerwartet gekommen sein. +Er erhob sich, zum letztenmal nahm er eine Waffe zur Hand, er wußte, +daß er sie bald niederlegen werde, der lange Kampf war zu Ende. Gordon +verließ den Regierungspalast mit etlichen seiner Leute und machte den +Versuch, das Arsenal im katholischen Missionshaus zu erreichen; diesen +Ort hatte er längst für den letzten Kampf ausersehen und hergerichtet.</p> + +<p>Mit großer Ruhe und den Seinen etwas voraus nahte<span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span> Gordon der +kleinen Kirche. Das kurze Zwielicht der Wüste wich dem aufdämmernden +Tag, über den hohen Palmen am Blauen Nil erglühte der Osthimmel +im Morgenrot. Noch hingen die Schatten der verhängnisvollen Nacht +über der verlorenen Stadt. Verworrenes Geschrei erscholl auf allen +Seiten von erbarmungslosen Siegern und hilflos Besiegten. Das Schwert +des Islam war aus der Scheide. Auf dem freien Platz zwischen dem +Regierungspalast und der kleinen Missionskirche stand Gordon mit +seiner Schar, als eine Bande von Arabern aus der nächsten Straße +hereinstürzte. Einen kurzen Augenblick standen beide einander +gegenüber, dann krachte ein Musketenfeuer, der aufgehende Tag +erzitterte, und Gordon fiel zum Tod getroffen.</p> + +<p>Die Wüste breitete ihr Schweigen über seine sterbliche Hülle, nichts +weiter hat verlautet. Des Mahdi Horden plünderten und mordeten in +der Stadt, das Blut der Besiegten floß in Strömen, und als der +entsetzlichen Arbeit Einhalt geschah, und die Stadt aus hundert Wunden +blutend, den Blick wieder erhob, war ihr Held, ihr Märtyrer, ja selbst +sein Leichnam, ihr entrückt.</p> + +<p>Die denkwürdige Belagerung von Khartum währte 317 Tage; nie war einer +erliegenden Besatzung die Hilfe so nahe, und kein Kriegsheld ging je +in einen schönern Tod.</p> + + +<h3>8. Die Krone der Ehren.</h3> + +<p>Gordon wußte, daß er in den Tod ging, er schrieb verschiedene +Abschiedsbriefe, die ihre Bestimmung erreichten; es sind die Worte +eines, der das dunkle Thal schon vor sich sieht. Seiner Schwester +schrieb er:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Gott der Herr regiert, und da Er zu Seiner Ehre und unserem Besten +regiert, so geschehe Sein Wille. Ich hin ganz zufrieden und kann mit +Lawrence<a id="FNAnker_16" href="#Fussnote_16" class="fnanchor">[16]</a> sagen, ich habe versucht, meine Pflicht zu<span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span> thun .... +Wenn Gott es einem Menschen geschenkt hat, viel im Umgang mit Ihm zu +leben, so kann der Tod für einen solchen nichts Schmerzliches sein; +ja, was ist der Tod für den gläubigen Christen!«</p> +</div> + +<p>Es steht wohl auf jeder Seite der Lebensgeschichte dieses Mannes +geschrieben, daß er seinem Gott vertraute — in seltener Weise +vertraute. Sollte es Leser geben, die fragen, was hat ein Mann wie +Gordon nun vor anderen voraus, hat er nicht in schmählicher Weise, von +Freunden verlassen, von Feindeshand fallen müssen, und der Gott, dem +er vertraute, hat ihm <em class="gesperrt">nicht</em> geholfen? so giebt Gordon selbst +die Antwort darauf in den tiefrührenden Worten an seine Schwester:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Du darfst nicht vergessen, daß unser Herr niemand versprochen hat, +ihn das Glück und den Frieden in diesem Leben finden zu lassen. +Er hat uns im Gegenteil Trübsal verheißen. Wenn es also ein übles +Ende nimmt nach dem Fleisch, so ist Er dennoch treu. Was Er thut, +geschieht in Liebe, und Sein Erbarmen ist über mir. Mein Teil ist +Ergebung in Seinen Willen, wie dunkel derselbe auch sei.«</p> +</div> + +<p>Einem fernerstehenden Freund schrieb er:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Alles vorbei. Ich erwarte die Katastrophe innerhalb zehn Tagen. Es +wäre nicht so gegangen, hätten unsere Leute besser dafür gesorgt, mir +Nachricht zukommen zu lassen. Lebt alle wohl. — C. G. Gordon.«</p> +</div> + +<p>Dem Sir Charles Wilson, der ihm mit einem Teil der Entsatz-Mannschaft +die erste Hilfe bringen sollte, schrieb er, er hoffe, daß nach Gottes +Willen die Engländer rechtzeitig kommen könnten, um ihn und andere +zu retten, aber er fürchte, sie würden zu spät kommen; er wisse, daß +Verrat im Anschlag sei, und er könne es nicht hindern. Noch jetzt +stünde es in seiner Macht sich zu flüchten, aber das wolle er nicht; +er werde auf seinem Posten bleiben und nicht zuletzt noch davonlaufen. +Gefangen nehmen lassen werde er sich nicht; also bleibe der Tod.</p> + +<p>Und so starb der Held. Die heiße Schlacht war verloren<span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span> er aber war +dennoch ein Sieger, einer von denen, die gekrönt werden nach dem +Kampf. Daß die unverwelkliche Krone ihm wurde, wer könnte daran +zweifeln! Aber auch eine irdische Krone der Ehren ist ihm behalten, +wie wenigen seines Geschlechts, in der Bewunderung, ja, in der Liebe +von Tausenden, die um ihn trauern wie um einen nahestehenden Freund. +Nicht nur England, die weite Welt erkannte den Verlust. Wie mit +leuchtenden Buchstaben stand es auf einmal vor aller Augen, dieser +Mann war ein Held in unserm Jahrhundert, wie sonst nur Sage und Sang +aus längst vergangenen Zeiten uns von Helden berichten, und er ist +tot! Die Kunde traf England ins Herz. Wer an jenem 5. Februar, der die +Nachricht brachte — den »schwarzen Donnerstag« hat man ihn seither +genannt — durch die Straßen von London ging, der konnte auf allen +Gesichtern lesen, daß Trauer auf das Land gefallen war. Seit der +indischen Meuterei hat nichts das Land in ähnlicher Weise erschüttert, +wie der Fall von Khartum. Es war, als handelte es sich für jeden um +einen persönlichen Verlust. Hoch und nieder, reich und arm hatten nur +die eine Klage: Gordon ist tot! Kein König ist je so betrauert worden. +England wußte es jetzt, was es an ihm verlor, und viele Tausende +schlugen dabei an ihre Brust. Was einer seiner Landsleute aussprach, +als es sich um ein Gordon-Denkmal handelte, war die Stimmung des +Volkes seinen Führern gegenüber:</p> + + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Ein Denkmal unserm Gordon — gut! </div> + <div class="verse indent0">So lang im Nil sich spiegelt Nacht und Tag, </div> + <div class="verse indent0">Der in Khartum sich färbte rot mit Blut, </div> + <div class="verse indent0">Sei nicht vergessen, wie der Held erlag. </div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Ja, richtet ihm ein Denkmal auf, </div> + <div class="verse indent0">Und wenn in Marmorstein sein Ruhm erblüht, </div> + <div class="verse indent0">Schreibt auch als Denkschrift das Bekenntnis drauf: </div> + <div class="verse indent0">»Aus Dankbarkeit das Volk, das ihn verriet!«</div> + </div> +</div> +</div> + + +<p>Nur erwähnt sei die Thatsache, daß am Abend des Tages, der ganz +England mit Trauer erfüllte, einer am andern Morgen erschienenen +Zeitungsnotiz zufolge Gladstone die komische Oper<span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span> mit seiner +Anwesenheit beehrte! Wie zu erwarten stand, hielt dieser Minister dem +gefallenen Helden Englands einen glänzenden Nachruf im Parlament; +als er aber mit einem namhaften Beitrag dem projektierten Denkmal +beitreten wollte, da lehnten sich Stimmen aus allen Volksklassen +in der Tagespresse dagegen auf. Was das Denkmal für eine Gestalt +annehmen solle, ob die eines Spitals in Port Said, oder in England +— im Gedanken an Gordons »Prinzen« — die eines Rettungshauses +für verwahrloste Knaben, darüber ist viel verhandelt worden. Ein +Ehrendenkmal von Stein ist äußerst bezeichnender Weise erst lang +nachher zu stand gekommen. Gordon braucht keines. Am 10. Mai 1886 +wurde eine Anstalt unter dem Namen »<em class="antiqua">The ›Gordon‹ Boys Home</em>« +eröffnet, in welcher verwahrloste Jungen im allgemeinen, wenn +auch nicht ohne Ausnahme für den Soldatenstand erzogen werden. +Schon im Herbst 1885 wurde ein Anfang dazu gemacht, die nötigen +Mittel flossen aber nur spärlich. Wäre eine ungenannte Dame nicht +mit der schönen Summe von hunderttausend Mark zu Hilfe gekommen, +welche Gabe sie bei der Eröffnung verdoppelt hat, die Anstalt wäre +vielleicht noch heute nicht eröffnet! Wie Gordons Bruder, Sir +Henry Gordon, übrigens treffend bemerkt hat, bestehen in England +bereits gegen fünfhundert derartige Rettungshäuser, und es hätte +dem bescheidenen und praktischen Sinn Gordons mehr entsprochen, die +Zinsen des eingegangenen Kapitals in unmittelbarer Weise für arme +Kinder zu verwenden, wenn man sie in bereits bestehenden Anstalten +untergebracht, oder sonst für ihr Fortkommen gesorgt hätte, wie Gordon +selbst in Gravesend gethan, als eine neue Anstalt zu errichten, +deren bloße Gründung die gezeichneten Mittel verschlingen mußte. +— Vom englischen Parlament sind auf Wunsch der Königin Viktoria +vierhunderttausend Mark bewilligt worden, die Gordons verwitweten +Schwestern und Schwägerinnen, nach deren Tod aber seinen zahlreichen +Nichten und Neffen zu gut kommen sollen. Für diese Bestimmung diente +sein vor der Abreise nach Khartum verfaßtes Testament als Richtschnur. +Nicht als ob <em class="gesperrt">er</em> viel zu hinterlassen gehabt hätte, nur den Wert +seines Offizierspatents, etwa zwölftausend Mark. Er konnte ja nie +Geld in der Hand behalten, so<span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span> lang es Hilfsbedürftige gab, und wenn +er gerade bei Kasse war, so war eine ›milde Gabe‹ von zwei oder mehr +tausend Mark nichts ungewöhnliches bei ihm.</p> + +<p>Die Lebensgeschichte eines solchen Mannes ist ein Saatkorn im Acker +der Zeit; es wird aufgehen und Frucht bringen, und von Gordon gilt das +Wort: er redet noch, wiewohl er gestorben ist. Die Schönheit eines +solchen Lebens wird von allen anerkannt, selbst von denen, die am +wenigsten die Kraft besitzen, das darin gegebene Vorbild nachzuahmen. +Viele aber werden sich daran aufrichten und suchen, an ihrem Teil +etwas von der Kraft zu gewinnen, die Gordon stark machte. Im Kampf +stehen wir alle. Helden im großen Sinn können nicht alle sein; aber +die Selbstaufopferung, die Demut, die kerngesunde Aufrichtigkeit +des Mannes können auch andere erreichen. Das Wunderbare bei Gordon +war, daß der natürliche Mannesmut seines Wesens mit der christlichen +Demut eins wurde und ihn zum idealen Menschen gestaltete. Es ist ein +Beweis, daß das Christentum die natürliche Eigenart des Menschen +nicht vernichtet, sondern sie veredelt und zu ihrer schönsten Blüte +bringt. Und bei Gordon hat sich dies so völlig bewährt, daß ihm nicht +leicht ein ebenbürtiger Charakter an die Seite zu stellen ist. Wir +blicken auf und nieder in der Geschichte der Völker, wo finden wir +einen, in dem jede Gestalt der Selbstsucht so völlig unterdrückt war, +der in all seinem Denken und Thun nur um andere sorgte? wo einen, +der es sich so ernstlich angelegen sein ließ, sein Leben nach dem +Willen Gottes in der Nachfolge Christi zu gestalten? wo einen, der den +seltenen Mut in solchem Maße besaß, sich um Menschenurteil nicht zu +kümmern, wo es mit der Stimme des Gewissens oder dem Wort der Schrift +im Widerspruch steht? Reichtum, Ehre, die Würde hoher Stellung, +alles galt ihm nichts, oder doch nur so viel als er glaubte, dadurch +Gelegenheit zu finden, Gutes zu vollbringen. Von dem Verlangen, sich +einen guten Namen zu machen, das sonst auch vortrefflichen Menschen +selbst dann noch anhängt, wenn gröbere Gebrechen überwunden sind, war +er völlig frei. Sein einziger Ehrgeiz, wenn man es so nennen kann, +war der Wunsch, seinem Gott zu dienen und seinen Mitmenschen Gutes +zu thun. Und<span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span> wie viel ließe sich von seinen anderen Eigenschaften +sagen, seinem unerschöpflichen Humor, seinem frischen Sinn, seiner +unendlichen Thatkraft, seinen Mut, seiner Tapferkeit, seiner +Menschenfreundlichkeit, seiner hochherzigen Treue! Ja, es ließe sich +das ganze Register menschlicher Tugenden aufzählen, und man hätte nur +wenige Gebrechen seines Wesens dagegen zu stellen, obschon er selbst +der erste war, sich mit Paulus unter den Sündern den vornehmsten zu +nennen.</p> + +<p>Es war nicht möglich, die Lebensgeschichte dieses Mannes zu schreiben, +ohne hervorzuheben, welch rückhaltlose Bewunderung er verdient. +Gordon selbst sagte einmal, und gewiß mit voller Aufrichtigkeit: +Lieber tot sein, als gelobt werden! Die edelsten Handlungen seines +Lebens hat er so angesehen, als ob sie sich von selbst verstünden; +sie waren auch nichts anderes, als die natürliche Frucht seines vom +Christentum durchdrungenen Wesens, und in diesem Sinn allerdings +selbstverständlich. Es ist gesagt worden, daß Gordon ein idealer +Mensch gewesen sei, der nicht recht ins neunzehnte Jahrhundert paßte; +wenn dem so wäre, dann müßte man das Jahrhundert bedauern und die +Menschen, die darin leben. So viel ist sicher, Gordon war einer von +den wenigen, die den Mut haben, ihr Ideal in allen Dingen, in jeder +Lage zur Geltung zu bringen, d. h. so zu leben, wie er es mit seinem +innersten und besten Wesen als gut erkannte. Gäbe es doch viele +Idealisten in diesem Sinn!</p> + +<p>Es gehört mit zu den Rätseln des Lebens, warum Menschen wie Gordon +oft in der Fülle ihrer Kraft abgerufen werden. Er war fast auf den +Tag zweiundfünfzig Jahre alt; wie viel hätte er noch hier thun können +beides zur Ehre Gottes und zum Besten seiner Mitmenschen! Aber, wie +Staupitz einst zu Luther sagte, es braucht der Herr auch in der andern +Welt tüchtige Leute, und wenn Er hier Arbeit für solche hat, nicht +minder dort. Der Himmel ist nicht nur ein Land der Harfen und Kronen +und des Ruhens von allem Jammer der Zeitlichkeit; wohl das, aber +er ist auch ein Land des völligeren Gottdienens, wo es, um mit den +Worten des Gleichnisses zu reden, Städte zu verwalten giebt, was diese +nun sein mögen. Und als Gordon aus dem Kampf<span class="pagenum" id="Seite_304">[S. 304]</span> seines Lebens in die +Wohnungen des Friedens einging, wird er wohl die Stimme seines Herrn +vernommen haben, die zu ihm sagte:</p> + +<p>»<b>Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu +gewesen, ich will dich über viel setzen. Gehe ein zu deines Herrn +Freude.</b>«</p><br> + +<figure class="figcenter illowe18" id="p304_deco"> + <img class="w100" src="images/p304_deco.jpg" alt="" title="deko"> +</figure> + + +<div class="footnotes"><h3>Fußnoten:</h3> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_1" href="#FNAnker_1" class="label">[1]</a> englische Meilen = 45 Kilometer.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_2" href="#FNAnker_2" class="label">[2]</a> Die Sohnestreue des Mannes giebt sich öfter kund. Ein +Missionar, der ihn im Sudan kennen lernte, sagt unter anderem: »Es ist +seine Art, rasch von einem Gegenstande zum andern überzugehen. Mitten +im Gespräch unterbrach er mich z. B. mit der Frage: Haben Sie an Ihre +Mutter geschrieben? Und auf meine bejahende Antwort fuhr er fort: Das +ist recht; lassen Sie nur immer Ihre Mutter wissen, wie's Ihnen geht. +Wie lieb hat meine Mutter mich gehabt!«</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_3" href="#FNAnker_3" class="label">[3]</a> Schon vor Sebastopol hatte Gordon hievon einen Beweis +gegeben. Er kam einmal dazu, wie ein Korporal seine Leute zum +Aufwerfen einer Schanze mitten in den Kugelregen schickte, während +er selbst gedeckt stand. Gordon sprang ohne ein Wort zu sagen hinzu +und legte mit den Soldaten selbst Hand an. »Man muß die Leute nie +etwas thun heißen, wovor man sich selbst scheut,« belehrte er nach +vollbrachter Arbeit den Korporal.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_4" href="#FNAnker_4" class="label">[4]</a> »<em class="antiqua">Soldier of fortune</em>« sagte die Times — »Held von +Gottes Gnaden« wäre richtiger.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_5" href="#FNAnker_5" class="label">[5]</a> Von Heinrich <em class="antiqua">IV.</em> zur Belohnung für ausgezeichnete +Kriegsdienste gestiftet und so benannt, weil die Ritter als Sinnbild +ihrer geistigen Reinigung vor der Aufnahme ein Bad nehmen mußten.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_6" href="#FNAnker_6" class="label">[6]</a> »Die ihn angeschmiert haben,« sagte ein Armer, »haben's +selber am meisten bereut, wenn sie merkten wie gut er war; und erst +recht leid mußte es ihnen thun, als sie hörten, er sei tot!«</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_7" href="#FNAnker_7" class="label">[7]</a> Obschon ein Kriegsheld wie wenige, so war er's doch +keineswegs aus Liebe zum Krieg. Er selbst sagt: »Die Leute irren sich, +wenn sie meinen, ein Krieg sei etwas Glorreiches. Es ist nichts anders +als organisierter Totschlag, Plünderung, Grausamkeit. Und es sind +nicht die Soldaten, auf die die schlimmste Last fällt, sondern Frauen +und Kinder und alte Leute. Man mag's betrachten wie man will, so ist +der Krieg ein rohes, grausames Handwerk.«</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_8" href="#FNAnker_8" class="label">[8]</a> Diese etwas eigentümliche Begrüßungsformel beschreibt +der englische Afrikareisende Petherick folgendermaßen: »Der Häuptling +ergriff meine rechte Hand und spuckte herzhaft hinein; dann blickte +er mir ernsthaft ins Gesicht und wiederholte die Zeremonie mit aller +Umständlichkeit. Im ersten Augenblicke stand ich verblüfft, dann +erfaßte mich ein wütendes Verlangen, den Menschen durchzuprügeln; er +guckte mich aber so leutselig an, daß ich statt der ihm zugedachten +Züchtigung mich damit begnügte, ihm seinen Gruß mit gleicher Münze +heimzugeben, und zwar mit reichlichen Zinsen. Da überkam ihn eine +gewaltige Freude: ich müsse ein großer Häuptling sein! sagte er zu +seinem Hofstaat.«</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_9" href="#FNAnker_9" class="label">[9]</a> Sir Samuel Baker erzählt in seinem Buch »Ismailia«, daß +der Thron der Könige von Unyoro aus einem sehr kleinen und alten, aus +Holz und Kupfer verfertigten Stuhl besteht, der seit Generationen +von König auf König übergeht und als ein Talisman gilt. Gelänge es +einem Feind, des Stuhles habhaft zu werden, so würde der König so +lange aller Autorität verlustig sein, als der kostbare Sessel nicht +wieder zurückerobert würde. Der König und sein Sitz sind deshalb fast +unzertrennlich; wo er hingeht nimmt er ihn mit.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_10" href="#FNAnker_10" class="label">[10]</a> Als Streiflicht hierzu dient folgendes: Gordon schreibt +auf dem Weg nach Kairo anläßlich der von ihm nicht gebilligten +Anstellung eines jener europäischen ›Mitregenten‹: — »Ich habe meinen +Gehalt von hundertzwanzigtausend Mark auf die Hälfte herabgesetzt; +ich habe genug mit sechzigtausend Mark, und die andern sechzigtausend +können dem Land das wieder ersetzen, was diese Anstellung kostet. Aber +ich fürchte, ich thue dies mehr aus Zorn als in Liebe ... Je älter man +wird, um so besser lernt man so an seinen Nebenmenschen handeln, als +wären sie leblose Gegenstände, d. h. für sie thun was man kann, ohne +sich im geringsten darum zu kümmern, ob sie es einem Dank wissen oder +nicht. So handelt Gott gegen uns. Er läßt regnen über Gerechte und +Ungerechte. Dank findet er selten; im Gegenteil, er wird selbst meist +vergessen.«</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_11" href="#FNAnker_11" class="label">[11]</a> Der ungenügende Zustand des Gesetzes ergiebt sich aus +folgender Mitteilung Gordons: »Ich besitze vier Erlasse, 1. einen +persönlichen Befehl des Khedive, alle Sklavenhändler mit dem Tod zu +bestrafen; 2. den Vertrag (zwischen der englischen und ägyptischen +Regierung, zur Unterdrückung des Sklavenhandels, Alexandrien 4. August +1877), welcher Sklavenjagd als Raub, beziehentlich als Raubmord +kennzeichnet; 3. eine gleichzeitige Verordnung des Khedive, welche +dieses Verbrechen mit Gefängnis von fünf Monaten bis zu fünf Jahren +bestraft haben will; 4. ein Telegramm des Nubar Pascha folgenden +Wortlauts: >Der An- und Verkauf von Sklaven in Ägypten ist gesetzlich +gestattet‹«!</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_12" href="#FNAnker_12" class="label">[12]</a> Mit welcher Klarheit Gordon in die Zukunft sah, ergiebt +sich aus diesem im April 1879 geschriebenen Satz: »Wenn die Befreiung +der Sklaven i. J. 1884 im eigentlichen Ägypten stattfindet, und +die Regierung in ihrem gegenwärtigen System verharrt, dann ist ein +Aufstand hier (im Sudan) zu erwarten; unsere (die englische) Neuerung +aber schläft ruhig weiter, bis es zu spät ist, und dann handelt man +<em class="antiqua">à l'improviste</em>.«</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_13" href="#FNAnker_13" class="label">[13]</a> Die abessinische Kirche erhält seit Jahrhunderten +ihren Abuna von der koptischen Kirche in Alexandrien; durch die +Mißhelligkeiten zwischen den Regierungen entbehrte Abessinien zur Zeit +dieses Würdenträgers und der König hatte niemand, der ihm seine Feinde +exkommunizierte.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_14" href="#FNAnker_14" class="label">[14]</a> Leider hat in letzter Zeit der Branntweinhandel im +Basutoland Eingang gefunden mit traurigen Folgen für die Eingebornen. +Nicht ernstlich genug kann es den europäischen Regierungen, die in +Afrika Einfluß gewinnen, ans Herz gelegt werden, diesem verderblichen +Handel möglichst zu steuern. Das ist doch der geringste »Schutz,« +den die europäischen Machthaber den unwissenden Eingebornen Afrikas +angedeihen lassen können!</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_15" href="#FNAnker_15" class="label">[15]</a> Gordons Aufzeichnungen, oder richtiger Stewarts Tagebuch +aus dieser Zeit, das, wie Gordon in seinen »Tagebüchern« bemerkt, +auch als <em class="gesperrt">sein</em> Tagebuch anzusehen sei, ist, wie späterhin +ersichtlich, dem Mahdi in die Hände gefallen, weshalb über diese fünf +Monate nur spärliche Berichte vorliegen.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_16" href="#FNAnker_16" class="label">[16]</a> Sir Henry Lawrence, der in Indien vorzügliche Dienste +leistete und während der Meuterei bei der Verteidigung von Laknau fiel +— ein tüchtiger Soldat und demütiger Christ. Er hatte den Wunsch +geäußert, daß man ihm keine andere Grabschrift setzen möge als: »Hier +liegt Henry Lawrence, der versucht hat, seine Pflicht zu thun.«</p> + +</div> +</div> + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75673 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/75673-h/images/cover.jpg b/75673-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..9ffc796 --- /dev/null +++ b/75673-h/images/cover.jpg diff --git a/75673-h/images/frontispiece.jpg b/75673-h/images/frontispiece.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..f72b122 --- /dev/null +++ b/75673-h/images/frontispiece.jpg diff --git a/75673-h/images/p115_map.jpg b/75673-h/images/p115_map.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..d49a96c --- /dev/null +++ b/75673-h/images/p115_map.jpg diff --git a/75673-h/images/p304_deco.jpg b/75673-h/images/p304_deco.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..27e4408 --- /dev/null +++ b/75673-h/images/p304_deco.jpg diff --git a/75673-h/images/title.jpg b/75673-h/images/title.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..859dca1 --- /dev/null +++ b/75673-h/images/title.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..b5dba15 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This book, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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